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gelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der
Köugl. Gesellgehaft 4er Wissenschaften.
1881.
Erster Band.
Göttingen.
Dieterich'sche Verlags-Buchhandlirog.
1881.
Verzeichniss
der
Mitarbeiter an dem Jahrgange 1881
der
Göttingischen gelehrten Anzeigen.
Die Zahlen verweisen auf die Seiten.
Dr. E. Alberti, Custos in Kiel. 1032.
Professor Dr. von Amira in Freiburg i. Br. 1345.
Privatdocent Dr. F. Baethgen in Kiel. 915. 1178.
Director Dr. A. von Bamberg in Eberswalde. 1244.
Geh. Hofrath Professor Dr. E. Bartsch in Heidelberg.
140. 403. 874. 1234. 1305. 1337.
Professor Dr. J. J. Baumann in Göttingen. 347. 761.
767.
Professor Dr. F. Bech in Zeitz. 490.
Privatdocent Dr. Ernst Bernheim in Göttingen. 408.
1086. 1520.
Professor Dr. A. Bezzenberger in Königsberg. 93.
Professor Dr. H. J. Bidermann in Graz. 338.
Professor Dr. F. Blass in Kiel. 252.
Oberforstrath E. Braun in Darmstadt. 461.
Professor Dr. S. Brie in Breslau. 182.
Director Dr. W. De ecke in Straßburg i. Eis. 1112.
Professor Dr. B. Delbrück in Jena. 394.
Oberlehrer Dr. Dohle in Straßburg i. Eis. 1464.
Professor Dr. von Druffel in München. 1203.
a*
IV Verzeichniß der Mitarbeiter.
Professor Dr. E. Dum ml er in Halle. 54. 126.
Oberconsistorialrath Dr. Fr. Düsterdieck in Hanno-
ver. 32.
Professor Dr. A. Er man in Berlin. 812.
Professor Dr. A. Pick in Göttingen. 422. 1418.
Bibliothekar Dr. 0. von Gebhardt in Göttingen. 445.
Professor Dr. Georg Ger land in Straßburg i. Eis. 518.
1062.
Professor Dr. J. Günther in Ansbach. 1387.
Professor Dr. Häussner in Heidelberg. 778.
Gymnasiallehrer R. Hansen in Sondershansen. 694.
Geheime Justizrath Professor Dr. G. Hart mann in
Göttingen. 417.
Professor Dr. P. Hasse in Eiel. 1153.
Professor Dr. W. Herrmann in Marburg. 193.
Oberstudienrath Dr. W. Heyd in Stuttgart. 132.
Dr. G. Heylbut, Custos in Göttingen. 1370.
Professor Dr. 0. Hirschfeld in Wien. 126.
Professor Dr. E. Holder in Erlangen. 243.
Oberlehrer Dr. Johannes Hollenberg in Mors. 1277.
Professor Dr. F. Hommel in München. 1537.
Professor Dr. Th. Husemann in Göttingen. 507. 924.
981. 1121. 1358.
Professor Dr. D. J. L. Jacobi in Halle. 1135.
Oberlehrer Dr. G. Kaufmann in Straßburg i. Eis. 221.
Professor Dr. D. Kaufmann in Budapest. 964. 1640.
Professor Dr. A. Klostermann in Kiel. 1089.
Generalmajor G. Köhler in Breslau. 609.
Professor Dr. W. Krause in Göttingen. 543. 1488.
Privatdocent Dr. K. Lamprecht in Bonn. 1010.
Gymnasiallehrer Dr. K. Lasswitz in Gotha. 1877.
GeheimeKirchenrath Prof. Dr. Lipsius in Jena. 353.
Professor Dr. von Liszt in Gießen. 85.
Dr. S. Löwenfeld in Berlin 668.
Professor Dr. P. de La garde in Göttingen. 38. 128.
Professor Dr. Mangold in Bonn. 40.
GeheimeRegierungsrath Prof. Dr. A. Meitzen in Ber-
lin. 545.
Kaiserlich Russischer Wirklicher Staatsrath Professor
Dr. Leo Meyer in Dorpat. 1281.
Professor Dr. A. Michaelis in Straßburg i. Eis. 595.
Verzeichnis der Mitarbeiter. V
GeheimeRegierungsrath Professor Dr. E. Nasse in
Bonn. 257.
Professor Dr. Nehring in Breslau. 993.
Professor Dr. B. Niese in Breslau. 1505.
Professor Dr. Th. Nöldeke in Straßburg i. Eis. 308.
587. 1078. 1222.
Professor Dr. Jules Oppert in Paris. 97. 897. 1249.
Professor Dr. J. Parts ch in Breslau. 321. 449.
Professor Dr. B. Pauli in Göttingen. 7. 533.
Professor Dr. R. Pischel in Kiel. 319. 1313. 1528.
Oberlehrer Dr. Plew in Straß bürg i. Eis. 821.
Professor Dr. J. B e h m k e in S. Gallen. 284. 1295. 1409.
Professor Dr. W. Boscher in Meißen. 654.
Professor Dr. H. Rosenbusch in Heidelberg. 1601.
Privatdocent Lie. Dr. V. Ryssel in Leipzig. 851.
Oberschulrath Dr. E. von Sallwürk in Karlsruhe i. B.
1534.
GeheimeRegierungsrath Prof. Dr. H. Sauppe in Göt-
tingen. 1473. 1626. 1633.
Professor Dr. C. Schirren in Kiel. 1.
Professor Dr. Fr. Schirr mac her in Rostock. 647.
Professor G. Schmidt in Halberstadt. 954.
Consistorialrath Professor Dr. H. Schultz in Göttin-
gen. 769.
Professor Dr. H. Schweizer- Sidler in Zürich. 1157.
Professor Dr. C. Siegfried in Jena. 372. 701.
Professor Dr. C. von Sigwart in Tübingen. 25.
Dr. Spengel, Director der naturwissenschaftlichen
Sammlungen in Bremen. 741.
Professor Dr. A. Stern in Bern. 921. 1102.
Professor Dr. J. Storm in Christiania. 885.
Henry Sweet in London. 1398.
Professor Dr. M. Thomas in München. 17.
Professor Dr. Trumpp in München. 673.
Professor Dr. A. Val de Lie vre in Innsbruck. 961.
Professor Dr. A. von Velsen in Hanau. 501.
Dr. F. Vogel in Rom. 218.
Staatsarchivar Dr. R. Wackernagel in Basel. 1270.
GeheimeRegierungsrath Professor Dr. G. Waitz in
Berlin. 225. 705. 929.
Professor Dr. N. Weck lein in Bamberg. 1141.
VI Verzeichnis der Mitarbeiter.
Professor Dr. L. Weiland in Göttingen. 1551.
Professor Dr. C. von Weizsäcker in Tübingen. 838.
Professor Dr. J. Wellhausen in Greifswald. 317.
1375.
Contre- Admiral R. Werner in Wiesbaden. 65.
Professor Dr. F. Wieseler in Göttingen. 1181.
Reallehrer Dr. G. Willenberg in Spremberg. 1591.
Privatdocent Dr. E. Wilken in Göttingen. 1119. 1151.
Hofrath Professor Dr. E. Winkelmann in Heidel-
berg. 1057.
Dr. K. Zeumer, Mitarbeiter an den Monumenta Ger-
man iae in Berlin. 797.
Dr. Zucker, Bibliothekar in Erlangen. 938.
Rabbiner Dr. M. S. Zucke rmandel in Trier. 717.
Verzeichniss
der
besprochenen Schriften.
Die Zahlen verweisen auf die Seiten.
Ezra Abbot, The Authorship of the Fourth
Gospel: External Evidences. 40
JE. Abeniacar, s. Pompei.
Acta imperii inedita sec. XIII, herausgeg. von
B. Winkelmann. 1057
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. Jahrg. 65
Aristophanes ed. F. Blaydes
— Band I: Thesmophoriazusae. 501
— Band II: Lysistrata. 1244
G. J. A s coli, Iscrizioni inedite o mal note, greche,
latine, ebraiche, di antichi sepolcri giudaici di
Napolitano. 964
Australien, Drei ethnologische Fublioationen,
aus und über —
1) The Native Tribes of South Australia. 513
2) The Folklore, manners, customs and langua-
ges of the South Australian Aborigines. 521
3) The Aborigines of Victoria. 524
J. J. Baumann, Handbuch der Moral. 347
A. Baumstark, Ausführliche Erläuterung des be-
sonderen völkerschaftlichen Theiles der Germania
des Tacitus, 1157
&. Benfey, Erinnerungen an Friedrich Froebel. 1534
K. Benrath, s. Summa der Heil. Schrift.
VIII Verzeich niß der besprochenen Schriften.
W. Berblinger, Gerhard der Große und seine
Residenz Rendsburg. 1153
0. Berg, Pharmaceutische Waarenkunde; 5. Aufl.,
neu bearbeitet von A. Garcke. 981
E. Bern er, Zur Verfassungsgeschichte der Stadt
Augsburg ( A. u. d. Tit. : Untersuchungen zur Deut-
schen Staats- und Rechtsgeschichte herausgegeben
von O. Gierke, Band V). 797
Berthold von Regensburg. Von F. Pfeiffer,
II. Band von /. Strobl. 140
F. B lay des, s. Aristophanes.
J. F. Böhmer, s. Regesten.
H. Boos, sieh Urkundenbuch der Landschaft
Basel.
Leibnizen'8 und Huyghens' Briefwechsel mit
Papin, herausgegeben von E. Gerland. 1387
K. Brugman, s. H. Ost ho ff.
Jordani Bruni Nolani Opera latine conscripta
K. Bücher, s. de Lav el eye.
recens. F. Fiorentino. Vol. I, Pars I. 25
E. H. Bunbury, History of Ancient Geography. 321
R. Burkart, Die chronische Morphiumvergif-
tung. 1358
L. Campbell, s. Sophocles.
H. Cardauns, Eonrad von Hostaden. 1010
W. H. Carpenter, Grundriß der neu isländisch en
Grammatik. 1151
A. de Ceuleneer, Essai sur la vie et le regne
de Septime Severe. 126
al-Chdlidt, s. Diwan des Lebld.
A. H. Charte ri8, Canonicity. 445
J. Coaz, Die Lauinen der Schweizeralpen. 449
M. Cohn, Beiträge zur Gesch. des römischen
Rechts. Band I. 243
E. Gurtius und J. A. Kau pert, Karten von
Attika. I. Heft. 1473
F. Dahn, s. E. von Wietersheim.
H. F. Delaborde, I^tude sur la chronique en
prose de Guillaume le Breton. 929
F. Delitzsch, 8. Weber.
P. Devaux, Etudes politiques sur les principaux
evenements de l'bistoire Romaine. 821
L. Diefenbach, Völkerkunde Osteuropas. 1. Bd. 1062
Verzeichnis der besprochenen Schriften. IX
Der Diwan des Lebid, herausgegeben von <7ä-
suf Dijd-ad-IHn al-Chdlidt. 1537
E. IMlmmler, s. Monument a.
M. Erdmann, De Pseudolysiae epitaph ii codicibus."
— — Pseudolysiae oratio funebris. 1633
F. Fiorentino, s. Bruno.
Th. Fischer, Die Dattelpalme. 1222
V. Floigl, Die Chronologie der Bibel etc. 97
— — Cyrus und Herodot nach den neuge-
fundenen Keilinschriften. 1249
UpsalaLäkareförenings För hand Ungar. Bd.XV. 1121
F. Franciß, Der deutsche Episkopat in seinem
VerhältniB zu Kaiser und Reich unter Hein-
rich HL, 1039-1056. Theil I. II. 408. 1086
C. Frey, Schicksale des königlichen Gutes in
Deutschland unter den letzten Staufern seit König
Philipp. 1551
F. Froebel, 8. R. Benfey.
A. Oarcke, s. Berg.
O. von Gebhardt und A. Harnack, Evange-
liorum codex graecus purpureus Rossanensis. 938
E. Gerland, sieh Briefwechsel. 1387
Geschichte der Europäischen Staaten. Lief. XLII,
Abth. 2: Geschichte von Spanien von F. W.
Schirrmacher, Band IV. 647
0. Gierke, Johannes Althusius und die Entwick-
lung der naturrechtlichen Staatstheorien. 182
O. Gierke, a. Bern er, Rosin.
H. Girard, La philosophic seien tifique. 787
E. Götzinger, sieh Joachim von Watt. 921
C. Graux, De Plutarchi codice manuscripto Ma-
tritensi injuria neglecto. 1370
H. Grenacher, Untersuchungen über das Seh-
organ der Arthropoden. 741
M. Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens
und der Cultur der abendländischen Juden wäh-
rend des Mittelalters und der neueren Zeit. —
Geschichte d. E. u. d. C. der Juden in Frank-
reich und Deutschland etc. 1640
Guülaume le Breton, s. Delaborde.
Hadamars von Lab er Jagd. Herausgeg. von
K. Stejskal. 1305
X Verzeichniß der besprochenen Schriften.
Ad. Hansen, Die Quebracho-Rinde. 924
Hanse reces8e, Band V (Recesse und andere
Akten der Hansetage von 1256—1480. BandV). 7
Harnack, s. von Gebhardt.
B. Heisterbergk, Ueber den Namen Italien. 1112
Die poetischen Erzählungen des H errand von
Wildonie und die kleinen innerösterreichi-
schen Minnesinger, herausg. von K. F. Kummer. 1234
G. Hertel, Der Anfall der Stadt und des Erz-
stifts Magdeburg an Brandenburg. 957
M. H ey n e , Uebungsstücke zur Laut- und Flexions-
lehre. 111
G. Hoffmann, Opuscula Nestoriana syriace. 915
F. Hommel, Abriß der Babylonisch- Assyrischen
und Israelitischen Geschichte. 102
Horatius, s. 0. Keller.
Hosen, 8. Nowack.
Huyghem, s. Briefwechsel.
M. Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 609
Jelaleddin Mirza, Buch der Könige. 673
Isaios, s. W. Boeder.
Itinera Hierosolymitana etc. ed. T. Tobler et Aug.
Molinier. 218
Der Junker und der treue Heinrich.
Herausgeg. von K. Kinzel. 1337
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl
den Großen. Band I. 545
J. A. Kaupert, s. Gurtius.
0. Keller, Epilegomena zu Horaz. 778
K. Kinzel, s. Der Junker und der treue
Heinrich.
A. Klostermann, Korrekturen zur bisherigen
Erklärung des Römerbriefes. 1089
A. Krichenbauer, Theogonie und Astronomie. 654
K. F. Kummer, 8. Herrand von Wildonie.
E. La as, Kants Analogien der Erfahrung. 1295
— — Idealismus und Positivismus, 1. Theil. 1300
P. de Lagarde, Aus dem deutschen Gelehrten-
leben. 128
Lamprecht von Regensburg, herausgeg. von
K Weinhold. 490
A. von Lasaulx , s. Sartorius v. W alter s-
haiiKen.
Verzeichnis der besprochenen Schriften. XI
£. de Laveleye, Das Ureigen thum; deutsche
Ausgabe von K. Bücher, 257
J. D. Leader, Mary Queen of Scots in Captivity. 533
A. von L eel air, Der Realismus der modernen
Naturwissenschaft etc. 1409
Leibniz, s. Briefwechsel.
M. Lexer» Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 403
— — Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 407
R. Löning, Der Reinigungseid bei Ungerichts-
klagen im deutschen Mittelalter. 85
A. Loiseau, Histoire de langue francaise, see
origines et son däveloppement jusqu' a la fin
du XVIe siecle. 1591
W. Lotz, Die Inschriften Tiglatpileser I. 897
£. Lucius, Der Essenismus in seinem Verhältniß
zum Judenthum. 1375
A. Ludwig, Commentar zur Rigveda-Ueber-
setzung. L Theil (Der Rigveda oder die heiligen
Hymnen der Brahmana, Band IV). 1528
Lysias, s. Erdmann.
W. Maurenbrecher, Geschichte der katholi-
schen Reformation. 833
S. May bäum, Die Entwicklung des altisraeliti-
schen Priesterthum8. 38
H. Meisner, s. Pilger reisen.
A. Mele, s. Pompei.
0. Meltzer, Geschichte der Karthager, Band I. 1505
Th. Mettauer, de Piatonis scholiorum fontibus. 1626
G. Meyer, Griechische Grammatik (Bibliothek
indogermanischer Grammatiken, Band III). 1281
P. Meyer, Die Fortsetzer Hermanns von Reichenau. 712
G. Mihalkovics, A'ltalanos Boncztan. 543
A. Molinier, s. Itinera hierosolym.
P. G. Molmenti. La Storia di Venezia nella
vita privata etc. 17
Monumenta Germaniae historica. Poetarum la-
tinorum medii aevi Tom. I pars prior: Poetae
latini aevi Garolini rec. E. Dümmler. I. 1. 54
Monumenta Germaniae historica. Scriptorum
tomus XXV. 225
JE. Mühlbacher, s. R e g e s t e n.
E. Nestle, Veteris Testamen ti Graeci codices Va-
ticanus et Sinaiticus cum textu reeepto collati. 1277
C. Nohle, Die Staatsrechtslehre Piatos. 1032
W. Nowack, Der Prophet Hosea. 851
XII Verzeichniß der besprocheneu Schriften.
J. Opel, Die Vereinigung des Herzogthums Mag-
deburg mit Eurbrandenburg. 954
H. Osthoff und K. Brugnaan, Morphologische
Untersuchungen. Theil III. 1418
F. Overbeck, zur Geschichte des Kanons. 353
K. Panzer, Wido vonFerraraDe seism ate Hilde-
brandi. 1520
Papin, s. Briefwechsel.
Pariser Tagezeiten, herausgegeb. von St.
Waetzoldt. 874
L. Pastor, Die Correspondenz des Cardinais Con-
tarini. 1203
T. Pech, s. Pypin.
F. Pfeiffer, s. Berthold.
F. Philippi, Zur Reconstruction der Weltkarte
des Agrippa. 694
M. Philippson, Geschichte des Preußischen
Staatswesens vom Tode Friedrichs des Großen
bis zu den Freiheitskriegen. I. Band. 1102
J. L. Pic, Die Abstammung der Rumänen. 338
Deutsche Pilgerreisen nach dem heiligen
Lande, herausg. und erläut. von 11. Röhricht
und H. Meisner. 132
Plato, 8. Mettau er, Nohle.
Plutarch, s. Graux.
R. Pohl mann, Die Anfänge Roms. 1115
Poetae latinü 8- Monumenta.
Pomp ei, Rivista illustrata di Archeologia po-
polare e iodustriale e d' Arte, herausgeg. von
A. Mele und £. Abeniacar. Ann. I. Num. I 1181
Svenska Riksradets Protokoll (Handlingar rö-
rande Sveriges Historia. Tredje Serien). 1
A. N. Pypin und V. D. Spasovic, Geschichte
der slavischen Litteraturen. Uebersetzt von
T. Pech. I. Band. 993
A. Raabe, Die Klagelieder desJeremias und der
Prediger des Salomon. 317
Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern
von J. F. Böhmer, neubearbeitet von E. Mühl-
bacher. m 1. Lief. 129
P. Regnaud, La Me'triqne de Bharata. 319
E. Revillout, Chrestomathie ddmotique. 812
— — Nouvelle Chrestomathie deraotique. 812
Revue des otudes juives. No. 1. (,68
Verzeichnis der besprochenen Schriften. XIII
K von Bichthofen, Untersuchungen über frie-
sische Rechtsgeschichte. Abth. I, Theil f. 1845
Ch. Rieu, Catalogue of the Persian Manuscripts
in the British Museum. 1078
Rigveda, s. A. Ludwig.
A. Ritschi, Geschichte des Pietismus. Band I. 193
W. Boeder, Beiträge zur Erklärung und Kritik
des lsaios. 252
Römerbrief, a. El oster mann.
K. Röhricht, s. Pilger reisen.
H. Rosin, Die Formvorschriften für die Ver-
äufierungsgeschäfte der Frauen nach lombardi-
schem Recht (Auch unter dem Titel : O.Gierke,
Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechts-
geschichte, Vm. Band). 961
D. Ro s s , Studies in the early history of institutions. 276
E. Both, Geschichte des Forst- und Jagdwesens
in Deutschland. 461
A. Samt er, Das lEigenthum in seiner sozialen
Bedeutung. 417
W. Sartorius von Waltershausen, Der
Aetna. Herausgeg. von A. von Lasaulx. 2. Bd. 1601
A. H. Sayce, Introduction to the Science of #a
Language. 422
F. W. Schirrmacher, sieh Geschichte der Euro-
päischen Staaten.
0. Schmitz-Dumont, Die Einheit der Natur-
kräfte und die Deutung ihrer gemeinsamen
Formel. 1377
O. Schnedermann, s. F. Weber.
F. C. Schneider und A. Yogi, Commentar zur
österreichischen Pharmacopoe; I. Band, bearb.
von A. Vogl. 988
Th. Schreiber, Die antiken Bildwerke der Villa
Ludovisi in Rom. 595
— — Apollon Pythoktonos. 660
H. Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi. 769
F. Selmi, Ricerca del fosforo delle urine. 507
— — E8ame dell' urina di un itterico grave. 510
— — Sulla fallacia del reattivo di Van Deen. 510
— — Sopra due arsine etc. 511
E. San art, Les Inscriptions de Piyadasi, Tome I. 1313
E. Sie vers, Grundzüge der Phonetik. 885
W. Soltau, Ueber Entstehung und Zusammen-
setzung der altrömischen Volksversammlungen. 1464
XIV Verzeichniß der besprochenen Schriften.
Sophocles ed. L. Campbell. IL Band. 1141
W. Spitta-Bey, Grammatik des arabischen
Vulg&rdialectes von Aegypten. 303
K. Steijskal, s. Hadamar von Lab er.
H. Steinthal, Gesammelte kleine Schriften. I. 93
J. Storm, Englische Philologie. Bd. I. 1398
Strasburger, Zellbildung und Zelltheilung. 1488
J. Stroblf s. Berthold.
Die Summa der Heiligen Schrift, herausgegeben
von K. Benrath. 32
H. B. Stcete, s. The od or us.
Tacitus, s. Baumstark.
Theodori episcopi Mopsuesteni in epp.
Pauli commentarii. Vol. I. Ed. H. B. Swete. 1185
T. Tobler, s. Itinera hierosolym.
Tosefta, ed. M. S. Zuckermandel 717
Urkundenbuch der Landschaft Basel, herausg.
von .ff. Boos. 1270
A. Vogl, s. Schneider.
St. Waetzoldt, sieh Pariser Tage Zeiten.
Joachim von Watt, Deutsche historische Schrif-
ten, herausgegeben von E. Götzinger, Band III. 921
F. Weber, System der altsynagogalen palästini-
schen Theologie, herausgegeben von Franz De-
litzsch und O. Schnedermann. 372
K. Weinhold, s. Lamprecht.
A. Wetzel, Die Translatio S. Alexandri. 705
W. D. Whitney, Indische Grammatik. Aus dem
Englischen übersetzt von H. Zimmer» 394
Wido von Ferrara, s. K. Panzer.
E. v. Wietersheim, Geschichte der Völkerwan-
derung. 2. Aufl. redigiert von F. Dahn. 221
E. Winkelmann, sieh Acta.
Ch. H. H. Wright, sieh Zechariah.
W. Wundt, Logik. I. Band. 284
Zechariah and his Prophecies by Ch. H. H. Wright. 701
Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft
herausgegeben von B. Stade. 1178
T. Ziller, Allgemeine philosophische Ethik. 761
H. Zimmer, s. Whitney.
M. H. Zotenberg, La chronique de Jean e>eque
de Nikiou. 587
M. S. Zuckermandel, s. Tosefta.
I
Gttttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 1.2. 5.u. 12. Jan, 1881.
Inhalt: Srenska Rikeradeta Protokoll. Bd. II. (1480—
82). Ton a Sclurrm. — Hanserecease (erste Abth.: 1266-1430).
Bd. Y. Von Ä ttodL - P. G. Molmenti, La Storia di VenetU
nella Tita priYata. Von (ho. M. Thomas, — Jordan! Bruni Oper»
latine conseripta, rec. F. Fiorentino. I. 1. Von C. v. Sigwart — 1> i e
Summa der Heiligen Schrift, herausgeg. ron E. Benrath.
Von Fr. DüsUrdieck, — S. May bau m, Die Entwicklung des alt-
israetitieehen Priesterthume. Yon P. de Lagard*. — Ezra Abbot,
The Autorahip of the Fourth Gospel. Von W. Mangold. — Poetae
latini aevi Oarolini, ree. E. Dümmler. I. 1 (Monumenta Ger-
maniae hietoriea: Pottavum latia. medii aeri T. I. P. 1). Yon Ernst
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Handlingar rörande Sverigea Historia. Tredje Serien.
8 v e n s k a Rikarädets Protokoll otgifvet
af Kongl. Riks-Archivet genom N. A. Kai lb erg.
II: 1680-1632. Stockholm, P. A. Norstedt 6 Söner.
XI and 876 (2) SS. 8°.
Der erste Band, welcher 1878 (XL VI und
291 SS.) erschienen ist und in der Jenaer Lite-
ratur-Zeitung 1879. No. 9 besprochen wurde,
enthält die Protocolle des schwedischen Reichs-
raths von der ersten auf uns gekommenen Auf-
zeichnung (1621) bis zum 10. Nov. 1629 und
schließt mit den großen Ratssitzungen, welche
dem Aufbruch des Königs nach Deutschland
vorausgingen. Eben da knüpft der zweite Band
wieder an und führt die Reihe der Aufzeichnun-
gen vom 4. Mai 1630 bis zum 15. December
1632, eine Woche nach dem Eintreffen der To*
desbotschaft von Lützen, herab.
1
2 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Auch cßeqer zweite Band briqgt keine will-
kürliche Auswahl, sondern giebt die Aufzeich-
nungen vollstäpdig und genau so W^ef, ww
sie der Zeit nach auf einander folgten, mit Aq&*
nähme der Protocolle in Rechtssachen, welche
zur Revision an den R. R. gebracht waren und
in den zugänglichen Handschriften ^e^ vor-
lagen. Außer der Reihe sind ferner auf S. 257
— 309 zu einer besonderen Gruppe mit 37 Bein
lagen zusammengestellt die Verhandlungen im
Proceß des Prinzen Christian von Dänemark ge-
gen den Wild- und Rheingrafen Qttp Ludwig,
welcher, als Obrist aus dänischen in schwedi-
sche Dienste getreten, den Prinzen eines Ver-
giftungsversuchs bezichtigt hatte und n$ch lau-
gen Verhandlungen wegen Diffamation in cqn-
tumacia zu 40 Mark Strafe verurtheilt wurde,
ohne daß es damit zur Ausführung kam , weil
der Prinz, nachdem er sich ein Jahr lang vox
dem schwedischen Reicbsrath in den Handel
eingelassen, schließlich, vom kläglichen Ausgang
wenig erbaut, gegen die Competenz des Forums
protestierte, Worauf der R.R. seinen Spruch wie-
der aufhob.
Auf S. 1—256 bandeln die zusammenhän-
genden Protocolle auch in diesen Jahren wieder
von Fragen der verschiedensten Bedeutung. Die
vier ersten Sitzungen, Mai 1630, sind noch vov
des Königs Abreise, zum Theil in dessen Bei-
sein, gehalten und bringen die Berathungen über
den Eintritt in den deutschen Krieg zum Ab-
schluß. Mit dem 15. Juni heben dann die Ver-
handlungen unter veränderten Bedingungen an.
Gemäß der kön. Instruction vom 30. Mai (I,
XLI — XLVI) nimmt der R.R. «*- bis zum Ein-
tritt der Vormünder der Königin Christina
(1633) — die oberste Regierung in die Handy
Svenika Riksrldets Protokoll. II. 3
Ihrigen* durchweg an des Königs Intentionen
gebunden und von ihnen beherrscht, wie denn
gleich in 4er ersten Sitzung für den unter Se-
gel gegangenen, indeß durch Unwetter in die
Skären zurückgetriebenen König neuer Proviant
beschafft werden muß, wobei sich mancher Ein-
blick in die ökonomischen, ständischen und
Rechtsverhältnisse des Reichs ergiebt Bis in
den Herbst bedrängen den RR. ähnliche Sor-
gen; dann stehen die kleineren, einheimischen
Angelegenheiten im Vordergründe. Ende Ja-
nuar, vollends im März 1631, steigen wieder
die großen Fragen auswärtiger Politik, vor Al-
lem die schwedisch-dänische Constellation, über
den Horizont; der Krieg fordert neue Opfer an
Menschen, Geld, Proviant; der R.R. verhandelt
mit den Ständen , nicht immer gleich mit Er-
folg; die Leistungsfähigkeit des Reichs steht in
Frage; bei allem Streit für das Evangelium
kommt es die Priester hart an, auch von sich
ans Streiter zu stellen, denn, wenn der Knecht
beim Priester keine größere Freiheit hat als
beim Bauer, wer wird dann noch Knecht beim
Priester sein wollen? Am Ende aber fügen
sich Priesterschaft, Adel, Bürger; gelegentlich
giebt es wohl einen Tumult: in Dalarne im
April, einen Aufstand in Dal im Herbst; aber
der Bauer stellt zuletzt seinen Mann und der
König hat, was er fordert. Und als am 2. Nov.
ein allgemeiner Dank- und Bettag für den bei
Leipzig erfochtenen Sieg ausgerufen worden ist,
darf Schweden wieder in sich selbst einkehren,
bis, der Windrichtung draußen und dem Rhyth-
mus der Jahreszeiten folgend, im Februar 1632
von Neuem die große Woge der Weltgeschichte
herüber brand et; da debattiert man im März,
worüber zu consultieren sei : an de pase facienda,
1*
4 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
vel quibus conditionibus pax sit ineunda; von
der Religion; de bono publico; de bono pri-
vate; im April vom spanischen Wesen, mit
Gründen für und wider: pro pace cumHispano;
pro bello cum Hispano. Eine Besendung des
Königs, ihm Glück zu wünschen, kommt aufs
Tapet; mit leeren Händen läßt sich dort nicht
erscheinen und die Erwägungen beginnen sich
in die Länge zu ziehen, als mit dem Sommer
abermals relatives Stillleben einkehrt
Mitunter sind Abgesandte des Königs oder
Angereiste in der Versammlung erschienen und
erzählen von den Dingen draußen; eine De-
batte schließt sich nicht an, aber das Protocoll
verzeichnet in Kürze, was so verlautet: welche
Städte sich jüngst ergeben haben; wessen der
König sich zu Chur-Sacbsen versiebt; wie viel
an Subsidien von Frankreich, Venedig, England
in Aussicht steht. Ausführlich berichtet in der
Sitzung am 23. Oct 1632 Erich Rynning, der
Admiral, von den Verrichtungen des Kanzlers
in Niedersachsen; von den Desertionen im kö-
niglichen Heere bei Nürnberg; wie dagegen
Wallenstein sein Heer in Zucht hält und tag
lieh für Zufuhr zu sorgen weiß u. a. m.
Während so in auswärtigen Dingen in Süd
und West dem RR. nur eine untergeordnete
Aufgabe zufällt, sieht er sich in Angelegenheiten
des Ostens mehr als einmal wider Willen ge-
zwungen, eine Art freilich nur kümmerlicher
Initiative zu ergreifen, wenn etwa Gesandte aus
Bußland kommen; Gefahren von der russischen
und polnischen Grenze drohen ; die livländischen
Grenzhäuser zu sichern sind oder der Chan der
Krim nach Ablauf gewisser Conjuncture^ welche
den Sultan mit Persien verwickeln, 30,000 Ta-
taren gegen Kaiser und Liga zu Diensten stellt,
Svenska Riksrädets Protokoll. II. 6
»
sofern ihnen freier Durchzug durch Siebenbür-
gen erwirkt wird und schwedische Gesandte
entgegenkommen.
Der unmittelbarsten Fürsorge des R.K. blei-
ben die einheimischen Angelegenheiten tiber-
lassen und bringen Arbeit und Sorge vollauf,
von der Königin an, so lange sie im Lande
weilt; mit ihrer Küche, der es zu Zeiten am
Notwendigen gebricht; mit ihren Schwächen
und Launen. Die Protocolle sind reich an Bei-
trägen zur Charakteristik der wunderlichen
Frau, die bald ihrer Wäscherin ein Erbgut ver-
schreibt, bald ihren Namen unter Stöße von
Donationsbriefen setzt; in ihrer Sehnsucht nicht
rasch genug zum König gelangen kann; voll
Aengsten, auf seine heimliche Ordre hin- oder
gar zurückgehalten zu werden, in Drohungen
ausbricht, so wie sie da stehe, in ihren Altags-
kleidern, hinüberflüchten zu wollen, worüber
der R.R. in ärztlichen Kummer verfällt, bis sie
endlieh glücklich befördert ist und der König
nun zusehen mag, wie er sich ihrer erfreue.
Oder der RR. hat es mit Jesuiten, Galvinistep,
Spionen, mit Abenteurern, mit fahrenden Stu-
denten, wie mit jenem Lars Yivallius, zu thun,
welchem, als einem schwedisch gearteten Vor-
läufer von Gazanova und Gagliostro, in Silfver-
stolpes Hist. Bibl. jüngst eine eigene Studie ge-
widmet wurde. Handel und Wandel wollen be-
rathen, Kaufherrnhändel geschlichtet; geistlicher
Hader niedergehalten; Ruhe und Ordnung wol-
len im Lande behauptet; bei dem Getrenntsein
von Seichskanzler und Reichsrath will dem Ein-
reißen einer ambulatoria administrate, S. 181,
gewehrt sein und nicht selten muß sich der R.R.
glücklich schätzen, wenn er nur ein Schlimme*
6 Gott. gel. Anz. 1681. Sttiok 1.2.
res abzuwenden vermag, auch ohne das Bessere
an die Stelle setzen zu können.
So haben von 1630 bis gegen Ende 1632
die Sitzungen vielbeschäftigt ihren Gang ge-
nommen, als beim Eintritt des Winters die Be-
sendüng des Königs abermals in Berathang
kommt und die Nachricht von einem neuen
Siege über Wallenstein eintrifft. Am 6. und 7.
December discutiert sich die spanische Frage;
am 8. bringt die Grenzpost die ordinären Avi-
sen und die höchstbeklagenswerthe Zeitung vom
tödt liehen Hingang des seligen Königs, Gott
bessere es! In Thränen und Klagen verbringt
der Senat den Tag; man beschließt, den Grafen
Per Brabe zum Reichskanzler zu senden. Am
9. kein Protocoll. Am 10. heimliche Beredung,
zwei Stunden lang, ohne Protocoll; dann setzt
die Feder wieder an. Am 15. werden die con-
cipierten Schreiben an die Königin-Wittwe ver-
lesen. Item an den Herrn Beichskanzler, sowie
des Grafen Brahes Memorial sammt Vollmacht
für den Kanzler und Alles wird unterschrieben.
Damit schließt das letzte Protocoll dieses
Bandes.
Daß die Edition vortrefflich ist, bedarf kaum
der Erwähnung. Die Texte sind durchweg,
unter Bezeichnung des Schreibers, nach den
Concepten und nur, wo diese fehlen, nach dem
Mundum gedruckt. Alle Vorzüge des ersten
Bandes treten wieder hervor: dieselbe wohler-
wogene Beschränkung auf das, was einem
Herausgeber obliegt; lehrreiche Anmerkungen;
ein musterhafter Index; die größte Correctheit
und zwar gilt letzteres im Ganzen auch von
den mitunterlaufenden deutschen Texten; S. 290
ist in gevbeicbt statt des zweiten e ein r zu
Svenska Riksradota Protokoll. IL 7
lesen. Der einzige Einwand richtet sieb auch
jetet wieder gegen einige entbehrliche Anmer-
kungen* Welche den Sinn des Textes sprachlich
und logisch erläutern sollen und mehr präcisie-
ren, als got ist, z. B. 3, 1 ; oder Schwierigkei-
teil erblidktfn, die nicht vorhanden sind, wie
4, 2. 62, \j oder syntaotische Besonderheiten
wie Fehler bebandeln, wie 13, 2. 23, 1. Bei
solchen Obffäfeturen stampft sich der Sinn für
feinere NÜanoen allmählich ab and der leben-
dige Ausdruck wird unter rationellem Schema-
tismus zuletzt ertödtet Uebrigens ist die Zahl
der hiermit beanstandeten Anmerkungen nicht
groß.
Zum Schliß bleibt nur der Wunsch, um aber-
mals zwei Jahte, wo nicht früher, dem dritten
Band ans der Hand desselben Herausgebers
entgegensehen zu dürfen.
Kiel, Nov. C. Schirren.
Hanöeföce8B6. Band V. Auf Veranlassung Seiner
Majestät des Königs von Bayern herausgegeben durch
die Historische Commission bei der Eönigl. Akademie
der Wissenschaften. A. m. d. T.: Die Becesse und
andere Akten der Hansetage von 1256—1430.
Bd. V. Auf Veranlassung etc. Leipzig, Verlag von
Dancker & Humblot. 1880. (IX. 619). 4°.
Die Publikation der ersten Abtheilnng der
Hanserecesse, bekanntlich eine der großen von
der Historischen Commission in München in die
Hand genommenen Aufgaben, begann im Jahre
1870. Sie ist nunmehr in fast regelmäßigen
Schritten bis zum fünften Bande gediehen, wel-
cher die Jahre 1401 bis 1410 umfaßt, so daß
zu erwarten ist, daß die noch übrigen zwei
Jahrzehnte während etwa rier Jahren in weite-
8 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1. 2.
ren zwei Bänden bearbeitet und damit der An-
schluß an die zweite, vom Hansischen Ge-
8chicbtsverein besorgte Abtheilung (1431 bis
1476), von welcher ebenfalls bereits zwei Bände
vorliegen, erreicht sein wird. Da unter dersel-
ben Obhut demnächst auch der Anfang der
dritten' Abtheilung erscheint, die Herren Kopp-
mann, von der Ropp und Schäfer die ihnen an-
vertrauten Abschnitte in allen Stücken nach
derselben Methode äußerlich wie innerlich gleich-
mäßig bearbeiten und die Ausgaben von einem
und demselben Verlag mustergiltig hergestellt
werden, so wird mit vereinten Kräften in nicht
gar zu langer Zeit ein großartiges Urkunden-
werk zugänglich gemacht sein, mit dem sich
wenige andere werden messen können. Wenn
dann auch, wie zu hoffen ist, das Hansische
Urkundenbuch gleichzeitig in mehreren Bänden
vorrückt, so wird die systematische Durchfor-
schung der in halb Europa zusammengelesenen
Quellen zur Geschichte des großen Bundes so
bedeutend angewachsen sein, daß eine dem Ge-
genstande würdige umfassende Darstellung kaum
noch ausbleiben kann.
Der fünfte Band Koppmanns, der uns als
neuster Beitrag vorliegt, weist, obgleich er nur
die zehn Jahre 1401 bis 1410 behandelt, wäh-
rend dieses Zeitraums in 729 Nummern die er
staunliche Anzahl von 151 Versammlungen auf,
die, partikular oder allgemein, als Hansetage
bezeichnet werden müssen. Auf der ganzen
Küstenlinie von Esthland bis Flandern, an man-
chen Stellen auch tief in das Binnenland ein
dringend, äußerte sich gegenüber den vorschrei-
tenden politischen Gestaltungen in der Staaten-
welt Nord- und Mitteleuropas und einigen bei-
HaoBereceue von 1256— U30. Bd. V. 9
Data allgemeinen Nöthen der Zeit eine groß-
artige bündnerische Thätigkeit, deren anend-
liche Verzweigung nicht allein nach der com-
merciellen Seite in einer so gediegenen Zusam-
menstellung wie der Koppmanns nunmehr vol*
lends in die Augen tritt, während doch auch
gleichzeitig gerade in diesem Jahrzehnt, das
noch dem Höbepunkt der großen Vereinigung
angehört, eine centrale Strömung des in sieh
vielgestaltigen Hansischen Städtebundes oft mehr,
als gewöhnlich zugegeben wird, erkennbar ist
Der Herausgeber hat wie bisher die Recesse
nach den einzelnen Hansetagen je mit den zu-
gehörigen Vorakten, Verträgen, Correspondenzen,
Berichten der Gesandtschaften, nachträglichen
Verhandlungen, werthvollen Auszügen aus Rech-
nungsbüchern übersichtlich geordnet, die mei-
sten Nummern in vollständigem, viele in erstem
Abdruck wiedergegeben und sich nur bei einer
Minderzahl mit einem genauen Regest begnügt.
Enrz und bequem wird gleich zu Anfang die
Herkunft des Materials, der Recesse wie der sie
begleitenden Urkunden, verzeichnet, so daß man
sich in Beziehung auf jedes einzelne Stück
rasch zurecht findet. Die Kritik der Texte
stützt sich, so weit nur irgend erreichbar, auf
eine systematische Vergleichung der gesammten
handschriftlichen Ueberlieferung, wenn auch oft
genug bei Ermangelung von Originalien oder
Copien ein Abdruck aushelfen muß. Zur Er-
klärung dienen dem Benutzer außer den Rege*
sten in den Ueberschriften und den beigegebe-
nen Orts- und Personenverzeichnissen von scru-
puloser Genauigkeit viele dankenswerthe Winke
in den Noten, die sich vorwiegend auf Zeitbe-
stimmung, sprachliche Erläuterung, Münzverhält-
risse u. dgl. m. beziehen.
10 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Allzu knapp aber für den überaas reichen
Inhalt des Bands erscheint doch die Einleitung
von nur einer Seite Umfang. Der Verfasser be-
gnügt sich damit das Material in der Haupt-
sache in vier große Gruppen auseinander zu
falten, die er ja im Einzelnen mit unendlicher
Sorgfalt erläutert und so sicher durchforscht
hat, daß von keinem anderen so wie von ihm
selber ein maßgebender Ueberblick über diesel-
ben wird gegeben werden können. Die dritte
dieser Gruppen, das Unwesen der Vitalianer-
brüder auf dem Meere, das aus dem Kampfe
um Gothland zwischen Dänemark und dem
Deutschen Orden und aus dem Zerwürfniß zwi-
schen den Hansestädten, insbesondere den preu-
ßischen Städten und den Engländern, so wie
au» den inneren und äußeren Kämpfen Fries-
lands Nahrung zog, bat Koppmann allerdings
bereits durch eine besondere Abhandlung, die
er dem vierten Bande voraus schickte, und
einen Aufsatz über den Seeräuber Klaus Störte-
becker in Geschichte und Sage in den Hansi-
schen Geschichtsblättern 1877 beleuchtet, dem
bereits ein Aktenstück des fünften Bands N. 56,
das Schreiben Hamburgs an Kampen wegen
eines von Ghodeke Michels geraubten Bier-
schiffs, als Beleg dienen konnte. Aebnlich steht
es mit der zweiten Gruppe, den englisch-preußi-
schen Beziehungen, über welche von Koppmann
ein großartiges Quellenmaterial zusammenge-
tragen und auf der letztjährigen Versammlung
des Hansischen Geschichtsvereins in Hildesbeim
ein dankenswerter Ueberblick gegeben wor-
den ist, den wir hoffentlich recht bald in den
Geschichtsblättern zu lesen bekommen. Da
regt sich denn gleich sehr der Wunsch von
ihm in ähnlicher Weise aus den Aktes auch
HansereceBse von 1266—1480. Bd. V. 11
über Gang und Zusammenhang des Kampfe be-
lehrt zu werden, der zwischen der Königin Mar*
garetha und dem Deutschen Orden um den Be*
sitz Gotblands geführt wurde, die erste Gruppe,
die doch deshalb so bedeutend erscheint, weil
dabei die Bathssendeboten der Hansestädte als
Friedensvermittler auftreten, zumal seitdem der
Krieg zu Ungunsten des Hochmeisters ausfiel.
Was endlich den vierten Punkt, den Verfaß*
sungskampf in Lübeck, die Austreibung des al*
ten Baths durch einen neuen, den Antheil der
übrigen Städte an dieser Spaltung in ihrem Vor*
ort, die von beiden Seiten am Hofe Euprechts
von der Pfalz betriebenen Verhandlungen be*
trifft, so thut der Herausgeber sehr recht diesen
Gegenstand von allgemein hansischer Bedeutung,
der in den Verkehr der Städte tiberall hinein-
spielte, mit dem trefflichen Herausgeber defe
Ltibecker Urkundenbuchs um die Wette auch in
den Kreis seiner Aktenstücke hineinzuziehn. Die
im Lübecker Urkundenbuch abgedruckte Cor*
respondenz des neuen Baths mit den Hambur-
ger Kirchspielen N. 514 ff. (nicht 414ff., wie es
in der Einleitung heißt) konnte schon deshalb
nicht ausgelassen werden, weil sie mit einem
Wismarer Beceß in Verbindung steht und aus
derselben Handschrift in Wismar noch vervoll-
ständigt wird. Aehnlich stehen die Akten zur
Lübecker Versammlung vom 9. Februar 1409
mit dieser Angelegenheit in Berührung N. 556
—570 (nicht 464-471 wie in der Einleitung),
und ferner die Verhandlungen zu Heidelberg am
10. Juni 1409 N. 582—612, die zu Lübeck am
5. November 1409 N. 626, zu Stralsund am 23.
März 1410 N. 675 ff., zu Elbing am 23. März
N. 698 ff. Uebrigen8 ist es erfreulich, daß Kopp-
mann auch hierüber durch Mittbeilung an den
12 Gott. gel. Adz. 1661. Stück 1. 2.
Verein für Hamburgische Geschichte noch be-
sonders zu handeln verspricht. Endlich aber
kann es dem Herausgeber der Reichstagsakten,
der schon längst der Regierung König Ruprechts
seine energische Tbätigkeit zuwendet, nur in
hohem Grade erwünscht sein, wenn das Lü-
becker Urkundenbuch und die Hanserecesse Al-
les, was in ihren Bereich kommt, zu Tage för-
dern in einer Sache, in welcher die beiden um
die Herrschaft in Lübeck streitenden Parteien
die Entscheidung des römischen Königs an-
riefen.
Daß manche Aktenstücke des Bandes in die
vier großen Kategorien kaum einzureihen sind,
wird auch der Herausgeber nicht bestreiten.
Fordert er doch selbst „eine berufene Handa
auf um dasjenige, was er über die friesischen
Verhältnisse gesammelt hat, nunmehr in geeig-
neter Weise zu verwenden. Aber auch noch
für andere Hergänge und Zustände bietet sich
dieser Receß als Quellen werk. Im Jahre 1407
herrschten in dem westphälischen Minden gleich-
falls Verfassungsstreitigkeiten, die auf einem
Hansetage zu Lübeck von den zu Schiedsrich-
tern bestellten Städten Lübeck, Hamburg und
Lüneburg ausgetragen wurden N. 464—471.
Ferner gehören hierher auch die Mttnzrecesse
der wendischen Städte und Lübecks N.726 und
729 und eine Reihe von Stücken, welche Kla-
gen und Gewaltthaten der Russen im hansischen
Handelsverkehr zu Nowgorod betreffen. Nach
N. 61.64. 238.240.477 sieht es doch fast so aus,
als ob damals schon was die Vermessung von
Honig und Salz und die Reinhaltung der aus
Südeuropa stammenden süßen Weine betrifft die
belobte Redlichkeit und Treue der Deutschen
allerlei zu wünschen übrig gelassen hätte. Aach
Hanserecesra von 1256—1480. Bd. V. 18
sonst noch kommen eine Anzahl von Akten-
stücken über die Beziehungen zu Boßland nnd
Polen, namentlich die Verhandlungen mit Now-
gorod N. 613—619, um so mehr in Betracht,
als ja die große Katastrophe des Ordens, der
bis dahin gegen die Slawen wie gegen Scandi«
naven und Engländer eine mächtige Stütze des
Städtebunds gewesen, nicht mehr lange auf sich
warten ließ. Sehr bezeichnend fttr die doch
wesentlich längs den Küsten des nördlichen und
mittleren Europas haftende Einigung erscheint
in N. 263 eine Aeußerung der preußischen Städte
an Lübeck, mit welcher sie das Anliegen des
Bischofs von Münster ihm Geld zu leihen, um
ein Schloß des Grafen von Delmenhorst zu
brechen und die Zwistigkeiten unter den Frie-
sen beizulegen, ablehnen: dat de saken unses
doendes nicht en sin ... wente de zaken nicht
tor zeewart, sunder allene to lande wart sint
gelegen.
Indem ich schließlich noch einmal an den
englisch-preußischen Conflict anknüpfe, der durch
eine Fülle bisher unbenutzter Aktenstücke aller
Art in seinen Ursachen, seinem Verlauf und
Abschluß nicht nur anschaulich, sondern durch
das Auftreten und Mitbandeln hervorragender
und charaktervoller Persönlichkeiten fast dra-
matisch lebendig wird, muß zunächst ein kleines
Versehen des Herausgebers gerügt werden. In
den Regesten zu 149 und 457 übersetzt er
Vicecomes Kant', Devon1 u. a. m. mit Viscount,
während doch seit Wilhelm dem Eroberer das
in lateinischer Ausfertigung gebräuchliche Vice-
comes mit einem Gomitat verbunden englisch
und daher auch deutseh nur Sheriff bedeutet
Der Adelstitel eines Viscount dagegen erscheint
erst gegen die Mitte des fünfzehnten Jahrhan-
14 Gott. gel. Ans. ljtf 1. 8tück 1. 2.
derts als die nächste Stufe über dem Baron,
vgl. Stubbs, Const. Hist. III. 472 Ed, 2, So-
dann begegnen in einem Anschreiben Hein*
richs IV. von England an den Hochmeister Con-
rad von Jangingen nach einer Danzinger Hand-
schrift in N. 130 zwei Wörter: post longntq
hinc inde conflictum repamäcionemque interpu^
lam, die unmöglich in dieser Form ans der eng-
lischen Kanzlei herrühren können. Vor allen
aber muß ich, wie der Band von englischer
Seite eine Anzahl im Gapitelsarchiv zu Ganter*
bnry wieder aufgefundener Schriftstücke zu der
Auseinandersetzung mit den Hansestädten ver-
öffentlicht, einige Berichte der anderen Seite
hervorheben, welche höchst willkommen auf die
Persönlichkeit des ersten Königs- aas dem Hause
Lancaster, dessen für die Verfassungs- und Han«
delsgeaehichte Englands wie für die der letzten
Kreuzfahrten höchst bedeutsame Regierung in
einheimischer und auswärtiger Berichterstattung
nur stiefmütterlich bedacht ist, neues Licht wer-
fen. Ein namhafter Danziger Rathsberr Arnd
von Dassel, der doch wohl mit Arnd Hekel
identisch zu sein scheint, erschien, nachdem
endlich directe Friedensverhandlungen in Fluß
gekommen, zu Ende des Jahrs 1407 in London*
als eben das Parlament vertagt worden. Doch
erhielt er Zutritt beim Könige in seinem Land-
sitz, und Heinrich verhieß nach Weihnachten
zur Stadt zu kommen und ihm guten Bescheid
pu geben. Die bei den Preußen und den nie-
derländischen Städten bevollmächtigt gewesenen
Engländer waren noch rechtzeitig zum Parla-
ment eingetroffen und der eine, Meister Johann
Kington, hatte dem ihm von seiner Sendung her
bekannten Arnd mitgetheilt, daß die Abgeord-
neten keiner Stadt dem deutschen Kaufmann so
Hanseracefiße von 1256—1490. Bd. V. 15
feindselig wären, wie die von Newcastle. Im
Vertrauen indeß hatte der König selber ihm ge-
sagt, daß er mit dem Orden und den Städten
Frieden haben und sein Parlament ibm dem*
nächst aneh die Mittel gewähren würde, die
imputierten Entschädigungen zu zahlen, N. 484
Allein die Feststellung d<?r Zahlungsfristen and
die Ausfertigung der Obligationen machten noch
längere Zeit zu schaffen. Darüber schreibt der«
selbe Arnd noch einmal am 25. Januar 1409
N. 548, als Heinrich IV. an seiner Krankheit so
schwer darnieder lag, daß an seinem Aufkom-
men gezweifelt wurde. Das Parlament, der
königliche Bath sollten eben zusammentreten.
Schon erwartete der Bote von beiden guten Bei
scheid, als er nun ausrufen mußte: „Gott im
Himmel sei's geklagt, ich besorge, daß er von
der Seuche nicht genesen könne. Und solltq
Gott seinen Willen an ibm thun, so weiß iQb
nichts anderes, als daß der Prinz König wird;
und das wird ohne Säumen geschebn". Ala olj
von dem Prinzen, dem nachmaligen Heinrich V.,
weniger Gerechtigkeit zu erwarten wäre. IndeA
haben ihn Brampton, John Brown und andere
Bürger von Lynn (Linden) ermuntert, er sollq
nur gutes Muths sein. Bei der großen in Nord-»
england herrschenden Theuerung würde der
Bath wegen des Friedens gewiß ein Einsehn
haben und den Vertrag genehmigen, denn siq
wüßten von keinem Lande, aus dem sie Kon}
haben könnten, als aus Preußen. Die Sachen
wurden dann freilich nicht eher erledigt, als bis
der Bitter Dietrich von Logendorf als Abge-
sandter des Hochmeisters Ulrich von Jungin-
gen, dessen Anschreiben im Januar 1410 Kör
nig Heinrich an seinem Hofe zu Eltham über*
leichte K 639. 640. Der König erwiderte:
16 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
„der Meister schreibt mir auch und bittet, daß
ich meinen Fürsten, Herren, Rittern und Knech-
ten erlauben möge ihm zu Hilfe und der Christen-
heit zu Trost zu reiten. Ich möchte es niemand
lieber gönnen als mir selber, denn ich bin ein
Kind derer von Preußen (womit er auf seine
beiden in den Jahren 1390 und 1392 nach Preu-
ßen unternommenen Kreuzfahrten anspielt),
könnte ich nur Frieden von den Franzosen ha-
ben" u. s. w. Da gleichzeitig der Herold des
Königs von Polen, der auch an den römischen
König und an den König von Frankreich Auf-
träge hatte, eintraf und der preußischen Wer-
bung bei Heinrich den Weg zu verlegen suchte,
so erklärte dieser doch ausdrücklich: „Wie
kann ich das zulassen, denn ich bin immer ein
Kind von Preußen". Auch ließ er die Ordens-
regierung dringend ersuchen, doch seinen Eng-
ländern zu gestatten wieder Korn zu laden, da-
mit sie wüßten, er und der Hochmeister seien
gute Freunde. Der Botschafter aber bittet sei-
nen Herrn den Hochmeister um den bösen von
den Polen ausgestreuten Verleumdungen zu be-
gegnen dem Könige und dem Prinzen ausführ-
liche Mittheilung zu machen über die Erobe-
rung Samogitiens durch den Polenkönig und
Herzog Witold. Daß dies geschehen sei, weil
ein Ordensbruder bei dem Weibe eines samogi-
tischen Bojaren betroffen worden, wollte auch
Heinrich IV. dem Herolde nicht glauben. Er
sagte ihm im Gegentheil: „Ich habe auch an-
derswo Land; sollte ich es darum verlieren,
wenn ein Ritter oder Knecht bei eines anderen
Mannes Weib gefunden wird". Endlich mag
noch erwähnt werden, daß in einem Elbinger
Receß vom 9. Juni 1409 N.581 cf. N. 440 § 15
außer den beträchtlichen Entschädigungssummen,
Hanserecewre von 1256—1480. Bd. V. 17
die den Städte» zugesprochen wurden, von Eng-
land gefordert wurde, die einst an Heinrich
Percy, offenbar während des Aufstands, von
Danaiger Bürgern verkauften, aber von den
Siegern confiscirten Güter nachträglich zu be-
zahlen, ÄSeeIgerätbett im Werth von 150 Nobel
dir den einzelnen Todten zu stiften, nämlich für
28 Schiffherren und Kaufleute aus Preußen und
Liefland,, die während des Kriegs von den Eng-
ländern über Bord geworfen worden, auf Beob-
achtung der dem Kaufmanne in England von
Alters her gewährten Privilegien zu dringen, den
Engländern selber aber ähnliche Vorrechte in
den preußischen Städten auch fernerhin unnach-
8ichtUch zu verweigern.
GStttogen. R. Pauli.
P. Ö. Molmentü La Storia di Yenezia Delia vita pri-
Tata dalle origpei alia caduta della Repubbliea. Torino,
Row e Favale. 1880. XII u. 703 S. 8°.
Das Buch, für dessen Beurtheilung hierorts
schickliche Gelegenheit geboten ward, ist die
Frucht einer vom Istituto Veneto di scienze,
lettere ed arti im Jahre 1877 aufgestellten Preis-
aufgabe ; der Vorwurf derselben ist zweifelsohne
ebenso anziehend als schwierig zur Lösung,
mochte man den Begriff der vita privata in der
engeren oder weiteren Fassung nehmen, welchen
er zuläßt; für letztere sprach die angefügte
Clansei des Thema „con ispeciale riguardo all'
influenza scambievole del Governo e del popolo".
Anziehend ist diese Aufgabe, weil die ganze
Geschichte von Venedig, im allgemeinen wie im
besonderen, zu den merkwürdigsten und reich-
sten Entwicklungen gehört, welche ein großes
Gemeinwesen im Laufe der Zeiten darstellt;
2
18 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
schwierig, weil sich nirgendwo Staat und Stadt,
Gemeinde und Familie, Politik und Bürgerthum,
Oertlichkeit und Geschäft, Sitten und Künste
so innig berühren, so vielfach durchziehen, so
wechselweise und wirksam fördern, als in der
Handelsrepublik von S. Marco, der Trägerin
und Vermittlerin abendländischer und morgen-
ländischer Cultur.
War es schon an der Zeit — könnte man
fragen — diese Aufgabe fertig zu lösen und
eine Geschichte des Privatlebens der Venezianer
zu geben in der ganzen Ausdehnung vom An-
fang des Freistaates bis zu seinem Sturze? lie-
gen die Quellen von ältester Zeit an offen vor?
ist der Stoff zur Ausarbeitung bereit? haben
wir schon als unentbehrliche Vorläuferinnen
eine Geschichte des venezianischen Adels, des
venezianischen Bürgert bums? eine Darstellung
der Gewerbe und Handwerke? hat das venezia-
nische Stadtrecht in seinen Ursprüngen und man-
nigfachen Gliederungen schon seinen Savigny
gefunden? ist selbst nur das so wichtige San
delsrecht mit seinem anderen Zubehör sachkun-
dig zu Diensten gestellt? Wenn man auf diese
Fragen mit Nein antworten muß, wenn dieses
und anderes noch urkundlicher Durchforschung
bedarf, so war die gestellte Aufgabe nur zu lö-
sen von einem Manne, welcher, wie ein Em-
manuele Gicogna, ergraut im Sammeln,
Sichten und Forschen, sich des gewaltigen Stof-
fes bemeistern und in durchgreifender lichtvoller
Ordnung zu einem schönen Ganzen verarbeiten
konnte, es wäre dieses gleichsam das hohe Ziel
eines langen, ganz der Muse venezianischer Ge
schichte gewidmeten Lebens und fürwahr des
Kranzes werth. Für dieses hohe Ziel der Wis-
senschaft konnte sachgemäß keine auf kurzen
Molmenti, La Storia di Venezia nella vita privata. 19
Zeitraum berechnete Preisangabe gestellt wer-
den; es galt wohl vielmehr, wie auch sonst in
ähnlichen Fällen, der Anspornung auch jugend-
licher Kräfte zu edlem und nützlichem Bemühen,
and diese Absicht glaubte die wissenschaftliche
Gesellschaft erreicht, indem sie der Bearbeitung
im vorliegenden Buche unter gewissenhafter Ab-
wägung den Preis zuerkannt hat.
Der jugendliche Verfasser hat eine ent-
schiedene Begabung zum Schriftsteller und seine
Arbeit zeigt im ganzen eine geschickte Durch-
führung des ausgedachten Planes: eine eigent-
liche Geschichte Venedigs in seinem Privatleben
ist es aber nicht, es sind mehr Bilder oder Ge-
mälde aus demselben, es ist wie er selbst im
Vorwort sich ausdrückt eine „pittura della vita
privata di un popolo". Dabei hat er es wohl
verstanden, theils aus den bisherigen Schriften
— von Sansovino an bis auf unsere Tage —
auszuziehen, was zu einer geordneten Reihe
solch historischer Gonceptionen 'gehört, theils
auch das handschriftliche Material zu benutzen,
welches in Venedig sowohl in öffentlichen als
in Privatsammlungen in Hülle und Fülle vor-
handen ist. Er giebt auch am Schluß zum
Zeugniß dessen eine Anzahl von Documenten,
insbesondere aus der Bibliothek des Herrn Fe-
derigo Stefani, von welchem wir wohl eine
Geschichte der venezianischen Aristokratie er-
warten dürfen.
Gleichwohl galt es vieles, was Herr Molmenti
in Händen hatte, schärfer und emsiger auszu-
nützen, und noch viel anderes in den Bereich
der Studien zu ziehen; man vermißt die prü-
fende Durchsicht der gedruckten und unge-
druckten Chroniken und anderer Handschriften
20 Gott. gel. Abs. 1881. Stück 1.2.
der Mareiana; was z. B. nur in den Diarien
Marino Sanuto's an merkwürdigen Einzelnheiten
für den Zweck einer selchen Arbeit enthalten
ist, das beweist schon was bis heute in 21 Hef-
ten — Dank der Bemühung der 'Depntazione
Yeneta di storia patria' — im Drucke vorliegt.
Um nicht vom großen Archiv ai prari zu
sprechen, welche Nachforschung heiseht nicht
die Sammlung des Museo Civieo nnd die Rac-
colta Oorrer, wie das Ganze jetzt heißt nach
Ueberftlhrung der geeinten Schätze in das statt-
liche Fondaco dei Turchi?
So fand ich selbst gerade für diese Seite
des venezianischen Lebens vor ein paar Jahren
in der jüngst dahin geschenkten Bibliothek vo«
Pietro Gradenigo — auf welche mich Herr
Abbate Nicoletti in collegialer Freundlichkeit
hingewiesen hatte — eine Reihe sehr reichhal-
tiger Aufzeichnungen. Was ich nur passando
ansehen konnte, darüber hat zum Theil Herr
Prof. R. F n 1 i n vor kurzem im Archivio Veneto
torn. XIX parte II p. 365 ff. sachkundig be-
riohtet.
Unerläßlich — meines Erachtens — war dem
Werke zn Anfang eine mehr topographische
Unterlage zu geben und nicht bloß die spätere
Eintheilung in die Sestieri ziemlieh nackt ein-
zufügen ; so karg naturgemäß die Nachrichten
über die Origines der Insel-Republik auch sind,
so läßt sich gerade aus der weiteren Oertlieh-
keit dieser Bfiseh-Ansiedlungen das Eigentüm-
liche des Lebens herleiten, welches sich eben
wegen jener gleichsam zwingenden Verhältnisse
in gar vielen Beziehungen, in Sitte, Art und
Gebräuchen, auch in Sprache and Verkehr, we-
nig verändert bis ans Ende der Republik er-
Molmenti, La Storia di Veuezia uella vita private. 21
halten hat, and auch noch in der Gegenwart
sichtlich zu erkennen ist. Glücklicher Weise
bewahrt ein Volk, was es einmal als gute Sitte
and zweckmäßige Gewohnheit angenommen hat,
lange, selbst im Anfluthen einer alles gleich
machenden , sinnlos zerstörenden Zeit Der
Ghiozzote von heute ist sieber wenig verschie-
den von seinen Ahnen, als vor fünfhundert Jah-
ren um seine Vaterstadt der Krieg auf Leben
und Tod zwischen Venedig and Genoa gekämpft
wurde — es sind diese Inselbewohner noch die
wie Nieetas Acominatus die Venezianer über-
haupt bezeichnet — und wenn man die Bewoh-
ner des Sestier von Dorsoduro mit jenen von
Castello vergleicht, tritt noch heute r selbst im
Dialect und in anderem eine Eigentümlichkeit
hervor.
Eben deshalb mußte auf diese vom Ursprung
an mächtigen und nachhaltig einwirkenden Um-
stände ein größeres Gewicht gelegt und damit
der erste Tbeil des Werkes den folgenden Ab-
schnitten mehr gleich ausgearbeitet werden,
worauf auch sowohl der Bericht der Commis-
sion als de* des Secretärs des Istituto Veneto
hinweist*
Herr Molmenti hat sonst ziemlich alles be-
sprochen, was zum Werke gehörte, aber nicht
immer in vollständiger Weise. So durfte, wo
er von der Ertheilung des Bürgerrechte an Aus-
wärtige bandelt, der Beschluß von 1407 nicht
fehlen: quod omnes Uli forenses qui habitant
vel tenient de coetero habitatum ein täte» no-
stram Venetiarum, et acceperint in uxorem ali*
quam Venetam habitatricem Venetiarum, ipso
facto Venetiis cum sua familia habitsindo, sint
cives civitatis Vetiettartom? de intus etc.; vgl.
22 Gott, gel. Anz. 1881. Stück 1. 2.
Archivio Veneto VIII, 1, 154 — 156. Ueberhaupt
hätten diese und ähnliche gesetzgeberischen Mo-
mente in ihrer historischen Folge und mit ge-
naueren Daten eingefügt werden sollen.
Es wäre so recht im Sinne der Preisaufgabe
gewesen, gerade die merkwürdigen und innigen
Wechselbeziehungen zwischen Staat und Volk
in Betreff zum Ausland und zu den fremden
Nationen innerhalb der Stadt in einem eigenen
Abschnitt vor Augen zu legen: wenn in den
Staatsverträgen, mit den Moslims insbesondere,
schon im 13. Seculum Grundsätze des Völker-
rechts aufgenommen sind, welche kaum die
Tractate der neuesten Zeit erreichen, so zeigt
auch das ganze städtische und bürgerliche Le-
ben eine Freiheit des Verkehrs und eine Werth-
schätzung im Umgang mit Andersredenden, An-
dersgläubigen, wie sie nur aus einem Gemein-
wesen sich herausbilden konnte, dessen Seele
der Handel war.
Dann halten auch die, man könnte sagen
familiären Beziehungen zum deutschen Kauf-
mann, und der hochbedeutsame Stand des deut-
schen Hauses eine nicht bloß vorübergehende
Erwähnung gefunden; eben für dieses sind in
jüngster Zeit werthvolle literarische Veröffent-
lichungen gemacht worden ; das Capitular des deut-
schen Hauses, welches bis auf Rudolph von Habs-
burg zurückgeht, mußte schon als sprachliches
Denkmal an gehörigem Orte aufgeführt werden.
Bei näherem Eingehen auf die angedeuteten
Verhältnisse wäre auch das wichtige Innungs-
wesen noch tiefer erfaßt worden — das 'Capi-
tolare della Giustizia vecchia' z. B. bietet noch
manches außer demjenigen, was der Verfasser
sachgemäß verwendet bat — und eine heutzu-
tage viel angeregte und im Volksleben jederzeit
Molmenti, La Storia di VeDesia nella vita private. 28
dringliche Angelegenheit, die Art der Besteue-
rung, der Auflagen, der Zölle hätte im Capitel
'Considerazioni sugli istituti economici' ihren
Platz gefanden.
Wenn es richtig ist, was ich nach nicht ober-
flächlichen Stadien über das Zollwesen, die Ab-
gaben und die Besteuerung in Venedig anderswo
dargelegt habe — „Zur Quellenkunde des ve-
nezianischen Handels und Verkehres. Abhandl.
der bayer. Akademie I, 15, 7 — München 1879u
— wenn „alle dahin zielenden Maßnahmen nur
auf Zeit, gleichsam auf Probe des Erfolges" ge-
troffen wurden — „mit der vorschauenden Ab-
sicht, entweder zu bestätigen was frommte, oder
abzuändern was nöthig schien, so daß dem
Staatsschatze die ausreichende Fülle von Geld
zuströmte, der Bürger und gemeine Mann seine
Nahrung hatte, und dabei zugleich Käufer und
Verkäufer aus aller Welt gereizt und angelockt
wurden, ihren Markt in Venedig zu halten
u. 8. w.u, so leuchtet ein, wie wesentlich diese
Art von Volkswirtschaft und Finanzverwaltung
mit dem ganzen Staatskörper und dessen Glie-
derungen zusammenhing, wie gerade in diesem
Verfahren der Regierung das volksläufige Sprich-
wort: „pane in piazza, giustizia in palazzoa
seinen Untergrund hatte. Was alles in dieses
Feld der Untersuchung zu ziehen wäre, ist in
der erwähnten Abhandlung angeführt.
Wenn der Abschnitt über die venezianische
Mundart sehr mager erscheint, so liegt die
Schuld allerdings nicht an dem Verfasser; es
fehlt hier noch an den Anfängen einer histori-
schen Grammatik dieses merkwürdigen und so
wohllautenden italienischen Sprachzweiges —
lexicographische Arbeiten sind bekanntlich und
in wackerer Zusammensetzung vorbanden — als
24 (iött. gel. Anz. 1881. Stack 1.2.
auch an einer auf die Ursprünge des veneziani-
schen Wortschatzes gerichteten wohlgeführten
Untersuchung, welche selbst wieder mit der oben
berührten Frage der Origines der Bevölkerung
verkettet ist. Sicher liegen in der veneziani-
schen Mundart, in Wort and Fügung, manche
gnte Reste altlateinischer Sprachweise geborgen,
wie in den Staatsnrkunden hie und da eine lir-
alte Form zu Tage kommt, während anderseits
z. B. in den Satzungen der Kunstgenossenschaf-
ten und Innungen, der sogenannten scolae (seuole)
germanische (langobardische) Einflüsse kaum au
verkennen sind; schon der Name 'gastaldiones'
neben den 'suprastantes' und 'judices' als Vor-
stände und Ordner derselben weist darauf hin.
Nach beiden Seiten bedarf es noch eindringen-
der und ernsthafter Studien, und zwar nach
dem Vorbild von Meister Fr. Diez, welcher
übrigens bereits vielfach in Italien bekannt ist
und erfolgreich — in Schule und gelehrten Ar-
beiten — benutzt wird. Deshalb durfte das
venezianische ruga nicht mehr vom französi-
schen rue abgeleitet werden (pag. 143), sondern
umgekehrt dieses von jenem — im Sinne von
'Gasse' — mittellateinischen, mittelitalienischen
Worte.
Nicht unschätzbar für die Geschichte der
venezianischen Sprache ist ein 'Vocabolario Ve-
neziano-Tedesco' , welches handschriftlich auf
der Münchener Staatsbibliothek bewahrt ist, wo-
hin es aus der Palatina kam. Ich habe über
diesen sauber geschriebenen Pergament-Codex
vom J. 1424 — im 'Catalogue codd. bibl. reg.
monaoensis' — in dem von mir bereits 1858
hergestellten Theil — torn. VII, codd. gall,
hisp. italieos etc. complectens, p. 296 No. 1050
näheres mitgetheilt. Darauf hin hat meines Er-
Molmenti, La Storia di Venezia nella vita privata. 95
inneres Herr Mnssafia in Wien vom Beiben
Gebrauch gemacht. —
Die Sprache des Buches selbst ist anziehend,
klar und lebendig; es wird sicher gerne geleseft
werden, namentlich wegen der mit besonderer
Liebe ausgeführten Beschreibungen gewisser ge-
sellschaftlicher Vorgänge und Festlichkeiten ;
eben damit war aber das Abgleiten auf eine
mehr novellistische Behandlung gar leicht mög-
lich, wie ja dieselbe in der Gegenwart, nicht
zum frommen der eigentlichen geschichtlichen
Darstellung, allenthalben Mode ist.
Diese allgemeinen Bemerkungen sollen be-
weisen, mit welcher Theilnahme wir den Lei-
stungen des Verfassers gefolgt sind, zugleich
aber dahin zielen, demselben für eine spätere
und gleichmäßigere Durcharbeitung des schönen
Vorwurfes wohlgemeinte Rathschläge zu geben.
Er hat ja in der Nähe ein herrliches Muster
vor Augen, an dem hochsinnigen Geschichte-
Schreiber Karl's V., Herrn Giuseppe De Leva
in Padua; selbst nur eine einzige Abhandlung
dieses unverfänglichen Zeugen der Wahrheit,
wie jüngst jene 'Del movimento intellettuale
d'Italia ne' primi secoli del medioevo' genügt,
um darzulegen, wie man die menschlichen Dinge
durchforschen und erfassen, wie man Geschichte
schreiben soll und kann.
München. Georg M. Thomas.
Jordani Bruni Nolani Opera latine con-
script a recensebat F. F i o r e n tin o. Vol.I. ParsI
eontinenB: 1. Oratio valedictoria. 2. Oratio cons olatom.
8. Acrotismos Camoeraeensis. 4. De Immenso et Innu-
merabilibu« (Lib. 1. 2. 8), Neapoli apud Dom. Mo-
rano 1879. XLVIII und 398 8. Hoch 4°.
4
Eine neue Ausgabe der lateinischen Schrif-
26 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
ten Giordano Brnno's war längst von Allen, die
sich mit ihm beschäftigen, lebhaft gewünscht
worden ; denn die Originalausgaben seiner Werke
sind so selten, die Bibliotheken, in denen sie
sich finden, so wenig bekannt, daß es die größte
Mühe kostet, auch nur den größeren Th,eil der-
selben zusammenzubringen. Gfrörer hatte aller-
dings, nachdem Wagner 1830 die italienischen
Schriften publiciert hatte, 1834 eine Ausgabe
der lateinischen Werke begonnen, aber sie
blieb unvollendet, und enthält gerade die wich-
tigsten Schriften nicht, und auch Gfrörers Aus-
gabe ist vergriffen. Der bekannte italienische
Gelehrte Francesco de Sanctis hat sich also ein
großes Verdienst dadurch erworben, daß er als
Unterrichtsminister den Anstoß zu einer durch
Staatsmittel unterstützten neuen Ausgabe der
lateinischen Schriften Brunos gab. Der Profes-
sor der Philosophie F. Fiorentino in Pisa über-
nahm die Arbeit und der erste Band liegt in
schöner Ausstattung vor uns.
Eine an de Sanctis gerichtete Einleitung er-
öffnet das Buch, dann folgen die zwei academi-
schen Reden, die in Gfrörers Ausgabe fehlen,
die Abschiedsrede, die am 8. März 1588 in Witten-
berg, und die Gedächtnißrede auf den Herzog
Julius von Braunschweig, die am 1. Juli 1589
in Helmstädt gehalten wurde. An sie schließt
sich der Acrotismus, die Thesen der Pariser
Disputation von Pfingsten 1586 mit ihren Er-
läuterungen ; den Rest des Bandes füllen die
drei ersten Bücher des lateinischen Lehrgedich-
tes De Innumerabilibus, Immenso et Infigurabili.
Diese Reihenfolge verräth gleich von vorn
herein einen Mangel des neuen Unternehmens,
den wir nur auf das lebhafteste bedauern kön-
nen, den Mangel einer durchgeführten plan-
Jocdani Bruni Op. lat., rec. Florentine 27
mäßigen Anordnung. Die nächstliegende and
fttr eine monumentale Ausgabe wie diese gewiß
zweckmäßigste Ordnung wäre die chronologische
gewesen; nach dieser gehören die genannten
Schriften zu den späteren. Wollte man eine
sachliche Ordnung bevorzugen, so sind aller-
dings zwei Gruppen von Schriften leicht zu
unterscheiden: einmal die logischen und rhe-
torischen, die sich mit der Lullischen Kunst be-
fassen, und dann die metaphysischen, zu denen
außer den drei in Frankfurt erschienenen Lehr-
gedichten noch die Figuratio Aristotelici physici
auditus, der Acrotismus und die Summa termi-
norum metaphysicorum gehört; neben diesen
beiden Hauptgruppen wären nur wenige Schrif-
ten vermischten Inhalts übrig geblieben. Der
Herausgeber gieng nun davon aus, daß die
Gfrörersche Ausgabe tiberwiegend logische Schrif-
ten enthält und zog darum vor, die noch wenig
zugänglichen und wichtigeren metaphysischen
Lehrgedichte voranzustellen — ein Grund, der
doch zu vorübergehender Natnr ist, um zu ent-
scheiden.
Leider versäumt der Herausgeber dabei, uns
ein Wort über den Plan seiner Ausgabe im Gan-
zen zu sagen. Er beschränkt seine Bemerkun-
gen auf den ersten Band ; und hier motiviert er
die Voranstellung der beiden Reden damit, daß
Bruno selbst sie vorangestellt haben würde, um
seinen Dank an die deutsche Nation auszu-
drücken, die ihn gastlich aufgenommen; die
Voranstellung des Acrotismus vor den Lehrge-
dichten aber wird damit begründet, daß er eine
kurze Uebersicht über die Physik Brunos enthalte.
Wollten wir nun auch diese Gründe gelten
lassen, obgleich sie einen übersichtlichen und
28 Gott gel. Am. 18dl. Stück 1.2*
einheitlichen Plan nicht ersetzen können, so ist j
geradezu unbegreiflich, wie der Heraasgeber
dazu kam, von der Trias der Frankfurter Schrif-
ten De Minimo, De Monade, De Immenso die
letzte zuerst zu stellen, was schon ganz äußer-
lich die Unbequemlichkeit mit sich bringt, daß
sie in zwei ,6 an de vertheilt werden muß. Der
Herausgeber weiß selbst, daß Bruno jene Schrif-
ten ausdrücklich in die angegebene Ordnung
gestellt hat; er sagt ja in der Dedication, die
sich auf alle drei bezieht: Adsunt primo De
Minimo etc. libri, secundo de Monade über, tertio
de Immenso etc., und auf dem Titel des Ban-
des, der De Monade und De Immenso mit fort-
laufender Paginierung enthält, steht: De Mo-
nade etc. über, consequens quinque de Minimo.
Deutlicher kann nicht ausgedrückt sein, welche
Ordnung Bruno selbst diesen Schriften ange-
wiesen hat. Was würde man von einem Heraus-
geber Schillers sagen, der Wallensteins Tod vor
das Lager stellte? Denn das subjective Ur-
theil, daß De Immenso bedeutender sei als De
Monade, konnte doch die vom Verfasser selbst
gewollte und sachlich begründete Reihenfolge
nicht umstoßen.
Der Herausgeber scheint aber auch sonst
über das Verhältniß dieser drei Schriften be-
ziehungsweise ihrer Originalausgaben im Un-
klaren zu sein. Er sagt S. 193 Note: die Epi-
stola dedicatoria an den Herzog Heinrich Julius
von Braunschweig sei „premessa a tutto il vo-
lume, che contiene i tre poemi De Monade, De
Immenso e De Minimo". Diese drei Gedichte
sind nicht in einem Band erschienen ; De Minimo
erschien zuerst besonders, mit besonderer Dedi-
cation; die beiden andern nur sind zusammen-
Jordarn Bfroni Op. lat,, rec. Fioreotino. 29
gedruckt und tragen allerdings die Dedication
an der Spitze, die sich auf alle drei bezog, die
aber ausdrücklich zuerst stellt, was Fioreotino
znletzt aufführt Die Erklärung, warum die Ge-
sammtdedication erst vor dem zweiten Werke
der Bei he steht, liegt, wie kh anderswo ausge-
führt, darin, daß die Nötbigung, Frankfurt plötz-
lich zu verlassen, Bruno bestimmte, das zuerst
gedruckte Werk dem Herzog gesondert über-
reichen zu lassen, die Dedication zum Ganzen
erst später nachzuholen.
Der Herausgeber scheint dabei allerdings
durch einen Irrthum Berti's (in dessen Vita dt
Giordano Bruno) mit verfährt worden zu sein,
der annahm, De Minimo sei erst nach De Mo-
nade gedruckt worden. Er glaubt nun seiner-
seits (S. XXXVII), der Druck des Bandes, der
De Monade etc. enthält, sei im November 1590
beendet gewesen, als Bruno den Druck des De
Minimo begann; und das letztere schließt er
daraus, daß Bruno De Min. I, 1 sage, Herzog
Heinrich Julius von Bräunschweig sei zur Hoch*.
zeit König Jacobs von Schottland mit Anna von
Dänemark gegangen, die gerade in jenem Mo»
nat stattgefunden habe. Allein er fällt dabei i*
eine zweifache Verwechslung. Zuerst fand die
Hochzeit Jacobs nicht im Nov. 1590, sondern
am 23. Nov. 1589 statt, und zum zweiten redet
Bruno in der angezogenen Stelle nicht von der
Vermählung Jacobs, bei der Herzog Heinrich
Julius, sondern von der Vermählung des Her-
zogs mit Elisabeth von Dänemark, bei der Ja*
cob anwesend war; und diese fand am 19. April
1590 statt. Damals also wurde das erste Capi-
tel De Minimo geschrieben; im Februar 1591
war der Druck vollendet. Wäre das erste Ca-
30 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 1.2.
pitel de Minimo erst Ende November geschrie-
ben worden, so mttßte der Herausgeber für wahr-
scheinlich halten, daß der ganze Band mit zahl-
reichen Figuren in kaum zwei Monaten fertig
gestellt gewesen wäre. De Minimo wurde dann
zur Ostermesse 1591 ausgegeben; die beiden
andern Schriften aber, wie aus des Frank-
furter Buchhändlers Bassaeus Collectio in unum
Corpus etc. 1592 hervorgeht, erst zur Herbst-
messe.
Es wäre auch sonst zu wünschen gewesen,
daß der Herausgeber der bibliographischen Seite
seiner Aufgabe mehr Sorgfalt gewidmet hätte.
Er fahrt S. XXV an, daß er von De Monade
zwei Ausgaben, von 1591 und 1614, vor sich ge-
habt habe. Sie scheinen ihm dieselbe zu
sein, nur das Titelblatt neu gedruckt. War denn
darüber nicht leicht Gewißheit zu erlangen ? Er
unterläßt jede Beschreibung der Originalausga-
ben, die bei ihrer Seltenheit doch nicht über-
flüssig war; wir erfahren nicht einmal den ur-
sprünglichen Titel des Buches, dessen zweiten
Theil die von ihm abgedruckte Schrift De Im-
menso bildet. Damit hängt eine weitere Unbe-
quemlichkeit seiner Anordnung zusammen. Die
Notizen, welche zur Einleitung in die einzelnen
Werke dienen, stünden doch am besten vor je-
dem einzelnen Werk; so muß man sie in der
ohne sichtbare Abschnitte geschriebenen Ein-
leitung suchen, und über die Veranlassung der
zweiten Bede fehlt jedes Wort, obgleich der Le-
ser aus ihrem Titel und ihrem Inhalt unmöglich
alles erfahren kann, was ihm zu wissen wün-
schenswerth ist.
Noch eine weitere Bemerkung kann ich
nicht unterdrücken. Für den Gebrauch der
neuen Ausgabe wäre es gewiß mit großem Danke
Jordani Rrrnii Op. lat., reo. Fiorentino. 31
empfunden worden, wenn der Heransgeber die
Seitenzahlen der Originaldrncke und die der
Gfrörer'schen Anggabe in seinem Texte ange-
geben hätte; die bisherigen Citate sind meist
nach ihnen gemacht; wie soll man in der neuen
Ausgabe etwas finden? Und wenn man etwa
ein nach Büchern und Gapiteln gegebenes Citat
aufsuchen wollte, so vermißt man die entspre-
chenden Golumnenttberschriften ; nichts als die
Seitenzahl steht Ober den Seiten, so daß, wer
das Buch aufschlägt, nicht einmal weiß, welche
Schrift er vor sich hat. Dergleichen gehört
doch zu den ersten Erfordernissen der wirkli-
chen Brauchbarkeit einer Ausgabe. Sogar die
Zählung der Verse, Welche die Originalausgabe
bat, ist weggelassen.
Nach diesen Ausstellungen, die ich nicht ver-
mehren will, gereicht es mir nun zur Befriedi-
gung, die Sorgfalt, welche der Correctheit des
Textes gewidmet ist, im Ganzen anerkennen zu
dürfen. Der Herausgeber bemüht sich, nicht
bloß einen genauen Abdruck herzustellen, son-
dern auch die Druckfehler — zuweilen auch
Sprachfehler — des Originals zu berichtigen,
und er giebt meist mit peinlicher Genauigkeit
die so entstandenen Differenzen vom Originale
selbst in der Interpunction, wo diese irgend von
Bedeutung ist, unter dem Texte an; ebenso no-
tiert er seine Abweichungen von Gfrörer. Kleine
Inconsequenzen dabei, welche sich kaum ver-
meiden lassen, wäre ungerecht zu tadeln. Aber
seine Sorgfalt ist sich nicht tiberall gleich ge-
blieben. Auf der Einen Seite 381 z. B. steht
Z. 6 istigante statt instigante, Z. 10 ist ein Se-
micolon eingefügt, wo höchstens ein Komma am
Platze ist, Z. 16 steht Nicoetse Pithägoraeque, wo
das Original Nicsetae Pythagoroque hat (sieber-
89 Oött. gel. Adz. 1881. Stück 1.2.
lieb kerne Verbesserung; daneben wird zwarTi-
raei in Timsei corrigiert, aber Aegesi« und Sta-
gyrita stehen gelassen); Z. 18 potueresatis als
Ein Wort, Z, 20 reliqni haec Septem statt reli-
qua, Z. 24 compertae statt comperta. Wer sich
in einer Einleitung, in die das gar nicht herein*
gehört, sechs Seiten lang aber die Fehler der
Wagner'scben Ausgabe der italienischen Werke
verbreitet, und so scharf die Nachlässigkeit eines
Mannes rügt, der jedenfalls das Verdienst bat,
ans eigenen Mitteln unternommen zuhaben, was
Italien in erster Linie oblag, durfte nicht in 19
Zeilen sieben Fehler stehen lassen.
Ansprechend, wenngleich nicht überzeugend,
ist der Versuch des Herausgebers, Data für die
erste Entstehung des Gedichtes De Immenso zu
gewiiaea; es würde nach derselben Methode
folgen, daß De Minimo und De Monade, die ja
darin oitiert werden, noch früher geschrieben
sind. Daß einzelne Theile schon längere Zeit
vhw der Herausgabe entworfen worden sind, ist
laicht möglich, die jetzige Gestalt hat das Werk
ohne Zweifel erst in Helmstedt oder gar in
Frankfurt erhalten.
Tübingen, Nov. 1 880. C. S i g w a r t.
Die Summa der Heiligen Schrift. Ein Zeug-
niß aus dem Zeitalter der Reformation für die Recht-
fertigung aus dem Glauben. Herausgegeben von
E. Benrath, Prof. an der Universität Bonn. Leipzig,
L. Fernau. 1860. XL and 175 Seiten in Ootav.
Dem gelehrten Herausgeber des vorliegenden,
äußerst interessanten Werkes war von verschie-
denen Seiten, auch von mir in meiner Anzeige
dear von Comba besorgten neuen Ausgabe des
Sommario della Sacra Scrittura (1878. S. 705 f.),
die Bitte ausgesprochen, er möge, wie er zuerst
Die Summa der Heiligen Schrift, heransg. «v. Benrath. 88
in iDfcuJ&chiifcöd $ie Wiederauffindang jenes her
^braten Bloches aap dem Zeitalter der Refor-
mation apgeMpdigjt hatte, so auch über de?
JJreprpng desselben, Ober die sehr zweifelhaft
#sc|hqinende Originalität des italienischen Tex-
tes aqd über jjnaaqherlei andere literarisch- kriti-
sche Fragen, zu deren Beantwortung eiae ge-
j#up E^emtfnis des historischen ppd literarischen
Retails der Reforawtipnazeit gehört, insbesondere
so weit Italien ki Betracht kommt, sieb vernahmen
lassen. Diese Erörterungen durfte man getane
von Bßprath ,erhoffen, weil er, ein bewährter
Forseber a^f dem be&eicbnetejo Gebiete, einp
deutsche Bearbeitung $es Sommario versprochen
hatte. Benrath hat nun in danjkqnswerthester
Weise nic^it pur eine Uebersetzung des italieni-
schen Werkes .gegeben (S. 1 — 173 des anzu-
zeigepden Baches) — and um dieser Arbeit wil-
len nennt er sich besoheiden „Herausgeher" —
sondern er hat auch die sich ( darbietenden kri-
tischen Fragen .eingebend erörtert. \n ange-
messener KOrze, aber ausreichend, ist dies in
der Einleitung zum vorliegenden Buche ge-
schoben (S. III^-XXXVIU), ajisftthrliQher aber
and mehr auf dfts Detail der Untersuchung ein-
gebend in einer Abhandlung über „die Summa
der Heiligen .Schrift", deren erster Theil in den
Jahrbüchern für .protestantische Theologie (VII,
S. 127 f.) schon erschienen ist
Das zur Verarbeitung erforderliche Material
hat Benrath in fleißiger Nachforschung und mit
glücklicher Hand zusammengebracht und dem
wesentlichsten Theile nach mit eigenen Augen
gesehen. Er weist, wenn wir zuerst auf die
italienischen Ausgaben hinblicken dürfen, auß^r
zwei in jüngster Zeit erschienenen Ausgaben
vier verschiedene italienische Drucke aus der
34 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Beformationszeit nach. Der älteste derselben
fällt etwa in das Jahr 1534 Dazu kommen
mehrere französische Ausgaben. Die älteste
vom Jahre 1523 ist durch ein Exemplar im
Britischen Museum vertreten. Benrath hat diese
Ausgabe sorgsam geprüft. Zu meiner Freude
hat er manches bestätigt, was ich nur auf
Grund von Notizen, die mir auf meine Bitte
von einem der Herren Gustoden der Bibliothek
des Britischen Museums gegeben waren, und
unter kritischer Vergleichung des italienischen
Neudrucks urtheilen konnte. Ferner kommen in
Betracht fünf englische Ausgaben, von denen
vier in Cambridge vorhanden sind, eine im Bri-
tischen Museum sich findet. Die älteste ist aus
dem Jahre 1529. Von entscheidender Wichtigkeit
sind aber endlich die niederländischen
Ausgaben, von denen Benrath verschiedene
nachweist. Die älteste, welche er aufgefunden
hat, ist aus dem Jahre 1526, eine Ausgabe,
welche aber sich selbst als eine neue, sorgsam
verbesserte Auflage ankündigt. Wahrscheinlich
ist diese Ausgabe von 1526 die dritte, während
die zweite in das Jahr 1525, und die erste in
das Jahr 1523 fällt. Facsimilirte Titel der
niederländischen Ausgabe von 1526, der fran-
zösischen von 1523, der italienischen ohne Jahrs-
zahl (etwa von 1534) und der englischen von
1529 giebt uns Benrath vor der Uebersetzung
des Werkes.
Das somit vorliegende Material hat Benrath
mit eingehender Sorgfalt verarbeitet und wenig-
stens die hauptsächlichsten kritischen Fragen
zur Erledigung gebracht. Nur in Betreff der
Person des Verfassers ist bislang nichts weiter
als eine, allerdings nicht unwahrscheinliche,
Vermuthung zu gewinnen gewesen.
Die Summa der Heiligen Schrift, herausg. v. Benrath. 85
Durch Vergleichung der in vier Sprachen
vor uns liegenden Schrift — eine Vergleichtmg,
deren Detail vorzugsweise in der oben bezeich-
neten Abhandlung gegeben wird — stellt Ben-
rath zuvörderst fest, daß die italienische Recen-
sion nicht ursprünglich, sondern eine Ueber-
setzung, und zwar aus dem französischen Texte,
ist Sodann muß, wenn es sich um die Origi-
nalität handelt, der englische Text zurücktreten.
Das uns vorgelegte ausdrückliche Zeugnis, daß
die englische Form eine Uebersetzung from the
Dutch sei, findet in der Textgestaltung selbst
seine Bestätigung. Auf dem Plane bleiben so-
nach die französische und die holländische Re
cension, von denen eine den Ruhm der Origina-
lität haben muß. Theils sind es nun Zusätze
und sonstige Eigentümlichkeiten der Redac-
tion, welche bei der kritischen Vergleichung der
beiden Recensionen uns entgegentreten, theils
sind es anderweite historische Momente, welche
Benrath aus seiner gründlichen Kenntnis des
Reformationszeitalters beibringt; alle diese An-
zeichen weisen aber darauf hin, daß die Summa
der Heiligen Schrift aus niederdeutschem Boden
entsprungen sei. Wahrscheinlich ist die erste
niederdeutsche Ausgabe im Jahre 1523 gedruckt.
Die französische Ausgabe, welche das Jahr 1523
trägt, muß sofort veranstaltet und wird vermuth-
lieh von Basel aus verbreitet sein. Die zweite,
oder wahrscheinlicher schon die dritte, nieder*
deutsche Ausgabe von 1526 liegt uns vor. Die
englischen Ausgaben, welche (S. 137) einiges
Eigentümliche haben, indem namentlich die Aus-
gabe im Britischen Museum die Kapitel über
das Mönchswesen ausläßt, sind gleichfalls noch
in den zwanziger Jahren besorgt. Die italieni-
sche Uebersetzung dagegen ist am spätesten,
3*
36 Gott. gel. Adz. 1881. Stack 1.2.
irertmithlich erst in dea dreißiger Jahtfefe er-
schienen.
Alles Vorstehende darf nach den fcberfceragen-
den Erörterungen, welche Benrath mit ebebso
großer Besonnenheit wie mit Scharfsinn ufcd
Sachkenntnis gegeben bat, für zuverlässig gel-
len. -Etwas weiter reichen noeh woMbegrüfcdfcte
Vermuthungen und bei einem untergeordneten
Punkte bleibt mir ein Zweifel. Fflt sehr wahr-
sebeinikb halte ich d*e Venmitflmög Benraths,
flaß die erste holl&ndi&he Aufgabe *u Leiden
Von detti wegen seines Verlags fceteerisfcher Btt-
öher angefochtenen Buchdrucker Jan Zevers
(Siverts) veranstaltet sei. Daß eine folgende,
die zweite oder dritte, Aufgabe atedafen von
Cornelius Henrikzon zu Delft besorgt worden
Bei, ist wiederum ausdrücklich bezeugt.
Aber Benrath giebt uns auch eine Venmi-
thung über die Person des Verfassers, eine bloße
Vermuthung allerdings, aber eine in hohem
Grade ansprechende. Er weist auf Heinrich
fiömmelius 'bin — so genannt von seiner Vater-
stadt Bommel an der Maas — «inen reformato-
frtechen Prediger, der am Niederrbein, nament-
lich in Mors und in Wesel, in den zwanziger
nnd dreißiger Jahren bis zur Mitte des sech-
zehnten Jahrhunderts hin uns begegnet, ein
Mann, welcher für die Sache der Reformation
viel gethan und gelitten hat. Mehr als eftne
Spur leitet darauf bin, diesem Heinrich Bomme-
Hus die Abfassung unserer Summa beizulegen.
Das frappanteste Anzeichen ist folgendes. Als
Bommelius im Jahre 1557 m Wesel seiner 'Lehre
wegen zur Verantwortung gezogen wurde, be-
rief er sich darauf, daß er schon vor ungefähr
dreißig Jahren in einem Büchlein, genannt
„Summa der deutschen Theologie11, seinen GWau-
Die Summa ti&r Heiligen Schrift, heraußg. v. Benrath. 87
ben dargelegt habe. In dieser „Stimme der
deutschen Theologie" unsere „Summa der Heili-
gen Schrift" wiederzuerkennen , liegt um so
näher, weil sich auf dem Titel der holländischen
Ausgabe von 1526 neben der Hauptangabe
Summa der godliker Scrifturen die weitere An-
gabe oft ee» dnytsche Theologie findet.
Nur in einem Punkte bleibt mir ein Zweifel
an dem von Benrath Ausgeführtem. Wenn näm-
lich die bei der Darstellung der Lehre von den
Sacramenten immer wiederkehrenden Ausdrücke
segno und pegno, segnale, significare, rappre-
Bentare mich bei meiner Anzeige des Sommario
veranlassen, Einflüsse von Seiten der schweize-
rischen Reformation anzunehmen, so will Ben-
rath (S. 486 f.) das nicht anerkennen: er hält
dafür, daß die Anschauungen, wie sie in den
Kreisen der Brüder vom gemeinsamen Leben
längst vorbereitet waren, zur Erklärung jener
Aussagen und anderer, z. B. über die Leetüre
der heiligen Schrift, ausreichen. In Betreff des
letzteren Moments gewiß; aber in den Anschau-
ungen von der Bedeutung der Sacramente scheint
mir noch immer der schweizerische Einfluß er-
kennbar zu sein. Ich wüßte nicht, wie jene
Aussagen von „Zeichen" und „Unterpfand"
vielnaehr auf die Heimath der Brüder vom ge-
meinsamen Leben zurückweisen sollten.
Aus allem Vorstehenden ergiebt sich die
dankbarste Anerkennung der Benrathschen Ar-
beit. Das edle Zeugnis aus der Reformations-
zeit) welches jetzt dem deutschen Volke ver-
ständlieh gemacht ist, wird hoffentlich in weiten
Kreisen Eingang finden und seine heilsame Kraft
bewähren.
Hannover. D. Fr. Düsterdieck.
88 Gott gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Die Entwicklung des altisraelitischen
Priesterthums. Ein Beitrag zur Kritik der mitt-
leren Bucher des Pentateuchs von Dr. S. May bäum.
Breslau. Verlag von Wilhelm Eoebner. 1880. VIII.
128 S. 8°.
Die Vorrede zu einem neuen Buche des Herrn
Rabbiner Maybaum nöthigt mir eine Bitte ab,
welche ich alle Leser meiner Schriften zu be-
herzigen ersuche: ich wünsche nicht eher kriti-
siert zu werden, als bis man mich in Buhe ge-
lesen hat: es wird Niemandem etwas schaden
anzunehmen, daß ich für gewöhnlich etwas lie-
fere, was zweimal anzusehen lohnt, wenn man
es beim ersten Ansehen nicht verstanden haben
sollte.
In meinen Orientalia II 20—22 habe ich
folgendes auseinandergesetzt:
1. Der Name Levi ist kein Name, wie die
Namen der übrigen Patriarchen, sondern ein
Adjectiv.
2. Es ist von vorne herein unerlaubt zu
meinen, daß die Bedeutung, welche der Name
Priester und der Name Levit in den Tagen des
Esdras gehabt, auch die unter Salomon und gar
am Sinai gültige gewesen sei: ich füge hier
hinzu, daß jede Nation, welche sich in andert-
halb Jahrtausenden nicht ändert, ein werthloses
Fossil ist.
3. Man kann die Leviten sprachlich als die
sich anschließenden deuten : sie wären dann die
sich den aus dem Delta zurückwandernden Se-
miten anschließenden, also Aegypter gewesen:
auch Moses war ja nach den ägyptischen Quel«
len ein Aegypter, und — dies ftige ich jetet
hinzu — die Aussage dieser Quellen kann
nicht dadurch beseitigt werden, daß ein neun
hundert Jahre nach Moses geschriebenes, nicht
Maybanm, Entwickelang des altisrael. PriesterUranu. 89
israelitisches, sondern jüdisches Buch die Sache
anders darstellt
4. Man kann aber sprachlich die Leviten
auch als die der Bandeslade das Geleit geben-
den ansehen.
5. Mag das eine oder das andere richtig
sein, zur Zeit des Esdras waren die Leviten,
von den Priestern verschieden, beim Gottes-
dienste die Vertreter der Gemeinde.
Ich habe also zwei Ansichten über die ur-
sprüngliche Bedentang der Leviten zar Wahl
gestellt, and mich für keine der beiden ent-
schieden: ich habe angegeben, was zar Zeit des
Esdras meiner Ueberzeugung nach die Leviten
gewesen sind. Jeder Leser meiner Orientalia II
mag erwägen, ob ich mich deutlich aasgedrückt
habe: ich stehe wohl überhaupt nicht in dem
Rufe, nicht deutsch reden und schreiben zu
können.
Mein Wunsch ist — ich wiederhole es — der,
daß (vergleiche auch die Monatsschrift für die
Geschichte und Wissenschaft des Judenthums
XXIX 384) Herr S. Maybaum und alle, wel-
che sich sonst mit mir beschäftigen wollen, in
Zukunft was sie über mich sagen, erst nach
Erwägung alles dessen sagen, was ich wirklich
vorgetragen habe. Mir ist in den Orientalia II 20
nicht eingefallen zu behaupten, die Leviten
seien die Aegypter gewesen, welche mit Moses
gezogen: ich habe über die ursprüngliche Be-
deutung des Namens Levit eine Vermuthung
ausgesprochen, neben der eine andere Vermu-
thung steht: ich habe ganz genau — wenn es
gleich zu meinem Bedauern Herrn Maybaum
„nicht völlig klar geworden" — angegeben,
warum Levi nicht ein Stamm wie die andern
Stämme gewesen, nämlich darum nicht, weil
40 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1. 2.
Let! ganz Bieter kein Yiir(fityihktim , sondern
ein Adjectiv ist.
Ich babe besseres tu thtm, ate mich mit
Solchem! Mia+erstehn der Hast hefrutfriu&blägetf,
muß aber gelegentlich einmal g6getf solares
Misverstehn Verwahrung eintegdn, damit die
Hast nicht zu arg die Gewissenhaftigkeit über-
wuchere, welche eiti Landsmann der Mässoreten
gut thun wird als natioüale Tugend tu pflegen.
Herr Maybäum, dem ich ftlr seifle freund-
liche Gesinnung gegen mich zu Danke verpflich-
tet bin, bekennt sich zu der Ansicht, daß die
Leviten die geistige Blüthe der israelitischen
Nation gebildet haben. Ich muß ändern fiber-
lassen zu untersuchen, ob er diesen etwas un-
bestimmten und mit dem Canon siehe? nicht
in Einklang stehenden Satz erweist. Mit ist
ton Blüthe der israelitischen Nation überhaupt
nicht zu viel bekannt: was dort etwa blüht,
stammt nicht von Israel her. Semiten, Hebräer,
Israeliten, Juden — auch Herr Maybaüto Wird
nicht bedauern, diese absteigende Scala eitimal
in G danken durchgespielt zu haben.
P. de Lagarde.
The Authorship of the Fourth Gospel:
External Evidence 9. By Ezra Abbot,
D.D., LL. D., Bnssey Professor of New Testament
Criticism and Interpretation in the Divinity School
of Harvard University. Boston: Geo. H. Ellis, 1880.
104 S. 8°.
Abbot's Essay über die äußeren Zeugnisse
für die Echtheit des 4. Evangeliums Ist nach
der Vorrede des Verfassers &tift einen* Vortrag
erwachsen, den dieser Vertrötfer der Äedtesta-
mentlichen Exegese und Kritik aü tier tinter
Leitung der Unitariä» steifende* HWvätö-Uni-
Ezra Abbot, Authorship of the Fourth Gospel. 41
versität in Cambridge bei Boston im October
1879 in der öffentlichen Versammlung der Prd-
digergesellschaft (the Ministers' Institute) seiner
Kirchengemeinschaft gehalten hat. In revidier-
ter Gestalt ist dieser Vortrag zuerst in der Uni-
tarian Review (Februar, März, Juni 1880) zum
Abdruck gebracht; dann hat ihn der Verfasser
noch einmal für ein dem Referenten nicht zu«
gängliches Sammelwerk, Institute Essay's, be-
richtigend und erweiternd überarbeitet und hl
dieser Form auch in dem vorliegenden Separat*
druck ausgeben lassen. Die Erweiterungen., be-
treffen namentlich die Untersuchungen über das
Verhältniß Justin's zum 4. Evangelium, welche
auch die Hinzufögung eines Anhanges von län-
geren Noten veranlaßt haben, in denen der Ver-
fasser eigene Forschungen niedergelegt hat. Da-
gegen beklagt es Abbot, daß die Umstände, ttü*
ter denen sein Essay entstanden und gedruckt
sei, ihn gezwungen hätten, sich in Betreff ande-
rer Punkte mit bloßen Verweisungen zu begntt*
gen, auch manche Citate nicht im Urtext, son*
dem in einer möglichst wörtlichen englischen
Uebersetzung zu geben und aus der reichen
Fülle des Materials nur einige wichtige Erörte-
rungen herauszugreifen.
Die Frage nach der Johanneischen Abkunft
und dem geschichtlichen Werth des 4. Evange*
Hums — das fahrt der mit der einschlagenden
amerikanischen, englischen und deutschen Lite»
ratur wohl vertraute Verfasser S. 7—12 cinlei*
tend aus — kann nicht gelöst werden, wenn
nicht vorher einige Nebenfragen auf's Reine ge*
bracht sind, die, bis jetzt noch streitig, die Ent*
Scheidung der Hauptfrage mitbedingen. Der
Streit übet diese ist freilich noch nicht geschlich-
tet und in Deutschland bertiseht noch die Ten-
42 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 1.2.
denz, die Echtheit des 4. Evangeliums in Ab-
rede zu stellen. Aber die Gegner desselben ha-
ben seit Baur's epochemachender Abhandlung
in den »theologischen Jahrbüchern (1844) doch
Vieles nachgegeben und bei dem conservativen
Zug, der im Augenblick durch die kritische
Arbeit geht, sind manche der einschlagenden
Nebenfragen einer Lösung entgegengeflihrt, wel-
che der schließlichen Anerkennung des viel um-
strittenen 4. Evangeliums als einer Schrift des
Apostels Johannes günstig zu sein scheint. So
haben selbst deutsche Kritiker, wie Keim, Schen-
kel, Holtzmann u. A. , die Niemand zu den in
ihrem Vaterland verrufenen Apologeten zählen
wird, den von Baur offenbar überspannten Ge-
gensatz zwischen den Uraposteln und Paulus so
weit ermäßigt, daß man aus der Zugehörigkeit
des Johannes zu den Zwölfen kaum noch die
Möglichkeit der Abfassung eines so antijudai-
stischen Evangeliums, wie des vierten, durch
denselben wird bestreiten dürfen , wenigstens
nicht für die letzten Zeiten seines Lebens, etwa
20 Jahre nach der Zerstörung Jerusalems; da-
mit ist aber eine grundlegende Position der
Tübinger Schule hinfällig geworden. Hinfällig
geworden ist auch eine andere Position dieser
Schule, seit E. Schürer in einer neuen und
sehr gründlichen Untersuchung des Quellenmate-
rials zur Geschichte der Passahstreitigkeiten des
2. Jahrhunderts festgestellt hat, daß der An-
schluß des Apostels Johannes an die Gepflogen-
heit der Kleinasiaten, am 14. Nisan, dem jüdi-
schen Passahtage, in christlicher Weise die Abend-
mahlsfeier zu begehen, ganz unverfänglich sei
and mit den Motiven der quartodecimanischen
Praxis nicht zusammenhänge. Dadurch ist aber
die ältere Würdigung der Passahstreitigkeiten
Ezra Abbot, Authorship of the Fourth Gospel. 43
im Sinne von Lücke. Gieseler, Bleek, de Wette,
Hase, Riggenbach aufs Neue bestätigt, daß sieh
aus den Daten dieser Streitigkeiten keine
Gründe weder für noch gegen die Johanneiscbe
Abfassung des 4. Evangeliums gewinnen las-
sen. Auch darin ist allgemeine Ueberein-
stimmung erzielt, daß das späte Datum für die
Abfassung des 4. Evangeliums, welche die Tü-
binger Schule ursprünglich zwischen den Jahren
160 und 170 angesetzt hatte, jetzt widerspruchs-
los aufgegeben ist; man hat die Entstehung
des Evangeliums allmählich auf 130, auf 120,
ja auf ein noch früheres Datum hinaufgerückt.
Selbstverständlich wird damit die Annahme sei-
ner Unechtheit fast unmöglich gemacht. Es ist
deshalb auch nur eine Auskunft der Verlegen-
heit, daß einige Gegner des Evangeliums auf
Lützelbergers längst vergessene Meinung zurück-
gegriffen haben, der Apostel Johannes sei nie-
mals in Kleinasien gewesen, eine Behauptung,
die Hilgenfeld, ein Kritiker derselben Schule,
vollständig widerlegt hat.
In der optimistischen Stimmung dieser Ein-
leitung, welche der Referent freilich nicht zu
theilen vermag, geht Abbot dann S. 13 daran,
sein Thema näher zu präcisieren. Er will seine
Erörterung der äußeren Zeugnisse für die Echt-
heit des 4. Evangeliums, die in voller Ausführ-
lichkeit mitgetbeilt einen ganzen Band füllen
müßte, auf nur vier Hauptpunkte beschränken :
1. auf die allgemeine Annahme unserer vier
Evangelien als echter Schriften im letzten Vier-
tel des 2. Jahrhunderts; 2. auf den Nachweis,
daß das 4, Evangelium in den apostolischen
Denkwürdigkeiten, aus denen Justin seine evan-
gelischen Gitate schöpft, mitenthalten war; 3.
44 Gott. gel. Änz. 1881. Stück 1. 2.
auf den Gebranch des 4. Evangeliums bei den
verschiedenen gnostischen Sekten; 4 auf das
Zeugniß für dieses Evangelium, welches dem
Buche selbst angefügt (21, 25) auf uns gekom-
men ist
Die erste Erörterung erledigt der Verfasser
S. 13 — 19 in wohlthuender Kürze ; behandelt er
doeh eine These, gegen die von Seiten einer
maßvollen Kritik kein Widerspruch erhoben wird.
Auch spricht er sich mit voller Sachkenntnis
über die Art aus, wie die älteren christlichen
Schriftsteller vor dem letzten Viertel des 2. Jahr-
hunderts die Evangelien, besonders Herrnworte
aus denselben, in Citaten, Anklängen und Ver-
quickung der Entlehnungen mit ihren eignen
Gedanken benutzen, und dringt mit Recht dar«
auf, daß aus diesem im Ganzen sparsamen Ge-
brauch der Evangelien mit freier Behandlung
ihres Textes nicht gegen die Echtheit unserer
vier Evangelien argumentiert werden darf;
ebenso richtig legt er dem Widerspruch der
Aloger gegen das 4. Evangelium und der An-
erkennung allein des Lukasevangeliums als des
Paulinischen bei Marcion weiter keine Bedeu-
tung bei. Aber, abgesehen von einer allenfalls
dahin zielenden Bemerkung über den Schriftge-
brauch des Märtyrers Justin (S. 15) hebt er es
gar nicht hervor, daß sich erst im letzten Drit-
tel des 2. Jahrhunderts mit der Entstehung der
altkatholischen Kirche der Kanon des N. T.'s
bildet, daß also erst seit dieser Zeit, in welcher
der Begriff der Schrift wi 1£o;h/V, der heiligen
Schrift, auch auf die Schriften der Apostel und der
unter deren Leitung schreibenden Apostelschüler
übertragen wird, das Citat aus den vier als ka-
nonisch anerkannten Evangelien in die ihm ge-
ßzrft Abbot , Authorship of the Fourth Gospel. 46
bübrende Steltang Pttckft. Den Umstand indeß,
daß gerade unsere vier Evangelien und keine
widern im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts,
also in der Zeit, in welcher der Kanon des
& T,s eben angefangen hatte sich zu bilden,
nach dem Urtheil der Kirche für echt gelten,
darf nun Abbott — nnd das ist ihm ein ernstes
Anliegen — mit vollem Nachdruck gegen den
übertriebenen Skepticismns in der Evangelien-
frage anf Seiten des stammverwandten englischen
Verfassers von Supernatural Religion (7. Ausg.
1879) geltend machen; aber darum ist er nook
lange nicht berechtigt, mit seinem Landsmann
Norton (Genuineness of the Gospels 1. Ausg.
1837) zu behaupten, daß sich die allgemeine
Anerkennung der Echtheit unserer vier Evange-
lien, bzw. ihre Aufnahme in den Kanon, im
letzten Viertel des 2. Jahrhunderts nur unter
der Voraussetzung erklären ließe, daß diese wich-
tigen Schriften in Wahrheit von ihren angebli-
chen Verfassern herrührten; da sich für die
voransgesetste Thatsache kein lückenloser Zeu-
genbeweis herstellen läßt, so handelt es sich bei
dieser Voraussetzung doch nur um ein Urtheil
der Kirche, das zwar auf unbefangene Prüfung
Anspruch erheben darf, von dem aber an sich
die Möglichkeit eines Irrthums nicht ausge-
schlossen ist.
Wie dem aber auch sei, Abbot ist von der
Richtigkeit der Nortonschen Schlußfolgerung
überzeugt. Aus diesem Grunde tritt er S. 19
an den Nachweis des Gebrauchs des 4. Evange-
liums bei Justin, das zweite Hauptstück seiner
Erörterungen, mit der guten Zuversicht heran,
daß die Thatsache der allgemeinen Anerkennung
unserer vier Evangelien im letzten Viertel des
2. Jahrhunderts zu ihrer Erklärung auch den
46 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Rückschluß erlaube, daß schon Justin mit dem
Titel „apostolische Denkwürdigkeiten" unsere
vier Evangelien und nur diese bezeichne und
aus ihnen und nur aus ihnen seine Mittheilungen
von Zügen aus der evangelischen Geschichte
und von Herrnworten schöpfe. Freilich expres-
sis verbis spricht Abbot diese Zuversicht S. 20
noch nicht aus, erst S. 79 am Schlüsse seiner
Erörterungen über Justin; aber wie er sie deut-
lich genug in den Worten: „This fact — die
allgemeine Anerkennung unserer vier Evange-
lien im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts
— has a most important bearing of the next
question" durchscheinen läßt, so sind auch seine
Ausführungen auf die Sicherstellung dieses Rück-
schlusses gerichtet. Zu dem Ende weist er S.
20—26 (vgl. auch Anm. B S. 97 f.) nach, daß
die Angaben Justins über die „apostolischen
Denkwürdigkeiten" sich nur auf die kirchlich
anerkannten Evangelien beziehen können; er-
klärt sodann S. 26—28, daß das lange Schwan-
ken des kirchlichen Urtheils über die Kanonici-
tät von Schriften, wie die Briefe des Clemens
und des Soter an die Korinther, der Pastor Her-
mae, der Brief des Barnabas und die Apoka-
lypse des Petrus, die immer nur in einzelnen
Gemeinden anerkannt gewesen seien, nicht ge-
gen die schon zu Justins Zeiten feststehende all-
gemeine Anerkennung solcher grundlegenden
Schriften, wie es die Evangelien sind, geltend
gemacht werden dürfe ; endlich stellt er S. 28 —
52 in eingehender Erörterung die Thatsache
fest, daß das 4. Evangelium von Justin benutzt
sei, freilich nicht in wörtlichem Anschluß seiner
Gitate an den Text des Evangeliums, den der
Autor der Supernatural Religion wider den all-
gemeinen Gebrauch der Väter, ja der Literatur
Ezra Abbot, Authorship of the Fourth Gospel.- 47
Oberhaupt als unerläßliches Kriterium der nach-
weisbaren Benutzung wenigstens für Citate aus
den Evangelien unberechtigter Weise verlange;
der Gebrauch des 4. Evangeliums bei Justin,
der kaum noch in Abrede gestellt werde und
ftlr den unterstützend auch die Dialog, c. 123
vorliegende Anspielung auf I. Joh. 3, 1 in Be-
tracht komme, schließe aber den Beweis ab,
daß als „Denkwürdigkeiten der Apostel" alle
unsere vier von Aposteln und deren Schülern
verfaßten Evangelien freilich mit freier Behand-
lang ihres Textes von Justin benutzt seien, wie
man denn schon früher den Gebrauch der sy-
noptischen Evangelien in dessen Schriften fast
allseitig nachgewiesen oder zugegeben hat. Um
dieses Resultat sicher zu stellen, weist Abbot
dann S. 52—61 nach, daß auch die Schriftstel-
ler von Justin abwärts bis auf Irenäus, bei dem
der Gebrauch unserer Evangelien ganz fest stehe,
diese, bzw. das 4. Evangelium benutzt haben,
was ebenfalls den Bückschluß nahlege, daß
Justin mit den Titel „apostolische Denkwürdig-
keiten" die kanonischen Evangelien bezeichne,
und schließt seine Ausführungen über das Ver-
hältniß Justins zum 4. Evangelium damit, daß
er S. 61 — 80 in polemischer Erörterung nament-
lich gegen den Autor der Supernatural Beligion,
gegen A. Thoma (Hilgenfelds Ztschr. f. wis-
sensch. Theol. 1875, S. 383 ff.), gegen Davidson
Introduct. to the Study of the N. T. 1868) die
rründe widerlegt, welche dafür geltend ge-
macht sind, daß das 4. Evangelium kein Be-
stand theil der apostolischen Denkwürdigkeiten
gewesen sein könne. In dieser polemischen
Ausführung lehnt nun Abbot zugleich (S. 77 — 79;
vgl. S. 15) die Meinung ab, daß Justin als
eine Quelle oder die Hauptquelle für seine evan-
4$ Gott, gel Anz. 1681. Stück h 2.
gelischen Citate ein apokiyphisches E va^geflituo,
das Hebräerevangelium oder das Evangelium
des Petrus, benutzt habe ; er kann also den Be:
weis auch dafür als erbraeht ansehen, daß Ju-
stin nur unsere vier kanonischen Evangelien als
Bestandteile der apostolischen Denkwürdigkei-
ten in Gebrauch genommen habe.
Damit hat Abbot die Hauptaufgabe seiner
zweiten Untersuchung auch nach des Referenten
Meinung gelöst; daß Justin das 4. Evangelium
gekannt und benutzt habe, steht fest, auch wohl,
daß er es als eine seiner Ansicht nach echte
Schrift des Apostels Johannes in Gebrauch ge-
nommen hat. Außerdem soll über Einzelnheiten
hier nicht mit dem Verfasser gerechtet werden;
nicht über seine Würdigung von Tatian's Evan-
gelienharmonie, die vor dem Urtheile Theodo-
jret's über dieselbe (Haeret. fab. I, 20) nicht be-
stehen kann (S. 52 ff.) ; auch nicht darüber, daß
er das Wort Sacharja 12, 10 in der charakteri-
stischen Umformung des Septuagintatextes nach
dem Grundtext, in der wir es Job. 19, 37 und
Apok. 1, 7 finden, in den beiden Stellen Dial. 14
und Apol. I, 52 als Gitat aus dem Evangelium
ansieht, während es aus der Apokalypse aufge-
nommen zu sein scheint; denn Justin, der Chi-
liast und beflissene Verkünder des apostolischen
Ursprungs der Apokalypse (Dial. 81) bezieht es,
wie diese auf die Wiederkunft des Gekreuzig-
ten, nicht wie das Evangelium auf den Lanzen-
stich bei der Kreuzigung (S. 66) ; man wird so-
_gar an manchen Einzelnheiten ein besonderes
.Gefallen finden können, wie an der geschick-
,ten Verwendung der argumentatio ad hominem
.S. 68 und S. 70, und manches treffende Wort
wider unbegründete Behauptungen des Verfas-
sers der Supernatural Religion begegnet uns.
Ezra Abbot, Authorship of the Fourth Gospel. 49
Aber im Ganzen, will es dem Referenten be-
danken, ist doch die Erkenntniß des Verhält-
nisses Justins znm 4. Evangelium durch Abbots
Essay nicht weiter gefördert. Auf den Nach-
weis, daß Justin das 4 Evangelium gebraucht
hat, kommt es kaum noch an, die Schwierigkeit
liegt in der Würdigung der Art, wie er das
Evangelium gebraucht hat, und in der Klarstel-
lung der Folgerungen, die sich möglicher Weise
aas der besondern spröden, zögernden und spar-
samen Art dieses Gebrauchs für die jobannei-
sehe Frage ergeben. Ein Herrnwort«, ein
Wort des Täufers, eine Beziehung auf eine
Geschichtserzählung (vom Blindgeborenen) aus
dem 4. Evangelium neben offenbarer Anlehnung
an die Gedankenwelt desselben in Beziehung
auf die Logologie und einer Reihe von Anklän-
gen an seinen Sprachgebrauch gegenüber den
mehr als 100 Gitaten von Herrnworten und ge-
schichtlichen Mittheilungen synoptischen Geprä-
ges in den Schriften Justins: das ist ein Pro-
blem, das die Erörterungen Abbots wohl hier
und da gestreift, aber nirgends in befriedigen-
der Weise erledigt haben.
Selbstverständlich ist hier nicht der Ort, der
Lösung dieses Problems nachzugehen; nur eine
orientierende Bemerkung soll nicht unausgespro-
chen bleiben. Justin, von der Logologie des
von ihm schon vorgefundenen jüngsten unserer
Evangelien auf das Höchste befriedigt, mag sich
dem Selbstzeugniß des Evangeliums gegenüber
die Frage nach der Echtheit desselben, auf
welche ihn die Neuheit der johanneischen Ge-
schichtserzählung und ihrer christologischen Aus-
sagen eigentlich hätte führen müssen, gar nicht
aufgeworfen und sich unbefangen dem Einfluß
des von ihm als Lehrschrift gewürdigten
50 Gott. gel. Änz. 1881. Stück 1.2.
Evangeliums hingegeben haben; abet, ate Chi-
liast in der alten synoptischen Uefterliefferung
festge wachsen, greift er fast ausnahmslos zu
dieser, wo es sich um Mittheilungen aus dem
Evangelium handelt, und vergißt es fast ganz,
daß die von ihm hochgeschätzte Lehrschrift auefe
die evangelische Geschichte erzählt. Bestimmt
man das Verhältniß Justins zum 4. Evangelium
in dieser Weise, so bleibt der unleugbare Ein-
fluß desselben auf Justin gewährt; indeß Jastttis
Bekanntschaft mit demselben, bezW. sdinö Ati-
erkennung desselben ist einer unbefangenen
Untersuchung seiner Echtheit aus innern Grün-
den in keiner Weise präjudieirlich.
Auch mit Abbots Untersuchungen fiber die
apostolischen Denkwürdigkeiten kann sich Re-
ferent nicht einverstanden erklären. Nicht, daß
er etwa hinter diesem Titel ein Sammelwerk,
eine Art von Evangelienharmonie aus nns&fe
drei Synoptikern, oder nur ein apokryphes, oder
gar lauter apokryphe Evangelien suchte; der
Ausdruck soll vielmehr literarisch gebildeten
NichtChristen gegenüber, anklingend an klassi-
sches Scbriftthum und vielleicht mit Beibehal-
tung der älteren Bezeichnung der einzelnen
schriftlichen Niedersetzungen des Evangeliums
im Gegensatz zu dem Evangelium, der Geschichte
von Jesus und seinem Wort und Werk, wie sie
in der Kirche lebendig ist, dieselben Schriften
bezeichnen, welche der kirchliche Sprachgebrauch
wohl seit den Zeiten Justins (Apol. I, 66)
svayyiha nennt; aber zu diesen Denkwürdig-
keiten rechnet Justin nicht bloß unsere vier ka-
nonischen, sondern alle Evangelien, welche er
für Schriften von Aposteln oder deren Schülern
glaubt halten zu dürfen. Daß rieb aber unter
diesen Evangelien Justins eins befand, welches
Ezra Abbot, Anthorriiip of the Fourth Gospel. 51
spSter km dem öffentlichen kirchlichen Gebrauch
ata apokryph ausgeschieden wurde, das läßt
sieh mrtridefrleglich feststellen. Denn Dialog. 35
»teilt Justin zwei Herrnworte neben einander,
▼on denen das erste eine Mischung von Matth.
7, 15 änd 24, 5, das andere eine wörtliche Re-
production tob Mattfc. 7, 15 ist ; sie werden
als verschiedene Citette eingeführt und können
deshalb nur atts zwei verschiedenen Quellen ge-
schöpft sein ; das erste führt also auf ein unka-
tionfeches Evangelium, dem auch alle die Evan-
gelitncitate zuzuweisen sind, welche sieb in un-
gern Synoptikern nicht wieder finden lassen,
auch bei der Annahme freister Behandlung des
Textes unserer Evangelien von Seiten Justins,
wie sie sieb durch Reproduktion aus dem Ge-
dächtaiß, die Verwandtes combiniert, durch Ver-
wendung des Inhaltes in Predigt und Unter-
richt, durch Einfiechtung von Zügen aus der
Ueberlieferung, durch Verquickung des Textes
öiit auslegenden Zusätzen , aueb durch andere
Lesarten mit Notwendigkeit ergeben mußte.
DieseB Evangelium von synoptischem Gepräge,
fttr das man freilich den Titel: „Evangelium des
Petrus" $ der auf einem MißVerstävidniß von
Dialog. 106 beruht, zurückweisen muß, mag eine
griechische Recension des Hebräerevangeliums
gewesen sein, desselben Evangeliums, in dessen
Gebrauch sich die Clementinisehen Homilien mit
Justin berühren, ein weiterer Beweis dafür, daß
es sich um ein neben unseren Synoptikern her»
gebendes Apokryphnm handelt. In dieser An-
sicht kann auch Abbot's Anm. C (S. 98—104)
den Referenten nicht beirren; so solide Studien
in derselben auch niedergelegt sind , die oben
angezogene Stelle hat sie nicht berührt. Auch
4«
52 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2«
hat, um von andern Sparen des Gebrauches die-
ses unkanonischen Evangeliums bei Justin zu
schweigen, z. B. den wiederholten Citaten aus
der Bergpredigt mit constanten Abweichungen
von dem recipierten Text, die eben dahin ein-
schlagende Anm. A (S. 91—96) den Beweis
nicht erbracht, daß die Umstellung der Satz-
glieder in einem Citat, das nur eine Umbildung
von M at th. 11,27 sein kann, nicht auf den Text
dieses später vom Kanon ausgeschlossen blei-
benden Evangeliums zurückgeht. Giebt doch
Justin das Citat mit der so bezeichnenden Um-
stellung gleichmäßig in zwei Schriften (Apol. 1, 63;
Dialog, c. 100), deren Abfassung durch Jahre
von einander getrennt ist, und außerdem kein*
mal etwa in der Anordnung der Satzglieder wie
bei Matthäus und Lukas; zudem citieren die
Clementinischen Homiliep dasselbe Herrnwort
fünfmal, und jedesmal mit der gleichen Umstel-
lung der Satzglieder.
Einer der Gründe , aus denen sich Abbot
nicht entschließen kann, den Gebrauch eines un-
kanonischen Evangeliums bei Justin anzuerken-
nen, liegt gewiß darin, daß er die Bedeutung
des Umstandes übersieht, daß in der Zeit zwi-
schen Justin und Irenäus sich die Bildung der
altkatholischen Kirche und der Anfänge des
neutestamentlichen Kanons vollzieht. Man darf
also nicht einfach, wie Abbot zu thun liebt,
vom Schriftgebrauch des Irenäus auf den des
Justin zurückscbließen, und muß anerkennen,
was Abbot nicht thut, daß Justin dem, was ihm
als Evangelium in seiner Zeit entgegentrat,
noch mit einer ganz andern Freiheit gegenüber-
stand, als die späteren Väter.
Ueber den dritten Punkt der Abbot'schen
Ezra Abbot, Authorßhip of the Fourth Gospel. 68
Untersuchungen, den Gebrauch des 4. Evange-
liums bei den Gnostikern (S. 80 — 89) darf Re-
ferent sich kürzer fassen. Nach richtigen Be-
merkungen über die Stellang Marcions zum 4.
Evangelium, die aber den Ursprang desselben
nieht über die Zeit am 130 hinaufrücken würde,
und nach vorsichtiger Würdigung der Möglich-
keit einer Bekanntschaft Valentins mit demsel-
ben, die er für nicht sicher erweisbar hält, kann
Abbot es sich nicht versagen, wenigstens für Basi-
lides, für die Ophiten und Peraten, also für Trä-
ger des Gnosticismus der ersten Generation, den
Gebrauch des 4. Evangeliums als sicher anzu-
nehmen. Dadurch rückt er aber die ältesten
Spuren der Benutzung desselben in solche Zeit-
nähe zu dem Leben des Autors, auf den das
Selbstzeugniß des Evangeliums weist, daß sich
die Annahme der Unterschiebung einer unechten
Schrift unter dem gefeierten Namen des Johan-
nes von selbst verbieten würde. Indeß es ist
verlorenes Liebesmühen, sichere Gitate aus dem
4. Evangelium früher als bei den Gnostikern der
zweiten Generation aufsuchen zu wollen- (Vgl.
des Referenten Bemerkungen in Bleek, Ein-
leitung in's N. T. [3] 1875. S. 264 ff.).
Auch das letzte ßeugniß, das Abbot im vier-
ten Abschnitt seines Essay's für die Echtheit
des 4. Evangeliums zur Geltung bringen will,
der Schluß des Anhangs zum Evangelium (21,24
hzw. 25), ist nicht beweiskräftig. Haben wir
es bei dem Evangelium nach Johannes mit einem
Stücke der Pseudonymen Literatur der alten
Kirche zu thun — und diese Möglichkeit ist
wenigstens durch die bisher gewürdigten äuße-
ren Zeugnisse nicht ausgeschlossen — was Wun-
der, daß ein späterer Anhang zu einem Buche,
das in der Zeit seiner Entstehung so sehr dem
56 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
Zweck und Plan des ganzen Unternehmens ist
dort entwickelt: der erste Band desselben soll
alles umfassen, was auf die Regierung Karls
des .Großen sich bezieht bis in die Anfänge
seines Nachfolgers hinein. Da im achten Jahrh.
jedoch Merovinger und Carolinger gleichsam
ohne feste Grenze in einander verfließen, so er-
schien es nicht unerlaubt, etwas weiter zurück-
zugreifen und in dem heil. Bonifatius, der Pip-
pin zum Könige salbte, einen ehrwürdigen Füh-
rer an die Spitze des Ganzen zu stellen, dem
ungefähr der Zeitfolge entsprechend die übrigen
Genossen sich anschließen sollen.
Für das schon zweimal gedruckte, steife und
gekünstelte, Lehrgedicht Wynfriths über die
Tugenden und Laster wurden hier zum ersten
Male eine ziemlich alte Petersburger Handschrift
(aus Corbie), deren rechtzeitige Auffindung durch
Hr. Dr. Gillert ihre Benutzung unmittelbar vor
Thoresscbluß noch möglich machte, und eine Ein*
Siedler verglichen. Trotz der verhältnismäßig
sehr guten Ueberlieferung aber bleiben doch,
zumal den stärkeren Abweichungen der Cam-
bridger Hs. gegenüber, manche Stellen dunkel
und von zweifelhafter Lesung. Das nämliche
gilt von dem noch wunderlicheren Gedichte an
Dud, das Hr. Oberbibliothekar Laubmann in
Wtirzburg entdeckte und mit trefflicher Erläute-
rung herausgab. Die Grabschrift eines Prie-
Bters Dombercht, der ein Genosse des Heiligen
war, von Wilmanns hervorgezogen, und 12 Rät h-
sel aus derselben vormals Pfälzischen Hand-
schrift verdienten hier einen Platz, weil sie
angelsächsischen Ursprunges sind und wohl der
gleichen Zeit angehören. Um die letzteren hat
sich Hr. Professor Ebert verdient gemacht, dem
Poetae latini aovi Carol» ni, roc. Dümraler. I. 1. 57
ich auch sonst manchen schätzbaren Wink aas
der Fülle seines Wissens zn verdanken habe.
Nach Italien nnd in die Zeit des Königs
Lindpränd versetzt ans ein alphabetischer Rhyth-
mus auf die Stadt Mailand, den ich nach der
ersten Ausgabe Mnratoris mit der recht fehler*
haften Veroneser Handschr. nochmals verglichen
habe. Er bildet den Uebergang zn Paulus
Diaconue, von dem sein Landsmann nnd Ge-
fährte Petras nicht getrennt werden durfte. Ein
großes Verdienst hatte sich für diese beiden
Lehrer Karls des Or. einst Bethmann durch
eine gründliche literarhistorische Uebersicht er-
worben, aber erst nach ihm war eine Sanot-
galler, eine Leipziger, Berliner nnd endlich eine
Londoner Hs. aufgetaucht, die unser Material
ansehnlich vermehrten: wenn die letztere ans
der Zeit nnd dem Besitze Conrad Pentingers
von Fehlern wimmelt, so ist dies minder be-
fremdlich, als daß die wahrscheinlich unter Karl
dem Gr. selbst geschriebene Berliner grobe Ver-
stöße aufweist, die dem Unverstände des Schrei-
bers zur Last fallen. Gegenüber der in man*
eben Puncten sicherlich über das Ziel hinaus-
schießenden Kritik Felix Dahns schien es ge-
boten, nicht bloß die von ihm mit Unrecht an-
gezweifelten Gedichte, wie das Lob des Comer-
sees nnd die Grabschrift der Königin Ansa an
rechter Stelle einzureihen, sondern auch manche
andre, wie die auf die guten und schlechten
Bischöfe (bisher ungedruckt), deren Paulinischen
Ursprung ich keineswegs zu behaupten wage,
die aber, weil sie in Handschriften seiner Werke
vorkommen, doch hier am schicklichsten ihren
Platz finden konnten. Die Grabschrift Chlodars
möchte ich eher Petrus zuschreiben, weil Pau-
lus, wenn er ihr Verfasser wäre, sie wohl sicher
08 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1. 2.
in seiner Geschichte der Metzer Bischöfe er-
wähnt haben würde. Sehr zweifelhaft bleiben
die auf diese bezüglichen Verse (in derep 19.
p. 60 mit Waitz Isti zu verbessern wäre) und
noch mehr die beiden von späteren Paulus bei-
gelegten Hymnen. Da sie doch immerhin der
Carolingischen Zeit entstammen, habe ich sie
nicht ausschließen wollen, während die Elegie
auf die heil. Scbolastica als ein Erzeugnis des
11. Jahrhunderts mir unzulässig schien.
Auf Paulus folgen von den allein stehenden
Stücken diejenigen, welche sicher oder wahr-
scheinlich noch vor 800 fallen. Zuerst 10 poe-
tische Widmungen von Has., die theils vpn den
Verfassern, theils von den Schreibern ausgehen,
die ältesten noch aus vorkarlischer Zeit. Sie
gehören zu den Incunabeln gleichsam der durch
Karl neu geschaffenen gelehrten Bildung und es
ist bemerkenswert!*, daß am robesten und un-
verständlichsten sich die Zueignung des Pap-
stes Hadrian an Karl aus dem J. 774 erweist.
Die Verse, mit denen Wigbod dem großen Kö-
nige seinen Gommentar zum Octoteuch über-
reichte, brauchten nur z. Th. aufgenommen zu
werden, da sie sehr viel wörtlich aus Eu genius
von Toledo entlehnt hatten. Auf das letzte
Stttck führte der Nouveau traite de diplomatique.
An der Spitze der nun folgenden Inschriften
stehen die zuerst von Gruter aus dem cod. Pa~
latin. 833 herausgegebenen, die bis auf Liud-
pvand zurückreichend, doch der Mehrzahl nach
catiolingisch, bisher wenig Beachtung gefunden
habep. An die jüngst mehrfach erörterte Grab-
sehrift Aggiards von 778 gedachte ich der An-
sicht von Gaston Paris zufolge die vermeintliche
Grabschrift Rolands aus Pseudo Turpin auzu-
fiijKM, allein nähere Betrachtung bat ergeben,
Poetae latini aevi Carolini, reo. Dümroler. I. 1. 69
daß diese ganz uud gar aus Versen des Veuau*
tiuö Fortunatus zusammengestöppelt ist und des-
halb schwerlich geschichtlichen Wertb beaih-
sprachen kann. Für die des Consuls Caesarius
von Neapel ist wegen ihrer nahen Verwandt*
schaft mit der Romualds, des Sohnes des Her«
zogs Aricbis, gleichfalls Bischof David von B*r
nevent als Verfasser wahrscheinlich. Verse auf
die Bauten des sonst unbekannten Abtes Gauto
verdanken wir wiederum dem Nouveau traitö.
Der rhythmischen Poesie gehört das volks-
tümliche Gedicht auf Pippins Sieg über die
Avaren im J. 796 an, welches G. H. Pertz ent-
deckte, und die Lobpreisung der Stadt Verona,
in der derselbe König Pippin als Herrscher vor-
kommt. Von der letzteren, einem jüngeren Seiten*
stücke zu dem ganz ähnlichen Gedichte auf
Mailand, ist die zuerst von Mabilion benutzte
Hs. leider längst verschollen.
Paulinus, der Patriarch von Friaul oder Aqui*
leia, eröffnet die dicht gedrängte Schaar der
Dichter des 9. Jahrhunderts, auch er, wie es
scheint, eine Zeitlang gleich seinen Landsleuteu
Paulus und Petrus an der Hofschule thätig*
Von seiner metrischen Glaubensregel gelang es
mir außer der schon von Duchesne benutzten
Pariser Hs. noch eine zweite gleich alte unten
den Harleiani in London ausfindig zu maehen.
Unter dem Namen des Paulinus gehen außer-,
dem nur noch die bekannte schöne Todtenklagfc
um Herich von Friaul (|799) und ein andres
(bisher ungedrucktes) rhythmisches Gedicht auf
die Auferweckung des Lazarus, die sechs Hymn
nen aber und der Rhythmus, welche Madrist,
z. Th. auf das höchst unsichere Zeugniß G. Cas-i
winders gestützt, ihm beilegte, durften doch hier
auch nicht fehlen und nur einer von jmc*
60 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1.2.
konnte lediglich nach dem Drucke wiederholt
werden. Angefügt wurden ferner 2 rhythmische
und alphabetische Gedichte, die Madrisi nach
nur unvollständiger Kenntniß nicht minder Pau-
linus zuschreiben wollte, die Verse auf die Zer-
störung Aquilegias, hier nicht bloß nach der
Wiener, sondern auch nach einer Haager Hs.
mitgetheilt, und ein sehr inbrünstiges Bußlied,
über dessen Verfasser man zwischen Hilarius
von Poitiers und dem Ketzer Godschalk ge-
schwankt hat.
Zwar ein Jünger Alcuins, aber vor ihm ver-
storben, ist der irische Abt Joseph, durch Verse
an den h. Liudger und einen aus Hieronymus
verkürzten Commentar zum Propheten Jesaias
schon früher bekannt. Dazu kamen durch Ha-
gen 4 sehr gekünstelte akrostichische Gedichte
einer Berner Hs., die wir gleich denen Alcuins
mit einigen Verbesserungen aus seinen verdienst-
lichen Carmina medii aevi entnehmen.
Daß wir für Alcuins Ueberlieferung beson-
ders mangelhaft bestellt sind durch den Verlust
der beiden wichtigsten Hss. ist schon an anderm
Orte ausgeführt worden. Die Ausgabe Duches-
nes (Quercetanus) und für einige Stücke auch
die des Abtes Frobenius bilden daher zum gro-
ßen Theile die einzige Grundlage des Textes
der kleineren Gedichte. Ihre Unsicherheit liegt
auf der Hand, doch scheint Duchesne wenig-
stens nie ohne ausdrückliche Angabe den Text
seiner Abschrift geändert zu haben. Das um-
fangreichste Gedicht Alcuins auf die Väter, Kö-
nige und Heiligen von York konnte ebenfalls
nur nach Mabillon und Gale mit den Verbesse-
rungen neuerer Herausgeber wiederholt werden
und erhält eine Ergänzung durch die bis jetzt
unbekannte Grabschrift des Erzbischofs Aelberht.
Poetae latini aevi Carolini, rec. Dümmler. I. 1. 61
Um so werthvoller ist es, daß für das metrische
Leben des b. Wilbrord außer der von Jaffe ver-
glichenen Stuttgarter Hs. 2 andre von St. Gallen
und Alen$on herangezogen werden durften, die
übrigen enthalten sämmtlich meines Wissens nur
die prosaische Vita Wilbrordi. Große Schwie-
rigkeiten bot die Anordnung der kleineren Ge-
dichte, weil sehr viele von ihnen aller zeitlichen
Merkmale entbehren, bei andern dieselben doch
nur eine annähernde Zeitbestimmung möglich
machen — eine Ausnahme bildet die Elegie
auf die Plünderung von Lindisfarne 793 — , die
meisten fallen vermutblich in den letzten dauern«
den Aufenthalt Alcuins im Frankenreiche, d. h.
sie liegen zeitlich nicht sehr weit aus einander.
Voran gehen in der neuen Ausgabe die an ein-
zelne Personen gerichteten, unter denen ein sehr
interessantes Gedicht, kurz nach 780, die Freunde
auf dem Festlande begrüßt, ein anderes an den
Erzbischof Beornrad von Sens, das Frobenius
übersehen hatte, durch seinen scherzhaften Ton
ebenfalls in eine frühe Zeit zurückweist. Hier
haben auch schließlich, entsprechend den durch
Ebert gepflogenen oder hervorgerufenen Erörte-
rungen, die Versus de Cuculo und der Conflictus
veris et hiemis ein Unterkommen gefunden. Die
von Frobenius verworfenen Praecepta vivendi
glaubte ich unbedenklich als echt ansprechen
zu können, während dies für die daran sich
schließenden Räthsel sehr zweifelhaft bleibt.
Eine zweite Gruppe von Gedichten Alcuins
bilden die metrischen Prologe und Widmungen
von Büchern, mit denen auch die einzelnen
Briefen angehängten Verse verbunden worden
sind. Eine dritte endlich die Inschriften, welche
Alcuin für Kirchen und andre Bauten, zumal
62 Gdtt. gel. Anz. 1881. Stock 1.2.
for eitiaelne Altäre! verfaßte, bald für solche,
deren Stiftung er selbst veranlaßt hatte, bald
auf den Wünsch von Freunden, wie z. B. für
St. Amand, St. Vaast, Salzburg u. e. w. Konnte
namentlich mit Hülfe einer Salzburger Hs., de-
ren Benutzung ich Hr. Professor Hauthaler ver-
dankte, einiges sicherer bestimmt werden, so
blieb vieles von diesen etwas einförmigen und
schablonenhaften Inschriften unbestimmbar. Bei
manchen ist es auch fraglich, ob sie überhaupt
faieher zu zählen sind und jedenfalls läßt sich
ihre wirkliche monumentale Verwendung fast
nirgend nachweisen. Einiges vermischte, na-
mentlich 2 Alcuin zugescbtiebene Hymnen bil-
den den Beschluß. Im Ganzen wird man sagen
dürfen, daß nach Ausscheidung einiger fremde
artiger Stücke das allermeiste von den*, wag
Sich hier unter seinem Namen vereinigt findet,
ihm in der That eigen ist und daß wir daraus
Allerdings von der poetischen Begabung dieses
carolingisehen Horaz keine allzuhohe Vorstel-
lung gewinnen Die von Frobenius hinzugefügten
Überschriften habe ich mit Absicht weggelassen.
Die wenigen Gedichte des Abtes Farduif von
St. Denis, eines Langobarden, sind uns nur
dutfch Abdrücke Duchesnes gerettet worden.
Zum Theil gilt dies auch von An gilbert, für
dessen vordem unter Alcuins Dichtungen ge-
rathene Ecloge an Karl den Gr. allein noch
eine handschriftliche Grundlage vorhanden ist.
Hier reiht sich nun auch das räthselhafte Frag-
ment über die Zusammenkunft Karls und des
Papstes Leo in Paderborn an, über dessen Ver-
fhsstr ich nicht zu einer festen Ueberzeugung
gelangt bin — abgesehen davon, daß es Theo-
dulf sicher abzusprechen ist. Die zahlreichen
Entlehnungen aus den alten Dichtern, für welche
Poetae latini «evi Carolin! , rec. Dflmmler. I. 1. 63
Hr. Prof» Simeon bereits so Dankenswertes ge-
leistet hatte, konnten hie and da vervollständigt
werden, aber auch jetzt Wird noch eine Nach-
lese übrig bleiben *). Ebenso unklar ist der Ur-
sprung eines andern Fragmentes über die Be-
kehrung der Sachsen, das fälschlich unter den
Gedichten Aleuins abgedruckt war.
Als letztes Stück unserer Abtheilung folgt
die Eeloge des sogen, Naso, aus einer Londoner
H». früher zum ersten Mate von mir veröffent-
licht, jetzt aber, wie ich glaube , mit überzeu-
genden Gründen, dem Bisobof Meduin von Au«
tun zuerkannt. In der bereits unter der Presse
befindlichen zweiten Abtbeilung dieses Bandes
stehen tranäcbst ein irischer Dichter (Hiberni-J
cue e&ul), vielleicht Dingal, und Bischof Ber-
nowin in Aussiebt, dann Amalarius von Trier
nebet zerstreuten Stücken, Theodulf von Orleans,
der begabteste dieses ganzen Kreises, endlieh
der Mönch Aedilvulf und , wofern der Raum es
noch gestatten sollte, der Abt Smaragdus. Wen»
ich es als ein gewisses Verdienst betrachte, alle*
diese so weit versprengten Perlen gesammelt
und durch ihre Vereinigung wissenschaftlicher
Verwerthung erst recht zugänglich gemacht zfl
haben, so zweifle ich doch nicht, daß an dieser,
wiewohl mühsamen und ermüdenden, Arbeit vie-
*) Vgl. z. B. p. 370 v. 167 mit Georg. III, 412, p.
376 v. 401 mit Aen. VII, 473, p. 377 v. 429 mit Aen«
XI, 598, p. 379 v. 623 mit Aen. VII, 342. Auch an an-
dern Orten habe» steh ähnliche Nachtrage ergeben, so
hat ii. a. Paulus p. 61 XIV, 9 Ovids Epist. XV1III, 85
zu Grunde gelegt, Alcuin dagegen p. 203 v. i 540 flg.
Venantii Fortunati Carm. VIII, 1, 54—59. Das p. 65 zu
t. 14 mitgetheilte Distichon stammt aus Ovid. Art. Amat.
II, 203—204. Das darauf folgende kleine Gedicht, wel-
ches an Venantins erinnert, habe ich noch nicht ausfindig
machen können.
64 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 1.2.
les mangelhaft befanden werden wird, zumal in
den ersten 27 Bogen, die ich allein corrigiert
habe, während vom 28. Bogen an die Beihülfe
Wattenbachs eine stärkere Bürgschaft des Ge-
lingens darbot. Mein Bestreben, überall einen
lesbaren Text herzustellen, wurde durch die so
überaus ungleichmäßige Ueberlieferung sehr er-
schwert und auch der Nachweis der Anklänge
an die antiken Dichter dürfte manches zu wttn-
chen übrig lassen, so nothwendig er für unsre
Aufgabe ist, denn das Fortleben der Alten im
Mittelalter zu verfolgen, ist ja gerade einer der
wichtigsten Zwecke dieser Sammlung. Philolo-
gen werden ohne Zweifel mehr noch als Histo-
riker berufen sein, diese Ausgabe zu meistern:
möchten sie ihr Mißfallen an deren Mängeln je-
doch lieber nicht bloß in unfruchtbarem Tadel,
sondern in fruchtbaren Bath- und Verbesserungs-
yorschlägen äußern, die für die Fortsetzung zu-
gleich nützliche Fingerzeige gäben. In Bezug
auf Einleitungen und erläuternde Anmerkungen
ist ein knappes, vielleicht bisweilen zu knappes
Maaß eingehalten worden41). Der Druck wird,
wie ich hoffe, im Ganzen correct befunden
werden**).
*) Daß Pauli (Forsch, zur Deutschen Gesch. XII, 165)
den Einsiedler Echa oder Etna zum J. 767 nachgewiesen
hat, habe ich p. ä00 n. 2 unverzeihlicher Weise übersehen.
**) Ein unliebsamer Druckfehler ist p. 89 in der
Ueberschrifb von II verriculos für versiculos.
Halle. Ernst Dttmmler.
Für die Redaction verantwortlich : & Sehniwh, Director d. Gott. gel. Anz.
Verlag der DisUrich'tchm Ymiags- Buchhandlung.
Druck der DieUrich sehen Univ.- Buchdrvckerei ( W. JV. JumtmrnU
65
ift ött,ingische
gel ehrte A n z e igen
unter der Aufsicht
, der KönigL Q^eUsphftft der Wissenschaften.
Stück 3. 19. Januar 1881.
Inhalt* Aii's dem Archly der Deutschen Seewarte. I. Jahrgang.
Jon R Werner. — B. Löning, Der Reinigungseid bei Ungerichte-
'klagen im' deutschen Hittelalter. Von F. & «. Liest — H. Steia-
th a 1 , Gesammelte kleine Schriften. I. Bd. Von A. Beumbtrg*.
sr Eigenmächtiger Abdruok ron Artikeln der Gott. gel. Anx.Terboten as
Ans dem Archiv der Deutschen Seewarte.
I. Jahrgang: 1878. Herausgegeben von der Direction
der Seewarte. Hamburg Qj. Friederichsen & Comp:).
380. .SS. 4°.
DJe Meteorologie ist eine der jüngeren und
in Bezug ihrer Nutzbarmachung ftir practische
Zwecke die jüngste Wissenschaft Sie hat 1880
ihren hundertjährigen Geburtstag gefeiert und
Deutschland kommt die Ehre zu, sie in die
Welt eingeführt zu haben.
Ein' den Künsten und Wissenschaften huldi-
gender deutscher Fürst, Karl Theodor von der
Pfalz, rief ihre Anfänge in das Leben. Er or-
ganisierte die ersten festen meteorologischen Be-
obachtungstationen mit Mannheim als Central-
punkt, wo die Beobachtungen von 14 deutschen
und 16 auswärtigen Stationen von 1780 an zu
den Ephemerides Societatis meteorologicae Pala-
tinae zusammengestellt wurden.
Diese Ephemeriden erschienen 13 Jahrelang;
dann fanden sie in den der französischen Revo-
lution, folgenden Kriegswirren ihr Ende, gingen
66 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
jedoch glücklicher Weise für die Wissenschaft
nicht verloren. Alexander von Humboldt ver-
wertete sie in seinem berühmten Werke „Theo-
rie der Vertheilung der Wärme auf der Erd-
oberfläche", mit dem die Meteorologie den Kin-
derschuhen entwuchs und in die Reihe der selb-
ständigen Wissenschaften mit bewußtem Ziel trat.
Humboldt fand einen würdigen Schüler und
Nachfolger in Dove, dem durch sein Wirken,
namentlich aber durch seine Entdeckung des
Gesetzes der Stürme, so wie durch Einrichtung
des jetzt über Deutschland gespannten Netzes
meteorologischer Stationen der Ruhm einer er-
sten Autorität auf diesem Gebiete auch in Zu-
kunft gesichert bleiben wird.
So hervorragendes Verdienst aber auch
Deutschland um die Begründung und wissen-
schaftliche Weiterentwickelung der neuen Wis-
senschaft besitzt, so bewegten sich die Bestrebun-
gen ihrer deutschen Vertreter bis vor 15 Jahren
doch fast ausschließlich auf theoretischem Gebiete.
Die auf diesem errungenen Resultate für die
Praxis und namentlich für einen der wichtigsten
Factoren des Volkslebens, für die Seeschifffahrt
zuerst nutzbar zu machen, war einem andern
Lande und zwar den Vereinigten Staaten von
Nordamerika vorbehalten. Alle übrigen mariti-
men Nationen folgten dem gegebenen Beispiele
trotz dessen bald sich zeigenden außerordent-
lichen Nutzens erst später, und Deutschland war
eine der letzten. Nordamerika begann damit
1843; dann kamen Holland und England An-
fang der fünfziger Jahre, aber Deutschland erst
1868, was allerdings in seinen früheren politi-
schen Zuständen Erklärung und Entschuldigung
findet.
Die Arbeiten des National - Observatoriums
Ans dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 67
von Washington auf diesem Felde hatten in er-
ster Reihe eine Reformierung des interoceani-
schen Weltverkehrs, Auffindung neuer Seewege
und die Herausgabe von Wind- und Wetter-
karten im Auge, deren zweckmäßige Benutzung
die Seelente in den Stand setzen sollte, ihre
Reisen gegen früher ganz wesentlich zu kürzen.
An der Spitze dieses Obervatoriums stand der
bekannte Marinelieutenant Maury und seine
Leistungen, welchen die Liberalität der Verei-
nigten-Staaten-Regierung zu Hülfe kam, müssen
ganz außerordentliche genannt werden.
Um das begonnene Werk schnell zu fördern
und der Seeschifffahrt den größten Nutzen zu
gewähren, handelte es sich darum, bald eine
genügende Zahl von Wind- und Wetterbeobach-
tungen für die Meereswege zu besitzen, um auf
Grund derselben den Seeleuten sagen zu kön-
nen : Wenn Ihr in den oder den Monaten diese
oder jene Reise machen wollt, so müßt Ihr den
oder den Weg nehmen, weil Ihr auf ihm die
günstigsten Wind- und Wetterverhältnisse findet.
Zu diesem Zwecke mußte eine möglichst
große Zahl von Mitarbeitern gewonnen werden,
und zwar konnten dies nur Seeleute sein, welche
im eigenen Interesse, mit Verständniß und frei-
willig es übernahmen, die Beobachtungen sorgsam
und nach einem bestimmten Modus anzustellen.
Maury erließ infolge dessen eine bezügliche Auf-
forderung an Schiffsrheder und Kapitäne der eige-
nen und fremden Handelsmarinen, und gleichzeitig
erbot sich die Washingtoner Regierung , für je-
des an das Observatorium eingesandte und nach
Maury's Vorschriften geführte Wetterbuch unent-
geltlich die auf Grund der Beobachtungen con-
Btruierten Wind- und Wetterkarten, sowie die
dazu gehörigen Segelanweisungen auszutauschen.
5*
rj
08 Gott. 'gel. Ädz. 1881. Stü<& '3.
i)4r ftMblg äds Äufittfe w&r efa 'gittz 'faateti-
~fcehdfer;?n wenigen Jahrern Wählten die Mitarbei-
ter nach Tausenden und die einlaufenden Be-
obachtungen nach Millionen. Dadurch wurde
-es möglich, das Kartenwerk nach jeder Richtung
ischnell zu vervollständigen, es von Jahr tu
{ Jähr zu einem zuverlässigeren Wegweiser txt ttia-
chen, und 10 Jahre nach der Begründung zählte
jenes schon einige achtzig Blätter und umfaßte
sämfotliche befahrene Meerestheile, während dfer
Inhalt der Segelanweisungen in analoger Wewe
bereichert war.
Seeleute sind sonst außerordentlich konser-
vativ und halten sehr zäh an traditionellen Ge-
wohnheiten fest; bei dieser Gelegenheit lenkten
ßie jedoch schneller als gewöhnlich in die neuen
Bahnen. Die intelligenteren Kapitaine sahen
'kehr bald selbst den erwachsenden Nützen und
"die Übrigen wurden von ihr^n Rhedern <zur Be-
theiliguüg veranlaßt, weil sich in den Büchern
der letzteren der erzielte Gewinn an Reisetajgfen
sehr deutlich in Geld übersetzte.
Man kann die Betriebskosten eines Segel-
schifTes pro Tag und Tonne (1000 kg) deines
Gehalts auf ungefähr 40—50 Pfennige veran-
schlagen. Wenn also vorher eine Durchschnitte-
reise z. B. vom englicben Kanal bis zur Sunda-
straße oder zurück 100 Tage dauerte und die
sich auf den neuen von Maury empfohlenen
Routen um wenigstens 10 Procent abkürzen
ließ, so handelte es sich Air tin Schiff von
1000 Tonnen Inhalt auf einet ostindischen Reise,
aus und heim, um einen directed Gewinn von
8 — 10,000 Mark, wobei die Ersparnisse an Zin-
sen, Assecuranz, höhere Frachtsätze etc. noch
gar nicht einmal berücksichtigt sind. Solche
Zahlen sprachen aber zu klar, um nicht
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 69
tttatqeugfticl zty» wirkqfy. Um hier nur eins der
viejjon und) gläuzenaen Resultate yon Maury's
Forschuggep anzuführen, sei erwähnt, daß es in
früher^ Zeiten ejpß seemännisch allgemein be-
folgte Tradition w4fr südlich gehend den Aequa-
tor z^iechqo, 17—19. Grad westl. Länge von
freen^cb. $u sqhpeiden. Bei einem westliche-
re Sclplpittpun^ß fürchj#e man mit dem Südost-
P^ssatwinjde un4 der Gegenströmung an der
Brasilianischen KtUte das Cap St. Boqne nicht -
abwettere zu, können und dann noch einmal zur
Umkehr gezwungen, zu werden.
Manrj wie$ jedoch sehr bald auf Grund der
Beobachtungen nacj^, daß am Aequator durch
Aufeinanderstoßen des Hordost- und Südost-
Pasfttf ein keilförmiger Stillgürtel entsteht, des*
sen breife ßasjs an der afrikanischen Küste
liegt;, während seiuQ Spitze sich auf ungefähr
29-30° Westlänge befindet. Schneidet man
deshalb, wie es sehr bald nach dieser Ent-
deckung geseiht, dep Aequator an dieser schmäl-
sten Stelle, §o wird man nur wenige Tage durch
Stillen aufgehalten, während 10 — 12° weiter
östlich diejenige durchschnittlich 12— 14 Tage,
ja bisweilen 3—4 Wochen in Stille treiben.
Solche evidente Thatsachen waren nicht
nur dazu $agethan, dem liberalen amerikani-
schen Institute Mitarbeiter von nah und fern
zuzuführen, sondern auch andere Nationen zur
Gründung ähnlicher Gentralstellen aufzufordern.
Wie bereits bemerkt, folgten damit zuerst Hol-
land, dann England und Frankreich, und der
yon Maury 1853 inaugurirte Meteorologen-Con-
gr#9 in BrUssel suchte gleichmäßige Normen für
die zu machenden Beobachtungen aufzustellen
und dadurch der Sache einen internationalen
Charakter zu verleihen. Deutschland nahm je-
70 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
doch an dieser Zusammenkunft nicht Theil.
Die Idee, eine deutsche Seewarte zu errichten,
wurde vielmehr öffentlich erst 12 Jahre später
auf dem von Dr. Petermann nach Frankfurt a./M.
berufenen geographischen Congresse von Dr. Neu-
mayer, bis dahin Director des Observatoriums
in Melbourne, angeregt. Dieselbe fand zwar in
der Versammlung großen Anklang, allein Neu-
mayers Bemühungen, die Seewarte schon im
folgenden Jahre (1866) in das Leben zu rufen,
scheiterten, wie so viele andere wichtige Dinge,
an der politischen Zerrissenheit unseres Vater-
landes und ersterer begab sich in Folge dessen
wieder nach Australien zurück.
Mit dem Jahre 1866 erfuhren jedoch glück-
licher Weise die Verhältnisse eine Wande-
lung zum Bessern. Ein neuer Geist beseelte
Völker und Regierungen Norddeutschlands ; lang
unterdrückte gemeinnützige Bestrebungen konn-
ten sich frei entfalten, und unter solchen gün-
stigen Auspicien wurde die Idee Neumayers
wieder aufgenommen. W. von Freeden, frühe-
rer Director der Navigationsschule in Elsfleth,
griff die Sache mit eben so viel Energie, wie
Geschick und Uneigennützigkeit an, und es ge-
lang ihm, durch werkthätige Unterstützung der
Handelskammern von Bremen und Hamburg
das erstrebte Ziel zu erreichen. Am 1. Jannar
1868 begann am letzteren Orte die neugegrün-
dete „norddeutsche Seewarte" ihre Wirksamkeit.
Von Freeden hatte unentgeltlich die Einrich-
tung und Leitung des Institutes übernommen,
für welches die genannten Handelskammern die
erforderlichen Räumlichkeiten in dem dafür treff-
lich gelegenen Hamburger Seemannshause zur
Verfügung stellten, während sie gleichzeitig die
Ans dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 71
Deckung der Geschäftsunkosten auf die Dauer
von vorläufig zwei Jahren zusicherten.
In einer öffentlichen Bekanntmachung er-
ließen die beiden Körperschaften eine Aufforde-
rung zur Betheiligung an der erforderlichen Mit-
arbeiterschaft und gaben gleichzeitig über Zweck
und Ziel der Anstalt Aufschluß. Der Erfolg
war, daß sich sofort 30 der größten Rhederei-
F innen von Hamburg und Bremen mit einigen
Hundert Schiffen zu der gewünschten Unter-
stützung bereit erklärten und die Sache gleich
vom Beginn an sich günstig gestaltete.
Für die innere Organisation der Seewarte
waren zwei Abtheilungen in Aussicht genom-
men, für Seefahrt und Meteorologie. Von ihnen
nahm jedoch zunächst die erstere, als die für
die Praxis wichtigere eine feste Gestalt an,
während die andere sich ganz allmählich ent-
wickeln sollte. Die Hauptaufgabe der I. Ab-
theilung war Sicherung und Kürzung der See-
wege und faßte sich in nachstehende Punkte
zusammen.
1. Die Beschaffung tadelloser Normal-Instru-
mente für die Hauptschifffahrtsplätze der deut-
schen Küsten, um mit ihnen die Schiffs-Instru-
mente zu vergleichen, da ohne eine solche Ver-
gleichung die Beobachtungen werthlos sind.
2. Vertheilung der von der Seewarte einge-
richteten Beobachtungsbücher an die sich zur
Mitarbeit meldenden Seeleute nebst Anweisungen
für die nach dem bisherigen Standpunkte der
Oceanographie am zweckmäßigsten einzuschla-
genden Seewege.
3. Die alsbaldige Verwerthung des Inhalts
der zurückgelieferten Wetterbücher und die auf
sie so wie auf anderweitige verläßliche Beob-
achtungen gestützte Bearbeitung und Heraus-
72 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
gäbe voii Segelanweisungen für die verschieden
nen Monate.
4. Der Austausch der gewonnenen' Ergeb-
nisse mit denen der ausländischen nautisch-mö-
teorologiscben Institute.
Bereits der erste Jahresbericht der Seewarte
pro 1868 wies eine erfreuliche Betheiligüng auf .
Es waren 262 Wetterbücher vertheift, eine be-
deutende Zahl neuer geprüfter Instrumente gei-
gen Selbstkostenpreis an die Schiffe abgegeben,
so wie eine Reihe älterer Schiffs-Instrümente
verglichen.
Die Mitarbeit wuchs dann ton Jähr zu Jahr,
die Segelanweisungen wurden immer zuverläs-
siger und nach fünf Jahren konnte nach airieri-
kanischem Vorbilde auf Grund der eingegange-
nen Beobachtungen schon mit der Herausgabe
von 48 sehr übersichtlich und practisch einge-
richteten Windkarten vorgegangen werden. Ebenso
begann sich der augenfällige Nutzen zu zeigen,
den die Verbindung der Schiffe mit der See-
warte gewährte.
Der fünfte Jahresbericht (1872) wies iiach,
daß die 393 Schiffe, welche bis dahin ihre Wege
nach Anleitung der Seewarte nahmen, gegen-
über ebenso vielen dieselbe Reise machenden,
aber die herkömmlichen Routen verfolgenden
Schiffen nicht weniger als 6,3 Tage oder 8,3
Procent der durchschnittlich 75 Tage dauernden
Reisen gewonnen hatten. Die Durchschnitts-
große dieser Schiffe betrug 580 Tonnen und
der durch den Zeitgewinnst repräsentierte di-
recte Geldgewinn eines jeden Schiffes für 2 7*
Monat Reisedauer 1650 Mark. Solche Zählen
sprachen deutlich.
Wenn aber auch die Gründung der Seewarte
und ihre erste Entwickelung aus Her Initiative
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. L 73
patriotisch gesinnter Männer und Corporationen
hervorgehen konnte, so lag es anf der Hand,
daß das mit der sich von selbst ergebenden
notwendigen Erweiterung des Instituts beträcht-
lich wachsende Budget auf die Dauer aus pri-
vaten Mitteln nicht bestreitbar war und letzte-
ren auch nicht zugemuthet werden konnte.
Die Seewarte leistete nicht Privaten, son-
dern der Gesammtheit des Volkes bedeutende
Dienste und deshalb war es nur in der Ord-
nung, daß auch der Staat flttr die erwachsenden
Kosten eintrat. Ein dahin gehendes Gesuch von
Freeden's wurde vom Norddeutschen Bunde auch
als berechtigt anerkannt und von 1870 an eine
Subvention bewilligt, welche die Zukunft und
allmähliche Weiterentwickelung der Anstalt
sicherte.
Letztere bestand in ihrer bisherigen Form
und Leitung bis zum Januar 1875, mithin sie-
ben volle Jahre, und ihre Erfolge konnten nach
jeder Richtung hin nur als höchst erfreuliche
bezeichnet werden. Sie hatte es verstanden, in
der kurzen Zeit sich die Achtung und das Ver-
trauen der seefahrenden Kreise in vollem Maße
zu erwerben und trotz beschränkter Mittel und
Kräfte hervorragendes für das Gemeinwohl zu
leisten. Dann trat eine Aenderung ein. Die
Reichsregierung erachtete es für zweckdienlich,
das Institut zu einer Reichsanstalt zu erheben
aus der norddeutschen eine deutsche
Seewarte zu machen, sie in Beachtung verschie-
dener auf den Meteorologen-Congressen zu Leip-
zig, Wien und London (1871—74) gefaßter Be-
schlüsse theilweise zu reorganisieren, nament-
lich aber ihren Wirkungskreis nach verschiede-
nen Richtungen hin zu erweitern. Zum Zwecke
eines einheitlichen Zusammenwirkens mit dem
74 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
verwandten Hydrographischen Amte der Kaiser-
lichen Admiralität wurde die Seewarte dieser
höchsten maritimen Behörde des Reiches unter-
stellt und sie begann 1875 in der neuen Gestalt
ihre Thätigkeit.
Leider gelang es nicht den Schöpfer und
Leiter der Anstalt, unter dessen Aegide diese
sich so schnell und auf gesunder Basis ent-
wickelt hatte, für den Reichsdienst zu gewinnen.
Man konnte sich mit ihm nicht über die An-
stellungsbedingungen einigen und hauptsächlich
scheiterten die Verhandlungen daran, daß fortan
der seit einigen Jahren als Hydrograph der
Kaiserlichen Admiralität berufene Dr. Neumayer
zum Director der Seewarte bestimmt war und
von Freeden sich diesem unterordnen sollte.
Letzterer zog sich in das Privatleben zurück
und es ist nur zu bedauern, daß diese Kraft
dem Reiche verloren gegangen ist.
Mit dem Eingangs erwähnten Werke „Aus
dem Archiv der Deutschen Seewarte" ist nun
vor einiger Zeit der erste Bericht über die neue
Reichsanstalt erschienen und der Oeffentlichkeit
übergeben worden. Derselbe umfaßt einen Zeit-
raum von 4 Jahren (bis Ende 1878) und giebt
in eingehender Weise über die Organisation,
Wirksamkeit und die Bestrebungen des Insti-
tutes Aufschluß.
Das verspätete Erscheinen dieses Berichtes
erklärt die Direction in dem Vorworte mit der
Absicht, daß sie zunächst den Abschluß der Or-
ganisation habe herbeiführen und die Arbeiten
auf allen der Seewarte zugetheilten Gebieten in
feste Bahnen lenken wollen, was nunmehr ge-
schehen sei. Fernere Berichte sollen jedoch in
kürzeren Zwischenräumen folgen und das Er-
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. L 75
scheinen desjenigen für 1879 ist schon für die
nächste Zeit in Aassicht gestellt.
Das ziemlich umfangreiche Werk zerfällt in
zwei Hauptabschnitte, in den eigentlichen Be-
richt nnd in mehrere von dem Personale der
Anstalt bearbeitete Monographien, deren Gegen-
stände dem Forschungsgebiete der Seewarte an-
gehören.
Der Bericht beschäftigt sich zunächst mit
der Organisation der letztern, die sich in vier
Abtheilungen gliedert. Abtheilung I hat die
Aufgabe, die meteorologischen Beobachtungen
der deutschen Handelsmarine sowohl für die
Wissenschaft überhaupt, als besonders zum
Nutzen der deutschen Schifffahrt zu verwerthen.
Die folgende Abtheilung befaßt sich mit der
Beschaffung und Prüfung aller für das Institut
und seine Mitarbeiter erforderlichen physikali-
schen Instrumente, so wie mit der Pflege der
Wissenschaft der Deviation der Gompasse an
Bord eiserner Schiffe.
Mit Ausnahme des letzten Punktes decken
sich deshalb beide Abtheilungen mit den Auf-
gaben der ersten Abtheilung der früheren Nord-
deutschen Seewarte.
Die Deviation oder örtliche Ablenkung der
Magnetnadel durch das im Schiffe befindliche
Eisen ist erst in neuerer Zeit zu einem wesent-
lichen Factor für die Navigation geworden. Bei
den früheren Holzschiffen wurden nur gering-
fügige Quantitäten Eisen zum Bau benutzt und
in Folge dessen war auch die dadurch hervor-
gerufene Ablenkung der Nadel so unbedeutend,
daß sie nur in seltenen Fällen schädlichen Ein-
floß übte und im allgemeinen unbeachtet bleiben
konnte. Seitdem jedoch die Verwendung des
Eisens als Schiffsbaumaterial in so bedeutendem
76 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
Maße zugenommen hat und nicht nur der Rumpf,
sondern auch Masten, Raaen, das stehende Tau-
werk etc. aus ihm hergestellt werden, ist die
Deviation für die Schifffahrt so wichtig gewor-
den, daß sich ihre Vernachlässigung auf das
empfindlichste rächen würde. Die Gesetze die-
ser Deviation sind sehr compliciert und auch
noch nicht vollkommen erforscht. Letztere bleibt
nicht beständig dieselbe, auch wenn sich in dem
Eisen des Schiffes nichts ändert, sondern wech-
selt bei größeren Ortsveränderungen nach Süden
oder Norden und auch bei verschiedenen Zu-
ständen des Schiffes, ob dasselbe z. B. schief
liegt, Dampf auf hat etc. Die Pflege und wei-
tere Entwickelung dieser Wissenschaft und ihre
practische Nutzanwendung auf die Schifffahrt
ist deshalb wohl mit Becht in den Arbeitsbe-
reich einer Behörde aufgenommen, welche sich
die Sicherung der Navigation zur Hauptaufgabe
gestellt hat.
Die dritte, der zweiten der norddeutschen
Seewarte entsprechende Abtheilung beschäftigt
sich mit der Wettertelegraphie, der Ktisten-
meteorologie und dem deutschen Sturmwarnungs-
wesen, während sie gleichzeitig bestimmt ist,
sich allmählich zur Centralstelle für die aus-
übende Witterungskunde in Deutschland auszu-
bilden.
Die vierte Abtheilung endlich ist das Chro-
nometer-Prüfungs-Institut , welches sowohl die
an Bord der Handelsschiffe befindlichen Chrono-
meter auf ihre Brauchbarkeit untersucht, als
auch jährliche Concurrenzprüfungen von Deut-
schen und Schweizer Schiffsuhren abhält.
Auch diese Aufgabe ist als eine für unsere
Navigirung sehr wesentliche von der Seewarte
«neu in den Bereich ihrer Thätigkeit gezogen
Ans dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 77
und *mrd weiter unten noch näher besprochen
werden.
Der Bericht verbreitet sich dann in seinem
allgemeinen Theile über Personalien, Einrichtun-
gen der Anstalt und ihrer Agenturen, nebst ein-
gehender Beschreibung der vorhandenen, durch
Zeichnungen erläuterten Instrumente, über die
Verwaltung, die Bibliothek und die Karten-
sammlungen.
Aus den Specialberichten über das Arbeits-
feld der einzelnen Abtheilungen sei folgendes
hervorgehoben. Die mitarbeitenden Schiffsführer
genießen die Vortheile unentgeltlicher Prüfung
ihrer sämmtlichen Instrumente, so wie der Be-
nutzung der Bibliothek und Kartensammlung.
Ebenso wird ihnen schriftlich und mündlich
Rath über die von ihnen zu unternehmenden
Reisen ertheilt. Nach dem Berichte soll sich
in Folge dieser Einrichtung die Zahl der. Mit-
arbeiter von Jahr zu Jahr steigern.
Die angegebenen Ziffern für die einzelnen
Jahre zeigen dies auch; im Ganzen ist der Zu-
wachs gegen die Mitarbeiter der norddeut-
schen Seewarte jedoch nicht sichtbar und
dieser Umstand wohl dadurch erklärlich, daß
bei dem Aufgehen der letzteren in die deutsche
Seewarte eine größere Zahl Seeleute ihre Be-
theiligung aufgegeben hat.
Die deutsche Seewarte hat in den 4 Jahren
ihres Bestehens 676 Wetterbücher, also im Mit-
tel jährlich 169, die norddeutsche dagegen in
7 Jahren 1193, im jährlichen Mittel mithin 170,
ausgegeben.
Bei der Zurticklieferung der gefüllten Bücher
fand dasselbe Verhältniß statt, 116 jährlich bei
der deutschen und 115 bei der norddeutschen
Seewarte.
78 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
Die Einrichtung der Bücher entspricht den
auf dem Londoner Meteorologencongresse (1874)
gefaßten Beschlüssen und die einzutragenden
Beobachtungen umfassen die Angaben der Zeit
und des Ortes, die Kurse nebst der gesegelten
Distanz, Richtung und Stärke des Windes
(Scala Beaufort), Barometer und Thermometer
(letzterer auch mit trockner und nasser Kugel),
Wolkenbildung und Himmelsansicht , Wetter,
Seegang, Temperatur und specifisches Gewicht
des Wassers, so wie endlich Bemerkungen, na-
mentlich über beobachtete Strömungen.
Diese Beobachtungen werden 6 Mal, für den
Wind 12 Mal in 24 Stunden angestellt. Die
170 mitarbeitenden Schiffe liefern also jährlich
372,300, resp. bezüglich des Windes die doppelte
Zahl von Beobachtungen, und wenn sich diesel-
ben auch über einen großen Theil der Erde er-
strecken, so bieten sie doch ein so bedeutendes
Material, daß die Witterungskunde des Meeres,
auf welchem überdem die meteorologischen
Verhältnisse viel einfacher liegen, als auf den
Gontinenten, mit schnellen Schritten sich vervoll-
kommnen und der Schifffahrt zu Gute kom-
men muß.
Auf der andern Seite geben jene Zahlen aber
auch einen Begriff von der Arbeit, die dem Per-
sonal der Seewarte in Registrierung, Bearbei-
tung und practischer Verwerthung der eingelie-
ferten Daten erwächst. Die zur Erzielung gleich-
werthiger Beobachtungen bereits durch von Free-
den angestrebte zweckmäßige Maßregel, den
Handelsschiffen geprüfte Instrumente leihweise
zu verabfolgen, ist auch von der deutschen See-
warte adoptiert und wird bald allgemein durch-
geführt sein, während man außerdem die best-
geführten Wetterbücher durch Prämien aus-
zeichnet.
Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 79
Ans den während eines Monats eingegange-
nen Wetterbttchern werden zunächst kurze Reise-
berichte zusammengestellt und durch die „An*
nalen der Hydrographie und maritimen Meteo-
rologie" veröffentlicht. Diese in monatlichen
Heften erscheinende Zeitschrift ist das Organ
für die Seewarte und zugleich für das hydro-
graphische Amt der kaiserlichen Admiralität.
Letzteres bildet die Gentralstelle für theoretische
und ausübende Navigation der deutschen Reichs-
marine, für Kttstenverme8sung, Seezeichen und
alle solche Verhältnisse, welche für die Navi-
gierung der Schiffe in den eigenen wie fremden
Meeren von Wichtigkeit sind. Es cooperirt und
ergänzt sich deshalb in manchen Beziehungen
mit der Seewarte, was die Wahl desselben Or-
gans für beide Behörden erklärt. Die endgül-
tige Verwerthung der Beobachtungen für die
practische Schifffahrt geschieht in tabellarischer
Form gegenüber den von Maury gewählten und
auch durch von Freeden adoptierten graphischen
Darstellungen (Wind- und Wetterkarten). Die
Seewarte motiviert ihre Wahl mit der Bemer-
kung, daß Karten stets den Character eines
Abschlusses tragen, in dem man zu endgültigen
Resultaten gelangt zu sein glaubt, während spä-
tere und in größerer Zahl angestellte Beobach-
tungen diese Resultate wesentlich ändern können
und dann die mühsame Arbeit eine verlorne ist.
Diese Begründung ist nicht ohne Berechti-
gung, aber jedenfalls haben jene Karten für die
gewöhnlichen Seeleute den Vorzug der größeren
Ueberrsichtlichkeit vor den tabellarischen Uebei>
sichten voraus und sie haben stets vollen Bei-
fall gefunden.
Eine weitere Aufgabe der I. Abthellung ist
die Bearbeitung von Segelhandbttchern für die
80 Gott. gel. Anz. 1881, Stück 3.
verschiedenen Meere, welche unsere Marinelite-
ratur in deutscher Sprache bis jetzt nicht be-
sitzt Das Erscheinen des ersten derartigen
Werkes über den nordatlantischen Ocean ist in
nahe Aussicht gestellt. Ein Materialaustausch,
der mit den maritim-meteorologischen Instituten
in Utrecht, London und Kopenhagen stattfindet,
kann den Werth dieser Werke nur erhöhen.
Aus dem Specialberichte über die Thätigkeit
der II. Abtheilung sind besonders zwei Punkte
hervorzuheben: die günstige Einwirkung der
Seewarte auf die Hebung der deutschen Fabri-
cation von nautischen und meteorologischen In-
strumenten und die wachsende Inanspruchnahme
der Anstalt seitens der Handelsmarine zur Be-
stimmung der Deviation, Regulierung und Com-
pensation der Oompasse (Verringerung der De-
viation durch zweckmäßige Anbringung von
Magneten in der Nähe des Compasses).
Bis vor wenigen Jahren stammte der größte
Theil der Reflexions-Instrumente unserer Han-
delsmarine aus englischen Werkstätten, ohne in-
dessen die Garantie verläßlicher Güte zu bieten.
Schon das hydrographische Amt wandte seit
1872 diesem Gegenstande seine Aufmerksamkeit
zu. Es stellte für die Kriegsmarine strengere
Anforderungen in dieser Beziehung und die
Folge war, daß eine Reihe mechanischer Werk-
stätten in Berlin die Fabrication von Spiegel-
Instrumenten aufnahm und sehr bald darin
tüchtiges leistete. Ganz besonders trugen aber
zur Hebung dieser Industrie die Prüfungsein-
richtungen der Seewarte bei. Die Mechaniker
erhielten von letzterer ein Certificat über die
Leistungen ihrer Instrumente, so wie Rath und
Anleitung zu Verbesserungen. Diese benutzten
sie in so erfreulicher Weise, daß sie jetzt be-
Aas dem Archiv der Deutschen Seewarte. I. 81
reite die Concurrenz mit dem Auslände voll be-
stehen können und Deutschland sich von letzte-
rem nach dieser Richtung unabhängig gemacht
hat Ein gleichgünstiges Resultat ist auf dem
Gebiete der Compaßfabrikation zu verzeichnen,
die bis vor kurzem in Deutschland gänzlich
darniederlag, jetzt aber kaum etwas zu wün-
schen übrig läßt. Bezüglich der Deviation be-
ginnen die Schiffsführer die große Wichtigkeit
dieses Punktes immer mehr einzusehen und in
den 4 Jahren hatten nicht weniger als 135 deut-
sche Schiffe sich durch die Angestellten der
Seewarte auf ihre Deviationsverhältnisse unter-
suchen lassen.
Einer der nächsten Specialberichte behandelt
die Witterungskunde und das Sturmwarnungs-
wesen in Deutschland. Da die Witterungszu-
stände in England mit den unsern in nahem
Zusammenhange stehen und die Eenntniß jener
für deutsche gleiche Verhältnisse sehr wesent-
lich ist, so hatte bereits die Norddeutsche See-
warte einen Austausch von Wetter- und Sturm-
telegrammen mit Erfolg angebahnt. Dieser Aus-
tausch ist seitdem erweitert und auf verschiedene
andere Länder ausgedehnt worden. Als Restim6
dieser Telegramme erscheinen die täglichen von
der Seewarte ausgehenden und in den Zeitun-
gen veröffentlichten Wetterberichte, die theil-
weise von Wetterkarten begleitet sind.
Von den Sturmwarnungen haben sich etwa
60 — 70 Procent bestätigt, was als ein gutes Re-
sultat verzeichnet werden muß und für den Nu-
tzen dieser Einrichtung spricht.
Weniger werthvoll ist jedoch bis jetzt die
Wetterprognose, der noch Zuverlässigkeit man-
gelt. Die von den Zeitungen gebrachten Wet-
terberichte haben für die Allgemeinheit noch
wenig practische Bedeutung, sondern nur mehr
6
82 Gott. gel. An». 18&L Stück &
ein retrospectives Interesse* Liefte sieh ei«
Modus finde», um sie bedeutend schneller im
Lande zu verbreiten, als jetzt geschieht, so
würde ihr Werth steigen; aber es kann nicht
viel nützen, wenn man erst 24 Stunden oder
noeb später erfährt, was anderwärts für Wetter
gewesen ist Anwendern fehlt es auch noch an
fester Grundlage für eine vertrauenswerthe
Wetterprognose, von der namentlich die Land*
wirthschaft Vortheil haben soUL
Dieser Schwierigkeiten scheint sioh die Di-
rection der Seewarte auch voll bewußt s» saust
und sie spricht ans, daß sie nur mit gtöftter
Vorsicht auf dem Wege der Prognose wrgettiit
werde. Das Volk drängt nach eiaer soloh&n, in
Leipzig ist 1878 zu diesem Zwecks, ein. meteo-
rologi8cber Dienst eingerichtet worden , im preu»
ßischen Abgeordnetenbausa: ist: tqu einigen Wer*
chen die Sache ebenfalls vH&dec in AaregMfi
gebracht ; aber man wird siek mit <tor KealisKh
rung dieser Wünsche noch gwluldßa mflsfö* lifo
dafür eine bessere wtssemiohafrti&he Baris ge*
schaffen ist, als bisher.
Aus dem Thätigkeitsbereich der IV« Abthfti-.
lung verdienen die OoncurreinzrPcüfongen dar
Chronometer Erwähnung. Die Anregung zu di#r
ser Einrichtung ging vom Hamburger Sfenata
aus, um sowohl der einheimiaohen gegen andi)%
Länder zurückstehenden Chron*tteterfabrik&ki<w
einen Aufschwung zu verleihen, als. auch dem
nautischen Publicum Gelegenheit zä bieten gufa
und durch eine competent^ Bsfcitofo geprüfte
Schiffsuhren zu erwerben. Diesa Prüfungen» hafc
ten bis 1878 zweimal stattgefunden rodi 4i^ Re-
sultate den gehegten Erwartungen wtt ontepror
eben. Zugelassen wurde nur. Dentsobeß uod
Schweizer Fabrikat. Im ersten Jahre hetheiüg-
ten sich 9 Deutsche und 3 Sek weiser llbirmMber
Aus dem Arckif der Deuttfchen Seewarte. I. 8S
ndt 34, im zweiten 12 Deutecke und 3 Schwei-
zer mit 51 Ghronometeiro. Jene ergab 62, diese
Wf0 brauchbare Uhren. Aue der ersten Liefe*
mng wurden durch Vermittehtng der Seewarte
19, ans der zweiten 16 Chronometer big 1878
verkauft.
Bei den Prtfifttngen werden die letztern bis
zur Dauer von 180 Tagen einer verschiedenen
Temperatur von + 5 bis + 30 Centigraden aus-
gesetzt «nd in Bezug auf ihre Compensation so-
wie auf gleichmäßige Schwingungszeiten der
Unruhe eingehend untersucht. Lassen einzelne
Fabrikanten ihre Instrumente prüfen, so dauert
dies 4 Monate, und für Chronometer von Han-
dßlötetttffen ist diese Zeit noeh kürzer und rich-
tet sieh nach dea Umständen.
Ueker die wissenschaftlichen Ergebnisse der
erste* Comonereaaprflfung enthält der zweite
Abschnitt des Baehes eine Abhahdlung von Dr.
Bflmker,. Votstand der IV. Abtheilung und zu-
gleich Director der Hamburger Sternwarte. Eine
tabellarische Grappenanordnung läßt ersehen,
wie riefe die eingelieferten Chronometer hinsicht-
lich ihres Gange» bei den verschiedenen Tem-
peraturen zu einander verhalten haben. Die
wissenschaftlichem Erörterungen beschäftigen sich
hauptsächlich mit den aus der Compensation
entstehenden Fehlerquellen und stützen sich auf
(he betreff eoden Untersuchungen des Astronomen
der Pariser Sternwarte Villarceau, einer Autori-
tät auf diesem Gebiete und Verfasser der „Re-
cherche» sar le mouvement et la compensation
des chronom&tres".
Als Verfertiger der besten und von der See-
warte mit dem Prädicat „vorzüglich" ausgezeich-
neten Chronometer hat sich Bröcking in Ham-
burg gezeigt. Ihm am nächsten stehen Ehrlich
in Bremerhaven und Kritter in Stuttgart.
6*
84 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
Die andere Monographie des zweiten Ab-
schnittes rührt von Capitain Fellberg her und
behandelt die „Außerperiodischen monatlichen
Schwankungen des Barometers". Sie enthält in
tabellarischer Form and von zwei Karten glei-
cher Barometerschwankungen begleitet die be-
züglichen Beobachtungen von 330 über den gan-
zen Erdkreis verbreiteten Orten. Die Arbeit ist
das Resultat mühevoller und sorgsamer Studien,
hat für Meteorologen von Fach anch gewiß
Werth, ist jedoch für das Laienpublicum von
geringerem Interesse.
Die obige kurze Skizzierung des umfang-
reichen Werkes zeigt, wie ausgebreitet das For-
schungs- und Arbeitsfeld der deutschen Seewarte
ist, wie viel sie trotz der kurzen Zeit ihres Be-
stehens zum Nutzen der Wissenschaft und der
Volkswirtschaft geleistet hat und wie sich diese
Leistungen dufch zweckmäßige Organisation
und unter Leitung eines so hervorragenden Man-
nes wie Dr. Neumayer stetig steigern.
Die Seeschifffahrt genießt durch sie bereits
sehr große Yortheile. Gelingt es in absehbarer
Zeit, auch die allgemeine Wetterprognose zu
vervollkommnen, so daß die Landwirtschaft ähn-
lichen Nutzen daraus ziehen kann, wie sie die
Sturmwarnungen und der Standpunkt der mari-
timen Meteorologie der Schifffahrt schon jetzt
gewähren, so wird das Wirken der Seewarte
für ganz Deutschland ein höchst segensreiches
werden.
Wiesbaden. R. Werner.
Löning, Reinigungseid bei Ungerichtsklagen. 85
Der Reinigungseid bei Ungerichtskla-
gen im deutschen Mittelalter. Festgabe
zu Bluntschli's ÖOjährigem Doktorjubiläum. Von Ri-
chard Löning. Heidelberg, Winter 1880. XV
u. 316 SS. 8°.
Im diametralen Gegensatze zur herrschenden
Ansicht stellt der Verf. als Prinzip des
detitschen Beweisrechtes bei Unge-
richtsklagen folgende Sätze auf (vgl. S.
12 f.):
„Leugnet der Beklagte die ihm zur Last ge-
legte Strafthat, so ist es in erster Linie Sache
des Klägers, den thatsäehlichen Grund seiner
Klage, d. h. die Begehung des Ungerichts oder
des Frevels seitens des Beklagten, durch rechts-
genügende objektive Gründe zu bewahrheiten ;
unterläßt es aber der Kläger, gleichviel aus
welcher Ursache, in dieser Weise den Klagebe-
weis zu führen, so ist es an dem Beklagten,
durch alleinigen oder mit Eidhelfern verstärkten
Eid, also durch subjektive Bekräftigung,
die Beschuldigung zurückzuweisen, m. a. W.
sich eidlich zu reinigen. — Der Reini-
gungseid bei Ungerichtsklagen findet hiernach
Anwendung bei sog. negativer Litiskontestation
des Beklagten ; es kommt ihm aber dabei grund-
sätzlich kein prinzipaler, sondern ein sub-
sidiärer Charakter zu; sein Anwendungs-
gebiet ist beschränkt auf die Fälle
des mangelnden Klagebeweises".
Nachdem die These gestellt und ihr Gegen-
satz zu der bisherigen Auffassung — die zuletzt
in den Arbeiten von Planck und v. Kries
Ausdruck gefunden hat — in das gehörige Licht
gesetzt worden, widmet der Verf. einen beson-
deren Abschnitt (S. 15 — 75) der näheren Be-
sprechung derjenigen Voraussetzungen,
durch deren Gegebensein das klage-
86 Gott. gel. Anz. 1881. ßtdck 3.
rische Beweisrecbt bedingt ist: recht-
zeitige Klagerhebang ; rechtzeitiges Erbieten
znm Beweis; Berufung auf im Gesetze als be-
weistüchtig anerkannte Beweismittel; eventuell
Bescheinigung der für die Beweiskraft der be-
treffenden Beweismittel gesetalich maßgebenden
Umstände.
Damit ist der Boden geebnet; der Verf.
kann daran gehen , den quellenmäßigen Nach-
weis für die Richtigkeit seiner These zu führe*.
Abschnitt III (S. 98—237) des Buches enthält
die positiven Belege für die subsidiäre Natur
des Reinigungseides; in Abschnitt IV (8. 241—
269) werden die dieser Auffassung „scheinbar
entgegenstehenden a Quellenstellen besprochen
und mit der Ansicht des Verf. in Einklang gebracht.
Durch die beiden letzten Abschnitte (Wirkung
und Beweiskraft des Reinigungseides ; Recht
und Pflicht zum Beinigungseid) soll die von dem
Verf. auf Grund des Quellenmateriales versuchte
Konstruktion in sich gefestigt und der herrschen-
den Ansicht gegenüber gerechtfertigt werden. —
Das Gesammturtbeil über das Buch sei
vorangeschickt: Der Verfasser hat sich auch
diesmal wieder als Rechtshistoriker ersten Ran-
ges bekundet. Musterhafter Fleiß in der Samm-
lung und Sichtung des Materiales und seltenes
Geschick in der Verwerthung desselben; schar-
fer Blick für die Erkenntnis der großen, die
Rechtsbildung als treibende Kräfte bestimmenden
Prinzipien, verbunden mit dem liebevollsten Ein-
gehen auf die Details der Entwicklung; Klar-
heit und Eleganz der Darstellung — das sind
Eigenschaften, die Löning nicht erst zu beweisen
brauchte, die er aber in seinem „Reinigimgseide"
neuerdings auf das glänzendste bewiesen hat.
Wenden wir uns zu den Resultaten des Bu-
Löning, Bfetoigungseid bei Ungerichtsklagen. 87
•tefe, frb «obfcint mir «of Grund der schlagenden
NMhwefeiliigm des Verf. festzustehen :
1. Ss ifct ««rifcbtigt wenn die herrsehende
Ansicht in dem klägerieehen Beweisrechte einte
fiingbl&rität gfegettiber ded Grundgedanken
ikte dmtsöhen Beweftrechtes, eine Abweichung
▼on dmselbet Erblickt. Diese Ansicht kanh
gegefctber den zahlreich vom Verf. beigebrachten
Qüellenstellen, WeUhe das Beweisrecht des Klä-
gerb anerkennen, nicht länger gehalten werden.
2. Es ist ifasbebondere falsch, wenn die
htorneftfendfc Ansteht jene Bestimmungen, in wel-
chen der Kläger zum Beweise zugelassen und
datait das Gebiet deb Reinigungseides beschränkt
wird, als die Keime einer neuen, auf fremde
Anschauungen zurückzuführenden, Beweistheorie
beseichiiet ; wenn sitt z. B. in dtem Wegfalle der
im tistsädbsischen Bechte verlangten Voraus*
Setzungen des Zeugenbeweises (handhafte That
u. s. w.) eifefe Umgestaltung des altdeutschen
Beweisprinzipes, eine Vorbereitung für die Re-
ception der fremden Bechte erblickt. Auch nach
dieser Richtung hin scheinen mir die Ausführun-
gen des Verfi (vgl. ifasbes. S. 243 ff.) abschlie-
ßend zu seim
3. Und dafäus folgt die Unmöglichkeit, den
Rehrigüngsekl des Beklagten auch fernerhin
prinzipiell als das fiauptbeweismittel , als
den Kern, dta Ausgangspunkt und die Grund-
lage des deutschen Beweissystems aufzufassen.
Soweit tatisse* wir den Ausführungen Lö-
ning's fltibediügt beistimmen. Ist damit diä
These von dem prinzipalen Charakter des klage*
tischen Beweises, von der subsidiären Natur
des Beinigdngseides bewiesen? Ich glaube
nicht Löniag begeht vielmehr m. E. genau
denselben Fehler, den die herrschende Ansicht
higher begangen! freilich nach entgegengesetz-
88 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
ter Richtung. Wenn diese von der schlichten
Klage und dem damit verbundenen Reinigungs-
rechte des Beklagten ausgeht und die verstärkte
Klage mit dem klägerischen Beweisrechte erst
in zweiter Linie berücksichtigt, so ist fürLöning
die verstärkte Klage das Prinzipale, die schlichte
das Sekundäre. Freilich drückt L. sich vor-
sichtiger aus als seine Gegner: er spricht von
der subsidiären Natur des Reinigungseides,
während diese den exzeptionellen Charakter
des klägerischen Beweisrechtes betonen. Aber —
ich komme darauf noch zurück — die Vorsicht
liegt mehr im Ausdrucke als in der Auffassung.
Die Quellen geben der herrschenden An-
sicht ebensoviel und ebensowenig Recht wie
dem Verf.; sie beweisen weder für noch gegen
die subsidiäre Natur des Reinigungseides, son-
dern sprechen sich über die prinzipiellen Grund-
lagen des deutschen Beweisrechtes überhaupt
nicht aus. Man vgl. z. B., was Löning gegen
die Schlußfolgerungen sagt, die man bisher aus
der Wendung der lex Ribuaria „aut si negave-
rit, juret" gezogen hat: „In den betreffenden
Stellen soll überhaupt nicht das Beweisrecht in
umfassender Weise und ex professo geregelt, es
soll kein Prinzip über Beweismittel und Beweis-
vertheilung darin aufgestellt werden; dieselben
wollen vielmehr . . . nur diejenigen rechtlichen
Folgen aufführen, welche aus der Begehung
eines Verbrechens ... für den angeblichen Thä-
ter, den Beklagten hervorgehen" (S. 107 ff.).
Passen diese Bemerkungen nicht wörtlich auf
jene Schlußfolgerungen, die der Verf. (S. 99)
aus der abweichenden Fassung der lex Salica:
„si ei adprobatum fuerit" zu ziehen sich be-
rechtigt glaubt? Und was Löning S. 263 an-
führt, um die „scheinbar" gegen seine Ansicht
sprechenden Quellenstellen zu entkräften, daß
Löning, Reinigungseid bei üngerichtsklagen. 89
sie eben keine prinzipielle Entscheidung d4r
Frage enthalten, gilt, gerade weil es so durch-
aus richtig ist, ganz ebenso für diejenigen Stel-
len, anf welche L. seine Ansicht stützt. Bei
„res probata, vera probatio, certa Veritas" n. s. w.
klägerischer Beweis; bei „suspectio, dubie-
tastt (wenn „ad praesens probari non potest**),
bei „Leumund, Inzichttf n. s. w. Reinigungseid
des Beklagten (wenigstens nach Wegfall des
Zweikampfes): das und nicht mehr sagen die
Quellen. Und daraus folgt weder die prinzipale
Stellung des Reinigungseides noch auch seine
Subsidiarität.
Daß auch ein faktisches Ueberwiegen
des klägerischen Beweises nicht behauptet wer-
den kann, giebt L. selbst wiederholt zu. Man
vgl. SS. 53, 251, 278; insbes. S. 295: das klä-
gerische Beweisrecht ist „thatsächlich sehr ein-
geschränkt, und seine praktische Verwerthung
durch zufallige äußere Hindernisse gar leicht
ausgeschlossen a. „Es ist klar, daß durch ein
solches Beweissystem dem Kläger die Verfolgung
seiner Rechte sehr erschwert ist u. s. w.u.
Aber haben wir denn überhaupt Veranlas-
sung, nach einem solchen, sei es prinzipiellen,
sei es faktischen Ueberwiegen des Klagebewei-
ses über den Reinigungseid oder umgekehrt zn
suchen? Legt es denn die immerwiederkehrende
Duplizität von schlichter und verstärkter Klage
nicht nahe, diese Duplizität als solche
zu nehmen, beide Klagen als gleichbe-
rechtigte Glieder im Systeme des deutschen
Prozesses und die ihnen entsprechenden Gestal-
tungen des Beweisrechtes als gleichwertige,
einander parallellaufende Erscheinungen
zu betrachten?
Diese Auffassung steht nicht nur mit den
Quellen im Einklänge, sie hat noch ein weiteres
90 Gott. geL Adz. 1681, Stüek 3.
Argument für sich. LSning selbst betont den
Gegensatz zwischen offenen and nicht-
offenen Verbrechen, zwischen der kundlt-
chfcn, handhaften That und den Inzichts* ode*
Lenmundsfällen (vgl. insbee. Abschnitt III Note
140 mit der Polemik gegen das Mißverständnis
bei Zöpfl and Brtinnenmeister). In diesem Ge-
gensatze liegt m. £. der Schlüssel zur Lösung
des Problems. Er durchsieht nicht nur das
ganze deutsche Strafrecht; er gehört vielmehr
sogar der kleinen Gruppe von nachweisbaren
indogermanischen Rechtsanschauungen an. Er
äußert seine Wirkung im materiellen Strafrechte
(man denke an das Tötungsrecht, das Recht
zur Festnahme u. s. w.), und bestimmt die pro-
aeßuale Stellung des Beklagten. Verstärkte und
sehlichte Klage sind der Ausdruck dieses Grund-
satzes; und das Gleiche gilt von der in beiden
Klagen verschiedenen Stellung der Parteien zum
Beweise. So wenig es nun angienge, wollte
jemand die offenen Verbrechen als prinzipale,
die nichtoffenen als subsidiäre hinstellen, gerade
so wenig geht es an, die verstärkte Klage gegen-
über der schlichten, oder das klägerische Beweis-
recht gegenüber dem Bechte des Beklagten auf
den Reinigungseid als das prinzipale zu bezeich-
nen oder umgekehrt. Offenes Verbrechen, ver-
stärkte Klage, Nähersein des Klägers einerseits ;
nichtoffenes Verbrechen, schlichte Klage, Näher-
sein des Beklagten zum Beweise andrerseits lau-
fen gleichberechtigt und gleichwertig neben-
einander her. Daß der Begriff der offenen That
und ihr Einfluß auf die Gestaltung des Prozesses
im Einzelnen wechselt nach Volk oder Stamm
mnd sieh entwickelt im Laufe der Jahrhunderte,
ist ein Beweis nicht gegen, sondern für die hi-
storische Richtigkeit dieser Auffassung.
Wie sehr selbst Löning's Schartblick durch
Löning, Beimgiutgseid bei Ungeriektsklagen. 91
die einmal gefaßte Ansicht getrübt werden
konnte, scheint mir am schlagendsten ans fol-
gendem hervorzugehen. Zn den schönsten Par-
tien des Baches gehören die feinsinnigen Be-
merkungen über die Natur des Zweikamp fee
(S. 47 ff., 76 ff.) mit dem wie ich glaube durch-
aus gelungenen Nachweise, daft sein Zweck „die
Erkenntnis der materiellen historischen Wahr-
heit der behaupteten Klagthatsaehen" gewesen,
daß er Beweismittel im eigentlichen Sinne, dal
er objektiver Natur sei. Und von dem Par-
teieneide soll das Gegentheil gelten; er soll
nur Bekräftigung der Parteibehauptungen, sub»
jektive parteiliche Willensäußerung sein! Und
warum nicht wie der Zweikampf Beweismittel
von „objektiver" Natur? Die „mehr naturali-
stische Idee von der Einheit der physischen und
moralischen Kräfte im Menschen" , die nach Lö-
ning's geistvoller Bemerkung (S. 54) die Stel-
lung des Zweikampfes im deutschen Prosesse
bestimmt, ist für die Auffassung und Bedeutung
des Parteieneides im mittelalterlich deutsehen
Rechte ebenso maßgebend gewesen; oder steht
vielleicht die Annahme im Widerspruche mit
den Anschauungen jener Zeit, daß der Lügner,
der die Hand zum Schwüre hebt, sie sinken
lassen werde, ehe die frevelnden Worte gespro-
chen, wie die Hand desjenigen erlahmt, der ge-
gen die Wahrheit in die Schranken tritt; daß
dort das Vollbringen wie beim Zweikampf den
Sieg „nicht das Wollen, sondern das Können
verschafft" ? Mit der schroffen Betonung dieses
angeblichen Gegensatzes zwischen dem Parteien-
eid und den „objektiven" Beweismitteln hat aber
Löning gleichzeitig den Fehler begangen, den
er der herrschenden Ansicht vorwirft: wie diese
den Klagebeweis, so hat er den Reinigungseid
„ad separatum verwiesen" (S. 7), er hat ihm
92 • Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
nicht subsidiäre, sondern singulare Stellung ge-
geben. Und damit ist eine richtige und ein-
heitliche Auffassung des Reinigungseides geradezu
unmöglich geworden. Der Reinignngseid ist bei
Löning :
1. Negation der Klagthatisachen, also „sub-
jektive parteiliche Willensäußerung"; daß die
Negation in feierlicher Weise bekräftigt wird,
.verändert diesen ihren Charakter „nicht wesent-
lich« (S. 273).
2. Er ist ferner „psychologischer Zwang zur
Ablegung eines der Wahrheit entsprechenden
Geständnisses", ein medium eruendi veritatem
(S. 297, 298), „er hat insofern einen inquisitori-
schen Charakter" (!).
3. Er erfüllt gleichzeitig die Funktionen des
römischen juram. voluntarium (S. 275), „doch
hat diese Auffassung im deutschen Rechte keine
weitere Ausbildung erfahren".
4. Nicht genug damit. Der Reinigungseid
entspricht außerdem noch dem römischen juram.
necessarium (S. 280), er „vereinigt in sich . . .
die beiden Funktionen des römisch-rechtlichen
Beweiseides" (S. 282).
Und all' das, um die subsidiäre Natur des
Reinigungseides zu retten! Ist das Resultat um
den Preis einer solchen Vermengung der Begriffe
nicht zu theuer erkauft? Da scheint es mir doch
— relativ — geringere Willkür, wenn die herr-
schende Ansicht, davon ausgehend, daß trotz
mangelnden Elagebeweises der Angeschuldigte
verurtheilt werden kann, gerade in diesem Um-
stände das charakteristische Merkmal des deut-
schen Beweisrechtes erblickt ; wenn sie den Reini-
gungseid nicht nur mit Löning (S. 278) als „Grund-
pfeiler der deutschen Freiheit", als „ein Grundrecht
der Deutschen", sondern auch als Grundpfeiler
des Beweisrechtes auffaßt, dessen Gestaltung
Löning, Reinigungseid bei Uligerichtsklagen. 93
immer bedingt ist durch die allgemeine Stel-
lung des Individuums zur Gesammtheit. —
Diesen Bemerkungen gegenüber erinnere ich
nochmals an das schon oben ausgesprochene Ur-
theil über Werth und Bedeutung des Löning'-
schen Buches. Daß der richtige Grundgedanke
tiberspannt worden, schmälert das bleibende
Verdienst desjenigen nicht, der ihn gedacht und
nutzbar gemacht. Löning's Schrift bleibt eine
Festgabe nicht nur für Bluntschü, sondern für
die deutsche Wissenschaft, auch ohne die „sub-
sidiäre" Natur des Reinigungseides. Sie hat
einen großen Irrthum berichtigt, und daß sie
dabei einen kleinen begangen, wird schon durch
die Fülle der werthvollsten Detailausführungen,
durch den Reichthum an geistvollen Einzelbe-
merkungen mehr als aufgewogen. Somit bleibt
das Verdienst, jene Wahrheit gefunden zu haben,
als reiner Ueberschuß. Und das sei nochmals
ausdrücklich betont.
Gießen Ende Oktob. 80. v. Liszt
Gesammelte kleine Schriften von H. Stein«
thai. I. Sprachwissenschaftliche Abhandlungen und
Becensionen. Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuch-
handlung. 1880. VI und 450 S. 8°.
Die neunundzwanzig Arbeiten, welche Herr
Steinthal in diesem Bande vereinigt hat und als
„Arbeiten der früheren Jahrzehnte" bezeichnet,
stammen zum größeren Theil aus der von ihm
und Herrn Lazarus herausgegebenen Zeitschrift
fllr Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
welche im J. 1860 begründet und, soviel ich
weiß, nicht vergriffen ist; nur sechs jener Ar-
beiten — Heyses Lehrbuch der deutschen
Sprache (Hallische allgemeine Litteratur-Zeitung),
üeber die Sprache der Taubstummen (Deut-
sches Museum von Prutz und Wolfsohn), Zur
94 Gott, get. Ans. 1881. Stock 3.
Spracbpbilosophie (Zeitschrift für Philosophie
und philosophische Kriti^ von Ulrici), Von de*
liebe zur Muttersprache (Berthold Auerbachs
Kalender), Die Lehre you den Redetheilen bei
den Alten (Zeitschrift für die östeir. Gymnasien),
Die Geneva des Keinen (Kahns Beiträge) —
sind anderswo erschienen. Eine Andeutung
über den Zweck dieser Sammlung vermissen
wir, obgleich eine solche mit Rücksicht auf den
eben vorgelegten Thatbesfand und darauf, daß
das. in den vorliegenden Band aufgenommene
im wesentlichen unverändert geblieben ist, nicht
ahne Interesse gewesen wäre. Vielleicht erbat
ten wir darüber in dem in Aussicht gestellten
^weitem Bande Aufschloß, in dem „die Artikel,
wekhe zur Mythologie, wir Litteratur-Geschichte
und zuv allgemeinen Philosophie gehören, fol-
gen sollen".
loh bin nicht in der Lage, mich mit den in
diesem Bande enthaltenen, zum Theil bedeutsa-
men und interessanten Arbeiten hier eingehend
beschäftigen zu können; ich muß mich vielmehr
darauf beschränken , zu einer derselben einiges
zu bemerken, spreche aber vorher noch mein
Bedauern darüber aus, daft mehrere der Ab-
handlungen, mit denen wir es hier zu thun ha-
ben, vor ihrem Neudruck nicht mit Bücksicht
auf neuere sprachwissenschaftliche Untersuchun-
gen und Ergebnisse durchgearbeitet sind. Sa
wie sie in diesem Bande stehen, halte ich sie
fllr etwas antiquiert.
„Doppelung ist so wenig Wiederholung wie
Zusammensetzung", „die Doppelung seheint mir
durchaus onomatopoetischer oder pathognomic
seher Natnr, als aus der Subjectivität hervor-
gehend" sagt Herr Steinthal SS. 352, 353. Ich
vermisse einen Beweis für diese Sätze, welche
ich einstweilen für mindestens unsicher halle*
Steinthal , Gesammelte kleine Schriften. I. 96
Yetgfokfo ich Ik. degie Aiga „es bremit hell
auf oder die hiervon nur syntaktisch verschie*
denen grieoh. Wendungen pctviag pottvee&m
„graviter insaniretf, }$qw fy&tv „meras nugan
loqui" mit z. & ved. namnemtti „sie neigt sich
tief", so scheint mir der einzige wesentliche
Unterschied zwischen dieser und jenen Bildun-
gen ein seitlicher ea «ein and »war wähl der*)*,
daft die letzteren in ftexivisob ausgebildetem
Sprachen entstanden sind, ndmnamtÜ aber sei*
nem Ursprünge nach einer Zeit angehört, in
welcher die Flexioa noch nickt ausgebildet war,
und in der die Stimme — welche dapnafe
gleichzeitig nominale und verbale Gültigkeit,
hatten ~ noch eine* selbständige Stellung ein*
nahmen. Ist diese Auffassung, nach welcher
nam* in närnnarmti auf einer Stufe mit d*gtiY
Ifao* i° ä*g& ^9<h tffy IfjQet* steht, richtig
oder aueh nur möglieh, so ist zunächst der
zweite der oben angeführten Sätze zu beanstasb»
den — man mußte sonst auch in degte dagar
IfjQou IqQtfv etwas onomatopoetisches oder' pa»-
thognomisches sehen.
Wendungen wie degte dega u. s. w. drücken
nicht nur Intensivität der Handlung aus, son*
dem haben auch andere Bedeutungen ; ich
hebe beispielsweise hervor lit. läpai hriste krifa
nü rneddiu „die Blätter fielen in einem zu von
den Bäumen", jls verkte rods neverke cde didei
dusdvo „er weinte zwar nicht, aber er seufzte
8ehrtf (vgl. Kurschat Gram. §. 1490), russ.
rugatb-to my ego rugaemb, a tohko ego mnSnietm
i dorozirm (Turgenjeff) „wir schimpfen freilich,
auf ihn, aber wir schätzen doch seine Meinung".
*) Mit Bestimmtheit läßt sich dies nicht behaupten^
denn die Möglichkeit ist zuzugeben, daß die Reduplica*
tionsailben der Intensiv* auf volleren, mit Flexionsendun-
gen versehenen Formen beruhen.
96 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 3.
Demnach ist es nichts weniger als undenkbar,
daß solche Verbindungen oder ältere, ihnen
gleichartige den Ausgangspunkt auch anderer
Reduplicationen, speciell der der Perfecta, Fre-
quentativa und Desiderativa gebildet haben.
Doch sind dabei die schon öfters betonten Be-
rührungen zwischen Intensiv- und Perfectbil-
dung zu berücksichtigen*) (vgl. A. Ludwig, Der
Infinitiv im Yeda S. 120), und ferne^ ist zu be-
achten, daß den reduplicierten Frequentativen
Verbindungen wie skr. päcatipacati „er kocht
in einem fort", russ. dolbih-dolbih „er pickte
und pickte" zur Seite stehen. Ihnen gegenüber
kann man skr. carcartti „er bewegt sich wie*
derholt" auf eine Stufe mit gr. xaloxdya&dg,
dtaQtfjQotg inieaaw, Göthes „in der klein- und
großen Welt" (K. Zs. 9. 42) stellen, in welchen
das Flexionssuffix des ersten von zwei eng zu-
sammengehörigen Wörtern verstümmelt oder
weggefallen ist, weil seine Erhaltung mit Bück*
sieht auf sein Hervortreten in dem zweiten die-
ser Wörter überflüssig, ja unschön erschien**).
So lange solche Möglichkeiten nicht wider-
legt sind, können die angeführten Sätze Stein-
thals nicht für sicher gelten*
*) £8 fragt sich, ob nicht auch in altind. änrdhe,
dnrgd, änrhus intensiv ische Bildungen zu erkennen sind,
▼gl. cahcüryate , pamphuliti, Formen die »zum Theil
sicher schon proethnisch waren c (Brogman Gart. Stud.
VH. 867).
**) Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch zu beur-
theilen, daß Reduplicationssilben nur selten die vollen
Formen der zu Grunde liegenden Verbalthemen zeigen
und meist nur eine Andeutung derselben sind. Dasselbe
gilt von dem umgekehrten Fall.
A. Bezzenberger.
Für die Redaction rerantwortlich : S. Ethnisch, Director d. GÖtt. gel. Ans.
Verlag der Dieterich' schtn Verlags- Buchhandlung.
Druck der Dieieiich'schen Univ.- Buckdruckerei (W. Fr. Kaut**).
r
97
G öttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 4. 26. Januar 1880.
Auf mehrfache Anfrage.
Es wird bei den Gott. gel. Anz. als selbst-
verständlich betrachtet, daß wer eine Schrift
dahier bespricht, dieselbe nicht auch anderwärts,
auch nicht 'in kürzerer Form', anzeigt.
Inhalt : V. F 1 o i g 1 , Die Chronologie der Bibel, des Manetho nod
Beroe. F. Bommel, Abries der Babylon-Asayr. und Israelit. Ge-
schichte in Tabellenform. Ton J. Oppert — A. de Cenleneer,
Essai rar la vie et le regne de Septime Severe. Ton 0. J&rscItfeUL —
P. deLagarde, Ans dem deutschen Gelehrtenleben. Vom Verf.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Die Chronologie der Bibel, des Manetho
und Beros von Dr. Victor Floigl. Leipzig.
W. Friedrich, 1880. X, 286 S. 8°.
Abriß der Babylonisch-Assyrischen und
Israelitischen Geschichte von den ältesten
Zeiten bis zur Zerstörung Babels in Tabellenform. Zu-
sammengestellt von Fritz Hommel. Leipzig.
Hinrichs, 1880. 20 S. 8°.
Die Schwierigkeiten, mit welchen die Er-
grtmdung der altorientalischen Zeitrechnung zu
kämpfen hat, erklären zur Genüge die große
Zahl der Versuche, die zur Lösung dieser Auf-
gabe in jüngster Zeit gemacht worden sind.
Eine räthselhafte Frage zu beantworten, und
den Schleier der ein Geheimnis deckt zu lüften,
ist geeignet Manchen anzuziehen : wie verführe-
96 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
riscb ist nicht der Gedanke, zuerst dort das
Wahre gefunden zu haben, wo alle andern Vor-
gänger in des Irrthnms Fhastenriß umhertapp-
ten? Verzeihlich ist es daher, daß man sich in
seinen schwelgerischen Vorspiegelungen Täu-
schungen bingiebt, und sich ängstlich folgender
doch gewiß naheliegender Fragen entschlägt:
Sind wir weiter gekommen, als hundert andere
vor uns, oder stehn wir nicht vielmehr Printer
vielen zurück ? Ist es wahrscheinlich, daß außer
uns noch Andere unsere Ansicht theilen werden?
Sind wir genugsam durch besondere Studien
vorbereitet, um über gewisse «Tbatsachen zu
entscheiden, und machen wir uns von der wirk-
lichen wissenschaftlichen Sachlage einen Begriff?
Es thut uns leid, es ist uns im zweiten
Falle sogar peinlich, diese Fragen, im Namen
der Autoren, verneinen zu müssen. Wir haben
schon in St. 47 der Gott. gel. Anz. 1880 manche
hier einschlägige Fragen behandelt, und verwei-
sen daher auf diesen Artikel, den wir hier im
Einzelnen noch weiter auszuführen haben. Die
allgemeinen Principien über das Wesen jener
„nachgemachten" Chronologie braucht Ref. hier
nicht zu wiederholen, obgleich gewisse Dinge
nicht zu oft gesagt werden können.
Es ist dasselbe Gaukelspiel mit zurecht ge-
machten und immer stimmenden Additions- und
Subtraktionsexempeln, das den Hrn. Dr. Victor
Floigl zu seiner Arbeit verleitet hat. Der Au-
tor ist ein klassisch gebildeter Mann, der mit
Gelehrsamkeit viele Quellen citiert, auch chro-
nologische Werke benutzt hat. In unendlich
langen Absätzen, von denen einige acht bis zehn
Seiten einnehmen, in athemlosen Phrasen ent-
wickelt der Autor seine historisch-politischen
Ansichten über Juda, Israel, Assyrien, Babylon,
Floigl, Chronologie der Bibel, dee Manetho u. Beros. 99
Medien, Persien und Aegypten. In letzteren ist
manches Wahre, und wir hätten auch bei sol-
chen geschichtlichen Auseinandersetzungen wenig
zu beanstanden, wenn sie nicht alle in Rechen»
exempeln gipfelten. Mit Hülfe derselben enthu-
siastisch vorgetragenen Additionsaufgaben, wo
ganze Seiten hindurch sich viele an den Leser
und an den Autor gerichtete Fragen, Ausrufun-
gen, Unterbrechungen, Parenthesen, Selbstan-
griffe und Selbstverteidigungen finden, aber
wo kein einziger Punkt den abgejagten Leser
erquiekt, entwickelt der Verfasser die genauen
Daten auf Monat und Tag, die Anfänge jedes
Jahres (z. B. 22. Jahr Uzia jul. 20. März 749,
und so fort). Er weiß sehr genau, was für
einen Calender die Assyrer, Juden und Aegyp-
ter benutzt haben, und diese begeistert vor-
getragene Berechnung fußt auf dem materiellen
Irrthum, daß der Anfang der Nabonassariscben
Aera am Mittwoch, dem 26, Februar 747 v. Chr.
(9. 254) mit dem Jsten Nisan, einem Neumonde
zusammengefallen sei*). Mit Hülfe solcher Spie-
gelfechtereien kommt nun schließlich der Autor
zu der Ueberzeugung, daß Adam 3187 geschaf-
fen wurde, der Exodus aber 1137 vor Chr.
stattfand.
So errechnet auch der Autor das Ergebniß,
daß die beiden ersten Bücher des Manetho je
1000 Jahre umfaßten, und daß das erste mit
dem 29. October 3188 v. Chr. begann. Die
Rechnung beruht namentlich darauf, daß Sothis
und Sethos (Seti I) dasselbe sein sollen (p. 234).
Das Stärkste, was der Verfasser leistet, ist
die Berechnung des Alters von Königen, von
denen man nur den Namen und die Länge der
*) Es war Neumond sechs Tage vorher gewesen.
100 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
Regierung in Jahren hat. Von Samas-Ben, den
er Samsi-Ramman nennt, und Ben-nirar (Ramman-
nirar) hat man Texte: Hr. Floigl versichert, sie
seien 45 und 52 Jahr alt geworden. Aber Sal-
manassar III., Assur- edil-il und Assurnirar, von
denen man sonst nichts weiß, haben nur 40, 36
und 22 Jahre gelebt! Die Höhe des Mastes
und die Länge des Steinkohlenschiffes sind ge-
geben : das Alter des Capitäns ist zu berechnen.
Das Buch nennt das mathematisch begrün-
dete löte Capitel des zweiten Königsbuches
„das Capitel der Verwirrung". Könnte man es
dem Capitel 15. verargen, wenn es die Schrift
des Herrn Floigl als „Buch der Verwirrung"
bezeichnete? Und dieser Ausdruck ist noch sehr
milde, wenn man zu Hunderten Sätze wie die-
sen liest:
„Asurnirar tritt an mit (36 — 22) 14 Jahren
„ — eben volljährig geworden! Da ist das ent-
scheidende Zeugniß: Asurnirar, selbstverständ-
lich nicht der Feldherr, der Ptaul von 754,
„vielmehr bis zur Thronbesteigung minorenn —
„oder besser umgekehrt gesagt, — auf den
„Thron gelangt, sobald er das 14. Jahr vollen-
det, mit dem Schwerte umgürtet werden konnte,
„man wartete also auf ihn, sein Vater war todt
„oder regierungsunfähig, eine Regentschaft bis
„zu seiner Volljährigkeit nothwendig geworden
„ — und dieser Regent bis 753 ist eben Phul!
„—es ist nun ebenso selbstverständlich, daß in
„Assur, dem kriegerischesten Staate , den es je
„gegeben, die „ungeschriebene Verfassung14 je-
„den nicht Schwertfäbigen , jeden Minderjähri-
gen vom Throne ausschloß, daß in Assur, wie
„in Israel Sauls dem sterbenden Könige nicht
„ein noch minorenner Sohn, sondern der nächste
„volljährige Agnat folgen sollte (stets auch gefolgt
Floigl, Chronologie der ^Bibel, des Manetho u. Beros. 101
„war, so dem Sohn Tiglath Pilesers I. sein Bra-
ider) : so sprach das Staatsrecht auch bei Assur
„Dan, das natürliche Recht aber, was sicher
„werth war, Recht zu werden, und gleichzeitig
„in allen kulturell ja zusammenhängenden semi-
„tischen Staaten, in Israel wie in Assur, dar-
„nach rang für den Sohn, den Königsknaben
„Assurnirar — dessen Fahne pflanzte nun ein
„Prinz auf, der wie sein Name zeigt, dem Thron
„nicht zunächst geboren war, dem darum Klug-
heit, Ehrgeiz rieth, dem Kinde zu helfen, nicht
„zu schaden — und zu ihm traten des Königs
„treue Diener, von allen Samsiil, dem Tartan
Ja dreier Könige, ja dreimal Eponymus am
„Ehrenplatze nach dem Könige nebst drei Gene-
rationen: Salmanassar III., Asurdän und Asur-
nirar (780, 770, 752), vor wie nach der Regent-
schaft als auch durch sie Tartan — Phuls
„Freund und beste Stütze*); damit u. s. w.
Wir erlassen dem Leser die dreiundzwanzig
letzten Zeilen des Satzes, bitten ihn aber als
Gegenleistung uns die Frage zu beantworten,
ob Ref. so unrecht hatte (Gott. gel. Anz. 1880
S. 1479) vor den Leuten zu warnen, die sich
eine eigene Privatgeschichte zu ihrer Privat-
chronologie fabricieren ? Um durch ein flagrantes
Beispiel zu zeigen, wohin diese rabies chrono-
logica fuhrt, hielt ich es für meine Pflicht, einen
großen Theil dieses phantasiereichen Satzes
dem Autor ohne weitere Kritik zu entlehnen.
Herr Floigl behauptet, Samsiil, von dem wir
wissen, daß er lange Tartan, erster Minister
war, aber dessen Familien- und Personalbeziehun-
*) Das ganze Buch ist in dieser Weise geschrieben.
Bei mußte eine Seite wählen, die von (Jer alles verhee-
renden, ohne Einhalt um sich greifenden Arithmetik ver-
schont geblieben war,
102 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
gen uns leider völlig unbekannt sind, sei
Phuls intimster Freund gewesen, Hiegegen er-
hebt sieb die Privatgeschichte des Hrn. Fritz
Hommel, der dem Hrn. Floigl zuruft : „Pirol hat
nie existiert !u
Freilich sind die Königsbücher, die Chronik,
Josephns und Berosus, in Betreff von Samsiü's
„bestem Freunde", nicht der Ansicht unseres jun-
gen Fachgenossen. Ernster, aber auch strenger,
müssen wir seine Schrift beurtbeilen» Die ge-
mttthliche Heiterkeit, die durch des Grazer Ge-
lehrten Buch entlockt wird, muß der wissen-
schaftlichen Schärfe Platz machen. Hr. Dr. Fritz
Hommel hat die assyrische Geschichte im Abriß
gegeben.. Dieses Compendium, an und für sich,
verdient unsere Anerkennung, sobald wir für
die älteren Epochen seine Zahlen als ungeschrie-
ben betrachten.
Es genügt nicht, wie wir es schon ausge-
sprochen haben, die von Andern entzifferten
Keilschriften zu erklären, um den Beruf zu haben,
in chronologischen Dingen eine so apodiktische
Sprache zu führen, die man als vollständig un-
gerechtfertigt bezeichnen darf. In der Vorrede
sagt Hr. FH (der sich als den Verfasser fh der
Artikel der Allgemeinen Zeitung zu erkennen
giebt, von welchem wir schon gehandelt haben,
s. Gött. gel. Anz. 1880. St. 47), er mache den
„ultraconservativen Kreisen" beiderlei Confessio-
nen (!) keinerlei Zugeständnißa. Dieser etwas
unpassenden Bemerkung wird hiermit entgegnet,
daß die Frage keine rationalistische und keine
ultraconservative, äberhaupt keine religiöse ist,
sondern eine ultramathematische. Und was die-
ses anbelangt, zeigt unser junger Freund leider
nur zu sehr, daß er wohl daran gethan haben
würde, sich bei Joseph Scaligers Buch de emen-
Hommel, Babyl.-assyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 108
datieae tempoium, welches die moderne Chro-
Bologie geschaffen hat, bei Petavius opus de
doetrina temporum, der Art de verifier les dates
und anderen bis Ideler herab, zu erkundigen, wie
man eigentlich Chronologie zu treiben hat.
Außerdem kommt bei dieser Frage das histori-
sche Gewissen zur Sprache, sowie auch die
Ueberzengung not big ist, daß ohne Geschichts-
quellen keinerlei derartige Forschung gemacht
werden kann. Man muß als ein dem Archime-
dischen ähnliches Princip anerkennen, daß wer
diese Grundlagen verachtet, von dem Gewicht
seiner eigenen Autorität gerade so viel ein-
büßt, als er jenen entreißen will.
Es giebt nur zwei Möglichkeiten, biblische
Zeitrechnung zu treiben. Entweder achtet man
die Bücher der Könige, als das was sie in
Wirklichkeit sind, als ein historisches Do-
cument von höchster Bedeutung, die sich nach*
weisen läßt, und würdigt dieselben einer kriti-
schen Benutzung. Oder aber, man erklärt diese
Quellen für unzuverlässig : dann habe man aber
den Muth seiner Unwissenheit, und entschuldige
diese durch den Mangel an Hülfsmitteln. Hier-
gegen läßt sich nichts sagen: ultra posse nemo
obligator.
Ein drittes Verfahren giebt es nicht Hr.
Hommel glaubte aber eine Zwitterstellung an-
nehmen zu können, und hat so einen ungemein
gefahrlichen Weg betreten. In einer willkürli-
ehen Weise, die nur der Darlegung bedarf, um
sich selbst zu vernichten, hat er die Zahlen ver-
ändert, nnd aus diesen Zahlen historische
Fakten erstehen lassen, mit derselben Autorität,
mit der Hr. Floigl den Boman von „dem as-
syrischen Königssohn" geschaffen; grade so wie
Hr. Bosanquet einen zweiten Gyrus nach Kam-
byses und noch andere Gestalten ins Dasein
104 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
rief, um zu zeigen, daß sich Daniel nieht ge-
irrt, als er mit seinem prophetischen Blick die Er-
oberung Babylons durch die Perser siebenzig
Wochen, oder 490 Jahre vor der Geburt Christi
angesetzt hatte. Damit die Sonnenfinsternis der
assyrischen Eponymentafeln die von 763 v. Chr.
sei, mußte die Bibel in einer neuen Weise ver-
renkt werden, von der wir sogleich reden
werden.
Doch ist die Wissenschaft unserm jungen
Freunde zu Dank ' verpflichtet. Das gänzliche
Mißlingen seines Versuches zeigt eben auch die
Unbaltbarkeit der von uns bekämpften Hypo-
thesen. Es wird so wenig wie Hrn. Hommel
auch Tausenden andern verwehrt werden kön-
nen, anderlei Systeme in tausenderlei Nüancie-
rungen, auf ganz andere ebenfalls erfundene un-
historische Fakten zu begründen, und ganz die-
selbe Autorität in Anspruch zu nehmen. Hier,
bei der Fixierung der verschiedenen Königs-
zeiten, erwartete ich meine Fachgenossen : durch
diese hoble Gasse mußten sie kommen. Hier
hinein hat sich Hr. Fritz Hommel gewagt, „von
hier herab kann ihn mein Pfeil ereilen".
Das Problem, das sich der gelehrte Verfas-
ser stellte, war: „Wie kann man 166 Jahre
zwischen Jehu-Athalia bis zum Falle Samaria's
auf 120 Jahre reducieren?" Von letzterem Fak-
tum abwärts stimmen ja Alle zusammen, möge
man es 722 oder 721 v. Chr. setzen. Vor der
Entdeckung der Sargoninschriften und ihrer Er-
klärung durch Hincks, Rawlinson und den Ref.
konnten noch Movers und andere durch absolut
unwissenschaftliche Ankntlfung an die
Gründung Karthago's*) den Tempelbau auf
*) Man kennt dieses Datum eben nicht: es ist ein
Hommel, Babyl.-aseyr. a. israel. Geschichte in Tabell. 106
969 v. Chr. ansetzen. Damals aber schnitt
man auch willkürlich ans den 55 Jahren Ma-
nasses, 10, 20 oder 30 Jahre heraus, je nach
Bestellung und Bedarf. Hente hat man wenig-
stens eingesehen, daß man diese biblischen An-
gaben in Rahe lassen maß: die Keilschriften
haben gezeigt, daß an dem ganzen Zwischen-
raum zwischen dem Falle Samarias nnd dem
Antritt Evilmerodach's nicht gerüttelt werden
darf. Diese hundert und sechzig Jahre
(von 721 bis 561) stehen unantastbar da;
ftir diese Periode haben wir nicht die Gontrole
der judäiscb-israelitischen Synchronismen, die
gerade für den streitigen Zeitraum doch eine
Gewißheit geben, die eben auch durch das ri ch-
tige Verständniß der assyrischen Texte befe-
stigt wird.
Die Bibel wird, wie bekannt, glänzend be-
stätigt durch die Angabe der Keilschriften, daß
in einem Jahre, das 78 Jahre nach Jehu's Er-
hebung fiel, im Sivan, d. i. Ende Sivan's, eine
Sonnenfinsterniß stattfand. Nun sind im Laufe
von 400 Jahren, von 1000 bis 600 nur zwei
passende Phänomene aufzuweisen: diejenigen
vom 15. Juni 763 und vom 13. Juni 809. Nach
den berühmten Chronologen des 16ten und 17ten
Jahrhunderts, die auf andern astronomischen That-
sachen beruhen, fiel die Thronbesteigung Jehu's in
die Jahre um 888 v. Chr. Unsere Entdeckung
beschränkt sich also lediglich auf eine Präci-
8ierung der von unseren großen Altvordern fast
genau bestimmten Zeitrechnung.
x, das erst bestimmt werden muß. Verfahre man doch
correct ! Es liegen bekanntlich zwanzig verschiedene An-
gaben über die Gründung Karthago's vor. Welche soll
man annehmen? Man kann mittels der tyrischen Annalen
wohl diesen Zeitpunkt aus dem Datum des Tempclbaues,
aber nicht umgekehrt dieses aus jenem feststellen.
106 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
Das bedeutsame Faktum, daß sieh ge-
rade nur eine Finsterniß findet, und daß diese
eine die Bibel ebenso glänzend bestätigt, wie sie
durch die späteren Keilschriften für die 160
Jabre von Hoseas bis Nebuchadnezars Ende
bekräftigt wird, muß einen sonderlichen Ein-
druck auf diejenigen gemacht haben, die ihrem
eigensinnigen Festhalten an der keineswegs ge-
botenen, aber nach ihnen unbestreitbaren Nicht-
unterbrechung der Eponymenlisten gemäß, die
biblische Zeitrechnung mißhandeln. Hr. Dr.
Hommel wundert sich, daß ich an eine Sonnen-
finsternis anknüpfe, und zeigt hiermit seine gänz-
liche Unerfahrenheit in chronologischen Dingen.
Hr. H. nennt die Sonnenfinsternisse von 809
und 930 „vermeintliche". Ich muß vielmals um
Entschuldigung bitten. Diese Sonnenfinsternisse
haben wirklich stattgefunden, und sind
für Ninive sichtbar*) gewesen: die letz-
*) Siehe meine Chronologie biblique p. 9. Die
Stelle, welche von der Finsterniß zur Zeit der Thronbe-
steigung Assurnasirhabals handelt, ist sehr klar. Kein
Mensch würde die Stelle anders übersetzen, wenn sie
nicht sehr unbequem für die „Nichtunterbrecher" wäre.
Die Worte sind: ina surr at sarrutiya ina mahre paliya
sa Somas day an kibraü salulsu tabu eliya ishun. „Im
Anfang meines Königthumes, in der Archontie meiner
Thronbesteigung war es, daß die Sonne, der Richter der
Weltgegenden, eine für mich günstige Finsterniß machte".
So ist zu übersetzen: tabu eliya ist ein Begriff, nach der
Formel: sa eliva tabu, q. b. f. f. q. s. Ueber derartige
portenta, in glücklichem oder unglücklichem Sinne, haben
wir viel zu viel Texte: ein paar gute astronomische An-
gaben gäben uns mehr Aufschluß. Das Zeichen, welches
salul gelesen wird, ist das specifisch für Finsterniß ge-
brauchte. Es wird durch anah erklärt und auch dieses
Verbum, ixkeinny, ist für diese Phänomene angewandt.
(W. A. I. III, 32). Vergleiche noch ib. 49, 42, wo das
Zeichen äquivalent von mi saline schwarz 48, 5.) Hr.
E. Schrader hat noch vor wenigen Jahren keinen An-
Hommel, Babyl.-assyr. u. israeL Geschichte in Tabell. 107
tere von geringerer Ausdehnung als die entere,
auf die es namentlich ankommt Aber eine
„vermeintliche" Sonnenfinsternis findet sieh in
dem Schriftchen Hrn. Hommels: es ist die, die
er in den Propheten Arnos (8, 9) hineincorri-
giert Was er für die Chronologie damit ge-
winnen will, weiß ich nicht, denn zu Arnos, wie
zu unser aller Lebzeiten, haben ja doch derartige
Erscheinungen , stattgefunden. Triumphirend
schreibt er zum Datum 763, „Arnos, 8, 9!tf, mit
einem Ausrufungszeichen. Und was sagt der
Prophet in jener Stelle, die Trauer, Hunger,
Ueberschwemmung und gänzliche Vernichtung
voraussagt?
„Und es wird geschehen an diesem Tage,
„spricht Gott der Ewige, daß ich untergehn
„lasse die Sonne am Mittag, und Finsterniß
„verbreite über die Erde am lichten Tageu.
Eine Sonneniinsterniß ist kein Unglück, höch-
stens ist sie als ein Wahrzeichen betrachtet
worden: außerdem geht bei einer solchen die
Sonne nicht unter, sondern nach einigen Minu-
ten leuchtet sie wieder in früherem Glänze.
Das wußte Arnos von Thekoah auch, als er
„zwei Jahre vor dem Erdbeben" prophezeite. Hier
Btoften wir also auf eine „vermeintliche" Sonnen-
finsternis".
Was nun den Vorwurf anbelangt , ich habe
meine Rechnung nach einer Sonneniinsterniß
stand genommen, diese Interpretation anzunehmen (Z. M.
G. t XXVill p. 138). Wenn irgend eine Auslegung
eines Passus sicher ist, so ist es diese , und es gehört
schon ein der mala fides sehr nahekommender Grad von
Unglauben dazu, dieses zu leugnen. (Vergleiche auch
meine Uebersetzung der Sargonstelle Dour-Sarkayan p. 96.)
Ist es vielleicht auch ein Zufall, daß nach meiner Rech-
nung sich hier gerade eine totale Sonnenfinsternis findet?
106 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
bestimmt, und so auf 900, anstatt auf 902, den
Tod Ahabs angesetzt, so ist derselbe mindestens
gesagt, naiv. Hr. Hommel vergißt zu sagen,
von welcher Basis aus er zu 902 kommt. Er
scheint nicht zu wissen, daß die Zahlen, die er
für die griechische Geschichte gelernt hat, von
Scaliger und namentlich von Petavius herrühren,
und ausschließlich auf der Berechnung von
Finsternissen beruhen. Die Perserkriege sind
durch die Sonnenfinsterniß des Xerxes (Herodot
IX, 2), der peloponnesische Krieg ist durch die
von Thucydides und Aristophanes erwähnten,
die Geschichte Alexanders durch die Mondfin-
stemiß vor der Schlacht Gaugamela zeitlich fest-
gestellt. Müssen wir bei der römischen Ge-
schichte an die durch die Entdeckung der Re-
publik des Cicero bekannt gewordene, an die
des Agathokles, an die von Pydna und alle die
spätem erinnern ? Der ptolemäische Canon, den
Hr. Hommel citiert, schwebt auch nicht in der
Luft, alle seine Zahlen beruhen auf den Mond-
finsternissen des Almagest; die Reductionen
auf die vorchristliche Zeit sind daher nicht vom
Himmel gefallen. In dieser kleinen Bemerkung
blickt also, wie in seinem Artikel der Allgemei-
nen Zeitung, die vollständigste Sachunkenntniß
durch.
Noch klarer erscheint diese Unbeholfenheit
in folgendem Satze (p. 28):
„Die Zahlen von Behabeam bis Jotbam wie
„von Jerobeam L bis Pekah wären nach meiner
„genauen Berechnung (sie!)*) der bibl. Syn-
chronismen, (wobei ich mir für jedes einzelne
*) Wer eine genaue Berechnung macht, der theilt
sie auch seinem Leser mit. Letzterer weiß, daß es
auch genaue Berechnungen giebt, die sehr ungenau sind.
Diese Präsumption liegt gegen den Hrn. Verf. vor.
Hommel, Babyl.-assyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 109
„Jahr von Salomos Tode an eine besondere Li-
„nie zog (eine große Garantie!) and dann in
„die bo entstandenen Jahresrollen eintrug)
„sämmtlich um 2 Jahre zu erhöhen" u. s. w.
0 si tacuisses!
Es ist Schade, daß Hr. Hommel seine „ge-
naue Berechnung" nicht mitzutheilen für werth er-
achtet hat, aber dieses hat seinen sehr triftigen
Grund: es läßt sich eben mit diesem ganz fal-
schen Princip zu keinem gesunden Resultate
kommen. Mit dem „Ziehen von Linien" und
dem „Eintragen in Jahresrollen" ist es nicht ge-
schehen. Hr. Hommel urtheilt über meine Fest-
stellung, hat aber meinen „Salomon" „nicht ein-
ßehn können" *). Wir bedauern dieses im Inter-
esse seines Schriftchens, denn er hätte doch
Manches daraus lernen können.
Erstens hat Hr. H. keine Basis. Zweitens
geht aus den Ausdrücken der Bibel, wie sie in
150 Stellen uns vorliegen, mit mathematischer
Sicherheit hervor, daß die Jahre der Könige,
wie überall, vom Tage des Antrittes zu
zählen sind**). Wenn Asa in seinem 41sten
Jahre stirbt, so heißt dies, daß von seiner Thron-
besteigung bis zu seinem Tode mehr als 40,
und weniger als 41 Jahre verstrichen sind. Er
regierte 41 Jahre, in seinem 38ten Jahre kam
Ahab auf den Thron, in dessen 4ten Jahre
Asa starb. Und er regierte wirklich nicht ganz
41 Jahre, denn:
*) Ziemlich unverantwortlich ist denn doch das Ge-
standniß oh des Nichteinsehens, wobei er von einem be-
richtigten Druckfehler der Gott. gel. Anz. spricht. Han-
delte Hr. H. so gewissenhaft, wie er vorgiebt, so würde
fcr mein Buch „eingesehn" haben, und dort für die Re-
gierung Uzias die Zeit 811—758 gefunden haben.
**) Gott. gel. Anz. 1880, S. H97.
110 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
Asa regierte vor Ahab 37 -f" £
Asa regierte mit Ahab 3 + Ö
Asa regierte 40 + (f + 0),
wo £ + 6 beinahe eins sind.
Der Bruchtheil t muß nämlich groß sein,
denn dieser Werth muß größer sein, als die an-
dern Bruchtheile, die in den Angaben über Je-
robeam, Nadab, Baesa, Ela und Omri vor-
kommen*).
König Wilhelm I. ist den 2. Januar 1861
auf den preußischen Thron gekommen: er ist
also am 31. December 1880 in seinem 20ten
Jahre. Nach gewissen Chronologen wäre er
zwei Tage vor seinem 21sten erst im 19ten,
weil das erste Jahr 729 Tage gedauert hätte!
In der ganzen Welt hat man nie anders ge-
rechnet, als von Ereignißtagen an. Sogar die
Assyrischen Könige, die doch Eponymen hatten,
zählten dennoch nach ihren eigenen Jahren, und
unterschieden sie durch einen ganz andern Aus-
druck palu von der Zahl der Jahre, während
welcher sie das Recht gehabt hatten, Archonten
zu ernennen. Die Päpste, die auch nach ihren
Jahren rechnen, beginnen ihr Jahr von der Krö-
nung) und gleich dem assyrischen Gebrauch,
wird eine Verordnung vom December 1880 in
Leos XIII. drittes Jahr fallen, und nicht in sein
zweites.
Künstliche oder astronomische Aeren da-
gegen, wie der Ptolemäische Kanon, zählen na-
türlich vom Neujahrstag an, da sie ja die Zahl
des einzigen Zeitmessers, die Zahl der Tage,
zu berechnen haben. Solche Aeren hat es im-
mer gegeben, selbst lange bevor sie in den
Volksgebrauch eingedrungen waren: wir haben
*) Siehe Salomon p. 20 iL
Hommel, Babyl.-assyr. u. Israel. Geschichte in Tabell. Ill
in grauer Vorzeit das ägyptische Jahr 400, trad
das Jahr 480 (nach der Septuaginta 440) des
Tempel banes. Ohne eine solche Aera war jeg-
liche Rechnung unmöglich; ohne sie hätte man
nicht die keilschriftlichen Daten von Begeben-
heiten, die 1635, 641 und 418 Jahre vor be-
stimmten Facten stattgefunden, zu fixieren ver-
mocht. Der Volksgeist bequemt sich sehr schwer
zu großen abstracten Zahlen : erst seit dem vier-
ten Jahrhundert vor Christo finden wir die von
Timäos eingeführten Olympiaden, die Seleu-
cidenära und später die römische Stadtrechnung.
Zählten die Orientalen doch wenigstens ihre
Monatstage von 1 bis 30, so schienen den
Griechen diese Zahlen schon zu groß, die sie
in drei Theile, von denen der letzte in abstei-
gender Zahl rechnete, zerbrechen. Die Römer
zerstückelten ihre 30 oder 31 Monatstage in höchst
unpraktischer Weise. Die christliche Rechnung
fand erst sehr spät ihre Anwendung, und man
begann früher das Jahr am 25. März. Erst
die Reformation setzte an die Stelle der Heili-
gentage die heutige Bezeichnung nach Tagen
des Monats, wenigstens im Volksgebrauch: auch
dieses war ein alljährlich wiederkehrender Epo-
nymenkanon, zu dessen Erläuterung man einer
besonderen Unterweisung bedurfte.
Wir wollen hier nicht wiederholen, daß die
Rechnung von Antrittsjahren an sich mit mathe-
matischer Strenge erweisen läßt, wir haben ge-
zeigt, wie die Verfasser der Königsbücher und
der andern Schriften dieselben herstellten*).
Wir bemerken noch, daß auch alle griechischen
Klassiker dieselbe Zählungsweise, die die ein-
zige rationelle, und die einzig mögliche ist, be-
obachtet haben.
*) Gott. gel. Anz. 1880, p. 1498.
112 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 4.
Wir gehen nun zum Einzelnen über, von
Saloino an. Bis Ahab gebt die Sache ziemlich
gut ; man sieht aber gar nicht ein, warum denn
Hr. Hommel hier der Bibel folgt. Denn warum
ist sie hier ohne Gontrole glaubwürdig, warum
fehlt ihr für die nächsten Epochen jegliche Auto-
rität, und warum wird ihr dann ganz zuletzt
ihre Zuverlässigkeit in integrum restituiert?
Nun meint Hr. H., Salomo habe nur 30 Jahre
regiert, anstatt der traditionellen vierzig. Ich
kann hier dem bedeutenden Kritiker, Hrn. Well-
hausen, keineswegs folgen; die Annahme eines
Datums der Gründung Karthagos ist willkür-
lich, weil unbestimmt: dasselbe kann nur durch
den Tempelbau festgestellt werden, sobald wir
diesen einmal haben: Nicht umgekehrt*).
Nach den tyrischen Annalen kann Salomon höch-
stens 44, und muß mindestens 12 Jahre ge-
herrscht haben. Das ist alles» was eine wissen-
schaftliche Kritik zugeben kann. Es zwingt
absolut nichts, Salomon 30 Jahre zu geben.
Die Annahme ist also rein willkürlich und die
Wiederholung derselben nicht zu empfehlen.
Darf man denn nicht 40 Jahr regieren? Muß
man immer 39 oder 41 Jahr leben, weil 40 vier
mal zehn ist ? Ftolemäos Soter, Amadeus II. von
Savoyen (1108—1148), Amadeus VI. (1343—
1383), Ludwig von Ungarn (1342—1382), Karl V.
haben 40 Jahre regiert: dem dritten Nachfolger
Salomos, Asa, giebt Hr. H. selbst 40 Jahr, an-
statt der 41, die er doch haben sollte. Was
dem Einen recht ist, ist dem Andern billig.
Aber Josaphat hat nur 22 Jahre geherrscht,
denn das traditionelle 25 ist eine runde Zahl!
Fünf und zwanzig ist niemals eine solche ge-
*) Salomon p. 91.
Hommel, Babyl.-aseyr. u. isnael. Gescbichfce in Tabell. 113
wesen. Die 22 Jahre stammen wohl aus
Kto. II, 3, 1 ; es herrschte Joram von Israel im
18 ten Jahre Josaphats, und nach Kön. ib. 8, 16
im 5ten Jahre des israelitischen Königs regierte
Joram, Josaphats Sohn. Also hätten wir*)
Josaphat vor Joram 17 + *
„ bis Jorams Thronbesteigung 4 -f- f
Total bis Jorams Antritt **) 21 + (•+£).
Aber Josaphats .Regierung, die das schwie-
rigste Problem der ganzen Königs*
geschieht^ bildet, bietet uns auch das ein-
zige Beispiel einer Mitregierung dar, wie die
Stelle in den Königen II, 8, 16 ausdrücklich
bezeugt. Ferner wird dasselbe Faktum, die
Thronbesteigung Jorams in .einer dritten Stelle
Köd. II, l 17, nicht in das 18te Jahr Josaphats,
sondern in das 2te Jahr seines Sohns Jorams
gesetzt. Wir haben in unserm „Salomon" alle
diese Stellen genau besprochen, auch auf die in
dem Codex Vatkanus der LXX befindliche Va-
riante Bezug genommen, und sind zum Schlüsse
gekommen, daß Josaphat allerdings 25 Jahre,
das heißt 23 Jahre allein und 2 Jahre mit sei-
nen Sohn Joram zusammen regiert hat.
Das einzige Mal, wo eine Mitregierung statt-
gefunden haben kann, wird dies auch von der
Bibel bezeugt
Glücklicherweise ist nun hier ein Anhalts-
punkt durch die Keilschriften selbst gegeben;
denn vom Tode Ahabs bis zur Erhebung Jehus
müssen 121/s Jahre höchstens verflossen sein:
*) Salomon p. 40.
**) „Und im fünften Jahre Jorams, des Sohns Ahabs,
Königs von Israel, als Josaphat König von Juda war,
herrschte Joram, Sohn Josaphats, Königs von Juda".
8
114 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
jener fällt in die sechste, dieser in die 18te
Eponymie*) nach dem Antritt Salmanassars III.
Also hier haben wir ein Beispiel, wo die
biblischen Angaben sich unter einander zu wi-
dersprechen scheinen, wo sie aber selbst eine
Mitregierung constat] er en und wo ihrerseits die
Keilschriften die 14 Jahre der Könige auf 1272
reducieren.
Nun aber kommen wir zu dem Problem:
Wie bringt man 166 Jahre, die ja durch die
Königsbttcber und durch die Keilschrif-
ten gegeben sind, auf 120 herunter?
Um unsern Verfasser auf diesem schwierigen
Wege zu begleiten, betrachten wir erst seine
Könige von Juda.
An den sechs Jahren Athalias ist nichts zu
ändern. Die 40 Jahre des Joas von Juda wer-
den auf 38 reduciert, denn 40 ist eine runde
Zahl! Allerdings steht (Kön. II, 13, 11), daß
Joas von Israel, im 37ten Jahre seines judäi-
schen Namensvetters, seinem Vater Joahaz ge-
folgt sei. Aber letzterer hatte 17 Jahre regiert,
nachdem er im 23ten Jahre des Joas von Juda
auf den Thron gekommen war. Also um diese
Zahl 37 zu erhalten, müßte man 40 in 38, und
17 in 15 ändern. Alle unsere Vorgänger haben
daher in 37 einen „Schreibfehler a für 39 erkannt,
wie sie sich denn auch in den Keilschriften fin-
den : es ist einer der acht Fehler, die Ref.
(Salomon" p. 95) unter den 171 verzeichneten
Angaben hat auffinden können.
Nun aber geht es über die Arithmetik her!
Nach Hrn. Hommels „genauer Berechnung" re-
giert Joas von 836—797. Daher ist schon 799
das 38te Jahr des Joas. Gut, aber wie kann
*) Siehe meine Chronologie biblique p. 30. ZDMG.
Bd. XXTIT, p. 145. Salomon p. 40.
Hommel, Babyl.-aesyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 115
es zugleich das lte Jahr des Amazia sein (S. 6),
da doch Joas bis 797 regiert hat? Aach wäre
die Gleichstellung unmöglich : Das 38te Jahr des
Joas finge an mit Anfang 799, nach dem be-
kannten falschen Princip vor den Jahresanfän-
gen: dann mußte aber 796 schon das dritte
Jahr des Amazia sein t Nach der „ strengen Be-
rechnung11 mußte aber Joas am Ende des 38ten
Jahres gestorben sein: und der Anfang 796, von
dem ab (immer nach der unrichtigen Rechnung)
das erste Jahr des Amazia zählt, (denn 797
ist ja das „Antrittsjahr"!) wäre das dritte!!
Nachdem nun Joas von 836 bis 797*) re-
giert hat, folgt ihm 799 (!) sein Sohn Amazia
und regiert bis 787 allein (!?) Also 12 Jahr;
mit Azaria, seinem Sohn, noch bis 773: im
ganzen 23 Jahre. Warum aber 23, und
nicht 79 oder 16? An zwei Stellen (Kön. II,
14, 2. Chr. II, 25, 1) werden dem Amazia 29
Jahre zugesprochen: er herrschte im zweiten
Jahre des Joas von Israel, der in seinem löten
nach 16jähriger Regierung starb (Kön. II, 13, 10.
14, 28): 15 Jahre überlebte Amazia seinen Feind
(ib. 14, 17. Chron. II, 25, 25). Hier haben wir
sieben Stellen, die mit der Zahl 29 überein-
stimmen. Amazia, glücklich im Kampfe gegen
andere Stämme, wurde bei Bet-Schemes von
Joas geschlagen, der Jerusalem nahm; später
erlag er, 54 Jahr alt, Verschwörern, die seinen
Sohn Azaria oder Uzia zum König nahmen.
Die Mitherrschaft des unmündigen Sohns ist
eine Erfindung: niemals haben Amazia
und Uzia zusammen regiert!
Diese Unwahrheit hat aber den Vortheil, aus
*) Also doch 40 Jahre 1 Hindert das „Lineal" Hrn.
H. am Rechnen? für ihn zählen ja alle Jahre ganz mit.
3*
116 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 4.
der Zahl 76 (Athalia 6, Joas 40, Amaraa 29) 57
zu machen: so sind schon 19 Jahre erspart.
Amazia hatte bis 787 a 1 Lei n (! !) regiert, 786
(warum denn nicht 787?) folgt ihm sein Sohn
Üzia und regiert 52 Jahr, d. i. nach Hrn. H.
bis 735. Nach den biblischen Angaben muß
Azaria nicht 51 , sondern länger als 52 Jahne
regiert haben (s. Gott. gel. Anz. 1880, p. 1497):
doch ist dieses eine Kleinigkeit Die 90 Jahre,
welche von Uzias Antritt bis zu »Samarias Fall
verflossen sind, werden zu 66 rednciert, indem
der Verf. in die Regierung Uzia'a, wie in einen
verschiebbaren Operngucker, die Regierungen
von Jotham (nicht ganz 16 Jahre) und von
Ahae (16 Jahre) hineindrttckt. A za r ia = U zia ,
Jotham und Ahaz, Vater, Sohn und
Enkel sollen alle drei zu gleicher Zei t
regiert, der Vater soll den Sohn tiberlebt,
und Ahae einige Zeit noch allein geherrscht
haben : so öconomtsiert man noch 27 Jahre, .und
diese zu den erwähnten 19 Jahnen geben 46!
Quod erat demonstrandum.
Denkt denn Hr. Hommel seiner Leser zu spot-
tten? Wir haben schon darauf hingewiesen*),
daß achtzehn unter sich consistente Angaben
die Zeit der drei Könige vollständig auseinander
halten. Es wird dazu noch ausdrücklich er-
zählt, daß Jothan während seines Vaters Krank-
heit „das Volk richtete" und nach dessen
Tode und Begräbnisse in der Stadt Davids an
seiner Statt den Thron bestieg. Uzia starb, nach-
dem er etwas über 52 Jahre geherrscht, in Pe-
kahs 2tem Jahre: von diesem 2ten bis zum 17ten
regierte Jotham. Pekah war in Uzias 52sten
Jahre König geworden. Wie wir schon gesagt
*) Gott. gel. Anz. 1879, p. 790.
Hommel, Babji-auyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 117
(Gott. gel. Am. 1880, p. 1497. Salomon p. 17)
herrschte Uzia:
51 + * + 1 + f = 52 + (* + *)
Jotham aber:
(16+*)— (1 + *), d. i. 15 + (v — t).
Der Bruchtheit % muß klein sein, da überein-
stimmend er mit a zusammen weniger als die
Hfttfte ist, und von v abgezogen, eine Differenz
giebt, die größer ist als ein Halb. Also hat
Jotbam nach seines Vaters Tode nicht ganz 16
Jahre allein geherrscht. (Eon. 15, 31. 16, 1).
Ahaz hat 16 Jahre über Juda regiert: in
seinem 12 ten Jahre kommt Hosea auf Israels
Thron, und er lebt bis zum 6ten Jahre des
Letzteren. Er bat also länger als 16 Jahre, und
zwar auch allein geherrscht. Nirgends ist
von Mitregentschaft die Rede: durch
niehts eine solche zu vertheidigen. Die Zeit der
Verwaltung Jothams bei Lebzeiten seines Vaters ist
ausdrücklich von den 16 Jahre ausgeschlos-
sen: die des Ahaz ist rein erfundenl Was
bleibt nun ron Hrn. Hommels angeblicher Chro-
nologie von Juda? Gar nichts.
Nun gen Israeli Wie bekannt, bietet die
biblisehe Aufzählung der israelitischen Könige
scheinbar nur 143 Jahre 7 Monate für den Zeit-
raum, für den die judäische Zeitrechnung 166
zählt. t)ie Bibel und die Keilschriften zeigen
uns aber, daß Jerobeam und Pekah mit einer
Unterbrechung zweimal geherrscht haben, und
daß eben nur die Zeit der effektiven Herrschaft,
in den bezüglichen Fällen 41 und 20 Jahre, be-
rechnet worden ist*). Aber 221/* (166-1431/*)
*) Und dieses mit Recht. Demetrius Nikator herrschte
nur 11 Jahre, und zwar dreimal, nicht 24 Jahre, 149—
125, sondern 149—143, 140—139, 180—125.
116 Gott. gel. Ann. 1881. Stück 4.
ist noch lange nicht 46; also mußte man noch
23 V« Jahre hinauswerfen.
Hr. Hommel bewerkstelligt dieses, indem
Jehu 28 Jahre allein regiert (842—815), dann
Joahaz 15 (814—800), anstatt 17 (!), Joas 16
800-785), wo 800 zweimal zur Verwendung
kommt ; 27 Jahre kommen nun auf Jerobeam
(785—759, dann 9 Jahre Interregnum. Woher
dieses? Dann folgen Pekahs 19 Jahre (warum
19?), der 731 stirbt, aber erst 730 ermordet
wird ; dann folgen 9 Jahre Hoseas bis zum Ende
Israels. So bekommt man die 120 Jahre heraus,
die man brauchte.
Pekah regiert — gleichzeitig mit vier an-
dern Leuten, Zacharia, Sallum, Menahem und
Pekahia, und er ist gutartig genug, nur den vierten
zu morden. Er läßt es geschehen, daß neben
ihm No. 2 den No. 1, No. 3 den No. 2 todt-
schlägt: über No. 3 Tode schweigt die Ge-
schichte. Endlich reißt ihm die Geduld, und er
beseitigt den vierten.
Difficile est satiram non scribere. Neben
dieser ganz überraschenden Historie besteht
denn doch immer noch die überlieferte Ge-
schichte, deren Autor nachgerade ebensoviel
Quellen zur Verfügung hatte als der Verfasser
der „Tabelle". Nach biblischen Angaben regierte
Jehu 28, Joahaz 17, Jerobeam II. 41 Jahre.
Da letzterer aber noch 15 Jahre mit Amazia,
herrschte, und erst in Uzias 38ten Jahre starb,
so haben wir:
Jerobeam vor Uzia 15 + J
Jerobeam mit Uzia 37 + if
Total 52 + (9 + J), wo J von
0 bis + V» sein kann. Da 38 durch 11 andere
Angaben, und 15 durch 5 andere bekräftigt
Hommel, Babyl.-assyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 119
wird, ist an dieser Zahl 52 bis 53 gar nicht zu
rütteln: und da y, der Brnchtheil, wie wir sehn
werden, der Einheit sehr nahe kommen muß,
würden die Herrscherjahre Jerobeams IL nur
zwischen 52 V* and 53 V* schwanken. Darf man
nun dieser Zahl die in der hebräischen Urschrift
und in allen Uebersetznngen erhaltene Angabe
41 opfern? Keineswegs! Zwischen Jerobeams IL
Thronbesteigung and Tod liegen 53 Jahre: nur
41 Jahre bat er geherrscht. Wir haben die
erste Regierang auf 27 Jahre bestimmt, der ein
Interregnum von 12 Jahren folgte, endlich nach-
dem er die Herrschaft wieder erlangt, herrscht
er noch 14 Jahre. Alles nach bestimm-
ten Textanssagen*).
Vom Tode Jerobeams IL ab sind die bibli-
schen Angaben derart präcis, daß sie die glän-
zendste Bestätigung in sich selbst finden. Schon
nach 6 Monaten wird Zachariae, in Uzias 39ten
Jahre, von Sallnm beseitigt, der nach einem
Monat von Menahem 1. ermordet wird, ebenfalls
in Uzias 39ten Jahre. Nach lOjähriger Re-
gierung stirbt Menahem, in Uzias öOsten Jahre ;
ihm folgt sein Sohn Pekahia, der nach 2 Jah-
ren, in Uzias 52sten Jahre von Pekah ermordet
wird, während Uzia nach 52jähriger Herr-
schaft, in Pekahs 2tem Jahre stirbt.
Diese e i 1 f Zahlen nun geben uns alle nötbi-
gen Elemente der Frage. Menahem herrscht
nach Uzias Antritt:
*) Siehe die Discussion hierüber Salomon p. 32 83.
Zahlen ohne Basen kennen wir nicht: wollten wir sie
erfinden, so könnten wir dieses so gut, und vielleicht
noch besser als Andere. Dort findet man auch die Be-
leuchtung des 27ten Jahres Jerobeams II. für Uzias Re-
gierungsanfang, wofür Josephus (J. A. IX, 10, 3) das
14te giebt, so wie die Besprechung von Jes. 7, 8, wo
sich die Zahl 65 findet.
120 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 4.
von 37 7/i» + <p bis 49 + x, «1*6:
n5/i»-(y-z).
Da aber dem Menahem nftr 10 Jahre gegeben
werden, und die Differenz q> — % doch immer
kleiner sein muß als die Einheit, so muß der
Gegner Phuls nahe an 101/» Jahre regiert ha-
ben, tf der Einheit und % der Null nahe kom-
men. Das ist aber im Einklang mit der Ab-
gabe, daß Zacharia im 38ten Jahre Uzias dei-
nem Vater folgte, and daß man nach seehö Mo-
naten schon das 39te zählte. Daß % aber klein
sein muß, geht aus der Angabe hervor, daß
Pekahia von Uzias 49 + X bis 51 + a regierte,
also 2 + (<r — x)' Das heißt also, Pekahia hat
ungefähr volle zwei Jahre regiert. Ob etwas
mehr, ob etwas weniger, wissen wir nicht: da
wir nicht mit Gewißheit sagen dürfen, daßff — %
positiv ist ; auf jeden Fall ist a sehr klein : denn
die Zahl Uzias ist (51 + a) + (1 + t) = 52 +
0 + r, und a -f- % ist auch kleiner als ein halb.
Eine solche Uebereinstimmung erfindet
kein Fälscher *), der daran auch gar kein Inter-
esse hat: im Gegen theil, wir stehn hier vor eilf
Angaben, die nothwendig aus direkter Quelle
fließen. Unter Menahem I. erscheint Phol; un-
ter Pekah, und zwar erst nach Jothams Tode,
das ist unter dessen Sohn Ahaz, nach dem 17ten
Jahre Pekabs, kommen wir miiTeglatbphalasar,
seinem Menahem und seinem Asria zusammen.
Also mindestens #0 Jahre nach Pbul's Einfall
in Palästina sprechen die Keilschriften von
einem Menahem, einem Ioahaz (Jauhaz) und
einem Asria: dieses ist also ein anderer Mena-
hem, und ein anderer Asria. Den Menahem
*) In einer anmuthigen Frohsinn erregenden Seite
vcrmuthet Hr. Floigl Fälschung. Dolus non praesumitar.
Hommel, Babyl.-ftstyr. u. iarael. Geschichte in Tabell. 121
habe ich nicht „fingiert"*) denn er steht in
den Keilinschriften, die noch dreißig Jahre
später von einem drittem Menahem reden. Von
diesem Menahem sagen die Königsbttcber nichts,
aber sie schweigen auch über den mächtigen
Prätendenten, den gegen Ahaz aufgestellten
Usurpator, der den Lesern des Jesaias (7, 6) so
bekannt war, daß der Prophet ihn nur als
„Sohn Tabeelstf bezeichnen, wie er auch Pekah
einfach „Remalia's Sohn" nennen durfte. Tabeels
Sobn ist Asria oder Azaria.
Wir haben in den Keilinschriften also die-
selben Personen, denselben Ahaz und denselben
Rezin von Damaskus, den der biblische Tiglat»
pileser tödtet, und der auch dem keilschriftlicben
erliegt, denselben Hader, und denselben Pekah,
denselben Hosea. Nur der NichtUnterbrechung
der Eponymenliste willen, muß man sich, im
Widerspruch mit allen historischen Texten, zur
ungeheuerlichen Hypothese bequemen, die Phul
und Teglathphalasar zusammen knetet, und aus
zweien eine Person macht, die zuerst Phul gehei-
ßen haben soll, dann Teglathphalasar, und dann
wiederum Phul. Ueber Porus des Kanons ha-
ben wir uns schon ausgesprochen. Sollten wir
dieses, wie im apagogischen Beweise, einmal
annehmen wollen, so änderte es doch gar nichts
weiter, als daß dieselbe Persönlichkeit als Phul
gegen 770 Menahem I. bekriegt, später als
Teglathphalasar 738 den Menahem II. zum Va-
sallen hat, 732 Ahaz gegen Pekah und Rezin
hilft, 728 als Porus Babylon beherrscht, und
726 als Teglathphalasar das Zeitliche segnet.
An* der biblischen Geschichte würde dieses Nichts
modificieren.
*) s. b. 201
122 Gott. gel. Aoz. 1861. Stück 4.
Pekab hat nun allerdings zwanzig Jahre re-
giert, obgleich zwischen seinem Antritt und sei-
nem Ende 29 Jahre verflossen sind. Denn in
Pekahs 17 ten Jahre herrscht Ahaz, in dessen
12tem Jahre (so sagt der Text Kön. II, 16, 1 *)
Pekah ermordet wird. Ahaz regiert 16 Jahre,
Hosea, Pekahs Nachfolger 9, in Hoseas 6ten
stirbt Ahaz. So sind die Zahlen**). Alle stim-
men aber für eine längere Herrschaft als 20
Jahre : und doch dürfen wir letztere Zahl nicht
ändern, denn es verwehrt dies die Erwähnung
des inschriftlichen Menahem, der eben während 9
Jahre das Königthum Pekahs unterbrach. Die-
ser Menahem war, wie Ahaz, ein Freund des
Assyrers, und von diesem gegen den Feind
Pekah aufgestellt. Letzterer herrschte zuerst 17
Jahre, wurde von Menahem IL während 9 Jahre
verdrängt, und nach ihm gelangte Pekah noch
zur Herrschaft während dreier Jahre, nach wel-
chen er von Hosea, auf Teglathphalasars Antrieb,
getödtet wurde. Dieses ist die Geschichte, wie
sie aus den biblischen Texten erhellt, und durch
die Keilinschriften vervollständigt wird.
Um nun zu Hrn. Hommel zurückzukehren,
so mag das Bild seiner willkürlichen vermeint-
lichen Chronologie hiermit genug gezeichnet
sein, daß nach ihm Pekah nicht 29, oder 20,
sondern nur drei Jahre regiert. Der Verfasser
hätte nur vorerst für seine Zeitrechnung eine
Geschichte schreiben sollen.
Jeder Andere kann, wie gesagt, jedes andere
Mittelchen zu Markte tragen. Eilf Könige Israels
sind in der Bibel von Jehu bis Hosea genannt:
Jedermann kann andere beliebige eilf Posten
*) Im Widerspruche mit der eorrupten 15, 30: im
20ten Jahre Jothams.
**) Ueber die Schwierigkeiten s. Salomon 26.
Hommel, Babyl.-assyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 123
vorschlagen, die zusammen 120 ausmachen. Hr.
Hommel setzt vier davon gleich Null : da aber
seine Zahlen zusammen nur 111 Jahre geben,
so verausgabt er das Reliquat 9 für ein Inter-
regnum : der Ueberschuß in seiner Gomptabilität
erlaubt es ihm. Dieses ist das Facit dieses jam-
mervollen Fiasco, welches beweist, daß man
keine biblische Chronologie ohne die Bibel ma-
chen kann.
Was nun die eigentlich assyrische Chronolo-
gie anbelangt, so kennt Hr. Hommel die wirk-
lichen Daten nicht Er hat keine Ahnung
von der Sonnenfinsterniß des Teumman (Gott,
gel. Anz. 1880 p. 1489), vom 27. Juni 661, so
wichtig für die Zeitrechnung Assurbanhabals.
Daß Belsunu's Eponymie auf 660 fallen muß, ist
ihm unbekannt, ebenso daß der 30 Tebet Bel-
kas-sadua auf den 22. Januar 644 v. Chr. zu
setzen ist.
Der speciell assyrische Tbeil enthält manches
Brauchbare. Oannes, „Ea (Kin) als Fisch u ist
möglich. Aber wenn der Verf. aus der Partikel
adi „bis", den Adorns macht, weil Alorus, von
wegen des Lambda, auch Adorns gelesen wer-
den kann, so leistet er doch in der Unkritik
alles Mögliche. Die Phrase ist*): ultu yume
ruquti adi I Sini, „von den ältesten Zeiten bis
auf die Mondperiode". Hr. Hommel behauptet
in der Larnakainschrift in Berlin fehle das
adi: aber auch ultu fehlt, denn sie sind ab-
gesägt. Man hat den Stein durchgeschnitten,
am ihn besser zu transportieren. Noch sieht
man das Ende des Zeichen an: und es stand
dort:
*) S. meine Uebersetzung der Khorsabadinschrift.
Dour-Sarkayan p. 35. Im Jahre 1874 schien dieses
Herrn Schrader noch unantastbar.
j ->
124 Gott. gel. Aiiz. 1881. Stück L
[Ultu yu\me ruquti qibit Assur
Jadi mujanna *).
nVon den ältesten Zeiten, dem Anfang Assyriens,
bis auf heute" (das heißt 712 v. Chr.).
Durch des Hrn. Verf.'s Jugend entschuldigt
sich wohl die etwas anmaßende Aeußerung,
„trotz Oppert eine für immer (!) gesicherte
Gleichstellung". Exegi monumentum aere pe-
rennius. Es handelt sich darum, ob Sumir gleich
Sennaar ist, und Südbabylonien. Es existiert
überhaupt kein Südbabylonien. Daß Sumir Süd-
cbaldäa ist, ist nur eine Entlehnung meiner ersten
vielleicht richtigen Ansicht (1858) (E. M. t. II 335).
In dieselbe Kategorie der Ueberhebung ge-
hört die Lesung Raman für den Gott, für den
durch eine hebräische Lesung die Aussprache
Ben anempfohlen werden kann. Warum ist die
Lesung „falsch"? Der Gott wird durch ein Zei-
chen U ausgedrückt, welches beni umschrieben
wird, in tausend Stellen: beni wird auf assy-
risch belu, beli, bela gelesen, je nach Bedarf.
Der syrische König wird in dem hebr. Texte
Benhadad genannt, für den dieLXX vi<)<; *^4dt,Q
schreiben. Wenn also die gleichzeitige Bibel den
Laut Ben für den aramäischen Gottesnamen
brauchte, denn Ben heißt nicht Sohn auf ara-
mäisch, so liegt bierin wenigstens schon der
Anfang eines Beweises, während für das Raman
absolut nichts spricht.
Es wäre vielleicht hier am Platz, etwas über
die assyrischen Götternamen, die sich in der
Bibel finden, zu sagen. Wir zählen deren acht:
von diesen ist die Lesung Bei, Nebo, Assur,
durch die Keilschriften bestätigt. Die Aussprache
von vieren, Sin, Merodach, Nergal und Salman
*) S. meine Uebersetzung Records of the past, t. VII,
p. 23.
Hommel, Babyl.-assyr. u. israel. Geschichte in Tabell. 125
faßen lediglieh auf der Bibel. Sin entwickelte
Hincks (1849) aus dem Namen des Sanherib,
die Aussprache des Gottesnamens Merodach be-
ruht gleichfalls auf der Bibel (Rawlinson 1851);
das Amar-uduk, welches erst darnach gemacht
ist, ist eine Spielerei. FtirNergal (Oppert 1853)
haben wir bis jetzt absolut keinen andern Be-
weis als Jeremias Nergalsarezer. Salman ist nur
wegen des biblischen Salmanassar so gelesen. *)
Was meine Lesung Adar (1868 Chronologie
biblique p. 14) anbelangt, so ist sie nie etwas
anders gewesen, als ein Vorschlag; auch die
Aussprache Samdannu (E. M. II) 1868, erhalte ich
„trotz" Delitzsch, Hommel und Meyer, als min-
destens ebenso möglich wie Baman, aufrecht.
Unser junger Freund hat sich ernstlich mit
den assyrischen Inschriften beschäftigt, daher
auch der ausschließlich auf Texte basierte Theil
wegen des darauf verwandten Fleißes aner-
kennenswert!) ist. Wir bedauern dagegen die ab-
solute Unbrauchbarkeit seiner Chronologie. Er
möge sich mit den auf diese Wissenschaft be-
ziehenden Fragen genauer bekanntmachen: bis
er dieses gethan, darf er sich nicht wundern,
daß vorzügliche für einen größern Kreis von
Lesern berechnete Sammelwerke, wie die von
Biehm, Schenkel und andere, von seinen will-
kürlichen Aufstellungen nichts wissen wollen.
Sie than Recht. Für „gebildete Laien"**) passen
dieselben nicht. Und dieses ist der Beweggrund,
*) Meine 1853 gegebene Aussprache Salman-asir hat
rieh jetzt bestätigt durch ein babylonisches Täfelchen,
wo der Name (Izku) d. i. Tuklat-habal-asir steht. Esara
ist „falsch". Hr. Hommels ussur beruht auf einem Miß-
verständnis der sumerischen Exorcismusinschrift.
**) Der Gegensatz zu diesem sonderlichen Aus-
drucke wäre „ungebildete As syrio logen".
126 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 4.
weshalb wir mit gewissenhaftem Ernste solche
Versuche bekämpfen. Handelte es sich bloß um
rein wissenschaftliche Fragen, so würden wir
dieselben gleichgültiger beurtheilen. Aber Hr.
Hommel trägt den Wunsch zur Schau, seine
unrichtigen Rechenexempel zu popularisieren.
Seinen pädagogischen Prätensionen gegenüber
müssen wir unsere Ansicht viel schärfer beto-
nen als wir es sonst gethan hätten, indem wir vor
der Verbreitung solcher nicht allein unbewiese-
nen, sondern nachweisbar irrigen Annahmen, im
Interesse der Wissenschaft, und namentlich des
Unterrichts, entschieden warnen.
Paris, November 1880. J. Oppert.
Essai sur la vie et le regne de Septime Se-
vere. Memoire couronne' par l'Acade'mie royale de
Belgiqne. Par Adolphe de Ceuleneer, Sous-Bi-
bliothe'caire ä PUniversite* de Liege. Bruxelles 1880.
314 p. 4°. (Extrait du tome XLIII des M^moires de
PAcademie de Belgique).
Das so lange vernachlässigte Studium der
römischen Kaisergeschichte ist in neuerer Zeit,
dem mächtigen von Borghesi und Mommsen ge-
gebenen Impulse folgend, in erfreulicher Weise
in den Vordergrund getreten. Mit Vorliebe ha-
ben sich Deutsche und Franzosen der Darstel-
lung fest abgegränzter Epochen der Kaiserzeit
zugewandt und brauchbare Vorarbeiten für eine
noch zu erhoffende Gesammtgeschichte des rö-
mischen Kaiserreiches geliefert. In den Kreis
dieser Forscher ist mit vorliegender Schrift ein
belgischer Gelehrter getreten, der sich die Schil-
derung der markanten Persönlichkeit des Septi-
mius Severus zur Aufgabe gestellt hat. Abge-
sehen von dem breiten und inhaltsleeren Buche
von Hoefner, auf dessen Fortsetzung der Ver-
A. de Ceuleneer, Septime Se>ere. 127
fasser wohl in richtiger Selbsterkenntniß ver-
zichtet haben dürfte und dem ausführlichen, je«
doch in die inneren Verhältnisse nicht tief ge-
nug eindringenden Essai von Duruy (Revue
historique VII, 1878 und Histoire des Romains
t VI, 1879), war dieser merkwürdige Kaiser in
neuerer Zeit nicht zum Gegenstande einer selb«
ständigen Darstellung gemacht worden, so sehr
er und mehr noch die bedeutungsvolle Periode,
der er seine Signatur aufgedrückt hat, eine
solche zu verdienen scheint. Ceuleneer hat sich
dieser Aufgabe mit Fleiß und Geschick unter-
zogen, die antiken Quellen und die moderne
Literatur gewissenhaft benutzt, den reichen Stoff
verständig disponiert und in gefälliger Darstel-
lung verarbeitet Fast die erste Hälfte des Bu-
ches (S. 11 — 144) ist der äußeren Geschichte
gewidmet, während die letzten fünf Kapitel (S.
145—290) die innere Politik des Severus, sei-
nen gewaltigen Gardepräfecten Plautianus, die
Lage der Christen, die Reichsverwaltung und
die das Recht betreffenden Reformen schildern.
Den Schluß (S. 291-304) bildet eine zusam-
menfassende Würdigung dessen, was Severus
gewollt und was er erreicht hat. —
Ist das Buch auch nicht gerade reich an
selbständigen Resultaten und fruchtbaren neuen
Gesichtspunkten, so erhält man doch überall den
Eindruck einer gewissenhaften und soliden Ar-
beit, die freilich in Betreff der inneren Refor-
men des Kaisers, speciell auf militärischem Ge-
biet, keineswegs als eine abschließende bezeich-
net werden kann. — Im Einzelnen ist dem Ref.
aufgefallen, daß Ceuleneer (S. 22) der von Re-
nier vorgeschlagenen, ganz willkürlichen Re-
stitution der Lyoner Inschrift (Orelli 912) auf
128 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 4.
den Namen des Severus gefolgt ist; mehr noch,
daß er (S. 104) die unverständige Deutung
Montfaucon's einer Gemmeninschrift, ohne einen
Zweifel daran zu äußern, aufgenommen hat.
Die von Bormann (bullett.deirinstit.1867 p.218)
gegebene richtige Datierung des Todesjahres des
Plautianus auf 205 hätte wohl eine Erwähnung
verdient, wenn auch Ref. in seinen Untersuchun-
gen (S. 230) sich derselben Unterlassung schul-
dig gemacht zu haben bekennt. Nicht ohne
Verwunderung wird Mancher die doch von einer
gar zu idealen Auffassung des Urchristenthnms zeu-
genden Worte des Verfassers lesen (S. 207 A. 7) :
il nous semble que, si meine Marcia (die Mai-
tresse des Gommodus) eüt jamais Sie chretienne,
cequin'est pas prouve, VEglise Vaurait rejetee
de son sein du jour, oü eile eommenga ä mener
tme vie deregUe!
Wien. 0. Hirschfeld.
P. de La gar de: Aus dem deutschen Gelehrtenleben.
Aktenstücke und Glossen. Göttingen 1880, Dieterich-
sche Verlagsbuchhandlung.
Ich werde von Herrn Professor E. Boehmer
darauf .aufmerksam gemacht, daß ein auf Seite 5
dieser Schrift stehender Satz so verstanden wer-
den könne, als ob für Herrn Professor Boehmer
aus Wien nach Straßburg unter Einschrän-
kungen gelangte Manuscripte dort nicht in der
von Wien aus gewünschten Weise behandelt
worden seien. Nichts hat mir — wie Herr Pro-
fessor Boehmer weiß — ferner gelegen als dies
andeuten zu wollen.
P. de Lagarde.
Für die Redaction verantwortlich: E. Behnüch, Director d. Gott. gel. Anz.
Verlag der Dieter ick' sehen Verlags -Buchhandlung.
Druck der Dieierich' sehen Un»v.- Bachdruckerei ( W. F)r. Kaesiner).
.1
129
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 5. 6. 2. u. 9. Febr. 1881.
Inhalt: J. F. Böhmer, Die Begasten des Kaiserreiches unter dea
Karolingern, neu hearb. t. E. Mühlbacher. 1. Lief. Ton £ Dümmltr.
— Deutsche Pilgerreisen nach dem heil. Lande, heransgeg.
i. erlitt. Ten B. Böhricht u. H. Meiner. Yon W. Etyd. — Berthold
v. Regensburg, Deutsehe Predigten, herausgeg. t. Fr. Pfeiffer.
1 Bd., toh Jos. StrobL Yen K. Bartack, — 0. Gierke, Johannes
Attlmsius. Von Ä Brie.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. An*, verboten s
Die Regesten des Kaiserreiches unter den
Karolingern 752—918. Nach Joh. Friedr. Böh-
mer neu bearbeitet von Engelbert Mühlbacher.
1. Lieferung. Innsbruck, Verlag der Wagnerischen
Universitäts-Buchhandlung. 1880. 160 S. 4°.
An die ans Böhmers Nachlaß schon früher
von Huber, Will und Ficker neu bearbeiteten
Regesten schließt sich die vorliegende Abthei-
lang, die wir dem durch seine bisherigen Lei-
stungen bereits rühmlich bekannten Privatdocen-
ten Mühlbächer in Innsbruck verdanken, auf
das würdigste an. Eine neue vervollständigte
Ausgabe der im J. 1833 zuerst erschienenen
und deshalb sehr veralteten Regesten der Karo-
linger mußte um so mehr in diesem Augenblicke
als ein Bedürfnis erscheinen, da Stumpf diesel-
ben in seine Reichskanzler nicht mit aufgenom-
men hat und da andrerseits die Diplomata der
Mon. Germ, leider nicht mit dieser grundlegen-
den Zeit beginnen, sondern willkürlich mit der
9
130 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
Regierung Konrads I. Das vorliegende erste
Heft, welches unvollendet mitten im J. 803 ab-
bricht, hat seine Aufgabe in zweckmäßiger
Weise dadurch erweitert, daß vom h. Arnulf an
alles zusammengestellt ist, was über die Karo-
linger vor ihrer Thronbesteigung in diesen Rah-
men paßte. Der Umfang und die Behandlung
des aufzunehmenden Stoffes bestimmte sich durch
das Vorbild, welches Böhmer selbst in seinen
späteren Regesten seit 1198 gegeben hatte. Mit
der größten Vollständigkeit sind also alle Zeug-
nisse der erzählenden Quellen herangezogen
worden, aus denen sich irgend ein Aufschluß
über den jeweiligen Aufenthaltsort des Herr-
schers gewinnen läßt. Neben der viel größeren
Ausführlichkeit, welche die Regesten nach bei-
den Seiten hin gegen die erste Ausgabe erhal-
ten haben, ist namentlich noch hervorzuheben,
daß der Herausgeber, soweit er vermochte, der
handschriftlichen Ueberlieferung der Urkunden
überall nachgegangen ist, d. h. sowohl den Ori-
ginalen als den etwaigen Abschriften, ferner,
daß die Namen der Schreiber vollständige Auf-
nahme gefunden haben. Dagegen ist nicht, wie
in jenen Kegesten der Staufer, eine zusammen-
fassende Charakteristik der einzelnen Regierun*
gen vorangestellt. Sickels Regesten der Karo-
linger,, nach einem ganz andern Plane freilieb
bearbeitet, gewährten die wichtigste Unter-
stützung, daneben bis 788 die Jahrbücher des
Deutschen Reiches; ebenfalls durch Vermittlung
Sickels konnte der Verfasser manches aus den
Sammlungen der Mon. Germ, benutzen. Die
Fälschungen, welche Sickel in seinem Werke
am Schlüsse zusammengestellt hatte, sind hier
unter die echten Urkunden eingereiht, aber
schon durch die Art des Druckes in sehr kennt-
Begesten des Kaiserreichs unter den Karolingern. 131
lieher Weise hervorgehoben. Die Capitularien
haben gleichfalls eine angemessene und ein«
gehende Berücksichtigung gefunden, ihre Ein-
reihung machte in Ermangelung der unmittelbar
bevorstehenden neuen Ausgabe von Boretius
viele Schwierigkeiten und mußte oft eine un-
sichere bleiben. Besonders dankenswerth und
in dem Vorbilde Böhmers minder begründet ist
die überaus fleißige Verwerthung der neueren
Literatur, die vielfachen Hindeutungen auf kri-
tische Zweifel über diesen oder jenen Punkt
u. s. w., alles aber in knappster Form und nicht
mit der allzugroßen Ausführlichkeit, durch welche
die Mainzer Regesten angeschwellt sind. Gegen*
über dem außerordentlichen Fleiße und der
Sorgfalt, welche dieses Werk auf jeder Seite
auszeichnen, wird es 'sehr schwer sein, Nach-
träge oder Berichtigungen hinzuzufügen. Nur
zum Zeugnis meines guten Willens bemerke ich,
daß S. 36 die Transl. S. Germani nach dem
von Wattenbach (GQ. I, 121 A. 2) darüber ge-
fällten ungünstigen Urtheile wohl kaum die ihr
geschenkte Beachtung verdient hätte» Der Name
der Tochter des Königs Desiderius (S. 57) ist
auch durch Andreas von Bergamo überliefert,
leider mit unsicherer Lesart. Ueber Himiltrud
hätte vielleicht auch auf den Brief Stephans IV«
(lion. Carol, p. 159) verwiesen werden können.
Für das bekannte Bundschreiben Karls, in wel-
chem Paulus erwähnt wird (S. 101), ist die auf
der vormals Beichenauer Hs. beruhende Aus-
gabe Rankes wegen der hinzugefügten Erläute-
rungen nicht unwichtig: sie wurde schon von
Waitz für seine Einleitung zum Paulus heran-
gezogen. Ob der in Nr. 289 (S. 110) erwähnte
Doddo in der That ein Grieche war, muß dahin-
gestellt bleiben, s. SS. XI, 6 n. 22. Ebenso
9*
132 Gott. gel. An«. 1881. Stück 5. 6.
wie der Todestag Angiltamns und Wiomads
hätte S, 119 auch der Sintberts aus Regensbur-
ger Todtenbüchern festgestellt werden können
— es ist der 29. September — , um dadurch der
Begrenzung der 52 Tage näher zu kommen, die
dieser Feldzug in Anspruch nahm u. s. w. Wün-
schen wir dem Verf. so wie uns einen rüstigen
Fortgang und baldigen Abschluß des mühsamen
Werkes, das zum unentbehrlichsten Handwerks-
zeuge aller Forscher auf diesem Gebiete fortan
gehören wird.
Halte. E. Dttmmler.
Deutsche Pilgerreisen nach dem heili-
gen Lande herausgegeben und erläutert von Rein-
hold Röhricht und Heinrich Meisner.
Berlin, Weidmann 1880. VlI u. 712 SS. 8Ö.
Seit das alte „Reyßbuch des heiligen Landes"
eine Reihe deutscher Pilgerberichte zusammen-
faßte, ist meines Wissens kein Versuch nlfehr
gemacht worden, mehrere Stücke dieser Litera-
tutgättung in eine Sammlung zu vereinigen. Die
Übersicht über das, was auf diesem Gebiet ge-
druckt ist, wird wesentlich dadurch erschwert,
daß, während die ausführlicheren Delationen be-
sonders publiciert wurden, die kürzeren sich in
die Mittheilungen der verschiedensten Localge-
schichtsvereine durch ganz Deutschland hin ab-
lagerten. Nun erwerben sich die Herausgeber
dies obigen Buches das Verdienst, auf Grund
aasgedehnter Nachforschungen in Bibliotheken
und Archiven „dreiundzwanzig fast ausschließ-
lich ünedierte, oft sogar dem Namen nach un-
bekannte Reisebeschreibungen" vereinigt dem
Publikutti vorzulegen. Das von ihnön selbst ge-
förderte und durch Material unterstützte (S. 469.
611. 577) Vorhaben der Pariser Soci&6 de TOrient
Böhricht u. Meisner, Dtech. Pilgerreise** n. d. hl. Lande. 183
latin, sämmtliche Pilgerschriften des Hittelalters
aus ganz Europa zusammenzubringen, ist doch
allzuweit aussehend, als daß wir Deutsehe uns
gerne auf das Erscheinen dieses großartigen
internationalen Sammelwerkes vertrösten lassen
möchten, wenn wir auch der Energie und der
Sachkunde des Grafen Riant alles Zutrauen
schenken. Wollen wir ein volles Bild de« Ge-
sammtlebens unseres deutschen Volks im Mittel-
alter gewinnen, so dürfen wir nicht verfehlen,
seine Vorliebe für Pilgerreisen ins Auge zu
fassen. Dieser Seite der deutschen Kulturge-
schichte haben die Herausgeber in der histori-
schen Einleitung eine aus allen erreichbaren
Quellen geschöpfte und sehr anziehend geschrie-
bene Schilderung gewidmet, in welcher sie den
Pilger durch alle Stadien von deu ersten Vor-
bereitungen zur {leise bis zur Rückkehr in die
Heimat begleiten. Wie Viele sich den Be-
schwerden und Gefahren einer solchen Pilger
fahrt aussetzten, wird sich niemals genau in
Zahlen ausdrucken lassen. Wir finden aber auf
S. 463—546 ein mit großem Fleiß zusammen?
gestelltes Verzeichpiß der Deutschen, von denen,
irgendwie bekannt geworden, daß sie zwischen
1300 und 1600 die heiligen Stätten besuchten,
und da werden ungefähr 1400 Pilgernamen an
uns vortibergeftjbrt Hätten wir ähnliche Listen
von andern Nationen, so würden wir annähen^
erfahren, tqit wie großen Contingenten die ein-
zelnen abendländischen, Völker sich an den Pil-
gerfahrten beteiligten. Oh dies nun freilich
einen Gradmesser fyr die Religiosität derselben
abgeben wt^rde, fragt sich immerhin, da neben,
den religiösen Motiven, der R,eisetrjeb uwd die
Neugierde eine ziemliche Rolle spielten. Den
Niederländern wird vorgeworfen, daß ihrq fil-
184 Gott, gel. Auz. 1881. Stück 5.6.
gerreisen vorwiegend dem Ritterschlag am hl.
Grab galten, auf dessen Erlangung sie beson-
deren Werth legten, und daß sie durch Völlerei
und Kartenspiel anderen Pilgern Anstoß gaben.
Aber auch unter den Deutschen glänzten nicht
Alle durch frommes Gebahren und Einzelne
nahmen sogar galante Abenteuer gerne mit
(S. 504).
Den Kern des Buches bilden die 23 Reise-
beschreibungen. Von den Handschriften, aus
welchen sie geschöpft, soll hier nicht weiter die
Rede sein; nur die Eine Bemerkung sei gestat-
tet, daß die Handschrift, welche Prof. Haßler in
Ulm von Felix Fabri's geistlicher Pilgerfahrt
oder, wie er das Buch betitelt, von den „Sions-
pilgerinnen" besaß, vollständiger gewesen zu
sein scheint als das von den Herausgebern be-
nutzte Berliner Manuscript; in jener nämlich
kommt Pabri unter Anderem auf die Stadt Bo-
logna zu reden und berührt das Grab des Bru-
ders Jakob Griesinger von Ulm in der dortigen
Dominikanerkirche *) ; dieser Abschnitt fehlt bei
Röhricht und Meisner und sie hätten ihn si-
cher nicht weggelassen, wenn sie ihn in ihrem
Manuscript vorgefunden hätten. Denn das ist
gerade das Verdienstliche an ihrer Behandlung
der Texte, daß sie das, was die Pilger auf dem
Hin und Herweg sehen, hören und erleben,
nicht etwa kürzen oder gar wegstreichen, wo-
fern es irgend Interesse gewährt. Dadurch be-
kommt nicht nur das Ganze mehr Mannigfaltig-
keit, sondern es erwächst dadurch reicher Ge-
winn fttr die Landes- und Volkskunde des gan-
zen südöstlichen Europa, Vorderasiens und Ae
gyptens; unsere Kenntniß des mittelalterlichen
*) Haßler, Ulms Kunstgeschichte im Mittelalter (1864)
8. 121.
Röhricht u. Meisner, Dtsch. Pilgerreisen n. d. hl. Lande. 186
Verkehrswesens wird durch die Boatiers der
Pilger bereichert und einer der letzteren, Sebald
Rieter, läßt sich sogar durch einen Juden in
Jerusalem die Ueberlandroute beschreiben, wel-
che deutsche Juden einzuschlagen pflegten, wenn
sie des Handels wegen Syrien besuchten (S.
112 f.). Auf der andern Seite streichen die
Herausgeber mit anerkennenswerther Energie
die eintönig sich wiederholenden Beschreibungen
der heiligen Stätten sammt ihrem Legenden-
und Ablaßkram/ Auszüge treten manchmal an
die Stelle der Texte, aber wo die letzteren
wörtlich mitgetheilt werden, wird durch philo-
logische Akribie ihrer Bedeutung als Sprach-
und Dialectproben gebührend Rechnung ge-
tragen.
An den Commentator machen diese Texte
ziemlich starke Anforderungen. Ich finde, daß
die Herausgeber Manches nicht scharf genug
aufgefaßt, mißverstanden , unrichtig gedeutet
oder unerklärt gelassen haben. Hätten sie z. B.
gleich bei dem ersten Pilgerbericht, den sie
herausgeben, darauf geachtet, daß der Verfasser
desselben am dritten Tag nach seinem Abgang
aus der Heimat schon Venedig erreicht, so hät-
ten sie selber finden können, daß er nicht vom
schweizerischen, sondern vom wälschen Bern
d. h. von Verona ausgieng, somit als italieni-
scher Pilger aus der Sammlung wegzulassen ge-
wesen wäre, wie sie zu spät von anderer Seite
erfuhren (s. S. 712). — Mißverstanden ist S. 127
die Stelle, wo es heißt, die Pilger, die vom Am-
pezzanischen heraus auf Venedig zureiten, müs-
sen, um an letzterem Ort sicher Quartier zu be-
kommen, einen Mann „for Heyne vonn Tarfis
aber Maysters geynn Venedigenn schickenna,
um Herberge zu bestellen; hier wollen die
136 Gott. gel. Am. 1881. Stuck 5. 6,
Herausgeber statt „for heyne" gelesen wissen:
von Heyden, d. h. von Cortina diAmpezzo, nua
sind aber al» die Orte, von welchen aus der
Bote abzusenden, Treviso oder Mestre bezeich-
net, in den Worten „for heyne" steckt kein wei-
terer Ortsname, sie bedeuten einfach: vor hin
(für „hin" hat der Verfasser sonst die Form
„hyne", hier durch Schreibfehler „heyne"), zum
vorhinein, zuvor, zuvörderst. — S. 374. Die
„Falcke und Socker", welche die Rhodiser Rit-
ter an christliche Fürsten zu verschenken pfleg-
ten, sind nicht „Johanniter", wie das Register
deutet, sondern Jagdvögel; Socker, sonst Sacker,
ist falco sacer, Belege z. B. bei Schultz, höfi-
sches Leben 1, 368. — Nikia (S. 314 und 454)
hätte leicht als die Insel Naxos erkannt werden
können; es ist ja als Sitz von Herzogen cha-
rakterisiert und erzählt, daß einmal ein spani-
scher Jude den Herzogssitz eingenommen habe
— der bekannte Don Joseph Nasi. — Das Ca-
put angeli S. 394 würde ich nicht durch ein
Fragezeichen als zweifelhaft bezeichnen; das
Vorgebirge Malea führte ja schon im Mittelalter
wie in neueren Atlanten den zweiten Namen
Cap S. Angelo (Anciollo im Atl. Luxoro, Malea
Santo Angnolo bei Uzzano p. 220, Cau Saint
Ange bei Anglure p. 95 f. u. s. w.). — Wenn
ein Pilger an der Ostküste Italiens hinabsegelnd
erst die anconitanische Mark, dann die Terra
di Abruzzo („das ertrich Abrusin") und den
Monte Gargano („Berg des heiligen Engels" —
Michael) berührt bat und nun „am Ende des
apulischen Landes" „Adulteratum" erreicht, so
kann dies nicht Loretto sein, wie die Heraus-
geber S. 47 erklären, sondern blos Otranto, wie
auch die Worte auf der folgenden Seite „in
derselben Stat Alltwnti" ganz unzweideutig
Röhricht u. Meisner, DtscU. Pilgerreisea n. d. hl. Lande. 137
darthun. — Castel Tornese ist eine der vielen
Bargen mit romanischen Namen, die ans "im
mittelalterlichen Morea begegnen; die Heraus-
geber gehen also fehl, wenn sie in dem großen
Schloß Tames (S. 366) das alte Thryum vermu-
tben. Ebendort bedeutet Sonico, wie Zonte S.
135 nichts Anderes als Juneh (auch Zonchio)
oder Alt-Navarin. — In der Reiseinstruction des
Bernhard von Breitenbach heißt es S. 134*):
achtzehn Meilen, ehe man nach Korfa komme,
berühre man eine Marienkirche als einzigen Best
einer abgegangenen Stadt, die Türken nennen
den Ort Cassopoli. Hier corrigieren die Heraus-
geber ihren Autor, S. Maria de Cassapoli sei
vielmehr auf der Insel Korfu selbst. Eigen-
tümlicher Weise stieß aber auch der Herr von
Anglure, ehe er nach Korfu gelangte, auf ein,e
öde Insel Namens Gazopoly mit einer Marien-
kirche, zu welcher gewallfahrtet werde (§. 24).
Ebenso findet sich bei Uzzano (p. 217) Santa
Maria de Gozipal im Norden von Korfu. Auch
die catalanische Karte des 14. Jahrh. (ed. Bu>
chon et Tastu p. 88) kennt Casopoli als eine
von Korfu verschiedene Oertlichkeit und Geia-
heim, auf welchen sich B. und M. berufen, wi-
derspricht dem nicht direct. So scheint mir
Breitenbach im Becht zu sein gegen seine Her-
ausgeber. — Caramia, auf dessen Deutung die
Herausgeber S. 452 verzichten, ist die Provin?
Caraman im südöstlichen Kleinasien, die Insel
Arcebelyen S. 247. 275 ohne Zweifel Astypaläa
(Stampalia).
Ich habe bis jetzt lauter Punkte besprochen,
welche die Pilger auf ihrer Meerfahrt streiften
oder besuchten. Aber die Continentalrouten bie-
ten gleichfalls Anlaß zu berichtigenden Betner-
*) Cathedra wenige Linien weiter oben ist Cattaro.
186 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
kungen. Pilgern, die vom Rhein heraufkamen,
empfiehlt Bernhard von Breitenbach S. 125 einen
Weg, der sie über Bruchsal ins Württembergi-
sche führte; als eine der nächsten Stationen nach
Bruchsal nennt er „Smerre ist des aptes von
Mulbronn". R. und M. finden höchst wahrschein-
lich, daß damit Serres gemeint sei. Dies ist
ganz unmöglich, denn Serres wurde als Wal-
densercolonie erst im Jahr 1699 gegründet.
Hier leitet Arnold von Harff auf die richtige
Fährte; denn er durchreiste auf seiner Pilger-
fahrt (herausg. von Groote S. 5) nach einander
Breyten, Smeen und Feyingen. Smeen in der
Mitte zwischen Bretten und Vaihingen liegend
ist das Dorf Schmie, zu jener Zeit dem Kloster
Maulbronn gehörig. Breitenbach verketzert den
Namen in Smerre. — Auf tirolischem Gebiet
vermissen wir S. 279 eine Erklärung für Unders
= Nauders, S. 428 eine solche ffir Burg =
Borgo di Val sugana, für Cofell, die Bergfeste
Kofel zwischen Borgo und Bassano. — Endlich
wird eine Station, welche die deutschen Juden
auf ihren Handelsfahrten nach Syrien zu be-
rühren pflegten, falsch bestimmt; Schotz, unge-
fähr mitten inne zwischen Lemberg und Akjer-
man (S. 113) ist nicht Chotin, sondern Suczawa,
wovon sich die Herausgeber durch Vergleichung
des Artikels „Osteuropäischer Handel im 15.
Jahrh." von Stefan Koczynski (Jahrbücher für
Nationalökonomie und Statistik Bd. 34. S. 498)
leicht überzeugen werden.
Als Anhang ihres Werks geben die Heraus-
geber eine sehr verdienstliche Fortsetzung und
Ergänzung der Tobler'schen Bibliographie Palä-
stina^. Ich habe hiezu nur Weniges nachzu-
tragen. Was Schemseddin Dimaschki (S. 562)
über Syrien und Palästina sagt, findet sich in
Röhricht u. Meisner, Dtsch. Pilgerreuen n. d. hl. Lande. 189
seinem Handbuch der Eosmographie , welches
Mehren jetzt ganz in französischer Uebersetzung
mit Anmerkungen herausgegeben hat (Kopen-
hagen 1874). Von Odoricus (S. 562) gehört
bieber blos sein liber de terra sancta; wollten
aber die Herausgeber nach Toblers Vorgang
doch auch seinen Bericht über die Missionsreise
nach Indien und China erwähnen, in welchem
kein Wort über Palästina sich findet, so hätten
sie die einzig brauchbare Ausgabe von Yule
(Cathay and the way thither Vol. 2. Append.
Lond. 1866) vor allen andern erwähnen sollen.
Die unter dem Namen des Simon deSarebruche
(S. 567) erwähnte Pilgerrelation ist jetzt treff-
lich ediert in dem Buche: Le saint voyage de
Jherusalera du seigneur d'Anglure publ. par F.
Bonnardot et A. Longnon (Paris 1878). Der
Brief des Hieronymo da Santo Stefano (S. 578)
berichtet über Indien; daß er Palästina zum
Gegenstand habe, müssen die Herausgeber aus
dem Ausstellungsort Tripolis in Syrien geschlos-
sen haben. Wenn dieselben endlich russische
Literatur reichlich verzeichnen, so mag ihnen
da8 Mancher danken, aber russische Schulbücher,
wie Jachontow, kurze Beschreibung des hl. Lan-
des zum Nutzen der Jugend (46 Seiten) aufzu-
nehmen und Deutsche, wie Dürr und Streich,
geographische Beschreibung des hl. Landes für
Latein-, Bürger- und höhere Töchterschulen
(Eßlingen 1876) weglassen heißt mit zweierlei
Maß messen. Ref. würde beide principiell aus-
schließen.
Stuttgart. W. Heyd.
UQ Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
Berthold von Regensburg. Vollständige Aus-
gabe seiner deutschen Predigten mit Einleitungen und
Anmerkungen von Dr. Franz Pfeiffer. 2. Band.
Enth. Predigten XXXVII- LXXI nebst Einleitung, Les-
arten und Anmerkungen von Dr. Joseph Strobl.
Wien 1880. Braumüller. XXXII, 696 S. 8°.
Achtzehn Jahre sind seit dem Erscheinen des
ersten Bandes, zwölf Jahre seit dem Tode seines
Herausgebers verflossen; endlich erscheint, noch
beträchtlich umfangreicher als jener und ebenso
schön ausgestattet, von Strobl herausgegeben,
der zweite Band. Man wünschte wohl, daß der
alte Spruch 'Was lange währt wird gut* in die-
sem Falle sich bewährte. Leider ist dem nicht
so; dem Herausgeber fehlen wesentliche Eigen-
schaften, die zu solcher Arbeit befähigen: Ver-
trautheit mit kritischer Methode, Gonsequenz in
der Behandlung der Texte, Zuverlässigkeit und
Gewissenhaftigkeit in der Benutzung des Ma-
terials.
Für die Lesarten zum ersten Bande ist die
Brüsseler Handschrift, die Pfeiffer leider nicht
benutzte, verwerthet; sie hat, wiewohl sie im
Ganzen einen viele ältere Ausdrücke beseitigen-
den Text bietet, an manchen Stellen doch das
echte erhalten, und zeigt, daß die Handschrift A
(Heidelberg. 24) mehrfach Auslassungen sich zu
schulden kommen ließ. Daß Pfeiffer hier nicht
überall das richtige durch Gonjectur getroffen
ist wohl erklärlich; namentlich wo A durch
Ueberspringen von einem Worte auf ein glei-
ches späteres einen ganzen Satz oder Satztheil
ausgelassen, wie I, 345, 15. 360, 6.
Dieser Fall ist wohl auch I, 63,13 anzuneh-
men, wo offenbar gelesen werden muß er kumet
in drisic jären; nach jär ist eine Lücke, die
freilich auszufüllen unmöglich ist. Vermuthlich
Berthold v. Regensburg:, herausgeg. v. Strobl. 141
«prang der Schreiber von jär auf jär. — I,
458,27 ist zu schreiben und eteliche messe läjtet
ir under wegen , da %¥ rnit drlzic schriten eine
messe erreichen fnöhtent. — I, 494, 17 ist zu
schreiben oder stis unruoche. Das Verbum tw-
hwchen wurde von den Schreibern mißver-
standen.
Dagegen kommt I, 359, 33 das Ueberspringen
auf Rechnung Pfeiffers, dessen Auge von einen!
semdlchez auf das zweite abirrte. Im Ganzen
jedoch zeigt sich Pfeiffers Arbeit am ersten
Bande als eine zuverlässige und auch von Druck-
fehlern ist sie fast durchaus frei.
Beides kann vom zweiten Bande nicht ge-
rühmt werden. Die ersten beiden Predigten
desselben sind nur in der Brüsseler Handschrift
(a) erhalten : gleich hier tritt die Ungleichmäftig-
keit und Willkür der Behandlung uns entgegen.
So wird wanne 1, 4 etc. im Sinne von 'denn7
aus a beibehalten, während es in den aus H
6tc. entnommenen Predigten in das mhd. rich-
tige wan verändert wird, wiewohl auch H wann
hat, was auf wanne führen würde. Freilich
56, 10 wird das wann von H auf einmal auch
in wanne Verändert, ebefaso 57, 3. 58, 1. 2. 59, 23.
Und 124, 10 ist das wann aus H unverändert
beibehalten. — 1, 13 alle tiufel, in den späteren
Predigten wird tiufele geschrieben, während der
Herausgeber doch wissen konnte, daß in de*
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Ober-
deutschland das Schluß-e der Regel nach längst
verstummt war. Das gleiche gilt von engel, wie
2,9 steht, während später engele geschrieben
wird. Freilich auch dies wieder ohne alle Con-
sequenz, eine Art Regel scheint der Herausg.
anzustreben, indem er vor folgendem Vocal das
e wegläßt, aber auch dieser von ihm geschaffte-
142 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5.6.
nen Regel folgt er nicht. So steht tiuvel (hier
zur Abwechslung mit v im Inlaut geschrieben)
58,6; engel 51,25. 98,19, vor Vocalen dagegen
engele 106, 21. 22. Und wenige Zeilen nach
einander bunt wechselnd engel, aber tiuvele
126, 24. 36. 127, 1. 6, und dann im Dativ wieder
tiuvel 127,31. Umgekehrt engeley — aber tiu-
vel 112, 28. 31. Und ganz regellos in wenig
Zeilen vier mal wechselnd der Dativ tiuvel
130, 12, tiuvele 14, tiuvel 16, tiuvele 19. Das e
nach Liquiden wird auch sonst ganz ungleich-
mäßig behandelt. So steht nime (1. präs.) statt
nim der Hs. 35,35, dagegen wird 92, 24 nim
beibehalten. War denn etwa nime in der Zeit
Bertholds in Oberdeutschland die übliche Form?
Der Plur. von zäher lautet mit der Hs. zeher
116,22; dagegen wider die Hs. zehere 132, 13.
(vgl. negel 180,38). schare wechselt willkürlich
mit schar 96, 6. 13. 98, 20. 28. 29. schale wird
geschrieben statt schal 97, 37. 38, dagegen mere
von H 112, 16 in mer verwandelt; 159, 6 suie
statt sul in H (richtiger sül) gesetzt. 36, 34
steht eintwederez, dagegen 37, 13 eintwedern,
nicht eintwederen, die Hs. bat beidemal das e
nach r nicht. Vgl. dazu dewedere 39, 11. ge*
segen (nicht gesegene?) 40,7. tmserem wird ge-
schrieben 34, 33. 37, 23. 61, 13 ; dagegen 26, 18 ff.
34, 35 steht unserrn. unseres 27, 1. 47, 33. lü-
terem 35,6. anderez 101,11. 115,4.117,25.
marteren 1%, 1. wandele 85,37. In allen diesen
Fällen ist dieHs. consequent, sie hat diejenigen
Formen, welche der Zeit und Heimat Bertholds
entsprechen. Die Willkür kommt also, ganz auf
Rechnung des Herausgebers.
1, 26 steht ein sünde acc. sing., dagegen
19, 24 eine gruntveste. Die Hs. hat auch hier
nicht die Inconsequenz verschuldet. Dieselbe
Berthold v. Regensburg, kerausgeg. v. Strobl. 143
Willkür in den späteren Predigten. 27, 10 eine
messe, dagegen 24, 22. 25, 3 ein leccien; ein
sünde 51,3; einstat 55,29; einfrouwen 38,14;
eine pläter 48, 3. So wechseln kein and keine
39,9. 47,3. 48,18. 51,29. din and dine 31,18,
20. 42, 38. sin 38, 1. 50, 35, während meist
sine geschrieben wird, min 38, 39. Vgl. noch
57, 4. 11. 58, 36. 37. 65, 14. 66, 26. 69, 4. 34.
71, 37. 74, 4. 75, 15. 83, 28. 29. 84, 34. 36. 85, 21.
86,24.33. 97,3.19.20. 106,38. 118,19 (auf
derselben Zeile zweimal). 131, 3. 15. 20. 145, 14.
15 etc.
4, 34 darunter in doppelter Hinsicht falsch.
Denn aas Lachmanns Aasgaben, die der Heraus-
geber ja wiederholt citiert, hätte er wohl wissen
können, daß in Uebereinstimmang mit dem Ge-
brauch der Handschriften des 13. Jahrhunderts
in diesem Falle dar getrennt zu schreiben ist.
Aach in den späteren Predigten (aus H) der*
selbe Fehler, nur vereinzelt (wie 74, 18) das
richtige. Aber auch unter in dieser Schreibung
aas der jungen Hs. a beizubehalten (vgl. 3, 22.
4, 30. 7,8 etc.) war falsch, da under die im 13.
Jahrb. durchaus herrschende Form ist. In den
Predigten aus H ist unter der Hs. meist in un-
der verwandelt, zuweilen auch beibehalten (32,
26. 46,12.19. 49,18. 76,33. 100,38).
5,6 nihtsnit, ebenso 6, 16; warum ist hier
nit aus der ganz jungen Hs. beibehalten, wäh-
rend es doch sonst (vgl. zu 8, 13) in niht ver-
wandelt ward? Auch bezüglich der Trennung
schwankt S. ganz willkürlich zwischen nihtes
niht und nihtesniht, vgl. 30,5. 62, 11 mit 36,18.
85,28. 91,20. 102,17. 114, 10 etc.
6, 13 dar nach, die Hs. da nach. Der Her-
ansgeber hat wohl einmal davon gehört, daß
dar außer vor Vocalen auch yor nach stehe,
144 Gott. gel. Anz. 11*81. Stück 5.6.
und nan glaubt er dies müsse immet* der
Fall sein.
6, 16 die Hs. hat dein, der Herausg. setzt
hier und 20, 71 deine, in andern Fällen behält
er dein bei. Setzte er hier der Adv. Form we-
gen deine, dann innßte er auch grosse schreiben.
30, 7 wird geschrieben dein noch grbz, dagegen
34, 14. 36, 19 Meine nodi gross, hier außerdem
zur Abwechslung Heine mit k, die Hs. hat durch-
aus e. 60,32 steht wieder Mein, und 94, 18.
20 innerhalb weniger Zeilen einmal kleine, ein-
mal klein.
6, 28 gehungerte prät. statt des hs. gehungert,
aber in der ganz gleichen Stelle 7, 3 wird ge-
hungert beibehalten.
6, 30. Von wem hat der Herausg. wohl ge-
lernt, daß trake zu schreiben sei? Das Wort
Wird, wo es gereimt wird, sei es sAstrache oder
ttacke, nur mit kurz a gebraucht.
9, 2 vor gote, von gote, wo die Hs. beidemal
§ot hat, dagegen 7, 23 etc. zwischen got beibe-
halten. In nach reht 21, 15. 31 wird kein e bei-
gefügt, ebenso in dinem tot 1, 26 nicht. Und
fco gebt durch die Behandlung des Dativs auch
in den späteren Predigten die größte Willkür.
24, 9. 10 hie ze lande, in dem lande, die Hs. hat
beidemal lant. Dagegen wird de* verkürzt«
Dat. pfunt beibehalten 31, 12. nach reht 29, 3,
dagegen nach rehte 39, 29. 41, 29. 35, 8 von
marmelstein, von holz, dagegen 35, 15 von öl-
bourne, lebene 110, 24 dagegen leben 124, 5.
ampt 27, 22, aber ampte 28, 24, amte 36, 6, wo
die Hs. in allen Fällen ampt hat. grünt 111,36,
sonst gründe. Vgl. Up 26, 14. mist 96, 30. oven
41, 10. 12 ; aber gewande (Hs. geward) 45, 9.
Une 36, 16. dienest 104, 21, sonst dienste (z. B.
107, 12), einmal auch dieneste 183, 17. Bei got
Berthold v. Regensburg, herausgeg. t. Strobl. 145.
die größte Willkür: gate 31, 10. 33, 14. 15. 17.
18. 21. 38,37. 42,10. 11. 15. 16. 17 etc., dage-
gen got 31, 21. 24. 39,23. 42,3. 72, 37 etc.
13, 16 angrtfen, bier nach nfad. Weise in 6in
Wort zusammengeschrieben, in andern Fällen
getrennt (an grifen 17, 26), wie es dem mhd.
Gebrauche entspricht, numigerleie 10, 13 als 6in
Wort; während maniger hont 2, 7 getrennt
Diese Inconsequenz gebt dnrch das ganze Buch
and tritt bei Verben als crasse Unwissenheit
hervor. Denn wiewohl der Heransg. Lachmanna
Abhandlung über ahd. Betonung citiert (S. 566)
und grade mit Bezug auf den fraglichen Punkt,
so zeigt seine Ausgabe doch, daft er aus ihr
nichts gelernt bat. Er schreibt unrichtig ge-
trennt über eeaen und über trinken 171, 27 (hat
er niemals Walthers Spruch vom übertrinken
gelesen ?), über hüebe 52, 28 (überheben richtig
53, 5), under winde 46, 8, wider vorn 65, 24.
73,7. 113,10. 123,13 (richtig widervar 153,33),
nnd unrichtig zusammen widergeben 40, 13. 16.
43,13. 49, 1.4.8. 52,32. 70,6. 112,31. 123,5
(während richtig wider geben 40, 24. 102, 11.
112,33. 123, 1. 2 und gebest wider 123, 14 ihn
belehren kennte), anbeten 61, 20 (während rich-
tig an beten 61, 21. 109, 27), anhaften 148, 14,
anräeren 51, 18 etc. So wird nach nhd. Weise
anch denselben, demselben 12,27. 22, 10 zusam-
mengenschrieben, an andern Stellen richtig ge-
trennt.
14, 24. Daß der conj. präs. von soln im
13. Jahrh. in Oberdeutschland sül oder meinet-
wegen schon sülle lautete , sollte ein Heraus-
geber doch wissen. So steht auch süle 17, 31,
wo die Hs. sulle hat, aber an den meisten Stel-
len wird diese Form ohne Umlaut beibehalten
(?gl. 15, 1. 5. 17 17, 9. 38 etc.). In den aus
10
146 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
H entnommenen Predigten steht ebenfalls meist
sulle, wiewohl die Hs. den Umlant hier sogar
bezeichnet Vgl. 54, 24. 66,9 etc. Ebenso un-
richtig ist die Nichtbezeichnung des Umlauts in
gehören 21, 9. 11. 23, 8, denn Berthold hat un-
zweifelhaft gehoeren gesprochen.
22, 9 da iwer nimmer mere rät wirt. Hierzu
macht der Herausgeber (S. 561) die, wie es
scheinen soll, sehr überlegte Anmerkung , er habe
in diesem Falle meist mere geschrieben, 'da eine
Verbindung mer rät bei Hartmann und Wolfram
unerhört1 sei. Diese Bemerkung zeigt recht
deutlich, daß derHerausg. von dem Unterschiede
des poetischen und prosaischen Vortrags keine
Ahnung bat, und daher auch nicht weiß, warum
jene Verbindung im Verse anstößig, in der
Prosa aber ganz zulässig ist. Und wie befolgt
er selbst denn seine Kegel ? 67, 38 steht nie-
tner mer rät wirt, 68, 14 mere9 69,25 mer, 77, 19
mir, ebenso 83, 33. 91,23. 94,3. 110,7. 112,35.
127, 15. 148, 37. Von etwa S. 180 an scheint
ihm Wolfram und Hartmann wieder eingefallen
zu sein, denn nun häufen sich die mere, 180, 28.
35. 181,9. 182,17. 183,11. 186, 14. 187, 1.
188,5 etc. Aber noch eine zweite Inconsequenz
ist hier zu bemerken: in den beiden Predigten
aus a wird nimmer beibehalten , in denen aus
H, wiewohl auch H so schreibt, niemer gesetzt
Und doch ist nimmer eine in Hss. des 13. Jabrh.
schon ganz geläufige Form. Dasselbe gilt von
niendert, wie S. statt nindert in H durchgängig
schreibt. Hier könnte man eher Bedenken tra-
gen, ob das angehängte t schon von Berthold
gesprochen wurde.
Stärker als solche durch das ganze Buch
gehende Inconsequenz ist es, wenn der Herausg.
statt des correl. swenne das wenne der jungen
Berthold v. Regensburg, herauigeg. v. Strobl. 147
Hg. beibehalten hat So 2, 13. 7, 29. 8, 26, 10, 19.
27. 12,1. 15,17. 17,21. 18,3. 19,8. 20, 19. 33.
22,6. 23, 11. 18. Und dieselbe gröbliche Un-
kenntnis der Grammatik zeigt sich in den aus
H etc. entnommenen Predigten. So steht wer
statt swer 25, 17. 26, 1. 75,2. wanne statt
manne 36, 7. 88, 17. 146, 20. 149, 4. wenne
statt swenne 46,6. 58,39. 149,13.35. 151, 2. 8.
was statt swae 127, 39. wie statt swie 106, 28.
Und umgekehrt swae für wae 75, 8. Ein gro-
ber Fehler ist auch das Komma 12, 25 nach
susty weil man daraus sieht, daß der Heraus-
geber aufgefaßt hat wie das denne = nhd. 'wie
das denn' (!), während sust wie, dae denne zu
lesen ist. Man rihtet nicht über einem, sondern
einen, daher 19, 10 über inch. Nicht füerent vor
diu äugen 20, 11 sagt man wie im Nhd,, son-
dern für. 21, b in dri teil, es muß doch ent-
weder heißen in dri teile, oder, dem Gebrauch
des Mhd. entsprechender, in driu teil. — 21,
32 so vil man in guotez tuot, natürlich guotes.
Daft wir es hier nicht mit einem der zahlreichen
Druckfehler*) zu thun haben, zeigt die öftere
Wiederholung des gleichen Fehlers. Vgl. 223.
24. 233, 1. 237, 6. 240, 45. 260, 14.
*) Ich notiere in der Anmerkung so statt s6 2, 31.
6, 38. 8, 17. 12, 3. 23, 3. 26, 9. 114, 26. also 4, 19.
16, 4. 57, 37. 226, 12. tugendhafter 4, 15. nach 6, 28.
17, 1. die statt diu 7, 7. ewig 17, 8. auch 20, 36. das
22, 25. 116, 26. Jedoch 39, 26. 41, 80. 108, 34. 121, 3.
127, 27. 129, 7. 131, 27. Jedoch 91, 7. ndsen 46, 30.
gewuchs 51, 13. sprehent 55, 7. sprach 71, 26. hat 79,
20. Mriche 94, 4. sprachen 97, 29. välat 106, 5. vilr
tate 158, 39. uz 117, 36. höchvdrt 141, 26. 252, 39.
»eh 179, 8. jede 219, 80. wertlich 230, 30. warre 235,
10. 11. male 241, 1. Zweifelhaft ist mir, ob in nater
1, 9. 51, 21. got 223, 16. vigilie 141, 35. Maurtcien 33,
1 einfache Druckfehler zu suchen sind.
10*
148 Gott. gel. Afaz. 1881. Stück 5. 6.
Unnöthige Aenderungen der Ueberliefernng fin-
den sich mehrfach in den beiden ersten Predigten.
So ist 5, 39 sie ganz überflüssig zugesetzt.
Ebenso ist die Ergänzung ir marter 7, 1 un-
nöthig. 8, 32 ist der ergänzt, ebenfalls un-
nftthig, vgl. 18, 25. Auch 11, 4 ist sele zu er*
ganzen durchaus nicht nöthig. 16, 4 ist bediet
statt bezti überflüssige Conjectur und schon we-
gen der Trennung von part, und Hülfsverbum
nicht wahrscheinlich.
16, 6 wanne daß statt wanne zu schreiben
ist nicht richtig, sondern wanne steht für danne
tthd dieses wie öfter für danne das.
16, 12 nach stner marter schreibt der Hrsg.
ftir nach sin marter der Hs. Aber nach steht
wie oft in jungen Hss. für noch, und noch sin
marter ist zu schreiben. 17, 4 ist ganz ohne
Noth von der hs. Lesart abgewichen. 22, 17
ist alle weit ganz ohne Grund in alle die weit
verwandelt, vgl. 22, 4. — Anderseits sind Aen-
derungen der Ueberliefernng unterlassen oder
falsch geändert. 6, 35 ist sie statt die zu schrei-
ben. 8, 7 ist, wie es überliefert ist, sicherlich
nicht richtig, sondern eine Lücke nach bräht
anzunehmen. 9,3 ist wahrscheinlich üf und suo
getuon zu schreiben. 9, 4 lies sich in immer
ewiclichen an an underlay. 9, 39 1. unmügelichm
herte statt müglichen herte} vgl. 36, 23. 11, 15
L büezent. 11, 24 fehlt ein von Uden abhängi-
ges Object, auf welches sich die bezieht. 12,37
ein ablaeee fem. anzunehmen scheint bedenklich
(Hs. ablaz)\ es ist dinem abläz zu schreiben,
offenbar wurde der Schreiber zu diner durch
die vorhergehende Zeile veranlaßt. 19, 6 1.
des mac kein rät gesin. 19, 32 1. denne statt den.
Falsche Interpunktion 8, 18, wo der Punkt
nach behüetey nicht nach ist zu setzen ist.
Berthold ▼. Regensburg, heratisgeg. t. Strobl. 140
Aber viel schlimmere Sünden hat sich der
Herausgeber in den Predigten zu schulden kom-
men lassen, die in H und den ihr verwandten
flss. überliefert sind. Hier konnte ich wenig-
stens an einer mir zu Gebote stehenden Hs. den
Text controlieren, und es war ein glücklicher
Umstand, daß dies grade die wichtigste und von
Strobl zu Grunde gelegte war: H. Von dieser
Hs. lag Strobl, wie er selbst angiebt, eine Ab-
schrift Pfeiffers vor. Ich kenne viele Abschrif-
ten von Pfeiffers Hand und habe dieselbep
durchweg als höchst genau und zuverlässig er-
probt. Sollte in diesem Falle Pfeiffer eine so
nachlässige und an Fehlern und Auslassungen
überreiche Copie geliefert haben? Ich glaube
es nicht. Aber selbst wenn es wäre, so spricht
das den Herausgeber nicht von Verantwortung
frei. Denn wie er uns selbst berichtet, wurde
ihm mit gewohnter Liberalität die "Heidelberger
Handschrift zugeschickt : er hatte also reichlich
Maße, die etwaigen Fehler der Abschrift durch
genaue Collation zu beseitigen. Die Art und
Weise, wie ©r in den beiden allein von der
Brüsseler Hs. gebotenen Predigten sich mehr-
fache NacbjlMssigkeiten zu schulden kommen
ließ, die er bei den Lesarten erst corrigier^e
(vgl 6,14. 6,36. 11,11. 16,29. 18,19) macht
sehr wahrscheinlich, daß mindestens ein Theil
der Fehler nicht durch Pfeiffers Abschrift, son-
dern erst durch den Bearbeiter derselben ver-
schuldet worden ist.
Die völlige Inconsequenz in der Behandlung
des Sprachlichen zeigt sich hier ebenso wie bei
den beiden Predigten aus a. Gleich in der er-
sten aus H (24, 5) steht hob danc, dagegen
25, 26. 32, 21 habe dam. H hat Überall die ge-
kürzte Form* — r 24, JL4 wns hat unser )wpe gar
160 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
vil buoch gegeben. Allerdings hat H buch, aber
sie hat auch 24, 19 gar vil nutzer ding, wo der
Herausg. dinge setzt. Oder sollte er nicht ge-
wußt haben, daß buoch in diesem Falle gen.
ist und hielt er es für den acc? vielleicht
fährte ihn bei der zweiten Stelle erst das Adj.
nutzer auf das Richtige. Es ist freilich stark,
wenn man einem Ordinarius des Faches der-
gleichen zutrauen soll, aber nach dem zu 21, 32
(oben S. 147) bemerkten hat man wohl ein
Recht dazu. — 24, 18 so lange: eine häufige
Ausdrucksweise (auch als lange) , für welche H
meist so lang, zuweilen so lanck setzt, behan-
delt der Hrg. ganz willkürlich, weder der Schrei-
bung der Hs. noch einer grammatischen Regel
folgend, die natürlich das adv. verlangt; er
setzt meist lanc, mitunter lang, oder lange. Vgl.
39, 26. 62, 15. 109, 3. 7. 123, 6. 125,21. 126, 2.
134,13. 146,23. 155,26. 156,28. 157,14. 163,
4. 165,21. 169,36. 185,14 etc. vgl. noch 49,1.
50,6. 52,5.10. 104,26. 105,3.9.13. Auch in
den beiden Predigten aus a fehlerhaft als lanc
9, 2. 11, 15. — 24,27 an vu selben, H hat sel-
ber. Gewiß ist hier, der Sprache des 13. Jahrb.
gemäß, selben zu schreiben, nur mußte es conse-
quent geschehen. So ist 107,33 über sich sei-
ber stehn gelassen, wo auch selben zu schreiben
war; ebenso üz iu selber (1. selben) 142,13;
über in selber 162, 19 (1. selben); er selber (1.
selbe) 167,29; im selber (1. selben) 169, 3, ze
gote selber (1. selben) 171,4. Umgekehrt ist an
mehreren Stellen das richtige selber derHs. ent-
fernt worden, schonet ouch iutcer selber 57, 6,
wo S. selbe schreibt; an ir selber (S. selbe) ge-
nesche 189, 2; während 71, 31 hüetent iuwer
selber das richtige bewahrt ist.
25, 13 viech: diese Form der jüngeren Hs. ist
Berthold v. Regensburg, herausgeg. ▼. Strobl. 161
hier beibehalten , späterbin in das der Zeit
Bertholds entsprechendere vihe verwandelt wor-
den, vgl. 48, 22. 92, 35 etc.
25, 2 ich lerte iuch, 24,21 nü Mrtich, H hat
beidemal lert. 25, 12 machet statt machete, 145,
I prediget statt predigde, dagegen 27, 3 weinete,
wo H ebenfalls wainet hat. Vgl. 38, 16. 41, 24
etc. geriht wird 25, 31 geschrieben mit der Hs.,
während in den Predigten aus a es in gerihte
verändert ward (zu 20, 36); dagegen wieder
gerihte 29, 14. mach als imp. ist geschrieben,
wo man mache erwartet, 34, 38. 272, 22 ; ebenso
strick 67, 14, nicht stricke ? Das adv. reht wird
bald so mit der Hs., bald rehte geschrieben, vgl.
25,39. 30,25. 31,31. 35,6.19. 36,15.18.42,
35. 46, 30. übel steht 45, 3 als adv., dagegen
übek 50, 34. hoch soll adv. sein 62, 37. 82, 39.
83, 5. 162, 27. 179, 3, wo hohe zu schreiben. —
26,4 wird sehet statt secht der Hs. geschrieben,
dagegen für das gleiche secht steht seht 26, 24.
32 etc. gelobet 27, 16, H. gelobt, dagegen gebt
38, 38. 39 wird beibehalten ; 39, 6 wird obz bei-
behalten, an andern Stellen in dbez verändert.
77,21 steht seht, wo H sechet hat, also sehet zu
schreiben war. 148,6 vergebet^ 7 ersieht, 9 sieht,
II seht. 157,20.21.35 wechseln willkürlich habt
und habet etc.
27, 13 hat H gen ze kirchen, zu antlassen,
macht also einen Unterschied vor dem vocalisch
anlautenden Worte. Es wird zuo antläzen zu
schreiben sein. Nun bemerkt der Heransg. S.
281 'ich kann mir nicht denken, daß Berthold
ze eilen guoten dingen oder ze unsern saelden
mit dem häßlichen Hiatus sollte gesprochen ha-
ben. Die mhd. Zunge verlangte hier offenbar
zaMen zunsern, aber auch zuo allen zuo unsern
ist erträglicher1. Hat er denn aber dem ent-
162 Gott, gel Anz. 1881. Stück 5. 6.
sprechend in der Ausgabe geschrieben? Er ver-
stößt oft ganz muthwillig gegen seine Regel
und scheint überhaupt von dem syntaktischen
Unterschiede von ze und zuo eine sehr unklare
Vorstellung zu haben. Er setzt wie hier sehr
oft ze vor Vocalen, wo er z schreiben müßte,
vgl 27, 14. 34, 34. 37, 2. 44, 15 etc. oft auch
unnöthig ze, wo zuo jenen Hiatus vermeiden
würde: 45,14.39. 64,26. 72,8. 132,17. 159,14.
173,14. 185,4. 199,29 und wo *wo sprachlich
richtiger ist, wie 64, 23 ze ollen den noeten, wo
zuo im Sinne von 'außer' zu schreiben; ebenso
ze (1. zuo) aller der marter 190, 1. Umgekehrt
setzt er zuo, wo ze richtig war: so 94,25, wo
ze den freuden bedeutet 'in den Freuden' ; ebenso
ist falsch 142, 32. 176, 13 zuo der marter 'in
der Marter' (1. ze). 117, 38 schreibt er machte
ze, dagegen 118, 22 machte zuo, die Hs. hat
beidemal zu. 133, 22 get im ze einem oren in,
zuo dem andern w^, wo H ebenfalls beidemal
zu hat. Dazwischen fällt ihm einmal seine Re-
gel ein und er schreibt zezzen 199, 19 (H zu
essen).
28, 3 wird mit H zimmern geschrieben, da-
gegen 63, 12. 13 in zimbern verändert, krümmen
und krumbe stehen friedlich beisammen 29, 1,
wo H beidemal mm hat ; krumbez 28, 31. alt-
stumben steht 49, 22, aber stummen 208, 26, wo-
neben wieder krumben 208, 27. Und endlich
erscheint, um noch etwas Abwechslung hinein-
zubringen, stimele mit einfachem m 229, 21. —
28» 16 wird die ganz richtige Dativform werlt
der Hs. in werlte verändert; ebenso 36,15 snuor
in snüere\ 50,18 misdsuht in miseUühte; 58, 1
jugent (so mit t in H) in fugende ; 58, 25 hoff art
der Hs. in höchverte, statt hochvart zu lassen;
62,34. 64, 9» 179,33 tugent in tugende; dagegen
Berthold v. Regeuaburg, heratugeg. ▼. Strobl. 163
68, 18 wird höchvart gelassen. 132, 30. 132, 12
wät in wade. Umgekehrt wird snür der Hs.
154,21, das also auf snüere deutet, in snuor
verändert — 28, 32 wird mit der Hs. waent
geschrieben, dagegen waenet 60, 35. 72, 4 gegen
die Hs. beUret 105,22.29, betört 81,5. 149, 15.
spricht 50,8. 52,30. sprichet 55,4. 60, 1. inert
92,20. teilt 95.16. 169,1. hoeret 110,28, hoert
110, 31, hoeret 111, 28. bringt 92, 12. Sogar
eine so unnatürliche Kürzung wie fleischs 60, 9.
28,39 wird f Hunde geschrieben im Flur., wo
die Hs. freunt hat, also auf den ganz richtigen
Plur. friunt führt. Das gleiche 101,33. 117,37.
159,3: während friunt beibehalten wird 129,32.
150, 34. Und 182, 9, wo die Hs. friund hat,
also auf friunde führt , wird friunt geschrieben.
— 29, 16 wird unnützelichen gesetzt, während
in derselben Zeile nützlichen stand: H bat
beidemal kein e. — 29,38 wird der ganz rich-
tige und im 13. Jahrh. übliche Dativ nieman
beibehalten, meist aber in niemanne verändert
(so 83, 23. 116, 11) und ebenso iemanne (101,
12), während 116, 34 ieman beibehalten ist.
niemannes statt niemans 199, 34. Sogar da, wo
H die Form niemen doch sieher aus seiner Vor-
lage herübernahm (gewöhnlieh setzt H niemant),
wie 182, 7. 211, 27, ist jenes niemanne einge-
führt. — 29, 39. 37, 1 steht anderstunt als ein
Wort geschrieben, was auch dem Gebrauehe
unserer Ausgaben entspricht; dagegen 184, 35
steht hundert stunt, wiewohl H zusammenschreibt,
und ebenso hundert stunt, fünf stunt, zehen stunt
166, 12. 13, gleichfalls gegen die Hs. — 30, 18
iezund, 33,25. 77, 24 iezunt, wird hier aus H
beibehalten, während in den Predigten aus a es
in iezuo verändert wurde. — 30, 19 etwan mit
der Hs., dagegen etewenne 30,36 etc., und im-
164 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
mer etelich. wo H etwenn, etlich. — 32, 23 wis
fro statt bis fro der Hb., in der gleichen Stelle
24, 6 wird bis beibehalten, ebenso 130,6. —
32, 27 al umbe und umb in, warum einmal umbe,
während H beidemal umb bat? umbe setzt der
Herausg. gewöhnlieh, aber umb steht 111, 22.
142, 25. — 33, 13 das adv. mite, wofttr H im-
mer mit setzt, wird bald in der einen, bald in
der andern Form geschrieben, mit beibehalten
41,22. 42,37. 46,33. 65,11. 66,6. 69,6. 106,6.
109,30, dagegen mite 33,13.22. 35,24. 54,21.
57, 24. 59, 21. 69, 4 etc. — 33, 14. 15 wir hän
hat H beidemal, der Herausgeber, den variatio
delectat, schreibt einmal hän, das andremal
haben. — 34, 36 ze sagenne gegen alle Hand-
schriften für das auch im Reime des 13. Jabrh.
belegte ze sagen. Dagegen mit den Hss. ze
geben 78, 29. ze reden 99, 10. 149, 27. ze sagen
188, 18. — 34, 36 zekte und im part erzeict.
H hat durchaus zaigt, erzaigt, was vielmehr anf
zeigte oder zeigete, erzeiget hinweist, und na-
mentlich erzeict im partic. war sicherlich nicht
die im 13. Jahrh. übliche Aussprache. Zur Ab-
wechslung steht nun auch erzeiget 45, 11. 96,2.
168, 6. 213, 26, an erster und letzterer Stelle
hat auch H erzaiget, ein Beweis, daß so und
nicht erzeict die Vorlage hatte. Auch im prät.
setzt der Herausg. einmal erzeigete 229, 37. —
35, 30 Uoster plnr., dagegen drei Zeilen nachher
Moestern. H bezeichnet beidemal den Umlaut.
Nach der Bemerkung zu 1,7 sollte man auch
hier Gonsequenz erwarten. — 38,2 an toetüche
sünde, die gekürzte Form der Präp. aus H bei-
behalten, ebenso 38, 30. 57, 12. 20. 62, 17. 66, 12.
20. 115, 24, dagegen meist in one verändert,
vgl. 42,6. 53,1. 55,33.34. 66,19. 74,24. 133,
25 etc. — 38, 20 cUsamt hier geschrieben wie
Berthold v. Regensburg, herauageg. v. Strobl. 155
die Hs. bat, dagegen allesamt 45, 16. 46, 2. 3.
68. 9. 81, 9. 83, 16, und wiederum getrennt edle
samt 69,17. 71, 31. 72, 16. 81,15 etc. — 38,24
dm statt dann der Hs. Man könnte nach die*
ser und andern Stellen denken, der Heransg.
setze dan vor folgendem Vocal e, wiewohl diese
Unterscheidung ganz willkürlich wäre. Aber er
setzt dan anch vor Gonsonanten (vgl. 39, 1. 4.
35.41,12. 42,4. 47,22.36. 67,2. 84,22. 91,6),
häufig jedoch danne 40, 6. 46, 5. 25. 50, 39. 55,
9 etc. — 41, 30 hande in aller hande, maniger
hande schreibt H meist hand, seltener hant. Der
Herausg. wechselt zwischen hant und hande,
während letzteres der Sprache des 13. Jahrh.
entspricht. Aach in den Predigten ans a hant
(2,7), in denen ausHÄatwfe 41,30. 49,1. 60,4.
65.10. 70,12 etc., dagegen hant 45.32. 110, 8.
9.12. 127,12.13, und nicht etwa in Ueberein-
stimmung mit der Hs., sondern ganz willkürlich.
— 42, 25 magätuam, ebenso 42, 39. 43, 1. 100,
20.21; dagegen magetuom 69,9. 141,8. Die
Hs. hat zn dieser Ungleichheit nicht veranlaßt,
sie hat überall magtum. — 43, 7 lüterre Hhte,
H hat lauter ; ebenso 53, 12. 72, 34. Dagegen
mit lüter bikte 65, 5. unserre frouwen 48, 36.
39, wo H unser, dem Sprachgebrauche des 13.
Jahrh. ganz entsprechend; dagegen unser frou-
wen 79,37. 39. cmderre wise 199, 35, H ander
ganz richtig. — 46,2 ist lernen von H in Uren
verwandelt, ebenso 58, 28. 59, 12. 70, 24. 74, 22.
77,28.31. 195,12.13; dagegen 25,3 ist es bei-
behalten. — 46, 36. 48, 3 ist in pläter das p ans
H beibehalten, das in allen andern Fällen be-
seitigt wurde. — 49, 38 wird hohesten geschrie-
ben, ebenso 50,1. 76,26. 197,1. 212,39, da-
gegen hoehesten 139,29, nnd endlich anch hoeh-
ste Üb, 10. 150,25. 165,31. 213,38, — 52,6
166 Gott. gel. Ana. 1881. Stück 5. 6.
ab in gekürzter Form aus H beibehalten, ebenso
110,27. 179,39, dagegen in abe verwandelt 62,
22. 77, 10. 81, 20. 120, 1 etc. — 54, 10 raetet
gesehrieben, wo H ratet hat, ebenso 54, 14. 18*
57, 2. 18. 37. 59, 25, dagegen 56, 37 wird ratet
beibehalten. — 56, 18 ieclich wird in dreifacher
Weise geschrieben, während H nur eine Form
hat: ieclich 56,18. 63,29. 79,8. ieglkh am häu-
figsten, so 66,17. 76,11. 78,17. 83,18. 84,9.
102,25. 117,6. 151, 14. Endlich tegeUch 99, 9.
100, 33. — 60, 12 manic säe im acc, ebenso
60, 26. 61, 30. 110, 6. 16. 182, 17. 183, 4, dagegen
manige60,3. 72, 12. 129, 19 etc. H hat in beiden
Fällen manig. Auch im nom. wird Wechsel be-
liebt : manigiu sele 133, 9, dagegen manic sele auf
derselben Seite 34- — 60, 30 wird statt slayr der
Hs. sieiger geschrieben, 119, 14 steht mit derHs.
slew. — 69, 30 steht bedahter, wo H bedachter
hat, ebenso 77, lb-bedaht; dagegen wird 168, 20
bedacten, 186,4 bedact in Uebereinstimmung mit
H geschrieben. — 72, 31 wird unde gegen H
gesetzt, sonst und, vgl. die Bemerkung auf S.
282 über Pfeiffer! — 81,3 wird Pauls in Patt-
lus verändert, ebenso 81, 8. 139,18. 140,6. 185,
2; in den Predigten aus a war es beibehalten
(1, 2); und auch ein paarmal in denen aus H
{154, 1. 18. 188, 31). — 85, 32 wird zouberae-
rinne geschrieben, dagegen 90, 16 zoubrerinne\
99,32 marteraere, 103,17 bthtigaere, aber sonst
marterer 159, 18, trügener etc. — 85, 15 würze-
lin, 86, 20 umraelin, 89, 29. 91,27 wurzdin, H
-bat ü. — 88, 19 naktegaln, wo H nahtegaüen,
während 88, 21 nahtegale geschrieben wird. —
90, 10 fürhtestü, wird ü gegen die Hs. hinzuge-
fügt; in den gleichen Fällen 91,3. 110,30. 133,
9. 188, 20 geschieht es nicht. - - 90, 35. 38 wird
sust der Hs. in sus verwandelt, das sonst (auch
Berthold v. Regensburg, herausgeg. v. Strobl. 157
in den Predigten ans a) beibehalten wird. —
99,9 wird ambetes geschrieben, dagegen ampt
27, 22, und atnte 36, 6, die Hs. bat nur eine
Form ampt. — 100, 21 witwe bier beibehalten,
sonst immer in ivüewe geändert. — 101,38 gel-
ben, hier das jüngere b bewahrt, in gelwem 119,
14, gelwen 158, 3 mit Recht in w verändert. —
104, 6 drier leie richtig in zwei Worten, 104, 7
drierleie geschrieben. — 104, 12 fröer, ebenso
107, 16. 146, 20, dagegen froeer 147, 39. 149, 34
etc. — 108, 28 sibener leie gegen siben l. der
Hs., dagegen vier leie 157, 17. 218, 3, vieriexe
157, 19 (hier zur Abwechslung zusammen ge-
schrieben), vier hande 218, 2. 4, fünf leie 199»
43 ohne Flexion, des Zahlworts. — 109, 1 wird
als der Hs* in alse verändert, ebenso 109, 2«
119, 10. 121, 22. 141, 3, in den meisten Fällen
aber als gelassen (vgl. 109, 6. 21. 110, 5 etc») -*-*
117,8 steht künste, 117,5 kunst, H hat beidemal
letztere Form. Vgl. 117,32. — 122,18 heimlieh
= H, dagegen 121, 36 etc. heimdieh. — 139, 36
hin ze einer frowwen, H hat hintz ainer; der
Herausg. schafft hier, im Widersprach zu dem
auf S. 281 bemerkten, einen Hiatus. — Das
gleiche that er 142, 22. — In andern Fällen be-
hält er hintz bei: 145,5. 146,22. 161,28.- 147,
11 ungewerlichestiu, dagegen in der folgenden
Zeile scheddichstiu. ~- 150, 17 das unreht guot,
ebenso 150,29, dagegen daz unrehte guot 150, 31.
■— 152, 33 da mite tuostü gote Hep> dagegen
153,6.11 liebe. H hat überall lieb. — 160,10
in aller fture wirste, dagegen 152, 5 vor aüer
Sünden unreinester, H bat beidemal gleichmäßig
unrainsti wirst. — 216, 28 im selben zwelften
(H. selb zwdften), dagegen 217, 11, wo H ebenso
hat, selpzwelften. Vgl. 218,26. 220, 14.
Was wollen gegenüber solcher Grundsatz-
158 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 5.6.
losigkeit die nach einem festen Princip aus-
sehenden Phrasen auf S. 281 besagen? Aber
wären damit nur die Mängel von Strobls Text-
behandlung erschöpft! Was ich bis jetzt ange-
führt, ist gering und unbedeutend in Vergleich
mit dem was ich weiter zu erwähnen habe. Gar
nicht erkannt hat der Herausg. eine fehlerhafte
Eigenthümlichkeit der Hs. H, die D in den
meisten Fällen meidet. Der Schreiber von H
sprang, was den mittelalterlichen Schreibern wie
den modernen so leicht passiert*), von einem
Worte auf das gleiche etwas später folgende,
und ließ die dazwischen liegenden Worte in
Folge davon aus, ein Fehler also, den, freilich
viel seltener, auch A begeht. Mitunter hat der
Schreiber von H den begangenen Fehler noch
bemerkt und durch Ausstreichen corrigiert. So
schrieb er 28,27 zuerst an deine kauff (= 28),
durchstrich dann deine kauff und fuhr richtig
fort deinem hantwerck. 39,39 folgt in H auf
muost : gentdichen gelten vnd wider geben (40, 3),
welchen Worten auch ein muost vorhergeht, die
er dann also ausstrich und mit 41, 1 fortfuhr.
40,33 steht sele die am Bande nachgetragen,
war also ursprünglich ausgelassen, indem der
Schreiber von die auf die sprang. 41, 20 nach
wege folgt (ausgestrichen) in die heiligen puß
(41,21), welchen Worten auch wege vorangeht.
42, 19 nach vier dmc folgt (durchstrichen) Das
ain ist (42,21), welchen auch vier dinc vorher-
geht. 43, 12 nach huoze folgt (durchstrichen)
der wildu (43, 13), auch hier geht buoze voraus.
44, 8 nach neven folgt (durchstrichen) nach geist-
*) Ein charakteristisches Beispiel liefert der Herausg.
selbst S. 203, 2, wo er einen ganzen Satztheil, von be-
hüteten auf behiieten springend, ausließ, den die Anm.
nachträgt.
Berthold v. Regensburg , herausgeg. v. Strobl. 159
lieher bedeutunge (44, 9), wo neven ebenfalls
vorher gebt. 51, 37 nach Harnstein steht (durch-
strichen) von dir bringen (52, 2), weil beidemal
hamstern vorhergeht 55,25 nach in der selben
folgt (durchstrichen) lag ainer\ hier sprang der
Schreiber zuerst fehlerhaft zurück, auf 55,22,
wo auch in der selben vorausgeht. 76, 32 nach
diu steht (durchstrichen) schonst ist (33, auch nach
diu). 91, 4 da von, was S. in den Text auf-
nimmt, ist durchstrichen, offenbar war der
Schreiber auf 91,5 gesprungen, wo auf brinnen
da von folgt. Ob D wirklich da von 91, 4 hat,
ist mir fraglich. 94, 14 steht nach geben, aus-
gestrichen, mit allen seinen liaüigen 94, 15; hier
ißt der Fehler nicht durch ein gleiches Wort
veranlaßt. 95, 15 folgt auf geben toil, durch*
strichen, und das-sel (95, 14 f.), was auch auf
geben wü folgt; hier sprang der Schreiber zu*
rück. An allen diesen Stellen schweigen die
Lesarten bei Strobl, während doch für die Be*
nrtheilung der Hs. dergleichen wichtig genug
ist. An mehreren Stellen hat nun auch S. nicht
umhin gekonnt, Lücken in H anzuerkennen, wo
die Sache eben zu augenfällig war. So 28, 13,
wo H von namen auf namen sprang; 30, 16, von
Ithet auf liket; 35, 13, von heüikeit auf heiWeeit;
37, 1 von alten e auf alten e, wo sogar eine
zweite Hs. (E) denselben Fehler theilt, ohne daft
man anzunehmen nöthig hätte, daß ihre Vorlage
ihn schon gehabt. Der gleiche Fall 83, 26 Ueber-
springen von als auf als, wo D den Fehler mit
H theilt. 93,2 von ist auf ist. 97,16 von
Her Josue auf Her Jörne. 128, 2 von unschtddic
auf sehüldic. 153, 7 von tuon auf tuon. In den
weitaus meisten Fällen aber ist der Herausg.
mechanisch und gedankenlos H gefolgt, ohne
jene Eigentümlichkeit der Hs. zu beachten,
160 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
und an einer Anzahl von Stellen ist wahrschein-
lich erat ihm beim Herrichten des Druck-Ms.
der gleiche Fehler begegnet, und er bürdet ihn
ganz irrig H auf. Weites sich hier nm wesent-
liche Ergänzungen und Berichtigungen der Aus-
gabe handelt, müssen wir diese Stellen der Reibe
nach besprechen.
24, 14 liest S. uns hat unser herre gar vü
buoch (1. buoclie) gegeben. D hat darauf die in
H fehlenden Worte: die wir nutzen und gute
dinch lern und er hat uns sunderleich zwey
groze puch geben. Es ist ersichtlich, daß H hier
ebenso wie an den oben besprochenen Stellen
von buoche gegeben auf das folgende buoch ge-
geben übersprang. S. folgt gleichwohl nicht D,
sondern KM, die statt der Worte in D nur
haben und sunderlichen zwei gröziu buoch.
Aber diese Lesart erklärt den Fehler in H
nicht, sondern nur die in D; EM haben hier
wie so oft den Ausdruck verkürzt und zu-
sammengezogen. — 36, 10 ir mäezet e durch
ein tuoch, daz hanget vor der innern heilikeit, komm.
Wer irgend mhd. Satzbau versteht, wird dies
nachhinkende komm, das an pedantische nbd.
Satzordnung mahnt, für unmöglich erklären. Nun
folgen, wie S. angiebt, auf heüikeit die Worte
daz tuoch. bezeichmt den tot, da müge wir alle
durch in DEHm. Und in D allein folgt
noch gen, e wir zuo der innern heüikeit und
dann komm. Es wäre also klar, daß H der
Text von D vorlag, und der Schreiber von
H von heüikeit auf heüikeit sprang. Aber
nein! der alte Schreiber ist hier unschuldig,
erst der moderne Herausg. hat die Worte,
die in H gar nicht fehlen, weggelas-
sen! — 52, 29 folgt auf geben in D K M ein
Satz von zwei Druckzeilen, der wie jener mit
Berthold v. Regensburg, herausgeg. v. Strobl. 161
gelten und wider geben schloß, und den H offen*
bar wegen dieses gleichen Schlusses tibersprang.
— 54, 24 folgt auf wir uns vor m Meten in D
(in E M fehlt der ganze Passus) ein Satz von
zwei Zeilen, der ebenfalls mit wir uns vor in
hüden schloß. Also auch hier hat H offenbar
übersprungen. — 61, 15 folgt auf sande in D
(in K M fehlt die ganze Stelle) ein Satz, der
mit sande ebenfalls schließt und deswegen von
H übersprungen wurde*). — 63, 19 folgt auf
gdouben in D (KM sind wieder gekürzt) ein
Satz, der ebenfalls mit gelouben schließt Dazu
vergleiche man die Anmerkung des Herausg.,
der um H zu retten, gegen D H den Text än-
dert, H eine 'verläßliche Hs.' nennt, und auf
63, 15 verweist, ohne zu bemerken, daß auch
dort dem Schreiber von H der gleiche Auslas-
songsfebler begegnet ist. — 68, 23 der ander
morder, DM der ander morder ist ouch ein übel
morder ; H sprang von morder auf morder. —
76, 3, wo der Herausg. eine Lücke annimmt,
macht er die Anmerkung 'Die in der Us. nicht
bezeichnete Lücke ist in D folgendermaßen aus-
gefällt ... in M ... / Dabei sieht er nicht,
daß die 'Lückenausfüllung' mit an dem jungesten
anfängt und die Worte nach der Lücke eben-
falls mit an dem jungesten, daß also H hier of-
fenbar von einem gleichen Ausdruck auf den
andern tibersprang. — 77, 35 folgt auf in den
winkeln und m den vinslern löchern in D (M
ist hier lückenhaft) ein Satz, der schließt mit
in den wincheln und in den vinstern wincheln
(so D fehlerhaft für löchern). Also auch hier
der gleiche Fall. — 81, 17 folgt auf übel wären
*) 59, 29 wird in den Lesarten angegeben, daß
n—vorhU in H fehlt. Dies ist keineswegs der Fall;
den Herausg. hat das vorhergehende vorhte irre geführt.
11
162 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
in D die füren in die pittern helle (= M) und
miezzen nu ymmer (und die m. M); der Schrei-
ber von H sprang von einem die auf das vor
müezen; es sind also die Worte die — helle ein-
zuschieben, und und die müezen fortzufahren. —
87, 24 mit einigem tropfen wazzers} und der Les-
art 'hierauf da ist sein immer genuch an.7 Aber
H liest (= D M) mit ainem tropfen wassers
(== D M), do ist sein ymmer genug mit. ainiger
tropfen wassers (= D) der u. s. w. Auch hier
hat erst der Herausg. den Fehler verschuldet,
— 89, 14 folgen auf sol in D M die Worte und
als oft si der mensch enpfahet; sie fehlen in H,
indem der Schreiber von als ofte auf als ofte
sprang. — 92, 5 nach mit rehte ein langer Satz
in D, der mit mit rehte schließt, was H um so
leichter übersehn konnte, als auch ein ganz ähn-
liches Wort (besliezent — sliezent) folgte. Und
daß wirklich H hier ausgelassen hat, ist aus
dem fehlerhaften besliezent in H ersichtlich, das
erst durch den Text in D erklärlich wird. —
94, 4 mit sinen heiligen H, mit sinen heiligen
engein und mit sinen heiligen D (ähnlich M);
auch hier ist das Uebersehen klar. — 94, 15
nach am jungesten tage von himele in D mit dem
almehtigen gote, wan der Jcumt an dem jungesten
(tage) von himele (ähnlich, aber gekürzt M). In
H ist die Beziehung von sinen unklar, die Aus-
lassung aber klar; vgl. 95,5. — 98,9 vor wan
in D M ein mit wan beginnender Satz; dieser
gleiche Satzanfang verschuldete die Auslassung
in H. — 100, 2 die Worte nach schar, welche S.
als in D M stehend bei den Lesarten anführt,
fehlen keineswegs in H! Auch die An-
gabe der Lesarten, daß zweier— sint in H fehle,
ist falsch; der Herausg. sprang seinerseits
von sint auf das nächste sint. — 114,5 ist nach
Berthold v. Regensburg, heratugeg. v. Strobl. 163
DM in H wahrscheinlich auch eine durch lieber-
springen von ein auf ein veranlaßte Lücke an-
zunehmen. — 114, 13 nach guot eine Lücke, in
D folgt ein Satz, der wahrscheinlich statt mit
wise, mit guot in der Vorlage von H schloß, was
den Ausfäll erklärt. — 117,20 nach gewandein
D M ein Passus, der gleichfalls mit gewande
schließt und deswegen ausfiel. — 122,8 nach
Idbendes wazzer oder tötez in D M ein ebenfalls
mit diesen Worten schließender Satz. — 131, 34
die aus D in der Anm. angeführten Worte f e h-
len keineswegs in H, sondern sind erst
vomHrg. im Texte weggelassen. — 146,11
nach freuden in D ein ebenfalls mit freuden
schließender Satz. DerHerausg. bemerkt hierzu
'Ausfall dieser Worte in H durch Ueberspringen
des Auges vom ersten freuden zum zweiten ist
nicht nothwendigerweise anzunehmen.' Not-
wendig nicht, aber für jeden, der meine Dar-
legung bis hierher verfolgt hat, in höchstem
Grade wahrscheinlich. — 146, 37 nach und aller
Sünden wirste in D, ein Satz, der mit und aller
sunden tcierst schließt. — 146, 38 geben die
Lesarten an, daß sündent in H fehle, und daß
auf sündent in D M ein ganzer Satz folge.
Aber weder jene Angabe, daß sündent in H
fehle, noch die, daß dieser Satz fehle, ist richtig:
H stimmt ganz mit DM überein und liest
sündent Nu secht ob ir der ye haine gesecht und
welches sint nu die sund aller offenMchst vnd an
vnterloß. Der Hrg. sprang von Nu seht auf
den nächsten ebenso beginnenden Satz! — 147, 17
nach äaz ein mensche der Sünden eine tuot in D
ein gleichfalls mit diesen Worten schließender
Satz (M ist hier lückenhaft). — 149, 19 nach
Mnt folgt in DM und kindes hint\ sicherlich
sprang auch hier der Schreiber von hint auf
11*
164 Gott. gel. Anz. 1881. Stock 5.6.
ki$it. — 166, 8 nach kindes, wie S. angiebt, in
D ein Passus, der ebenfalls mit Jcindes schließt.
Dazu macht der Hrg. die Anm. 'Wenn man
auch einen Ausfall dieser Stelle in H dadurch
rechtfertigen (den Ausfall rechtfertigen ?) könnte,
(daß der Schreiber vom ersten ckindcs zum zwei-
ten sprang, so kann die Lesart in H doch be-
stehen und wird durch die nicht aUzuhäufige
Verwendung von müezen in der Bedeutung con-
üngit zur Aendernng Anlaß gegeben haben.'
Aber in H ist nichts ausgefallen, sonder»
erst in der Ausgabe; H stimmt wörtlich mit
D! — 169,9 nach da in D (M) ein langer Satz.
Die H vorliegende Fassung schloß offenbar mit
mstd martert sie dd, welche Worte auch der Lücke
vorhergehen, — 192,31 nach uf in D M ein
Satz, dessen betreffender Theil ebenfalls mit uf
schließt. — 1.95, 37 nach beste in D M ein Satz,
welcher mit bestem schließt. — 196, 3 o»ch
dingen in D ein Satz, der mit dingen schließt.
Daß bier in M derselbe Satz fehlt, kann nichts
gegen D beweisen; denn wir sahen früher, 4»ß
mehrfach in zwei Handschriften dieselben Auk-
«lassungen begegnen (37,1. 83,26).
Es wird doch niemand es für einen Zufall
erklären können, daß an allen diesen Stellen
der in H ausgelassene Satz oder Satztheil mit
demselben Worte schließt, welches vor der Lücke
steht, oder den ' Interpolatoren ' die Schlauheit
zutrauen, sie hätten es gerade so eingerichtet,
daß immer das gleiche Wort am Schluß ihrer
Interpolation vorkam.
Wenn hier an mehreren Stellen sich zeigte,
daß die Lücken erst durch den Herausg. ver-
schuldet worden, so zeigt sich weiter, daß über-
haupt seine Angaben der Lesungen in H sehr
liederlich sind. Ich will nur von der ersten der
Berthold v. Regensburg, herausgeg. y. Strobl. 166
in H. enthaltenen Predigten die Fehler verzeich-
nen; im übrigen- aber mich auf eise Auswahl
von Stellen beschränken. 24, 4 hat EL kunnenl,
nicht künnety und dieser Fehler begegnet wohl
hundertmal. 25, 4 sdber H. ; wenn das 24, 27
angegeben wunde, mußte es auch hier geschehen
oder eine allgemeine Bemerkung über die Schrei«
bnng des Wortes folgen. 25, 8 erde> also so,
nicht erden zu schreiben (auch D bat erd). 25,
34 was ist, was S. nicht bemerkt, durchstrichen.
2% 11 ewrem H, der saug, ganz rieb tig. 26,17.
auch H hat das (*» D), aber s wurde dann ge-
tilgt 26,21 allew H<, kann richtig sein; bei
den Lesarten nicht angegeben. 26, 35 male]
tml <ms$m H» 26,38 #em, nicht zuo dem, und
ganz richtig H. 27, 12 selben H, ganz richtig.
27, 12 hat H willen statt villen. 27, 13 hat H
unde. 27,15 H geLider , wie also zu* schreiben,
S gUder. 27>33 H suüe wiry und so. zu schrei-
ben. 27,38 haben H ganz richtig, nach alle die
steht der Conj- 28y 15 iedes statt jenes liest H ;
ob auch D, oder ist D Druckfehler flir H? 28,
16 iu] es (nicht ea) H, aber s scheint gebessert.
28,29 grymmigen H. 28, 30 der, in D fehlend,
ist in H zwischengesebrieben» 28,31 eines B,
kann richtig sein {eüned). 29^1 dajs fehlt H,
wodurch eirstt die Lesart krummen: verständ-
lich wird. 29, 2 H röi«Ä. 29, 4 arw^n Jewtew
allerdings B , aber in orwer tewte gebessert
(= DKM), und armer Hute w&rt sprechen
ist natürlich m schreiben. 29, 17 dami ia
H ist ia das richtige ami (am) gebessert. 29,
18 mynnsten H, die schwache Form auch in E
und gauzt «iehtig. 2% 27 nicht (» D) hat auch
H ! 29, 28 alle, nicht aller H, also wohl al der
erde, 29, 37 zpilman H, gana richtig. 30, 37
yeb mid, willen (nicht gab umbw.) B. 31,5 efes]
166 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 6. 6.
das H, wodurch erst die Lesart an nidm, die
anzweifelhaft die richtige ist (S. nlden) verständ-
lich wird. 31) 17 dir fehlt in H beim Zeilen-
schluß, was nicht bemerkt ist (er | deinen). 31,
22 H eher dem als dein. 31, 25 iemer fehlt H,
nicht E! 31, 31 diu fehlt H, beim Zeilenschluß
(alle | werlt). 32, 12 betwingen mag H, nicht
mac betwingen (wie die andern?) 32, 14 male
steht gar nicht in H und ist, auch wenn die
andern Hss. es hätten, zu streichen. 32, 31
alle, nicht allen, H. Ich denke, das sind für
neun Seiten genug Fehler und Ungenauigkeiten
einer Hs. gegenüber, die ein Herausg. als Grund-
lage seines Textes ansieht.
33, 14 wan bis 15 haben fehlt keineswegs in
H. — 34, 18 triuget, nicht Wiege, H, und es ist
nicht der geringste Grund triege zu schreiben.
— 34, 27 im, nicht in, H, und im ist richtig, in
vielleicht nur Druckfehler. — 36,29 soll einen
in H fehlen. Keineswegs; es steht, nur mit an-
derer Wortstellung, nach engit. — • 37, 14 doch
H, nicht iedoch, und also doch zu lesen. — 37,
37 noch sie H, nicht noch; die Worte stehen in
H allein. — 39, 2 sott, nicht wilt, H, das diese
Worte allein enthält, zer une hat keine Hs.,
sondern H, übereinstimmend mit den andern,
zu une, ze also ist zu lesen. — 40, 15 nicht ge-
linet hat H, sondern geluiet, es ist also glüejet
zu schreiben. — 40,34 sie ez hat auch H (=
DK Mm) und so ist also zu schreiben. — 41,
6 nymmer H, das allein diese Worte enthält. — •
42, 15 die Worte und — gewaltic (welches und ist
gemeint?) sollen in H fehlen. Keineswegs;
sondern es heißt, und zwar übereinstimmend mit
D, und also nutz und also gewaltig ist die puß
vor got: so ist mithin zu lesen. — 42, 17 dem,
das in DK Mm fehlt, istinH an den Rand ge-
Berthold v. Regensburg, herausgeg. t. Strobl. 167
schrieben, also sicher* Zusatz und zu streichen.
- 42, 21 der, das in D K M m fehlt, fehlt ancb
in H, und mit Recht; vgl. 42, 17. - 44, 12 er
oil als Lesart von H angegeben, aber er ist in
et gebessert, und eht alle ist zn schreiben. —
44, 19 weissagen hat H, und dies ist die rich-
tige Lesart (vgl. D), denn bekanntlich wird rahd.
sich an nemen mit acc. constrniert. — 45,35
lenger H, aber das e ans a gebessert, und ohne
Frage langer zu schreiben. — 47, 12 deinen (=
D) hat H und vielleicht richtig. — 49, 39 Avi-
cenna (= D) hat auch H, und so ist zu schrei-
ben. — 50, 14 H hat verlernen in verhernen ge-
bessert; es ist also mitD verhören zu schreiben.
— 51, 7 ander (= D) hat auch H, und ganz
richtig. — 51, 8 beginge H, also couj., der hier
ganz richtig ist. — 52, 17 wollen H, also conj.,
und ganz richtig. — 52, 23 nicht die, sondern
der, liest H, und daraus ergiebt sich die Besse-
rung Wir (H setzt hier großes W, S. fälsch-
lich nach niht einen Punkt) gehen in gurten
tröst oder niht, so Jcunnen wirs der selben ereenie
nimmer genoeten. — 53, 3 die fehlt H, das diese
Worte allein hat. — 55,9 ee (= D) hat auch
H und so ist daher zu schreiben. — 55, 32 sie,
das in DEM fehlt, fehlt auch in H und ist zu
streichen. — 56? 6 hettens (= D) H, und so ist
zn schreiben. — 59, 3 haüig H (vgl. heiig D),
also ein heilie man, nicht ein heilige man, was
dein Sprachgebrauch zuwider. — 61,5 ouch vor
iuwer nicht nur in D, sondern auch H, also den
beiden einzigen Hss. — 62,21 en laut, soll H
lesen; es steht aber er laut (D er log), es ist
ersichtlich, daß H in seiner Vorlage er louc
hatte; laut ist einfach Schreibfehler und Strobls
Conjectur in laet ist zu verwerfen. Statt dot er
ist wan er zu schreiben. — 61, 26 beachten»
168 Gott. gel. Aiiz. 1881. Stück 5. 6.
werth igt, daß in H niht den Zeilenschluß bil-
det, und danach ist der Ausfall eines Wortes
(engen D) nicht unwahrscheinlich. — 62, 39 ne-
men, nicht nernent, H, und da D namen hat, so
ist unzweifelhaft naemen die richtige Lesart. —
63,9 rehf hat H, d. h. rekter , und dies ist die
richtige Lesart. - 65, 12 iuch doch H, und so
ist daher zu lesen. -- 65, 22 tier] H hat diedi,
was in viech geändert scheint; also vihe zu lesen.
— 65, 24 mir einen menschen S., aber H liest
mir amen menschen, was offenbar Schreibfehler
für armen ist. — 66,8 dar umb nicht liest auch
H, und so ist mithin zu lesen. — 67,6 gesagen
mag (= D) liest auch H , Strobls Angabe ist
ganz unrichtig. — 68, 17 dller vor meiste (==
D M) steht auch in H, demnach so zu schreiben.
— 68,18 mackentz ett H, und so ist daher zu
lesen. — 68, 19 nichts nickt H, keineswegs nifrf,
niht ; ein nihtes niht, niur ein tuocklach muß ge-
lesen werden. — 69,31 vor pfamder steht in H
aine\ es ist also zu schreiben unrektm vogetie,
emiu pfander. — 69, 37 daz merre steht in
keiner Hs. und eine Lesart wird gar nicht an-
gegeben! H hat under allem leben teil, was
nicht anzufechten (vgl. D). — 70, 8 do , nicht
so bat H, es ist also da (= D) zu schreiben.
— 70, 20 Syfrider (^ MD) hat auchH, keine
Siferder, wie S. schreibt. — 75, 32 nicht ge-
spüc, sondern gespül hat H, was also mit ge-
spot D übereinstimmt und richtig ist — 71, 1
auch H hat so, nicht da, demnach ist so zu
schreiben. — den, das in D M fehlt, ist in H
durch strichen, adso auch beiß, zu tilgen. — 71,
5 den fehlt auch H, und ist zu streichen. —
71,8 sich fehlt auch H, steht also in keiner Hs.!
— 71, 29 ist in H (= D) und ganz richtig. —
72, 3 kalben H, conj. ganz richtig. — 72, 24 alle
Berthold v. Regeusburg, herausgeg. v. Strobl. 169
die (= D) Host aucb H, und so ist zu schrei-
ben. — 72,32 stand H, nicht stend, 8. schreibt
stant: soll das ein conj. sein? 1. stände. — 72,
36 daz ir niemer mer gesundet hat keine Hs.,
sondern H das irs nymmer mer gcthut, womit D
weseutlieh übereinstimmt. — 74, 9 ist genant
(= D) liest auch H, und so zu schreiben. —
75, 10 ir ie (= D M) hat auch H, und so ist
zn schreiben. — 79, 4 toetlich sünde (= D; hat
auch H, und so ist zu lesen. — SO, 34 und stein
(= D) auch in H, daher in den Text einzu-
setzen. — 82, 7 kuin inensch H, also das neutr.,
und ganz richtig. — 82,9 an (= M) H, nicht
in, also an zu lesen. — 83, 6 kamen H, nicht
h&ment; es ist also kamen zu schreiben. — 87,
7 sie fehlt auch H; oder Druckfehler? — 83, 25
hat Strobls Text eine ganze Zeile in
H übersprungen: lies so getrüivet er nie-
man als wol dar zuo als im selben: sie rnohte ouch
nieman als wol gemeistert haben. -~ 85, 13 und]
wann D M, aber auch H hat so, wan ist daher
zu schreiben. — 85, 25 ainualt H, nicht einvdXr
tigezj und einvalt zu lesen ; vgl. 87, 23. — 86, 7
einer (= D M) hat auch H, nieht der} aber an
fehlt; lies daz ir im danne einer sele helfet
(vgl. 86, 13). — 87, 2 nickte hat auch H (= D).
— 87,39 Das H, Der hat keine Hs., daz ist zu
lesen. — 88,32 man] H liest noch man. — 88,
38 sie (= D), nicht die hat H, also sie zu le-
sen. — 91, 37 stock hat H; lies in stoc legen9
denn der sing, und Weglassung des Artikels
dabei ist das übliche. — 92,7 sie] die H, also
diu zu schreiben. 94, 23 sicher nicht bügrem,
soudern bügrein in H zu lesen, also bügervne
zu schreiben. — 95, 4 haben H (conj.) ganz
richtig ; vgl. 95, 2. — 96, 15 Ccwanes soll H le-
sen, vielmehr Canane9 mit dem bekannten Ab-
170 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
kttrzungszeichen für us, das dem Herausgeber
fremd scheint. — 100,4 haimrich H, und diese
Form ist daher zu setzen. Hielt sie der Heransg.
nur für einen Schreibfehler? — 100, 13 zweier
leie soll in H fehlen! H hat zwayer hant, und
zweier hande ist daher zu schreiben. — 100, 14
nach Ersten folgen die von S. ausgelasse-
nen Worte decs sint gaistlich lewt, die also in
den Text aufzunehmen sind (vgl. D !). — 100,
28 die hant H, ganz richtig. — 105, 38 etlich
H, nicht etelicher, so hat keine Hs. und diese
Lesart ist unsinnig. — 106, 29 genimet H, nicht
gewinnet, und jenes ganz richtig. — 108, 32 an
dem H, nicht an den, also an dem gründe zu
schreiben; vgl. D und 109, 12. — 108,35 pleir
her H für Mibe, vielleicht bWbe ir zu lesen (vgl.
109,6, wo H auch er für ir hat) vgl. 127,28.
— 111,22 H hat für das zweite umb — über,
und so ist daher zu lesen. — 114, 16 numiger
bischof H, und so zu schreiben. — 115, 9 schö-
nes H (=DM), also schoenez zu lesen. — 115,
10 muß H, also er müeze (= er enmüeze) zu
lesen. In derselben Zeile hat H nicht aim, viel-
mehr aun (= an). — 115,36 dem (= DM) hat
auch H. — 115, 38 so schiere H, und so ist zu
schreiben. — 118, 23 der (= M) hat auch H,
und so ist daher zu lesen. — 118,34 und für
swä hat auch H (= D) und ist ganz richtig. —
119, 28 diu ist wahrscheinlicher als din zu le-
sen (vgl. D). — 199,33 rechten, was als Lesart
von H angegeben wird, scheint in rotten gebes-
sert, röten ganz richtig, wie auf derselben Zeile
bluotigen. — 120, 33 ist unserm (= D) auch H,
und ganz richtig. — 121,5 nicht ist diu hatH,
sondern die ist, also der Artikel vor ketzerte
fehlt wie in DM. — 121, 29 soll H lepso lesen:
es steht aber leprosus, mit zwei jedem Philolo-
Berthold v. Regensburg, herausgeg. v. Strobl. 171
gen bekannten Abkürzungen, deren zweite auch
hier Hrn. Strobl unbekannt scheint (vgl. zu 96, 15).
- 121,35 an in stdt: H bat an ir stand: es
ist zu lesen an ir Übe stände (vgl. D). — 122,
27 soll H hainüichen lesen , wofür S. durch Con-
jectur verborgen setzt; aber H hat schamlichen
= D und so ist zu lesen. — 123, 14 H hat
ymmer, was ganz richtig ; S. setzt falsch niemer. —
124,19 volles H, lies vollem, die flectierte Form
ganz richtig, weil alterthümlich. — 127, 36 grir
fen H, ganz richtig. — 128, 9 und — dingen
»oll in H fehlen: vielmehr steht ein etc. dafür.
Auch 128, 23 steht nach rouben ein etc. — 129,
18 nicht m, sondern an hat H, und es ist zu
lesen und solt.e alles daz guot und alle die ire
äne sin ; vgl. D. — 130, 1 an muoten = D, und
so zu lesen. — 131, 22 lies ein also griulich,
denn so hat H. — 131, 33 gttiger = D hat H,
und ganz richtig. — 136, 5 gunne H, und ganz
richtig.
Die auf S. 137 beginnende Predigt ist allein
nach H gegeben; warum ist hier W nicht ver-
glichen? Aber auch H ist sehr liederlich be-
nutzt. Ich fähre auch hier nicht alles an.
140,6 hat H Pauls, was weder bemerkt noch
beibehalten ist. 147, 7 folgt nach fornicationem
noch two. 9. 140, 10 H absolon, die im 13. Jahrh.
gewöhnliche Form. 140, 23 vdhet fehlt, nicht
angegeben. 142, 14 lies diemüetic mit der Hs.
142, 15 mile fehlt, nicht angegeben. 142, 29 ist
fehlt, nicht bemerkt; besser wird es nach alt
ergänzt. 142, 34 laut, nicht land,- also lät zu
schreiben. 143, 1 kein] ain H, nicht angegeben.
143, 17 ez] ee H, nicht bemerkt. 143, 30 nach
rehte folgt noch geitigen. 143, 35 gerufen H,
also gerüefen zu lesen. 143, 36 eine Zeile
der Hs. übersprungen. Lies sie sint herter
172 Gott, geh Anz. 1861. Stock 5. 6.
dmine adamas, und ist doch niM so heries in
aller der weit so der aäumas. Ebenso sind 144, 3
eine Anzahl Worte übersprungen (von
von der auf von der) ; lies wir predigen von der
f reise diu ze helle ist; wir predigen von der
freude im himdriehe. 144, 13 wird bei den
Lesarten ausdrücklich versichert tasine so!'
Aber H hat asnine, es ist daher isnine zu schrei-
ben. — 144,28 nilii fehlt in H, und mit Recht.
145, 17 den zwei herrm H mit DM, und
richtig. — 148, 9 iuwerm H, ganz richtig. —
148*, 30 last hatte H, der Schreiber hat ea aber
in kost gebessert; auch nkht get, sondern got,
also = D M. Seine üble Conjectur hat der
Herausg. selbst fallen lassen. — 149,29 vor ge-
het steht ir (== D) in H, also aufzunehmen. —
149, 35 so sini sin sicher hat H, nicht sief also
ist zu schreiben so sint ir sin sicher (vgl. DM).
— 150, 24 1. iemer mer mit H. — 152, 30 des
(= D), nicht es, daher des zu lesen.
Die Predigt S. 154 — 164 wieder allein nach
H gegeben, ohne Vergleiehung vob W. 155, 34
fehlt das eine der zwei an, dagegen steht ein
an vor samt Pauls und ist dort einzufügen»
mourter fehlt in H. Aueh hat H nkht Neros,
sondern Nero, »lso in etiler Zeile vier Fehler!
155, 88 H hat das sprachlich richtige dm; die
vielleicht Druckfehler. — 156, 18 pleiben conj.
H, ganz richtig. — 156,25 in, nicht an bat iL
— 156, 28 1. zem himdrtehe mit H (zum). —
156, 30 1. ist körnen mit H. — 158, 11 hat H
r
martr, was doch nicht marier, wie schon der
Sinn lehren konnte, sondern martercr aufzulösen
ist. Die gleiche Abkürzung, ebenfalls falsch
aufgelöst in. dieser Zeile nochmals, und ebenso
158, 12. (158, 18. 159, 18 hat die Hs. falsch
Berthold v. Segensburg, heran sgeg. v. Strobl. 17a
matter statt warterer). 164, 2 (zweimal). 164,
& — 1587 23 iand H, also lant zu schreiben. —
158, 36 Aas H, nach des; iudi daß an fernen ist
die cowecte nahd. Ausdrucksweise. — 1 59, 13 nieht
rkw hat H, sondern rww. — 159,21 I. erbermde
(H erpermd); warum hier auf einmal erbarmede?
- 159, 30 da« zweite an fehlt. — 160, 3 so] ex
H, und so ist zu lesen. — 160, 15 sie nach daz
fehlt; wohl zu lesen da#s umb. — 160, 38 der
das steht zweimal in H, und ganz richtig. —
161, 2 seine hat H, kann also auch in sinem
aufgelöst werden. — 163, 17 I. mit H enhaben.
— 163, 36 nach sieh bei S. ausgefallen nickt,
also tu. lesen der wü sich niht.
165, 15 mensch, nicht mensdien, H, und men-'
sehe ganz richtig; vgl. DM. — 167, 38 seht
fehlt in H. — 169, 26 sein (= D) , ganz rich-
tig; 1. under sine junger (warum jünger? hat
doch noch H keinen Umlaut in dem Worte)* ~
170, 34 1. als groe mit H. — 171,38 hinnen,
nemen soll H haben, aber H hat (= D M) das
ganz richtige haimen. — 172, 2 denne die vor
fasten feMt in H am ZeiJenweehsel. — 172, 4
1. mit H die nur da (H do) so gröten schaden
tuont. — 172,13 statt iu hat H auch (vgl. D)
and ganz richtig. — 172j 18 tmenet] H hat, was
nicht angegeben, wend, und n in r gebessert,
also werd\ es ist also werde zu schreiben (vgl,
wirt DM). — 173, 10 H hat durch got. — 174,
1 H att (\. al) der w. — 176, 31 nicht deum
hat H, sondern dum, was, wie jeder Philologe
wissen sollte, dominum bedeutet. Derselbe Feh-
ler nochmals 193,17. — 178,1 wird eine Les-
art von H angeführt, die auf Auslassung
einer Zeile beruht! Es ist mit H zu lesen
(nach waere) : Daz waere gote so liep niht als so
im ein tugentfiaft mensche einen halben tac diente.
174 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
-r 178,24 er fehlt H (= D M), ist also zu
streichen. — 179, 9 dae daz D M ist offenbar
die richtige Lesart; H hat das am Zeilenschlaß
und in Folge dessen ein daz ausgelassen. —
179, 132 lebent H, in lobent geändert; lüejent
ist eine ganz unnütze Gonjectur. — 181, 7 hu-
ment] H hmie\ lies so Jcoeme iuwer frouwen gar
vil zuo dem himelriche (vgl. D M). — 182, 12
nicht in} sondern an hat H ganz richtig (= M).
— 185, 11 ganz falsch der Text von H ange-
geben. Lies mit H (ygl. D) so ist er in dem
nidern mit dem gewalt. Jfyir sehen in halt als
wol in dem nidern himelrichet in der kristenheü, als
in dem dbern. Der Herausg. hat wieder
etwas übersprungen! — 186,12 lies mit H
das grammatisch richtige do. — 186,29 Yspanien
hat auch H; warum diese Form aufgeben? —
188,28 nach ieglicher steht in H Comparari. —
189,8 der die die sünde tuotit H, ganz richtig,
ygl. 9. — 189, 22 nicht muoe hat H, sondern
must (= DM); es ist also zu lesen das du
MMOst oder besser müezest — 189, 34 nach e
folgt noch dö, was aufzunehmen. — 190, 37 lies
ir habent mit H (= DM). — 191, 34 lies
iht mit H. — 192, 15 vor so steht auch in H
wan (= D M), also aufzunehmen. — 192, 32
diu H, ganz richtig. — 192, 38 uwerm H, ist
ganz richtig. - 193, 16 lies auch got mit H.
— 193, 33 zechent H , also wohl mit D M zie-
hent zu schreiben. — 194, 18 die Lesart von
H falsch angegeben, H hat nur ist iuch, es ist
also zu schreiben ist iu witetven. — 195, 28
haim H, ganz richtig, warum das sprachwidrige
heime? Ebenso 209,10. - 198—200 nur in
H erhalten. 198, 6 ist fehlt H. 198, 20 lies mit
H daz ist also. 198, 22 lies mit H noch durch
lau noch durch keiner slahte dinc. 199, 16 H
erst, warum erstes? 199, 30 H so ain. 199,31
Berthold v. Regensburg, herausgeg. ?. StrobJ. 175
getan, H, ganz unnöthig getäniu. 199, 47 sernli-
chez] smechliches H. 200, 25 1. lernen mit H.
203, 22 der nach wwrf fehlt (= M) and ist
daher zu streichen. — 209, 2 lies mit H (vgl.
M) und tet do so. — 209, 15 spranc doch rehlt
H, nicht angegeben. — 209, 28 die H, also offen-
bar Versnob, die in din zu bessern, and um
oder dine ist zu lesen. — 210, 6 wieder eine
Zeile ausgefallen! lies nach siner grozen
erbermde, so kumt ir dannoch zuo der ewigen
Wirtschaft Wie gedankenlos hat hier der Her-
aasgeber gearbeitet!
211 — 220 nur nach H, W ist nicht verglichen.
Gleich auf der ersten Seite mehrere Zeilen
übersprungen! Lies 211,10 und in der cd"
ten e da stet also und die guoten sint also wcl
gesegent mit drizic segen; also sint die reihten
und die guoten gesegent in der alten e und in
der niuwen e. — 2117lb und dem H, kann rich-
tig sein; vgl. 213, 1. — 212,28 ander H, ganz
richtig. — 213, 7 Ion fehlt H. — 213, 8 des
fehlt H. — 213, 15 nicht suit, sondern das ganz
richtige sint bat H. — 213, 29 sie fehlt H. —
213,32 H prinnet. — 214,2 haben in halten ge-
bessert H, ganz richtig. — 214,21 des fehlt H.
- 214,23 noch, nicht doch, liest H! — 215, 6
werden H. - 215, 20 sie] sich H. - 216, 2
prine (nicht prime) mit Strich darüber hat H
hier und 207, 34. — 216, 3 1. Ärriani mit H. —
216, 15 mnni populo IT, und so fast durchgängig.
— 216,29 liminos] H hat cnnos, was offenbar
terndnos aufzulösen ist! Jenes liminos ein hüb-
scher Beweis sprachlicher und paläographischer
Kenntnisse! — 217,13 1. dicü initH.— 217,36
lies ze helle mitH. — 218,12 durch Uebersprin-
gen von doch auf doch ein Stück Text aus-
gefallen, lies so toil ich doch darvon sagen,
176 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
*
toan ist ir hie niht, en gotes namen^ so tum ich
doch als der etc. — 219,4 dem fehlt H. — 219,
36 verratent H und menige, wahrscheinlich ir
vcrrätent wenigem menschen. — 220, 20, was
wie gern aussieht, ist ein angefangenes geiuot,
das dann ausgestrichen wurde. Also gerne ist
zu tilgen. — 220, 32 Idbende fluoch] lebens
flaisch H.
Wenn hier an einer Menge von Stellen die
Lesungen des Herausg. als falsch und höchst
gewissenlos sich ergehen, so hat er an andern
Stellen ganz unnöthige Aenderungen sich er*
laubt. So ist 25, 7 und ganz unntftbig gestri-
chen, — 25, 1 8 eins toten houbet statt ein töten
hoxibet (in H ist nicht am, sondern ain zu lesen),
vgl. 70,39. 99,11. 147,26. — 25,34 eine ganz
verfehlte Conjectur; lies mit D daz geschaeh im
aUea Mute. — 27, 37 üebent, wie alle Hss. ha-
ben, ist ganz richtig. — 28, 18 ir herren, ir
ritter H (vgl. D) ist nicht anzutasten. — 28, 28
warum einem in ein verwandelt? — 33, 8 die
ganz unglückliche Aenderung, an welche dann
in der Anm. weitere Folgerungen gebaut wer-
den, ist schon in der Rec. im Liter. Central-
blatte nach Verdienst gewürdigt worden. — 35,
20 c&hinMnäcr, wie HKoi haben (vgl. auch
DM) scheint der Herausg. für eine Art Ditto-
graphie gebalten zu haben; er kennt also offen-
bar die ganz geläufige Zusammensetzung hin-
hinder nicht. — 35,30 da, das in HD fehlt, igt
Egmz tiberflüssig und zu streichen. — 42,31 die
esart von D H ist beizubehalten. — 48, 5 ein
iUeliu pläter; warum iibeliu? H übel, und so
ist häufig unnötbig nach ein die stark flectierte
Form statt der unflectierten gesetzt. — 49, 6
die Ergänzung niht gehelfen ist kaum notwen-
dig ; vgl. 61, 26 und die Anm. zu 64, 33. —
Bertbold v. Regensburg, herausgeg. v. Strobl. 177
88, 21 hat zu ergänzen ist überflüssig. — 98, 21
änvalt ist nicht zu streichen; ebenso wenig 99,
22 und alle, was übrigens bei den Lesarten fehlt.
- 107,23 die Ergänzung ist nicht nöthig. —
108,7 selben H kann ganz richtig sein; auch
108, 11 setzt AI siben. — 110,20 von Aquilon
ist mit D zu schreiben; in H M ein einfacher
leicht erklärlicher Auslassungsfehler. — 117, 17
Entweder ist ganz richtig; vgl. 120, 35. — 118,
33 warum an dem statt der in H überlieferten
am9 das anderwärts beibehalten wird ? — 118,39
main H, warum den j>lur. meine? vgl. 36. —
119,26 in bei leien tvis ist nicht nöthig; der-
artige Ausdrücke stehn adv. im Accus.; in fehlt
Hss. — .132, 2 die Ueberlieferung ist ganz rich-
tig; nur muß man nach körne keinen Punkt
setzen. — 154,15 warum sie in die verändert?
Auch Lücken im Texte, die ja allerdings
nicht zu leugnen sind, werden vom Herausg.
viel häufiger als nöthig angenommen. Einmal
(zu 165, 22) hat er das selbst nachträglich er-
kannt. Aber auch 24,23. 53,6. 75,30. 76,10.
101, 4 sind Lücken nicht nothwendig anzu-
nehmen.
Die Interpunktion ist mehrfach falsch, vgl.
25, 23. 27, 27. 38, 22. 52, 23. 54, 6. 56, 21. 58,
18. 69, 20. 74, 5. 95, 21 (hier macht H ganz
richtig bei Seit eine Interpunktion, nicht bei so).
115,31. 119,12. 190,23 etc.
Fehler verschiedener Art notiere ich noch
an den folgenden Stellen. 26, 33 lies die da;
ebenso 30, 24 — 27, 14 1. venje vollen, worauf
die Lesarten weisen. — 27, 19 iu H (vgl. nu
D) ist nicht einfach zu streichen, sondern in ie
zu verändern. — 34,14 die Anm. sagt Schweiß
nicht, welches gehoben durch geben zu ersetzen
ist', offenbar das zweite, wie D zeigt. — 36, 12
12
176 Gott. gel. Anz. 1381. Stütk 5. 6.
1. da ze wederem iiirUn, wie schon das Lit
Ce&tr« bemerkt hat. — 36, 31 1. nü seht\ vgl.
die Lesarten und 37, 9 ; besonders 60, 21, wo
seht auch in H fehlt. — 88, 20 hine im rekte
got vergapj unmögliche Wortstellung. — 39, 19
doch driu (S. dri) und drizec jär. — 39, 23 wä
von DH ist nicht zu streichen; die Worte- daz
du daz niemer tarst (besser turrest) geleben sind
in Parenthese zu setzen. — 42,37 daz ist ganz
richtig ; es bedeutet 'darüber daß*. — 45, 3 L
dö bekomy wie H auch hat. — 46, 1 H hat woU
iry und wenn auch die junge Hs. nicht genau
weit und wolt scheidet, so führte doch der Nach-
satz wolte ich auf das prät. Also woltet ist zu
schreiben. Das gleiche 55, 1. Dagegen hei
vorausgehendem wellent folgt im Nachsatz ich
wil 59,11. Vgl. 74, 22. — 63,2 hat H wolt
and geb, was nicht weit und gibe ist, sondern
weitet und gaebe. Auch 64,33 ist wolt (=* H)
Oder woltet zu schreiben, denn künde ist ata
prät. conj. von kan aufzufassen. — 176, 26 eben-
falls wolt (= H) oder woltet, im Nachsäte so
wolte ich. — 46, 33 kürzet natürlich zu schrei-
ben; vgl. 47, 32. — 4b, 32 1. taete\ vgl. 52, 27.
— * 50,7 er wie H hat, steht sicher verschrieben
ftir es, wie mehrfach in der Hs.; nicht des ißt
zu schreiben. — 50, 18 L man buozte (aach H
hat pust ohne Umlaut), denn der conj. hat, was
der Herausg. hätte wissen müssen, keinen Uta-
laut in diesem Falle. Derselbe Schnitzer mehr-
mals: so 75,15. 78,4. 138,13. 268,14. — 51,
14 I. sich, da ist mir daz aller lidfest ~- 51,
21 1. solte mit D, vgl. 18, wo H denselben Feh-
ler (sollen für solte) begeht. — 52, 17 die Les-
arten weisen auf diu gdich, instrum. — 54, 12
1. töhtet mit H, das diese Worte allein hat. —
54,26 unrichtige Besserung; lies mit D wan er
Berthold v. Itegefisbarg, herauggep. v. Strobl. 179
Hm der helle rähte nieman gewönen; H lieft ein-
fach beim Zeilfcöweehsel (der]) helle aus; reich
ist für rekte verschrieben. Berthold braucht das
Wort kdleriche nicht. — 55, 39 das adv. heißt
hovdiehm\ darauf fuhrt noch die Schreibung
bmn — in H. — 57, 12 äne toufe, warum nicht
touft wie H hat? Vgl. 57,13. Ebenso 1. 57,20
&*e tauf. — 57,39 1. gewonen, vgl. 58, 7. — 59,
34 ist der Lesart von D folgend zu schreiben sie
haeten in hin w der selben läge (D hut) ; vgl. 60, 16.
~ 60, 16 ist frodiche ganz verfehlt, vielmehr
mit D frumecllche zu lesen, wofür fmntlich in
fl ein einfacher Sehreibfehler ist Vgl 72, 32*
— 60, 36 nieman ist unmöglich die richtige
Lesart. Das ursprüngliche war nehein, 'keiner'
mit Bezug auf edeler und schoener. — 61, 15 so
gedenket er itn gehört zur Bede des Teufels. —
63, 24 f. ist D zu folgen und die Aenderungen
&8 Hevausg. sind zu verwerfen. — 64, 13 die
Lesarten weisen auf die Form müese. — 64,30
l wie statt swie. — 31 soll wie wohl die Be«
4entaqg von *hd« wie 'so wie, so bald' haben.
Recht schöne Kenntnis des Sprachgebrauchs des
13. Jahrb.! +— 66, 15 1. bekuote, prät. ooqj., H
bat behüte, tv&brefld 66, 17 in behüten der Um-
laut ganz ttkhtig bezeichnet ist. — 68,11 1. er-
morden* — 68, 29 wer ich dir ez} denn man
mi einem -nipht eines. — 69, 3 hat H wd, was
im Zusammenhalt mit D also auf welle weist,
triebt auf wü. *— 70, 26 doch halbiu zu lesen !
ebenso 70f£3 heiligiu, 72, 25. 122, 9 wäriu etc.
— 72, 28 ad mit, lies wit so = D. — 75, 2 1.
alles dar. — 82, 6 1 do für da. - 83, 1 1. ger
fmesen mit D. — 85, 24 toufe, wie H liest, ist
gafiz richtig, die Absicht bezeichnend. — 85, 27
wehen, Wie alle Hss< haben, ist nicht in asche
n ändern ; es ist plur., vgl. mhd. Wb. 1, 65*.
12»
160 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
— 85, 39 1. sol sprechen mit D. ieman in H
weist vielleicht auf innan. — 87, 7 die Lesart
von H (wo das außerhalb der Zeile steht) weist
auf daz er niur deste swaerer ist und deste swae-
rer wirk — 90, 14 H hat muß, es ist also zu
schreiben er müeze (= er enmüeze). — 92, 25
1. müesen. — 95, 26 1. diu diu. — 97, 15. 16
besser Jcoemen — gaebet. — 99, 16 1. reihte da.
— 101, 16 1. tiuvelwinnende als ein Wort;
vgl. 180,1. — 111,39 1. Da sante, da nach
einer Frage. — 119, 1 lies iuwer wurde ein mi-
chel teil behalten da ze dorfe, wan (wenn nicht
wäre) diu selbe üzsetzikeit, beidiu frouwen und
man. — 126,15 streicht der Herausg. einen Ge-
danken, den alle Hss. haben, weil er ihm Bert-
hold nicht zutraut. Man wird über solchen sub-
jectiven Geschmack einfach zur Tagesordnung
tibergehen dürfen. — 126,35 1. haete.— 129,37
offenbar mit D M zu lesen ; H hat es sich bequemer
gemacht. — 132, 26 die Worte ez sol noch diu ztt
honten sind mit D M hier zu streichen, und offenbar
durch Abirren auf 133, 2, wo auch der selbe
Satz ich — gesunt vorausgeht, in H hierher ge-
kommen. — 132, 32 ff. überall prät. zu setzen:
du müesest — dir Mibe. — 137, 10 1. daz sie da.
— 137, 27 1. gevähen. — 139, 22 offenbar eine
Lücke anzunehmen; es wird zu schreiben sein
viel in groze sünde von der gesiht\ vgl. 26. —
141,3 da weltlich in jüngeren Hss. ein sehr
häufiger Fehler für waetUch ist, so ist sicher
waetlichen zu schreiben. — 142, 11 daz es man
sie lebe, eine ganz unmögliche Wortstellung; lies
cht für es. — 142,22 natürlich ist paeze zu le-
sen; statt sie besser dm zu schreiben. — 147, 15
1. man mit DM. — 148, 25 1. einer, H hat
ainr. — 149,11 1. diu. — 150,8 natürlich läsen
an iueh; iu ein arger Sprachschnitzer. — 151, 10
Berthold v. Regensburg, herausgeg. v. Strobl. 181
Ida hebet; vgl. zu 111,39, und 151,20. — 152,
22 soll verslint conj. sein; 1. verslinde. — 154,3
1. dar. — 159, 3 1. etewen, H hat ganz richtig
etwen, nicht etwa etwenn. — 160, 23 1. tw, vgl.
24. — 160, 31 niemer schlechte Aenderung,
eher so Meine als sie was des fasten tages> so
sie — körnen. — 161, 6 1. kamen. — 161, 19
aine hat H, lies jse einem rehten; rehten ist auch
bei Konrad von Würzburg im Reim vorkom-
mende Form. — 161, 25 H hat niu fündf also
niuwe fünde ist zu schreiben. — 161, 32 statt
wirt eher mSre zu bessern. — 162, 35 übele,
besser ergänzt mantM, doch ist eine Ergänzung
gar nicht nöthig. — 162, 37 1. grösiu leit wegen
38. — 166, 20 1. genuocte. — 176,7 fliehent in
H ist einfach Schreibfehler. — 177, 24 1. an
welhem teile (= D) , H sprang von t in teile
auf t in tugerit. — 179, 31 1. so der iendert;
auch dir könnte bleiben. — 180, 2 überwinde,
schöner imp., 1. uberwint. — 181, 6 iuwerre
frouweny ganz unsinnig, 1. iuwer frouwen d. h.
von euch Frauen; vgl« 14. Aber besser folgt
man der Lesart von DM. — 182,1 1. iut denn
man gesiget bekanntlich einem an. — 187, 12 1.
erkuolest, H hat auch erkulst — 189, 18 1. diu
Unt. — 193,15 mislich ganz verkehrt; 1. wn-
nützlich, vgl. 194, 25. — 207,33 1. saehe, vgl.
M. — 208, 5 1. täten* t — 208, 30 war haben
H M, danach ist waere zu schreiben und die
Interpunktion zu ändern. — 214, 30 im ist die
richtige Lesart. — 216, 13 1. verfluochet. — 217,
5 1. hoeret. — 217, 15 nach Analogie der an-
dern Stellen ist nach herre noch amen zu setzen.
— 219, 9 1. das ir iuch noch nie vor schänden.
— 220, 35 natürlich iu zu lesen. — 222, 42 1.
wü eht sie sich wern, vgl. M. — 227,28 1. schön-
heit, denn so lautet das Wort im 13. Jahrh. —
182 Gott, geh Aaz. 1881. Stück 5. 6.
234, 16 1. gebraeste. — 234,37 1. komm. 236,
27 1. gebraeste. — 244, 12. 15 besser koeme und
koetneti. — 249,35 1. heize. — 253,5 1. d& sluoc.
— 256, 31 f.). ate hohe, ebenso 256, 35 unhohe. —
268,3 L verstoige. — 271, 12 besser Ute.
Das Resultat unserer Kritik ist: die Arbeit
taugt nichts, und es ist zu bedauern, daß
Pfeiffer's Vorarbeiten nicht in bessere Hände
gekommen sind.
Heidelberg, 1. November 1880.
Karl Bartsch.
Johannes Althusius und die Entwicklung
der naturrechtlichen Staatstheorien.
Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssyste-
matik. Von Otto Gierke. Breslau, Wilhelm Koeb-
ner 1880. X und 322 S. 8°.
Das vorliegende Buch ist ein höchst werth-
voller Beitrag zur Literatur- und Dogmenge-
schichte des allgemeinen Staatsrechts. Der Ver-
fasser hat es sich zunächst zur Aufgabe gemacht,
einen hervorragenden politischen Denker, wel-
cher seit Mitte des vorigen Jahrhunderts unver-
dienter Vergessenheit anheim gefallen war, wie-
der an das Licht zu ziehen und in seiner Be-
deutung zu charakterisieren; indem er es dann
aber zur vollen Würdigung des Althusius untere
nahm, die wichtigen politischen Doktrinen, wel-
che in dessen Hauptwerke eine eigenthtimjtiche
Ausprägung erhalten haben, in ihrer Entwicke*
tangsgesohiehte vorwärts und rückwärtfc zu ver-
folgen, hat er seine Abhandlung zu einer Ge-
schiebte der naturrechtlichen Staatstheorien er-
weitert und dadurch eine zusammenhängende
geschichtliche firkenntnift einer der merkwür-
digsten „Ideenwelten" angebahnt.
Der erste „Leben und Lehrt des Althusius*
Gierke, Johannes Althiuiut. 183
ttberschriebeue Tbeil des Werkes zerfällt in drei
Kapitel: Johannes Althusius; die Politik des
Alth., die Jurisprudenz des Alth. (die in einer
Beilage hinzugefügte Polemik gegen die Be*
handlung Lupoids von Bebenburg in Riezler's
Schrift über die literarischen Widersacher der
Päpste zur Zeit Ludwig des Bayern gehört si-
cherlich nicht an diesen Platz). Ueber die Le-
| bensschicksale des Althusius hat der Verfasser
keine neuen Ermittlungen vorgenommen, wohl
aber die vorhandenen Uterarischen Nachrichten
sorgfältig und mit Kritik benutzt. Seine Ver-
muthung, daß Althusius' deutscher Familienname
„Althaus" gelautet, hat seitdem durch die dankens-
werte Notiz Rivier's in der Revue de droit in*
teroational, Bd. XII S, 348, sich als unzweifel-
haft richtig erwiesen; ebenso ist durch diese
der Streit, ob die Heimath des Alth. die Graf-
schaft Wittgenstein oder Ostfriesland, zu Gun-
sten der ersteren, auch von G. vertretenen An*
nähme entschieden; endlich wissen wir nunmehr
mit Bestimmtheit, daft A. im Jahre 1585 zu Ba+
sei studiert hat, wogegen allerdings G.'s Ver*
muthung, daft derselbe seine juristische Bildung
in Genf vollendet und eben dort sich mit streng
ealvinistischem Geiste erfüllt habe, bisher keine
Bestätigung erhalten hat. Als Zeitpunkt der
Ueberstedelang des A, von der Herbor ner Hoch-
schule, an welcher derselbe mit geringen Unter-
brechungen seit 1586 lehrte, nach Emden, wo
er dann bis zu seinem Tode (1638) das wich-
tige Amt des Syndikus verwaltet hat, wird von
G. mit Recht das Jahr 1604 fixiert (auch Stin*
Uing, der früher in der Allg. Deutschen Bio-
graphie 1601 als Beginn des Bmdner Syndikats
bezeichnet hatte» bat sieb nunmehr — Geschichte
der Deutsche* Rechtswissenschaft , Abth. I,
184 Gott. gel. Ans. 1881. Stück 5. 6.
S. 469 — dieser Zeitbestimmung angeschlossen).
Sehr ansprechend ist G.'s Ausführung (S. 17
N. 37), daß die bei späteren Schriftstellern sich
findenden Verdächtigungen des moralischen Cha-
rakters des Altb. ihren Grund nur in der poli-
tischen Gegnerschaft haben. Von Alth.'s geisti-
ger Anlage giebt er auf Grund der Schriften
desselben ein durchaus treffendes Bild (S. 16 —
17)} indem er namentlich hervorhebt, daß der-
selbe der „ge borne radikale Doktrinär u, bei
außerordentlicher Aktivität des Wesens und bei
großer Kühnheit des Gedankens doch einen ein-
seitig logischen Verstand besessen und deshalb
seine ganze Aufmerksamkeit auf die Probleme
der Lehrmethode einerseits, auf die Fragen des
praktischen Verhaltens im öffentlichen und pri-
vaten Leben andererseits gerichtet habe.
Auf dem Gebiete der Jurisprudenz gehört A.
zu den Ersten, welche ein von der Legalord-
nung unabhängiges System des Rechtes aufzu-
stellen und durchzuführen versucht haben. Seine
beiden einschlägigen Werke, die kürzere Juris-
prudentia Romana (zuerst 1586) und die aus-
führliche Dicaeologica (zuerst 1617) sind von
G. (S. 39 N. 8 und S. 41—49) eingehend ana-
lysiert. Als bleibende Verdienste derselben er-
scheinen (S. 42 N. 16) die Verweisung der all-
gemeinen Lehren in einen vorbereitenden Theil
und die Zweitheilung der Personen in Einzel-
personen und Collekti vpersonen ; dagegen steht
die in der Dicaeol. von A. unternommene Ein-
gliederung des gesammten Staatsrechts in das
civilistische System in engstem Zusammenhange
mit seinen Lehren vom publicistischen Social-
contrakt und vom publicistischen Mandat, und
das ge8ammte, auf Ramistischen Principien be-
ruhende System konnte bei sei seiner Künstlich-
Gierke, Johanne« Althuiui. 186
keit und Verwickeltheit keinen dauernden Er-
folg erzielen.
In der Geschichte der Politik beziehungsweise
des allgemeinen Staatsrechts dagegen nimmt
Alth. ohne Zweifel eine bedeutende, wenn auch
seit der Mitte des 1 8ten Jahrhunderts nicht mehr
genügend bekannte und anerkannte, Stellung
ein. Seine zuerst im J. 1603 zu Herborn ver-
öffentlichte, seit der zweiten Auflage (Gronin-
gen 1610) wesentlich vermehrte „Politica metho-
diee digestatt war nicht nur das erste vollstän-
dige Lehrbuch der Politik, sondern zugleich die
erste systematische Begründung und Durchfüh-
rung der Lehre von der Volkssouveränetät. Den
lohalt dieses merkwürdigen Werkes hat G. im
zweiten Kapitel des ersten Theils (S. 18—36)
sorgfältig analysiert; die Schicksale desselben,
insbesondere seine Verbreitung und sein Einfluß
auf die politischen Doktrinen der Folgezeit, so-
wie die zahlreichen Bekämpfungen seiner Grund-
sätze, sind schon in den einleitenden Betrach-
tungen zu Anfang des ersten Kapitels (S. 4 —
10) skizziert; aber erst der zweite Theil, „die
Entwicklungsgeschichte der in der Staatslehre
des Althusius ausgeprägten politischen Ideen"
giebt den Maßstab ftkr Würdigung des Gedan-
kengebalts und der wissenschaftlichen Bedeu-
tung der Staatslehre des A.
In 6 Kapiteln behandelt der zweite Theil
fläch einander: Die religiösen Elemente der
Staatslehre; die Lehre vom Staats vertrage; die
Lehre von der Volkssouveränität; das Repräsen-
tativprinzip; die Idee des Föderalismus; die
Idee des Rechtsstaats. In allen diesen Be-
ziehungen hat Alth. ohne Zweifel eigentüm-
liche und wichtige Gedanken ausgesprochen.
Wenngleich streng calvinistischer Richtung und
186 Gott. gel. Am. 1881. Stück 5.6.
voll von Citaten aus der Bibel, ist doch seine
Politik ihrem Grundcharakter nach ein welt-
liches Buch, seine Staatsauffassung eine wesent-
lich rationalistische. Auf die Lehre vom Ge-
sellschaftsvertrage hat er zuerst ein ganzes so-
ciales und politisches System aufgebaut. Indem
er auf die Volkssouveränetät den von .Bodin
formulierten strengen Begriff der Souveränetät
anwandte, hat er die absolute Ausschließlichkeit,
Unveräußerlichkeit, Unübertragbarkeit und Un-
verjährbarkeit der Majestätsrechte des Volkes,
wenn auch nicht zuerst ausgesprochen, doch
zuerst mit logischer Gonsequenz begründet, und
zuerst die weitere logische Folgerung gezogen,
daß es nur eine rechtmäßige Staatsform, die
Demokratie, geben könne. Den Gedanken der
Bepräsentativverfas8ung hat er, obgleich das
Prinzip der Volkssouveränetät durchaus festhal-
tend und andererseits an die bestehende stän-
dische Gliederung sich anschließend, doch in
Gestalt corporativer Delegation für alle Stufen
der politischen Gemeinwesen durchzuführen ge-
sucht. In wahrhaft großartiger Weise sodann
hat er den Staat aufgebaut auf eine Stufenreihe
von Gliedverbänden, Städten und Provinzen,
welche dem Staate gleichartig, nur durch den
Mangel der Souveränetät von demselben sich
unterscheiden sollen. Endlich hat er, ungeach-
tet seiner starken Ausprägung der Volkssouverä-
netät, doch die Idee des Rechtsstaats consequent
durchgeführt, indem er auch das souveräne Volk
an das bestehende Recht gebunden erklärte und
insbesondere auch dem Herrscher, wenngleich
derselbe nur Mandatar des Volkes sein könne,
ein vertragsmäßiges Recht gegenüber dem Volke
zuschrieb.
Dennoch wird man die Frage uicht abweisen
Gierke, Johannes Althoiius. 167
können, ob die Staatslehre des Altb. geeignet
sei, als geschichtlicher Mittelpunkt der gesamm*
ten naturrechtlichen Staatstheorie hingestellt zu
werden. Daß die von ihm gelehrten Ideen durch-
gängig an frühere Doktrinen, insbesondere an die
mittelalterliche Staatslehre und an die Aufstellun-
gen der ihm vorausgegangenen reformierten Monar»
cbomachen anknüpfen, kann allerdings nicht ge-
gen eine solche Behandlungsweise geltend ge-
macht werden; es wird durch diese Zusammen-
hänge auch nicht seine wissenschaftliche Be-
deutung heruntergedrückt, denn wie Gierke (S.
321) richtig hervorhebt, haben auch die größten
und berühmtesten Meister der Staatswissenschaft
weit mehr als gewöhnlich angenommen wird,
taeils nur bereits ausgesprochene Gedanken in
geeignete Formen gegossen, theils allseitig vor-
bereiteten neuen Gedanken zum letzten Durch*
brach verholfen. Dagegen scheint dem Referen-
ten der Einfluß, welchen Alth.'s Staatslehre auf
die nachfolgende Gedankenentwickelung geübt
bat, wenigstens so weit derselbe nachweisbar,
doch nicht so ausgedehnt and tiefgreifend ge-
wesen m sein, daß die naturreehtliohe Staats-
auffassung des 17ten und 18 ten Jahrhunderts
*ls von ihm wesentlich beherrscht sich darstellte.
Wohl hat insbesondere seine Ausprägung des
Prinzips der Volkssouveränetät großes Aufseben
erregt, vielfachen Beifall und andererseits ener-
gische Bekämpfung (insbesondere auch von Gro-
ÜU8 und Conring) hervorgerufen; es hat G. (S.
5—6 S. 164 ff) zudem den interessanten Beweis
geftthrt, daß die von den deutschen Reichspubli-
cisten seit A rum ae as zur Construktion des Reiches
verwendete Unterscheidung zwischen maiestas
realis und personalis eine nur wenig veränderte
188 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 6. 6.
Formulierung der Volkssouveränetät des Althu-
sius' eDthielt. Daß aber, wie 6. glaubt (S. 4,
9, 201—202), Rousseau seine berühmten Aus-
führungen über das Wesen des Gesellschafts-
vertrages und über die absolute Unveräußerlich-
keit der Souveränetät aus dem von ihm nirgends
citierten Werke des A. entnommen habe, wird
durch die Aehnlichkeit der Gedanken und man-
cher einzelnen Wendungen kaum genügend wahr-
scheinlich gemacht. Ebenso scheint mir der von
G. angenommene unmittelbare Zusammenhang
des von Besold und Hugo aufgestellten Bundes-
staatsbegriffs mit der föderalistischen Doktrin
des A. (S. 245) nicht ausreichend dargetban zu
sein. Daß die Von A. nicht einmal durchgreifend
vorgenommene Ausscheidung der religiösen Ele-
mente aus der Staatslehre epochemachend ge-
wirkt habe, wird sich ebensowenig behaupten
lassen, wie wir seinen Gedanken über Repräsen-
tativverfassung und seiner rechtsstaatlichen An-
schauung eine solche Wirksamkeit zuschreiben
jdürfen. Insbesondere mit Hugo Grotius* Jus belli
ac pacis, dessen unermeßliche Autorität auch G.
(S. 72) hervorhebt, wird Althnsius' Politik, wenn-
gleich vielleicht reicher an eigenthümlichen Ideen,
doch in Betreff der geschichtlichen Bedeutung
für die naturrechtliche Theorie sich nicht ver-
gleichen lassen.
Für den Werth der in dem zweiten Theile
des G.'schen Werkes gegebenen dogmengeschicht-
lichen Untersuchungen ist jedoch die Stellung,
welche innerhalb derselben einem einzelnen Ge-
lehrten eingeräumt ist, durchaus nicht maßgebend.
Dieser Werth ist unzweifelhaft ein sehr hoher.
Mit seltener Gelehrsamkeit und größter Gewis-
senhaftigkeit ist ein massenhaftes Material aus
den politischen und staatsrechtlichen Schriften
Gierke, Johannes Althusius. 189
des Mittelalters und der Neuzeit zusammenge-
tragen und verarbeitet. Indem der Stoff nicht
Dach den einzelnen Schriftstellern, sondern nach
den für die naturrechtliche Construction des
Staates vorzugsweise wichtigen Gedanken geord-
net ist, tritt der Gang und Zusammenhang der
geschichtlichen Ideenentwickelung deutlich her-
vor. Vielfach werden, wie der Verfasser indem
Vorwort mit Recht betont, die bisherigen An*
sichten über die Urheberschaft tief einschnei-
dender politischer Doktrinen durch die von ihm
gebrachten Nachweise berichtigt. So zeigt sich
namentlich in überraschender Weise, daß die
natnrrechtlichen Lehren ihre Grundlegung gro-
ßenteils schon im Mittelalter erhalten haben
und wird dadurch das bisherige höchst unvoll-
ständige Bild der mittelalterlichen Staatstheorien
wesentlich ergänzt und berichtigt. Mit beson-
derem Interesse hat Referent auch die Ausfüh-
rung der G.'schen Schrift über die Anfänge des
Bandesstaatsbegriffs (S. 245 — 50) verfolgt. Gern
gesteht er zu, daß nach dem von G. geführten
Nachweis Besold als Vorläufer Ludolph Hugo's
in der Aufstellung dieses Begriffs angesehen
werden muß; um so erfreulicher aber ist es
ihm, daß seine Grundanschauung über die Ab-
leitung des Bundesstaatsbegriffs aus dem Ver-
fassungsrechte des früheren Deutschen Reiches
durch G.'s Darstellung volle Bestätigung erhal-
ten hat. Ueberhaupt ist nach G.'s Ausführung
der Antheil des deutschen Volkes an der Aus-
bildung der modernen Staatslehre ein weit be-
deutenderer gewesen , als bisher angenommen
wurde, insbesondere giebt auch Bluntschli's be-
kanntes Werk über die Geschichte der Politik
und des allgemeinen Staatsrechts in die deutsche
Geistesarbeit keinen genügenden Einblick. Vor
190 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5.0.
Allem aber möchte Referent den eigenthtimlleheti
Werth des G.'schen Werkes in der juristischen
Behandlang finden: indem G. sein Hauptaugen-
merk auf den juristischen Gehalt der naturrecht-
lichen Staatstheorien richtete, bat er den bisheri-
gen wesentlich philosophischen resp. politischen
Darstellungen des Entwicklungsganges der mo-
dernen Staatslehre eine juristisch gefaßte Dog-
mengeschichte wenigstens der Grundbegriffe zur
Seite gestellt und dadurch erst eine Würdigung
der naturrechtlichen Anschauungen über Recht
und Staat gerade in ihrem eigentümlichen Kerne
möglich gemacht.
Die dogmengeschichtlichen Studien des Ver-
fassers sind mit so vorzüglicher Sorgfalt und
Gründlichkeit geführt, daß trotz der ausnehmen-
den Fülle des Stoffes nur äußerst wenige Ein-
zelheiten zu Bedenken oder Berichtigungen An-
laß geben. Auf einem bloßen Versehen scheint
es zu beruhen, wenn S. 266 neben den bekann-
ten Sätzen des späteren römischen Kaiserrechts
„Quod principi placuit legis habet vigoremu und
^Princeps legibus solutus est" auch die von der
mittelalterlichen Jurisprudenz formulierten Sätze
„Omnia iura habet princeps in pectore suott
(nach c. 2 De const, in 6*° 1, 2) und ^Error
principi s facit iusu als römische Quellenaussprüebe
bezeichnet werden. Irrig ist die Behauptung
(ß. 174) die von Grotius mit so viel Nachdruck
an die Spitze gestellte Unterscheidung zwischen
dem subiectum commune und dem subiectum pro-
prium der höchsten Gewalt (De J. B. ac P. I
o. 3 § 7) komme in den späteren Einzelausfüh-
rungen nirgends zur Verwendung: Gr. gründet
vielmehr (1. c. II, c. 9 §. 8) auf den Satz „Im-
perium quod in rege ut in capite, in populo
manet ut in toto, cuius pars est caput" die Iden-
Gierke, Jobannes Althusius. 101
tiiät des Staates und folglich die Fortdauer der
Rechte und Verpflichtungen desselben bei ver-
änderter Staate form, sowie den Heimfall der ak-
tiven Herrschaft an das Volk selbst nach dem
Tode des Wahlkönigs beziehungsweise nach
Aussterben des Herrschergeschlechts. Ungenau
ist es ferner, wenn (S. 175 N. 58) Pufendorf zu
den Schriftstellern gerechnet wird, welche die
eben erwähnte Unterscheidung des Orotius1 „als
6ine nicht nur Überflüssige, sondern schädliche
Doktrin, die dem verderblichen Begriff der ma-
iestas realis bedenklich nahe stehe und wohl
gar als dessen Quelle zu betrachten sei", be-
kämpften; an der von Gierke citierten Stelle
der Fufendorfschen Schrift de Officio Horn, et
Civis ist von dieser Lehre des Grotius' nicht
die Rede, und im Jus Nat. et Gent. (VII, 6 § 4)
ist Puf. vielmehr bemüht, derselben eine ganz
unschädliche Deutung zu geben, ähnlich wie die
von Gierke in der folgenden Note citierten Au-
toren. Zu weit geht der Verfasser, wenn er
(8. 187 vgl. auch N. 204), allerdings in Ueber-
ehrttimmung mit der herrschenden Auffassung,
in der Lehre Montesquieu's von der Gewalten-
tbeihng „eine wahre und bewußte Zerstücke-
lung der Souveränetät unter mehrere von einan-
der durchaus unabhängige Subjecte" findet;
denn — um nur diesen einen Punkt hervorzu-
heben — nach den Ausführungen Montesquieu's
in dem berühmten Kapitel über die Verfassung
Englands (Esprit des loix XI c. 6) soll der ge-
setzgebende Körper nicht allein die Gesetze ma-
chen, sondern auch die Ausführung der Gesetze
controllieren, und wenngleich der Monarch per-
sönlich nicht zur Verantwortung gezogen wer-
den dürfe, sollen doch die Käthe desselben die
192 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 5. 6.
Verantwortlichkeit für alle seine Handinngen
tragen.
In der von G. gewählten dogmengeschichtlichen Be-
handlung8weise ist es begründet, daß seine eigenen
Rechts- und Staatsanschauungen nur selten hervortreten.
Da jedoch die ganze Arbeit, wie das Vorwort ausdrück-
lich erwähnt, aus G.'s vieljährigen Studien über die Ge-
schichte der Corporationslehre und insbesondere des Be-
griffs der juristischen Person herausgewachsen ist, so er-
klärt sich leicht, daß gerade die eigenthümliche Ansicht
des Verfassers über das Wesen der juristischen Person
für seine Charakteristik der naturrechtlichen Theorien
vielfach maßgebend geworden ist. Wer G.'s Auffassung
von der Realität der juristischen Person und von deren
Selbstconstituierung nicht zu theilen vermag, wird auch
den eingestreuten kritischen Bemerkungen insbesondere
über die Vertragstheorie und über den individualistisch-
mechanischen Charakter der auf dieselbe gegründeten
Gesellschafts- und Staatslehre (s. namentlich S. 105 ff.
und S. 262—63) wenigstens nicht unbedingt beistim-
men können; doch wäre jede Polemik gegen diese Ur-
theile voreilig, so lange wir nicht in der hoffentlich
bald zu erwartenden Fortsetzung des großen G.'schen
Werkes über das deutsche Genossenschaftsrecht die
ausführliche Begründung und Entwickelung seiner Cor-
porationslehre vor Augen haben. Je weniger aber G. in
den Grundanschauungen über die Entstehung und über
die juristische Construction des Staates mit der natur-
rechtlichen Lehre übereinstimmt, desto dankenswerther
ist die lebhafte Anerkennung, welche er den durch das
jetzt so viel geschmähte Naturrecht gewonnenen „unver-
lierbaren Errungenschaften" des Rechts- und Freiheits-
gedankens zollt. Insbesondere wendet er sich am Schlüsse
des Abschnitts über den Rechtsstaat TS. 317 — 20) mit
beredten und treffenden Worten gegen aie augenblicklich
in Deutschland mehr und mehr Boden gewinnende Rich-
tung, welche das positive Recht, unter Ignorierung sei-
nes unentbehrlichen naturrechtlichen Complements, ledig-
lich auf den Willen und die Zwangsmacht des Staates
gründet.
Breslau. S. Brie.
^^ma^M^ — -| irirniiiiir -■-- - ., | L
Für die Redaction verantwortlich : R Behniach, Director d. Gott. gel. Ans.
Verlag der DietoHcK sehen Verlags- Buchhandlung.
Druck dir Dieierich' sehen Univ.- Buchdrucker** ( W. /V. Kosainet).
198
Oöttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König!. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 7. 16. Februar 1881.
Inhalt: A. Bitschi, Geschichte des Pietismus. Bd. I. Yon W.
Herrmann. — Itinera nierosolymitanaet description« terrae
sanetae bellis saeris anterior» ct., ed. T. Tobler et A. Molinier. Von
F. Togd. — E. y. Wietersheim, Geschichte der Völkerwanderung.
2. Aufl., von F. Dann. Von 0. Kaufmann*
3 Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ana. verboten s
Geschichte des Pietismus von A. R i t s c h 1.
Erster Band : Der Pietismus in der reformirten Kirche.
Bonn, A. Marcus. 1880. VIII, 600. 8°.
Mit diesem Buche ist der evangelischen
Kirche und der Geschichtsforschung ein gleich
großer Dienst erwiesen. Der ersteren, weil hier
zum ersten Male ein Reformversuch in ihrer
Mitte, der sich bis in die Gegenwart hinein mit
zweifellosem Erfolge fortsetzt, scharf und klar
in seiner eigentümlichen Tendenz erfaßt und
mit den einfachen Grundgedanken der Reforma-
tion des 16. Jahrhunderts verglichen ist. Der
letzteren, weil eine so bedeutende geistige Be-
wegung wie der Pietismus vor dem eindringen-
den Blick des Verfassers das Aussehen einer
gestaltlosen Nebelmasse verliert und sich in
deutliche Körper auflöst, deren Herkunft man
ebenso wie ihren Werth für die geschichtliche
Umgebung bestimmen kann.
Allerdings ist der Name Pietismus ursprüng-
lich auf eine Erscheinung in der lutherischen
13
194 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
Kirche Deutschlands angewendet worden. Da
sich aber vor dem Auftreten der pietistischen
Conventikel in dem lutherischen Deutschland
Vereinigungen ähnlicher Art in der reformierten
Kirche der Niederlande zeigen, so zieht der
Verf. 'die Möglichkeit in Betracht, daß die spä-
tere Erscheinung von der früheren abhängt. An
dieser Ausdehnung des Namens Pietismus auf
die verwandten Vorgänge innerhalb der refor-
mierten Kirche hat der Verf. einen Vorgänger
an Göbel, dem er noch einen anderen außer-
ordentlich fruchtbaren Gesichtspunkt verdankt
Göbel hatte bei seiner sorgfältigen Untersu-
chung den Eindruck gewonnen, daß im Pietis-
mus die im 16. Jahrhundert unterdrückten Re-
formbestrebungen der Wiedertäufer wieder auf-
leben. Diesem Gedanken ist nun Bitschi
nachgegangen, aber mit ganz anderer Intention
als sein Vorgänger. Göbel hatte sich durch
die bemerkte Analogie zu dem Resultat leiten
lassen, daß an dem Pietismus ebenso wie an
der Wiedertäuferei die practische Energie zu
loben, der Mangel an theoretischer Umsicht zu
tadeln sei. Es ist das nichts Anderes als das
instinctive Urtheil der evangelischen Kirche
gegenüber dem sich ihr aufdrängenden Reform-
versuch, aber keine geschichtliche Erkenntniß
dessen, was die beiden Erscheinungen für sich
gewesen sind. Ritschi dagegen verwendet
denselben Gesichtspunkt dazu, um seinen Gegen-
stand der bloßen practisch-kirchlichen Beurthei-
lung zu entziehen. In einer Einleitung, welcbe
niemand ohne den Eindruck einer großartigen
historischen Conception lesen wird, zeichnet er
den geschichtlichen Zusammenhang, aus welchem
solche Erscheinungen, wie die genannten, nach
ihrem wirklichen Gehalt zu erkennen sind.
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 195
Die Wiedertäuferei und der Pietismus sind
zunächst darin verwandt, daft sie beide das
Werk der Reformatoren vollenden wollen. Und
wenn auch das Urtheil der letzteren über die
sogenannten Ultra's der Reformation ein ganz
anderes gewesen ist, so hat doch die leiden«
schaftliche Energie, mit welcher jener Anspruch
erhoben wurde, den Erfolg gehabt, daß auch
die evangelische Geschichtsschreibung bisher
darauf eingegangen ist, in beiden Bewegungen
eine quantitative Steigerung der von Luther
und Zwingli angefangenen Wiederherstellung
der Kirche anzuerkennen und nur den Ueber-
eifer zu tadeln. R i t s c h 1' s ganzes Buch lie-
fert dagegen den Beweis, daß es sich in beiden
Fällen nicht um einen solchen blos quantitativen
Unterschied handelt, sondern um eine ganz an-
dere Art der Reform. Will man diese in ihrer
Eigentümlichkeit erkennen, so muß man auf-
hören, sie allein mit dem Unternehmen unserer
Reformatoren zu vergleichen. Reformationen
der Kirche sind nicht blos gegen, sondern auch
durch die legitimen Organe derselben ins Werk
gesetzt worden. In der morgenländischen Kirche
ißt freilich von solchen Lebenszeichen nichts zu
verspüren, da hier die einseitige Verehrung des
Liturgischen zu einer Auseinandersetzung des
Christenthums mit den Weltmächten und zu
geistiger Arbeit überhaupt keinen Anlaß giebt
Anders aber ist es in der abendländischen Kirche
des Mittelalters. Die gregorianische Reform und
die Stiftung des Franciscanerordens treten hier
als die epochemachenden Ereignisse hervor, in
welchen die Verwirklichung der in der Kirche
angelegten Ziels eine neue Wendung nimmt.
Beide Male liegt die treibende Kraft in dem
katholischen Grundsatz, daß das Christentum
13*
196 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
seiner Idee nach Mönchthum sei. Indem der
große Pabst den Weltgeistlichen die Formen
des mönchischen Lebens aufzwang, gewann der
unvergessene Gedanke Augustins, daß die Kirche
der Gottesstaat sei, ein neues Leben. Die
Kirche konnte sich dem Staate nicht unterord-
nen, wenn ihre Vertreter die in ihm zusammen-
gefaßten Beziehungen um Gottes willen von sich
ablösten. Aber das in dem Staate lebende Volk
nahm dabei nur als die von dem Klerus gelei-
tete Masse an dem vollkommenen Chris tenth um
Theil. Die Personen fielen in den Bereich der
Welt, des Materials für die Herrschaft der Kirche.
Gegen diesen Mangel richtet sich die Reform
des Franciscanerordens. Sein Stifter hat es
nicht blos auf einen neuen Mönchsorden abge-
sehen, sondern auf die Ueberwindung der Welt
in dem Personleben des Volkes. Durch die
Stellung der Aufgabe, die Laien möglichst zu
activer Theilnahme an der mönchischen Fröm-
migkeit heranzuziehen, und durch die Größe der
Mittel, welche er für diesen Zweck in Bewegung
setzte, wurde er ein Reformator der Kirche.
Sein Werk machte den Zeitgenossen den Ein-
druck, daß es die Sehnsucht der Kirche nach
den Idealzuständen ihres Anfangs in Jerusalem
erfülle. Wenn man also den reformatorischen
Charakter dieser beiden epochemachenden Er-
scheinungen anerkennen muß, so gelangt man
zu einem weiteren Begriffe von Reformation, als
derjenige ist, von dem die protestantische Ge-
schichtsbetrachtung sich leiten läßt. Reforma-
tion ist die Herstellung des richtigen Verhält-
nisses zwischen Christenthum und Welt, unter
der Voraussetzung, daß dasselbe in eine Ver-
mischung des Ghri8tenthums mit der Welt über-
gegangen ist. Aus diesem Begriff von Refor-
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 197
mation, welcher sich an den Vulgatatext von
Rom. 12, 2 anschließt, sind nicht bfos jene bei-
den mittelaltrigen Versuche der Kirche zu ihrer
Erneuerung zu verstehen, sondern ebenso die
Bestrebungen der Wiedertäufer und unserer
Reformatoren. Die Reform der Wiedertäufer
ist durchaus katholischer Art, namentlich sind
es, wie der Verf. nachweist, in franoiscanischen
Kreisen geprägte Schlagworte, welche hier Ver-
wendung finden. Sie wollen sich streng an den
Buchstaben der h. Schrift binden, aber verstehen
sie dabei vorwiegend als Gesetz zur äußeren
Disciplinierung des Lebens; sie betonen die
Heilsgewißheit, aber führen dieselbe auf indivi-
duelle Inspiration zurück. In beiden Beziehun-
gen hat man nicht eine Steigerung evangelischer
Grandsätze, sondern ein Fortwirken katholischer
Motive zu erkennen. Aus vielen und höchst
auffallenden Merkmalen der Uebereinstimmung
ist zu schließen, daß die Wiedertäufer solche
Personen sind, welche von dem francisoanischen
Ideal des Christenthums erfüllt waren, als sie
in Luther und Zwingli die Organe der entspre-
chenden Eirchenreform zu erkennen glaubten.
Als sie sich dann in der Erwartung getäuscht
fanden, daß jene Männer es auf die Steigerung
der Askese für das christliche Volk abgesehen
hätten, haben sie selbst die Reformation des
heiligen Franz erneuert. Auch für sie ist es
nicht die Aufgabe des Christenthums, das Le-
ben in der Welt übernatürlich zu ordnen, son-
dern den Menschen möglichst aus der regelmä-
ßigen Ordnung des sittlichen Lebens herauszu-
heben. Die Auseinandersetzung des Christen-
thums mit der Welt wird auf die Negation der
letztern hinausgeführt. Dieser Reihe mittelaltri-
ger Reformbestrebungen tritt nun das Werk un-
198 Gott. gel. Aiiz. 1881. Stück 7.
serer Reformatoren gegenüber, ihnen analog als
Versuch, das Christenthum von Verweltlichung
zn befreien, aber specifisch verschieden durch
Art und Inhalt der erstrebten Freiheit. Die Er-
kenntniß, daß die kirchliche Rechtsordnung nicht
der Kirche selbst gleichzusetzen, sondern als ab-
geleitetes Mittel für die religiöse Gemeinschaft
zu taxieren ist, und die damit verbundene Aner-
kennung des Staates in dem selbständigen Werthe
einer Gottesordnung entspricht durchaus dem
Nolite conformari huic saeculo. Die Kirche
sollte dadurch von der Tendenz auf äußerliche
Weltbeherrschung, welche in der gesteigerten
Weltverachtung der früheren Reformationen im-
mer wieder ihre Nahrung gefunden hatte, be-
freit und zum Verständniß ihres Wesens und
ihres Berufes zurückgeführt werden. Aber die-
ses Streben wäre sinnlos gewesen und erfolglos
geblieben, wenn die Reformatoren nicht ein
neues Lebensideal an die Stelle des alten ge-
setzt hätten, welches den Ansatz zur Verweltli-
chung der Kirche in sich barg und als tief ein-
gewurzeltes Motiv das Denken und Fühlen be-
herrschte. Das bisherige Ideal einer mönchi-
schen Vollkommenheit überflog die natürlichen
Bedingungen unseres Daseins und belastete
grade dadurch die christliche Frömmigkeit mit
einer leidenschaftlichen Richtung auf die Welt.
Der evangelisch erneuerte Begriff des vollkom-
menen Chrfetenlebens umfaßt die Momente des
Vertrauens auf die göttliche Vorsehung, des da-
von getragenen Gebetes und der dadurch er-
möglichten Treue im Beruf. Dieser Begriff von
perfectio Christiana ist in der Augustana und
ihrer Apologie dem mönchischen Lebenstdeal
entgegengesetzt. Und wenn derselbe in den
Privatschriften der Reformatoren nicht eben oft
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 199
ausdrücklich formuliert wird, so bezeichnet er
doch die practische Spitze, welche alles Uebrige,
was sonst in Lehre und Lebensordnung refor-
miert wurde, zusammenfaßt und zu seinem End-
zweck bringt. Auch die Rechtfertigung aus dem
Glauben ist als das wichtigste Organ des so
bestimmten Christenlebens leicht zu verstehen,
indem sie dem Sünder jenes Vertrauen auf die
göttliche Vorsehung, dessen er an sich nicht
fähig ist, ermöglicht. Dieses Lebensideal der
evangelischen Kirche läßt sich auf Mönche nicht
anwenden, es paßt nur auf das Berufsleben von
Menschen, welche in der Welt die von Gott be-
herrschte Stätte ihrer Arbeit anerkennen. Durch
dieses Glaubensurtheil und durch die Aufgabe
des sittlichen Berufes wird der Christ allerdings
an die Welt gebunden, von welcher das katho-
lische Lebensideal ihn loszureißen strebt Aber
in Wahrheit wird auf jene Weise die Abhängig-
keit von der Welt überwunden, welche jede
ascetische Lebensanschauung begleitet. Die
Welt wird nun als das Object der geistigen
Herrschaft gewürdigt, welche der im Glauben
gegründete sittliche Charakter ausübt. Der
Christ wird darauf angewiesen, sich in seinem
wirklichen Dasein in der Welt zu erfassen und
in diesem selbst die Gottesnähe zu finden, zu
welcher die katholische Praxis auf dem Wege
vergeblicher Weltverneinung emporsteigen will.
Auf diese Weise hat der Verf. die beiden Haupt-
gruppen der abendländischen Christenheit in
ihren Lebenszielen scharf unterschieden. Er
gewinnt aber noch einen anderen Gesichtspunkt
zu diesem Zweck, indem er sich die Frage vor-
legt, wie sich speciell der religiöse Verkehr des
Christen mit Gott im Mittelalter gestaltet habe.
Die vorbildliche und das ganze Mittelalter hin-
200 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
durch maßgebende Darstellung dieser Devotion
findet der Verf. in den 86 Predigten des heil.
Bernhard über das Hohelied. An diesem klas-
sischen Master wird es deutlich, daß die Gnade
den obersten Gesichtspunkt nicht Mos für die
evangelische, sondern ebenso für die katholische
Frömmigkeit bildet, und daß es ferner durchaus
verkehrt ist, wenn nach der herkömmlichen Auf-
fassung der protestantischen Polemik derKatho-
licismus den Erlöser vorwiegend als den stren-
gen Richter vorstellen soll, dem man sich le-
diglich auf dem Umwege der Heiligenverebrung
nähern dürfe. Bernhard giebt der allegorischen
Erklärung des Hohenliedes die höchst erfolg-
reiche Wendung, daß er unter der Braut Christi
nicht sowohl die Kirche als die einzelne Seele
versteht. Die Contemplation, welche er den
Mönchen als die vollkommene religiöse Praxis
empfiehlt, kommt auf den bräutlichen Verkehr
mit dem Herrn Jesus hinaus. Diese nicht ohne
ein Bewußtsein ihres sinnlichen Charakters auf-
tretende Devotion ist im Grunde nichts Anderes
als der Cultus des idealen Menschen. Die sen-
timentale Betrachtung des menschlich Rühren-
den an Christus läßt den religiösen Gedanken
seiner Gottheit nicht aufkommen. Der letztere
entspricht der Erfahrung, daß man in dem Be-
wußtsein der Liebe Christi die Welt überwin-
det. Die einsamen Phantasien jenes bräutlichen
Verkehrs sind aber das gerade Gegentheil die-
ser Erfahrung. Der Gegensatz der katholischen
und evangelischen Frömmigkeit läßt sich also
dahin aussprechen, daß jene in der leidenschaft-
lichen Sympathie mit dem Erlöser und in den
unsicheren Genüssen der Phantasie und erregter
Gefühle gipfelt, während die letztere nicht in
diesen Erscheinungen hängen bleibt, sondern in
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 201
der geistigen Freiheit ihren Abschluß findet,
welche der im Kampf des Lebens stehende
Mensch ans dem Vertrauen auf den Erlöser
schöpft. Dieser Gegensatz steht mit der Lebens-
auffassung beider Kirchen in engstem Zusam-
menhange. Ist das Idea) des christlichen Le-
bens ein mönchisches, so muß die von Bernhard
empfohlene Praxis der Frömmigkeit Platz grei-
fen ; die Durchführung jenes Ideals vertilgt not-
wendig die Anlässe für die Bethätigung des
evangelischen Glaubens. Sobald dagegen die
mönchische Lebensauffassung verdrängt wird,
so findet sich der Mensch vor practische Pro-
bleme gestellt, durch deren Ernst die einsamen
Genüsse der sentimentalen Frömmigkeit entwer-
tet werden. Diese Frömmigkeit mit ihrer my-
stischen Spitze kann nur Mönchen zugemuthet
werden, welche gar keine Gelegenheit haben,
ihren Glauben in den Versuchungen durch die
Sorgen des menschlichen Lebens zu erproben.
Die evangelischen Christen dagegen, welche
diese Probe machen sollen, weil sie der Welt,
in welche sie Gott gestellt hat, nicht den Rü-
cken kehren dürfen, können sich von ihrer Ver-
söhnung mit Gott nur dadurch überführen, daft
sie die Hemmungen des Lebens durch das Ver-
trauen auf Gott und durch das von demselben
erfüllte Gebet überwinden.
Dieser gemeinsame religiöse Charakter der
Reformation wird nun aber etwas modificiert
durch die verschiedene Beurtheilung , welche
der kirchlichen Disciplin in dem deutschen Kir-
chengebiet und in dem außerdeutschen Calvinis-
mus zu Theil wird. Die beiden Zweige der
Reformation stimmen zwar darin überein, daft
die Disciplin nicht blos aus der allgemeinen
Rücksicht der gesellschaftlichen Ordnung, son-
202 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 7.
dem auch ans der Rücksicht auf die Ehre Christi
oder auf den besonderen Charakter der christ-
lichen Gemeinschaft nothwendig sei. Hieraus
folgert aber Calvin, daß die Kirche bestimmte
rechtliche Organe zur Ausscheidung der offen-
baren Sünder besitzen müsse, zu denen sich
die Staatsgewalt nicht als höhere Instanz, son-
dern nur als bereitwillige Dienerin verhalten
dürfe. Er begründet die kirchliche Disci plinar-
gewalt unmittelbar aus der heil. Schrift und
hält sie für ein unverlierbares Attribut der
Kirche. Dagegen folgt die deutsche Reforma-
tion dem Gedanken, daß die Disciplin nur eine
bedingte Notwendigkeit für die Kirche hat, so-
fern nämlich der Staat seine sittliche Bestim-
mung, die Ordnung des Lebens im Sinne des
Christenthums aufzurichten, vergißt. Als den
normalen Zustand hat man dabei vor Augen,
daß die Kirche als die Trägerin der Gnaden-
verkündigung und der Staat als die in Gottes
Willen begründete Rechtsordnung zusammen-
wirken zu einer göttlichen Erziehung des Vol-
kes, welche dann auch reinigend auf die reli-
giöse Gemeinschaft zurückwirkt. Die lutheri-
sche Stellung zu diesen Fragen ist also durch
den reinen religiösen Begriff von der Kirche
und durch den evangelischen Begriff vom Staate
bestimmt, in welchen der volle Gegensatz zum
Katholicismus erreicht wird. Das calvinische
Ideal einer durch äußerliche Gesetzlichkeit dis-
ciplinierten Kirchengemeinschaft gehört in die-
selbe Reihe wie die franciscanische Reform. Die
Verwandtschaft mit den Wiedertäufern, welche
sich darin verräth, ist noch deutlicher in den
besonderen Umständen ausgedrückt, daß Cal-
vins Verwerthung des N. T. ebenfalls aus der
Meinung hervorgeht, die erste und elementarste
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 2G8
Gestalt der christlichen Gemeinde sei die für
alle Zeiten maßgebende, und daß er sieh gegen
gesellige Erholung und öffentliches Spiel ebenso
ablehnend verhält, wie jene. Daraus erhellt,
daß der Calvinismus zur Aufnahme oder Neu-
erzeugung solcher Lebensformen, welche der
franciscanischen Reform entsprechen, besonders
disponiert sein muß. Calvin selbst hat sich frei-
lich dagegen verwahrt, daß die Richtung seiner
Kirche auf sittliche Vollkommenheit zu separa-
tistischen Folgerungen führen müsse. Er hat
dabei nicht nur den Merkmalen der Kirche, in
welchen ihr rein religiöser Begriff bezeichnet
ist, den höheren Werth zugestanden, sondern er
bat auch anerkannt, daß die Forderung der
sittlichen Reinheit der Gemeinde eine Versu-
chung für die Guten zu Ungeduld und hoch-
mütiger Strenge werden könne. Aber es ist
bezeichnend, daß er gerade denen, die solchen
Versuchungen unterliegen, das Prädicat der Gu-
ten zugesteht. Demgemäß haben in der Folge
die strengen und ungeduldigen Vertreter der
sittlichen Vollkommenheit der Gemeinde sich
für die Guten und die Besten in der reformier-
ten Kirche geachtet. Und sie haben darum
sich über alle die Gründe hinweggesetzt, mit
welchen Calvin ihnen im Voraus entgegenge-
treten ist. Die lutherische Kirche hat trotz des
entgegengesetzten Scheines der Unfertigkeit eine
festere Abgrenzung gegen das mittelaltrige
Christentum gewonnen als der Calvinismus.
Allerdings hat auch die lutherische Kirche ge-
mäß der Regel, daß neue geistige Antriebe von
den Massen nicht ohne Rückbildungen des Al-
ten angeeignet zu werden pflegen, Rückstände
specifisch katholischen Wesens mit sieb genom-
men. Aber von viel größerem Gewichte ist es,
204 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 7.
daß Calvin von vornherein mit Luthers Grand-
Sätzen jene Anfgabe der weltflüchtig heiligen
Gemeinde, so weit es im Staate möglich war,
verbunden hat. Er hat damit den Reformtrieb
der am Ausgang des Mittelalters in den Volks-
massen lebte, seiner Kirchenbildung einverleibt
und derselben auf diese Weise eine Wider-
standskraft verliehen, welche dem Lutberthum
nicht eigen war Wenn man nun Grund hat,
gerade deswegen die Genialität Calvins zu be-
wundern, so darf man sich doch nicht verber-
gen, daß darin eine Rückbildung des mittelal-
trigen Reformideals in die Reformation Luthers
vorliegt. Im Calvinismus sind fremdartige Ele-
mente in größerem Umfange mit einander ver-
banden als in dem vorgeblich halbkatholisch ge-
bliebenen Lutherthum.
Wenn nun der Pietismus das in beiden Zwei-
gen des Protestantismus fortwirkende Reform -
bedürfniß befriedigen will, so sind es doch
nicht jene unüberwundenen Reste katholischen
Wesens, gegen welche er sich richtet, sondern
die Dürrheit und Geistlosigkeit des Buchstaben-
glaubens. Diesen Fehler an den beiden prote-
stantischen Kirchen leitet der Verf. davon ab,
daß es im Reformationszeitalter selbst nicht ge-
lungen war, sich der neuen Totalanschauung
vom Christentum theologisch zu bemächtigen.
Das reformatorische Christentum wird in einer
Reihe von Lehrartikeln überliefert, welche
Fremdartiges mit sich führen und vor Allem
das innere Band des Zusammengehörigen nicht
erkennen lassen. Schon im vierten Artikel der
Augastana wird der practische Zweck der Lehre
von der Rechtfertigung aus dem Glauben nicht
mitgenannt; man muß sich über ihn aus ande-
ren Aussagen des Bekenntnisses unterrichten.
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 205
Und doch ist erst in diesem practiscben Zweck
die entscheidende Erkenntniß der Reformation
ausgesprochen, daß die geistige Verfassung, in
welche der christliche Glaube den Menschen
versetzt, die Veränderung seiner Weltstellung
bedeutet, welche ihn befähigt, in seinem welt-
lichen Dasein Gott zu finden und für Gott zu
leben. Von dieser Erkenntniß aus ist es mög-
lich, die christlichen Lehren zweckmäßig zu
ordnen und dieselben nicht blos als Probleme
des Verstandes, sondern als Heilslehren zu wür-
digen. Du^ch die Umstände in eine Polemik
hineingerissen, welche sich naturgemäß an Ein-
zelnes heftete, sind die Reformatoren zur Durch-
führung dieser systematischen Aufgabe nicht
gekommen. Die Epigonen aber, wie Jo. Ger-
hardt, waren so wenig im Stande, aus den
Bruchstücken, welche sie conserviert, sich auf
das Ganze zu besinnen, daß sie es für zweck-
mäßig hielten, die Lücken durch Entlehnungen
aus den Scholastikern zu füllen. Das Verstand*
niß für jenes practische Ziel, welches die re-
formatorischen Lehrer voraussetzten, bat sieh in
der Gemeinde fortgepflanzt, wie die ascetische
Literatur beweist. In der eigentlichen Theolo-
gie des 17. Jahrhunderts ist wenig davon zu
spüren. Wenn daher die Theologen dieser Zeit
das Verdienst haben, wenigstens die Formeln
an wichtigen Punkten treu bewahrt zu haben,
so konnte doch das zähe Festhalten von Sätzen,
deren practische Tendenz ihnen verborgen blieb,
wohl die Energie ihres Willens herausfordern
and den Verstand in logischer Arbeit üben ; das
religiöse Gefühl dagegen erfuhr aus der treuen
Erfüllung dieser Aufgabe wenig Anregung. Und
wenn nun in der Folgezeit lebendige Geister
darauf drangen , einen practisohen Ertrag der
religiösen Erkenntniß zu erleben , so zeigte sich,
206 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 1
*
daß die Orthodoxie in beiden Kirchen unver-
mögend war, ihnen die Wege zu weisen. Sie
mußte den Vorwurf der Unfruchtbarkeit auf
sich nehmen. Die Männer aber, die diesen Vor-
wurf e^höfren, wurden Pietisten.
Das Reformbedtirfniß wird also in beiden
Zweigen der evangelischen Kirche durch die
Unzweckmäßigkeit der herrschenden Lehre ge-
nährt Auf dem Gebiete des Calvinismus aber
wird jenes Bedtirfniß weit eher practisch wirk-
sam, weil hier das ethische Merkmal an dem
Kirchenbegriff und das Forschen nach den Kenn-
zeichen des Gnadenstandes eine Unruhe erzeu-
gen, welche die Folgen jenes Mangels schneller
stur Reife bringt. Die daraus entspringende Bct
wegung verfolgt der Verf. nun nicht in der gan-
zen refcrmirten Kirche. Er beschränkt sich auf
die niederländische und deutsche, weil die ana-
logen Erscheinungen in England unter Bedin-
gungen stehen, welche auf dem Festlande feh-
len. Schon der einflußreichste Name der nieder-
ländisch-reformierten Kirche des 17. Jahrhun-
derts, Gisb.ert Voet, zeigt sich nicht nur als
strengen Vertreter calvinischer Orthodoxie, son-
dern verbindet damit einen Eifer für kirchliche
Zucht, der neben den Auswüchsen des Volks-
lebens auch naturgemäße Ordnungen desselben
bekämpft. Er selbst läßt sich dadurch noch
nicht zur Separation verleiten. Die bereits be-
stehenden Absonderungen innerhalb der nieder-
ländischen Kirche sucht er vielmehr als Organe
des gemeinsamen kirchlichen Lebens zu verwer-
then. Auch Mystiker ist er nicht gewesen. Aber
sein Eifer für die kirchliche Disciplin, in wel-
chem sich die Stimmung der strengen Calvini-
sten in den Niederlanden spiegelt, stellt doch
Aufgaben, welche auf die Separation hindrän-
gen. Und ein von ihm hochgeachteter Theolog,
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 207
Wilhelm Teellinck, konnte, ohne seinen
Widersprach zn erfahren, den Stand der Bekeh-
rung mit den Mitteln des Hohenliedes nach der
Auslegung Bernhardts beschreiben. Den Ab*
stand zwischen der hier empfohlenen bräutlichen
Zärtlichkeit für den Herrn Jesus und dem evan-
gelischen Glauben nach der Auffassung Calvins
blieb dem orthodoxen Calvinisten verborgen.
Es erscheint daher als zufällig, weon er für
sich weder zur Separation noch zur Mystik fort*
schritt. Sein großer Zeitgenosse Johann Coc-
cejus lieferte für die Förderung des pietisti-
schen Wesens einen anderen Beitrag. Dem pe-
dantischen Streben nach Vollkommenheit, wel-
ches in den Gonventikein gepflegt und in dem
Grandsatz der Präcisität ausgesprochen wurde,
blieb er durchaus fern. In den Kreisen die-
ser Richtung galt er als Oppositionstheolog
was er insofern auch war, als ihn sein origi-
nelles Schriftverständniß an sehr wichtigen
Punkten, wie in der Gotteslehre, mit der ortho-
doxen Ueberiieferung in Widerspruch brachte.
Trotzdem hat er durch einen seiner bedeutend*
sten Gedanken dazu beigetragen, jenen Vertre-
tern einer gereizten Orthodoxie den Weg zum
Pietismus zu ebnen. Was den Reformatoren nie
gelungen war, den religiösen Glauben und das
sittliche Handeln der christlichen Gemeinde als
die gleichnothwendigen Functionen desselben
Lebens ans Gott klar zu machen, bringt Coc-
cejtts in überraschend großartiger Weise zu
Stande, indem er die biblische Idee des Reiches
Gottes in ihr Recht einsetzt. In dem vom
Verf. analysierten Panegyricus de regno dei
führt er aus, daß die aus dem Worte Gottes
hervorgehende religiöse Gemeinschaft, nicht das
Ganze der Herrschaft Gottes darstellt. Dieses
Reich, in welchem die Knechte Könige sind, ist
208 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
nur vorhanden, sofern die religiöse Freiheit sieb
als die Voraussetzung der sittlichen Freiheit be-
währt, welche in dem Friedensreiche iin Liebe
verbundener Menschen ausgeübt wird. Der
große Einfluß, den Coccejus gewonnen hat,
ist nicht zum Mindesten darauf zurückzuführen,
daß er dieses gemeinschaftliche religiöse und
sittliche Ideal zur Anschauung gebracht hat.
Aber je höher die anregende Kraft desselben
zu veranschlagen ist, desto verhängnißvoller
war es, daß es ihm nicht gelungen war, den
weltlichen Beruf in seinem Werthe für das Chri-
stenleben aufzufassen und diese Erkenntniß mit
jenem Ideal zu verarbeiten. Indem ihm diese
wichtigste ethische Errungenschaft der Reforma-
toren verloren ging, diente der kräftige Antrieb,
den er ertheilte, doch zu einer Verengung der
Lebensauffassung, welche der Entwicklung des
Pietismus zu Gute kam. Der erste, welcher die
ausgeprägten Züge des Pietismus trägt, ist ein
Schüler von Voet und Coccejus, Jodocus vom
Lodensteyn, von welchem der Verf. eine
überaus anziehende Schilderung entwirft. Das
practische Ideal des Calvinismus, die Wiederher-
stellung des apostolischen Zeitalters der Kirche,
gewinnt bei diesem energischen Manne die
Kraft, eine Reihe mittelaltriger Grundsätze an
sich heranzuziehen, vor welchen die evangeli-
schen Lehren nicht Stand halten können , weil
sie sich aus jener Aufgabe nicht rechtfertigen
lassen. Ohne es sich einzugestehen , weicht
Lodensteyn in den wichtigsten Punkten der
christlichen Weltanschauung von den Reforma-
toren sehr bedeutend ab. Die Rechtfertigung
aus dem Glauben zieht er nur als Mittel der
sittlichen Heiligung in Betracht; die hauptsäch-
liche Bedeutung Christi ist nicht, daß er als
Herr der Gemeinde die Seinen mit Gott ver-
Ritschi, Geschiebte des Pietismus. I. üOil
söhnt, sondern daß er sie beherrscht und den
Gehorsam in vollkommner Erfüllung des Ge-
setzes von ihnen fordert; die Selbstverleugnung
im Sinne einer gänzlichen Entsagung vom eige-
nen Willen das Ziel des Christenlebens; und
dies Alles getragen von dem für allgemein ver-
nünftig ausgegebenen Gedanken, daß die Maje-
stät und Souveränetät Gottes jegliche Selbstän-
digkeit des Geschöpfes ausschließt. Weil er
diesen nominalistischen Gottesbegriff, den die
Reformatoren in der Prädestinationslehre zuge-
lassen hatten, in der reformierten Orthodoxie
als den leitenden Gedanken des Systems vor-
fand, so räumt er ein, daß die Reformation
allerdings die göttliche Wahrheit ans Licht ge-
bracht babe. Aber als bloße Reform der Lehre
babe sie die Kirche dazu gebracht, im Dienste
der Begriffe zu vertrocknen. Die wahre Refor-
mation soll durch die Praxis jener Selbstver-
neinung herbeigeführt werden, in welcher sich
der Christ von der Welt und die Gemeinde von
ibrer welthistorischen Aufgabe zurückziehen soll,
um zu den Eeimzuständen der Urkirche zurück-
zukehren. Er empfindet es als einen schweren
Hange), daß in der evangelischen Volkskirche
das freudige Gefühl der Erlösung durch Chri-
stus den Schmerz über die Unvollkommenbeit
der Werke abstumpft und er wagt den Aus-
sprach, es würde besser gewesen sein, die gött-
liche Wahrheit im Verborgenen zu lassen, als
mit den Irrthümern des Pabstthums zugleich die
vorhandene Uebung jener Selbstverleugnung zu
zerstören. Obgleich er nun daran verzweifelte,
die diesen Grundsätzen entsprechende Reform
an der Kirche seines Volkes durchzuführen, so
folgerte er daraus doch nicht die Notwendig-
keit der Separation, sondern die Notwendigkeit
der Selbstverleugnung und des geduldigen Har
14
210 Gott. gel. An*. 1881. Stück 7.
reus, bis der Herr selbst helfen würde. Aber
es ergab sich von selbst, daß in den Augen
seiner Gesinnungsgenossen der Werth der Con-
ventikel sieh hob, in welchen der Weg der von
ihm geforderten Beform beschritten werden
konnte. Und indem sich Lodensteyn wei-
gerte, seiner amtlichen Pflicht gemäß das Abend-
mahl zu spenden, kam er doch auch zu einer
Art von Separation, welche der anspruchsvollen
Zurückgezogenheit der Pietisten von der öffent-
lichen Kirche im Grunde gleichartig ist Der
Pietismus in dieser seiner ersten Gestalt ist also
eine Evolution des Calvinismus und zugleich
eine Beeinträchtigung des protestantischen Cha-
rakters desselben. Denn die Weltanschauung,
aus welcher die practischen Forderungen Loden-
steyn* hervorgehen, ist durchaus katholisch und
hebt den protestantischen Grundsatz auf, daß
der Christ durch die Erlösung zur Selbständig-
keit gegenüber der Welt berufen ist. Ein Fran-
zose, der direct von der katholischen Kirche
herkam, hat dann die von Lodensteyn vorbe-
reitete Separation in den Niederlanden zur Aus-
führung gebracht Auch L aba die folgt dem
Ziele, die Kirche nach dem Muster der Ge-
meinde von Jerusalem zu erneuern. Und der
Verf. zeigt, daß bei dieser ersten Separation der
Gedanke, welcher jener Aufgabe immer zu
Grunde liegt, sehr geistvoll erfaßt und kraftvoll
durchgeführt wird. Nicht die Nachahmung ein-
zelner Zttge an der ersten Gemeinde ist für
Labadie die Hauptsache. Er verfährt viel radi-
caler, indem er in seiner Stiftung durch die
freie productive Kraft aller Glieder die rechtli-
chen Formen der Kirche zu ersetzen sucht.
Seine Gemeinde sollte in ihrem Gottesdienst
durchaus den Charakter freier Geselligkeit be-
wahren, wie die in sich einige Gemeinde der
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 211
ersten Zeit. Ohne Zweifel hat er damit durch-
zufahren gesucht, was bei jener Sehnsucht nach
den Zuständen der Urkirche immer gemeint
war, eine religiöse Gemeinschaft, welche allein
darch die ihr eigentümlichen Mittel besteht,
ohne der rechtlichen Formen, die ihr an sich
fremd sind, zu bedürfen. Man wird auch nicht
leugnen können, daß diese relative Formlosig-
keit des religiösen Verkehrs dem Grundbegriffe
der Kirche congruenter ist, als die Gemeinschaft
gesetzlicher Lehre, Disciplin und Verfassung,
welche des Geistes und des Lebens zu entbeh*
ren verdächtig ist. „Hierin ist das Recht eines
solchen Unternehmens begründet. Aber die
Geschichte der Labadistischen Gemeinde bewährt
es, daß dieses Recht die Geburtsstunde einer
solchen Bildung nicht zu überdauern pflegt. Die
freie Geselligkeit, in welcher die Wahrheit der
christlichen Gemeinschaft gefunden zu sein
scheint, artet theils in immer weiter greifende
Formlosigkeit aus, theils erzeugt sie neue For-
men des Rechts ; sie betritt also die Bahn eigen-
tümlicher Verweltlichung, so wie das erste
Aufleuchten ihres geschichtlichen Daseins vor-
über ist. Und in diesen Merkmalen schleunigen
Verfalles der separatistischen Gesellschaft be*
währt sich ferner, daß der Bestand und die
Kraft des Christenthums auf eine breitere Grund-
legung und eine reichere Fülle menschlicher
and weltlicher Beziehungen angewiesen ist, als
welche in dem Rahmen der freien religiösen
Geselligkeit Platz finden" (223). Die Schick-
sale dieser merkwürdigen Gemeinde und ihre
hauptsächlich durch die hochbegabte Anna Maria
von Schurman vertretenen Grundsätze legt der
Verf. ausführlich dar. Der Begriff der Souverä-
netät Gottes und der geschöpflichen Nichtigkeit
des Menschen bildet hier ebenso wie im Katho-
14*
212 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
üoismus den obersten Gesichtspunkt der Reli-
gion. Der Glaube kommt nicht seinem eigenen
Inhalte nach, als das religiöse Bewußtsein der
Rechtfertigung in Betracht, sondern als Antrieb
und Mittel zur Heiligung. Die letztere besteht
in Selbstverleugnung und diese wiederum gipfelt
in der Contemplation, in welcher die Seele in
völligem Erleiden die Einheit mit Gott erlebt,
deren Wollust in. den Bildern des Hohenliedes
geschildert ist. Diese im Kloster einheimische
Frömmigkeit wird dann auch mit dem Titel des
Mönchthumes geschmückt: man wird dadurch
zum Stande eines Engels erhoben. Es sind die-
selben Grundzüge der Weltanschauung wie bei
Lodensteyn. Aber die katholische Herkunft
derselben tritt deutlicher zu Tage; L aba die
weiß, daß er seine Mystik aus den Schriften
des Areopagiten, des Hugo von St. Victor und
aus den Predigten Bernhards über das Hohelied
geschöpft hat. Ebenso ist die katholische Ten-
denz in seiner kirchlichen Praxis stärker aus-
geprägt; es gilt jetzt gerade, die Frommen
höheren Stils von dem „gemeinen bürgerlichen
Schlage" derselben zu scheiden. Dieselbe My-
stik wird nun gleichzeitig auch von solchen ge-
pflegt, welche innerhalb der Landeskirche blie-
ben, wie Brake 1, ja sogar von einem hervor-
ragenden Vertreter der academischen Ortho-
doxie, von H. Witsius. Als Mittel der An-
knüpfung an das orthodoxe Lehrsystem dient
der Begriff der leeren Absolutheit des göttlichen
Willens. Aber die practischen Beziehungen des
Rechtfertigungsglaubens, welche man bisher we-
nigstens nicht verleugnet hatte, werden nun
durch die mystische Praxis entwerthet, welehe
jenem Begriffe wirklich entspricht Es wird
wie etwas Selbstverständliches hingenommen,
daß die ästhetischen Genüsse der Phantasie,
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 213
welche sich an der Schönheit nnd Liebenswür-
digkeit Gottes oder des Herrn Jesus berauscht,
dem Christen Höheres bieten. Die merkwürdige
Thatsache, daß ein academisoher Theolog die
Bernhardinische Frömmigkeit genau reproducie-
ren konnte, ohne daft man die Unangemessen-
heit dieses Gedankenkreises für die reformierte
Kirche rügte, erklärt sich einigermaßen daraus,
daß die reformierte Orthodoxie, Voet an der
Spitze, überhaupt alle möglichen Stoffe religiö-
ser und theologischer Bildung aus dem Mittel-
alter aufzunehmen pflegte, sofern dieselben ge-
gen den feststehenden Umfang der Controverse
mit dem Pabstthum als neutral erschienen. Wei-
ter weist der Verfasser nach, wie jene Einbil-
dung, daß die mystische Praxis eine Frömmig-
keit höherer Ordnung bedeute, in die Conven-
tikel eindringt. Es war natürlich, daß diesel-
ben sich dieser Auszeichnung, sobald sie als
solche anerkannt war, zu bemächtigen suchten.
Auf diese Weise tritt in den Oonventikeln die
gesetzliche Richtung, der sie ihre Entstehung
verdankten, zurück und macht der sogenannten
„evangelischen" Richtung Platz, welche auf dem
Wege der Contemplation die gefühlsmäßige Er-
fahrung <fer Seligkeit erstrebt. Bei dieser Ueber-
leitung der Mystik in weitere Kreise kommt
aber nicht der ganze transcendente Apparat der-
selben in Anwendung. Nicht das unsagbare
Aufgehen der Seele in Gott, sondern der zärt-
liche Umgang der Seele mit dem allerschönsten
Jesus ist der Hauptgesichtspunkt. Der Verf.
zeigt dabei namentlich an dem Beispiel von
Sicco Tjaden, wie diese Frömmigkeit im
Grunde auf den Oultus des idealen Menschen
hinauskommt. Die mechanische Kraft des ästhe-
tischen Eindrucks des Ideals auf die Seele soll
alles Andere ersetzen. Wie weit man sich mit
214 Gott. gel. Aiiz. 1881. Stück 7.
dieser dürftigen Gefühligkeit von dem großarti-
gen Retchthum des einfachen evangelischen
Glaubens entfernt, weist der Verf. mit meister-
hafter Schärfe nach. „Diese Predigt von der
Liebenswürdigkeit des Herrn Jesns ist doch nur
ein sehr verkümmerter Nachklang der Predigt
von unserm Herrn Jesus Christus. Es kommt
doch wohl an auf die Herrschaft oder die Gott-
heit Christi. Diese kann nun nicht zur Geltung
gebracht werden außerhalb der nothwendigen
Beziehung zwischen ihm und seiner Gemeinde,
welche die Bestimmung hat, in die Gotteskind-
schaft und in die Beherrschung der Welt ein-
zutreten. Innerhalb dieses Rahmens erst ist es
möglich, das Gewicht der Sünde und das Gegen-
gewicht der Erlösung von Sünde und Uebel
richtig zu deuten, und die Befreiung des Ein-
zelnen von seiner Schuld gegen Gott in der
Freiheit des Vertrauens auf Gott, in der Freiheit
der Kinder Gottes von der Furcht vor der Welt
und in dem erfolgreichen Vorsatze des Gehor-
sams gegen Gott nachzuweisen" (317). Jene
Contemplation der Schönheit und Liebenswür-
digkeit Jesu kann zwar in gehobenen Momen-
ten die Phantasie in die Genüsse eines Privat-
verhältnisses zum Herrn einführen, ftber jener
Entfaltung des religiösen Charakters dient sie
nicht und die Ehrfurcht vor dem Heiligen muß
sie unterdrücken. Auffallend ist bei dieser gan-
zen Reformbewegung, daß theologisch gebildete
Geistliche die Leiter sind, welche das refor-
mierte Christentum in den Typus der bernhar
dinisohen Frömmigkeit zurück zu bilden suchen.
Das Ende konnte nur entweder die Auflösung
der evangelischen Kirche in den Niederlanden
oder die Separation sein, welche letztere end*
lieh 1839 in der Constituierung einer Christli-
ehen separierten Gemeinde vor sich ging.
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 215
Es ißt unmöglich, in einer kurzen Ueber-
«cht einen vollen Eindruck davon zu geben,
wie fein und sicher der Verf. den Naohweis
über Herkunft und Charakter des Pietismus ge-
führt bat. Er zeigt unwiderleglich, daß der
Pietismus sich bildet, weil der mangelhafte Aus-
druck des evangelischen Christenthums katholi-
sche Lebensmotive, welche der Sturm des 16.
Jahrhunderts nicht gänzlich hatte beseitigen
können , wiederaufkommen läßt. Die klare
Gegenüberstellung des reformatorischen und des
pietistischen Christenthums, wobei die compli-
riertesten Erscheinungen mit fester Hand in
ihre Elemente zerlegt werden, bildet eine der
glänzendsten Seiten des Buches. Aber wenn
der Verf. sich auch selbst durchweg auf die
Seite der Reformatoren stellt, so verkennt er
doch keineswegs, wie respectable religiöse Kräfte
an der Mischgestalt des Pietismus gearbeitet
haben ; und vor Allem ermöglicht er durch seine
umfassende Analyse dem Leser die Bildung
eines eigenen Urtheils. Man gewinnt bei dem
Verf. mehr als den Wechsel von Sympathie und
Antipathie, in welcher sonst die historische Be-
trachtung des Pietismus zu versetzen pflegt.
Der begriffliche Gehalt der streitenden Weltan-
schauungen kommt zur klaren Aussprache. Und
wenn sich der Leser mehr zum Pietismus hin-
gezogen fühlt als zu dem evangelischen Chri-
stentum, an dessen Lebensfähigkeit der Verf.
glaubt, so wird er an der Hand dieses Führers
wenigstens die Gründe verstehen lernen, denen
er dabei nachgiebt
Nachdem der Verf. im ersten Buch die all-
gemeinen Bedingungen für das Aufkommen des
Pietismus erörtert und im zweiten die Ent-
stehung desselben in den Niederlanden geschil-
dert hat, zeigt er im dritten Buch, wie sich von
216 , Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
dort aus die pietistische Reformbewegung in der
deutschreformierten Kirche ausbreitete. Leider
verbietet es der Baum, auf diesen Theil des
Werkes noch näher einzugehen. Ich bemerke
aber, daß derselbe vortrefflich geeignet ist, auch
nichttheologische Leser zu fesseln und zu einem
Verständniß für die Bedeutung des Pietismus
zu bringen. Die Bilder so bedeutender Men-
schen wie Lampe, Tersteegen, Lavater,
Jung - Stilling , Collenbusch wirken
ebenso anziehend durch den Reichthum und die
Lebendigkeit der Schilderung, wie sie instructiv
sind als sehr verschiedenartige Modificationen
desselben Qrundcharakters. Aber auch die Ge-
duld, welche der Verf. an Menschen von kleine-
ren Verhältnissen, wie Anna Schlatter, G. D.
Krummacher und Kohlbrügge gewendet hat, ist
sehr dankenswert^ Originalität der Gedanken
ist hier freilich nicht mehr zu finden. Aber na-
mentlich die beiden zuerst Genannten sind höchst
interessante Krankheitserscheinungen, deren Stu-
dium durch die bewundernswerthe Virtuosität in
religiöser Mittheilung, welche ihnen eignet, er-
leichtert wird. Von einer Abnormität darf man
bei ihnen insofern reden, als man berechtigt ist,
sie mit dem Calvinismus, den sie vertreten wol-
len, zu vergleichen. Abgesehen davon sind sie
in der Art, wie sie die religiösen Gedanken an
den Wechsel ästhetischer Erregtheit und Stumpf
heit des Gefühls knüpfen, getreue Nachfolger
jenes „evangelischen" Pietismus und correcte
Bepräsentanten der katholischen Sinnesart, wel-
che sich den objectiven Gründen der evangeli-
schen Heilsgewi öheit verschließt. Der Verf. hat
eine besondere Gabe dafür, auch in solchen Er-
scheinungen der Kirchengeschichte die Wirk-
samkeit der religiösen Gedanken aufzuspüren,
welche in der Regel bei der Geschichte der
Ritschi, Geschichte des Pietismus. I. 217
letzteren außer Betracht bleiben. Die glänzende
Bewährung dieser Gabe sichert dem vorliegen-
den Buche, welches der Dogmengeschichte ein
neues großes Gebiet gewonnen hat, eine epoche-
machende Bedeutung.
Zum Schluß sei noch die interessante Beob-
achtung über das Verhältnis von Mystik nnd
Scholastik mitgetheilt, welche der Verf. in dem
Abschnitt über Tersteegen gemacht hat. Er fin-
det nämlich, daß die quietistische Mystik, welche
im Laufe des 16. Jahrhunderts in Spanien ihre
Hauptvertreter gefunden hat, die Mystik des
Franciscanerordens ist, nnd ihren theoretischen
Hintergrund in der Theologie des Duns Scotus
besitzt, während auf der andern Seite die My-
stik in der ersten Hälfte des Mittelalters ebenso
wie die deutsche Mystik des 14. Jahrhunderts
anf die Begriffe hinauskommt, welche Thomas
theologisch entwickelt hat. Wie die scotistische
Theologie dem Thomismus absichtlich entgegen-
gesetzt ist, so ist auch die quietistische Mystik
als die entsprechende religiöse Praxis anzu-
sehen, welche sich in der katholischen Kirche
trotz der officiellen Begünstigung der Dominicaner
in der Theologie behauptet. Die quietistische
Mystik folgt dem Begriff des Duns von der Se-
ligkeit, wonach dieselbe in der gänzlichen Hin-
gabe des Willens an Gott ihr Wesen hat und
die Freude sie nicht nothwendig begleitet; da-
mit steht in Verbindung der scotistische Gottes-
begriff, gemäß welchem das richtige Verhältniß
zwischen Gott und Mensch die volle Nichtigkeit
des letzteren voraussetzt. Nach Thomas dagegen
besteht die Seligkeit in der Contemplation, wel-
che nothwendig von Freude begleitet ist Wenn
dann die dominicanische Mystik , die diesem
Begriffe folgt, von der schauenden Seele sagt,
Gott seinen Sohn in ihr von Neuem ge-
218 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
Wert, so wird darin der Werth derselben für
Gott ausgesprochen, welcher ebenfalls bereits in
dem thomistischen Gottesbegriff festgestellt ist
Wie wichtig diese Wahrnehmung für die Er-
kenntniß der Bedeutung ist, welche der Mystik
zukommt, braucht nicht ausgeführt zu werden.
Es wäre nur noch nöthig, daß an classischen
Vertretern der quietistischen Mystik wie Johan-
nes de Cruce der detaillierte Nachweis fttr jenen
Zusammenhang gefuhrt würde.
Marburg. W. Herrmann.
Itinera Hierosolymitana et descriptio-
nes terrae sanctae bellis sacris ante-
rior a edid. TitusTobler et Augustus Mo-
li n i e r. Genevae 1877 et 1880. *)
Obwohl die hier gesammelten Reisebeschrei-
bungen zumeist einer so späten Zeit angehören,
daß die Namen der Verf. dem klassischen Phi-
lologen fremd klingen, so giebt es doch ein
Band, welches einige und zwar die bedeutend-
sten derselben mit der antiken Litteratur ver-
knüpft, und es hätte sehr im Interesse der
Hsgb. gelegen diese Beziehung zu ermitteln und
auszunützen. Aber wenngleich die Vorrede des
Werkes mit den Worten beginnt: Palaestinae
geographica initium in lItmerario a Bordigala
Hierosolymam usque ' minime quaerendum, sed
ad multo anteriorem aetatem regrediendum est,
sind die Hsgb. doch, als ob diese älteren Quel-
*) Nachdem bereits in Stück 44 dieser Blätter vom
vorigen Jahre der gelehrte Verf. der 4 Geschichte des
Levantehandels im Mittelalter', Hr. Oberstudienrath Dr.
W. Heyd, die Bedeutung des oben genannten Werkes
im Allgemeinen dargelegt hat, bilden die folgenden Mit-
theilungen eine gewiß nicht unwillkommene Ergänzung
jener Besprechung, da sie die Reisebeschreibungen von
einer wesentlich neuen Seite, in ihrer Beziehung zu den
Ausläufern der antiken Litteratur, betrachten.
Itinera Hierosolymitana ed. Tobler et Moliuier. 219
ien nur im Griechischen (Josepbas, Ptolemäus)
oder im Hebräischen (Talmud) zu suchen seien,
während sie nur lateinische Bearbeitungen be-
rücksichtigen wollen , stillschweigend darttber
hinweg gegangen. Nur einmal wird aus dem
Kirchenvater Hieronymus eine Stelle namhaft
gemacht, welche Adamnanus selbst (Arculf. 2, 7)
mit ausdrücklicher üinweisung auf den über lo-
corum des Hieron. citiert. Aber daß derselbe
Adamnanus 2, 10 den nämlichen Hieron. de in-
terpret, nominum hebr. (III. pg. 130 und 195
edit. Vallars.), daß er 1,23 die Chronik des Sul-
picius Sever us 2,33,5, daß er 2, 12 die genannte
interpr. des Hieron. p. 230 Wort für Wort aus-
geschrieben hat, entging den Herausgebern und
damit auch der große Vortheil mit Hülfe der ge-
nannten Quellen den sehr unsichern Text des
Adamnanus festzustellen und daraus ein untrüg-
liches Regulativ für die Beurtheilung der Hand-
schriften zu gewinnen. Und sofern auch jene
Stelle aus Sulpicius, obschon Adamnanus mit
einem ut alibi scriptum repertum est zur Auf-
suchung der Quelle auffordert, leichter übersehen
werden konnte, das angeführte Werk des Hie-
ronymus mußte doch auf jeden Fall zu Rathe
gezogen werden, schon deshalb, damit abgesehen
von dem großen textkritischen Interesse zwischen
dem, was die Späteren selbständig beigebracht,
und jenem, was sie einfach von den Aelteren
abschrieben, geschieden werden konnte. Es
scheint kaum begreiflich, daß ein Mann wie
Tobler, welcher mit so viel Eifer und Geschick
Jahrzehnte auf die Erforschung des heiligen Lan-
des verwendet hat, nie darauf kam einen Blick
in den Abschnitt bei Isidor, welcher in seinen
origines 14, 3, 16—28 über Palästina handelt,
zu werfen. Dort würde er, unterstützt von den
vortrefflichen Anmerkungen Arevali's, die beste
220 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
Antwort auf seine Frage (pg. XXXIV) : quinam
sunt ergo Uli auctores? erbalten und erfahren
haben, wer der von Eucberius citierte Joseph us,
wer der von Tobler selbst richtig gefühlte
Eucherii quid am antecessor, wie der von A damn.
2, 18 genannte tertius Judaicae eaptivitatis liber zu
deuten, was in erster Linie unter den von Beda
benützten veteres libri zu verstehen sei
Es ist immer eine und dieselbe Quelle, der
sogenannte Hegesippus*, der lateinische, von
Weber und Cäsar 1864 herausgegebene lateini-
sche Uebersetzer des jüdischen Krieges von Jo-
sephus, welcher von den genannten Autoren da
und dort wortgetreu abgeschrieben worden ist,
auch in den Partieen, die er aus eigener Kennt-
niß in den Bericht des Josephus einzuschieben
pflegt. Eine Vergleichung dieser Quelle, welche
sowohl für Hegesipp als auch für Eucherius, Isi-
dor, Adamnanus, Beda, seine Gompilatoren, höchst
fruchtbar ist, würde die Hsgb. der itinera vor
manchen Fehlgriffen in der Gestaltung des Tex-
tes bewahrt haben, und sie ist, auch wenn man
auf einzelne Verbesserungen weniger Gewicht
legt, oft geradezu unentbehrlich um zu verstehen,
was der Abschreiber sagen wollte. Oder lesen
sich die Worte des Adamn. 2, 28 unde procul
dubio fit, ut in adverso inter scabras (codd. scru-
peas) rupes molesque disruptas canalis ille medius
semper sit inquietus nicht ganz anders, wenn
man daneben hält, was Hegesippus sagt 4, 27,
44: unde fit, ut | inlidentibus se in partem insu-
lae fluctibus et recurrentibus \ in adversum inter
scrupeas rupes molesque constructor ct. ! Die Un-
verständlichkeit aber jener Stelle bei Beda 12:
lucernam accensam ferunt supernatare sine ulla
corwersione nee extineto demergi lamine, quin
et vas demersum arte qualibet difficile haerere
in profundo verschwindet sofort, wenn man bei
v. Wietersheiin-Dahn , Geschieht« d. Völkerwander. 221
Heges. 4, 18 liest: lucernam accensam f. s. s. u.
ce.dJ.et quavis demersum arte quod vivat diff.
k in pr.
Wird hiedurch das Interesse neuerdings auf
Hegesipp gelenkt werden, so sei hier nur noch
die Bemerkung gestattet, daß der Leser mehr
darüber in der eben erschienenen Abhandlung
des Ref. 'De Hegesippo, qui dicitur, Josephi
interpreted Erlang. 1881 findet, wo, wenn auch
diese Frage nur andeutungsweise behandelt wer-
den konnte, ein Verzeichniß der hier in Betracht
kommenden Stellen gegeben ist.
Rom. Dr. Friedr. Vogel.
Geschichte der Völkerwanderung von
Eduard v. Wietersheim. Zweite vollständig
umgearbeitete Auflage redigirt von Felix Dahn.
B. 1. Leipzig, T. 0. Weigel. 1880. 637 S. 8°.
Wietersheims Geschichte der Völkerwande-
rung hat wohl bei allen Lesern den Eindruck
hinterlassen, daß der Verfasser mit wahrhaft
heiligem Eifer an seine Aufgabe gegangen war,
daß er aber weder die Schulung besaß, um die
kritische Untersuchung rein zu Ende zu führen,
noch auch die künstlerische Begabung, um den
disparaten Stoff zu ordnen. So mußte denn
die Nachricht überraschen, daß Dahn eine neue
Ausgabe besorgt habe. Der erste Band (bis
375) liegt vor. Er zeigt sehr starke Verände-
rungen. Ganz weggelassen sind S. 11—268 des
ersten Bandes, welche römische Verhältnisse be-
handelten. Einige Abschnitte sind neu oder
fast neu, und auch von dem übrigen Buche blieb
keine Seite ohne Aenderungen. Einige dersel-
ben sind in Klammern gesetzt und mit D be-
zeichnet; aber viele Aenderungen, welche nicht
so bezeichnet sind, enthalten ebenfalls sachliche
Abweichungen. Der Leser merkt oft nicht, ob
222 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
es die Meinung von Dabn ist, was da steht,
oder von Wietersheim. Sehr zahlreich sind die
Aenderungen des Stils und der Gruppierung.
Excurse sind in den Text versetzt und anderes
ist aus dem Text an das Ende verwiesen, ein-
zelne Worte, Zeilen und Seiten sind weggelas-
sen. Der lästigen Breite und der Zusammen-
hangslosigkeit des Buches ist dadurch mit Glück
entgegengearbeitet, — wo ich die Aenderungen
verglich, fand ich Verbesserungen, aber die
schweren Mängel von Wietersbeims Ausdrucks-
weise, die Dahn selbst Bausteine B. 2 S. 150 f.
treffend characterisiert bat, konnten doch auch
so nur theilweise beseitigt werden. Geblieben
ist ferner der Mangel, der in der ganzen An-
lage des. Buches liegt: es ist weder eine Unter-
suchung noch eine Darstellung, es ist ein Ge-
misch aus beiden. Abgesehen von einzelnen
Excursen hat die Untersuchung nicht einmal
den Baum, den sie haben muß, wenn sie wis-
senschaftlichen Werth haben soll. Sie hat fer-
ner nicht Freiheit genug, sie steht unwillkürlich
unter dem Einfluß der Darstellung, in die sie
eingefügt ist und welehe dureh sie begründet
werden soll. Nicht besser geht es der Dar-
stellung. Sie wird in Fetzen zerrissen und ent-
behrt der Bestimmtheit, welche zu ihrer Natur
gehört. Dahn scheint freilieh diese gemischte
Gattung historischer Darstellung grundsätzlich
für die allein richtige zu halten. In seinem
jüngsten Aufsatz »Ueber neuere Darstellungen
der deutschen Urgeschichte« in 'Im Neuen
Reich' 1881 Nro. 4 macht er deshalb meiner
Deutschen Geschichte bis auf Karl den Großen
Theil I den Vorwurf, der Leser könne nicht
unterscheiden, was Tacitus sage und wo meine
Meinung anfange. Die Frage ist grundsätzlich
so wichtig, daß ich bei dieser Gelegenheit dar-
auf eingehe, und ich wähle dazu denjenigen
v. Wietersheim-Üahn , Geschichte d. Völkerwander. 223
Punkt, bei dem Dabo am bestimmtesten auftritt.
Es ist meine Darstellung von Athanarichs letz-
ten Schicksalen. An zwei Stellen babe ich
mich forschend mit diesem Abschnitt der Ge-
schichte auseinandergesetzt Einmal in diesen
Blättern 1871 Stück 35 in einer Recension von
Nitscbe's Gothenkrieg, und dann in einer aus-
führlichen Untersuchung in den Forschungen
zur Deutschen Geschichte XII 411 — 441 'Kriti-
sche Untersuchungen zu dem Kriege Theodo-
sius des Großen mit den Gothen 378 — 82'.
Das Resultat dieser Untersuchungen tilgte ich
in meine Deutsche Geschichte ein und nur das
Resultat: denn so habe ich mir die Aufgabe
gestellt. Die Geschichte wollte ich darstellen,
wie sie mir nach gewissenhafter Benutzung der
Quellen und der bisherigen Darstellungen er*
schien — die Untersuchung aber an anderen
Orten fahren. Nun vergleiche man mit dieser
Darstellung und der sie stützenden Untersu-
chung die Darstellung von Dahn, Könige der
Germ. V, 16 ff. Die Erzählung wird des Stof-
fes nicht Herr, weil das Interesse des Autors
wie des Lesers beständig abgelenkt wird durch
Angaben aus den Quellen, zerstreute Polemik
und Anfänge der Untersuchung, die wohl den
Laien blenden mögen, der Wissenschaft aber
nichts nützen. Nicht einmal die Zergliederung
des arg verwirrten Berichtes von Zosimus ist
gegeben. — Und nun noch eine persönliche Be-
merkung. Es ist unmöglich, alle Fragen in gleicher
Weise selbst zu untersuchen, und es ist schwer
sich der Forschungen anderer so zu bemächti-
gen, daß man mit wirklichem Urtheil über sie
verfügt Daß ich das Unternehmen wagte, ist
so gekommen. Ich hatte die Untersuchung von
Waitz und Bessel über Ulfila wieder aufgenom-
men. Die Kritik des Philostorgius, der Acta
Nicetae etc. lag fertig, und als Einleitung dazu
224 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 7.
entwarf icb das Bild von dem geistigen Leben
des vierten Jahrhunderts, das jetzt das erste
Capitel in dem dritten Bache meiner Geschichte
bildet. Dies Capitel hat mir den Muth gemacht
den alten Lieblingsplan einer reinen Darstellung
der ganzen Periode wieder aufzunehmen. Ich
kannte die ungeheueren Schwierigkeiten, die zu
überwinden waren, und fürchtete auch im Ein-
zelnen oft fehlzugreifen, während ich den Blick
auf das Ganze gerichtet hielt. Es muß aber
doch nicht, allzuoft geschehen sein. Das haben
die bisherigen Beurtheilungen gezeigt, und Dahn
hat mich vollends beruhigt. Ich darf seinen Auf-
satz vielleicht als eine Antwort ansehen auf die
Recension, die ich in diesen Blättern von Dahns
Hauptwerk, den 'Königen der Germanen' ge-
Seben habe, 1871 Stück 9 S. 321- 360, und auf
ie Recension, die ich über Usinger, Die An-
fänge der Deutschen Geschichte in Stück 32 von
1876 schreiben mußte, um den verstorbenen
Freund gegen die ebenso ungerechten als maß-
losen Angriffe Dahns zu vertheidigen. Wenn
Dahn unter diesen Umständen und bei seiner
langjährigen Bekanntschaft mit dem Gebiete
nichts anderes finden konnte, was er zu tadeln
im Stande war : so darf ich wohl recht zufrieden
sein. Die sachlichen Bemerkungen kann ich
ruhig der Prüfung der Fachgenossen überlassen
und die stilistischen dem Leser, der die Ci-
tate nachschlägt. Die Stelle von S. 295 ist
erst durch Weglassen einiger Worte unverständ-
lich geworden, und bei dem Gitat von den
„drohenden Wolken" S. 285 hat Dahn die La-
cher auf seine Seite gezogen, weil er aus dem
Zeugma dasjenige Subject wegließ, für welches
das Prädicat gewählt war. G. Kaufmann.
Fur die Redaction verantwortlich : JE, Heimisch, Director d. Gott, gel.
Verlag der Düterich'schtn Ytrtogs-Buchhmdkmg.
Druck der JHeUrich' sehen Univ.- BucJnhitcktrei (W. Fr. JTMstor).
225
Gffttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 8. 23. Febr. 1881.
Inhalt: Monuments Öerraaniae historica: Scriptorum
torn. UV. Von 0. Watit. — M. Cohn, Beitrage «nr Bearbeitung
des römischen Rechts. Bd. I. Von E. Holder. — W. Roeder, Bei-
trage zur Erklärung und Kritik des Isaios. Von F. Bloss.
= Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. Terboten a
Monuments Germaniae historica inde ab
anno Christi quingentesimo usque ad annum millesi-
mum et quingentesimum edidit societas aperiendis fon-
tibus rerum Germanicarum medii aevi. Scriptorum
t o m u 8 XXV. Hanno verae impensis bibliopolii Hah-
niani 1880. VIII und 958 Seiten in Folio.
Ein Bericht über diesen neuen Band der
Scriptores, den ich in gewohnter Weise hier ab-
zustatten habe, muß mit dem wiederholten Aus-
druck schmerzlichsten Bedauerns beginnen, daß
derjenige, der einen so wesentlichen Antheil an
der Bearbeitung desselben gehabt, von dessen
mehrjähriger wissenschaftlicher Thätigkeit die
bedeutendsten Früchte hier erst ans Licht tre-
ten, der Dr. Joh. Heller, das Erscheinen des
Bandes nicht mehr erlebt hat, indem er wohl
noch bis auf die letzten Seiten hin mit demsel-
ben beschäftigt war, aber, wie er einer hoff-
nungsreichen Laufbahn früh entrissen ward, so
auch nicht einmal die Genugthuung hatte, diese
wichtigen Beiträge zu dem großen nationalen
15
?26 Gott. gel. Ans. 1881. Stuck 8.
Werk den freunden Deutscher Geschichte selbst
vorlegen zu können. Sie beziehen sieh, ebenso
wie die Arbeiten im vorhergehenden Bande, alle
auf das Gebiet des jetzigen Belgien, mit dessen
historischen Quellen wie mit den lebenden For-
schern er während eines längeren Aufenthalts
im Lande sich auf das beste bekannt gemacht
hatte: des Aegidius Gesta episcoporum Leodien-
sium, mehrere Genealogiae ducum Brabantiae,
die dem Batduin von Avesne zugeschriebene
Chronik von Hennegau, das Ghronicon des Gen-
ter Johannes de Thilrode.
Die große Zahl der gerade diesen Grenzge-
bieten des Deutschen Reiches angehörigen hi-
storischen Werke hat es freilich nöthig gemacht
eine Theilung vorzunehmen: die Chronik des
Qalduin von Ninove und das umfangreiche Werk
des Johann Lange von Ypern, das an die Ge-
schichte des Klosters St. Bertin anknüpft, hat
Dr. Holder-Egger bearbeitet; von mir sind die
Gesta der Aebte des Klosters Villers in der
Nähe von Brüssel übernommen, aber auf Grund
von CoUatiojoen, die auch großenteils Heller
gemacht hatte»
Andere Mitarbeiter an diesem Bande sind
Professor Wattenbach und Archivrath Reimer in
Marburg; eia Stück war noch von dem verstor-
benen L. Bethmann zor Ausgabe vorbereitet,
bedurfte aber nach Veriajif längerer Jahre einer
Ergänzung. Das Uebrige ist von mir geliefert
Der Zweck des Bundes war, nachdem der
24. hauptsächlich Ergänzungen und Nachträge
zq den von 16—23 publieierten Geschichtschrei-
bern des 12. und 13. Jahrhunderts gebracht und
die Ijteihe der kleineren Welt-Chroniken bis zum
Schluß dieses hinabgeführt hatte, die größeren
Werke hauptsächlich ans dem Gebiet der Pro-
Monumenta Germaniae hist. Scriptor. T. XXV. 227
rinzialgeschichte in Anschluß an Band 23 bis
zum Ende des 13. Jahrhunderts zu bringen.
Doch ist diese Grenze, auch abgesehen von spä-
ter hinzugefügten Fortsetzungen älterer Werke,
ein paar Mal überschritten, beim Johann Lange,
wenn wir auf die Abfassungszeit sehen, die erst
in die Mitte des 14. Jahrhunderts fällt, die aber
hier nicht maßgebend sein konnte, da die Dar-
stellung schon mit dem J. 1294 abbricht, so-
dann bei der Fortsetzung der Eicbstedter Bi-
8chofsgeschichte, von der nur ein sehr kleiner
Theil ins 13. Jahrb. fällt, aber dieser doch auch
innerhalb desselben geschrieben ist, den Krems-
mttnsterer Geschichtsquellen, von denen die um-
fangreichsten erst den 20er Jahren des 14. Jahrb.
angehören, aber sich vorzugsweise mit der frühe-
ren Geschichte des Klosters, der Bischöfe von
Pas8an, der Herzoge von Baiern und Oester-
reich beschäftigen und mit älteren Aufzeichnun-
gen so nahe zusammenhängen, daß eine Tren-
nung nicht wohl möglich war. Auch die beiden
Werke des Sifrid von Ballbausen (Sifridus pres-
byter, wie er früher meist genannt wurde) sind
erst 1304, resp. 1307 gesehrieben; aber nur die
letzten drei Seiten geben Aber das Jahr 1300
hinaus, und scharf nach den Jahrhunderten
lassen sich überhaupt die Grenzen einmal nicht
ziehen. Dies Werk hätte allenfalls auch schon
den kleineren Ohroniken des 24. Bandes ange-
reiht werden können; da das nicht geschehen,
fand es passend hier seinen Platz.
Diese vorläufigen Bemerkungen zeigen schon,
daß die verschiedenen Theile des Reichs Ver-
treter gefunden haben: nur Schwaben fällt dies*
mal ganz aus. Dagegen lieferte Oberlothringen
das umfassende Werk des Richer von Senonnes,
das auch für die Geschichte des Elsasses eine
15*
228 Gott, gel. Aue. 1881. Stück 8.
erhebliche Wichtigkeit hat ; dem Rheingebiet
gehören das Buch des Christian von Mainz über
sein Erzstift und die Fragmente der metrischen
Chronik von Köln an; Baiern die jüngere
Ebersberger Chronik, und die Passauer Bischofs-
geschichten, Oesterreich außer den Kremsmün-
sterer Sachen eine freilich nicht sehr werthvolle
Chronik in Versen, Franken die Eichstedter Bi-
schofsgeschichte, Thüringen die Werke des Si-
frid und eine kurze Geschichte Ilfelds und der
Hohnsteiner Grafen, Sachsen die Fortsetzung
der Geschichte von Kloster Steterburg und Auf-
zeichnungen über mehrere Lübecker Bischöfe,
endlich Friesland die Geschichte des Klosters
Bastede mit den wichtigen Nachrichten über
die Kämpfe gegen die Stedinger und über die
Oldenburger Grafen.
Eine der umfangreichsten von diesen Publi-
cationen ist das Werk des Aegidius von Orval
über die Lütticher Bischöfe mit verschiedenen
Anhängen. Ein glücklicher Zufall wollte, daß,
gerade als diese Ausgabe vorbereitet werden
sollte, die lange verschollene Originalhandschrift,
welche Chapeaville benutzt, in der Seminar-
bibliothek zu Luxemburg wieder auftauchte,
aus der sie zweimal mit großer Liberalität uns
zur Benutzung erst nach Göttingen, dann hier
nach Berlin übersandt worden ist Dadurch
ward es Dr. Heller möglich, sie mit größter
Sorgfalt zu untersuchen und zu vergleichen, die
veschiedenen im Lauf der Zeit gemachten Ein-
tragungen, von denen das beigefügte Facsimile
eine Vorstellung giebt, genau zu unterscheiden,
so über die Entstehung und Beschaffenheit des
Werkes nähere Auskunft zu geben. Dasselbe
trägt ja wesentlich den Charakter einer Compi
lation an sich; auf dem Grunde des Heriger
Monumenta Germaniae hist. Scriptor. T. XXV. 229
Anselm entworfen, hat er diese mit mannig-
fachen Znsätzen versehen und mit Hülfe ver-
schiedenen Materials fortgesetzt. Eine Frage,
welche der Kritik manche Schwierigkeiten
macht, war das Verhältnis zn dem Texte des
Anselm. Köpke in seiner Ausgabe dieses
(SS. VII) hat wohl darauf aufmerksam gemacht,
daß es auch noch eine weitere handschriftliche
Ueberlieferung für die Fassung giebt, welcher
Aegidius folgt, begnügt sich aber diesen Text
als verkürzt und entstellt (recisum et fucatum)
zu bezeichnen. Dies ist in der That wenig zu-
treffend; ebenso oft wie verkürzt ist er auch
erweitert, und entstellt kann man ihn nur inso-
fern nennen, als sich mehrfach eine andere Auf-
fassung der Dinge, namentlich eine viel feind-
lichere Gesinnung gegen Heinrich III. in dem-
selben ausspricht. Heller hatte sich vorbehalten,
unter Benutzung des Codex Nr. 178 (durch Irr-
tham, der auch in den Nachträgen nicht be-
richtigt worden ist, steht S. 5: 187) der Lütti-
cher Bibliothek;, der auch bereitwillig hierher
mitgetheilt ward, eine nähere Untersuchung der
Sache im N. Archiv zu geben, auch nach mei-
nem Wunsch die wichtigsten Stellen als Nach-
trag zur Ausgabe des Anselm in SS. XIV zu
veröffentlichen. Mit Bücksicht darauf ist im
Aegid alles was aus dieser Bearbeitung des An-
selm stammt, auch wo es von dem gedruckten
Text erheblich abweicht, als abgeleitet gleich-
mäßig mit Petitschrift gedruckt. Es muß bei
dieser Gelegenheit aber daran erinnert werden,
daß die Ausgabe des Anselm auch sonst manche
Mängel hat, indem die benutzten, verhältnis-
mäßig alten Handschriften wesentliche Verbes-
serungen durch die später aufgefundene im Klo-
ster Averboden erhalten; auch unangenehme
230 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 8.
Druckfehler finden sich hier mehr, als man es
sonst in den Monumenta gewohnt ist.
An den Text des Aegidius sehließen sich
Auszüge aus einem kürzeren Werke (Gesta
abbreviata S. 129 — 135), das mit ihm in nahem
Zusammenbange steht, vielleicht ihm selbst zu-
geschrieben werden muß: es stimmt zum Theil
mit der ursprünglichen, später von dem Autor
geänderten Fassung überein, hat aber auch Zu-
sätze. Zunächst nur diese haben Aufnahme ge-
funden; sie sind, wie Heller meint, großenteils
aus einer uns verlorenen annalistischen Quelle
des Aegidius genommen ; anderes betraf die An-
fänge Lüttichs, ist hier aber als 'nimis fabulo-
sum' weggelassen, was ick jetzt bedaure, da
doch auch die Sagen oder Erdichtungen des
Mittelalters über die ältere Geschichte ein ge-
wisses: Interesse haben.
Weiter folgt die Vita des Bischofs Albert
von Ltitticb (S. 135—168), die Aegid fast voll-
ständig seiner Compilation einverleibt hat, die
hier aber zuerst in ihrer ursprünglichen Gestalt
veröffentlicht wird aus einer Brüsseler Hand-
schrift, die früher Arndt an Ort und Stelle, dann
Heller nochmals hier benutzen konnte. Als Ver-
fasser wird der Abt Werrkus von Lobbes mit
wenigstens sehr großer Wahrscheinlichkeit er-
mittelt. — Auch die Vita der b. Odilia war
eine wichtige Quelle Aegids für die Geschichte
des 13. Jahrhunderts. Von ihr bat sich aber
nur das dritte Buch, da» auch als Triumpfans
S. Lamberti in Steppes bezeichnet wird and
sieh speciell mit dem- Kampf Lütticbs gegen
Herzog Heinrieb von Brabant im J. 1213 be-
schäftigt, in ursprünglicher Fassung Erhalten,
wie dieselbe Cbapeaviile au» einem jetzt ves~
schollenen Codex herausgegeben hat; eine Rö-
Monumenta Germaniae hist. Scriptor. T. XXV. 231
mische Handschrift des 17. Jahrhübderts ehthält
eine moderne Ueberatbeitung and gewährte der
Ausgabe (S. 169—191) wenig Nützen. Hellet
erklärt sich gegen die Vermuthung Scheffel
Boicborsts, daft das von Albricus angeführte
Werk eines Hirnardus hiermit identisch sei.
Unter der Ueberschrift Monumenta historiad
Villariensis (S. 192—235) sind mehrere auf dad
Kloster bezügliche Werkö vereinigt, eine Chro:
nik oder Geschichte desselben — 1250, von
anderen fortgesetzt und so bis zum Ende des
15. Jahrhunderts geführt, dann Auszüge auö
einem Bach 'Gestasatitttörum Villarienfeium', dad
in zwei Recensionen vorliegt und zum Theil
mit Benutzung älterer Schriften über einzeln^
bedeutendere Angehörige des Klosters verfaßt
ist Eitie ganze Reihe meist aber neuerer Hand-
schriften ist in Belgiöti, Paris und London vol"
handen, die maünigfache Verbesserungen ztf
der früheren Ausgabe Marlenes möglich machten;
Christians ton Mainz ( Lib er dfe calamitate
ecclesiae Moguntinäe' (S. 236—248) idt aucH
nur in neueren Handschriften erhalten, von de-
nen Jaffa für seine Ausgabe iü den Monuments
Mogttatina (Bibl. Ill) eine Würzburger und
Frankfurter benutefe. Dazu brachte HÖirndf
selbst eine zweite Würzburger und eine Main-
zer berbei; diö Monumenta besaßeti seit länge-
rer Zeit die Collatioti dner stark abweichenden
in Upsala, die aller ab die Übrigen (im J. 1458
im Mainz geschrieben) besondere Berücksichti-
gung zu fordern ö6hieü, bis in letzter Stunde
noch glückliche* Weite in Cheltenham von Dr.
LiebermanA die Abschrift aufgefunden ward,
welehfc Treffler aus eiüem Sponheimer Codex
gemacht, dettä VWgTeichung gefälligst von
Hofr. Prof. M*a&6n iü Wien beäotgt, dann kei-
232 Gott. gel. Anz. 1681. Stück 8.
neu Zweifel ließ, daß diese der neuen Ausgabe
zu gründe gelegt werden müsse, durch welche
nun alle früheren als ungenügend beseitigt
werden.
Von dem umfassenden Werk des Rieh er us
über die Geschichte seines Klosters Senonnes in
den Vogesen (S. 249—345) befindet sich die
Originalhandschrift in Paris, die ich hier mit
voller Freiheit benutzen konnte, um zum ersten
Mal einen ganz vollständigen und correcten
Text zu geben. Dachery hatte nur die Ab-
schrift einer Handschrift des 16. Jahrhunderts
benutzen können, aber auch ziemich große Stücke
ganz weggelassen, die allerdings durch ihren
Inhalt nicht gerade geeignet waren für den
Autor einzunehmen, die aber doch zur Beurthei-
lung desselben kaum entbehrt werden können :
nur einiges davon ist neuerdings zugleich mit
einer älteren französischen Uebersetzung ge-
druckt worden (1842), ein Buch, das freilich in
zwei Exemplaren auf der hiesigen Bibliothek
vorhanden, aber sonst schwerlich weit verbreitet
ist. Dasselbe bringt auch Auszüge aus Auf-
zeichnungen, welche einem Errard, Kämmerer
des Herzogs Theobald (Thiebaut) von Ober-
lothringen zugeschrieben werden und in altfran
zösischer Uebersetzung vorliegen sollen: ich
verkenne nicht, daß ihre Genuität zu einigen
Zweifeln Anlaß geben könnte, habe aber doch
geglaubt die nicht uninteressanten Nachrichten
in den Koten mittheilen zu sollen; eine voll-
ständige Ausgabe wäre jedenfalls erwünscht,
um den Werth der Ueberlieferung eingehender
prüfen zu können. Daß Richers Buch bei man-
chem Unrichtigen und Unnützen (das mit klei-
ner Schrift gedruckt ward) auch wesentliche
Beiträge zur Geschichte des 13. Jahrb. enthält,
Monumenta Germaniae bist. Scriptor. T. XXV. 233
ist bekannt genug und neuerdings noch beson-
dere mit Rücksicht auf die Geschichte des El-
sasses hervorgehoben worden. — Als Anbang
ist die in Hexametern geschriebene ältere Vita
des Abts Antonius beigefügt (S. 345—348), die
in demselben Codex steht, bisher nur einmal
und nicht ohne Fehler gedruckt war.
An die ganz entgegengesetzte Seite des
Reichs führt das Chronicon rhythmicum Austria-
cum, das Wattenbach nach zwei Handschriften
der Wiener Bibliothek bearbeitet hat (S. 349 —
368). Das Fragment einer dritten älteren Hand-
schrift in Kloster-Neuburg, das Pez herausge-
geben, Pertz wieder abgeschrieben, war tiber-
sehen, da es sich unter einem ganz anderen
irreführendem Titel in unseren Sammlungen
befand; in Nachtrag (S. 873) konnten daraus
einige Verbesserungen des sehr corrupten Textes
gegeben werden. Um die Beseitigung zahlrei-
cher Schäden, die den Text oft fast ganz un-
verständlich machen, hat sich Wattenbach sehr
verdient gemacht; einiges steuerten Dr. Holder-
Egger und ich bei. Leider ist der Inhalt kaum
der aufgewandten Mühe werth, da es zum gro-
ßen Theil unhistorische oder doch verwirrte
Nachrichten sind, die der Verf. in schlechte
Verse brachte. Doch enthalten sie immer einzel-
nes von Interesse, wie gleich zu Anfang die
sagenhafte Darstellung von Friedrich I. Wahl,
später einiges zur Geschichte Oesterreichs und
Ungarns.
In höherem Grade ist das der Fall bei dem
Gedicht eines Eheinländers, oder wie ich glaube
bestimmter sagen zu können, eines Kölners, des-
sen Fragmente aus einer hiesigen Handschrift
Pertz im J. 1855 herausgab, worauf zwei Jahre
später andere aus dem Nachlaß Kindlingers
284 Gott. gel. Am. 1881. Stück 8.
von Deycks veröffentlicht wurden. Beide sind
hier jetzt vereinigt (S. 369—380), dann auch
in der Octavausgabe der Chronica regia Colo-
niensis wieder abgedruckt. Gab die wiederholte
Vergleichung der Berliner Fragmente immer ein-
zelne Verbesserungen, so war das in höherem
Maße bei den jetzt im Düsseldorfer Staatsarchiv
bewahrten beiden Blättern der Fall, die uns ge-
fällig zugesandt wurden. Allerdings ist die Be-
schaffenheit aller der Art, daß die Entzifferung
oft mit den größten Schwierigkeiten verbunden
ist, wo dann das geübte Auge Wattenbachs oft
erwünschte Hülfe gewährte. Manches hat aber
das Messer des Buchbinders für immer zerstört.
Und alles sind Fragmente, die des rechten
Zusammenhangs entbehren, auch nicht überall
ganz verständlich sind, die aber doch nicht das
ungünstige Urtbeil verdienen, das Cafdaüns über
sie ausgesprochen hat, und von denen man im-
mer wünschen mag, daß ein weiterer glücklicher
Zufall sie ergänze.
Es folgt eine kurze Genealogie der Nach-
kommen des h. Arnulf, <L h. der Lothringischen
Familien, die sich Earelragischer Abkunft rühm-
ten, von Heller nach einer Pariser Handschrift
mitgetheilt (S. 381—384). Und daran scbliessett
sich unmittelbar (S. 385— -413) verschiedene, un-
ter sich zusammenhängende Genealogien des
Brabanter Herzogshauses, drei in Prosa (die
eine nennt sich Chronica), eine in Versen, ans
Handschriften in Paris, Brüssel, Lüttich, Coblenz,
Wien. Gab die Untersuchung dieser sowie der
Nachweis der Quellen hier zu mancher müh-'
same ii Arbeit den Anlaß, so w$r das im noch
höherem Grade der Fall bei der Henneganer
Chronik, die mit dem Namen de* Grafen Bai-
duin von Avesnes in Verbindung gebracht wird
Monument* Germaoiae hist. Scriptor. T. XXV. 286
und die in doppelter Französischer Bearbeitung:,
tbeilweise in einer Lateinischen Redaction una
außerdem in späterer bald abgekürzter, bald
vermehrter Fassung vorliegt. Heller hat sich
bald überzeugt, daß nicht der Lateinische, son-
dern der Französische Text das Original, dies
aber zu einem großen Theil auch nur Com-
pilation aus andern Quellen sei , von denen
jedoch manche nicht erhalten sind. So galt
es aus dem voluminösen Werk das Wertbvolle
auszusondern und zum Abdruck zu bringen : von
den ersten 80 Gapiteln sind nur 2 raitgetheilt,
auch später konnten große Massen (86—127.
132—151. 173—191 und mehrere andere) über-
gangen werden. Der Umfang schmolz derge-
stalt sehr zusammen (S. 414—467); fast am
wichtigsten sind die Genealogien, welche der
Autor bei einer zweiten Recension erbeblich er-
weitert hat. Fällt die erste zwischen 1278 —
1281, so diese noch vor 1284. Daß der Graf
Balduin zu der Arbeit Ailaß und zum Theil
auch den Stoff gegeben hat, ist einer alten
Ueberlieferung naeb durchaus wahrscheinlich,
ihn geradezu als Verfasser va bezeichnen, aber
nicht zulässig, da die. Handschriften des ur-
sprünglichen Werkes davon schweigen. Die
drei wichtigsten befinden sich in Paris, eine in
München, und konnten von Heller sorgfältig be-
nutzt werden. Mit besonderer Anerkennung ist
hervorzuheben, daß» der verdiente Brüsseler Ge-
lehrte Kervyn de Lettenhove, der eine vollstän-
dige Ausgabe vorbereitet, die fertigen Druck-
bogen derselben gefälligst zur Verfügung stellte.
Ein wesentlich anderes Gebiet betreten wir
in der 'Chronica principum Saxoniae', obschon
auch hier das im 13. Jahrh. lebhaft erweckte
Interesse, an Genealogien der Fürstenhäuser daa
236 Gott. gel. Ans. Iö81. 8ttick 8.
vorherrschende ist. rf>. Holder-Egger hat den
zuerst von Heineinann benutzten Goslarer Codex
hier vergleichen können , dazu das Excerpt
einer neueren Handschrift im Berliner Archiv
gefügt, das sich auf den die Brandenburger
Markgrafen beziehenden Theil beschränkt und
einiges aus einer verlorenen Brandenburger Bi-
schofschronik einschaltet. Daran reiht sich was
an älteren Nachrichten über Brandenburg theiis
in der Goslarer Handschrift, theiis sonst erhal-
ten ist, namentlich auch der Bericht des Hein-
ricus de Antwerpe über die Erwerbung der
Stadt durch Albrecht den Bären, endlich aus
jenem Codex auch einzelne Nachrichten, die
sich auf Magdeburg beziehen (S. 468 — 486).
Leider scheint ja keine Hoffnung, daß die Chro-
niken der Mark und des Bisthums Branden-
burg, welche hier excerpiert sind und die auch
der Böhme Pulcawa benutzte, wieder vollständig
zu Tage kommen.
Eine eigentliche Bischofegeschichte Lübecks
ist erst im 15* Jahrh. geschrieben und konnte
hier nicht in Betracht kommen. Aber Aufzeich-
nungen über einzelne Bischöfe sind einem alten
Registrum des Bisthums einverleibt, die nach
der Ausgabe von Lappenberg und Leverkus
hier aus dem Codex des Oldenburger Staats-
archivs Aufnahme gefunden haben (S. 487—494).
Außer Nachrichten über Erwerbungen des Stifts
betreffen sie besonders die Verhältnisse zu den
Grafen von Holstein und den Rittern des Landes.
Viel inhaltsreicher und historisch interessan-
ter ist die Geschichte des Klosters Rastede
(S. 494 — 514), die auch zuerst Lappenberg her-
ausgegeben hat, für die aber der ebenfalls im
Oldenburger Archiv bewahrte und gefalligst
hierher gesandte Codex doch manche Verbesse-
Monumenta Germauiae hist. Scriptor. T. XXV. 237
nragen ergab. Aach einiges andere was der-
selbe zur Geschichte des Klosters und indirect
der Oldenburger Grafen darbot ist hinzugefügt
worden. Für die Erläuterung einzelner Stellen
gewährten neuere Arbeiten von Schumacher,
Wilmans, Krause, Bippen manches erwünschte
Material zu dem was Lappenberg und Ehren-
traut früher gegeben.
Balduin Ganonicus in dem Belgischen Klo«
sterNinove unternahm es eine allgemeine Chro-
nik von Christi Geburt an zu schreiben , ver-
band aber damit eine Geschichte seines Stifts
nod nahm außerdem besondere Rücksicht auf
Flandern und die benachbarten Gebiete, über
welche er auch schon in älterer Zeit und na-
mentlich seit den 12. Jahrh. manches Eigen-
tümliche zu berichten wußte. Was so irgend
von Bedeutung erschien hat Dr. Holder-Egger
ausgehoben und einiges andere hinzugefügt, was
die gleichzeitige Handschrift in Gent, welche
Prof. Arndt verglichen, an weiteren Aufzeich-
nungen enthält, dazu noch einige Stücke, die
sich auf die Geschichte des Klosters beziehen
aus einem Codex im Brittischen Museum und
aus älteren Drucken von Miraeus (S. 515—556).
Daran reiht sich (S. 557— 584) die fast
gleichzeitige Compilation des Johannes de Thil-
rode, Mönchs im Kloster St. Bavon zu Gent,
dessen Originalhandschrift Heller hier benutzen
durfte. Die Päpste, die Aebte des Klosters, die
Bischöfe von Noyon und Tournai, die Herzoge
von Brabant, die Grafen von Flandern werden
der Bei he nach behandelt, dazwischen über ein-
zelne Ereignisse etwas ausführlicher gesprochen.
Beigegeben sind einige auf Gent bezügliche No-
tizen aus einer Brüsseler Handschrift (S. 584 —
686).
238 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 8.
Sehr kurz (S. 587—589), am Schluß leider
unvollständig ist die Geschichte des Klosters II-
feld you Johannes Caput (Haupt). Eine Hand-
schrift im Archiv des Grafen Stolberg-Stolberg,
die uns bereitwillig ttbersandt ward, geht etwas
weiter als der Druck den Förstemann besorgte,
aber bricht mit dem Schluß einer Lage in der
Mitte der Geschichte des Abtes Johannes ab«
Erkundigungen in Ilfeld, Hannover, Rudolstadt
haben kein weiteres Exemplar zu Tage ge-
fordert
Der neuen Ausgabe der späteren Gesta episco-
porum Eichstetensium (S. 590 — 609) liegt die
Abschrift zu gründe, welche vor einer Reihe
von Jahren aus dem Original des Domcapitels
zu Eichstedt Betbmann machte. Seitdem ist
in einem Festprogramm, das jedenfalls nur
geringe Verbreitung erhalten hat. ein Abdruck
erfolgt (1867), der zur Vergleicnung herange-
zogen ward. Für die Nachrichten über die Er-
werbungen, resp. Verpfändungen und Wieder-
einlösung von Gütern sind die Urkunden, soweit
sie gedruckt oder doch in den Regesta Boica
verzeichnet, nachgewiesen, for Bestimmung der
Ortsnamen die neueren Werke Aber die Ge-
schichte des Bisthums benutzt.
Viel mehr Mühe machten die (S. 610-678)
vereinigten 'Historiae Patavienses et Cremifanen-
ses', zumal die letzte Ausgabe von Loserth sieh
in jeder Weise als ungenügend erwies. Einmal
galt es ältere Passauer Aufzeichnungen von
den Eremsmünsterern zu unterscheiden ; sie ver-
binden mit einem Katalog der Bischöfe einen
solchen auch der Bairiscfaen Herzoge und ge-
hören noch der Mitte des 13. Jahrhunderts an;
Handschriften in Klosterneuburg, Matsee, Mün-
chen, die großenteils hier zur Hand waren,
Monument* Germanise hist. Scriptor. T. XXV. 239
machten es nröglieh, den ursprünglichen Text
und spätere Zusätze und Umgestaltungen ge-
nau darzulegen; wobei sieb denn freilieb her-
ausstellte, wie beinahe unbegreiflich fehlerhaft
namentlich die Reihenfolge der Herzoge ist.
Diese Aufzeichnungen wurden auch in Krems-
münster abgesehrieben, zugleich aber mit zahl-
reichen Veränderungen, Zusätzen und einer Fort-
setzung versehen, und dem eine ähnliche Ge-
schichte des Klosters hinzugefügt : in dieser Ge-
stalt liegt die Arbeit in einer jetzt Wiener Hand-
schrift vor, in der verschiedene Hände thätig ge-
wesen sind. Aber auch eine neue Abschrift
oder Redaction ward in dem Kloster vorgenom-
men, die sich in einer andern jetzt noch daselbst
bewahrten Handschrift befindet. Beide wurden
gefälligst der hiesigen königlichen Bibliothek
ttbersandt und konnten längere Zeit eingebend
untersucht, verglichen oder abgeschrieben wer-
den. Die beigefügte Schrifttafel zeigt, daß das
keine bequeme Arbeit war; es gab Stellen, die
immer wiederholt betrachtet werden mußten,
und es mag das einigermaßen als Entschuldi-
gung dienen, wenn die früheren Drucke vielfach
so fehlerhaft ausgefallen sind. Zum Theil las-
sen sieh dieselben Hände in beiden Codices er-
kennen; es i*t auch klar, daß der eine in dem
andern: benutzt, ausgesehrieben worden ist, und
iwar fto> daft das Verhältnis wechselt, nament-
lich die Randzusätze bald hier bald dort als
älter oder ursprünglicher erscheinen, ohne daft
es doch möglich war in dieser Beziehung überall
zu einem ganz sicheren Ergebnis zu gelangen.
Ueber dies Verhältnis und die etwaigen Verfas-
ser habe, ich i*. einem besonderen Aufsatz (For-
schungen z. D. G. XX) gehandelt und mich be-
gnügt in der Ausgabe selbst die Resultate kür-
240 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 8.
zer anzugeben, wonach kein Grund ist, einen
Kellermeister Sigmar als bei der Niederschrift
betheiligf anzusehen, die Angabe aber, daß ein
Bernard Verfasser dessen sei, was in dem zweiten,
etwas jüngeren Codex sich findet, alle Wahr-
scheinlichkeit für sich hat; die Bezeichnung als
Noricus, welche Aventin ihm giebt, drückt nicht
sowohl einen Beinamen als nur allgemein die
Herkunft aus. Von demselben Verfasser ist
auch ein 'Liber de origine et ruina monasterii
Cremifanensis,, der freilich ebenso wie die son-
stigen Aufzeichnungen, nicht wenige fabelhafte
Nachrichten enthält, daneben stellenweise etwas
breite kirchenrechtliche Deductionen, aber auch
manches Interessante, und der lebendig und gut
geschrieben nicht mit Unrecht zu den besseren
historischen Arbeiten aus dem Anfang des 14.
Jahrh., dem er angehört, gerechnet worden ist.
Von der * Historia universalis' des Sifrid von
Ballhausen befindet sich der früher nicht be-
nutzte Originaltext in der Universitätsbibliothek
zu Erlangen; die etwas spätere Bearbeitung
der Universalgeschichte, welche derselbe als
' Compendium historiarum ' bezeichnete, enthalten
Handschriften zu Leipzig und Dresden ; diesel-
ben konnten von Dr. Holder-Egger für den zur
Aufnahme geeigneten Theil benutzt werden
(S. 679—718). Zu diesem gehörte auch was
mit den Erfurter Annalen von St. Peter ver-
wandt und ohne Zweifel aus einem älteren
Exemplar derselben genommen ist; anderes geht
auf die sogenannte Chronica minor zurück. Die
eigentümlichen Nachrichten sind nicht umfang-
reich, doch für das Ende des 13ten, die ersten
Jahre des 14ten Jahrhunderts nicht ohne Be-
deutung.
Ganz unbekannt war bisher der zweite Theil
Monumenta Germaniae lust. Scriptor. T. XXV. 211
der Gesta praepositornm Steterburgensium (S.
719—735), der. mit der Urkundensammlung des
Stifts verbanden sich in einer Handschrift des
Wolfenbütteler Landesarchivs befindet, den ich
ror langen Jahren in Hannover, jetzt wieder
hier benutzt habe. Der wichtigste Theil be-
steht aus Aufzeichnungen des Propstes Johann
über seine Amtsführung 1269—1290. Aber auch
über seine Vorgänger und Nachfolger sind kür-
zere Nachrichten gegeben, die bis zum J. 1311
gehen. Bei dem Nachweis der genannten Orte
hat der Archivsecretär Zimmermann zu Wolfen-
btittel seine freundliche Beihülfe gewährt.
Den Schluß der chronologisch geordneten
Reihe macht das Werk des Jobannes Lange von
Ypern, Abts von St. Bertin, über die Geschichte
seines Klosters, mit der er eine Art allgemeiner
Geschichte verband, die er aus den verschieden-
sten Quellen zusammenschrieb, während er ihr
zugleich zahlreiche Urkunden einverleibte und
so ein Buch von sehr bedeutendem Umfang zu
stände brachte, obschon er, wie schon bemerkt,
nicht über das 13. Jahrhundert hinaus gelangte.
Es liegt in einer doppelten Recension vor, von
der die eine, wie der Herausgeber Dr. Holder-
Egger wohl mit Recht annimmt, erst nach sei-
nem Tode gemacht ist, um dem unvollendet ge-
lassenen Werke wenigstens formell einen Ab
Schluß zu geben. Beide haben übrigens hand-
schriftlich weitere Verbreitung erhalten; 23 Co-
dices werden aufgezählt, von denen die ältesten
in St Omer, Boulogne und Brüssel uns zur Be-
nutzung zugesandt wurden und die Herstellung
eines zuverlässigen Textes und Darlegung der
zwischen den beiden Reoensionen obwaltenden
Verschiedenheiten möglich machten (S. 736 866).
Auf den Nachweis der Quellen ist große Sorg
16
242 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 8.
fait verwandt, von einzelnen Urkunden der
Druck in einer neueren Monographie auch noch
ganz zuletzt in den Addenda angegeben. Bei der
vielfachen Benutzung, die das Buch des Johann
bei späteren Flandrischen Geschichtschreibern ge-
funden, wird diese kritische Bearbeitung hier
besondere Beachtung fordern.
Als Supplementum ist bezeichnet was ganz
ans Ende des Bandes gesetzt ist (S. 867—872):
derjenige Theil des jüngeren, aber doch wahr-
scheinlich nicht lange nach der Mitte des 13.
Jahrhunderts geschriebenen Ghronicon Ebers-
pergense, der als Zusatz oder Erweiterung zu
dem älteren, SS. XX gedruckten, in Betracht
kam. Wäre derselbe vielleicht passender gleich
hiermit verbunden worden, so mag es als ein
Vortheil angesehen werden, daß jetzt die alte
Handschrift zugänglich ward, von der Oefele
nur spätere Abschriften hatte: sie fand sich in
der Bibliothek des historischen Vereins von
Oberbaiern in München. Eine kurze Notiz über
eine Weihung des Klosters im J. 1312 ward
aus einer Handschrift der Münchener Hof- und
Staatsbibliothek hinzugefügt.
Die in gewohnter Weise gearbeiteten Index
(S. 874—953) und Glossarium (S. 954—957)
sind von Dr. Br. Erusch verfaßt; nur hat zn
jenem Dr. Heller beigesteuert, was der an Na-
men und Verwandtschaftsbezeichnungen so reiche
Text der französischen Chronik von Hennegan
ergab. Auf ein französisches Wortverzeichnis
glaubten wir verzichten zu dürfen; Dr. Heller
hat sich bemüht, in den AnmerkungenjdasNoth-
wendige zu bemerken.
So ist ein Band unserer großen Sammlang
vollendet, der, wenn er auch mehr der Provin-
zialgeschichte als der Reichsgeschichte dient,
Monumenta Germania* hist. Scriptor. T. XXV. 243
doch, glaube ich, ein nicht geringes Interesse
bei uns and bei unseren westlichen Nachbarn
in Anspruch nehmen kann. Ist einige Jahre
an demselben gearbeitet, so wird der Umfang
und die Verschiedenartigkeit des hier vereinig-
ten Materials das hinreichend erklären. Die
Arbeit hat auch nur in dieser Zeit und in der
vorliegenden Weise ausgeführt werden können
durch die Liberalität der Bibliothek- und Ar-
chiv-Verwaltungen, die den bei weitem größten
Theil der benutzten Handschriften hier zugäng-
lich gemacht haben. Ich darf es aussprechen,
daß ohne das einzelne Stücke, wie der Aegi-
diu8, die Kremsmttnsterscben Historien, gar nicht
hätten so gegeben werden können, wie sie nun
unter wiederholter Vergleichung der zum Theil
verschiedenen Bibliotheken angehörigen Codices
vorgelegt worden sind, und ich darf daran auch
an dieser Stelle den Wunsch knüpfen, daß auch
in Zukunft nicht durch ängstliche Beschränkung
bei der Versendung von Handschriften unsere
Stadien benachteiligt werden mögen, wobei ich
gern hervorhebe, daß auch die Pariser National-
bibliothek und die Brüsseler Bibliothek de Boar-
gogne unter Delisles und Ruelens' einsichtsvoller
und wahrhaft liberaler Verwaltung, wie sie die-
sem Bande mannigfache Förderung gewährt
haben, noch neuerdings unseren Wünschen stets
bereitwilligst entgegen gekommen sind.
G. Waitz.
Beiträge zur Bearbeitung des römischen
R e c h 1 8 von Dr. Max Cohn, Prof. zu Amsterdam.
Erster Band. Berlin, Weidmann 1880. 8°.
Von obigem Buche erschien 1878 ein erstes
4 Bogen starkes Heft, enthaltend drei Abhand-
iaogen über die Testirfähigkeit der Frauen ,
16*
244 Gott. gel. Anz. 1881. Stock 8.
über patronatisches Erbrecht und über plus pe-
titio. Am Ende des Jahres 1879 folgte, Bluntscbli
zum 50jährigen Doctorjubiläum gewidmet, ein
zweites Heft, welches schon äußerlich ganz an-
ders als jenes erste sich präsentiert durch seinen
25 Bogen übersteigenden Umfang. In der Vor-
rede dieses zweiten Heftes erklärt der Verf.,
während der Inhalt des ersten essayistischen
Charakters gewesen sei, habe er bald empfun-
den, daß seine Individualität nach dieser Seite
hin nicht ten dire; er sei daher zu „der ihm zu-
sagenden Behandlungsweise" übergegangen, wenn
auch „nicht auf dem geraden Wege, sondern
mittelst der ein wenig mikrologischen Untersu-
chung der ersten Abhandlung über das ope con-
silio der actio furti". Da so der Verf. selbst
den Schwerpunkt seiner Beiträge ganz in die
nicht weniger als 360 Seiten füllende Abhand-
lung eur Lehre von der capitis demmutio ver-
legt, so wird auch Referent sich damit begnügen,
über diese zu berichten. Als ihre Tendenz be
zeichnet der Verf. „eine Widerlegung der beuti
gen Theorie von der Zerstörung der rechtlichen
Persönlichkeit" und damit die Anbahnung einer
richtigeren Schätzung einer Lehre, „die unsere
Jurisprudenz, wie wenig andere, für eine Ema-
nation der formalen Vortrefflichkeit römischen
Rechts, materiell dagegen fttr eine, wenn auch
nicht eingestandene, so doch sicher empfundene
Wunderlichkeit hielt".
Der Verf. beginnt mit einer „Inventarisirung
der Capitisdeminutionsfalletf. Bezüglich der
maxima c. d. bemerkt er zunächst, daß es un-
genau sei, sie als Zerstörung der Civität und
IAbertät zu bezeichnen, da allerdings mit dieser
nothwendig jene untergehe, aber „nicht auf
Grund der c. d. maxima — man müßte viel-
Cohii, Beiträge zur Bearbeitung des röm. Rechts. 246
mehr sagen auf Grand der c. d. media, wenn
es für diese nicht eine geschlossene Anzahl von
Fallen gäbe". Als ob der Oivitätsverlust ne-
ben dem Freiheitsverluste und nicht als ein in
diesem enthaltener einträte, und als ob die Be-
zeichnungen der minima media und maxima c.
d. gesonderte Arten der c. d. und nicht viel-
mehr Grade ausdrückten, von denen der hö-
here den niederen in sich schließt. Freilich soll
nach dem Verf. die maxima c. d. schon des-
wegen nicht als solche die Givität zerstören,
weil ihr Eintritt gar nicht durch diese bedingt
sei. Die Annahme zwar, daß Gai. I. 160 einen
notorischen non civis eine solche erleiden lasse,
verwirft der Verf. selbst, hält aber die Sache
ftr entschieden dadurch, daß ja auch der non
civis z. B. servus poenae werden könne. Daß
aber die das caput deminuirenden Thatbestände
diese Wirkung nur im Falle der Existenz eines
solchen caput haben konnten, bedurfte ebenso
wenig besonderer Hervorhebung als der Um-
stand, daß ein infamirendes Verbrechen nur den-
jenigen zum infamis macht, der es nicht schon
ist; die Frage, wer ein caput im Sinne der cd«
besitze, ist daher in keiner Weise beantwortet
durch die Angabe der eventuell dieses caput
deminuirenden Facta. Was die einzelnen Fälle
der maxima c. d. angeht, so meint der Verf.,
bei der servitus poenae liege „kein Verlust der
Freiheit vor in dem Sinne, der bei den übrigen
Capitisdeminntionsfällen damit verbunden wird,
nämlich ein Verlust, an den sich die Begrün-
dang der Rechtsstellung eines servus anknüpft"
(S. 63). Der servus poenae sei „den Regeln
des Rechts der Sklaven durchaus nicht unter-
worfen"; der Ausdruck servus sei bei ihm „le-
diglieh ein Tropus". Dieser Behauptung gegen-
über möchte man den Verf. fragen, 1) ob e»
246 Gott. gel. Anz. 1881. Stück a
nicht auch servi sine domino gehe, sowie 2) ob
wenn es heißt, derselbe sei mehr poenae als
fisci servus, damit das Staatseigentum und nicht
vielmehr nur die Eigenschaft des Sklaven als
eines Erwerbsinstruments für den Staat verneint
werden sollte.
Nachdem Verf. die von Oaius und Justinian
aufgezählten Fälle der max. c. d. erörtert hat,
geht er zur Frage über, ob einen solchen Fall
der gemeinen Annahme entsprechend auch die
captivitas bilde. Für die Verneinung „ganz
entscheidend" scheint ihm L. 4 D de suis 38,
16. da „hier der Fall der captivitas und c. d.
als zwei besondere Dinge behandelt werden".
Ulpian sagt dort
1) Si filius suns heres esse desiit, in eins-
dem partem succedunt omnes nepotes etc.
2) Filius autem suus heres esse desiit, si
capitis minutione vel magna vel minore exierit
de potestate.
3) Quodsi filius apud hostes sit, quamdiu vi-
vit, nepotes non succedunt.
Weit entfernt die Subsumtion der captivitas
unter die c. d. auszuschließen, scheint unsere
Stelle sie vielmehr zu belegen. Wird uns ge-
sagt, durch Ausscheiden des Sohnes aus den
sui heredes rücken die Enkel an seine Steile,
jenes Ausscheiden erfolge durch c. d., diese
Succession trete aber im Falle der Kriegsge-
fangenschaft, so lange der Sohn noch lebe, nicht
ein; so wird für diesen Fall weder die c. d.
noch das Ausscheiden des Sohnes aus der Zahl
der sui heredes, sondern nur die daraus sonst
sich ergebende Succession der Enkel verneint
Bezüglich der media c. d. sucht der Verf.
zunächst in L 5 § 3 D. de extr. cogn. 50, 13
die Worte i. e. cum libertas adimitur als Glos
sem zu erweisen (gewiß mit Recht); sodann
Cohn, Beiträge zur Bearbeitung des röm. Rechts. 247
wendet er sich zur aqnae et ignis interdictio
nnd deportatio. Jene habe ursprünglich nicht
sowohl das Bürgerrecht zerstört als den dieses
zerstörenden Erwerb eines fremden Bürgerrechts
veranlaßt; ob aber der Verlust der Civität durch
Annahme eines neuen Bürgerrechtes als cap.
dem. gegolten habe, erklärt der Verf. für mehr
als fraglich; für die media sowohl als die
maxima c. d. gelangt er zu dem Resultate, daß
alle sicheren Fälle derselben auf Delicten be-
ruhen.
Als durch Gains sicher bezeugte Fälle der
minima c. d. betrachtet der Verf. zunächst die
arrogatio und die seitens einer femina sui iuris
vollzogene coemtio. Dagegen bezweifelt er die
c. d. bei jeder anderen in manum conventio.
Bezüglich der mancipatio und manumissio con-
Btatiert der Verf., daß von Gains sowohl die
Hingabe in das Mancipium als die Freilassung
e mancipio als besondere Fälle der c. d. be-
zeichnet seien; nur aber die Zugehörigkeit der
remancipatio seien Zweifel erlaubt. Bezüglich
der Frage, was denn nun, wie bei der magna
c. d. libertas und ci vitas, bei der minima eine
Aufhebung erfahre, weist der Verf. zunächst
Savignys Ansicht zurück, die namentlich als
völlig widerlegt zu betrachten sei durch die
Eigenschaft der manumissio e mancipio als einer
cd. Ebensowenig sei aber jenes die Agnation,
wie derselbe Fall beweise. Immer aber handle
es sich um Vertauschung der bisherigen Fami-
lienzugehörigkeit mit einer anderen, wobei frei-
lieh dahin gestellt bleiben müsse, warum andere
dieselbe Vertauschung bewirkende Vorgänge
keine c. d. begründen.
Verf. wendet sich nun zu den „aufhebenden
Wirkungen der c d.tt u. zw.
246 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 8,
1) bezüglich der publica iura, vod denen eon-
statiert wird, daß sie durch Untergang des sie
bedingenden Bürgerrechts erlöschen , dagegen
durch minima c. d. nicht berührt werden; doch
glaubt der Verf. im Falle der datio in manci-
pium das Gegentheil annehmen zu sollen.
2) Die hausherrlichen Rechte gehen
durch c, d. stets verloren. Bezüglich der tutela
(non legitima) hält der Verf. trotz § 4 J. q. m.
tut. I, 22 und L. 11 § 4 D de test. tut. 26, 2
den Untergang durch media c. d. nicht für ent-
schieden. Durch minima e. d. läßt der Verf.
nach altem Rechte auf Grund von L. 7 pr. D
de cap. min. 4, 5 außer der legitima die einem
Haussohn übertragene Tutel erlöschen wegen
ihrer Unverträglichkeit mit der die c. d. begrün-
denden mancipii causa.
3) Bezüglich der Ehe nimmt der Verf. ein
doppeltes (naturales und civiles) Element des
iustum matrimonium an, das daher bei media
c. d. als Ehe nach ius gentium fortexistiert
habe; für unzweifelhaft erklärt er die Einfluß-
losigkeit der minima c. d.
4) Was den Verlust des Activvermögens an-
geht, so erklärt der Verf. seinen Eintritt durch
media c. d. bezüglich der nichtcivilen Rechte
aus dem Zweck der Strafe. Was das Schick-
sal der Rechte betrifft, welche durch minima
c. d. dem durch dieselbe ihrer unfähig gewor-
denen verloren gehen, so will der Verf. den
vielbesprochenen Untergang der in indicium de*
ducierten Forderungen entweder auf Frauen be-
schränken und aus ihrer Proceßunföhigkeit oder
aber auB der regulären Unfähigkeit der Haus*
kinder als Kläger zu processieren erklären;
Proceßpartei sei nämlich der Deminuirte geblie-
ben und erst die actio iudieati sei dem Gewalt-
haber erworben worden.
Cohü, Beiträge zur Bearbeitung des röm. Rechts. 249
5) Die Befreiung des capite ininntus von
seinen Schulden beruht nach dem Verf. auf
einem aus dem Wegfall des Vermögens sich er-
gebenden Postulat der Billigkeit; bei Hingabe
in das mancipium, mannmissio e mancipio und
Arrogation des Gewalthabers nimmt Verf. Fort-
existenz der Schulden an.
Zum Schluß nimmt der Verf. Stellung zur
herrschenden Theorie der c. d. Nahe liege sie
für die magna c. d.} sowie für die media, „weun
es sich blos um einen Verlust „der civil recht-
liehen Persönlichkeit handelte; für die minima
dagegen erscheine sie „mindestens abenteuer-
lich"; wenn man die Zerstörung der Persönlich-
keit aus der Ablösung von der Agnatenfamilie
erkläre, so sei „nun dagegen einzuwenden, daß
diese ganze Erklärung für die mannmissio e
mancipio nicht paßt". Sodann müßte nach der
herrschenden Ansicht, meint der Verf., als
„maxima höheren Gradestf der Tod gelten.
Seine eigene Auffassung von der Entwicklungs-
geschichte der cap. d. ist nun diese. Als Ur-
fälle betrachtet er solche der minima c. d., nur
sie kenne Cicero und nur sie verstehe unter c.
d. das Edict, wie auch der Ausdruck nicht eine
Vernichtung, sondern nur eine „ungünstige Ver-
änderung" des caput bedeute. Ausgangspunkte
seien arrogatio und in manum conventio der
gewaltfreien Frau ; nur auf sie beziehe sich das
Edict über die restituierte Klage und . nur an
sie denke wohl auch Cicero. Ausgeschlossen
seien so ursprünglich alle Fälle gewesen, welche
keine Verschlechterung der Stellung zur Folge
hatten. Um jene beiden Acte in ihrer zerstören-
den Eigenschaft zu bezeichnen, sei der Aus-
druck aufgekommen. Eine Erweiterung des
Sprachgebrauchs erscheine zunächst in der „Pro*
250 Gott. gel. Ana. lbdl. Stück 8.
fanliteratur" durcb Bezeichnung der Gefangen-
schaft als c. d. Nach und nach hätten sieh
weitere Fälle der Vernichtung des caput ange-
setzt, so daß man schließlieh in der c. d. nichts
gesehen habe als „eine pennutatio gewisser
status und zw. der Art, daß sie auf eine große
Zahl von Rechtsverhältnissen aufhebende Wir-
kung übt". Mit dem Aufkommen einer Unter-
scheidung verschiedener Arten habe man ange-
fangen jeden Fall für sich zu entwickeln; da-
durch sei der Zusammenhang abhanden gekom-
men und sei der zusammenhaltende Begriff nur
noch der der status permutatio (ohne zerstörende
Bedeutung derselben) geblieben. Bei der maxima
c. d. habe man die captivitas „ganz richtig"
wegen der Besonderheit abgestoßen, sei dagegen
im servus poenae über die status permutatio
hinausgegangen und habe inconsequent die Um-
wandlung von Sklaverei in Freiheit nach wie
vor nicht als c. d. angesehen. Bei der media
c. d. habe die Betonung des Strafmoments die
Ausdehnung auf Fälle anderer Art verhütet
Bei der minima dagegen habe man sich mit
der „permutatio status hominis" begnügt, frei-
lich unter Ausschließung
1) „aller Fälle, in denen an einen auf-
hebenden Einfluß auch nicht gedacht werden
konnte", wie Tod des pater familias.
2) Der Ausschluß der captio zum Priester-
thum „liegt wohl an dem Umstände, daß keine
römische Jurisprudenz einen Act des pontifex
mit einem Worte wie c. d. belegen durfte" 1
3) Die Nichtzurechnung der jüngsten Fälle
erkläre sich „damit, daß, als sie aufkamen, man
über die Zeit hinaus war, in der eine arbeitende
Wissenschaft das Bedürfniß fühlen konnte, den
Katalog der c. d. zu vervollständigen, überdies
Cohn, Beiträge zur Bearbeitung des röm. Rechts. 251
aber anter dem Einfluß des Denen Rechts der
Begriff der c. d. minima mehr and mehr be-
deutungslos geworden war".
Die vorliegende Uebersicht giebt keine Vor-
stellung and will keine Vorstellung geben von
den zahlreichen Details, die der Verf. vielfach
in breitester Weise behandelt hat ; sind sie doch
ihm selbst nur Mittel zum Zwecke. Fragen wir
uns aber nach der Erreichung des vom Verf.
verfolgten Zweckes die Theorie der cap. dem.
zu reformieren, so vermag Referent diese Frage
nur zu verneinen. War es verdienstlich vom
Verf. hervorzuheben, daft der Begriff der c. d.
ein ziemlich junger und daß er höchst wahr-
scheinlich von Fällen der minima c. d. ausge-
gangen ist, sowie daß es bei den Hanptfällen
der c. d. sich um Strafen handelt, so ist es dem
Verf. doch nicht gelungen von diesen Ansätzen
ans irgend welche Theorie der c. d. zu ent-
wickeln. Weder bat der Verf. glaublich ge-
macht, daß der römische Begriff der c d. ein
so absolut zerfahrener war, wie er ihn darstellt,
noch hat er wirklich die Annahme widerlegt,
daß die c. d. in der einen oder anderen Weise
als eine rechtliche Zerstörung der individuellen
Persönlichkeit anzusehen sei. Bei allem aufge-
wendeten Fleiße ist der Verf. dem Loose nicht
entgangen , vor dem freilich kein Fleiß zu si-
chern vermag, eine mehr mühsame als fruchtbare
Arbeit zu liefern. Den Stempel des Mühsamen
trägt trotz mancher Redeblumen, die der Leser
unschwer vermissen würde, auch der Stil des
Verf., so daß seiner Abhandlung allerdings nichts
anhaftet von der essayistischen Behandlung,
welche er mit ihr wieder verlassen zu haben
angiebt.
Erlangen. E. Holder.
252 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 8.
Beiträge zur Erklärung undKritik des
I s a i o s , von W. Boeder, kgl. Gymnasiallehrer.
Jena, Ed. Frommann 1880. VIEL 83 S. 8°.
Diese kleine Schrift soll, nach der Erklärung
des Vorworts, eine Vorläuferin zu einer kritisch -
exegetischen Bearbeitung der bedeutenderen Re-
den des lsaios sowie der deinosthenischen gegen
Aphobos sein, womit der Verf. diese Werke der
Schullekttire zugänglich zu machen hofft
Ref. kann nicht verhehlen, daß ihm lsaios für
die Schule kein geeigneter Autor scheint, und
daß nach seiner Meinung auch jene Erstlings-
werke des Demosthenes einen Schüler nicht wer-
den fesseln können ; das Prädikat „formvollen-
det", welches der Verf. ihnen und den Beden
des lsaios giebt, ist weder für die einen noch
für die andern ein durchaus angemessenes. Auch
ein Lord Brougham hat dem lsaios keinen Ge-
schmack abgewinnen können. Doch abgesehen
von der Bestimmung für die Schule muß man
ja jedem es Dank wissen, der dem in der That
noch wenig bearbeiteten lsaios seine Mühe zu-
wendet.
Die vorliegende Schrift ist größerenteils
grammatisch- kritisch; nur die beiden ersten Ab-
schnitte sind anderer Art. In dem ersten han-
delt der Verf. „über Aufbewahrung, Aufhebung,
Aenderung und über Abschriften eines Testa-
ments nach attischem Recht". Er berichtigt
einige Irrthümer, die sich in der neuesten Bear-
beitung von Hermann's griech. Antiquitäten fin-
den, und die durch verkehrte Benutzung von
Stellen des lsaios entstanden sind. Dann aber
sucht er selbst etwas gegen Schömann zu er-
weisen, worüber ihm Refer, nicht ganz zustim-
men kann: daß nämlich zur nachträglichen Auf-
hebung einer testamentarischen Adoption der
einseitige Wille dessen der adoptiert hatte nicht
Roeder , Beiträge zur Erklärung u. Kritik des Isaios. 253
gentigt babe, sondern eine Art von Zustimmung
des Adoptierten erforderlich gewesen sei. Ans
Ie. 6, 32 geht nichts hervor, als daß natürliche
Erben, wenn sie bei der Niederlegnng einer ober
einen Theil der Erbschaft anderweitig verfügen-
den Urkunde betheiligt gewesen waren, auch bei
einer Aufhebung derselben zngezogen zu werden
Ansprach hatten; sie waren eben hier so gut
wie Contrahenten (vgl. Schümann z. St.). In
dem Falle der 1. Rede aber mag die Sache in-
sofern ähnlich liegen, als der Erblasser Kleony-
fflos das Testament bei den Astynomen nicht
allein, sondern in Gemeinschaft mit den be-
dachten Seitenverwandten deponiert hatte; ver-
langte er es nnn behufs einer Aenderung oder
Aufhebung zurück, so mußte, wenn nicht er
selbst, doch einer der Mitbetbeiligten vor dem
Beamten das erklären, während dieser einem
Dritten schlechterdings die Urkunde nicht aus*
bändigen durfte. So erklärt es sich, weshalb
Kleonymos nicht seinem Neffen, dem Sprecher
der Rede, sondern den Gegnern den Auftrag der
Herbeischaffung gab. — Unrichtig scheint mir
die Conjektur zu 1 § 25: dvsXstv p$v yäq u>
dvdqet; oi% ottig «' fjr älXw Y^afApcmto fj %&
naQd «jf dq%^ xtn*4vm, »tatt der überlieferten
Akkusative aXXo rgapfiaztZor -to-7isif*€vov. Auf-
zuheben, sagt der Redner, gab es nichts als
diese Urkunde, die also, wenn er aufheben
wollte, herbeigeschafft werden mußte; zum Nach-
tragen dagegen, wenn er das wollte, gab es auch
anderes Papier. Hingegen ist es ein ganz un-
möglicher Ausdruck: ein Testament durch die
Urkunde, auf der e's steht, vernichten. — Der
2. Abschnitt untersucht, wer die Gegner in der
1. Rede seien ; Referent hat seine (abweichende)
Ansicht anderweitig ausgesprochen. Der Verf.
macht den Fehler, daß er alle im Prozeß auf
254 Gott. gel. Anz. 1881. Stück &
der entgegengesetzten Seite stehenden Personen
ohne weiteres als solche faßt, die auf die Erb-
schaft Ansprach machten. — Was nun aber die
weiterhin behandelten grammatischen und kriti-
schen Fragen betrifft, so sieht sich Ref. zu sei-
nem Bedauern zu ganz entschiedenem Einsprach
genöthigt. Der Verf. geht nämlich darauf aas,
eine ganze Reihe von Dingen, die man sonst
für die gewöhnliche attische Prosa als gramma-
tisch unzulässig oder doch als verdächtig an-
sieht, auf Grund unserer handschriftlichen
Ueberlieferung sowohl dem Isaios als andern
Prosaikern zu vindicieren. Solche sind: weit-
gehendes Fehlen des &v beim Indikativ der
Nichtwirklichkeit, &v mit Optativ statt äv mit
Indikativ, potentialer Optativ ohne av, Futur.
Indikativ mit äv u. a. m. , so daß man sich
wundert, wenn er schließlich Iva mit Indik» Fat.
nicht gelten läßt. Es ist hier unnöthig, auf
alles Einzelne einzugehen, da der Fehler in den
leitenden Grundsätzen liegt. Es ist falsch, den
Hdschr. des Isaios für diesen den gleichen Grad
der Glaubwürdigkeit beizulegen wie den de-
mosthenischen für Demosthenes; viel mehr noch
ist es falsch, die einzelnen Hdschr. des Isaios,
oder Lysias, unter einander hinsichtlich der
Glaubwürdigkeit gleich oder fast gleich zu stel-
len. Aus solchen Codices, wie der Palatinos
des Lysias oder der Crippsianus A der kleineren
Redner ist, läßt sich über die Möglichkeit ir-
gend welcher Anomalie überhaupt nichts fest-
stellen, dazu sind sie viel zu sehr verdorben.
Die sichersten Zeugen sind ja die Inschriften,
demnächst aber haben auch sorgfältig ge-
schriebene Handschriften, wie wir solche bei
Piaton, Isokrates, Demosthenes besitzen, eine
große Autorität, doch so, daß ein Beispiel oder
zwei auch aus ihnen unter Umständen noch sehr
Boeder, Beiträge zur Erklärung u. Kritik des Isaios. 255
wenig ausmachen Neben dem Palatinos aber
hat irgend eine andre Hdschr. des Lysias gar
keine Autorität, weil alle bekanntlich aus jenem
abgeschrieben sind, und doch sagt der Verf.
z. B. S. 51 : „auch Lys. 12, 44 haben bis auf
den Palatinos alle Hdschr. ipijylosote". Er
scheint in der That die Hdschr. nur zu zählen.
Bei Isaios aber und den andern Rednern, die
mit diesem die gleiche Ueberlieferung haben,
hat nach des Ref. Ueberzeugung der jüngste
Hsg. des Antiphon, V. Jernstedt, das Richtige
erkannt, indem er die Hdschr. BLZM als aus A
direkt oder indirekt abgeleitet ansieht. Aber
auch schon nach den bisher feststehenden Re-
sultaten hätte der Verf. es sich sparen können,
den Codex Z durch Hrn. R. Peiper an verschie-
denen Stellen neu vergleichen zu lassen. Aus
seiner falschen Methode geht es nun hervor, daß
seine Ergebnisse fast überall den entschieden-
sten Widerspruch hervorrufen müssen. Z.B. &v
mit Indic. Fut. wird durch folgende Stellen ge-
stützt. Isai. XI, 47 i\ (Sv äv dtaßdttovug dv-
vyoovtcu (wo übrigens A, was der Verf. nicht
wissen konnte, pr. m. duxßdlkovc* hatte, corr. 1).
„Wahrscheinlich auch" 10,21 äv — ipjjcfiaetr&e,
obwohl A corr. 2 y>fi<ploaio&€. „Aller Wahr-
scheinlichkeit nach" 1, 21 dp — nonjaets, wie
Q hat; Aid. noiforfts, die Hdschr. sonst alle
noiijoane. [Hier hat der Verf. das s Bekker's
mißverstanden und hält daher no$ij(ra$T6 für mo-
derne Conjektur.] „Ebenso" 7, 42 äv noiyc&s&s,
„wo die' Hdschr. nebst der Aldina den Conjunk-
tiv norfaijo&s und nur der verbesserungssüchtige
Grammatiker bei A nonja<uo&€ schreibt". Bekker
bemerkt : TUHqäarf&e] libri noujotjöÖSj sed A corr.
(von 1. Hand) ; der Verf. hat also auch hier wie-
der mißverstanden. Er bringt dann Beispiele
ans Piaton und Xenophon, auch die in sehr ge-
25« . Gott. gel. Anz. 1881. Stück 8.
ringer Zahl; dann eins ans Thukydides, und
drei „von sämmtlicben Hdschr. beglaubigte Stel-
len der übrigen attischen Redner" : nämlich zwei
ans Deinarchos and eine aas Isokrates. Wie
können aber, fragt man doch, bei so nahen und
lautlich für die Byzantiner identischen Formen,
wie nonj<f€0&€ und noiyactMrd'f, iMtjaezs und iXey-
(fcute, die Handschriften von irgend welcher Au-
torität sein? Das sind nämlich die fraglichen
Formen an zwei der drei Stellen; an der drit-
ten (Dein. 1, 68) liegt auch, wenn die Ueber-
lieferung richtig ist, lediglich Anakolutbie vor,
und ist das Futurum von dem in Frage stehen-
den äv durch volle 7 Zeilen getrennt. Nun kom-
men noch die „wahrscheinlich" vorhandenen Bei-
spiele: isokratische, „wo der Grammatiker von
T äv gestrichen hat" , und zwei bei Aischines,
an deren einer die Emendation dvsQtl für dv
iqet ganz zweifellos ist. Ref. beabsichtigt nicht,
bei dieser ganzen Frage in die Gontroverse, so-
weit sie wirklich vorhanden ist, einzutreten, son-
dern will lediglich gegen die Beweismethode
protestieren, mit welcher nur Verwirrung in der
Grammatik angerichtet wird. Die verbesserungs-
süchtigen Herausgeber zu tadeln steht nur dem
an, der von den Principien, von welchen diesel-
ben bei ihrem Verfahren sich leiten lassen, sich
ganz genau unterrichtet hat, was bei dem Verf.
augenscheinlich nicht der Fall — Von den im
letzten Abschnitte mitgetheilten eignen Conjek-
turen erscheinen beachtenswerth die zu Is. 3, 49
wj d! yvyolq &vyatQ\ %Maq (für yv. ovcij %qiG%i-
itaq) und zu 3, 62 : s% »$ avtijy d^Qstto tj ißid-
feto <jfc> i^yev [äv] in %mv ncttQcowv, {nal\
ovx äv xie.
Kiel. F. Blass.
Für die Redaotioa Ter an tw ortlich : JE, Rshnüch, Director 4. Gott. fei. Adz.
Verlag der Dütoich' sehen Verlags- Buchhandlung.
Druck der Dielerich' 'sehen Univ.- Buchdrnckerei ( TV. Fr. Kaestnn).
•257
6 ttttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König). Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 9. 10. 2. u. 9. März 188 1.
I Inhalt: £. de Laveleye, Das Ureigenthom ; deutsche Ausg. t.
I K. Bücher. D. Ross, Studies in the early history of institutiors I—
! HI. Yon R Nasse. — W. W u n d t , Logik. Bd. I. Yon J. Rehmk*.
- W. S pitta, Grammatik des arabischen Yulgardialects von Aegyp-
I tea. Yon Th. Nöldeke. — A. R a a b e , Die Klagelieder des Jeremias und
j der Prediger des Salomon. Yon J. WeUhatuen. — P. Regnaud, La
Metrique de Bharata. Yon R. Pisehd.
i s Eigenmachtiger Abdruck yon Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Das Ureigenthum, von Emil de Laveleye.
Autorisirte deutsche Ausgabe, herausgeg. und vervoll-
ständigt von Dr. Karl Bücher. Leipzig, F. A.
Brockhaus 1879. XXX. 535 Seit. 8°.
Studies in the early history of institu-
tions by Denman W. Ross. I. II. III. : The
theory of village communities. Cambridge, Mass., U.S.A.
University press : John Wilson and son. 1880. 23, 12 u.
32 Seit. 8°.
Die an erster Stelle genannte Schrift hat seit
ihrem ersten Erscheinen in französischer Sprache
eine Reihe von Auflagen erlebt, sie ist ins Eng-
lische übersetzt worden und liegt nun hier in
deutscher Bearbeitung vor. Offenbar hat sie in
weiten Kreisen Beachtung gefunden, in viel wei-
tern jedenfalls, als jemals ein deutsches Buch,
welches diesen oder irgend einen andern Theil
der agrarischen Geschichte behandelt. Ausge-
sprochener Maßen ist es auch nicht in erster
Linie der Zweck des Verfassers gewesen, neue
wissenschaftliche Forschungen zu geben, sondern
17
258 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
auf die behandelten Erscheinungen die öffent-
liche Aufmerksamkeit zu lenken und dadurch
das Verständniß für die Mängel und die not-
wendige Weiterentwicklung unserer vermögens-
rechtlichen Ordnung zu verbreiten. Zwar hat
ihn gewiß nicht die Absiebt geleitet, die man
ihm wohl irrthtimlicher Weise untergelegt hat,
die alten Formen der Feld- und Hausgemein-
schaft als in unserer Zeit noch anwendbar zu
empfehlen. Mit Recht sagt sein Uebersetzer:
wer einem ernsthaften Schriftsteller zutraut, daß
er die russische Dorfgemeinschaft, die südslavi-
sche Zadruga, die schweizerische Allmende, die
holländische Erbpacht und die ländliche Pro-
duktivgenossenschaft in einem Athem als agrar-
politische Panaceen empfehle, für den sind der-
artige Darstellungen überhaupt nicht geschrieben.
Aber doch hat der Verf. nicht blos den Gedan-
ken anregen wollen, daß die Eigenthumsordnung
veränderlich ist. Er glaubt vielmehr, daß die
freie Ueberlassung des Vermögens an die Indi-
viduen zu willkührlichem Schalten damit, wie
sie das Produkt unserer modernen Rechts- nnd
Wirthschaftsentwicklung ist, mit den socialen
Mißständen der Gegenwart in engem Zusammen-
hang stehe. In dem reinen Privateigentum an
Grund und Boden, wie es sich bei den Römern
zuerst ausgebildet und jetzt nach längerer Ver-
dunklung bei den wichtigsten Cultumationen
wieder hergestellt ist, sieht er die Hauptursache
der Vermögensungleichheit und der Verschärfung
der Klassengegensätze, welche unsere moderne
Gesellschaft gefährden. Er fürchtet, daß, wenn
diese Dinge sich so weiter entwickeln, sie in
traurigen socialen Kämpfen und dem Verlast
der politischen Freiheit enden. Da möchte er
nun zeigen, daß das Eigenthum nicht immer so
E. de Laveleye, Pa« Ureigenthum. 269
dien socialen Charakters entkleidet nnd nur
den privaten Zwecken des Individuums dienst-
bar gewesen ist , wie heutzutage, und dadurch
den Gedanken anregen, daft auch unsere heutige
Eigenthumsordnung noch nicht die letzte und
vollkommenste sei , sondern daß das Privat-
eigentum im Interesse der harmonischen Ent-
wicklung des Ganzen Einschränkungen erfahren
müsse. Wie er sich die wttnschenswerthe Um-
kehr zu einem mehr socialen Charakter des
Eigenthums denkt, darüber giebt er keine kla-
ren Ausführungen, nur Andeutungen. Manches
vortreffliche Wort findet sich da in der Vorrede,
neben andern Aeußerungen, die mir von zwei-
felhaftem Werthe scheinen. Er verlangt also
eine Abschwächung des Individualismus, größere
Unterordnung des Individuums unter die Zwecke
der Gesammtheit, mehr sociale Pflichten für das
Vermögen, aber auch allgemeinere Vertheilung
des Eigenthums, größere Gleichheit in den Le-
bensbedingungen der verschiedenen Klassen. Je-
ner oberste Grundsatz der Gerechtigkeit „Je-
dem nach seinen Werken u müsse zur Wahrheit
werden und zwar in der Weise, daß das Eigen-
thum wirklich das Resultat der Arbeit sei und
daß das Wohlbefinden eines jeden im richtigen
Verhältniß zur Mitwirkung bei der Produktion
stehe. Er hofft die Umgestaltung von der Kraft
des Ghristenthums. Dasselbe habe bis zur Ge-
genwart nur auf die Individuen und dadurch
aof den Staat eingewirkt. Wer aber seine
Macht habe ermessen können, der werde zu-
geben, daß es einst eine ordnende Kraft des
Staats werden und dann sich der Welt in der
ganzen Tiefe seiner Gedanken und der ganzen
Fülle seiner Segnungen offenbaren werde.
Als Kritiker sind wir darauf angewiesen, mehr
17 •
260 Gott. gel. AbZ. 1881. Stück 9, 10.
die Punkte hervorzuheben, in denen wir von dem
Verf. differieren, als die, in denen wir tiberein*
stimmen; und da glauben wir zwei Bedenken
nicht verhehlen zu dürfen.
Erstens scheint uns der Verf. die sittliche
Bedeutung jener älteren Institutionen zu über-
schätzen. Nach seiner Auffassung wären also
die verschiedenen Formen der Feldgemeinschaft,
wie sie auf früheren Culturstufen sich finden,
mehr vom Geiste des Ghristenthum durchdran-
gen, als unser heutiges reines Privateigentum.
Das scheint uns eine unabweisbare Conse-
quenz der vom Verfasser in der Einleitung ent-
wickelten Gedanken zu sein. Ist aber dem
wirklich so? Die Gesinnung der Dorfgenossen
in einem russischen Dorfe mit Collektiveigen-
thum und gemeinsam geregelter Wirtschaft
könnte doch der christlichen Liebe sehr viel
ferner stehn, als die der Anbauer in einem Di-
strikte des fernen Westens der Vereinigten Staa-
ten, von denen jeder selbstständig für sich wirt-
schaftet und nach eigenem freien Ermessen die
wilde Natur sich dienstbar macht. Hartherzig-
keit und Selbstsucht können sich unter jeder
Form des Zusammenlebens geltend machen nnd
doch ist es die Gesinnung der Menschen, die
Stellung des Herzens zu Gott ganz allein, auf
welche das Christenthum Gewicht legt. Und
noch bedenklicher erscheint mir ein anderer
Punkt. Entspricht die Forderung, daß jedem
nach seinen Werken die äußern Güter dieser
Welt zugetheilt werden sollen, wohl dem Geist
des Ghristenthums und würde das Streben nach
ihrer Verwirklichung in der That die sittliche
Entwicklung des menschlichen Geschlechts för-
dern? Wie würde es um uns beschaffen sein,
wenn jede gute That sofort ihren Lohn in
E. de Laveleye, Das Ureigeuthum. 261
äußern Glüeksgütern erhielte? — Doch wir wol-
len diese Frage nicht weiter verfolgen, da ja,
wie wir anerkennend hervorheben, die Tendenz
des Bachs für seinen Hauptinhalt ganz unwe-
sentlich ist. Sie hat nur insofern auf die Schrift
eine sehr vorteilhafte Wirkung, als sie der
Darstellung des Verfassers eine Wärme und eine
Lebendigkeit giebt, welche ihr schwerlich in
dem Maße eigen sein würde, wenn die Unter-
suchungen nur aus antiquarisch-historischem
Interesse hervorgegangen wären.
Von dem angedeuteten Gesichtspunkt aus-
gehend hat nun der Verfasser mit großem Fleiß
gesammelt, was die historische und national-
ökonomische Forschung neuerer Zeit über ge-
meinschaftliches Eigenthum und über gemein-
schaftliche Benutzung von Grund und Boden
bei Völkern verschiedener Zeiten und Orte zu
Tage gefördert haben, aber in einzelnen Ab-
schnitten diese Forschung auch durch eigene
Untersuchung wesentlich gefördert. Sein Ueber-
setzer hat dann durch werthvolle selbstständige
Arbeiten das Werk noch weiter bereichert. Das
Ganze aber zeichnet sich durch eine geschmack-
volle und angenehm lesbare Form aus, die ge-
wiß viel dazu beigetragen hat, daß der Verf.
seinen Zweck auf die behandelten Erscheinun-
gen die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt
zu lenken, in so ausgedehntem Maße erreicht
hat Nicht minder aber sind es die vielen Ana-
logieen in der agrarischen Entwicklung ganz
verschiedener Völker, welche in der übersichtli-
chen Darstellung des Verf. oft in einer auch
den Fachmann überraschenden Weise zu Tage
treten, die der Lektüre des Buchs einen großen
Reiz geben. Wir sind auf diesem Gebiete dar-
auf angewiesen unsere mangelhaften Kenntnisse
262 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
der agrarischen Zustände früherer Zeiten durch
Vergleichungen zu ergänzen. Ohne dieselben
müßten wir sehr oft ganz darauf verzichten,
uns ein anschauliches Bild von den Verhältnis-
sen früherer Zeiten zu machen. Gerade da-
durch sind zahlreiche Mißverständnisse hervor-
ragender Historiker entstanden, daß sie eich
auf Interpretation einzelner Urkunden beschränk-
ten ohne sich unter Zuhülfenahme anderer ähn-
licher und genauer beobachteten Erscheinungen
ein lebensvolles Bild des Ganzen zu machen.
Wir sind deshalb weit entfernt, den Ausstellun-
gen zuzustimmen, welche der Verfasser des
zweiten oben citierten Werks gegen die ver-
gleichende Methode Laveleye's macht Natür-
lich aber ist es, daß ein Schriftsteller, der mit
so großem Erfolge eine bestimmte Methode ver-
folgt, im Einzelnen auch mitunter Analogieen
sieht, wo Andern mehr die Verschiedenheit der
agrarischen Zustände auffällt.
So scheint uns — um in die Besprechung
einzelner Abschnitte des Buchs einzutreten — ,
daß der Verf. den Unterschied in der agrari-
schen Entwicklung Rußlands und der germani-
schen Völker zu wenig betont Ihm ist die
russische Dorfverfassung das lebende Bild der
altgermanischen Feldgemeinschaft und wohl ohne
Zweifel aus diesem Grunde stellt er sie in den
Vordergrund seiner Darstellung. Nun ist aber
ein Grundgedanke der erstem, das gleiche Recht
aller volljährigen Einwohner auf einen gleichen
Theil der Ländereien, deren Eigentümer die
Dorfschaft ist, bei den germanischen Dörfern in
historischer Zeit nirgendwo nachweisbar. Man
kann es als wahrscheinlich betrachten, daß bei
der ersten festen Niederlassung jeder erwachsene
Volksgenosse seinen Antbeil an der Flur erhielt,
E. de Laveleye, Das Ureigenthum. 263
aber nachdem einmal die Austheilung erfolgt
and jeder seine Hufe erhalten, waren bei wach-
sender Bevölkerung die Besitzlosen auf die Ar-
beit für Andere oder auf die Occupation des
unbebauten Landes angewiesen. Die letztere hat
der Besitzlosigkeit des freien Dorfgenossen ge-
wiß lange vorgebeugt. Entweder wurden ge-
eignete Theile des unbebauten Landes zu neuen
Hafen im alten Dorfe oder zu ganz neuen Töch-
terdörfern verwandt. Auch haben bei wachsender
Bevölkerung wohl mehrere Familien zusammen
eine Hufe besessen, bis dann wahrscheinlich erst
später in einem großen Theile von Deutschland
auch die Naturaltheilung der Hufen üblich wurde.
Von einem Rechte aber der Besitzlosen, eine
neue Theilung zum Zweck der Vermehrung der
Hafenzahl durch Verkleinerung des Umfangs
der alten zu verlangen, findet sich unseres Wis-
sens in der deutschen Geschichte keine Spur.
Ebenso ist es aber bis vor einigen Jahrhunder-
ten auch in Rußland gehalten worden. Das
scheinen die neuern Untersuchungen über den
Gegenstand doch festgestellt zu haben. Diesel-
ben sind mir freilich nur aus dem Buche von
H. v. Keussler bekannt, das auch von Laveleye
benutzt ist Aber der Bericht dieses Schrift-
stellers über die russischen Forschungen macht
den Eindruck der größten Sorgfalt und Ge-
nauigkeit Darnach gab es in den altrussischen
freien Gemeinden noch kein Recht jedes Ge-
meindegliedes auf einen proportionalen Antheil
am Gemeindelande. Dies Recht ist erst später
in Folge der Einführung der Leibeigenschaft
und der Kopfsteuer entstanden und damit ist
der russische Gemeindebesitz dem altdeutschen
sehr unähnlich geworden. Ist dem aber so,
dann zeigt die russische agrarische Geschichte
261 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
nicht einen Fortschritt von dem Gesammteigen-
thum zu immer größerer Ausbildung des Privat-
eigenthums, wie ihn Laveleye als allen Völkern
eigentümlich darstellt, sondern umgekehrt einen
Rückschritt zu einer sehr verstärkten agrari-
schen Gemeinschaft, und dann kann die russische
Dorfschaft nicht mehr als das Urbild einer ur-
sprünglichen Feldgemeinschaft gelten.
An die übrigens sehr sorgfältige Darstellung
der heutigen russischen Dorfverfassung und an
eine Abwägung ihrer Vortheile und Nachtheile reiht
de Laveleye ein anderes Bild einer noch zur Zeit
bestehenden ganz ähnlichen agrarischen Gemein-
schaft. Er giebt nach Quellen, die in Deutsch-
land schwer zugänglich sind, eine höchst inter-
essante und lehrreiche Darstellung der Dorfge-
meinschaften auf Java. Wir ersehn daraus, daß
noch ein großer Theil des Landes dort Gemein-
gut jst und daß periodische Auftheilungen des-
selben unter die Dorfgenossen üblich sind. Mit
dem conservativen Sinn, welcher der holländi-
schen Colonialverwaltung eigen ist, hat man
nirgends in diese Verhältnisse eingegriffen. Man
hat vielmehr auch die Stücke, welche von dem
unbebauten Lande die Regierung den europäi-
schen Golonisten überlassen hat, denselben nicht
als Eigenthum, sondern zu emphyteutischem
Recht auf 75 Jahre gegeben, so daß nach Ab-
lauf dieses Zeitraums eine neue Regulierung der
Besitzverbältnisse erfolgen kann. Der Verf.
deutet an, daß die enorme Volksvermehrung in
Java (1808 3,730,000, 1872 17,298,200 Einwoh-
ner) wohl mit diesen Besitzverhältnissen zusam-
menhängen möge. Schon mehrfach hat man
Befürchtungen ausgesprochen, daß daraus mit
der Zeit für die Colonic große Mißstände sich
ergeben würden. Auch uns scheint der Zusam-
E. de Laveleye, Das Ureigenthum. 265
menhang nicht unwahrscheinlich und wir möch-
ten darin einen Beweis dafür sehn, daft eine
Agrarverfassung, welche jedem einen Antheil
am Lande gewährt, für Cnlturstufen paßt, auf
denen in Folge Ueberflusses an Land die Aus-
dehnung des Ackerbaus keine Schwierigkeiten hat.
Nachdem der Verf. so die noch bestehen-
den Dorfgemein8cbaften geschildert, wendet er
rieh zu der germanischen Mark. Die Darstel-
lung schließt sich unter Benutzung der Arbeiten
von Haussen, Röscher u. A. ganz überwiegend
an 6. L. v. Maurer an. Indeß giebt der Verf.
doch wohl in einzelnen Aeußerungen dem Col-
lektiveigenthum bei den germanischen Stämmen
in geschichtlichen Zeiten eine größere Trag-
weite, als die Untersuchungen dieser Männer
rechtfertigen. Daß nicht erst das Edikt des
Königs Chilperich v. J. 574 bei den Franken
ein Erbrecht an Grund und Boden geschaffen,
wie der Verf. meint, ist schon von anderer Seite
hervorgehoben. Ferner kehrt hier die Ansicht
wieder, daß die periodischen Theilungen und
die Reebningsprocedur die Bestimmung gehabt
hätten, Jedem Einwohner des Dorfs44 ein An-
recht auf einen Ackertheil zu sichern, der groß
genug war, um den Bedürfnissen der Familie
zu genügen. Wo wir Reste dieser Einrichtun
gen in Scandinavien oder Deutschland finden,
war ihre Bestimmung eine beschränktere. An
diese geschichtliche Darstellung hat dann der
Uebersetzer einen weitern Abschnitt gereiht, in
dem er eine Uebersicht giebt von den Re-
sten der alten Agrarverfassung, die sich in
Deutschland erhalten haben. Alle wichtigern
Nachrichten , namentlich was sich in den
Schriften von Haussen, Achenbach, Meitzen fin-
det, ist darin sorgfältig zusammengetragen. Der
266 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
folgende Abschnitt über die Allmenden der
Schweiz, obwohl mit unendlicher Mühe vom
Verf. bearbeitet, ist doch seitdem durch die viel
erschöpfenderen Arbeiten von Miaskowski tiber-
holt. Dagegen ist ungemein werthvoll, was der
Uebersetzer über die Allmenden im südwestli-
chen Deutschland zusammengetragen. Nur We-
nige haben wohl genaue Kenntniß von dem Um-
fange gehabt, in welchem sich Qemeinland in
dem südwestlichen Deutschland erbalten hat,
und vor Allem von der eigenthümlichen Art der
Benutzung desselben. Die dortigen agrarischen
Zustände zeigen in dieser Beziehung manche
Aehnlichkeit mit der Schweiz, lndeß sind doch,
wie der Verf. hervorhebt, zwei wesentliche Un-
terschiede zwischen den Verhältnissen der süd-
deutschen und der schweizerischen Allmenden.
Einmal fehlen unter den erstem die großen
Strecken natürlichen Weidelandes, welche in den
Gebirgsgegenden der Schweiz den Grundstock
des Gemeinlandes bilden, und dann ist in den
süddeutschen Staaten in der Regel die politische
Gemeinde die Eigenthümerin des Gemeinlandes.
Nur selten haben sich Realgemeinden im Be-
sitz der Allmende erhalten, während die der
Schweiz eigenthümlichen Zwischenbildungen zwi-
schen Realgemeinde und der heutigen politi-
schen Gemeinde, die Bürgergemeinden, die Recht-
samegemein den, die Gerechtigkeitsgenossenschaf-
ten u. s. w. fast ganz zu fehlen seheinen. Ge-
naue statistische Angaben über den Umfang der
Allmenden und die Art der Benutzung fehlen in
den meisten süddeutschen Staaten, in Württem-
berg wird der Umfang des Gemeinlandes 1863
auf 735,722 Morgen angegeben, wovon 58,285
Morgen Aecker, 25,864 Morgen Wiesen, 5245
Morgen Gärten und Länder, 82,491 Morgen
E. de Laveleye, Das Ureigenthum. 267
Weide crad andere Cultur arten, 563,837 Morgen
Wald. Von den Gemeinden des Landes besitzen
nur ll°/o gar kein Grundeigenthum, 68,9 VqJ1*-
ben Waldungen, 85,6 °/0 besitzen Aecker, Wie-
sen and Weiden. In den Nachbarstaaten scheint
verhältnißmäßig noch mehr Land, das durch die
letztern Culturarten genutzt wird, Gemeinde-
eigentham zu sein. In Hohenzollern-Hecbingen
gehört 41 % alles Grundeigentums den Gemein-
den, aber darunter noch nicht einmal die Hälfte
Wald. In Baden hatten 1854 die Gemeinden
softer beträchtlichen Waldungen noch 160,000
Morgen Ackerland und Wiesen. — Ueber die
Art, wie die Gemeindewaldungen bewirtschaf-
tet werden, verbreitet sich der Verf. nicht. Die
früher gemeinschaftlich benutzten Weiden sind
seit dem Aufkommen der Stallfütterung allmäh-
lich immer mehr zu andern Zwecken verwandt
worden. Zum Theil werden die nicht bewalde-
ten Ländereien für Rechnung der Gemeindkasse
verpachtet oder auch bewirtschaftet. Nament-
lich in Württemberg streben die Gemeinden
hauptsächlich darnach, aus dem Ertrage der
Allmenden die Gemeindebedürfnisse ganz oder
zum großen Theil zu decken, zum Theil werden
sie an die Gemeindebürger zur zeitweiligen
Nutzung vertheilt. In besonders ausgedehntem
Maße scheint das in Theilen von Baden, Hessen
and Hohenzollern der Fall zu sein. Der Verf.
hält gewiß mit vollem Rechte diese Nutzungs-
art des Gemeinlandes nicht für alt. Sie sei in
den meisten Fällen erst entstanden, als die Ge-
meinweiden mit Aufkommen des Futterkräuter-
baus und der Stallfütterung überflüssig, die alte
Ackerflur für die wachsende Bevölkerung zu
klein geworden sei. Während nun der Ferner-
stehende gewiß in der Regel geneigt sein wird,
268 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
über diese Austheilung kleiner Ackerstücke auf
oft nur kurze Zeit a priori ungünstig zu ur-
theilen, lobt der Verf. die Resultate auf das
Entschiedenste. Die Bewirtschaftung, versichert
er nach eigenen Beobachtungen und manchen
angeführten Zeugen, sei eine nachhaltige und
verständige, nur wo periodische Verloosungen
mit kurzen Fristen noch gebräuchlich seien, lasse
die Instandhaltung der Allmendfelder viel zu
wünschen, aber dies Herkommen bestehe nur ver-
einzelt, in der Regel würden die zur Nutz-
nießung bestimmten Flächen in kleinere und
größere, nach dem Umfang in Klassen geschie-
dene Loose getheilt. Die zur Nutznießung be-
rechtigten erhielten anfangs nur kleinere Grund-
stücke und rückten dann allmählich in die grö-
ßern Loose, wenn dieselben frei würden, ein,
um diese dann auf Lebenszeit zu behalten. Das
wirke wie eine Altersversorgung, welche die
auf dem Lande oft bittere Lage des Alters ver-
bessere, die Pietät gegen das Alter mehre und
die Armenlasten der Gemeinde mildere. Den
besitzlosen kleinen Handwerkern, Tagelöhnern
u. s. w. auf dem Lande werde durch die klei-
nen Ackerstücke Gelegenheit gegeben, ihre freien
Stunden zu verwerthen und einen Theil ihres
Nahrungsbedarfs selbst zu erzeugen. Jeder sei
so vor der äußersten Noth gesichert. Unter al-
len Umständen, auch bei der Benutzung für die
Gemeindekasse, habe aber ein ausgedehntes Ge-
meindeland großen Werth, insofern dadurch der
Gemeinde ein wichtiger Einfluß auf die land-
wirtschaftlich zweckmäßige Gestaltung der ge-
sammten Gemarkung gesichert, ein kräftiges
Gemeindeleben befördert werde und die Ge-
meindelasten vermindert würden. Aufs schärfste
verurtheilt der Verf. die Gemeinheitstheilung als
E. de Laveleye, Das Ureigenthum. 269
ungerecht und unwirtschaftlich und führt zum
Belege verschiedene Beispiele übler Erfolge der-
selben aus dem südwestlichen Deutschland an.
Unter voller Anerkennung der vom Verf. ge-
rühmten Wirkungen der süddeutschen Allmenden
wird man aber doch dies letztere Urtheil in
seiner Allgemeinheit bestreiten dürfen. Da wo
sich die alte Dorfverfassung mit Flurzwang und
Gemeindeweide und damit das Bewußtsein er-
halten hatte, daß zu der Hofstätte und zu dem
Ackerlande ein ideeller Antheil an dem nicht
aufgeteilten Lande der Dorfflur nothwendig ge-
höre, konnte man nicht die Geraeinweide in
ein Eigenthum der politischen Gemeinde ver-
wandeln, ohne das berechtigte Rechtsgefühl der
Landbevölkerung zu verletzen. Anders ist es
mit dem Gemeinwalde. Derselbe bildete nicht
in dem Maße eine nothwendige wirthschaftliche
Ergänzung des Ackerlandes, war nicht so in
der ununterbrochenen , fast ausschließlichen
Nutzung der Grundbesitzer und ist daher nicht
selten ganz allmählich in das Eigenthum der
politischen Gemeinde gekommen. Wenn aber
die Gemeinweide plötzlich nach Aufgabe der
Wirthschaftssysteme mit ewiger Weide in eine
andere Nutzungsart genommen werden sollte, so
entsprach die Vertheilung nach dem Ueberwin-
terungsmaßstabe mit kleinen Abfindungen für
die Besitzlosen in der That am meisten der
herkömmlichen Berechtigung, wie sie sich seit
Jahrhunderten gestaltet hatte. Daß die Dinge
im südwestlichen Deutschland sich anders ent-
wickelt, liegt wohl zum großen Tbeil darin, daß
die alte Realgemeinde in der Regel nicht plötz-
lich durch eine Operation, wie die norddeut-
schen Separationen und Verkuppelungen auf-
gelöst wurde, sondern allmählich zerbröckelte
270 Gott. gel. Anz. IRfil. Stück 9. 10.
und zur Zeit, als die Gemeinweiden über-
flüssig wurden, meistens schon viel von ihrer
Ursprünglichkeit eingebüßt hatte, während die
politische, die Personalgemeinde, dort auf dem
Lande ein viel größeres Zusammengehörigkeits-
gefühl entwickelt hatte, als in Norddeutsch-
land. Was aber die wirtschaftlichen Er-
folge betrifft, so konnte die bloße Vertheilung
eines oft nur bescheidenen Restes der Gemein-
weiden ohne die eigentlich doch dazu gehörige
Zusammenlegung aller Grundstücke auch nicht
die günstigen Wirkungen, wie die norddeutschen
Gemeinheitstheilungen haben. Indeß kann es
unsere Absicht nicht sein, hier die im Ganzen
doch wohl unläugbaren großen Resultate der
preußischen Separationen oder der hannoverschen
Verkoppelungen auseinander zu setzen und sie
abzuwägen gegen den auch unserer Ansicht
nach unbestreitbaren Nutzen, den die süddeut-
schen und schweizerischen Allmenden darbieten.
Nur darauf möchten wir noch aufmerksam ma-
chen, daß die Vortheile der Ueberweisnng klei-
ner Ackerstücke zu ganz oder fast unentgel-
ticher Nutzung, die der Verf. hervorhebt, zum
großen Theil durch die eigenthümlichen Ver-
hältnisse des südwestlichen Deutschlands und
der Schweiz bedingt sein dürften. Dort be-
günstigen sowohl die Absatzverhältnisse wie das
Klima, die ganz kleine' Landwirtschaft und
dort fehlt es in der Regel an Nebenerwerb für
die Nutznießer der Allmenden nicht. Selbst in
diesen Gegenden aber, will es uns scheinen, ver-
wandelt sich die persönliche Nutzung der All-
menden durch alle Berechtigten mehr und mehr
in eine Verwendung derselben für die Gemeinde-
kasse, sei es durch förmliche Verpachtung, sei
es durch allmähliche Steigerung des von den
Nutznießern zu zahlenden Zinses. Die „All-
£. de Laveleye, Das Ureigenthum. 271
mendgttter" werden immer mehr zu „Kämmerei*
gutem". Diese Tendenz giebt der Verf. für
Württemberg selbst zu, sie scheint mir auch aas
Manchem hervorzugebn, was Miaskowski über
die Schweizer Allmenden mitgetheilt hat.
Ans den folgenden Abschnitten heben wir
den über die Mark in den Niederlanden hervor.
Der Verf. tbeilt mit, daß sich in den binnen«
ländischen Provinzen Niederlands, deren Ein-
wohner sächsischen, nicht friesischen Stammes
sind, zahlreiche Dörfer mit Flurzwang, Drei-
felderwirtschaft mit ausgedehnten Gemeinweiden
erbalten haben. Die Einhegung der mit Winter-
oder Sommerfrucht bestellten Theile der Flur,
welche in Deutschland früher mit todten Zäu-
nen geschah, wird dort durch eine Art von
Mauern aus Heideplaggen bewerkstelligt Viel
geringer sind die Spuren der alten Feldgemein*
ßchaft in Belgien. In Betreff dieses Landes
sind besonders interessant die Mittheilungen
Aber die sogen, virees in den Ardennen, welche
nnsenn Schiffellande in den Moselgegenden und
der Eifel ganz entsprechen. Lehrreich ist ferner
der Abschnitt über die Gemeindegüter und
Weiderrechte in Frankreich und den Kampf
dieser Einrichtungen zuerst mit der Grundherr-
Bchaft und dann mit den Bestrebungen zur Her-
stellung freien Privateigentums. Mit einer in
der That erstaunlichen Belesenheit haben ferner
der Verfasser und sein Uebersetzer gesammelt,
was über agrarische Gemeinschaft in irgend
einer Form bei außereuropäischen Völkern, ins-
besondere der Urbevölkerung Amerikas berich-
tet ist Die von Dr. Bücher verfaßte Schilde-
rung des Inkastaats in Peru zeichnet sich durch
besondere Lebendigkeit und Wärme aus. Sie
soll dem Leser anschaulich vor Augen führen,
272 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
daß nicht nur unsere heutige Eigenthumsordnung
culturscbaffende Wirkungen haben kann.
Nach der Uebersicht über die Reste alter
Agrarverfassungen bei modernen Völkern greift
der Verfasser zurück ins klassische Alterthum.
Im Anschluß besonders an eine Arbeit von
Paul Viollet sucht er nachzuweisen, daß auch
die Völker des klassischen AJterthums in ähn-
licher Weise wie die germanischen Stämme ur-
sprünglich in Feldgemeinschaft gewirthschaftet ha-
ben. Uns dünkt, zwei Ergebnisse der Untersuchung
dürften ziemlich sicher sein, daß nämlich Ge-
meinland bei den Griechen und Römern ur-
sprünglich vorhanden war und daß die Verkei-
lung der Aecker als eine Angelegenheit der
Öffentlichen Ordnung betrachtet wurde. Ob aber
eine förmliche Feldgemeinschaft auch am Acker-
lande bei diesen Völkern jemals bestanden hat,
das scheint uns doch noch immer sehr zweifel-
haft. An diese Erörterung schließt sich eine
kurze Geschichte des Eigenthums in Rom. Sie
soll offenbar die mit dem quiritischen Eigen-
thum verbundenen Gefahren darthun. Kaum sei
dasselbe eingeführt gewesen, als es auch schon
die Existenz der demokratischen Institutionen
und der Republik durch seine centralisierende
Macht bedroht habe. Aber auf die üble agra-
rische Entwicklung Italiens unter der römischen
Herrschaft haben andere ungünstige Momente
von so sichtbarem und überwiegendem Einfluß
eingewirkt, daß man zur Erklärung des Ver-
falls das quiritische Eigenthum nicht heranzu-
ziehn braucht ; und weil sich der Verfall aus an-
dern Ursachen hinlänglich erklärt, so kann aus
dieser Geschichte auch kein einigermaßen siche-
rer Schluß auf die Wirkungen des römischen
Rechts gezogen werden. Vergegenwärtigen wir
E. de Laveleye, Das Ureigenthum. 273
ung nnr die beständige Zufuhr tod Sklaven nach
Italien ans den Kriegszügen in eroberten Län-
dern, die Wohlfeilheit dieser Arbeitskraft, die
von jedem Militärdienste befreit war, während
auf dem freien Grundeigentümer die enorme Last
des römischen Kriegsdienstes ruhte, nehmen wir
hinzu, wie der Getreidebau dieser kleinen Bauern
aufs Schwerste dadurch geschädigt wurde, daß
große Quantitäten Getreide aus den ersten Korn-
ländern des Mittelmeers von Staatswegen nach
Rom geführt und dort verkauft oder zu nomi-
nellen Preisen abgegeben wurden, so bedarf
man, glaube ich, keiner weitern Erklärung für
die Verdrängung der bäuerlichen Ackerwirth-
schaften durch große Weidewirtbschaften der
Sklavenhalter.
Nachdem im ersten Theile des Buchs die
Feldgemeinschaft der Dörfer und größeren agra-
rischen Bezirke erörtert ist, wendet sich im zwei-
ten Theile der Verfasser zu den Hausgemein-
schaften (communautes de families), d. h. den
Vereinigungen der Abkömmlinge desselben
Stammvaters, welche dasselbe Haus oder densel-
ben Hof bewohnen, gemeinsam arbeiten und die
Produkte der ländlichen Arbeit gemeinsam ver-
zehren. Offenbar sind die Hausgenossenschaften
eise von den Dorfgenossenschaften total ver-
schiedene Einrichtung. Denn wenn auch wahr-
scheinlich die Dorfgenossen ursprünglich mit
einander durch das Band der Verwandtschaft
ähnlich verbunden waren, wie die Hausgenossen,
so giebt doch die Selbstständigkeit der eigenen
Wirtschaft, das unbeschränkte Walten auf dem
eigenen Hofe, das reine Eigenthum am beweg-
liehen Vermögen der Dorfschaft einen ganz an-
dern Charakter, als ihn die einem Patriarchen
18
274 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
untergeordneten, fast jeder Selbstständigkeit er-
mangelnden Familien der Hans- oder Hofcom-
munen haben. Die beiden Abschnitte, in denen
der Verf. die Hausgemeinschaften bei den Süd-
slaven und im mittelalterlichen Frankreich schil-
dert, dürften zu den interessantesten und lehr-
reichsten Theilen des# Buchs gehören. Der Verf.
hat selbst die slavischen Distrikte südlich von
der Donau besucht und entwirft auf Grund eige-
ner Anschauung ein überaus günstiges Bild von
den Zuständen in den dortigen Hauscommunen
und von den ökonomischen und socialen Wir-
kungen dieser patriarchalischen Einrichtungen.
Ein reiches Material hat dann aber der Verf.
auch über die alten französischen Hausgenossen-
Schäften gesammelt. Wir ersehn daraus, in wel-
cher Ausdehnung der Zeit und dem Baume nach
die Bewirtschaftung eines und desselben Guts
durch mehrere Familien dort vorgekommen ist.
Der Verf. findet die Ursache davon nicht in den
besondern Verhältnissen des mittelalterlichen
Frankreichs, sondern glaubt, daß bei der ersten
Austheilung des Landes zum Ackerbau die
Ackerloose nicht unter die Einzelnen, sondern
unter die in Hausgenossenschaft zusammen le-
benden Familien vertheilt worden seien. Die
'cognationes hominum, qui una coierunt' bei Cae-
sar seien Hausgenossenschaften wie die in Ser-
bien. Wäre dem so, dann wäre doch das Feh-
len der Hausgenossenschaften von mehreren Fa-
milien, als wirthschaftlicher Einheiten, in so vie-
len Gegenden, in denen sich sonst alte agrari-
sche Sitten erhalten haben, auffallend. Sollte
es nicht näher liegen, die Erklärung darin
zu suchen, daß die Aufteilung des Landes ur-
sprünglich in der Begel so erfolgte, daß jedem
vertheilungsberechtigten Genossen eine wirth-
E. de Laveleye, Pas Ureigenthum. 275
sehaftliche Einheit, eiAe Hufe, als Antheil an
der Gemeindeflur überwiesen wurde, daß diese
Einheiten aber ursprünglich als nntheilbar an-
gesehn wurden und daß deshalb bei wachsender
Bevölkerung zuletzt mehrere Familien zusammen
eine Hufe bewirtschafteten? Die Grundherrn
haben dann, wie der Verf. richtig hervorgehoben,
das geschlossene Zusammenhalten der ungeteil-
ten Hufen durch die Hausgenossenschaft im ei-
genen Interesse befördert. Vielleicht hängt es
damit auch zusammen, daß in Frankreich so
viel mehr Hausgenossenscbaften im Mittelalter sich
finden als in Deutschland. Deutschland war
schwächer bevölkert und bot ein weiteres Feld
für die Aussendung von Tochterdörfern und an-
dere Niederlassungen auf unbebautem Lande,
als das länger cultivierte und dichter bevölkerte
Frankreich. Es trat daher in jenem Lande
auch nicht so häufig die Nothwendigkeit zum
Zusammenwohnen mehrerer Familien auf einer
Hufe hervor, wie in diesem.
Es folgt dann eine Abhandlung über die
Entstehung der Ungleichheit des Grundeigen-
tums, in welcher der Verf. die Ursachen,
welche zu verschiedenen Zeiten und bei ver-
schiedenen Völkern den Untergang oder das
Zurückweichen des freien Bauernthums gegen-
über großem Grundbesitz zur Folge gehabt ha-
ben, zusammenstellt — immer so, daß man sieht,
wie sehr der Verf. selbst diese Entwicklung be-
dauert. Unseres Erachtens wird er der cultur-
historischen Bedeutung des großen Grundeigen-
tums, wie sie besonders von Inama-Stern-
egg in neuerer Zeit hervorgehoben, nicht immer
gerecht. Man kann doch wohl darüber zweifel-
haft sein, ob es der Entwicklung des mensch-
lichen Geschlechts förderlich gewesen wäre, wenn
13*
276 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9.10.
ganz Europa dauernd und ausschließlich von
kleinen Bauernrepubliken nach Art der schwei-
zerischen Urkantone erfüllt geblieben wäre.
Die Abschnitte über die Entwicklung der
Grundeigenthumsverhältnisse in England und in
Britisch-Ostindien bieten weniger Eigentümliches.
Sie sollen, wie es scheint, die Entstehung des
großen Grundeigentums an zwei Beispielen aus
der neuern Geschichte veranschaulichen ; dagegen
gebührt dem Abschnitt über die Erbpacht, die
freilich mit dem übrigen Inhalt des Buchs nur
in einem losen Zusammenhange steht, das Ver-
dienst, auf die große wirthschaftliche Bedeutung
dieser Form der Landleihe unter den Ersten
wieder aufmerksam gemacht zu haben. Lave-
leye ist der Meinung, daß man wohl etwas vor
eilig über die Erbpacht den Stab gebrochen,
und schildert namentlich die günstigen Wirkun-
gen der Erbpacht in der portugiesischen Pro-
vinz Minho und der holländischen Groningen.
Nach einem Blick auf einige neuere Ver-
suche mit dem corporativem Ackerbau schließt
das Buch mit Erörterung der verschiedenen
Eigenthumstheorien, die wir hier, um nicht allzu
lang zu werden, einer Kritik nicht unterziehen.
Im entschiedenen Gegensatz zu Laveleye
steht das zweite der oben angeführten Bücher.
Der Verf., ein amerikanischer Gelehrter, hat sich
vor Allem zur Aufgabe gesetzt, nachzuweisen,
daß die Annahme eines Collektiveigenthums am
Grund und Boden bei den germanischen Stäm-
men eine verkehrte Theorie sei. Die Feldge-
meinschaft, welche wir in den Dörfern des Mit-
telalters und zum Theil auch der neuern Zeit
finden, sei ausschließlich auf Land beschränkt
gewesen, welches von größern Grundeigentü-
mern ihren Sklaven und Knechten ausgetheilt
Ross, Theory of village communities. 277
sei, bei freien Grundbesitzern komme eine solche
Feldgemeinschaft nicht vor. — Daß irgend ein
Zusammenhang zwischen der alten freien Mark-
und Dorfgemeinschaft und der hörigen, einer
Grundherrschaft unterworfenen bestehn könne,
längnet er. Es sei niemals nachgewiesen und
könnte auch nicht nachgewiesen werden , wie aus
der Mark der Fronhof geworden sei.
Wie es scheint haben den Verfasser auf
diese Idee die neuern Untersuchungen über die
russischen Dörfer geführt, welche er aus einem
Artikel von Wallace in Macmillans Magasine zu
kennen scheint. Er wundert sich, daß die Ar-
beit von Wallace nicht unter den Advokaten
der Theorie der Feld- und Dorfgemeinschaft
Schrecken verbreitet hat, denn damit sei ja das
Muster einer altgermanischen Dorfgemeinschaft,
auf das sich die Anhänger dieser Theorie im-
mer vorzugsweise berufen, beseitigt. Daß auch
nicht einer der Gelehrten, welchen wir die ge-
nauere Kenntniß der Geschichte deutscher Agrar-
verfassung verdanken, aus den gegenwärtigen
russischen Zuständen Rückschlüsse auf die deut-
sche Vergangenheit gemacht hat, übersieht der
Verf.
Ueberhaupt scheinen die Arbeiten deutscher
Gelehrten über die alte deutsche Agrarverfassung
dem Verfasser nur sehr unvollkommen bekannt
zu sein. Er citiert Ct. L. v. Maurer und Thudichum,
sowie einen Artikel des Referenten im Contem-
porary Review, dagegen hat er die Schriften von
Sybel, Hanssen, Röscher, Gierke u. A. nicht be-
achtet oder doch einer Berücksichtigung nicht
für werth gehalten. So erklärt es sich, daß er
sich selbst ein verkehrtes oder doch unklares
Bild von den Ansichten deutscher Gelehrten über
die alte deutsche Feldgemeinschaft macht und
278 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
sich zum großen Theil in Ausführungen ergeht,
welche Thatsachen beweisen sollen, die für die
vorliegende Frage unwesentlich und von den
Männern, deren Ansichten bekämpft werden sol-
len, nicht bestritten sind.
Das erste der drei Hefte, aus denen die
Schrift besteht, ist ganz dem Nachweis gewid-
met, daß die ältesten Urkunden aus den ersten
Jahrhunderten nach der Völkerwanderung Grund-
eigenthum mit dem Recht dasselbe zu verkau-
fen und zu verschenken und auch Theilungen
von Grundbesitz unter verschiedene Miterben
kennen. Sollte diese Thatsache irgend einem
Forscher auf diesem Gebiete unbekannt geblie-
ben sein? Ganz gewiß nicht dem hauptsächlich
citierten und bekämpften G. L. v. Maurer. „Die
Loo8güteru, sagt Maurer Einl. S. 7, „sind frühe
schon in Sonderei genthum übergegangen. — In
Deutschland — wahrscheinlich schon zur Zeit der
Völkerwanderung und der darauf folgenden Nie-
derlassungen in den Römerprovinzen ebensowohl
wie in England und in Deutschland selbst. Da
man nämlich bald nach jenen Niederlassungen
in den ältesten Volksrechten und Urkunden be-
reits Erbeigen findet u. s. w.tf.
Der Verf. befindet sich dann weiter in einem
Irrthume über die Bedeutung dieser Thatsache
für die alte Feldgemeinschaft. »The theory of
joint ownership of lande, sagt er S. 7, »is not
consistent with the law of allodial inheritance,
because joint ownership involves periodic or
occasional redistribution and every redistribution
would involve a breach of the lawc. Und ferner
S. 10: »Fancy one acquiring land by gift and
purchase and finding it next day merged with that
of neighboring proprietors for redistribution!«
Offenbar ist er der Ansiebt, daß die neue Verthei-
Ross, Theory of village communities. 279
long des Landes in einer Mark- oder Dorfgenos-
senschaft immer nur nach der wechselnden Kopf-
zahl zu gleichen Theilen geschehn könne, und
tibersieht völlig, daß auch eine Feldgemeinschaft
möglich, bei der die Genossen das Land zu un-
gleichen, aber doch ideellen Theilen besitzen kön-
nen. »Joint ownership implies equality« wiederholt
er mehrfach. (I. S. 21 :) „If the land was owned per
stirpes , the community was a community without
communism a »Markgenossenschaft ohne Feld-
gemeinschaft«11. Die Schrift von Hanssen über
die Gehöferschaften im Reg.-Bez. Trier muß ihm
unbekannt geblieben sein, sonst wäre eine so
verkehrte Auffassung nicht möglich.
Eigenthümlich ist die Art, wie der Verf. mit
den dunklen und unklaren Zeugnissen des Ta-
citus und den bestimmten und deutlichen des
Julias Caesar über die agrarischen Zustände der
Germanen umgeht. Er hat vor diesen Berichten
geringen Respect. „Man sagt", so sind seine
Worte, „daß Caesar und Tacitus die Einrich-
tung von Gesammteigenthum am Grund und Bo-
den beschreiben, welche, wie wir sehn, nicht
vereinbar ist mit allodialem Erbrecht. Ist dem
so, so würden wir abzuwiegen haben das Zeug-
niß des Caesar und Tacitus gegen alle die Ge-
setze, Formeln und Urkunden, die wir mitge-
teilt haben, und ich fürchte das Zeugniß des
Caesar und Tacitus würde da sehr wenig wie-
gen". Welch* ein Zeitraum und welche Bege-
benheiten zwischen Julius Caesar und den er-
sten agrarischen Urkunden liegen, wird da ganz
außer Acht gelassen. Der Verf. sucht dann aber
ferner auch außerdem nachzuweisen, daß diese
Schriftsteller mißverstanden sind. Wir gehn
nicht ein auf seine Interpretation der viel be-
sprochenen Stelle des Tacitus, in der hauptsäch-
280 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9.10.
lieb die Verkeilung secundum dignationem nach
der Ansicht des Verfassers der Annahme einer
Feldgemeinschaft widersprechen soll. Von Jul.
Caes. VI. 22 und IV. 1. sagt er: we should say
there was no ownership at all, only adverse
possession for a short time by groups of kinsmen.
Im zweiten Heft folgt nun die nähere Aus-
führung des Gedankens, daß die mittelalterlichen
„land communities" nur Gruppen von Leibeige-
nen waren, ohne Eigenthum am Grund und Bo-
den, in denen die Gleichheit der bäuerlichen
Besitzungen durch den Willen des Grundherrn
eingeführt und erhalten wurde. Daß jemals aus
einer freien Dorfschaft eine grundherrliche ge-
worden, das sei nicht nachgewiesen und wenn
die Verbindung zwischen dem group of allodial
proprietors und den group of serfs nur durch
Analogieen bewiesen werden könne, so könne
sie eben überhaupt nicht bewiesen werden. Da-
gegen lasse sich nachweisen: 1. Daß Genossen-
schaften von Leibeigenen (assemblages of serfs)
unter allodialer Grundherrscbaft bei den verschie-
denen deutschen Stämmen im fünften oder in den
folgenden Jahrhunderten sich finden. 2. Daß
dieselben existiert haben in vorhistorischer Zeit,
vor Tacitus, der sie erwähnt. 3. Daß dieselben
identisch sind mit den Genossen der Leibeigenen
unter feudaler Grundherrlichkeit. Auch da müs-
sen wir den Verf. darauf aufmerksam machen,
daß unseres Wissens Niemand behauptet hat,
die Grundherrschaft sei erst in den Zeiten des
Lehnswesens entstanden und daß es ebenso
großer Irrthum ist, wenn er glaubt, daß man
die Zunahme der Grundherrschaft und die Un-
terwerfung zahlreicher freier Gemeinden unter
dieselben in Deutschland nur auf Grund von
analogen Erscheinungen bei andern Völkern an-
Ross, Theory of village communities. 281
genommen habe. Nur in Folge dieser Irr-
tbümer kann der Verf. dann auf den Gedanken
kommen, mit dem Nachweis von gruudberrlichen
Dorfgenossenschaften in ältester Zeit sei bewie-
sen) daß es keine freie Dorf- oder Markgenos-
senschaften jemals gegeben habe. Denn darauf
beschränkt sich in der That der Beweis des
Verf. für Punkt 3. Wie es nun aber gekommen,
daß gerade in den ältesten Sitzen bäuerlicher
Freiheit, wie namentlich in den Urkantonen der
Schweiz, sich die Reste agrarischer Gemeinschaft
in so ausgedehntem Maße erhalten, diese Frage
bat sich der Verf. gar nicht aufgeworfen.
Im dritten Heft versucht dor Verf. die Be-
weise, welche die Anhänger der Theorie von
der ursprünglichen Feldgemeinschaft für ihre
Ansicht aufgestellt haben, zu widerlegen. Wir
räumen dem Verf. ein, daß er einzelne Citate,
besonders bei G. L. v. Maurer gefunden hat, die
nicht ganz das besagen, was sie nach der Mei-
nung des Gitierenden bedeuten sollen. Bei einem
so fruchtbaren und, wie wir zugeben wollen, in
Bezug auf die Markgenossenschaft auch mitunter
etwas einseitigen Schriftsteller ist das nicht ge-
rade ein Wunder. Für die ganze Frage ver-
schlagen aber diese Stellen sehr wenig. Der
Verf. bricht auch hier seiner Polemik dadurch
die Spitze ab, daß er die Ansichten der Gegner,
welche er bekämpft, nicht scharf auffaßt.
„According to von Maurer , . Prof. Nasse and
their followers, the earliest form of possession of
land among the Germans was collective owner-
ship involving redistributions per capita". Wie-
derholt wird die alte Feldgemeinschaft definiert
als proprietorship per capita according to von
Maurer. Die wiederholten Verkeilungen nach
der Kopfzahl sind es denn auch ausschließlich,
282 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
welche bestritten werden. Sind sie nicht nach-
weisbar, so sind alle Resultate dentscher For-
schung über die älteste Agrarverfassung umge-
stoßen. Nnn wird aber jeder gern zugeben,
daß wir wenig Über die Art der Vertheilung des
Landes unter die verschiedenen Volksklassen
bei der ersten festen Niederlassung deutscher
Stämme wissen und daß die periodischen Ver-
keilungen des Ackerlandes in Dörfern, von de-
nen wir Kunde haben, keine Verkeilungen nach
wechselnder Kopfzahl waren, wie ich das oben
schon hervorgehoben. Ich habe sorgfältig nach-
gesucht, welche Stellen in den beiden ausschließ-
lich citierten Schriften, in Maurers Einleitung
und meinem Artikel im Contemporary Review
Veranlassung zu diesem Mißverständniß gegeben
haben. Maurer spricht von wiederholten Verthei-
lungen unter die „Landeigner", die „Gemeinde-
genossen11, citiert aber zugleich Beispiele, in
welchen die Vertheilung unter die angesessene
Bauernschaft oder nach gehöferschaftlichen An-
theilen stattfand. Ich habe nur ganz im Allge-
meinen von Verkeilungen unter die community
gesprochen, welche die alte wilde Feldgraswirth-
gchaft naturgemäß mit sich gebracht habe. Von
diesem ganzen Zusammenhang mit der Art der
Bodenbenutzung weiß der Verf. gar Nichts. Wie
kann man aber über diese Dinge urtheilen ohne
sich irgend ein Bild von den älteren Arten des
Ackerbaus zu machen und unter völliger Igno-
rierung der darüber angestellten Untersuchungen?
Nach der Polemik gegen Maurer wendet sich
der Verf. gegen Thudicbum (Gau- und Markver-
fassung in Deutschland). Er übersetzt eine
Stelle dieses Buchs S. 183 : „Noch Jahrhunderte
machte sich der Gesichtspunkt geltend, daß der
Einzelne sein Ackerland nur von der Gemeinde
Rose, Theory of village communities. 288
besitze" nicht ganz genau: „for centuries the
individual got his land from the community, of
which he was a member". Die Uebersetzang
mnß die Meinung erregen, daß Thudichum eine
Jahrhunderte fortgesetzte Zutheilung von Land
an die Einzelnen behauptet hätte. Th. hatte
zur Stütze seiner davon offenbar sehr differie-
renden Ansieht sich auf Reste der alten Agrar-
verfa8süng und auf Rechtsanschauungen im
Volke berufen, die sich aus den älteren Zeiten
bis ins Mittelalter erhalten hatten, Denman Roß
wirft ihm vor, daß er die Zeiten vermenge.
Die Zeugnisse für Privateigenthum und Erbrecht
seien aus den Jahren 500—800, die für Com-
nnraismus und Gleichheit aus der Zeit von 800
-1600. — Thudichum beweise daher nur, daß
nicht das Privateigenthum aus dem Collektiv-
eigenthum sich entwickelt, sondern daß da, wo
früher Privateigenthum war, später Communis-
nros entstanden sei!
Als Stütze für seine Ansichten beruft sich
der Verf. auf Inama-Sternegg , der in Conrads
Jahrbüchern eine anerkennende Besprechung des
ersten Hefts dieser Studien gegeben hat. Dieser
Gelehrte steht ja in seiner Ansicht von der Be-
deutung der alten Markverfassung allerdings in
einem gewissen Gegensatz zu den andern von
nn8erm Verfasser citierten deutschen Gelehrten.
Aber gerade die Stellen , welche aus Inama-
Sternegg's Schriften angeführt werden, enthalten
keinen solchen Gegensatz. Wenn derselbe sagt,
daß Sondereigenthum an Grund und Boden
allenthalben bei den deutschen Volksstämmen
«nr Zeit ihrer Volksrechte bestand oder daß vor
der Völkerwanderung noch nicht mit Bestimmt-
heit allgemein Sondereigenthum am Ackerlande
angenommen werden könne, nach der Völker.
284 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9.10.
Wanderung dasselbe aber unzweifelhaft als vor-
herrschend auftrete, so stimmen diese Aeußerun-
gen so ziemlich, mit dem vorher von G. L. v.
Maurer angeführten, in denen dieser anerkennt,
daß zur Zeit der Volksrechte und bald nach der
Völkerwanderung die Loosgtiter schon Erbeigen
waren.
Trotz fleißigen Studiums der Urkunden scheint
uns daher der Verf. die vorliegende Frage we-
nig gefordert zu haben. Er würde unseres Er-
achtens weiter gekommen sein, wenn er die
Fragen des Rechts nicht von denen der Wirth-
schaft völlig losgelöst hätte. Insbesondere die
bei der Untersuchung des Verfassers im Vorder-
grund stehende Frage, ob eine periodische Neu-
vertheilung von Ackerland in den ältesten ger-
manischen Dörfern stattgefunden, läßt sich von
der nach dem Wirtschaftssysteme derselben nicht
trennen und wenn man eine wilde Feldgras-
wirthschaft für das Wirtschaftssystem der alten
Deutschen hält, wird man, glaube ich, auch eine
solche periodische Wiedervertheilung für wahr-
scheinlich halten, einerlei ob die Dörfer freie,
oder grundherrliche Dörfer waren.
Bonn. E. Nasse.
Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkennt-
nis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung
von Wilhelm Wundt. Zwei Bände. 1. Band :
Erkenntnißlehre. Stuttgart, Ferdinand Enke 1880.
XII. 585 Seit. 8°.
Ein neues Werk von Wundt wird sowohl der
Freund als auch der Gegner mit Interesse er-
scheinen sehen und mit Spannung in die Hand
nehmen, da man in diesem Manne den besonne-
nen und selbstständigen Forscher, welcher mit
.Liebe und hervorragender Gewissenhaftigkeit in
Wundt, Locrik. Bd. I. 285
seinen Stoff sich versenkt und mit dialektischer
Gewandtheit denselben zu verarbeiten weiß,
schon seit Langem hat schätzen müssen. Die-
ses eben ist es, was einen Jedem mit einer ge-
wissen inneren Beruhigung zu einem neuen
Buche Wundt's greifen läßt, weil die Ueber-
zeugung lebendig geworden ist, daß hier fertige
Arbeit geliefert sei, und daß, wenn etwa neue
Ansichten einschneidender Art dargeboten wer-
den, dieselben doch nicht zu jenen flachgegrün-
deten Ueberraschungen zu zählen seien, mit de-
nen nns zu unterhalten das gegenwärtig schrift-
stellernde Publicum ja sonst nicht selten be-
müht ist.
Es ist ein umfassend, aber keineswegs zu
breit angelegtes Werk über Logik, dessen erste
Hälfte unter dem Titel: Erkenntnißlehre vor»
liegt. Mag es auch vielfach Bedenken erregen,
eine systematische Arbeit bruchstückweise er-
scheinen zu sehen, so müssen doch im vorlie-
genden Fall derartige Bedenken schweigen.
Denn gemäß der Wundt'schen Auffassung von
den Anforderungen, welche die Wissenschaft be-
rechtigter Weise an die Logik stellen dürfe,
können die beiden Hälften: der logisch-erkennt-
nißtheoretische und der methodologische Theil
ohne Schaden getrennt und nach einander dar-
geboten werden. In dem ersteren Theil behan-
delt Wundt „die Entwicklung des Denkens, die
logischen Normen desselben und die für das
logische Denken und seine Anwendungen gülti-
gen Principien der Erkenntniß", der andere
Theil dagegen „wird sich mit den Formen des
systematischen Denkens und mit den Methoden
der wissenschaftlichen Untersuchung beschäfti-
gen". Der vorliegende erste Theil ist für die
Logik als Wissenschaft offenbar der wichtigste,
28G Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
weil er der grundlegende ist, von dem auch die
Darstellung der Methoden der wissenschaftlichen
Untersuchung durchgängig abhängen muß, wenn-
gleich andrerseits Wundt's Bemerkung richtig ist,
daß „die Formen der systematischen Darstellung
zurückweisen auf die Methoden der Untersuchung
oder auf diejenigen Verfahrungsweisen, deren
sich die wissenschaftliche Forschung bedient, um
Probleme zu lösen und von bestimmten Ergeb-
nissen aus zur Aufstellung neuer Probleme zu
gelangen. In der Geschichte der Wissenschaft
geht die Gewinnung des Wissens seiner syste-
matischen Entwicklung noth wendig voran".
Von durchschlagender Wichtigkeit und ver-
heißungsvoller Bedeutung für die Entwicklungs-
geschichte der Logik ist nun meines Erachtens
die von Wundt geforderte, aus dem oben mit-
geteilten kurzen Programm ersichtliche enge
Verknüpfung der Logik mit der Erkenntniß-
theorie: „Die Logik bedarf der Erkenntniß-
theorie zu ihrer Begründung". Vielleicht nicht
minder wichtig ist auch die in dem zu erwar-
tenden zweiten Theil der Logik entwickelte
Forderung Wundt's: „Die Logik bedarf der Me-
thodenlehre zu ihrer Vollendung". Hier kann
uns aber jetzt vor Allem erst jene erste Forde-
rung beschäftigen, mit welcher Wundt, wie ich
meine, die Hoffnung verbinden darf, daß erden
die Logik seit Langem fesselnden eisernen Bing
der Ueberlieferung endgültig sprengen werde.
Wundt nennt die von ihm vertretene Logik
die wissenschaftliche und vindiciert ihr diesen
Titel von zwei Gesichtspunkten aus, einmal weil
sie die Gesetze des logischen Denkens nicht
als unerklärte Thatsachen einfach hinstellen,
sondern auf ihren Ursprung in der inneren Er-
fahrung zurückführen und über den Grund ihrer
Wundt, Logik. Bd. I. 287
Evidenz sowie über die Bedingungen, unter de-
nen ihre Anwendung thatsächliche Erkenntnis
herbeiführt, Rechenschaft geben will; dann
aber auch, weil sie den theoretischen Wissen-
schaften (durch Feststellung der Methoden wis-
senschaftlicher Forschung) wirkliche Dienste lei-
sten will. So stellt sich diese „wissenschaft-
liche" d.i. die erkenntnißtheoretisch und metho-
dologisch bearbeitete Logik mitten inne zwischen
die formale und die metaphysische oder dialektische
Logik, welche letzteren beide mit Recht als ein-
seitige Richtungen bezeichnet werden. Denn die
formale Logik, die als ihre einzige Aufgabe
die Darstellung der Formen des Denkens an-
sieht und demgemäß etwa den Namen „Kunst-
lehre des Denkens" annimmt, befriedigt keines-
wegs die Ansprüche, welche die Einzelwissen-
schaften an die Logik zu stellen berechtigt
sind, da sie weder zeigt, wie die Denkgesetze
entstehen und warum dieselben gültig sind, noch
anch die wissenschaftlichen Verfahrungsweisen
auf ihre logischen Regeln zurückzuführen unter-
nimmt. Nicht weniger einseitig aber ist die
metaphysische Logik, welche umgekehrt mehr,
als von der Logik überhaupt verlangt wird, lei-
sten will, indem sie das Denken für das Werk-
zeug hält, welches „dem Wissen nicht bloß
seine Form gebe, sondern auch den Inhalt des-
selben aus sich hervorbringe", also aus sich
selbst reales Wissen gewinne : solchen „dialekti-
schen Bestrebungen" , Wissen aus dem reinen
Denken herauszuspinnen, liegt, sei es versteck-
ter, sei es offener Weise die Annahme einer
Identität des Denkens und Seins zu Grunde.
Diese Einseitigkeiten sucht die „wissenschaft-
liche" Logik, welche eben mit vollem Recht
ihre Aufgabe in der Entwicklung der Grund-
288 Gott. gel. An*. 18R1. Stück 9. 10.
lagen und Methoden der wissenschaftlichen Er-
kenntniß sieht, zu vermeiden, indem sie einer-
seits nicht mit der formalen Logik die Voraus-
setzung theilt, daß „die Denkformen gleichgül-
tig seien gegen den Erkenntnißinhalt ; denn eine
solche Voraussetzung steht im Widerspruch mit
dem überall von der Wissenschaft festgehalte-
nen Grundsatz , daß die Erkenntnißmethoden
sich richten müssen nach ihren Objectentt ; andrer-
seits aber tritt die „wissenschaftliche" Logik
auch ihrer dialektischen Schwester entgegen,
indem sie die Voraussetzung einer Identität
des Denkens und Seins oder auch .nur eines
Parallelismus der Existenz- und Erkenntnißfor-
men zurückweist, weil aus derselben als einem
metaphysischen obersten Axiom die Versuchung
sich erhebe, das Wirkliche aus den Denkformen
zu construieren. Damit die letztere Abweisung
indeß nicht falsch verstanden werde , weist
Wundt darauf hin, daß diese metaphysische An
nähme ihre thatsächliche Grundlage in einer
Voraussetzung habe, welche allerdings unser
Denken an jede Erkenntniß heranbringt, daß
nämlich „das Denken ein zur Erkenntniß ge-
eignetes Werkzeug und hiedurch befähigt sei,
schließlich eine Uebereinstiramung unserer Be-
griffe mit den Erkenntnißobjecten zu erreichen".
Der Forderung jedoch, daß das Denken von sei-
nen Objecten bestimmt sei, entgeht die meta-
physische Logik gerade durch ihr Identitäts-
axiom , sie will vielmehr , daß die Objecte
nach dem Denken sich richten. Wundt aber
ist der Ansicht, daß „bei ^eder wissenschaftli-
chen, nicht durch metaphysische Annahmen ge-
störten Forschung neben der schließlichen Ueber
ein8timmung der Begriffe mit den wirklichen
Dingen die anfängliche Verschiedenheit beider
Wnndt, Logik. Bd. I. 289
ah Voraussetzung gelte. Indem sich das wis-
senschaftliche Denken fortwährend zwischen die-
sen beiden Endpunkten seines Weges befindet,
empfängt es rechtzeitig den Antrieb zu seiner
Thätigkeit und den Math zu seiner Ausdauer".
Die schließliche Uebereinstimmung könne sich
nie in eine Identität umwandeln, sondern einzig
und allein die Bedeutung einer „Nachbildung
der Objecte gewinnen, bei welcher das Denken
sich bewußt ist, alle Forderungen erfüllt zu ha-
ben, welche die Wirklichkeit seiner nachbilden-
den Thätigkeit stellt". Der „wissenschaftlichen"
Logik besteht also „der Zweck des Denkens in
der erreichbaren Uebereinstimmung dessel-
ben mit seinen Gegenständen". Diese Sätze
sind von grundlegender Wichtigkeit für die
Art, wie Wundt die erkenntnißtheoretische Be-
arbeitung der Logik durchfährt, und ich werde
auf dieselben weiter unten zurückkommen, in-
dem ich auch noch jenen anderen sich anschlie-
ßenden Satz Wundt's hereinnehme, daß „vermöge
der unmittelbaren Selbstunterscheidung des Den-
kens von seinen Gegenständen sieh jene
schließliche Uebereinstimmung niemals in eine
Identität umwandeln könne".
Nach Wundt nimmt diese wissenschaftliche
Logik, welche von denjenigen Gesetzen des
Denkens, die bei der Erforschung der Wahrheit
wirksam sind, Rechenschaft geben will, die
Stellung zwischen der Psychologie, „der allge-
meinen Wissenschaft des Geistes", und der Ge-
sammtheit der übrigen Wissenschaften ein. Da
nun die Logik feststellen soll, wie „der Verlauf
unserer Gedanken", von dem uns die Psycholo-
gie lehrt, wie er sich wirklich vollzieht, sich
vollziehen soll, damit er zu richtigen Erkennt-
nissen führe, so scheint die Behauptung begrün-
19
290 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
det, daß die Aufgaben der Logik auf die psy-
chologische Untersuchung zurückweisen, daß also
in der Darstellung dieser Logik auszugehen sei
von der „psychologischen Entwicklung des Den-
kens", wobei man sich dann zugleich .Rechen-
schaft zu geben sucht von den Eigenthümlich-
keiten, welche die logischen Gedankenverbin-
dungen gegenüber anderen Formen der Verbin-
dung und des Verlaufs der Vorstellungen dar-
bieten/ Gegen diese Bestimmungen erheben
sich mir indeß von einer Seite gewisse Be-
denken.
Ich begrüßte es oben, daß Wundt die Logik
mit der Erkenntnistheorie in enge Verbindung
zu bringen suche, da ich aus dieser Verbindung
vor Allem eine Befruchtung der formalen Logik
erhoffe; wenn ich nun aber auf die von Wundt
präcisierte Verbindung beider Wissenschaften
näher eingehe, so sehe ich mich durch dieselbe
nicht befriedigt Wundt will die Erkenntniß-
theorie in die Logik hineinnehmen; denn weil
einerseits die Logik der Hülfe erkenntnißtheo-
retischer Untersuchungen gar nicht entbehren
könne und andrerseits die Fundamentalbegriffe
und Gesetze der wissenschaftlichen Erkenntniß
in nächster Beziehung zu den allgemeinen Denk-
gesetzen stehen, so erscheine es mindestens
Praktisch undurchführbar, die Gebiete der Er-
enntnißtheorie und der wissenschaftlichen Lo-
gik in der Darstellung von einander zu trennen.
Logik und Metaphysik sollen demnach die bei-
den Hälften der theoretischen Philosophie bilden,
indem die Metaphysik, wenn Philosophie über-
haupt die Lösung der den einzelnen Wissen-
schaften gemeinsamen Probleme zur Aufgabe
hat, sich mit dem allgemeinen Inhalt des Wis-
sens, die Logik aber mit den Grundlagen des-
selben und den Normen seiner Entwicklung be-
Wundt, Logik. Bd. I. 291
schäftige. Man fragt sich hier billig, wobleibt
denn die Psychologie, diese Grundlage der
„wissenschaftlichen" Logik; gehört sie nicht
zur theoretischen Philosophie, so wird sie, da
sie nicht in's Gebiet der praktischen Philosophie
fallen kann, zu den „einzelnen theoretischen
Wissenschaften a gezählt werden müssen.
Es könnte nun schon Wunder nehmen, daß
eine Wissenschaft, welche, wie alle „theoreti-
schen" Wissenschaften, die Dienste der „wissen-
schaftlichen" Logik in Anspruch nehmen soll,
ihrerseits zunächst der Logik grundlegende
Dienste zu leisten habe. Denn nicht verhält es
sich hier mit Logik und Psychologie in gleicher
Weise, wie mit der Metaphysik und den „Er-
fahrungswissenschaften", die sich gegenseitige
Dienste leisten und in wechselseitiger Abhängig-
keit stehen, insofern die Metaphysik die Be-
griffe und Gesetze der Erfahrungswissenschaften
„einer letzten Bearbeitung unterzieht"; dieses
Geschäft führt keineswegs die Logik an den
Begriffen und Gesetzen der Psychologie aus.
Aber die Logik ist eine Wissenschaft des mensch-
lichen Geistes, und wenn .es wahr ist, daß, wie
Wundt erklärt, die Psychologie die allge-
meine Wissenschaft des Geistes bedeutet, so
möchte vielleicht die Logik eine angewandte
Psychologie genannt werden können, und zwar
eine auf das Erkennen angewandte Psychologie.
Die Logik stellt dann die psychologischen Denk-
gesetze, welche zum Wissen führen, dar, sie
zeigt, wie man richtig zu denken habe d. h.
wie man denken müsse, um zu richtigen Er-
kenntnissen zu gelangen; oder, wie Wundt
sagt, die Logik stellt das werdende Wissen dar.
Wem diese Erklärnng beliebt, der wird sich
nun aber wohl nicht mit der eigentümlichen,
ID*
292 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
von Wundt vorgeschlagenen Verknüpfung voto
Logik and Erkenntnistheorie mffl ihrer beider-
seitigen Grundlegung durch die Psychologie
einverstanden erklären können, wenigstens ist
dies der Punkt, welcher mich hindert, Wundt's
Auffassung völlig zu der meinigen machen zu
können. Ist nemlich Logik die auf das Erken:
nen angewandte Psychologie, so setzt meiner
Meinung nach diese Anwendung der Psycholo-
gie die Erörterung desjenigen, was Erkennen
sei, voraus, da mir ohne dieses Wissen die Mög-
lichkeit einer solchen Anwendung undenkbar
ist Die Wissenschaft aber, welche die Frage,
was das Erkennen sei, zu beantworten hat, ist
die Erkenntnißtheorie, als Wissenschaft gegen
über der Psychologie durchaus selbständig, und
sie ist daher auch unabhängig von ihr zu er-
halten. Ich möchte daher der Erkenntnißtheorie
jene Stellung angewiesen wissen, welche Wundt
auch als eine mögliche bezeichnet neben Logik
und Metaphysik, „als derjenigen Disciplin, welche
nicht den Inhalt und nicht die Methoden des
Wissens, sondern seine Grundlagen zu unter-
suchen und seine Grenzen zu bestimmen hattf.
Indem Wundt aber die Erkenntnißtheorie auf
die „Fundamentalbegriffe und Gesetze der wis-
senschaftlichen Erkenntniß" einschränkt, und die
Psychologie zur grundlegenden Wissenschaft
macht, scheint er zu übersehen, daß die funda-
mentalen erkenntnißtheoretischen Fragen nach
dem „Was0 unserer Erkenntniß schon seiner
Psychologie in bestimmter Weise beantwortet zu
Grunde gelegt sind, daß also auch seine Logik,
wie sie vorliegt, nicht nur auf die Psychologie,
sondern auch schon auf erkenntnifttheoretische
Untersuchungen, die ihrerseits noch älter sind
als die psychologischen, zurückweist. Wie könnte
Wandt, Logik. Bd. I. 293
dies auch anders sein ! Denn Denken nnd Er-
kennen ist in der That zweierlei, nnd sobald
die Denkgesetze in ihrer Beziehung zum Er-
kennen bestimmt werden sollen, muß man vor-
her über das Erkennen überhaupt ein „Wissen",
d. h. eine Erkenntnißtheorie naben: Dies ist
nun auch factiscb bei Wundt der Fall !
Denn Wundt bringt aus seiner Psychologie
nicht nur das Wissen von dem psychologischen
Proceß des Wahrnehmens, Vors tell ens und Be-
greifens mit, sondern ebenfalls das „Wissen"
von dem erkenntnißtheoretiscnen Ma-
terial Wahrnehmung, Vorstellung und Begriff;
dieses Material läßt sich wohl von der Logik
bearbeiten, nnd es lassen sich diejenigen Ge-
setze des Denkens aufstellen, welche, um Wis-
sen zu erlangen, der Mensch angesichts dieses
Materials zu beobachten hat, aber man darf
nicht vergessen, daß dasselbe erkenntnißtheore-
tisches, nicht aber psychologisches Material sei
Uebersieht man diesen Umstand, so wird man
sich schwerlich dessen bewußt, daß schon den
psychologischen Untersuchungen über das Den-
ken eine bestimmte erkenutnißtheoretische An-
nahme zu Grunde lag, und man unterscheidet
dann vor Allem nicht deutlich zwischen Wahr-
nehmen, Vorstellen, Begreifen nnd Wahrnehmung,
Vorstellung und Begriff, oder, um es kürzer aus-
zudrücken, zwischen Denken und Gedachtem.
So zeigt sich denn auch bei Wundt, daß nicht nur
der Proceß des Erkennens, wie billig, als ein
psychologischer aufgefaßt wird, sondern daß
Weh der Bewußtseinsinhalt, welcher die Er-
kenntniß oder das Wissen ausmacht, ihm ohne
Weiteres als ein psychologisches Gebilde gilt.
Dadurch aber ist ihm schon eine ganz be-
stimmte Entwicklung seiner in die „wissen-
294 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
schaftliche" Logik hineingeflochtenen Erkennt-
nißtheorie vorgezeichnet, indem im Ornnde das,
was schon stillschweigend zu Grunde gelegt
war, nun anscheinend unabhängig aus harm-
losen psychologischen Unterlagen aufgezogen
wird.
Jene bekannte Frage nemlich in Betreff des
Verhältnisses von Denken und Sein wird durch
die psychologische Unterlage schon bestimmt
dirigiert. Da eben angenommen wird, daß im
Denkproceß nicht nur subjective Funktionen an-
zunehmen seien, sondern als Resultat derselben
auch psychische Gebilde, die „im Geiste" durch
dieselben entständen, so kann die erkenntniß-
theoretische Frage in Ansehung des Verhältnis-
ses von Denken und Sein schon garnicht anders
aufgefaßt werden als eine, welche das Verhält-
niß der psychischen Gebilde zu dem Seienden
zu beantworten habe. Diese Auffassung theilt
allerdings Wundt mit der. Gegenwart überhaupt,
aber er hat damit, wie sie, jene Untersuchung
völlig bei Seite gesetzt, ob denn in der That
der sogenannte Bewußtseinsinhalt ein für sich
bestehendes „inneres" Sein gegenüber dem
„äußeren" Sein repräsentiere, ob der Bewußt-
seinsproceß der Schöpfer eines neuen Seins auf
Grund des afficierenden Seins d. i. der „Er-
kenntnißobjecte" sei, oder ob derselbe nur eine
Beziehung des bewußten Ichs zum „Erkenntniß-
object" herstelle. Auf die Beantwortung dieser
Frage kommt zunächst Alles an.
Kommt man nun von der Psychologie her,
in welcher man seit Langem gewohnt ist, von
den Gebilden, welche in der Seele entstehen,
zu reden und diese Gebilde als Seelenbilder des
Seienden aufzufassen, so erscheint eine solche
Frage allerdings überflüssig, weil man ihre Ant*
Wundt, Logik. Bd. I. 295
wort ja schon längst in der Tasche hat Wenn
aber dann die „wissenschaftliche" Logik nicht
nur Logik, sondern auch Erkenntnißtheorie sein
will, so vermisse ich gar sehr die Erörterung,
was Wundt unter den so angeführten „ Erkenn t-
nißobjecten" oder dem „Wirklichen" versteht,
was er unter den „Gegenständen der inneren
and äußeren Erfahrung, die uns unmittelbar ge-
geben sind," verstanden wissen will.
Wundt polemisiert gegen die Behauptung
der Identität oder des Parallelismus von Denken
und Sein, und in dem Sinn, wie er diese Be-
hauptung historisch richtig sich gegenüberstellt,
ist die Polemik begründet, denn aus dem dia-
lektischen Proceß des reinen Denkens wird man
weder das Sein noch das „Bewußtseinsbild" des
Seins construieren können. Aber er unterläßt
es, seine Behauptung, daß wissenschaftliches
Denken zur Uebereinstimmung der Begriffe mit
den „wirklichen Dingen" kommen müsse, er-
kenntnißtbeoretisch zu begründen, da er nicht
zeigt, was denn unter diesen wirklieben Dingen
zu begreifen sei und wie eine Erkenntniß der-
selben möglich und zu denken sei.
Statt dessen geht Wundt von der psycholo-
gischen Entwicklung des Denkens aus und
spricht zunächst von den associativen Verbin-
dungen der Vorstellungen, die er mit dem ihm
eigenen feinen Geschick in die simultane und
successive Association zerlegt, indem er noch
die erstem eintheilt in associative Synthese, As-
similation und Complication. Wir sind hier mit-
ten in der Auffassung von den Vorstellungen als
geistigen Gegenständen, die das „innere Sein"
ausmachen, und in dem Geistesraum nun das
ihrer Natur gemäße Spiel, sich zu verbinden
treiben, wir erfahren aber nichts davon, was doch
296 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 9. 10.
die logische Erkenntnistheorie bieten sollte, ob
diese Vorstellungen die „wirklichen Dinge"
seien oder als Bewußtseinsbilder des Wirklichen
aufmarschieren.
Von jenen Verbindungen unterscheidet Wandt
die apperceptiven Verbindungen der Vorstellun-
gen; und betrachtet hier 1) die Entwicklung
apperceptiver Gesammtvorstellungen , 2) die
Entwicklung des Gedankenverlaufs und 3) die
Wechselwirkungen zwischen der Begriffsbildung
und dem Gedankenverlauf.
Diese beiden Capitel, welche ein glänzendes
Zeugniß gründlichen Studiums und scharfer Be-
obachtung bilden, würden nun in ihrem psycho-
logischen und logischen Werth nichts einbüßen,
wenn aus ihnen herausgeworfen würde die An-
sicht, daß die Vorstellungen geistige Gegen-
stände i n uns wären , wenn demnach Alles, was
von den associativen und apperceptiven Ver-
bindungen der Vorstellungen gesagt ist, auf das
Vorstellen bezogen würde. Man wird mir
hier vielleicht einwenden, daß der Sache nach
doch Alles dasselbe bliebe, ob es nun auf die
Vorstellungen oder auf die Acte (Vorstellen) be-
zogen würde; ich gebe dies zu, soweit es sich
nur um psychologische Fragen hier handelt. In-
sofern aber auch die Erkenntnistheorie hinein-
gezogen wird, betone ich die eminente Wichtig-
keit der von mir vorgeschlagenen Aenderung,
und wenn man mich darauf hinweist, daß man
angesichts der associativen Verbindungen und
ihres Unterschieds von den apperceptiven njnfyt
allein von Acten, sondern von Bewußtseins-
gegenständen und einem inneren Sein reden
müsse, so denke ich, daß die Notwendigkeit,
innere Gegenstände deshalb anzunehmen, und
mit den Acten nicht allein sich begnügen 20
Wundt, Logik. Bd. I. 297
können, nur demjenigen erscheint, welcher von
vornherein solche Gegenstände als Material des
Bewußtseinsprocesses vorausgesetzt bat11).
Wie wichtig in erkenntnißtheoretischer Be-
ziehung aber die Stellung zn der soeben be-
rührten Angelegenheit sei, ergiebt sich schon
bei dem ersten Schritt, den die „wissenschaft-
liche" Logik thut; bei der erkenntnißtheoreti-
achen Auffassung von den Begriffen. Bevor
ich aber auf die Wundt'scbe erkenntnißtheoreti-
flche Bestimmung des Begriffs eingehe, will ich
die Bemerkung nicht unterdrücken, daß der Ab-
schnitt seiner psychologischen Einführung in die
Logik, in welchem Wundt von den Begriffen
bandelt, eine eigentümliche Verschwommenheit
in Ansehung des Begriffs aufweist. Wundt de-
finiert den Begriff nach dessen psychologischer
Entwicklung als „die durch active Appercep-
tion vollzogene Verschmelzung einer herrschen-
den Vorstellung mit einer Reihe zusammenge-
höriger Vorstellungen". Diese Definition macht
den Begriff zu einer Legierung verschiedener
Vorstellungen, und man ist versucht, den Begriff
für eine Vorstellung wiederum auszugeben ; das
«oll aber nach Wundt nicht angenommen wer-
den, denn „der Begriff an sich selbst ist unvor-
stellbar", dessenungeachtet aber ist er nach Wundt
for das Ich vorhanden, da der Begriff „gebildet"
wird aus „bestimmten Elementen der einzelnen
Vorstellung". Daraus folgt, daß der Begriff
als solcher doch für das Bewußtsein gegeben
*) Zum näheren Verständnis meiner erkenntnift-
theoretischen Auffassung des Bewußtseinsprocesses, deren
Darlegung hier nicht gestattet sein kann, verweise ich
auf meine soeben bei G. Reimer in Berlin erschienene
Erkenntnistheorie : „Die Welt als Wahrnehmung und
Begrüß
298 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
ist als eine „Verbindung gewisser Elemente der
Vorstellung". Sieht man sich aber nun genauer
die „Elemente" an, so bemerkt man, daß nach
Wundt dieselben „einfache Vorstellungen" sind:
also wäre der Begriff als solcher einfache Vor-
stellung oder als eine Verbindung solcher ein-
facher Vorstellungen eine zusammengesetzte
Vorstellung und demnach doch vorstellbar?
Auch dieses nicht, denn im Grunde sind diese
einfachen Vorstellungen, in welche sich „alle in
unser Bewußtsein eingehenden Vorstellungen
durch die psychologische Analyse zerlegen" las-
sen, aus denen also „alle wirklichen Vorstellun-
gen zusammengesetzt sind", nur „ein Gegen-
stand psychologischer Abstraction. Da nun der
Begriff nach Wundt Elemente der wirklichen
Vorstellung umfaßt, die Vorstellung aber aus
„Elementen" zusammengesetzt ist, so ergäbe
sich daraus, daß die wirkliche Vorstellung aus
Begriffen als ihren psychologischen Elementen
zusammengesetzt, daß Begriffe also das eigent-
lich primitive Bewußtseinselement sein müßten.
Dieß wird Wundt aber auch nicht Wort haben
wollen, also wird der Begriff ebensowenig mit
dem „Element" wie mit der „Vorstellung" iden-
tificiert werden sollen; freilich wird trotz alle-
dem die letztere Auffassung wieder nahe ge-
legt, wenn Wundt bei Gelegenheit der Erörte-
rung von Sprachlaut und seiner Verschmelzung
mit der „stellvertretenden" Einzelvorstellung
schreibt: der Begriff besteht nur aus einem
mit einer stellvertretenden Einzelvorstellung A
verschmolzenen Sprachlaut, welcher letztere zu-
gleich die herrschende Vorstellung ist". Doch
wenige Zeilen weiter scheint die Verwirrung ge-
löst zu werden, wenn man von dem Begriff als
„psychologischen Act" liest. Nun müßte man
Wundt, Logik. Bd. I. 299
unter Begriff also den Act verstehen, in welchem
das Ich ein Element oder mehrere Elemente
d. i. einfache Vorstellungen im Bewußtsein hat.
Dem widerspricht aber wiederum, daß Wundt
wenige Zeilen weiter den Begriff als Bewußt-
seinsinhalt und nicht als Act auffaßt, wo er von
dem „Reichthum der Begriffe", von den „Be-
griffen, denen nicht mehr einzelne sinnliche Ob-
jecte, Eigenschaften und Handlungen, sondern
nur noch allgemeine Beziehungen entsprechen",
schreibt.
Abgesehen von dieser bei einem Wundt dop-
pelt verwunderlichen Verschwommenheit in der
Behandlung des Begriffs, die meiner Ansicht
aber eben ihren natürlichen Grund darin hat,
daß der Psychologe Wundt zugleich mit der
Auflösung des Processes des Vorstellens in seine
Theile die wirkliche Vorstellung in sogenannte
Elemente auflösen zu können glaubt, was wie-
derum auf die Ansicht von der Vorstellung als
„innerem Sein" sich gründet — abgesehen von
dieser von mir schmerzlich empfundenen Schwäche
der wissenschaftlichen Logik bat die Ansicht
von den Vorstellungen als innerem Sein eine
erkenntnißtheoretisch wichtige Stellung dem Be-
griffe gegeben. Gesetzt den Fall nemlich, daß
die Vorstellungen als solche noch eine unmittel-
bare Fühlung mit der Wirklichkeit zuerkannt
erhalten, so wird diese nun den Begriffen, die
wir als einen Bewußtseinsinhalt, und nicht als
Act betrachten, wie Wundt es im weiteren Ver-
laufe auch zu thun scheint, keineswegs einge-
räumt, die Begriffe werden zu Denkformen, die
Dicht außer dem Denken da sind, gestempelt.
»Unseren Begriffen, Urtheilen und Schlüs-
sen" heißt es, „kommt keine erkennbare Wirk-
lichkeit zu, außer in unserem Denken". Stände
300 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
da: Unserem Begreifen etc., so könnte ich
einstimmen und auch den diesem folgenden Satz
annehmen: „Wohl aber erweisen sich die logi-
schen Formen als die geeigneten Hülfsmittel zur
geistigen Wiedererzeugung jenes thatsächlichen
Zusammenhangs der Erkenntnißobjecte, der von
uns überall vorausgesetzt werden muß". Das
Begreifen ist wie das Urtheilen und Schließen
eine logische Function, die natürlich nur das
wirklich ist, was sie ist, nemlich Denkfunction.
Der Begriff ist das Bewußtseinsresultat des Be-
greifens, ich sehe aber nun nicht ein, warum
der Begriff zurückstehen soll hinter dem, was
geurtheilt und was erschlossen ist; wie dieses
Letztere, auch von Wundt wird es nicht bean-
standet werden, „erkennbare Wirklichheit" sein
kann, warum sollte es nicht auch der Begriff
sein können? Wenn überhaupt irgend etwas
erkennbare Wirklichkeit nach Wundt haben
kann, dann könnten nur noch die Vorstellungen,
respective die „Erkenntnißobjecte" derselben
diese Wirklichkeit aufweisen; wenn diese aber,
so auch die Begriffe, welche ja die Elemente
„umfassen" sollen, aus denen die Vorstellungen
der „erkennbaren Wirklichkeit" „zusammenge-
setzt sind. Hier ist der wunde Punkt der
Wundt'schen Erkenntnißtheorie, den ich bei die-
ser Gelegenheit natürlich nur andeuten kann,
und ich gebe nur noch zu bedenken, wie der
Umstand, daß die Begriffe durch die Function
des Denkens dem Ich gewonnen werden, noch
kein Grund ist, sie selbst aus dem Gebiet der
erkennbaren Wirklichkeit zu streichen, es sei
denn, daß man das Wort Wirklichkeit identi-
ficiere mit dem Wort „Vorstellung".
Grade in Bezug auf die Bestimmung der
Wirklichkeit läßt es Wundt, der auf dieselbe
Wundt, Lo?ik. Bd. I. 301
bei verschiedenen Gelegenheiten, besonders bei
Erörterung des Begriffs der Substanz, zu reden
komtnt, an der wtlnschbaren Klarheit fehlen-
wir werden von ihm belehrt, daß man zweierlei
Realität, die unmittelbare und die mittelbare an-
zunehmen habe, von denen die erstere allein
den „inneren" Erfahrungen, die zweite dagegen
den „äußeren" Erfahrungen zukomme. Diese
Unterscheidung hängt natürlich zusammen mit
und ist hervorgegangen aus der Annahme, daß
die Vorstellung ein Bewußtseinsbild des „Außen"
sei, sie hängt zusammen mit der ganzen Sub-
jeetivierung des Erkenntnißprocesses, wie solche
begreiflicherweise aus der psychologischen Grund-
lage sich erheben mußte, so daß das Ziel des
Processes in der „Uebereinstimmung der Begriffe
mit den wirklichen Dingen" gesehen wird. Diese
Bestimmung des Ziels muß aber auf dem Stand-
punkte Wundt's großes Bedenken erregen, da
man nicht die Möglichkeit, solche „Ueberein-
stimmung" zn constatieren, beweisen kann ; denn
die wirklichen Dinge kann man nach Wundt'-
schemSinn nur in Vorstellungen dem Menschen
gegeben denken : wie kann man also von U eb er-
einstimmung der Begriffe, die an sich selbst
nicht vorstellbar sind, mit den einzig und allein vor-
stellbaren Dingen reden ? Eine zweite Schwierig-
keit aber, die Uebereinstimmung, selbst gesetzt
den Fall, daß die Möglichkeit derselben zuge-
standen wäre, zu constatieren, liegt in dem Um-
stände, daß Wundt ja nie den Begriff und das
„wirkliche Ding", sondern nur den Begriff und
die Vorstellung des wirklichen Dinges verglei-
chen könnte; er müßte demnach zunächst noch
den Nachweis liefern, daß das wirkliche Ding
und die Vorstellung congruente erkenntnißtheo-
reti8che Factoren seien, ein Nachweis, der in der
302 Gott. gel. Adz. 1K81. Stück 9.10.
wissenschaftlichen Logik nicht gegeben ist, aber
allerdings auch nie gegeben werden könnte.
Ich habe im Vorstehenden nur einen grand-
legenden Mangel in der Wundt'schen Logik, da
sie doch auch Erkenntnißtheorie liefern will, anzu-
deuten gesucht; natürlich gebricht es mir hier
an Raum, um ausführlich denselben aufzudecken
und vor Allem, um zu zeigen, wie derselbe sei-
nen Einfluß übt auf die erkenntnißtheoretischen
Erörterungen über die „Grundbegriffe der Er-
kenntniß" , Erörterungen im Uebrigen, die viele
neue und richtige Gedanken enthalten. Dieses
Letzte gilt noch mehr von dem Abschnitt, be-
titelt „Von den Gesetzen der Erkenntnißtf, in
welchem Wundt die logisch - mathematischen
Axiome, das Causalgesetz und das Zweckprincip
einer gedankenreichen fruchtbaren Untersuchung
unterzieht, die schon allein der „wissenschaft-
lichen Logik" eine bedeutende Stellung sichert.
Abgesehen überhaupt von der in der Logik
Wundt's zu Tage tretenden erkenntnißtheoreti-
schen Grundanschauung wird die eigentliche lo-
gische Seite des Buches sich sicherlich einer
allgemeinen Zustimmung erfreuen können. Wundt
hat hier in den rein logischen Abschnitten, welche
über die Begriffe, die Urtheile und die Schluß-
folgerungen handeln, gezeigt, daß die Meinung,
die Logik biete keinen Anlaß mehr zu weiterer
Arbeit und Entwicklung, eine durchaus irrige
sei, und er hat sich selbst in diesen Abschnitten
als einen Meister in der selbsteigenen Behand-
lung der logischen Probleme bewiesen.
St Gallen. J. Rehmke.
Sputa, Grammatik d. arab. Vulgärdialects v. Aegypten. 303
Grammatik des arabischen Vulgardia-
lectes von Aegypten. Von Dr. Wilhelm
Spitta-Bey, Director der viceköniglichen Biblio-
thek in Kairo. Leipzig, J. G. Hinrichs'sche Buchhand-
lung 1880. (XXXI und 519 S. in Oct.).
Die große Wichtigkeit, welche dieses Buch
fär die Kenntniß des Arabischen und der semi-
tischen Sprachen überhaupt hat, mag es ent-
schuldigen, daß ich eine Besprechung desselben
unternehme, obwohl ich mich nur äußerst wenig
mit den lebenden arabischen Mundarten befaßt
habe und mich gegenüber dem Stoffe des Wer-
kes nur als dankbaren Schüler bekennen kann.
Der wissenschaftlich genügend vorgebildeten
Kenner des Vulgärarabischen giebt es ja bei uns
so wenige, und schwerlich wird einer derselben
behaupten können, daß er gerade den ägypti-
schen Dialect nur annähernd so genau kenne
wie Spitta. Die ganze Arbeit macht den Ein-
druck völliger Zuverlässigkeit und größter Ge-
nauigkeit. Spitta beschränkt sich mit gutem
Grunde darauf, die Sprache von Cairo und des-
sen Umgegend darzustellen, und zwar so wie er
sie mit seinen eignen, durch lange Uebung ge-
schärften Ohren gehört hat. Wo er einmal
sprachliche Erscheinungen auf gewichtige Auto-
rität Andrer mittheilt, erwähnt er das immer
ausdrücklich. Den reichen Stoff behandelt er
streng wissenschaftlich, klar und übersichtlich,
so daß wohl wenig literaturlose Mundarten sich
einer so trefflichen Grammatik rühmen können
wie jetzt das Arabische von Cairo.
Spitta war es natürlich besonders darum zu
than, die wirkliche echte Volkssprache zu
schildern. Diese ist aber keine in sich abge-
schlossene Einheit. Leise Uebergänge verbinden
die Sprechweise des gemeinen Mannes mit der
304 Gott. gel. Am. 1R81. Stuck 9. 10.
•
der Gebildeten, welche mit und ohne Bewußt-
sein ihre Rede durch Entlehnungen aus der
Schriftsprache schmücken, und die von jeder-
mann viel vernommenen und wenigstens einiger-
maaßen verstandenen Redensarten und Formen
des Korans, der Tradition und der amtlichen
Schriftstücke sickern immer wieder auch bis in
die untersten Schichten durch, hemmen die freie
Entwicklung der Mundart oder stören wenig-
stens ihre Gleichmäßigkeit. Je gebildeter der
Mann, desto zwieschlächtiger ist seine Sprache.
Aber auf alle Fälle ist das heutige Aegyptisch
doch ein von der Schriftsprache stark geschie-
dener Dialect. Freilich hat dasselbe gar vieles
altarabische beibehalten) freilich ist manche Ab-
weichung in ihm wie in andern arabischen Vul-
gärdialecten schon um's Jahr 1100 und früher
nachweisbar und bestand wohl manch andre we-
nigstens im Keim schon zu Muhammed's Zeit,
nur daß sie von der Ueberlieferung der Gram-
matiker nicht beachtet ist: aber die beliebte
Anschauung von dem völlig conservativen Cha-
rakter des Arabischen muß schon bei der ge-
nauen Schilderung einer einzigen seiner leben-
den Töchter als ganz falsch aufgegeben wer-
den. Daß sie auf die übrigen semitischen Spra-
chen nicht paßt, wird jeder zugeben, der nur
einen Blick etwa in's Neusyrische oder Amhari-
sche geworfen hat.
Die Art, wie sich die Vulgärdialecte aus dem
Altarabischen durch Decomposition und Compo-
sition entwickelt haben, ist für uns schon da-
durch von großer Wichtigkeit, daß sie uns Ana-
logien zur Beurtheilung des uncontrolier baren
Entstehens der älteren semitischen Sprachen
giebt. Der Aberglaube, daß die Sprachen eine
vorhistorische Periode des Wachsthums und eine
Spitta, Grammatik d. arab. Vulgardialects ?. Aegypten. 305
historische des Vorfalls besäßen, hat wobl nach*
gerade seine Geltung verloren. Und so wird
der wissenschaftliche Beobachter auch nicht mehr
geneigt sein, die Erscheinungen dieser Dialecte
zu loben oder zu tadeln, je nachdem sie dem
Altarabischen näher oder ferner stehn, sondern
bei aller Anerkennung der empfindlichen Ver-
loste doch auch zugeben, daß wir hier manche
gelungene Neubildung und manche Beseitigung
überflüssigen Reichthums haben.
Was die Laute der Sprache anbetrifft, so
treten hier, wie wohl bei allen neuarabischen
Dialecten, besonders der starke Verlust und die
Abschwächung von Vocalen hervor. In Spuren
zeigen sich diese Tendenzen schon im Altarabi*
soben, aber durch ihre Ausbildung bedingen sie
schon allein einen ganz anderen Lautcharacter ;
eben hierdurch, wie freilich noch durch manche
andre Erscheinung, nähern sich diese Dialecte
in ihrem Wesen sehr dem Aramäischen, worauf
Spitta mit Recht wiederholt hinweist Bei der
ägyptischen Mundart ist besonders zu beachten,
daß sie die durch den Ausfall kurzer Vocale in
geschlossne Silben tretenden Vocale, wenn unbe-
tont, gern verkürzt, z. B. qaüin aus qäfüin*).
Ein ähnlicher Lautwandel herrschte einerseits,
und zwar in noch weiterem Umfange, schon im
Altsemitiscben (jagum für jaqum, jaqutnna für
jaqämnä), andrerseits, noch genauer entspre-
chend, im Aramäischen (qatlin aus qdtUn aus
qätüin). Die Sprache schwankt hier oft zwischen
dem Ausfall des kurzen Vocals mit Verkürzung
*) Zuweilen auch von Wort zu Wort, wie schon
DschawaKqi (12. Jahrh.) ^ ^ -1**^1 tadelt (Mor-
genl. Forschungen 131).
20
306 Gott, gel Anz. 1881. Stück 9. 10.
de» vorhergehenden (zuweilen auch ohne solche)
und Bewahrung; eine ganz ähnliche Unsicher-
heit muß eine Zeit lang im Syrischen bestanden
haben. Auch sonst finden wir in der Färbung
und dem Maaße der Verflüchtigung der Vocale
wie in der übrigen Lautbehandlung sehr viele
Schwankungen. Die Anhänger der Lehre von
der ausnahmslos gleichmäßig wirkenden Kraft
der Lautgesetze werden Spitta's Texten gegen*
über einen schweren Stand haben, denn so
gern wir zugeben wollen, daß dies Schwanken
zum Theil durch Einfluß der Schriftsprache und
andrer arabischer Dialecte verursacht und daß
auch der verschiedene Satzaccent ein lautlich
differenzierendes Moment ist, so bleibt doch noch
sehr vieles übrig, was sich nur durch Annahme
wirklicher Doppelformen erklären läßt; andrer-
seits kommt auch mancher „sporadischer Laut-
wechsel" vor.
Zu diesem sporadischen Lautwechsel rechne
ich aber nicht geradezu Fälle wie natar „reg-
nen" aus rnatar, denn hier ist das n aufs Per-
fect nur aus dem Imperf. junfur, tun fur „es reg-
net" (S. 334)*) übertragen, wo m durch die
Stellung vor t in allerdings immer noch etwas
ungewöhnlicher Weise zu n geworden ist (vgl.
Unteli «* JJtf ZDMG. XXXIII, 622). In ähn-
licher Weise hat ja im Semitischen oft der erste
Radical zunächst in einzelnen Formen einen
Einfluß von dem zweiten erfahren, der sich dann
weiter geltend machte.
Auch von der jetzt häufig verkannten Er-
scheinung, daß besonders viel gebrauchte Wör-
«-o
*) Vgl. auch Wi* für Ug Morgenl. Forsch un«
gen 134.
Spitto, Grammatik d. ar&b. Vulgardialectf v. Aegypten. 307
tor oft ungewöhnliche Verstümmlungen erleiden,
bietet dieser Dialect manche Beispiele, z. B. bei
den Pronomina.
Alterthtimlich ist das Aegyptische in der Be-
wahrung der Aussprache des _ als g. Sehr
merkwürdig ist nun, daß es sieb so daran ge-
wöhnt hat, gemeinarabisches - als g anzusehen.
daß es dies anch auf den entsprechenden Laut
nichtsemitischer Sprachen ausdehnt und z. B.
das persische ch(w)ädscha als chawägä auf-
nimmt, die türkische, viel angewandte and selbst
zur Ableitung von arabischen Wörtern (wie
tama^angt „Geizhals" von 0U+£? S. 503 nr. 130,
jasirgt „Sklavenhändler" von ja*** = j&»\) be-
nutzte Endung _> als gl und das italiänische
generale (= dschenerale) als generär. Selbst -
wird zuweilen durch g vertreten, meist jedoch
durch s. Die einzige Ausnahme wüä „Geeicht"
= *>3 (neben dem wohl nicht eigentlich volks-
tümlichen ivagh mit übertragener Bedeutung)
muß aus dem syrischen Arabisch stammen;
nach Socin-Baedeker (2. Aufl.) GXLIV sagt man
in Syrien wuss\ die Beduinen der syrischen
Wüste sprechen m>^ (was schon Dschawäliqi
a. a. 0. 149, 1 tadelt). Der lebhafte Verkehr
und die vielen Hin- und Herwanderungen zwi-
schen Syrien und Palästina und Aegypten er-
klären ja am besten die zahlreichen Berührun-
gen der beiden Dialecte. — Gemeinschaftlich
ist einem Theil der Aegypter und der Syrer
auch die seltsame Verwandlung des q in den
bloßen Spiritus lenis, welche schon Barhebraeus
(13. Jahrh.; in den Scholien zu Richter 12, 6
20*
306 Gott. gel. Am. 1881. Stück 9. 10.
und Gramm. I, 206, 24) für eine Eigentümlich-
keit des Aramäischen der Palästinenser
erklärt.
Bemerkenswert ist, daß die Aegypter nicht
bloß, wie fast alle Araber, die übrigen Gutto-
rale sehr treu bewahren, sondern auch das
Hamm in großem Umfange festhalten, sogar im
Silbenauslaut.
Die Consonanten & £* Je erleiden eine dop-
pelte Behandlung, indem sie theils zu den Den-
talen v> o {jo, theils zu den Zischlauten \ \j» \
werden. So viel ich jedoch sehe, ist der nor-
male Wandel der erstere; die Zischlaute zeigen
sich hauptsächlich oder ausschließlich in solchen
Wörtern, welche aus der Schrift- oder höhern
Umgangssprache stammen und eigentlich alt-
arabisch sind. Es stimmt dazu, daß nach Spitta
(S. 9) die Gebildeten altarabisches £> immer ^
lesen, daß die Zischlaute mehr in Substanti-
ven, namentlich Abstracten und in festen Redens-
arten als in Verben und flüssiger Sprache er-
scheinen. Fälle wie, daß hadis als technisches
Wort „Tradition" neben hadit „Erzählung* steht
(S. 17), bestätigen diese Anschauung.
Nach Spitta's Darstellung, mit der die Wal-
tin's übereinzustimmen scheint, sind die Laute
o und g) von einem leisen Hauche begleitet, wie
ja auch das gemeindeutsche t und Je jetzt für
Aspiraten gehalten werden. Ich möchte zur Er-
wägung geben, ob sich nicht hieraus die Er-
scheinung erklärt, daß die Griechen wie die Se-
miten x = » wie = D , # = n wie =*= n
setzen. Die griechischen Laute waren nach
allem Anschein noch sehr spät nicht Affricatae,
sondern wirkliche Aspiratae, wie die, ihnen sonst
vielleicht nor ungefähr entsprechenden, semiti-
Spitta, Grammatik d. arab. Vulgärdialects v. Aegypten. S09
sehen, während die völlig hauchlosen % und «
mit d und p gleichgesetzt wurden, die mit ihnen
wenigstens in dem Hangel des Hauchs überein-
stimmten*). *
Wie weit wir in diesem Dialect Neuschöpfiuig
von Wurzeln annehmen dürfen, mag dahin stehn.
Aber die Umscbaffung namentlich von schwachen
Wurzeln ist hier wieder reichlich zu belegen.
Ich weise z. B. bin auf tinqäd „wird angezün-
det« „(506 nr. 164) von ^ = ^; auf itrawoa
= i^fjj (S. 16) und das häufige aura Impf.
jfai und toarrä „zeigen" IV und II von ^t^,
deren ersteres wieder schon Dschaw&lfqt (Mor-
gen!. Forschungen 157, 5) zu verwerfen hat.
Durch Assimilation entsteht nuss aus vjuai und
bildet nun ohne Weiteres den Plural ansds; ob
nicht auch ftass „sehen" und qadd „MaaB" am
einfachsten aus j*u, jöJ> zu erklären sind?
Solche Vorgänge haben wir schon in dem Urse-
mitischen anzunehmen.
Die Menge der grammatischen Formen hat
schon aus rein lautlichen Gründen, wie dem Ab-
fall kurzer Auslautvocale , stark abgenommen.
Unbequem ist namentlich das Zusammenfallen
der 1. und 2. Person Sg. Perf. Der fast gänz-
liche Verlust des alten Passivs (eine Perfectform
ist u. a. noch ruziq S. 441, 1) ist durch Aus-
dehnung der Reflexiva, namentlich der VII. Ver-
balclasse, ziemlich ersetzt. Die IX. Glasse hat
eine doppelte Form, itfi'ü und tfU£<A\ erstere,
*) Aehirikh war es beim nordsemitischen />, das
nicht als ^equivalent des griechischen n angesehn ward,
so daB die Syrer noch spät eigne Bezeichnungen für die
in ihre Sprache aufgenommenen Wörter mit n erfanden.
310 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
eine Neubildung, ist wohl die eigentlieh volks-
tümliche, letztere der Schriftsprache entlehnt.
Aehnliohe Beobachtungen lassen sich noch öfter
bei Nebenformen machen. Von den Versuchen,
durch Httlfswörter den Sinn der beiden Tem-
pora für gewisse Fälle schärfer auszudrücken,
Versuchen, wie sie in ähnlicher und gleichfalls
unzulänglicher Weise auch das Altarabische, das
Syrische und Nensyriscbe kennen, ist der inter-
essanteste die auch im syrischen Arabisch be-
liebte Zusammensetzung des Imperfects mit bi}
wodurch eine Art Präsens hergestellt wird. Ohne
Spitta's Erklärung, daß dies bi einfach die Prä-
position sei, gradezu als sicher anzuerkennen,
bemerke ich, daß ja auch die alte Sprache eine
solche Verbindung des Impf, mit einer Präposi-
tion kennt, denn das li in JJ&J und in jJsli
ist doch sicher nur die Präposition, die auch in
unserm Dialect in liqtaü = tydaäJ (S. 352, 3)
aufs Neue erscheint. — Die Beschränkung des
Duals ist kein großer Verlust. Beim Pronomen
hat sich dieser, wie es scheint, formell noch in
huma, humä erhalten, das freilich ganz wie Atem
als Plural gebraucht wird ; auch andre Sprachen
haben bekanntlich ursprüngliche Dualformen in
Pluralbedeutung aufbewahrt. Die Häufigkeit
gewisser Duale wie ^^j, &#** mag es er-
klären, daß sich ein auf sie hinweisendes Pro-
nomen erhielt, auch nachdem die Beschränkung
der Bedeutung verloren war.
So viele Veränderungen gegenüber dem clas-
sischen Arabisch wir nun auch in den Formen
des Dialacts bemerken, so ist hier doch alles
echt arabisch und echt semitisch. Dieser Cha-
Spitta, Grammatik d. arab. Vulgärdialects v. Aegypten. 811
racter wird selbst durch die Entlehnung des
oben erwähnten türkischen Suffixums und durch
die mancherlei fränkischen und sonstigen frem-
den Wörter nicht eigentlich beeinträchtigt. Auch
die sehr eingebend und übersichtlich darge-
stellte Syntax erscheint als durch und durch
arabisch. Freilich giebt es da manches auf-
fallende, wie die stark verbale Behandlung des
activen Participiums und wie die Gewohnheit,
die Fragwörter an's Ende des Satzes zu stellen
(z. B. bähum fen = {y*\& p^u* „wo ist ihr
Haus?"); aber auch diese Abweichungen vom
Altgewohnten stehn durchaus nicht im Wider-
sprach mit dem arabischen Grundcharacter der
Sprache. — Daß der Verf. das syntactische Ma-
terial im Ganzen nach dem in meinen aramäi-
schen Grammatiken befolgten Schema angeord-
net hat, kann mir nur schmeichelhaft sein.
Im Folgenden erlaube ich mir noch, an diese
und jene Stelle der Grammatik eine Bemerkung
zu knüpfen. Die Conjunction lamma „bis, da-
mit« (S. 185) ist schon von Wetzstein ZDMG.
XXII, 117 richtig aus U £1 erklärt*). Der laut-
liche Vorgang ist hier wie beim altarabischen
lammä (verkürzt lam) aus Lo *i sowohl in der Be-
deutung „noch nicht" wie in der im Schwinden
begriffenen „wenn nicht" (Mand. Grammatik S.
209), während U „nachdem14 wohl kaum an-
ders als aus la = J und mä erklärt werden
kann, so daß die Verdopplung secundär ist wie
im hebräischen si»V n7?^i UJ muß dagegen
*) Die Beduinen der syr. Wüste haben die eigea-
thümliche Nebenform iljdma, welche öfter in Wetzstein's
Erzählung erscheint.
312 Gott. gel. Am. 1681. Stück 9. 10.
eine jüngere Bildung sein. — Die Wunschpar-
tikel r# (S. 178) = s^ll mag volksetymologisch
mit {j^\) in Znsammenhang gebracht sein, aber
ursprünglich ist das gewiß nicht, denn man kann
c^J doch nicht von dem gleichbedeutenden «jqX,
von y u, s. w. trennen. — In der ersten
Silbe von ezai „wie?" (S. 168) ist nicht wohl
fr v. £
t, sondern ein abgeschwächtes e, ^\ zu sehn.
Eeaijoh „wie geht es ihm?" ist also =
ju; ^t. ajJ könnte ja höchstens heißen: „hat
er eine Gestalt? tt — Das seltsame dann, tann
mit Suffixen (S. 329) „darauf", meist mit folgen-
dem Particip, scheint mir durch ^i noch nicht
recht erklärt; tänije 4, 26 gehört ja kaum dazu.
Ich habe an *it \3 gedacht (wie die Beduinen
sagen Q^ f Ii5l*3 ZDMG. XXII, 82, 4;
psjjuJä f Mtf^ eb. 77, 1 u. s. w.) oder an
«it 131 (mit demonstrativen 131), aber bei
jeder Erklärung bleiben Formen, die sich nicht
fügen. ~ Kit wehet „so und so" (S. 18) ist
v^*I*3 <^r> hängt also mit \oS nicht näher zu-
sammen. — j&i (vgl. S. 80) „warum?"
kommt schon bei Abu Nuwäs (Ahlwardt S. 24,
im Beim) vor; auch Dschaw<qt läßt j$
zu, verlangt nur die Aussprache mit Tanwtn ^t
Eigentlich classisch ist das Adverbium aber ge-
Spitta, Grammatik dt arab. Vulgar dialects v. Aegypten. 313
wiÄ nicht. — Das Wort minje} ältere Form
&u*, womit viele ägyptische Ortsnamen zusam-
mengesetzt sind and das auch in Palästina als
Ortsname vorkommt, ist nicht koptischen Ur-
sprungs (S. X), sondern griechisch povy „mansio".
Der St. cstr. mmjet, mit (S. 27) ist ähnlich wie
tnivet von mtne „Hafen" für Lu* aus 1>U&^
d. i. Upiva. — oji (S. 8) ist nicht die spätere,
sondern die Grundform (1. Pers. Perf.), woraus
durch rückwirkende Assimilation *>j* werden
kann. — Nicht als „unnatürlich" sehe ich die
tiberlieferte Betonungsweise des Arabischen an
(S. 59); sondern nur als nicht ursprünglich, gegen-
über der von den Schwestersprachen zum Theil
treaer bewahrten altaemitischen. — Die Her-
leitung der jetzigen Nominalformen aus dem
Accusativ (S. 147) ist gewiß nicht aufrecht zu
erhalten; bei der Verweisung auf das Romani-
sche bleibt zu bemerken, daß da auch sehr
viele Nomina statt der Accusativ- die Nomina-
tivform zeigen z. B. die italiänischen PI u rale
auf i und e. — Die Formen ^J, ,Jl*t (S.
145) scheinen mir von ^rfo}\, ^&\ auszugehen,
wie *Uo, s^Lä von qm*j. — Daß rwpin (far
rvtöfin) nicht hebräisch, sondern aramäisch sei
(S. 121), ist eine etwas seltsame Behauptung.
Das sehr häufige Wort kommt in den ältesten
Schriften des A. T., zum Beispiel bei den frühe-
sten Propheten vor; es hat sein Ebenbild in
nvVj$, wie denn m— als Fem. zum relati-
ven ■*— noch vielfach vertreten ist, Grade um-
314 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9.10.
gekehrt ist Aaa? ein dem Hebräischen entlehntes
Fremdwort, über dessen richtige Aussprache die
syrischen Schalen nicht sicher sind. — Die
Entstehung der S. 191 aufgeführten Quadrilitera
sehe ich zum Theil anders an als der Verf.
Ueberhaupt findet sich hier und da noch eini-
ges das Altarabische oder die anderen semiti-
schen Sprachen betreffende, worin ich nicht
ganz mit ihm übereinstimme ; aber das sind
durchgehends Sachen von weniger Bedeutung,
zumal bei einem Werke, dessen Aufgabe es ist,
die gegenwärtige Sprache darzustellen.
Dem Buche ist eine ziemlich umfangreiche
Auswahl von Texten angehängt, alle aus dem
Munde der Leute aufgezeichnet. Bei Weitem
am wichtigsten sind die Erzählungen. Es sind
zum großen Theil alte Bekannte aus 1001 Nacht
u. drgL und im Tone den älteren Geschichten
ähnlich gehalten, wenn auch nicht grade glän-
zend Vertreter ihres Fachs. Ein gewisser Zu-
sammenhang mit der geschriebenen Literatur
ist von vorn berein deutlich, und dieser wirkt
auch einigermaaßen auf die Sprachformen ein.
Daß der Stil der mündlichen Erzählung bei den
Arabern verschiedener Länder eine gewisse
Festigkeit besitzt, zeigt sich z. B. darin, daß
diese Geschichten mit der von Wetzstein mitge-
theilten Beduinenerzäblung, die bei aller Breite
in sich einen weit höheren Werth hat, sogar
die feste Formel £1 Lc^* £>y. (ZDMG. XXII,
81, 12 u. s. w.) ,= J Ucy>^ £?>jA Spitta
451, 6 u. s. w. gemein hat. Kennern der *An-
tar und andrer Volksromane werden wohl diese
Zusammenhänge noch deutlicher sein als mir.
Aber es wäre doch gewiß schwer, bessere zu-
sammenhängende Proben der lebenden Sprache
Spitta, Grammatik d. arab. Vulgardialects v. Aegypten. 815
zu erhalten. Wer die Grammatik sorgfältig ge-
lesen, der wird diese Geschichten ziemlich gut
verstehn können, wenn ihm auch hie und da
noch eine Anmerkung erwünscht wäre, welche
die Bedentang einer Redensart oder einer Vo-
cabel erklärte. Hoffentlich nimmt Spitta von
diesem Winke Notiz für die weitere Veröffent-
lichung von dergleichen Sachen, die wir ihm
allerdings an's Herz legen möchten; eine kleine
Erleichterung kann er dabei dem Leser noch
geben durch die Einführung von Uncialen bei
Eigennamen. Sonst scheint mir seine Trans-
scription sehr zweckmäßig, da sie genau ist,
obne doch den Leser durch das Bestreben zu
verwirren, jede, nur dem scharf Hörenden be-
merkbare, feine Vocalnttance durch ein beson-
deres Zeichen wiederzugeben. Bequemer wäre
für uns allerdings die Beibehaltung der arabi-
schen Schrift, aber die Laute der Sprache
würde uns diese viel weniger deutlich machen.
Wer nun die Erzählungen leidlich rasch gele-
sen hat und sich einbildet, er verstehe jetzt die
Sprache von Cairo, der wird unsanft aus seiner
Täuschung aufgeweckt, wenn er sich an die
darauf folgenden Lieder macht. Hier ist die
Uebersetzung, welche Spitta beifügt, unentbehr-
lich. Das liegt freilich zum größten Theil an
dem poetischen Stil. Als Muster der volkstüm-
lichen Sprache können diese Verse, wie auch
der Herausgeber andeutet, nicht in dem Maaße
dienen wie die Erzählungen. Dasselbe muß we-
nigstens zum Theil auch von den Sprichwörtern
gesagt werden, welche die Sammlung schließen.
Aesthetisch und moralisch stehn manche von
ihnen weit über den Geschichten und Liedern;
manche werden auch echt ägyptische Erzeug-
nisse sein, aber andre stammen doch aus der
316 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 9. 10.
höheren Literatur. Nr. 226 ist ans einem vor-
islamischen Verse und nr. 230 gehört gar zu
einem Aussprach Muhammed's. Da ist es denn
die Frage, ob die Umsetzung in die wirkliche
Volkssprache überall ganz vollzogen ist.
Wenn ich nun dem Buche als wissenschaft-
lichem Werke nur das größte Lob zollen kann,
so möchte ich die Vermuthung aussprechen, daft
sich dasselbe auch practisch bewähren werde.
Freilich hat sich noch Keiner bloß aus einer
Grammatik eine Sprache wirklich zu eigen ge-
macht; freilich wird ein des Altarabischen Un-
kundiger mit diesem Werke kaum etwas an-
fangen können: aber wer mit genügenden Vor-
kenntnissen an dasselbe geht, der kann sich,
denke ich, dadurch in den Stand setzen, in
Aegypten dessen Sprache ziemlich rasch ver-
stehen und selbst reden zu lernen.
In der Vorrede spricht der Verf. den drin-
genden Wunsch aus, daß diese Volkssprache
zur Schriftsprache erhoben und die etwas abge-
standene Canzlei- und Büchersprache beseitigt
werde. Gewiß können wir uns diesem Wunsch
nur anschließen, aber freilich darf man die ge-
waltigen Hindernisse nicht verkennen, die seiner
Verwirklichung entgegenstehe Der Hinweis auf
die Geschichte der italiänischen Sprache paßt
nicht ganz; denn auf einen Mann wie Dante
darf man nicht rechnen, und ein solcher fände
in Aegypten auch kaum einen geeigneten Bo-
den. Am meisten Hoffnung ist noch darauf zu
setzen, das practische Bedttrfniß werde das zu
Wege bringen, was sich von oben herab durch
Beamte und Gelehrte schwerlich in's Leben ru-
fen läßt
Wir schließen mit dem Wunsche, daß diesem
Raabe, Klagelieder d. Jeremias u. Prediger d. Salomon. S17
trefflichen Werke bald ebenso gründliche und
aas lebendiger Kenntnift geschöpfte Darstellun-
gen andrer arabischer Dialeete folgen mögen, so
daft wir allmählich ein gewisses Bild tob der
Entwicklung des Arabischen in allen seinen
Gebieten gewinnen könnten.
Die Ausetattang ist vortrefflich.
StruMmrg i. £. Tb. Nöldeke.
- ■ ■■ *
Die Klagelieder des Jeremias und der
Prediger des Salomon. Im Urtext nach neue-
ster Kenntnis der Sprache behandelt, (entere metrisch)
übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar ver-
sehen. Neuer Gesichtspunkt fur hebräisches Versmaß
eröffnet. Von Andreas Raabe. Leipzig, Commis-
sionsverlag von L. Fernau 1880. VI. 224 S. 8°.
In der selben Weise, wie Hr. A. Raabe ein
Jahr früher das Buch Ruth und das Hohe Lied v
„Dach neuester Kenntnis der Sprache behandelt44
hat, fährt er jetzt mit den Klageliedern und dem
Prediger fort. Der Titel verheißt viel; dazu be-
zeugt dann noch der Hr. Gommissionsverleger
Fernau, daß der neue noch nicht betretene Weg
sehr erfolgreich sei und zu einer bisher uner-
reichten Erkenntnis des Inhaltes der betreffen-
den Bücher führe, obgleich man von jeher schon
vielfach die Uebersetznng des hebräischen Tex-
tes unternommen habe. Die neue Methode geht
Ton dem Grundsatze aus, daß das Hebräische,
wenn man es nur richtig ausspreche (so wie es
der Verf. durch seine Transscription zeigt), wei-
ter nichts als das reine Sanskrit sei. Die Ver-
gleiehung der Grammatik hat sich der Autor
indessen geschenkt, er vergleicht nur das Lexi-
kon. Unverzagt geht er dabei immer aufe
Gftaze, ohne viel Federlesens zu machen. Man
hatte bisher gedacht, man dürfe höchstens die
318 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9: 10.
einfachsten lexicalischen Elemente vergleichen,
also z. B. nicht die hebräischen Triliteren mit
den einsylbigen Sanskritwurzeln, weil die Drei-
buchstabigkeit, als etwas spezifisch Semitisches,
der hypothetischen Ursprache auf keinen Fall
angehört haben könne. Dieser Hr. Raabe aber
bewährt seine Unbefangenheit in allen gelehrten
Vorurtheilen dadurch, daß er auch die abgelei-
tetsten Bildungen der beiden Sprachen direct
mit einander vergleicht; was schert es ihn, ob
die Grammatiker einen Buchstaben für bloß for-
mativ oder umgekehrt für radical halten 1 Z.B.
ist das bekannte Wort Thora (von der Wurzel
wara) = skr. tarff, Sternbild, Inbegriff der Er-
kenntnis, Wissen der Dinge bis auf deren Ur-
sprung. Auf die entlegensten Gebiete fallen die
Strahlen des neuen Lichts, das uns aufgesteckt
wird; so wird z. B. mittelst der Etymologie des
Zahlworts nrou> das Grundgesetz der hebräischen
Metrik aufgedeckt.
Wunderlich ist, daß die Uebersetzung der
hebräischen Texte, die Herr Raabe giebt, trotz
Allem sich nicht so sehr von der Tradition ent-
fernt; da hat er offenbar mit einem fremden
Kalbe gepflügt und nicht mit seinem neuesten
Instrument. Ja es scheint, als gehe seine ganze
Vergleichung von den überlieferten Bedeutungen
der Wörter aus, die ihm als sicher gelten, Weil
sie im Lexikon stehen. Darnach hat er dann
sanskritische Analoga aufgesucht, und nach die-
sen wieder die hebräischen Wörter kunstmäßig
behandelt. Dabei ist es ihm sehr zu statten ge-
kommen, daß er vom Hebräischen sicherlich
nichts , vom Sanskrit schwerlich mehr versteht
Er ist also überhaupt kein Mann, der auf seine
Thorheiten irgend eine Antwort verdient; man
La Mltrique de Bharata, p. Regnaud. 319
ärgert sich nachträglich, sich dennoch mit ihm
befaßt zu haben.
Greifswald. Wellhausen.
La Me"trique de Bharata. Texte Sanscrit de
deux chapitres du N&tya-Qästra, publik poor la pre-
miere foifi et suivi d'une interpretation franchise par
Paul Regnaud. Paris (Ernest Leroux) 1880.
[Extrait des Annales du Musde Guimet Tome II].
Die Arbeit des Herrn Regnaud ist mir nur
verständlich unter der Voraussetzung, daß es
ihm gänzlich unbekannt ist, daß vom Bharata-
(ästram außer der Handschrift der Royal Asia-
tic Society noch andere Handschriften vorhan-
den sind. Da der Aufsatz von Dr. W. Hey-
mann in den Göttinger Nachrichten 1874 p.
86 ff. in Weber's Indischer Literaturgeschichte2
p. 248 Anm. *) erwähnt wird (wo freilich irr-
thttmlich die Göttinger gel. Anzeigen genannt
werden), so wundert es mich, daß er Herrn
Regnaud entgangen ist. Die zweite vollstän-
dige Handschrift im Besitze von Dr. Hall hätte
Herr R. ebenso leicht erlangen können wie
Dr. Heymann und durch eine Anfrage bei Dr.
Rost würde er erfahren haben, was ich durch
eine Mittheilung von Dr. Heymann weiß, daß
Bühler von einer dritten vollständigen Hand-
schrift in Ajmir hat zwei Abschriften nehmen
lassen, daß ferner in Indien sicher noch ein
Dutzend Handschriften und wahrscheinlich auch
der Commentar des Abhinavagupta vorhanden
ist. Ein MS. wird auch erwähnt von Oppert,
Lists of Sanskrit Manuscripts in Private Libra-
ries of Southern India (Madras 1880) p. 471
No. 6019, und auch das unter No. 6018 aufge-
führte Nätyalakshana scheint damit zusammen-
320 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 9. 10.
zuhängen, da Bharata als Verfasser angegeben
wird. Bei Gough, Records of Ancient San-
skrit Literature (Calcutta 1878) p. 144 nennt
Bühler das Werk Bhäratiyanätyalakehana. Das
Material zu einer kritischen Ausgabe des N&-
tya$ästram des Bharata ist also vorhanden und
bei der Liberalität der Indischen Regierung
leicht zu beschaffen. Die von Herrn R. be-
nutzte Handschrift ist so verderbt und lücken-
haft) daß es eine Verschwendung von Baum
und Zeit ißt, aus ihr allein den Text herauszu-
geben. Herr R. hat die verderbten Lesarten
oft mit vielem Scharfsinn verbessert und auch
seine Uebersetzung ist meist richtig. Aber eine
große Anzahl von Stellen des Textes bleibt
ganz unsicher und über ihre Auffassung läßt
sich streiten, p. 21 v. 48 ist natürlich varata-
nuh statt paratanu zu lesen; p. 23 v. 67 ver-
langt die Grammatik und das Metrum catväry
ädau für R/s catur ädau. p. 20. v. 40 ist gUa-
vätadagdhä zu lesen und die fehlenden Silben
können nicht hinter maliniva gestanden haben,
da das Metrum dagegen Widerspruch erbebt.
Wahrscheinlich lautete der Vers: gitavätadag-
dhdsi kamaliniva. Auch in v. 26 ist die feh-
lende Silbe falsch bezeichnet Es fehlt eine
Kürze. Der Vers ist offenbar zu lesen: kshinah
skhalamänavidambanakah \ grutvaughavigarjüam
und das Metrum wird schwerlich totokam hei-
ßen, parikotayate weist vielmehr auf Jcotaka bin.
Bei der Lage der Dinge wäre es müßig auf
Einzelheiten weiter einzugehen und Conjecturen
zu geben, wo man ohne große Mühe Gewißheit
haben kann. An Druckfehlern ist kein Mangel.
Kiel. R. PischeL
Fta die Redaction rerantwortlich : & Rehniseh, Director d. Gott. gel. Anz.
Verlag der Ditterich'Mchn Verlags- IhtchJumdkmg.
Druck dir DitUrich'ichen Univ.- Buchdntctorti ( W. Fr, Katsimtr).
331
6 ft 1 1 i n g i s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König 1. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 11. 16. März 188 1.
Inhalt: E. H. Bunbnry, History of Ancient Geography. Yon
J. Burtack. — J. I*. P i c , Ueber die Abstammung der Rumänen. Von
& l Bidermann. — J. J. Baumann, Handbuch der Moral. Vom
= Eigenmächtiger Abdruck ron Artikeln der Gott, gel. Abc. verboten s?
Ahistory of ancient geography among the
Greeks and Bomans from the earliest ages till the
fall of the roman empire. By E. H. B u n b u r y , F.R.G.S.
With twenty illustrative maps. In two volumes. London,
John Murray 1879. Vol. I. pp. XXX, 666. Vol. II.
pp. XVIII, 743.
Trotz des lebendigen Eifers, mit welchem
bei dem allgemeinen Aufschwung der classischen
Stadien in nnsrem Jahrhundert auch die Kennt-
nis der geographischen Leistungen des Alter*
tbums gefördert wurde, ist noch nie in größrem
Maaßstabe der Versuch unternommen worden,
die Entwicklung der antiken Erdkunde zu einem
bis ins Einzelne ausgeführten historischen Ge-
aammtbilde zu vereinigen. Bunbury unterzieht
- sich dieser Aufgabe mit specieller Bücksicht auf
die Bedürfnisse der Studierenden. Ihnen will
er für da« Verständnis und die Würdigung der
geographischen Anschauungen der Griechen und
Römer ein Führer sein, ihnen die reichen Re-
sultate der in zahllosen Monographien zerstreu-
21
322 Gott. gel. Auz. 1881. Stack 11.
ten modernen Forschungen auf diesem Gebiete
gesammelt und kritisch gesichtet entgegen-
bringen.
Die Anlage seines Werkes ist eine streng
historische. Ihrer Altersfolge nach werden die in
Betracht kommenden Schriftsteller jeder für sich
erledigt, in chronologischer Ordnung wird jeder
Kriegszug, jede Entdeckungsfahrt in unbekannte
Ferne geschildert Selbst für die mathematische
und physikalische Geographie wird dem sachli-
chen Zusammenhang keine Concession gemacht,
sondern der Chronologie die Herrschaft über die
Darstellung belassen. Kritische Fragen werden,
um den Fluß der historischen Ausführungen
nicht zu unterbrechen, am Schlüsse jedes Capi-
tels in längeren Noten, die bisweilen den Cha-
rakter von Excursen annehmen, discutiert Daß
diese Anlage für den Verfasser die bequemste
und auch, für den Nachschlagenden, der nur
über ein antikes Werk oder einen historischen
Vorgang Belehrung sucht, vorteilhaft ist, soll
nicht bezweifelt werden. Ob aber solch eine
Gruppierung des Stoffs diesem die lehrreichste
Beleuchtung sichert, die Entstehung und den
Wandel jeder einzelnen geographischen An-
schauung am klarsten aufdeckt, ist doch sehr
problematisch. Der Verfasser hat das empfun-
den und, um das sachlich Zusammengehörige
und chronologisch getrennte nicht gapz aus-
einander fallen zu lassen, sich ohne Scheu (p.
IX) zu häufigen Wiederholungen entschlossen,
welche den Umfang des Buchs entschieden er-
weitert, die Darstellung für den das ganze Werk
bewältigenden öfter verwässert und doch dem
Bedürfniß, dem sie entsprungen, nicht genügt
haben. Wer sich z. B. über die Versuche der
Bunbury, History of ancient geography. 323
Alten in der Schätzung und Messung von Berges*
höhen informieren will, wird trotz der mehrfach
wiederholten Erwähnung der Messungen Di-
caearchs über diese Bestrebungen in ihrer Ge-
sammtheit an keiner Stelle des Buchs ein be-
friedigendes Bild erlangen. Selbst wenn er —
vom Index ganz ungenügend unterstützt — aus
dem ganzen Werke sich die zerstreuten ein-
schlägigen Notizen (I 617/8. 660 II 23. 251.
270. 385. 394. 407) mühselig zusammensucht,
gewinnt er nur eine kleine Auswahl von Zif-
fern, nirgends einen Einblick in den Gedanken-
Proceß, durch den die Alten zu ihren Höhen-
Angaben gelangten.
Mehr noch als aus den z. Theil ansehnlichen
Wiederholungen erklärt sich der stattliche Um-
fang des Werks ans der Aufnahme langer
kriegsgeschichtlicher Berichte, die man ohne Be-
dauern vermissen würde. Einer Geschichte der
Erdkunde liegt gewiß nicht die Verpflichtung
ob, den Siegeszug Alexanders vom Hellespont
bis Gaugamela zu erzählen, den Ueberwältiger
Galliens auf seinen Kreuz- und Quermärschen
von einem Gemetzel zum andern zu begleiten.
Die welthistorischen Ereignisse dürfen bei dem
Publikum, für welches solch ein Werk bestimmt
ist, wohl als bekannt vorausgesetzt werden.
Nur die Früchte, welche sie der geographischen
Kenntniß eingetragen, bedürfen der Beleuchtung.
Wenn hier B. die Grenzen seiner Aufgabe
zu weit gesteckt hat, hat er sie anderwärts
überraschend eng gezogen. Das gilt zunächst
von dem Kreise classischer Schriftsteller, auf
den er — ich will nicht sagen sein Quellen-
stadium, aber sicher doch — die Besprechung
beschränkt hat. Grade dort, wo der Novize im
Stadium der alten Geographie einer Hülfe be-
21*
324 . Gott gel. Ans. 1881. Stick 11.
sondern bedarf, beim Nachweisen entlegnerer
Qaetten läßt ihn B. im Stich. So stehen z. B.
die für eine Geschichte der Erdkunde durchweg
bedeutungsvollen Nachrichten über die Versuche
der Alten in der Kartographie meist ziemlieh
versteckt in Schriftstellern, die im Allgemeinen
für die Geographie keine oder nur eine ganz
untergeordnete Wichtigkeit haben *). Grade
solche verstreute Perlen am Faden der zusam»
menfassenden Darstellung mit aufzureihen und
zu verwerthen ist die Sache eines Handbuchs.
B. aber hat all seine Sorgfalt auf die hervor-
ragendsten geographischen und geographisch-
historischen Haupt- Werke des Alterthums con-
centriert. Die Zeugnisse, welche bei andren
Classikern gelegentlich sich finden, hat er zu
wenig beachtet, selbst wenn sie große Contro-
versen so stark berührten wie z, B. Vitrov VIII
2 die Nilquellen-Frage in der Auffassung Jubas»
Auch das reiche inschriftliche Material, welches
speoiell für die römische Kaiserzeit für den
Mangel litterarischer Erzeugnisse uns vielfach
entschädigt, ist nicht ausreichend verwerthet
Schwieriger ist es vielleicht über die Be-
grenzung des Begriffs der Geographie mit B.
zu rechten. Er faßt ihn so knapp wie möglich,
meiner Anschauung nach allzu eng. Mathema-
tische und physikalische Geographie spielen in
seinem Werke eine entschieden untergeordnete
Rolle. Kann er schon der Frage nach Gestalt
und Größe der Erde nicht ausweichen, so schließt
er wenigstens die Entdeckung der Erd-Retation
von seiner Darstellung aus. Der Name des
*) Die meistern dieser Zeugnisse sammelte schon
Reingauum. Geschichte der Erd- und LÄnder-Abbildu*
gen der Alten. Jena 1339.
Bunhurf , History of ancient geography. 896
Biketas fohlt in dieser Gerichte der antiken
Erdkunde.
Auch die Abschnitte der mathematischen
Geographie, in deren Besprechung B. eintritt,
sifid Bicht immer mit 4er durchgreifenden Klar-
heit des Urtheäls und der erschöpfenden Gründ-
lichkeit behandelt, welche man ihm sonst nach-
ahmen maß. Werfen wir einen Blick auf das
korze Capital „Physical philosophers" I. p. 120/6.
Zu der gemächlichen Breite, mit welcher die
von ftp&tan Quellen dem Thaies fälschlich zu-
gesebiiebnen weit vorgeschrittenen Anschauun-
gen beleuchtet werden, steht in befremdendem
Segensatz der an einer kurzen verächtlichen Be-
merkung über Aaaximander ausgegossene Spott.
1st es denn wirklich sp kindisch albern, wenn
Attttsimander, von pJanimetrischer zu stereome-
triecher Anschauung fortschreitend, die Erdscbeibe
des Thaies sich als einen niedrigen Säulen-
atampf denkt, als einen Cylinder, dessen Höhe
7» des Qtterdurchmessera betrage? Diese
uifennäftig überlieferte Proportion (Euseb. praep.
ev. L 8) igiebt sicher eine minder abenteuerliche
Vargtelluag als der rohe Vergleich mit einem
Steinpfeiler (Plot. pbtc. phil. Iü. 10. Galen phü.
hist. XÄil. 2), mit welchem B. sieh begnügt.
Des gewaltigen Fortschritts, der in der kühnen
Speculation Anaximanders lag, daß die Erde
frei ohne Stütze mitten im Weltraum schwebe
(Arietot. de caclo II. 13), that B. gar keine Er-
wähnung. Als ersten Vertreter der Anschauung
von der Kugelgestalt der Erde und ihrer Zonen-
Einteilung bezeichnet B. Pythagoras, wiewohl
die für ihn sprechenden Zeugen nicht schwer
hm Gewicht fallen gegenüber den auf Parmeni-
des sich vereinenden Stimmen von Theophrast
and Positioning, Männern, denen man die Fähig-
326 Gott. gel. Anz. 1881. StücS 11.
keit nicht absprechen kann, das ihnen noch in-
tact vorliegende Quellen-Material mit der in
solchen Fragen unerläßlichen Schärfe and Cor-
rectheit aufzufassen. Die Beweise, welche Ari-
stoteles für die Kugelgestalt der Erde vorbringt
(de caelo II. 14), führt B. I. p. 395/6 kurz an,
ohne im Mindesten die geringe Stichhaltigkeit
des ersten von den Wirkungen der Schwerkraft
hergeleiteten, die mangelhafte Formulierung des
zweiten von den Mondfinsternissen entlehnten,
und die Halbheit des letzten hervorzuheben, der
an die Aenderung des Horizonts mit wechseln-
der geographischer Breite anknüpft, also nur für
eine Krümmung der Erdoberfläche in der Rich-
tung von Nord nach Süd beweisend blieb, bis
Dicaearch (Martian. Gapella de nupt. phil. VI.
590) ihn ergänzte. In Gap. XVI, wo die ersten
Versuche einer Messung des Erdumfangs be-
sprochen werden, muß natürlich auch die Frage,
ob wir unter der Ziffer des Eratosthenes soge-
nannte olympische Stadien (8=1 röm. Meile)
oder ein von diesen abweichendes Maaß zu ver-
stehen haben, zur Erledigung kommen. In der
That handelt B. mehr als einmal (I. p. 209—
211. 544—546. 624. IL 26) über die von man-
chen Gelehrten angenommene Verschiedenheit
des Stadien-Maaßes. Sonderbarer Weise zieht
er es stets vor sich mit den alten längst abge-
thanen Begründungen, die d'Anville und Gosse-
lin dafür ins Feld führten, herumzuschlagen.
Nirgends tritt er den unleugbaren Schwierig-
keiten näher, welche aus bemerkenswerthen
Glassiker-Stellen (namentlich Plin. h. n. XII. 13,
53) für die Annahme eines immer und überall
gleichen Stadien-Maaßes erwachsen. Wenn vor-
sichtige, feine Köpfe wie Hultsch, (Metrologie
der Griechen und Römer p. 49/50) sich ent-
Bunbury, History of ancient geography. 327
schließen, bei Eratosthenes ein älteres, kürzeres
Stadien-Maaß anzuerkennen, ist ihrer reiflichen
Erwägung gegenüber wohl mehr der von Berger
(Die geograph. Fragmente des Eratosthenes p.
132—137) eingeschlagene Weg gründlicher Prü-
fung am Platze als die von Banbury wiederholt
aufgeführte Skiomachie. Fast muß man glau-
ben, daß B. die neueren Vertbeidiger des kür-
zeren Itinerar- oder Bematisten-Stadiums, vor
Allen das 1862 erschienene Werkchen von
Hultsch gar nicht kennt.
Die Orientierung über die moderne Littera-
tnr ist überhaupt nicht grade die stärkste Seite
des Verfassers. Das Ziel, eine Darstellung der
Entwicklung der antiken Erdkunde nach dem
Standpnnkt der heutigen Forschung zu geben,
bat er nicht ganz erreicht. Nicht nur kleine
werthvolle Monographien, auch bedeutende grö-
ßere Werke sind ihm unbekannt geblieben.
Müllenboff's Deutsche Alterthumskunde, ein Werk,
das mit seinen bemerkenswerthen Untersuchun-
gen über Py theas, Eratosthenes, Timaeus, Avien
dem Studium der alten Geographie, wenn nicht
durchweg solide Resultate, so doch eine Fülle
fruchtbarer Anregungen bietet, ist dem Verf.
augenscheinlich nie in die Hand gekommen.
Bergers Erläuterung der Hipparch-Fragmente,
die neue französ. Ausgabe der Peutinger'schen
Tafel und sonst eine Reihe berücksichtigens-
werther Ausgaben und Erklärungs- Schriften
sind ihm entgangen. In dem Excurs über Hanni-
bals Alpen-Uebergang (IL p. 37) bezeichnet er
als heut noch concurrenzfähig nur die Anschau-
ungen, welche den Uebergangspunkt nach dem
£1. St. Bernhard oder dem Mt. Genis verlegen.
Keinem Menschen falle es mehr ein (no one
will any longer be found) sieb für den — aller-
328 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
dings ganz außer Betracht liegenden — Gr.
Bernhard oder den Mt. Genftvre zu entscheiden.
Banbury scheint gar nicht bemerkt zu haben,
daß grade in neurer Zeit sich ein sehr energi-
scher und wohlbegrttndeter Umschwung zu Gun-
sten des Mt. Genfevre unter den mit dem Termin
besonders vertrauten französischen Gelehrten
(Desjardins, filis£e Rectus, Hennebert) zu voll-
ziehen beginnt.
Wenn so nach einigen Seiten das Werk B.'s
nicht vollkommen die Erwartungen erfüllt die
seine Vorrede erweckt, kann man detia Verf. die
Anerkennung nicht versagen, daß er in deih
wichtigsten Punkte, in der klaren Darstellung
und der Beurtheilung der geographischen Lei-
stungen jeder einzelnen Epoche des klassischem
Alterthums sich seiner Aufgabe durchaus ge-
wachsen zeigt. Die Homerische Geographie (L
31—84 mit einem wohl durchdachten Kärtchen),
der Beweis gegen die Existenz eines direkten
Indienhandels zur Zeit der Ptolemäer (1. 580 ff.)
sind schöne Proben besonnener, nüchterner Auf-
fassung. Auch in der Würdigung der eineeinen
geographischen Schriftsteller des Alterthums be-
kundet sich fast durchweg ein gesundes und
selbständiges Urtheil. Nur in wenigen Fällen
würde man die Kritik schneidiger und conse-
queüter durchgeführt wünschen, so gegenüber
Po ly bins. Bei seiner Beurtheilung (IL 16—
42) stimmt der Verf. im Ganzen noch kräftig
ein in den von Niebuhr angeschlagenen und
seither von den Meisten festgehaltenen Ton un-
begrenzter Bewunderung. Und doch sind grade
die geographischen Leistungen des Polybius be-
sonders geeignet, den aufmerksamen Leser rasch
von der Ueberschätzung dieses Schriftstellers
gründlich zu kurieren. Daft Polybius auf Grund
Banbury, History of ancient geography. 329
der geographischen Kenntnisse, welche die Rö-
mischen Eroberungskriege gereift und Römische
Schriftsteller z. Th. schon in historischen Wer-
ken niedergelegt hatten, vielfach in der Lage
war, die Vorstellungen seiner Griechischen Land-
leute über die westlichen Mittelmeerländer zu
berichtigen und zu erweitern, ist selbstverständ-
lich. Das war sein Glück, nicht sein Verdienst.
Will man dieses würdigen, dann hat man zu
untersuchen, in wie weitPolybins es verstanden
hat, aus seiner unerhört vortheilhaften Position
für die Förderung der Erdkunde Nutzen zu
ziehen. Die wohlfeile und deshalb in ihrer Un-
geschliffenheit überaus widerwärtige Kritik,
welche er an seinen Vorgängern — nach ihm
lautet Ignoranten, Idioten und Schwindlern —
ausübt) fällt dabei fttr uns minder ins Gewicht,
ab die positive productive Leistung, welche Po-
lybius aufzuweisen hat. Mit ihr steht es — das
können wir trotz des Verlustes des XXXIV.
Buchs getrost aussprechen - keineswegs glänzend.
Üeberschaut man nur flüchtig die zahlreichen
M**0-Angaben, welche Polybius für die Dimen-
sionen der Mittelmeerküste , für Länge und
Breite der damals bekannten Ländermassen bei-
bringt, so empfängt man unwillkürlich zunäehst
denselben Eindruck wie Bunbury IL 34 ff.*).
*) Die Ziffern, welche Bunbury a. a. 0. als Beispiele
und zugleich als die wesentlichste Quintessenz der An-
schauungen des Polybius vom Mittelmeerbecken anführt,
sind — wohl in Folge von Benutzung schlechter Text-
Ausgaben — meistens falsch. — S. 27 Anw. 1 wird als
Beispiel für Verwerthung Römischer Straßen messungen
grade die Stelle III. 39 über die zu Polybius' Zeit noch
gar nicht bestehende Via Domitia herausgegriffen. Schon
ükert hat die Stelle als interpoliert erkannt. Sie ver-
räth ihre Unechtheit obendrein uoch durch die gewöhn-
liche Reductions-Ziffer : 8 Stadien =■ M. P. Polybius
setzte 878 Stadien gleich einer Römischen Meile*
330 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
Man meint bier ein wohl durchdachtes, einiges
System geographischer Anschauungen vor sich zu
haben, dessen einzelne Theile durch gewissen-
hafte Erwägung unter einander in Harmonie
gebracht sind. Prüft man genauer — wie es
in der besten der neuren Monographien (M. C.
P. Schmidt De Polybii geographia Berlin 1875)
geschieht — , dann stößt man schnell auf über-
raschende Widersprüche.
Für ein und dieselbe Entfernung werden —
zum Theil unter Umständen, die jeden Gedan-
ken an eine Textverderbniß ausschließen — uns
an verschiedenen Stellen des Werks verschiedene,
bisweilen weit divergierende Werthe angegeben.
Ein Versuch, construierend die Gesammtheit der
Polybianischen Maaße zu einem Kartenbilde zu
vereinen, scheitert vollständig. Die Menge die-
ser Distanz-Angaben des Polybius ist nichts als
ein ungenießbares Ragout aufgelesener Römi-
scher Messungen und Alexandrinischer Rechnungs-
Resultate, unter welche eigene, ungeprüfte
Schätzungen zahlreich eingemengt sind. Kann
demnach dem Schriftsteller nicht die Anerkennung
gezollt werden, daß er ein neues, verbessertes
Gesammtbild der Oikumene entworfen, so lassen
auch in den einzelnen Ländern, speciell in dem
westlichen Mittelmeergebiete, auf dessen Dar-
stellung er sich so viel zu Gute thut, seine An-
schauungen oft selbst den Grad der Correctheit
vermissen, den Andere vor ihm schon erreiebt
hatten.
Bunbury betont besonders den großen Fort-
schritt, welchen des Polybius Werk in der
Kenntniß der Alpen bezeichne. Polybius erntet
hier das Lob, das seiner vortrefflichen Quelle
über Hannibals Alpenübergang gebührt, einer
Quelle, deren Bericht Polybius mehrfach miß-
Bunburv, History of ancient geography. 331
verstanden and durch Auslassung yon Momen-
ten, welche in seine grundfalschen Vorstellungen
Ton den Alpen nicht hineinpaßten, verstümmelt
bat. Was Polybius wertbvolles zur Charakteri-
stik und zur Topographie der von Hannibal
durchzogenen Hochgebirge- Landschaft sagt, ge-
hört ganz seinem Quellen-Schriftsteller (Cincius
Alimentus?) an, dem auch Livius (unabhängig
von Polybius) folgt. Was Polybius selbst hinzu-
thut, ist falsch und verwirrend. Ganz, in seinem
Kopf gewachsen ist sicherlich die wunderbare
Anschauung, welche er IL 15. 16 III. 47 XXXIV
10 von dem Grundriß der Alpen und dem Ver-
lauf ihrer Hauptströme entwickelt. Nach ihm
beginnen nördlich von Massalia, in Ligurien zu-
sammenfallend, Alpen und Apenninen und strei-
chen allmählich divergierend östlich (also die
Alpen etwa O.N.O., die Apenninen O.S.O.). Den
Nord-Abhang der Alpen begleitet der Rhone-
Strom, der an ihrem 0. Ende, n. vom Adriati-
schen Meere entspringt und von da an meist in
enger Schlucht westsüdwestlich (nqög tag %«f/tM-
Qtväg <W<»k), zuletzt (III. 47, 9) gradezu
nach Westen fließt, bis zu seiner Mündung
ins Sardoische Meer. In dem Thale zwischen
Alpen und Apenninen strömt von W. nach 0.
der Po, dessen Oberlauf (II. 16,7) von der in
den Alpen belegenen Quelle bis in die Ebne
hinab südwärts gerichtet ist. So wenig Re-
spect mir diese Angaben vor des Polybius' geo-
graphischen Kenntnissen einflößen, muß ich doch
gestehen, daß ich dem Schriftsteller das schwere
Unrecht nicht anthuen möchte, diese irrigen An-
schauungen als Früchte einer Forschungs-Reise
auf Hannibals Marsch-Route anzusehen. Wäre
Polybius je im Tauriner- Lande gewesen, dann
hätte er merken müssen, daß der Po vordem
332 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
Beginn seines östlichen Laufes nicht von Nor-
den, sondern von Süden her kommt. Wäre es
ihm je vergönnt gewesen, von der Continent
der Rhone und Isfere an dem Hauptstrom ab-
wärts bis in die Nähe der Mündung zu rei-
sen, dann hätte er nimmermehr die Vorstellung
gewonnen, daß die Rhone in ihrem Unterlaufe
eine westliche Richtung innehalte» Wer 25 Mei-
len weit längs der unteren Rhone hinreist und
etliche Tage lang die Mittagssonne stetig sich
ins Gesicht scheinen läßt, ohne zu merken, daft
die Rhone gegen Süden fließt, der bat jeden
Anspruch, für einen geographischen Beobachter
zu gelten, verloren. Im Bergland sind grobe
Orientierungsfehler möglich und entschuldbar,
nie aber in einer offnen, breiten ThalsoMe «it
constanter Längs-Richtung. Grade weil ich Po-
lybius ein reichliches Maaß gesunden Menschen-
verstandes zutraue, kann ich nicht glauben, daß
er je dem Wege Hannibals durch das untre
Rhone-Thal und die Alpen in das Tauriner-
Gebiet gefolgt sei. Polybius selbst versichert
•das III. 48, 12 auch keineswegs, sondern be-
hauptet nur, sich auf einer Reise durch die Al-
pen (vermutblich über den Gol di Ten da*) im
Allgemeinen die Uefcerzeugung verschafft au
haben, daß dies Gebirge keineswegs so über
alle Begriffe fürchterlich sei, wie die lebhafte
Phantasie mancher (Schriftsteller es ausgemalt
hätte. Wo die Schriftsteller von der Ausdeh-
nung und dem Werth ihrer Reisen reden, wäh-
*) Das ist der einzige Paß, den er überschreiten
konnte, ohne seine Anschauung vom Oberlaufe des Po zu
verbessern. Für ihn spricht auch der Umstand, daß für
"keinen Punkt des Westalpen-Gebiets im Norden Massa-
lias sich der Beweis führen oder auch nur die Wahr-
scheinlichkeit sich dartbun .l&Bt, daft Polybius ihn gesehen.
Birabury, History of ancient geography. 3flB
leD sie den Ausdruck gern so , daß der Leser
yob der Summe ihrer Reise-Erfahrungen eine
möglichst höbe Meinung bekommt (Tgl. z. B,
Strabo II. p. 117). Man mud solche Stellen
stets cum grano salis verstehen, nie mehr hinein-
legen, als in ihnen bestimmt ausgesprochen ist.
Wer sich von dieser Ueberzeugung leiten läßt,
wird die auch von Bunbury aufgetischte fable
convenue von Polybius' Forschungs-Reisen auf
Hauuibals Marschroute ins Schattenreich ver-
weisen. Sie ist absolut unverträglich mit den
unverantwortlich falschen Vorstellungen, welche
Polybius vom untren Rhonelauf und vom Ober-
lauf des Po besaß. Polybius steht in diesem
Pwkte sicher erheblich unter dem Niveau der
geographischen Kenntnisse, welche die Theil-
nehmer und Zeitgenossen des Hannibalischen
Krieges sich erworben hatten*).
Bunbury hebt ferner auch bei der Pyrenäen-
Halbinsel die ungeheure Ueberlegenheit des Po-
lybius Über die Kenntniß der Vorgänger hervor.
Gewiß mit Recht; denn Polybius war der erste
griechische Geograph, welcher die Halbinsel
selbst bereiste. Ueberraschender als die correk-
ten Nachrichten, die er bringt, sind gewichtige
Unklarheiten und Fehler, welche seinen Auf-
fassungen anhaften. Die ausführliche Beschrei-
bung Neu-Karthagos und seines Hafens (Polyb.
X. 10) bat bereits H. Droysen (Rhein. Mu-
*) Daß die gemeinsame Quelle des Polybius und Li-
ving vom untren Rhone-Lauf eine richtigere Vorstellung
besal, lehrt Liv. XXX 81. (Hannibal) profectus adversa
ripa Rhodani mediterranea Qaliias petit (also nord-
wärts!) Für Polybius war das unverständlich. Er än-
dert den Satz nach seinen Anschauungen: HI. .47, 1
nqoijyt nccQa rbv nora/ubv dno &alccrrt]g wg inl tyv &u,
XoHwptyof tip noQHav ofc ets *h¥ peitoyatoy trj s
334 ^ Gott. gel. Arn. 1881. Stück 11.
seum XXX. 62—67) auf Grund specieller Kflsten-
Earten untersucht und gefunden, daß Polybius
grobe, nicht einmal unter einander consequent
übereinstimmende Orientierungs-Fehler begangen
und auch wesentliche Züge, die dem Terrain-
Bild in Wirklichkeit gar nicht eigen sind, in
seine Schilderung hineingetragen hat. Man wird
über diese Confusion im Stadtplan Neu-Kartba-
gos milder urtheilen, wenn man einen bei Po-
lybius auftretenden, weit ärgeren Irrthum be-
merkt, auf welchen mein verstorbner Lehrer
Carl Neumann mich gelegentlich aufmerksam
machte. So unglaublich es klingt, ist es doch
unzweifelhaft, daß Polybius sich im Unklaren
darüber befunden hat, daß Sagunt südlich vom
Ebro liege. Seine Quellen sind in diesem
Punkte durchaus sicher und deutlich gewesen.
Das sieht man aus den Stellen, an denen Po-
lybius einfach das in ihnen gefundene reprodu-
ciert, ohne eigene Reflexion einzumischen: III.
6, 1. 14, 9. 15, 5. 17, 2. 97, 5. 6. Merkwürdi-
ger Weise stehen zu der hier niedergelegten
correcten Anschauung die Stellen in unleugba-
rem Gegensatz, wo Polybius, ohne sich an den
leitenden Faden eines wohl orientierten Quellen-
schriftstellers zu halten, eine selbständige Be-
merkung macht, die ein Streiflicht auf seine
persönliche Vorstellung von Sagunts Lage wirft.
IV. 28, 1 benutzt er zur chronologischen Fixie-
rung von Ereignissen in Griechenland das Da-
tum der Belagerung Sagunts. tavta ds iitQav-
uto xazä tovg ctviovg xaiQoig xa#' ovg 'Avvi-
ßag, yeyovcog r^dy xvQiog twv ivtög 7/?f-
qoq notafjbov ndptatv, inoteZw tyv ÖQptjy
inl tify Zaxav&alwv nokiv. Wenn hier schon
eine exacte Interpretation zu dem Resultat ge-
langt, daß Sagunt in des Schriftstellers An-
Buiibury, History of ancient geography. 335
flchamiDg auf dem linken Ebfo-Ufer lag, tritt
dieses selbe Ergebniß noch schlagender und
vollkommen unwiderleglich hervor bei einer
aufmerksamen Lecture von III. 27 — 30. Inner-
halb dieser 3 Capitel wird drei Mal (27, 9.
29, 3. 30, 3) sehr nachdrücklich der Inhalt des
Vertrags zwischen Hasdrubal und den Römern
dahin angegeben, daß die Karthager sich ver-
pflichteten, den Ebro nicht mit Heeresmacht zu
überschreiten. Eine besondere Bestimmung
zum Schutze Sagunts, wie sie die Quellen nach-
weislich (Livius XXI. 2) bezeugten, hat nach
Polybius' Meinung dieser Vertrag Hasdrubals
nicht enthalten. Das vergegenwärtige man
sich bei der Lecture des Abschnitts, in welchem
Living die Rechtsfrage zwischen Karthago und
Rom discutiert, speciell die Frage, ob die Kar-
thager mit dem Angriff auf Sagunt einen Ver-
. trags-Bruch begangen und einen casus belli ge-
schaffen hätten. Polybius bejaht diese Frage
aus zwei Gründen: 1) weil der Friedens- Vertrag
am Ende des ersten punischen Krieges die Kar-
thager verpflichtet habe, Roms Bundesgenossen,
zu denen Sagunt schon vor 220 gehörte, unge-
kränkt zu lassen, 2) weil die Karthager durch
den Kriegszug wider Sagunt die im Has-
drubalischen Vertrage übernommene Verpflich-
tung verletzten, den Ebro mit Heeres-
macht nicht zu überschreiten. Ichsetze
den griechischen Text der merkwürdigen Stelle
hierher : ei piv ug ttjp Zaxavfrtjg dniileuxv ahiav
itotjOt toi nolifioVj ovyXMQiitiov ädixcug i&vtj-
vo%ivai töv noXepov KctQXfjSoyiovg xatd ts tag
hl tov Aovtaxiov avv&ijxag, xaF äg £<fc* tolg
ixaiiQtov avppaxoig t^v v<py kxatiotov vnciQXMV
ätupdistav, xatd te tag iny *Atsdoovßov, xa&y äg
0vx Sdu diaßalvMV toy "IßijQa notapov inl iro-
336 Gott. gel. An*. 1*81. Stück 11,
XiiMp KccQXfjdoviovc. Polybius spricht hier un-
zweifelhaft in einer eigenen Reflexion, welche
uns einen Einblick in seine Anschauungen ge-
stattet, die Ueberzengung aus, daß die Kartha-
ger, um Sagunt anzugreifen, über den Ebro
gehen mußten, daß also Sagunt nördlich von
diesem Strome lag. Das ist freilich ein krasser
Fall von Unklarheit und Gedankenlosigkeit 'ge-
genüber dem, was Polybius an andren Stellen
desselben Buchs aus seinen Quellen über Sa-
gunts Lage richtig abgeschrieben hat Wem bei
diesem , blunder' nicht die Augen aufgehen über
die Unklarheit der geographischen Anschauun-
gen des Polybius, dem ist nicht zu helfen!
Um die Grenzen einer Recension nicht zu
weit zu überschreiten, will ich — ohne weitere
Einzelheiten herauszugreifen — nur im Allge-
meinen noch auf eine Thatsache hinweisen,
welche die Geschichtsschreibung des Polybius
nach ihrem geographischen Werthe ausreichend
beleuchtet. Ein durch Klarheit seiner geogra-
phischen Vorstellungen ausgezeichneter Histori-
ker wird vor Allem das Ziel erreichen müssen,
über den Schauplatz, auf welchem die von ihm
erzählten Ereignisse sich zugetragen, seine Le-
ser nicht im Zweifel zu lassen. Caesar ist das
— ohne daß er darnach suchte — immer gang
oder annähernd gelungen. Polybius gelingt es
auch — aber nur innerhalb Griechenlands
Grade in den Gebieten, als deren Erforscher er
paradiert, läßt er uns in den wichtigsten histo-
risch -topographischen Fragen vollständig im
Stich. Der Alpenübergang Hannibals, für den
uns zum Glück noch der aus derselben vorzüg-
lichen Quelle geflossene Bericht des lavius vor-
liegt, ist das Object einer unsterblichen Contro-
verse, der Marsch über den Apennin und die
Banbury» History of ancient geography. 337
Arno-Sümpfe desgleichen. Ueber die Topogra-
phie und somit zum Theil auch über den inne-
ren Zusammenhang der Ereignisse, die sich in
Afrika abspielten, sind wir völlig im Dunkeln.
Das gilt nicht nur von dem kurzen Feldzug des
Regulas, nicht nur vom Söldnerkriege, noch
mehr von dem Entscheidungskampfe, der den
Hannibalischen Krieg beendete. Von der Schlacht
bei Zama wissen wir — was die Oertlichkeit
angeht — thatsächlich nur soviel mit Gewißheit,
daß sie nicht in der Nähe von Zama geschlagen
ward. Wer sich getraut die Wahrheit zu sa-
gen, der bekennt, daß es mit dem geographi-
schen Verständniß des größten Kampfs um die
Herrschaft über das westliche Mittelmeerbecken
überall schlecht bestellt ist, wo wir auf Poly-
biu8 allein angewiesen sind, und daß dieses De-
ficit nicht in der Mangelhaftigkeit der Quellen
des Polybius , sondern in der Individualität die-
ses Schriftstellers begründet liegt.
Demnach kann ich mich mit der von Bun-
bnry in zu lichten Farben gehaltenen Beurthei-
lung der geographischen Leistungen des Poly-
bius schlechterdings nicht einverstanden erklä-
ren. Sonst wird man meist in die Lage kom-
men, Bunbury's ruhigem, wohl erwogenem Ur-
theil beizustimmen. Studierende, welche auf
dem Gebiete der alten Geographie sich zu orien-
tieren wünschen, finden in ihm einen meist ver-
läßlichen, im Ganzen angenehmen , wenn auch
etwas zu gesprächigen Führer.
Breslau. J. Parts eh.
22
338 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
Ueber die Abstammung der Rumänen. Von
Jos. Lad. Pfc. Leipzig, Verlag von Duncker und
Humblot 1880. 228 SS. 8°.
Selten erscheinen Schriften , deren Inhalt mit
dem Titel so wenig im Einklänge steht, als es
bei der vorliegenden der Fall. Der Verf. hätte
das Richtige getroffen , wenn er seine Schrift
als einen Beitrag zur Geschichte der Verbrei-
tung der Rumänen bezeichnet haben würde.
Denn die Abstammungsfrage erörtert er nur
insoferne, als er die bezüglichen „neuen Theo-
rien" in gedrängter Ettrze dem Leser vorfahrt
und in seinen geschichtlichen Betrachtungen auf
die Besiedelung der Balkanhalbinsel durch die
Römer zurückgeht. So viel er dann auch außer-
dem über Slaven, Griechen, Magyaren, Alba-
nesen (Altillyrier) u. s. w. vorbringt, so wird
doch dadurch der Ursprung der rumänischen
Rage als einer ethnographischen Besonderheit
nicht ins Klare gesetzt, sondern es bleibt seinen
Bemerkungen nach unentschieden, welchen
Antheil die vorgenannten Völker und die Thra-
ker daran haben. Und hierauf kommt es
doch eigentlich an, sobald die Abstammung
nachgewiesen werden soll. Selbst über den
Ausgangspunkt der Verbreitung der
Rumänen hat der Verf. sich kein bestimmtes
Urtheil gebildet, sondern er spricht darüber,
nachdem er eine Menge negativer Momente des
Langen und Breiten erörtert hat, S. 198 ff. seine
„bescheidene Meinung" dahin aus, daß die Vor-
eltern der heutigen Rumänen aus dem alten
Dacien am linken Ufer der Donau
durch einen furchtbaren Verheerungssturm, der
sie hinderte, über die Donau zu setzen, gegen
Westen gedrängt wurden und daß sie
auf dieser ihrer Flucht theils im Nord-
Pfö, Abstammung der Rumänen. 339
westen, t hei 1s im Süden von Sieben*
bürgen, so wie in den anstoßenden Ge-
birgen Ungarns ein Versteck fanden, wo
die folgenden Wogen der Völkerwanderung sie
anbehelliget ließen. Von hier ans breiteten sie
sich dann unter günstigeren Verhältnissen wie-
der gegen Osten ans, indem sie anf dem Boden
des heutigen Fürstentums Rumänien sich nie-
derließen. In dieser Beziehung acceptiert also
der Verf. die volkstümlichen Ueberlieferungen
der Rumänen selber. Zahlreiche Spuren slawi-
scher Einwirkung auf dieselben läßt er nicht
nor gelten, sondern erklärt er auch aus lang-
wierigem Beisammenleben derselben mit slavi-
schen Völkerschaften an den Abhängen der Kar-
pathen. Er widmet gerade diesen Berührungen
einige der besten Kapitel seiner überhaupt viel
Belehrung bietenden, aus den mannigfachsten
und namentlich auch aus bisher fast unbenutz-
ten Quellen geschöpften Schrift. Nicht minder
interessant sind seine sonstigen Exkurse, die
aber nur im Verhältnisse zu dem schlecht ge-
wählten Titel als solche sich darstellen. Sie
hängen unter sich wie Theile eines systematisch
ausgedachten Ganzen zusammen, das nur nicht
identisch mit Dem ist, was der Verf. zu be-
handeln vorgiebt. Er nimmt dabei auch auf
die Zinzaren (Cuzo-Walachen) Rücksicht; aber
schließlich läßt er die Frage nach der Herkunft
dieser unbeantwortet, ja er nimmt nicht einmal
einen ernsthaften Anlauf zu positiver Feststellung
des Weges, auf welchem dieselben nach dem
Hämns-Gebirge kamen, geschweige denn, daß er
ihre Verwandtschaft mit den Rumänen am lin-
ken Donauufer zu bestimmen sich herbeiließe.
Bios die kulturellen Unterschiede zwischen bei-
den Gruppen betont er nachdrücklichst und nicht
22*
S40 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
ohne Erfolg, um daraus den Schluß zu ziehen,
daß Letztere unmöglich aus der Balkanhalbinsel
zugewandert sein können. Er sagt diesfalls S.
205: „Ob aber die Rumänen und Zinzaren eine
einheitliche nationale Körperschaft gebildet ha-
ben und vielleicht durch die Völkerwanderung
getrennt wurden, läßt sich vorläufig nicht
angeben, da es unmöglich ist, nach den eben
vorliegenden Quellen eine nach dem aureliani-
schen Dacien hinübergewanderte Dacoromani-
sche Bevölkerung sicherzustellen oder zu ver-
folgen oder eine Auswanderung von der Balkan-
halbinsel an das nördliche Donau-Ufer zu be-
weisentf. Diese Stelle ist, was die Mängel der
Schrift betrifft, in mehrfacher Hinsicht bezeich-
nend. Der Verf. spricht da von nationaler
Zusammengehörigkeit, während er offenbar an
genetischen Zusammenhang denkt oder wenig-
stens zunächst hieran hätte denken sollen. Er
verzichtet da aber auch auf die Verwerthung
einer ansehnlichen Menge von ethnographischen
Behelfen, welche sich ihm dargeboten haben
würden, wenn er in der einschlägigen französi-
schen Literatur Umschau gehalten hätte. Ihm,
der vorzugsweise das urkundliche Material
berücksichtiget und für andere Erkenntnißquel-
len überhaupt wenig Sinn zu haben scheint, ist
freilich die physiologische Beobachtung Neben-
sache. Dagegen bewährt er sich als einen For-
scher, der die Aufzeichnungen der Vorzeit für
seine Zwecke sehr gut zu verwerthen weiß.
Dabei kommt ihm die Kenntniß der verschiede-
nen slavischen Schriftsprachen, die ihm russi-
sche, kroatische, czechische und bulgarische
Texte zu benutzen ermöglicht, nicht wenig zu
Statten. Er ist ferner in der historischen Lite-
ratur Ungarns, insbesondere was Urkundenwerke
Pfc, Abstammung der Rumänen. 341
betrifft, so bewandert, daß er den hiermit min-
der Vertrauten gewiß viel Nenes erzählt, was
zu weiterem Forschen anzuregen geeignet ist.
Außerdem darf sein eindringliches Studium der
byzantinischen Geschichtsquellen, die er dem
griechischen Originaltexte nach citiert, nicht
unterschätzt werden, weil er daraus manche
Anregungen schöpfte, die seinen Vorgängern
auf diesem seit Thumann vielbetretenen For-
schungsgebiete vorenthalten blieben.
1st schon der mit „Bulgaro-Vlachien" über-
schrieben e Abschnitt (S. 70—96), wodurch der
Beweis hergestellt werden soll, daß das spätere
walachische Fttrstenthum sammt dem Fogaraser
Lande in Siebenbürgen Bestandtheile des
zweiten bulgarischen Reiches waren,
- reich an Aufschlüssen, die kein künftiger Ge-
schichtschreiber wird unbeachtet lassen dürfen,
so birgt sich hinter dem unscheinbaren Titel
„Das romanische Element im alten Dacien",
welchen das III. Gapitel trägt, eine sorgfäl-
tig ausgearbeitete Monographie über
die Rumänen-Ansiedlungen im Be-
reiche der ungarischen Krone, mittelst
welcher der Nachweis geliefert werden will, daß
hier schon vor der Ankunft der Ma-
gyaren Rumänen seßhaft waren, ja selbst der
politischen Organisation hier nicht entbehrten.
Der Verf. folgert dies — und zwar, wie Ref.
meint, mit Recht — , aus der unverkennbaren
Ao8nahmsstellung, welche die Rumänen im un-
garischen Staate bis zur Neuzeit behaupteten
und die ihnen als mittelalterlichen Colonisten
nicht zu Theil geworden wäre. Denn diese
Stellung weicht von der durch das Colonisten-
recht begründeten in wesentlichen Punkten ab.
Namentlich verdient der S. 128 citierte ungari-
342 Gott. gel. Abz. 1881. Stück 11.
sehe Gesetz-Artikel Beachtung, welcher beweist,
daß bis um die Mitte des XV. Jahrhunderts
Walachen, Rutheuen und Slovaken in Ungarn
nicht nur vom s. g. lucrum Camerae frei, son-
dern auch von der allgemeinen Wehrpflicht aas-
genommen waren, wogegen sie dem Her-
kommen gemäß gewisse Kriegsdienste zu
verrichten hatten. Dieser Gesetz-Artikel regelt
keineswegs blos die Verhältnisse einzelner An-
siedlungen, sondern betrifft die genannten Na-
tionalitäten im Allgemeinen, was nur von ur-
alter Sonderberechtigung, welche die Magyaren
denselben bei Errichtung des ungarischen Staa-
tes sozusagen abfindungsweise einzuräumen sich
genöthigt sahen, herrühren kann. Es erhellt
daraus zugleich, wie alt gerade in Ungarn
das Nationalitätenrecht und wie falsch die Be-
hauptung ist: es hätte in früherer Zeit ein sol-
ches dort nicht bestanden. Geringere Beweiskraft
haben die vielen Gitate aus Urkunden, welche
der Verf. beibringt, um darzuthun, welche Ge-
rechtsame die Rumänen an verschiedenen Orten
Ungarns und Siebenbürgens vormals genossen.
Denn diese Gerechtsame können durchweg Zu-
geständnisse sein, welche mittelalterlichen Colo-
nieen gemacht wurden. Ja insoferne schwächt
der Verf. sogar, indem er sich darauf beruft
und mit emsigster Sorgfalt die urkundlichen Be-
lege dafür zusammenstellt, das Gewicht der
übrigen Argumente ab, welche er für seine Be-
hauptung : die Rumänen seien in Ungarn und
Siebenbürgen schon vor Ankunft der Magyaren
ansässig gewesen, — ins Treffen führt. Denn
die vielen mittelalterlichen Golonieen, welche er
ersichtlich macht oder auf die er zum minde-
sten indirekt hinweist, lassen beinahe keinen
Raum für ältere Ansiedlungen gleicher Nation*-
Pic, Abstammung der Rumänen. 343
lität innerhalb bestimmter Territorien übrig and
geben im Gegensatze zu der Thesis, welche der
Verf. aufstellt, zu erkennen, daß ein sehr be-
trächtlicher Theil der in jenen Ländern wohn-
haften Rumänen aus neueren Ankömm-
lingen besteht. Aber überraschend groß ist
immerhin das Material, welches der Verf. in die-
ser Hinsicht zusammentrug und in ihrer Massen-
haftigkeit machen diese detaillierten Notizen den
Eindruck, als hätten die ungarischen Rumänen
durch die Reformen der Neuzeit vor Maria
Theresia einen verhältnismäßig viel größeren
Verlust an politischer Einzelnberechtigung er-
litten, als die übrigen Nationalitäten, von den
Deutschen, deren Privilegien weit größere Be
fugnisse und Garantien enthielten, natürlich ab-
gesehen. Die Rumänen standen übrigens den
Letzteren insoferne nahe, als gerade auch sie
districtweise organisiert waren und im Se-
veriner Comitate sogar ihre besonderen Gene-
ral-Congregationen hatten, wie der Verf.
ans Pesty's in ungär. Sprache erschienener Ge-
schichte jenes Comitats nachweist (S. 152 ff.).
Anch in Siebenbürgen standen die Rumänen
einst an politischer Berechtigung hinter den
übrigen privilegierten Nationen des Landes nicht
oder nur wenig zurück. Mindestens faßt unser
Antor die im Frühjahre 1437 unter den rumä-
nischen Bauern Siebenbürgens ausgebroßhene
Revolution als einen Beweis auf, daß dieselben
ursprünglich keine Hörigen waren und in einer
anf die Stillung dieses Aufstandes bezüglichen
Urkunde vom Juli 1437 ist von einer Universi-
tär Regnicolarum tarn Hnngarorum quam Vala-
chorum die Rede (S. 168 ff.).
Daß der Verf. diese Reminiscenzen aus der
älteren Verfassungsgeschichte Ungarns scharf
344 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
betont, hat seinen Grund nicht nur in der wis-
senschaftlichen Aufgabe, die er sich gestellt
hat, sondern auch in seiner Tendenz, die ma-
gyarischen Hegemoniegelüste herabzustimmen.
Deshalb vertauscht er schon im I. Abschnitte
(S. 16) die ruhige Art seines Vortrags mit bei-
ßendem Tadel, indem er auf die Ethnographie
Ungarns von Hunfalvi Schwicker und (S. 17) auf
Schwicker's Polemik gegen Jung's Buch „Römer
und Romanen " zu sprechen kommt. Er spottet
da über das „neue Evangelium" und über die
„neue Erfindung" (Hunfalvi's) : daß die Magya-
ren von den jetzigen Bewohnern des König-
reiches Ungarn die ältesten, somit auch über die
anderen zu herrschen berufen seien. Auch spä-
terbin (so auf S. 122 u. 126) kann er diesen
seinen Unmuth nicht unterdrücken. Wir ver-
danken vielleicht ebensosehr ihm als einem wis-
senschaftlichen Motive die Ausdehnung der Un-
tersuchung über das alte Nationalitätenrecht
Ungarns auf die Slovaken und Ruthen en
(S. 131 — 144). Dabei werden an sich bekannte
Thatsachen in einer Gruppierung vorgeführt,
welche der tendenziösen Färbung ungeachtet,
die ihr eigen ist, des Werthes für den Geschicht-
schreiber nicht ganz ermangelt. Was die Ru-
thenen anbelangt, so hat Ref. in s. Schrift
„Die ungarischen Ruthenen, ihr Wohngebiet, ihr
Erwerb und ihre Geschichte" (2. Tbl. 1. Heft)
diese Verhältnisse gleichfalls besprochen, ist je-
doch zu einigermaßen abweichenden Resultaten
gelangt, so daß der Verf. der vorliegenden
Schrift wohl aus diesem Grunde es nöthig fand,
seiner Seits die nämliche Untersuchung anzu-
stellen.
Des Verf.'s Hauptinteresse concentriert sich
gegen den Schluß seiner Arbeit in der Erfor-
Pic, Abstammung der Rumänen. 345
sehnng der Besiedlungsgeschicbte der Marina»
ros (S. 146—149) und der anstoßenden Ge-
biete so wie in kirchengeschichtlichen
Erwägungen (S. 201-228), deren Zusam-
menhang mit dem Thema, das er sich wählte,
als ein naturgemäßer anerkannt werden muß.
Das Alter der rumänischen Ansiedlungen in der
Marmaros ist ein wichtiges Glied in der
Kette seiner Beweisführung und von weitgehen-
dem historischen Belange. Daher mag das von
ihm dort über die Marmaros Bemerkte hier
durch Angaben ergänzt werden, welche Ref. am
Ende der 50er Jahre aus loealgeschichtlichen
Quellen zu schöpfen in der Lage war, deren
Zugänglichkeit namentlich für deutsche Forscher
dermalen sehr in Frage steht. Nach diesen un-
ter amtlicher Autorität gepflogenen Erhebungen
giebt es in der Marmaros nur wenige Ortschaf-
ten, deren Gründung hinter das XIV. Jahrhun-
dert zurückreicht. Vielmehr sind dort die mei-
sten Dorfgemeinden entweder nach der in ihnen
fortlebenden Volksüberlieferung oder nach Ur-
kunden, die den Sachverhalt klar stellen, erst
in neuerer und neuester Zeit entstanden. Aber
zu den ältesten Ansiedlungen gehören dort die
rumänischen und wenn diese um die Mitte des
XIV. Jahrhunderts durch die Abgabe eines Thei-
les ihrer Insassen an die Moldau sich leerten,
so rückte anderer Seits alsbald Ersatz dafür
ans Gegenden nach, wo Rumänen bis dahin
noch dichter beisammenwohnten. Es erhielt sich
anch dort eine größere Anzahl rumänischer
Adelsfamilien, deren Grundbesitz ein Alter von
400 bis 500 Jahren hat, so daß im Südosten
der Marmaros alle Gulturspuren auf rumänische
Einwirkung hinweisen, beziehungsweise Aus-
flüsse solcher sind. Nirgends in Ungarn ver-
346 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
lautet auch so viel von eingegangenen Klöstern
und Bischofssitzen des griechisch orthodoxen Be-
kenntnisses, als in diesem abgelegensten Winkel
des Königreiches. Der Verf. der vorliegenden
Schrift verräth unter diesen Umständen großen
Scharfblick, indem er dieselbe mit Betrachtungen
ttber die Verbreitung orientalischen Kirchen-
wesens in Ungarn schließt. Ueber die Einzel-
heiten, die er darein veriicht, wollen wir hier
nicht mit ihm ins Gericht gehen. Er hat jeden-
falls auf dem engen Räume weniger Blätter da
mehr gesagt, als vor ihm die meisten Histori-
ker, welche dieses Thema nicht ex professo be-
handelten.
Die Eingangskapitel seiner Schrift haben,
von der literarhistorischen Einleitung abge-
sehen, ein vorwiegend antiquarisches Gepräge,
Sie schließen sich an die bezüglichen Arbeiten
eines Landsmannes des Verfassers, des Gzechen
Gonstantin Jireiek, an, dem er sichtlich nach-
strebt. Die Wissenschaft verdankt diesem Wett-
eifer Aufklärungen über die älteste Geschichte
der Balkanhalbinsel, welche eine feste Grund-
lage für weitere Forschungen abgeben. Doch
mit der Frage nach der Abstammung der
Rumänen haben sie, wie überhaupt die meisten
Studienresultate des Verfassers, nur insoferne zu
schaffen, als sie den älteren Anschauungen da-
von mehr und mehr den Buden entziehen, auf
welchem diese wurzeln. Der Verf. leugnet da
mit größter Bestimmtheit und gestützt auf Ar-
gumente, die alle Beachtung verdienen, daß auf
der Balkaninsel das romanische Element die
Stürme der Völkerwanderung derart über-
dauerte, wie es der Menschenzahl und der po-
litischen Organisation nach hätte geschehen
müssen, wenn von hier aus rumänische Staats-
wesen hätten begründet werden können (S. 67).
Pfc, Abstammung der Rumänen. 347
Dieses negative Ergebniß einer Seite und die
positiven Wahrnehmungen über die Verbreitung
und Stellung der Rumänen im Karpatbengebiete
anderer Seite führen den Verfasser zu der oben
bemerkten Erkenntniß. Die Schrift ist in flie-
ßendem und fast durchweg correctem Deutsch
geschrieben, obschon der Verf. mit einzelnen
Worten (wie z. B. S. 35 „zeigt" statt „zeugt41,
S. 144 „Umstand" st. „Zustand«) zu erkennen
giebt, daß diese Sprache nicht seine Mutter-
sprache ist, womit dann freilich die ziemlich
emphatische Kundgebung slavischen Nationalbe-
wußtseins auf S. 47 und daß der Verf. sich im
Vorworte selber als eine „slavische Stimme u be-
zeichnet, die den Beruf hat, far die slavische
Vergangenheit Ungarns und der Balkanhalbinsel
einzutreten, — vollkommen übereinstimmt.
Ein paar Versehen, wie z. B. die ungleiche
Datierung der Szegediner Landtagsartikel auf
S. 128 u. 190, sind von ganz untergeordneter
Bedeutung. Die Ausstattung der Schrift aber
ist hervorragend schön.
Graz. H. I. Bidermann.
Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilo-
sophie. Von J. J, Bau mann. Leipzig, Hirzel 1879.
445 SS. 8°.
Dies Buch nimmt in der Moral zum Aus-
gangspunkt Untersuchungen über den Willen.
Es vertritt hierin die Ansicht, daß der Wille,
d. h. die geistigen Zustände, wo auf Vorstellung
und Werthechätzung innere oder zugleich auch
äußere Bethätigung folgt, sich aus ursprünglich
unwillkürlichen Bethätigungen erst herausbildet.
Für die Begründung dieser Ansicht muß ich auf
das Buch selbst verweisen , ich rechne zu dieser
Begründung mit, daß von dieser Willensauffas-
348 Gott. gel. Anz. 1881. Stück IL
sang aus sieb Detailgesetze der Willensbildung
aufstellen lassen, und daß bei ihr die Rätsel-
haftigkeiten verschwinden, die gerade in der
Lehre vom Willen -soviel ihr Wesen getrieben
haben. Man kann gegen diese Ansieht nicht
mit Recht einwenden, daß das Merkmal des
Willens, ein Streben, ein conatus zu sein, sich
mit ihr nicht vertrage; denn das Streben, der
conatus ist theils unwillkürlich (eine sehr alte
Lehre), theils ist es die auf Vorstellung und
Werthschätzung eintretende Bethätigung selber,
sofern sie allmählich sich hervorthut oder nur
schwach ist. Auch, daß man die allgemeine
Form des Wollens von dem besonderen Inhalt
unterscheiden müsse und darin ein Bedenken
gegen obige Fassung des Willens liege, halte
ich für keinen triftigen Einwand, weil ich eine
allgemeine Form des Willens nur als eine Ab-
straction aus den einzelnen Willensregungen an-
erkenne; diese einzelnen Willensregungen sind
die reellen Kräfte, durch analoge Ausdehnung in
Folge der Willensbildung kann es allerdings
scheinen, als ob mindestens in gewissem Um-
fang der Wille eine Gesammtkraft sei, aber, ab-
gesehen von allgemeinen psychologischen Er-
wägungen, werden wir nur zu oft im Leben
daran erinnert, daß jeder Wille und jede will-
kürliche Handlung ein Einzelakt, wenn auch
darum kein isolierter Akt, ist, welcher stets einer
besonderen Ausbildung bedarf, wenn wir seiner
sicher sein wollen.
Der Punkt, welcher für die Ordnung der
Untersuchungen maßgebend war, liegt in der
Ueberzeugung, daß, so sehr die Seele ein gei-
stiges Wesen ist, doch im gegenwärtigen Leben
nicht nur ihre Bethätigung im Allgemeinen, son-
dern auch Inhalt und Richtung derselben von
Baumann, Handbuch der Moral. 349
dem innigsten Zusammenhang mit einem Orga-
nismus bedingt sind, daß also nur die physiolo-
gisch-psychologische Auffassung des Menschen
zusammen und in möglichstem Verein die wahre
Auffassung desselben ist. Dadurch fällt nicht
nur die Trennung in ein niederes sinnliches und
ein höheres geistiges Leben, sondern es bietet
sich auch sofort als ein überwiegender Unter-
schied der Menschen dar, ob in ihnen die vega-
tative Lebensrichtung überwiegt (materieller Er-
werb und Genuß) oder das Muskelleben oder
das Nervenleben, jedes immer in physiologisch-
psychologischem Sinne zusammen verstanden,
ein Unterschied, der nicht nur den inhaltlichen
Gegensätzen der bisherigen Moralsysteme zu
Grunde liegt, sondern auch, wenngleich in etwas
mangelhafter Fassung ^- man bezog das Ueber-
wiegen des Muskelsystems blos auf kriegerische
Betätigung — im Mittelalter und in Plato sich
aufweisen läßt. In all diese überwiegenden Le-
bensrichtungen zieht sich dann modificierend das
sexuelle System hinein. Für die Anordnung des
Buches ist diese Auffassung insofern maßgebend
gewesen, als nach den Abschnitten „inhaltliche
Grundlegung der Moralu und „die drei Cardi-
naltugenden" die physiologisch-psychologischen
Hauptrichtungen mit Bezug auf das gefundene
Moralprincip ausführlich abgehandelt werden;
was dabei nicht zur Behandlung kam, weil es
sich mehr oder minder auf alle Hauptlebens-
richtungen zugleich bezieht, ist in einem Ab-
schnitt „ergänzende Gesammtbetrachtungen" hin-
zugefügt. — Von den grundlegenden Untersu-
chungen über den Willen und seine mögliche
Ausbildung schreibt es sich her, daß die sittli-
chen Kräfte und ihre Entwicklung überall einen
Hauptpunkt der Erörterungen auch im Detail
bilden, weshalb nicht blos die pädagogischen
350 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
Grundfragen hierüber berührt werden, sondern
noch mehr die Selbsterziehung der Erwachse-
nen und deren mögliche Einwirkungen auf ein-
ander beständig zur Sprache kommen. Das ver-
tretene Moralprincip selbst kann man als eine
Verschmelzung dessen, was man gewöhnlich
Eudämonismus nennt (Wertschätzung des sinn-
lichen Lebens), und der sog. Cultursysteme mit
dem Prinzip der Liebe, aber unter maßgebender
Bedeutung der letzteren, ansehen, eine Ver-
schmelzung, die wiederum durch die Lehre vom
Willen und die physiologisch-psychologische Auf-
fassung des Menschen nothwendig wurde. Aus
der ganzen Auffassung endlich ergab sich die
Immanenz der Moral, d. h. daß das moralische
Leben seine Wurzeln und seine Aufgaben in der
uns gegebenen Welt hat) ohne daß darum Hoff-
nungen und Ausblicke über die Erde hinaus
ausgeschlossen sind.
Den „Abriß der Rechtsphilosophie" hätte ich
der Moral selbst einverleiben können, denn auf
das Bedürfniß einer solchen wird man mitten in
den moralischen Untersuchungen geführt, aber
sie an der betreffenden Stelle einzuschalten
würde eine störende Unterbrechung gewesen
sein. Der eigenthümliche Standpunkt dieser
Rechtsphilosophie ist durch folgende Erwägun-
gen bestimmt Die bloße logische Abstraction
auf Grund der bezüglichen empirischen Erschei-
nungen ergiebt leicht den Formalbegriff des
Rechtes, daß Recht die Lebensordnung einer
größeren oder kleineren Gemeinschaft ist, deren
Innehaltung von den Mitgliedern mit Nachdruck
gefordert wird. Dieselbe Abstraction kann aber
auch zeigen, daß inhaltlich das Recht diffe-
riert, sofern die Lebensauffassungen differieren,
und zwar differieren diese keineswegs blos von
Zeitalter zu Zeitalter und Volk zu Volk, sondern
Baumami, Handbuch der Moral. 851
auch bei demselben Volk und in derselben Zeit
sind mehr oder minder verschiedene Lebensauf-
fassungen meist vertreten gewesen. Man denke
nur au die verschiedenen Religionen bei uns,
welche stets auch mit oft großen Unterschieden
in der Moral verbunden sind*), oder man denke
an die mannicbfachen philosophischen Schulen
der Alten, welche immer auch verschiedene Le-
bensrichtungen in der Praxis darstellten. Ge-
wöhnlich machen es unsere Rechtsphilosophen
und Moralisten so, daß sie ihre eigene Lebens-
auffassung als die allein richtige erweisen und
die abweichenden Ansichten ausdrücklich wider-
legen und dann thun, als wären diese letzteren
eben damit ein für alle Mal aus der Welt ge-
schafft. Geholfen hat diese Manier bis jetzt
nichts, die Mannichfaltigkeit der Lebensansichten
ist fort und fort wiedergekehrt. Der Grund die-
ser Erscheinung läßt sich nach der von mir ver-
tretenen Ansicht vom Willen und der physiolo-
gisch-psychologischen Natur des Menschen wohl
einsehen: die Elemente des Willens und der
Lebensrichtungen liegen tiefer als die wissen-
schaftliche Reflexion, mit dieser allein läßt sich
daher dieser Verschiedenheit nicht beikommen;
noch schlimmer aber ist es zu dem Auskunfts-
mittel zu greifen, wozu Plato und Aristoteles
nnd Augustin (compelle intrare) im Gefühl der
Unzulänglichkeit blos theoretischen Moralisierens
gegriffen haben, nämlich zum Zwang, sei er
staatlich oder staatlich-kirchlich gewesen. Die
verschiedenen Lebensauffassungen müssen mit
mehr als blos theoretischen Mitteln, aber ohne
Zwang mit einander um den Sieg in der Menschheit in
friedlicher Weise ringen. Es ist also von der vertretenen
moralischen Ueberzeugung selbst gefordert, daß die Le-
bensordnung der Gemeinschaft, welche schlechterdings un-
*) S. meinen Aufsatz „Die klassische Moral des Ka-
tholicismus", Philosophische Monatshefte 1879, Vm.
352 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 11.
erläßlich ist zu dem von allen Ansichten gewollten Zu-
sammenleben, doch so gehalten sei, daß sie fur religiös-
sittliche Mannichfaltigkeit und Mannichfaltigkeit der Le-
bensansichten überhaupt principiell und nicht blos durch
nachträgliche halbe Zugeständnisse Raum lasse. So er-
gab sich der (inhaltliche) Begriff vom Recht als derjeni-
gen Einrichtungen, welche das freie Zusammenleben der
Menschen unter einander ermöglichen und nothwendig
sind, damit es sich entfalten möge, oder als des Inbe-
griffs der Forderungen von Mensch zu Mensch, welche
für einen auf Freiheit Aller gegründeten Verkehr uner-
läßlich sind, eine Definition, deren ganzer Sinn sich na-
türlich erst in den Ausführungen lebendig erweist. Man
braucht deshalb das Recht nicht von aller Moral zu tren-
nen, wie manche gethan haben, es kann und wird stets
in einer Gesammtlebensauffassung wurzeln, aber es darf
nicht verlangt werden, daß diese bei jedem Menschen die
gleiche sei. Auch nicht für blos provisorisch würde ich
jenen Rechtsbegriff halten, etwa bis alle zu derselben
Lebensauffassung gelangt sind, sondern selbst wo das ein-
mal der Fall wäre, würde um der individuellen Freiheit
willen doch jener Rechtsbegriff festzuhalten sein. Wenn
ich von diesem Rechtsbegriff gesagt habe, daß er der
Tendenz nach mit der kantischen Erklärung überein-
komme, so ist natürlich nur gemeint gewesen, daß auch
Kant die Absicht gehabt hat, trotz gemeinsamer Forde-
rungen von Mensch zu Mensch große Gebiete des Lebens
der individuellen Freiheit und deren etwaigen besonderen
Vereinigungen innerhalb der Rechtsgesetze offen zu lassen,
der Ausführung und ganzen Methode nach bleibt deshalb
meine Darstellung durchaus von der kantischen verschie-
den. Man könnte vielleicht meinen, eine solche Auffas-
sung sei künstlich; aber künstlich im tadelnden Sinn ist
nur, was mehr Umstände macht, als die Natur der Sache
erfordert, diese ist aber selbst hier sehr compliciert. Der
gewonnene Rechtsbegriff ist außerdem fruchtbar: das
Recht und seine vollkommene Realisation im Staate ge-
ben dem Menschen nach allen Seiten seines Lebens Schutz
und Förderung, aber mit der Vertheilung, bei der allein
individuelle Freiheit gedeihen kann, daß die einen Seiten
des Lebens durch Recht und Staat mehr blos geschützt,
die anderen zugleich mehr gefördert werden.
Oktober 1880. Baumann.
Für die Redaction verantwortlich : E. Behntoch, Director d. Gott. gel. Ans.
Verlag der DüUrich'scfon YerkqB- Buckhandhmg.
f>mck der DitUrich'schm Univ.- Buchdrucktrei ( W. F)r. Kasafam).
363
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsieht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 12.13. 23. u. 30. März 1881.
Inhalt : F. Overbeds, Zur Geschichte des Kanons. Yon R. A. IAp-
sm. — P. Weler, System der altsynagogalen palästinischen Theo-
logie, herauBge?. v. F. Delitzsch nnd 0. Schnedermann. Von C. Siegfried.
- W. D. Whitney, Indische Grammatik, Übers, y. H. Zimmer. Yon
B. Ddbrück. — M. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbach nnd
1. Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Ton K. Bartsch,
— F. Franciss, Der deutsche Episkopat in s. Verh<niss zu Kaiser
und Reich unter Heinrich HI. Yon & Bernheim.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. verboten s
Zur Geschichte des Kanons. Zwei Abhand-
lungen von Franz Overbeck. Chemnitz , E.
Schmeitzner 1880. 142 Seit. 8°.
Der geehrte Verf., früher Professor in Jena,
widmet die unter vorstehendem Titel zusammen-
gefaßten Abhandlungen dem ehrwürdigen Nestor
: protestantischer Wissenschaft, Karl Hase,
zu seinem fünfzigjährigen Jenenser Professor-
Jubiläum. Die erste Abhandlung ist überschrie-
ben „Die Tradition der alten Kirche über den
Hebräerbrief", die zweite „der neutestamentliche
Kanon und das muratorische Fragment". Bei-
den sind die bekannten Vorzüge der historisch-
kritischen Arbeiten Over becks, allseitige Be-
herrschung des gelehrten Stoffs, eindringende
Schärfe der Forschung und Präcision des Aus-
dracks in hervorragendem Maße eigen. Die
Untersuchung über den Hebräerbrief sucht zu-
nächst „die muthmaßliche Vorgeschichte dessel-
23
354 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
ben" zu ergründen. Der Verf. gebt dabei von
einer doppelten Voraussetzung ans: die eine ist
die allgemeine, in der zweiten Abhandlang nä-
her begründete, daß die Aufnahme einer Schrift
in den Kanon gleichbedeutend sei mit der An-
erkennung apostolischer Verfasserschaft , daß
man also keine anonyme Schrift, und ebenso-
wenig, eine von den Sammlern des Kanon für
zweifelhaft geachtete kanonisiert habe. Dies an-
gewendet auf den Hebräerbrief, so drückt seine
Aufnahme in den Kanon das Urtheil aus, daß
er wirklich von Paulus herrühre. Seine Stellung
am Ende der Sammlung paulinischer Briefe be-
zeichnet keinen Zweifel an seinem Ursprung, da
vielmehr die Aufnahme in den Kanon alle der-
artige Zweifel niederschlug, sondern nur die Er-
innerung daran, daß er der schon bestehenden
Sammlung nachträglich hinzugefügt worden war.
Die zweite speciell auf den Hebräerbrief bezüg-
liche Voraussetzung ist diese, daß derselbe ein
wirklicher Brief an eine wirkliche Gemeinde
sei, wie zuletzt Köstlins Untersuchung festgestellt
habe. Von diesen Voraussetzungen aus kommt
der Verf. zunächst zu dem Ergebnisse, daß das
Fehlen des Eingangsgrußes nicht ursprünglich
sein könne, einfach darum, weil kein wirklicher
Brief so anfangen könne. Aber auch die Ueber-
schrift nQÖg 'EßQctiovg, welche so wie sie laute
nur palästinensische Juden bezeichnen könne
und von den Sammlern des Kanon auch nur in
diesem Sinne gemeint sei, könne auf keinen
Fall richtig sein und sei wahrscheinlich ein ab-
sichtlicher Zusatz, welcher die wahre Bestimmung
des Briefes verhülle, wobei der Verf. übrigens
die Möglichkeit offen läßt, daß der Brief ur-
sprünglich an den jüdischen Theil einer christ-
lichen Ortsgemeinde oder Provinzialkirche ge-
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 365
nebtet war. Bei der Aufnahme in den Kanon
sei also Anfang und Eingangsgruß gestrichen,
und die neue Ueberschrift ngdg ^Eßgaiovg vorge-
setzt worden. Zugleich aber hätten die Samm-
ler des Kanon dem mit 13, 21 abgeschlossenen
Brief den Schluß 13, 22-25 hinzugefügt, wel-
cher an den Paulasschüler Timotheus und an
die römische Gefangenschaft des Paulus an-
knüpfe, offenbar in der Absicht, den Brief als
einen paulinischen erscheinen zu lassen. Gegen
die Ursprttnglichkeit des Schlusses macht 0 ver-
beck neben der Zusammenhangslosigkeit von
Vs 22 (denn in der Kürze des Briefes liege
doch kein Grund das darin Gesagte zu beher-
zigen!) namentlich die Thatsache geltend, daß
im Hebräerbriefe sonst nirgends das uns be-
kannte apostolische Zeitalter anklinge; derselbe
gehöre vielmehr einem Bereiche an, über den die
Tradition sonst verloren ist. Von den beiden
an sich offenstehenden Möglichkeiten, daß die
Kaiionisation des Briefes ein vorhandenes Dun-
kel über seinen Ursprung gewaltsam beseitigt,
oder aber eine ursprüngliche Kunde durch eine
künstliche Tradition ersetzt habe, entscheidet
sich Overbeck für die zweite Alternative. Wäh-
rend nun das Abendland, in welchem uns die
erste Bekanntschaft mit dem Briefe schon gegen
Ende des ersten Jahrhunderts begegnet (im Ko-
rintherbriefe des römischen Clemens), anfänglich
die paulinische Verfasserschaft des Briefes be-
stritt und folgerichtig seine Aufnahme in den
Kanon ablehnte, erfolgte seine Kaiionisation im
Morgenlande durch gewaltsame Unterdrückung
des auch hier anfangs sich geltend machenden
Widerspruchs, welcher sich übrigens nicht auf
doetrinelle Bedenken stützte, sondern lediglich
gegen die angebliche paulinische Abkunft rieh-
23*
356 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
tete und außer seinem Anfang namentlich stili-
stische Bedenken geltend machte. Zur Zeit des
Clemens Alexandrinus und des Origenes war
diese Gegnerschaft noch nicht verstummt: doch
war dem Clemens ebenso wie dem „Presbyter",
auf dessen Autorität er sich beruft, der Brief
bereits als Paulusbrief in der gegenwärtigen
Form tradiert. Mit den Zweifeln fand Clemens
durch die Annahme sich ab, Paulus habe den
Brief hebräisch verfaßt, der griechische Text
aber sei eine von Lukas veranstaltete Ueber-
setzung. Origenes, der die auch im Orient noch
immer nicht allgemeine Anerkennung seiner
paulinischen Abkunft durch die Ueberlieferung
der dqxaXoi ävÖQsg zu stützen sucht, läßt die
Frage nach einer hebräischen Urschrift als be-
deutungslos fallen, scheidet aber zwischen dem
paulinischen Oedankengehalt und der unpaulini-
nischen Form: letztere werde von den Einen
dem Lukas, von den Andern dem Clemens (Ro-
manus) zugeschrieben, während Origenes selbst
sich hierüber jedes Urtheils enthält Eusebios
ist von der paulinischen Abkunft überzeugt,
wenn er aueh gelegentlich „über seine Gelehr-
samkeit stolpert"; der letzte Nachklang der al-
ten Zweifel ist die Bestreitung durch die Aria-
ner, welche aber der Befestigung der herrschen-
den Tradition nur förderlich sein konnte. Die
Geschichte der abendländischen Tradition zer-
fällt nach Overbeck in drei Perioden: die Pe-
riode des ältesten Streites zwischen Abendland
und Morgenland, die Periode der Ignorierung
des Briefes im Abendlande und die Periode sei-
ner Aufnahme auch in den abendländischen Ka-
non. Für die erste Periode, welche Overbeck
bis zur Wende des 2. und 3. Jahrh. erstreckt,
gewinnt er folgende Ergebnisse: Der Wider-
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 357
sprach gegen den Brief beruhte auch im Abend-
lande ursprünglich nicht auf dogmatischen
Bedenken, sondern auf Bestreitung seiner apo-
stolischen Herkunft. Die römische Kirche, bei
welcher uns die erste Spur einer Bekanntschaft
mit dem Briefe begegnet, wußte über seinen Ur-
sprung mehr als andre, eine Tbatsache, welche
auch Overbeck durch die ursprüngliche Be-
stimmung nach Rom aufzuhellen geneigt ist, für
welche Annahme manche, wenn auch nicht eben
starke Indicien sprechen. Irenäus und Hippolyt
kennen den Brief, bestreiten aber seine paulini-
sehe Abkunft und haben ihn nicht in ihrem Ka-
non; Cajus verwirft ihn im Streite mit Proklus;
Tertullian schreibt ihn (de pudicitia 20) aus-
drücklich dem Barnabas zu, und hat ihn trotz
des Ansehns, das er in den Gemeinden genoß,
nicht im Kanon. In dieser allerdings ganz iso-
liert stehenden Angabe des Tertullian ist Over-
beck sehr geneigt, die ursprüngliche Tradition
der römischen Kirche über den Hebräerbrief
wiederzuerkennen, da seine frühere Meinung, die
fiarnabashypothese sei das abendländische Sei-
tenstück zur orientalischen Paulustradition, an
der Thatsache scheitere, daß die dann zu sup-
ponierende Tendenz dem Briefe zu kanonischem
Ansehen zu verhelfen ja, wie das Beispiel Ter-
tnllians zeige, ihren Zweck verfehlt habe. Ge-
gen Barnabas spreche nichts (9, 4 lasse sich
„kaumtf, 7, 27 „nicht mehru dagegen anfüh-
ren) ; jedenfalls sei die Barnabashypothese „die
einzige des Anhörens werthe". Der zwei-
ten Periode weist Overbeck namentlich auch das
nroratoriscbe Fragment zu, welches nach ihm
wahrscheinlich erst aus der ersten Hälfte des 3.
Jahrh. stammt. Da nämlich die Frage nach der
Kanonicität des Hebräerbriefs so früh ins Abend-
358 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 12. 13.
land gedrungen sei, als der Brief überhaupt im
Kanon erscheine, an einen eignen völlig selbstän-
digen Epistelkanon des Abendlandes aber nicht
gedacht werden könne, so weise das völlige
Schweigen des Fragments über den Brief deut-
lich in die zweite Periode : denn die Zeit, in
welcher etwa die paulinischen Briefe ohne den
Hebräerbrief kanonisiert waren, liege ganz im
Dunkeln und sei jedenfalls für das Fragment
viel zu früh. Als weitere Zeugnisse für die
zweite Periode macht Overbeck außer Cyprian
und Victor von Pettau geltend die systematische
Gliederung der paulinischen Briefe in 9 Schrei-
ben an 7 Gemeinden und 4 Privatbriefe, welche
für den Hebräerbrief keinen Raum lasse, sowie
seine völlige Ignorierung in den novatianischen
Streitigkeiten des Abendlandes. Obwohl es nun
neben dem eigentlichen Kanon auch einen „Sei-
tenkanon" gab, so habe der Hebräerbrief doch
auch in letzterem keinen Baum gefunden, denn
er füge sich in keine der beiden Classen ein,
aus denen jener bestand. Dagegen soll nun ge-
rade jene völlige Ignorierung des Hebräerbriefs
die Möglichkeit geboten haben, ihn in der drit-
ten Periode (etwa seit 350) auch in den abend-
ländischen Kanon aufzunehmen: man wußte
überhaupt nichts mehr von ihm; daher stand
das ursprüngliche Hinderniß seiner Aufnahme
nicht mehr im Wege. Aus dem interessanten
Zeugenverhör ist hier namentlich hervorzuheben,
daß Hilarius, Ambrosias, Bufinus den Brief unbe-
denklich als paulinisch brauchen. Dieselbe Stel-
lung soll nach Overbeck Hieronymus einnehmen,
obwohl er der ursprünglichen Differenz gedenke ;
dagegen lasse Augustin die paulinische Verfas-
serschaft des Briefes offen, betone aber desto
bestimmter seine Kanonicität. Die Stelle bei
Over beck, Zur Geschichte des Kanons. 359
Philaster haer. 89 betrachtet Overbeck, weil aus
Hieronymus (de vir. illustr. 5) geflossen und in
Widerspruch mit der haer. 88 festgehaltenen
Zahl von 13 paulinischen Briefen, als interpo-
liert, übrigens nicht ohne die Andeutung eines
— nicht weiter begründeten — Zweifels an der
jetzt geltenden Zeitbestimmung der haeresiologi-
Bchen Schrift Philasters.
Bei der strengen Geschlossenheit der Over-
beckschen Untersuchung erwies sich schon um
derselben wirklich gerecht zu werden vorstehende
gedrängte Uebersicht erforderlich. Manches was
Air sich genommen bedenklich erscheinen mag,
gewinnt seinen Halt erst in seinem strengen Zu-
sammenhang mit dem Ganzen dieser methodisch
musterhaft durchgeführten Abhandlung. Dies
gilt z. B. auch von der auf den ersten Blick
wenig empfehlenden Annahme, daß der Schluß
des Briefes spätere Zuthat sei. Wer diesen Schluß,
übereinstimmend mit der kirchlichen Tradition
seit der Kanonisierung des Briefes, nur aus der
Lebensgeschichte des Paulus zu deuten weiß,
und wer mit dem Verfasser andrerseits darin
übereinstimmt, daß der Brief ein wirklicher,
einem uns sonst unbekannten Bereiche des aposto-
lischen Zeitalters, insbesondre nicht dem pauli-
nischen Kreise angehöriger Brief sei — der wird
mit logischem Zwange zu der Annahme des
Verfassers getrieben. Von diesen beiden Prä-
missen halte ich nun die erste für unabweisbar,
wenn sie auch noch etwas anders als bei Over-
beck zu begründen sein wird; die zweite wird
zu modificieren sein, doch ohne daß sich da-
durch für die vorliegende Frage etwas ändert.
Die Annahme, daß der Brief nach 13, 23 u. 24
aus der römischen Gefangenschaft des Paulus
geschrieben sein wolle, kann ich freilich nicht
theilen. Mir scheinen die Worte vielmehr um-
360 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
gekehrt vorauszusetzen, daß der (wirkliche oder
angebliche) Verfasser sich auf freiem Fuße be-
findet, also wenn Paulus gemeint ist, daß er ans
seiner Gefangenschaft wieder befreit ist und daß
die Leser dies wissen. Denn nur so erklärt
sich das otpopcu ipaq, welches an keine andre
Bedingung geknüpft ist, als an die erwartete
Ankunft des Timotheus. Dieser ist offenbar als
Gefährte des Schreibers gedacht: der letztere
benachrichtigt die Leser über die Schicksale des
Timotheus, obwohl beide Männer nicht an dem-
selben Orte befindlich sind, und meldet sein Vor-
haben, in Begleitung des Timotheus die Leser
zu besuchen, wenn anders derselbe schnell ge-
nug kommt, d. h. schnell genug der Anforde-
rung des zur Reise gerüsteten Schreibers ent-
spricht, zu ihm zu stoßen. Ein persönliches Ver-
hältniß, wie es hier zwischen dem Schreiber
und Timotheus vorausgesetzt wird, ist aber ge-
schichtlich nur für Paulus und Timotheus be-
zeugt. Die Brüder dno *ItaXUxq können, wie
auch Overbeck geltend macht, recht wohl die
von Italien aus grüßenden sein. In diesem Falle
wäre der Brief nach den Schlußversen von Rom
aus, nicht an die Römer geschrieben. Dies alles
führt auf eine Situation wie sie 2 Tim. 4, 9. 21
vorausgesetzt wird, wo nicht gradezu auf Ab-
hängigkeit von diesem Briefe, der ja auch früh-
zeitig als Zeugniß für eine Befreiung des Pau-
lus aus der römischen Gefangenschaft verwerthet
wurde. Die Annahme eines solchen Abhängig-
keitsverhältnisses aber schließt von selbst die
Folgerung ein, daß die Schlnßverse spätere Zu
that sind, aus einer Zeit, da die Eanonicität der
Pastoralbriefe schon feststand, die des Hebräer-
briefes aber erst noch der Fixierung bedurfte.
Die nur hier erwähnte Gefangenschaft des Ti-
0 verbeck, Zur Geschichte des Kanons. 361
motheus steht natürlich der Annahme einer Ab-
hängigkeit von 2. Tim. nicht entgegen ; daß wir
uns aber von Ort nnd Umständen dieser Ge-
fangenschaft keine Vorstellung machen können,
beruht auf der Unklarheit, welche meistentheils
erdichteten Situationen eigen zu sein pflegt.
Was nun aber die zweite Voraussetzung Over-
becks betrifft, daß der Brief aus einem Kreise
lirchristlicher Lehrüberlieferung stamme, von
dem uns keine sonstige Kunde erhalten sei, so
darf es wohl als feststehend gelten, daß derselbe
nicht einfach in die Literaturproducte paulini-
scher Richtung einzuverleiben ist, also ebenso-
wenig wie von Paulus selbst von einem seiner
Schüler herrührt. Doch läßt sich die letztere
Behauptung nur unter der Einschränkung auf-
recht erhalten, daß man unter „Schülern" des
Apostels Männer versteht, deren Theologie sich
völlig in den Voraussetzungen des pauliniscben
Lehrsystems bewegt. Denn ich halte noch im-
mer die Annahme für unwiderlegt, daß die pau-
linischen Briefe und die paulinische Theologie
allerdings einer der Factoren sind, welche auf
den Anschauungskreis des Hebräerbriefs einge-
wirkt haben, möge man nun den Antheil dieses
Factors höher oder niedriger veranschlagen.
Die Rechtfertigungslehre des Briefes schließt sich
an die paulinischen Formeln an; Stellen wie
Hebr. 11, 11 flg.; 19 beruhen auf directer Ke-
miniscenz an den Römerbrief. Ebenso unver-
kennbar ist andrerseits, daß die paulinischen
Formeln in einem andern als dem acht paulini-
schen Sinne verwerthet sind, und daß die wirk-
liehen theologischen Grundlagen, auf denen die
Lehre des Briefes sich auferbaut, einerseits im
urapostolischen Ohristenthum andrerseits im jü-
dischen Alexandrinismns liegen. Ich darf mich
362 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
hierftlr der Kürze halber auf die Dissertation
von Schmiedet berufen, in welcher sich diejenige
Auffassung des Hebräerbriefs, welche auch ich
gegenüber Hilgenfeld und Pfleiderer einerseits,
gegen Weiß andrerseits immer vertreten habe, in
bündiger Weise zusammengefaßt findet. Ich kann
also den Satz, in dem Hebräerbriefe klinge nir-
gends das sonst bekannte apostolische Zeitalter
an, nur mit der durch Vorstehendes an die Hand
gegebenen Beschränkung mir aneignen. Aber
diese Differenz trägt für die Beurtheilung des
Schlusses unsres Briefes nichts aus. Will man
also nicht wieder zu der Schwegler'schen An-
nahme, daß der Brief schon von dem ursprüng-
lichen Verfasser dem Paulus untergeschoben sei
zurückkehren, so sehe ich meinerseits nicht ab,
wie man der Overbeckschen Gonsequenz hin-
sichtlich der Scblußverse aus dem Wege gehn
will. Die Schwegler'sehe Ansicht halte auch ich
für unmöglich; eher noch könnte man geneigt
sein, die Briefform für eine unserm Dokumente
erst bei der Kanonisierung aufgedrungene, nnd
letzteres in seiner ursprünglichen Gestalt für
eine allerdings an einen ganz bestimmten Hörer-
oder Leserkreis gerichtete theologische Abhand-
lung zu halten, eine Annahme, bei welcher die
Schlußverse nicht besser fahren würden, wäh-
rend sich dagegen der gegenwärtige Anfang —
freilich nicht die Ueberschrift — als ursprüng-
lich rechtfertigen ließe.
Viel bedenklicher als jene kritische Neue-
rung erscheint mir die wenn auch mit Voreicht
vorgetragene Zustimmung Overbecks zu der jetzt
vielbeliebten Barnabashypothese. Es hört sich
zwar ganz gefällig an, daß der Widerspruch der
abendländischen Kirche gegen die paulinische
Abkunft des Briefes sich am Besten aus einer
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 363
ursprünglichen besseren Kunde über seinen wirkli-
ehen Ursprung erkläre und daß eben diese Kunde
in der bekannten Stelle Tertullians noch erhalten
sei. Aber es wäre doch ein sonderbarer Zufall,
daß Tertullian als der Einzige unter allen Abend-
ländern uns diese richtige Kunde aufbewahrt hätte.
Wenn ferner nach Overbeeks treffendem Nachweise
auch im Oriente zur Zeit des alexandrinischen
Clemens und des Origenes die Gegner des pau-
linischen Ursprungs noch lange nicht verstummt
waren, so würde man diesen mit demselben
Rechte wie den abendländischen Gegnern eine
noch in ihrem Besitze befindliche bessere Kunde
über die wirkliche Herkunft des Briefes zu-
schreiben dürfen. Nun haben aber im Morgen-
lande die Einen den Brief dem Lukas, die An-
dern dem römischen Clemens beigelegt: denn
die Verwerthung dieser Namen bei dem alexan-
drinischen Clemens, beziehungsweise bei Origenes
sieht doch ganz wie ein Ausgleichungsversuch
zweier widersprechender Traditionen aus. Nach
den Worten des Origenes hat man dann aller-
dings anzunehmen, daß dieser Versuch schon äl-
ter als die genannten beiden Kirchenlehrer, und
von diesen bereits vorgefunden ist; nur um so
mehr treten aber dann die Lukas- und die Cle-
menshypothese der Barnabashypothese ebenbür-
tig zur Seite. Will man zu Gunsten der letzteren
ihre gerade für den Hebräerbrief wichtige abend-
ländische Bezeugung ins Feld führen, so spräche
für jene beiden das höhere Alterthum der vor-
auszusetzenden Zeugen. Natürlich fällt mir es
nicht ein, den Brief im Ernste dem Lukas oder
dem Clemens Romanus zuzuschreiben ; mir liegt
hier nur daran zu zeigen, wie unsicher die Stelle
Tertullians als historisches Zeugniß ist. Die Be-
denken speciell gegen die gute Kunde Tertullians
364 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
lassen sich aber noch verstärken. Overbeck
kann selbst nicht verschweigen, daß der Brief
schon bei Tertullian unter der Ueberschrift ad
Hebraeos erscheint. Diese letztere aber soll erst
von den Sammlern des Kanon herrühren, setzt
also das Vorhandensein des Briefes in seiner
gegenwärtigen bei den Orientalen bereits damals
als paulinisch recipierten Gestalt bereits voraus.
Mit welchem Rechte wird nun dem Afrikaner in
dem Einen Punkte eine noch ursprüngliche Kunde
zugeschrieben, während er doch in dem andern
sich so wenig als zuverlässiger Zeuge erweist?
Auf die von Bleek u. A. hervorgehobene Mög-
lichkeit einer Verwechselung des Hebräerbriefs
mit dem sogenannten Barnabasbriefe lege ich
hierbei wenig Gewicht. Wohl aber ließe sich
fragen, ob nicht die ganze Barnabashypothese
erst aus dem (unächten) Schlosse erwachsen sei,
indem man für den Xöyog nctQaxXytätog Hebr.
13, 22 keinen geeigneteren Verfasser glaubte
ausfindig machen zu können als den vlög naga-
xXijaecog Act. 4, 36. Mindestens böte diese An-
nahme den Vortheil, die Barnabashypothese zu
erklären, ohne daß man zu der von Overbeck
selbst früher gemnthmaßten Tendenz, den Brief
kanonisch zu machen, seine Zuflucht nehmen
müßte. Er blieb auch unter des Barnabas Na-
men außerkanonisch, wenn auch 'receptior' als
der Hirte des Hermas. Aber auch die innern
Gründe scheinen mir für die Barnabashypothese
nicht günstig zu liegen. Zwar der Anschluß des
Verfassers an die Rechtfertigungslehre des Pau-
lus, der doch in Wahrheit kein Anschluß ist,
ließe sich ungezwungen erklären. Aber schon
der ausgebildete Alexandrinismus fügt sich kaum
in das sonstige Geschichtsbild des cyprischen
Leviten. Schwerer fällt noch ins Gewicht, daß
Barnabas trotz Gal. 2, 13 die Abschaffung des
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 365
mosaischen Gesetzes auch für Israel, wenn
auch in einem anderen so doch nicht weniger
radicalen Sinne als Paulus verkündigt haben
soll. Das Gesetz gilt dem Verfasser nicht mehr,
nachdem das alttestamentliche Priesterthum ab-
geschafft ist (7, 12); mit der Inauguration des
neuen Bundes durch Christi Hohepriesterthum
hat der alte Bund seine Geltung verloren. Ist
es wahrscheinlich, daß diese Gedanken von dem-
selben Manne ausgesprochen sind, der sich von
seinem alten Missionsgefährten trennte, als die-
ser die praktischen Gonsequenzen seines Heiden-
evangeliums auch für die jüdischen Christen zu
ziehen unternahm? Auf die vielbetonte Un-
kenntniß des zweiten Tempels durch einen Le-
viten (Hebr. 9, 4) lege ich weniger Gewicht.
Aber nur darum nicht, weil ich längst ausge-
führt habe — freilich unter Hilgenfelds Wider-
sprach — , daß der Hebräerbrief gar nicht den
zweiten Tempel, sondern die Stiftshütte im Auge
hat, und gar nicht das praktische Interesse ver-
folgt, einen Rückfall der Leser in den angeb-
lich noch fortbestehenden Tempelcultus abzu-
wehren, sondern lediglich dem theoretischen
Zwecke dient, die höhere Vorzüglichkeit des
Christentbums, welches er principiell als Cultus-
institut auffaßt, dem Judenthum gegenüber zu
entwickeln. Wenn er auch — nämlich von dem
Cultus der Stiftshütte — gelegentlich im tempus
praesens redet, so liegt ihm doch nach andern
Stellen das alttestamentliche Cultusinstitut deut-
lich in der Vergangenheit. Dies alles führt
denn doch wohl über die muthmaßliche Lebens-
dauer des Barnabas hinaus und in eine Zeit
hinein, in welcher die principielle Loslösung
auch der jüdischen Christen von der Synagoge
eine vollzogene Thatsache war. Wenn hiernach
366 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
das durch die Barnabashypothese angezündete
Licht sich als Irrlicht erweist , so bleibt frei-
lich der wirkliche Ursprung des Hebräerbriefes
vollständig in Dunkel gehüllt. Es mag sein,
daß die römische Kirche anfanglich eine ge-
schichtliche Kunde darüber besaß; sicher aber
war dieselbe zu Tertullians Zeit vergessen.
Von sonstigen Punkten, die sich etwa bean-
standen ließen, hebe ich nur die S. 46 ff. ge-
gebene Ausführung über den „Seitenkanon" des
N. T. hervor. Als Elemente desselben glaubt
Overbeck folgende zwei Classen verzeichnen zu
dürfen „1) Bücher deren apostolische Herkunft
nur als weniger beglaubigt gilt (gewisse katho-
lische Briefe, die Petrusapokalypse, später die
didaxri twv änoöioXwv u. dgl. m.); 2) Bücher
anerkannt nichtapostolischen Ursprungs, deren
Anspruch auf höhere Autorität aber auf ihrer
Form beruht (Bücher prophetischer Form wie
z. ß. der Hirte des Hermas, oder katholi-
scher wie z. B. der sogenannte Brief des Bar-
nabas) tt. Ich möchte hierbei und zwar unter
Berufung auf Overbecks eigene Ausführungen
in der zweiten Abhandlung nur den einen
Punkt beanstanden, daß „die katholische Be-
stimmung" einer Schrift für ihre Aufnahme,
wenn auch nur in den „Seitenkanon", ursprüng-
lich maßgebend gewesen sein soll. Für diese
Rubrik, speciell für die Einordnung des sog.
Barnabasbriefes in sie, vermisse ich den ge-
schichtlichen Beleg. Weit näher liegt es doch
hier, bei der Vorstellung stehn zu bleiben, die
ja auch bei Tertullian in dessen Urtheil über
den Hebräerbrief durchblickt, daß „die Nähe
des Verhältnisses zu den Aposteln" oder die
Apostelschülerschaft als „formelle Autorität" gel-
tend gemacht wurde. Bleibt doch Overbeck
0 verbeck, Zur Geschichte des Kanons. 367
gelbst hinsichtlich der Legitimation des Lukas
als kanonischen Schriftstellers bei der Thatsache
8tehD, „daß er ein Apostoliker sei" (S. 138)«
Daß der Barnabasbrief häufiger als andre Do-
cumente dieser Art im „Seitenkanon" erscheint,
erklärt sich hiernach aus der ausgezeichneten,
nahezu apostelgleichen Stellung des Barnabas;
ein ähnliches Urtheil scheint aber doch hindurch-
zublicken, wenn gelegentlich der erste Clemens-
brief, die Ignatianen oder der Brief Polykarps
als Bestandteile jenes Anhangs erscheinen.
Weit kürzer kann ich mich über die zweite
Abhandlung Overbecks fassen. Dieselbe bietet
eine eingehende Beurtheilung der neuerdings
von Harnack auf Grund des muratorischen
Fragmentes aufgestellten „Thesen" über die äl-
teste Geschichte des neutestamentlichen Kanon.
Insbesondre sucht Overbeck die Harnack'sche
Behauptung zu widerlegen, daß das Princip der
Apostolicität in der Zeit von Irenäus und Ter-
tnJlian durch das der Eatholicität in zwiefacher
Beziehung beschränkt gewesen sei: durch die
Bücksicht einmal auf die katholische (allgemein
kirchliche) Bestimmung, zum Andern auf den
katholischen (der kirchlichen Tradition ent-
sprechenden) Inhalt einer Schrift. Während
Harnack demgemäß annimmt, daß einerseits
nicht alles Apostolische als solches als kanonisch
gegolten habe (z. B. nicht der Privatbrief an
Philemon) und daß andrerseits nicht alles Nicht-
apostolische aus den Kanon ausgeschlossen ge-
wesen sei, versucht Overbeck den gegentheiligen
Nachweis, daß die Apostolicität von vornherein
der einzige Maßstab für die Kanonicität einer
Schrift gewesen sei. Dies geschieht zunächst in
einem allgemeinen Abschnitt, welcher „die all-
gemeine Unwahrscheinlichkeit" der von Harnack
368 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
aufgestellten Ansicht zu zeigen sucht, nnd so-
dann in einer speciellen Bekämpfung der Har-
nack'schen Interpretation des muratorischen Frag-
ments, welches jener Ansicht als hauptsächlichste
Stütze dient. In dem ersten Abschnitte zeigt
0 verbeck, daß die Harnack'sche Vorstellung
nicht einfach genug ist, wenn sie die Geschichte
des Kanons statt unter der ausschließlichen
Herrschaft des noch ganz naiv aufgefaßten
Princips der Apostolicität mit einem Kampf
verschiedener Principien beginnen läßt Daß
„die Katholicität des Inhalts" kein zweites Prin-
cip neben dem der Apostolicität abgegeben ha-
ben könne, wird an der Traditionstheorie Ter-
tullians, daß dies ebensowenig von „der Katho-
licität der Bestimmung oder der Adresse" gelte,
an der Traditionstheorie des Irenäus und dem
langen Schwanken gerade über die katholischen
Briefe gezeigt. Gewisse Bedenken gegen den
Philemonbrief wegen seines Privatcharakters
und seiner dogmatischen Indifferenz werden erst
der Zeit schriftgelehrter Beschäftigung mit dem
bereits bestehenden Kanon zugewiesen, und von
der Stelle Tertull. adv. Marcion. V, 21 gezeigt,
daß hier der Philemonbrief nur benutzt wird,
um die marcionitische Verwerfung der Pastoral-
briefe zu bekämpfen. Endlich gegen die be-
hauptete verhältnißmäßige Gleichgiltigkeit der
kanonbildenden Zeit gegen die apostolische
Herkunft kanonischer Schriften beruft sichOver-
beck auf die Tradition über den Hebräerbrief.
Der zweite Abschnitt, welcher sich speciell mit
dem muratorischen Fragmente beschäftigt, unter-
nimmt den eingehenden Nachweis, daß auch für
den Fragmentisten kein andres Princip des Ka-
nonischen als das einfache der Apostolicität in
Betracht komme. Zunächst wird die Ansicht
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 369
bekämpft, daß die Kanonicität des N. T. dem
Fragmentigten im Unterschiede vom A. T. auf
der kirchlichen Reception beruhe, also ein be-
sonders hohes Bewußtsein der Kirche von ihrer
Macht über den Kanon voraussetze. Im Einzel-
nen wird zunächst an dem Abschnitte des Frag-
mentes über die Apokalypsen gezeigt, daß in
demselben von principiellen Bedenken gegen
apostolische Apokalypsen nichts zu finden sei.
Dann wendet sich Overbeck dem Abschnitte über
die paulinisctaen Briefe zu, beweist, wie in der
Behandlang des „Problems der Kanonisierung
?on Gelegenheitsschriften" keineswegs ein Merk-
mal ursprünglicher Bedenken gegen ihre Kanoni-
sierung, sondern lediglich ein ganz gewöhnliches
Stück Apologetik des (bereits bestehenden) Ka-
nons vorliege, widerlegt die Annahme, als ob
der Fragmentist für die sogenannten katholi-
schen Briefe „ein Vor urt heil" gehabt habe, und
bestreitet die Meinung, der Fragmentist habe
noch gewußt, daß die Pastoralbriefe nicht von
Anfang an in der Sammlung heil. Schriften ge-
standen hätten. Im Einzelnen werden besonders
die auf die vier Briefe des Paulus an Einzelne
bezüglichen Worte durch ihren Parallelismus mit
dem vorhergehenden Absätze erläutert, und die
Stelle über die vier größeren paulinischen Briefe
('de quibus singulis necesse est etc.') einer sorg-
fältigen Erklärung unterzogen. Schließlich weist
Overbeck anch an den Worten über das Lukas-
evangelium und über die Weisheit Salomonis
nach, daß anch durch diese das Princip der
Apostolicität keineswegs erschüttert werde. Mit
der Stelle über das Weisheitsbuch kann freilich
auch er nichts Rechtes anfangen : „so wie die
Worte über die Sapientia Salomonis lauten,
sprengen sie alle in der Geschichte des Kanon
24
370 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
bekannten Formen". Aber auch „die Spuren
noch freierer Ansichten über die Apostolicität
des Kanons", welche nach Harnack in den
Worten über das Lukasevangelium liegen sollen,
erklärt 0 verbeck „nicht sehr viel ernster" neh-
men zu können. Er bestreitet hier zunächst die
Conjectur 'itineris' : — der Fragmentist wolle sa-
gen, Paulus habe bei seiner zweiten Verantwor-
tung vor Gericht den Arzt Lukas als eine Art
Rechtskundigen bei sich gehabt; dann erläutert
er das von Harnack geltend gemachte 'suo no-
mine ex opinione' sehr einfach aus dem Pro-
loge des Lukasevangeliums, und führt aus, daß
auch wenn die Harnacksche Auslegung der
Worte als Abweisung einer Betheiligung des
Paulus an der Abfassung des Evangeliums rich-
tig sei, doch hiermit nur eine auch später ziem-
lich allgemeine Meinung ausgesprochen wäre.
Abgesehen von den noch manches Frage-
zeichen lassenden Ausführungen über die pauli-
nischen Briefe bin ich in der Lage, den Aus-
führungen Overbecks gegen Harnack beitreten
zu müssen. Daß er sich bei der dunklen Stelle
über die Sapientia auf ein non liquet zurück-
zieht, mag als ein Mangel erscheinen, doch ge-
stehe ich meinerseits, nichts Besseres zu wissen,
als etwa die Erneuerung der alten Conjectur 'nt'
statt 'et'. Größere Bedenken bleiben hinsieht-
lieh des Lukasevangeliums zurück. Es ist
klar, daß der Fragmentist, wenn er gleich die
Annahme einer wenigstens mittelbar paulinischen
Abkunft des Evangeliums nicht bestreitet, sie
doch auch nicht theilt; ihn aber sich bei der
Annahme bloßer Apostelschülerschaft des Evan-
gelisten beruhigen zu lassen, hat die gerade
von 0 verbeck selbst so energisch geltend ge-
machte Thatsache wider sich, daß sonst überall
die Apostolicität im strengen Sinne das einzige
Overbeck, Zur Geschichte des Kanons. 371
Kriterium der Kanonicität ist. Mir scheint, daß
es aus dieser Verlegenheit nur dann einen Aus-
weg giebt, wenn man die eigentümliche Stel-
lung der Evangelienschriften im Kanon berück-
sichtigt Das was denselben schon längere Zeit
vor Zusammenstellung des Epistelkanons ihre
kirchliche Geltung sicherte, war nicht sowohl
ihre apostolische Abfassung, als vielmehr die
höhere Autorität der Xöyoi, xvqkxxoL Wie schon
Hegesippos in der bekannten Stelle der Autori-
tät ?on Gesetz und Propheten die des xvqux;
hinzufügt, so ist es dieselbe Autorität, welche
auch in der nächsten Folgezeit die kanonische
Geltung des trotz vierfacher Darstellung xatd
Mav&alov, xatd Mdqxov, xatd Aovxäv und xatd
^Itodvvfp in sich einheitlichen evayyikiov sicher
stellte. Es liegt aber auf der Hand, daß neben
der Autorität des Herrn als des eigentlichen Ur-
hebers des svayyiXiov wenigstens nach dessen
wesentlichem Kern die persönliche Beglaubigung
der einzelnen Evangelisten nur eine subsidiäre
Geltung beanspruchen konnte. So durfte man
hier wohl auch mit der Autorität eines Apostel-
schülers vorlieb nehmen, während die kanoni-
sche Geltung der Briefe streng an das Merkmal
der Apostolicität gebunden blieb. Die weiter
hieran sich anschließende Frage nach dem Her-
gange bei der Aussonderung unsrer vier kano-
nischen Evangelien kann ich natürlich in diesem
Zusammenhange nicht erledigen. Doch darf
man bedenken, daß die einzige Evangelien-
schrift, welche außer unsern vier noch in Frage
kommen konnte, das svayy&Xtov xaP cEßQaiov$}
zeitweise und in gewissen Kreisen einer ganz
oder doch nahezu kanonischen Dignität sich er-
freut hat, von dem katholischen Kanon aber
sicher nicht wegen vermeintlicher Häresie, son-
24*
372 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 18.
dein lediglich als (angebliche) hebräische Ur-
schrift des in einem Kanon der griechisch re-
denden Kirche allein verwendbaren griechischen
Matthäus ausgeschlossen blieb. Alle übrigen um
die Mitte des 2. Jahrhunderts und später noch
umlaufenden Evangelienschriften trugen aber,
mochten sie sich mit noch so stolzen Namen
scbmücken, das haeretische Gepräge zu deutlich an
der Stirn, als daß von ihrer Aufnahme die Rede
sein konnte.
Ich scheide von dem Overbeckschen Buche
mit dem aufrichtigen Danke für vielfache Be-
lehrung, die mir dasselbe gewährt hat Die
äußere Ausstattung ist gut, doch ist es mir un
angenehm aufgefallen, daß in den Anmerkungen
fast durchweg statt b ein umgekehrtes q ge-
druckt ist. Druckfehler habe ich außer den am
Ende verzeichneten nur wenige bemerkt. S. 3 Z. 10
ist „des 1. Jahrhunderts" statt „des 2. Jahr-
hunderts" zu lesen.
Jena. Lipsius.
System der altsynagogalen palästini-
schen Theologie aas Targum, Midrasch and
Talmud. Von Ferdinand Weber. Nach des
Verfassers Tode herausgegeben von Franz De-
litzsch und Georg Schnedermann. Leipzig
1880 Dörffling u. Franke. XXXIV. 399 S. 8°.
Das vorliegende Buch ist eine erfreuliche Er-
scheinung zunächst um des Verfassers willen,
welcher, ein evangelisch-lutherischer Pfarrer Mit-
telfrankens von kirchlich gläubiger Gesinnung,
nicht gemeint hat die letztere in Schmähung des
Judenthums, sondern durch liebevolle Versen-
kung in die Erforschung der Eigentümlichkeit
desselben bethätigen zu sollen, und dabei zu-
gleich an die gute alte Zeit erinnert, da die
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 373
lutherischen Pfarrer es für eine Ehrensache hiel-
ten, mit der Festigkeit in ihrem Glauben zu-
gleich auch eine wissenschaftliche Solidität zn
verbinden. Er sollte die Früchte seines Fleißes,
welchen er auf den oben bezeichneten Gegen-
stand in 20jährigem sorgsamen Stadium gewen-
det hat, wohl reifen sehen aber leider nicht
mehr einbringen, er starb vor Beginn des
Druckes dieses Werkes dahin und es haben die
oben genannten Freunde des Verstorbenen sich
ein Verdienst dadurch erworben, daß sie diese
schöne Frucht tiefdringender Forschung der theo-
logischen Welt zugänglich gemacht haben. Es
ist dies Buch der erste Versuch aus selbständi-
ger Durchforschung der Quellen ein Gesammt-
bild der palästinischen Theologie zu gewinnen,
welche in Targum, Midrasch und Talmud in
tausend zersplitterten Einzelheiten vorliegt. Der
Verfasser hat diese gesammelt aus der Aggada
der jüdischen Schriftauslegungstradition, wie sie
besonders in den Werken des Midrasch vorliegt,
bisweilen aber auch mit der Halacha dem reli-
giösen corpus iuris der Judep compliciert er-
scheint. Die gesammelten Details hat der Verf.
sodann gesichtet und, soweit das möglich ist
bei einer Theologie, die nie zum Abschluß kam
und es zn keiner eigentlichen Dogmatik brachte,
hat er sie in ein System gebracht. — Insofern
das Wesen dieser Theologie der Nomismus ist,
hat die Darstellung derselben ihren Ausgangs-
punkt zu nehmen von dem Wirken des Esra,
welcher das Gesetz zum ersten Male zu der das
ganze Israel verpflichtenden Norm erhob. Durch
dieses Prinzip ward das Leben Israels nach
einem. Buche geregelt und es konnte sich von
da ab um nichts andres als um Auslegung und
Anwendung des Inhaltes dieses Buchs handeln,
374 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
Daraus folgte Alles andre. Die Herrschaft im
Volksleben mußte, sobald die Nation dieser Rich-
tung zustimmte, was seit Esra geschah, den
Kennern des Gesetzes zufallen. Die Geltung
aller andern Autoritäten war nur eine Frage der
Zeit, die königliche Macht in Israel fiel mit Ein-
tritt der Römerherrschaft, die priesterliche der
Zadokiten (Sadducäer) mit der Zerstörung des
Tempels: die Kenner der Thora, die, wie sich
von selbst verstand, zugleich ihre eifrigsten Be-
obachter waren: die Pharisäer blieben als Sie-
ger auf dem Platze. Diese Entwickelung der
Dinge beschreibt der Verf. in reicher stofflicher
Ausführung im ersten Gapitel seines Buchs, wel-
ches von der geschichtlichen Einpflanzung der
Nomokratie in das neujttdische Gemeinwesen
handelt. In den folgenden Capiteln giebt er
dann eine Darstellung der eigentlichen nomisti-
schen Grundlehren, gewissermaßen einen ersten
Theil der Prolegomena dieser Dogmatik, welche
das Materialprinzip des Nomismus umfassen. Er
zeigt wie die jüdische Theologie die Thora als
Abbild des göttlichen Wesens und darum als
ewig bei Gott präexistent faßt, wie sie in der
Thora die einzige Heilsoffenbarung und das
einzige Heilsgut erblickt, wie dann hieraus als
Folge sich ergiebt, daß auf jüdischem Stand-
punkte Frömmigkeit wesentlich als Liebe zur
Thora erscheint, welche Liebe sich sowohl als
Studium wie als praktische Erfüllung derselben
zu bethätigen habe. Aus letzterer Anschauung
ergiebt sich weiter als nothwendige Consequenz,
daß, da man keine andere Form der Frömmig-
keit als die Gesetzlichkeit kennt, nun auch nach-
gewiesen wird, daß bereits die Frommen der
alten Zeit Thorastndium und Thorabeobacbtung
betrieben. Ebenso mußte das nomistische Prin-
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 37 5
zip allmählich alle andern überlieferten religiö-
sen Formen und Frömmigkeitserweisungen ver-
drängen: so besonders den Opferdienst, der
durch vorschriftsmäßigen Gebetsdienst ersetzt
werden kann. Eine anderweite Gonseqnenz des
Nomismus ist, daß die Frömmigkeit vorzugs-
weise Sache des Wissens ist, der Ungebildete
Amhaarez gehört nicht zur Gemeinde, nur der
talmudisch gebildete ist der eigentlich werthvolle
Jude. Daß dieses Wissen die gerechte That zur
notwendigen Folge habe, scheint den talmudi-
schen Lehrern eben so ausgemacht zu sein, wie
dem Plato*), daß die Tugend lehrbar sei: eine
Parallele, die der Verf. nicht bringt, welche uns
aber in der That das Sachverhältniß am Besten
klar zu machen scheint. Die Rabbinen meinten
offenbar, daß jemand, der einmal ein Jude sei,
von selbst das thun werde, was er als gesetzlich
erkannt habe. Aus dem nomistischen Prinzip
fließt aber noch weiter der Grundsatz, daß Got-
tes Gegenwart in Israel mit Studium und Uebung
der Thora solidarisch verknüpft ist. Sein Wohl-
gefallen bezieht sich nur auf das gesetzliche
Verdienst des Menschen, sein Mißfallen auf
Uebertretungen. Israel, welches das Gesetz auf
sich genommen, ist dadurch Gottes Volk ge-
worden; in diesem Besitz beruht seine Heilig-
keit, denn aus dem Besitz folgt ja, wie wir
sehen, die Uebung der Gebote, und da der Be-
sitz des Gesetzes in die uranfänglichen Zeiten
des Volks zurückgeht, so ist diese schon den
Erzvätern inhärierende Heiligkeit gewissermaßen
ein hypothekarischer Besitz Israels geworden.
Die Heidenwelt, die das Gesetz ablehnt, kann
daher keine Heiligkeit erlangen, weder ihreVä-
*) Protagoras 352—357. Meno 17 B ff. Gorgias 466.
376 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
ter noch sie selbst haben je etwas mit dem Ge-
setze zu schaffen gehabt Andrerseits folgt für
Israel, da. die Heiligkeit auf dem Besitz der
Thora beruht, daß es auch in der Verbannung
seinen character indelebilis nicht verlieren kann,
denn es dient ja auch hier Gott, obwohl die
vollendete Gottesgegenwart erst in dem wieder-
hergestellten heiligen Lande stattfinden wird. —
Ein zweiter einleitender Abschnitt unsres Buchs
beschreibt dann das Formalprinzip des Nomis-
mus. Hier stehen nebeneinander das geschrie
bene Wort und die mündliche Ueberlieferung.
An jenes schließt sich der Schriftbeweis, in die-
ser tritt die rabbinische Autorität hervor.
Die Bibel gilt als Gottes Werk, sie enthält
Gottes Rede, wie letztere den heiligen Männern
inspiriert wurde durch den heiligen Geist. Doch
findet innerhalb der heiligen Schriften eine ge-
wisse Abstufung hinsichtlich der Dignität statt
Die Thora ist die Hauptoffenbarung, welche von
den Propheten eigentlich nur angewendet und
geltend gemacht wird, sie fügen nichts Neues
hinzu, die Thora enthält bereits Alles. Die
Offenbarung der Propheten ist gewissermaßen
nur eine secundäre; dies markiert sieh auch in
der gottesdienstlichen Werthschätzung, die eigent-
liche Schriftvorlesung erfolgt aus der Thora,
Haphtharen sind nur Anhangsperikopen. — Im
Allgemeinen aber haftet den heiligen Schriften
als göttlichen Ursprungs eine Art objectiver
Heiligkeit an, ihre Berührung „verunreinigt die
Hände". — Sie sind für die Lehre normativ
und haben einen unendlich reichen Inhalt, der
durch Deutung erschlossen werden muß. Letz-
terer Umstand schließt die Forderung einer
authentischen Interpretation in sich, der norma
normans muß eine norma normata als Ergän-
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 377
rang zur Seite treten. Daher genügt die bloße
Schrift nicht, es muß die Ueberlieferung, die
r»|b*3iD|rmn hinzu kommen. Letztere ward
nach der Ansicht einiger dem Mose zugleich mit
dem schriftlichen Gesetz von Gott selbst über-
geben. Indeß ward sie nicht immer treu be-
wahrt, ihre Reconstruction war aber deshalb
möglich, weil sie aus dem geschriebenen Gesetz
immer wieder abgeleitet werden kann. Mit die-
sem Geschäfte befaßten sich Josua, Samuel, die
Propheten, die große Synagoge, das Synedrium,
die rabbinischen Autoritäten bis zum Abschluß
des Talmud. Die Lehrüberlieferung selbst zer-
fällt in 2 Theile: Halachoth das religiös juristi-
sche Herkommen, die religionsgesetzliohe Obser-
vanz, und Haggadoth: die überlieferte, für die
Gemeinde gültige Schriftauslegung. Diese Ueber-
lieferungen galten neben der Schrift als Thora,
die älteste Sammlung derselben in der Mischnah
ist Auslegung der Schrift, die spätere in der
Gemara ist Auslegung der Mischnah und inso-
fern auch wieder Auslegung der Schrift. Was
gültige Halacha ist, wird per majora durch ein
rite berufenes Collegium von Autoritäten ent-
schieden, die Haggada bewegt sich freier,
üeberhaupt ist die Ueberlieferung entwicklungs-
fähig, die Schriftdeutung kann sich im Laufe
der Zeit ändern, die Schrift selbst dagegen
bleibt etwas Festes« Im Prinzip steht daher die
Schrift höher, doch in der Praxis gilt eigentlich
nicht sie, sondern die Ueberlieferung, diese muß
man daher vorzugsweise studieren und ihre
üebertretung erfordert Bestrafung. — Es fragt
sich nun: auf welche Weise von den Lehrern
die Schriftauslegung zu vollziehen sei? Darüber
giebt es 13 Regeln, in denen die Kunstgriffe der
Deutung enthalten sind. Was sich auf diesem
378 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 12. 13.
Wege ans der Schrift entwickeln läßt, bat einen
eigentlichen Schriftbeweis im engern Sinne.
Aber es giebt Mittel noch mehr herauszubekom-
men, über Manches giebt die Schrift einen
Wink (töi) oder man hat in ihr dafür eine
Stütze (ttrDHDtt). Solche können liegen in den
Accentzeichen, Buchstabenverzierungen, pnneta
extraordinaria, in Vertauschung von Buchstaben,
Umstell nng derselben, Berechnung ihres Zabl-
werths, im Sinne der Partikeln, in der Stellang
der Worte, in akrostichischer Deutung der
Worte, in der Verbindung der Verse, Abschnitte
u. a. m. Damit nun aber nicht jeder nach sei-
nem Belieben aus der Schrift mache was er
wolle, ist die Ausübung dieses Verfahrens in
die Hände eines Standes der Weisen gelegt,
welchen Mose begründete und mit der geistli-
chen Leitung der Gemeinde betrauete. Dieser
Stand ist seitdem nicht wieder erloschen, denn
in den Gesetzesschulen, die schon Mose ein-
richtete, wurden Schüler gezogen trnfcbn von
den Weisen crösn, an deren Spitze das Schul-
haupt (pxi unser Lehrer) stand. Das Ansehen
dieser Stufen wurde durch ein sehr pretiöses
Ceremoniell aufrecht erhalten. Die durch Ordi-
nation (ro^ED) in den Stand der Lehrer erhobe-
nen haben Antheil an der gesetzgebenden Ge-
walt in der Feststellung der Halacha, an der
Gerichtsbarkeit des großen Sanhedrin zn Jeru-
salem, oder des kleinen, der in jeder Stadt er-
richtet werden konnte, oder des sogenannten
Dreimännergerichts, das jede beliebige Gemeinde
haben durfte — und die Gemeinde fügte sich
ihren durch keinerlei materielle Gewalt unter-
stützten Aussprüchen; endlich hatten sie das
Recht der Lehre, d.h. der Mittheilung derUeber-
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. S79
lieferung oder der casuistischen Gesetzeser-
läuterung. —
Nachdem so in einem grundlegenden Tbeile
die Prinzipien zur Darstellung gekommen sind,
wendet sich der Verf. in einem zweiten Theile
zur Behandlang der einzelnen Lehren. Die erste
Abtheilnng desselben betrifft den theologischen
Lehrkreis, ans welchem zuerst der jüdische
Gottesbegriff zur Sprache kommt. Das Grund-
bekenntniß des Judenthums gegenüber dem heid-
nischen Polytheismus, sowie auch dem christli-
chen Trinitätsglauben gegenüber ist das der
Einheit Gottes ; die Doppeltheit der Gottesnamen
Elohim und Jahve wird demnach auf zwei Ver-
fahrungsweisen desselben Gottes bezogen, der
bald Recht, bald Gnade walten läßt. Sonst
zeigt die ältere Phase des Judenthums ein Stre-
ben nach möglichst transcendenter Fassung des
Gottesbegriffs und Beseitigung aller Antbropo-
morphismen; die spätere Entwicklung, welche
nicht bei der abstracten Leerheit des islami-
schen Gottesbegriffs sieb beruhigen konnte, son-
dern einen lebendigen nationalen Gott brauchte,
wie ihn die Väter gehabt hatten, kam dazu Gott
zn judaisieren und ihn in dasselbe Verhältniß
zur Thora zu setzen, in welchem man selber
stand. Er beschäftigte sich danach mit der
Thora vor Erschaffung der Welt, schuf die letz-
tere blos um ihretwillen und beobachtet sie auch
fortwährend. Alle jüdischen Freuden und Schmer-
zen empfindet er mit. Aus diesem letzteren Ge-
sichtspunkte finden zahlreiche Scandalosa der
Eisenmenger, Schudt u. a. ihre historische Er-
klärung. Der phantasie volleren Auffassung des
göttlichen Wesens entspricht es dann auch, daß
die Umgebung desselben : seine Wohnung, der
Thron seiner Herrlichkeit und der Glanz der
380 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 12. 13.
letzteren selbst mit reicheren und bunteren Far-
ben ausgemalt werden. Die Engelwelt zeigt
dabei so recht den emanatistischen Zug der se-
mitischen Mythologien, zahlreiche Engel werden
von Gott ad hoc gebildet und vergehen wieder,
entströmen vorübergehend dem Glänze der gött-
lichen Herrlichkeit, andre als Engel des Dienstes
haben aber eine bleibende Function. Daß sie alle
blos hebräisch verstehen, erschwert zwar den
allgemeineren Verkehr mit ihnen, nützt aber den
Weisen Israels sehr. Unter den Dienstengeln ist
Hetatron der nächste Vertraute Gottes, eine Art
himmlischer Großvezier, der besonders die Ge-
schäfte Gottes mit Israel zu besorgen hat. Von
den mittlerischen Hypostasen des Memra und
der Schechina gehört die erstere nur den Tar-
gumim an, die letztere • ist bei den Targumim
nur ein Symbol der Gnadengegenwart Gottes
bei seinem Volke, im späteren Judenthume aber
die alleinige Vermittlerin der göttlichen Wirk-
samkeit in der Welt.
Der heilige Geist ist im Judenthum der be-
sondere Vermittler der göttlichen Wirkungen auf
den menschlichen Geist. Die Auffassung schwankt
zwischen Personifikation und Betrachtung des
Geistes als Kraft: als letzterer kann er auch
durch Handauflegung übertragen werden oder
als Gottesstimme (Bath kol) sich vernehmbar
machen.
Eine 2te Abtheilung behandelt dann den kos-
inologischen und anthropologischen Lehrkreis. —
Die Weltschöpfung hat die Verwirklichung
der Thora zum Zweck, denn letztere setzt das
Vorhandensein einer Menschheit und diese wie-
der einen Schauplatz voraus, auf dem sie sich
bewegen kann. Darum verdankt die Welt der
Thora ihr Dasein, in welcher auch der Weltplan
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 381
enthalten ist. Freilich ist der engere Zweck
dabei die Schöpfung Israels, auf welche es
eigentlich allein ankommt. Im späteren Juden-
tum erscheint die Materie bei der Schöpfung
als eine Gott gegenüber in gewissen Beziehun-
gen selbständige Macht, die der Bändigung, Ver-
besserung und einer gewissen contractlichen
Verpflichtung unterworfen wird. Ebenso ist
eigentümlich die Scheidung der 2 Welten, der
oberen und der unteren: wodurch ein gewisser
Dualismus in das Schöpfungswerk kommt. Die
Phantasie verfolgt dann die Ausgestaltung der
ersteren bis zu 7 Sphären. — Die Erhaltung
der Welt vollzieht sich dadurch, daß jedes Ge-
schöpf im Organismus derselben seine Bestim-
mung erfüllt, doch hat sich Gott vorbehalten,
unter Umständen besondre Kräfte oder Engel
des Segnens oder des Verderbens herabzusenden.
Den Grund der Welterhaltung bildet Israel, wie
tun seinetwillen ja auch die Schöpfung erfolgte.
Den Menschen läßt die jüdische Theologie
nicht nach dem Bilde Gottes, sondern nach dem
der Engel geschaffen werden.
Dem Leibe des Menschen, der mit 613 ver-
schiedenen Theilen behufs Erfüllung der 613 Ge-
bote der Tbora ausgestattet war, wurde der böse
Trieb (snn nar) eingepflanzt^ der zunächst nichts
anderes als der sinnliche Trieb ist. Böse wird er
darum genannt, weil alle Sinnlichkeit etwas
blind Wirkendes ist. Die Seele wird als etwas
Besonderes aus dem himmlischen Vorrathshause
Herbeigeholtes hitizngethan. Nach der Schöpfung
befand sich der Mensch 6 Stunden lang im un-
gestörten Frieden des Urstandes: denn der
vorhandene böse Trieb ruhte noch, war gewisser-
maßen noch latent. In diesem Urständ« hatte
er die Vorzüge der Weisheit und Schönheit,
382 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
außerdem war ihm zum Gegengewicht gegen
den bösen Trieb der gute (mo nar) gegeben,
durch welchen er jenen überwinden konnte und
sollte. Es kam aber anders, der in der Schlange
wirksame Satan verführte zuerst die Eva durch
Steigerung des bösen Triebes zur Beiwohnung
mit sich, Eva mischte dann dem Adam Wein,
so daß ihn der böse Trieb antrieb, die verbotene
Frucht zu essen. Die weiteren Folgen werden
sehr verschiedenartig beschrieben, die Haupt-
sache ist jedenfalls die seitdem eingetretene
Steigerung der Uebermaoht des bösen Triebes.
In den gegenwärtigen Menschen ist die von Gott
eingeschaffne Seele prinzipiell rein, denn der
böse Trieb gehört dem unreinen Leibe an, es
bleibt daher das Verhältniß der Seele zum Leibe
ein äußerliches: doch kann jene die Thatendes
Leibes durch ihre Erkenntniß beeinflussen. —
Auch nach dem Falle hat der Mensch die Wahl-
freiheit, er kann den guten Trieb dem bösen
vorziehen, obwohl dies sehr schwer ist Die
meisten Menschen bringen es nicht fertig, daher
kann man von allgemeiner Sündhaftigkeit der
Menschheit reden, denn in der ordinären Wirk-
lichkeit begegnen uns keine Beispiele von Sttnd-
losigkeit. Die Naturanlage des bösen Triebs
bringt allerlei Thatsünden zu Wege: innere und
äußere, wissentliche und unwissentliche, kleine
und große. Wer nur wenige und kleine Sünden
begeht ist gerecht (p*nfc) und fromm (toti),
wer viele und schwere begeht ist ein Frevler
awn). — Die Schwere der Sünde wird vom
göttlichen Gericht abgeschätzt, daraus entsteht
der Begriff der Schuld. In Anspruch genommen
wird der Mensch eigentlich nur für die man-
gelnde Gegenwehr gegen den bösen Trieb, denn
Air diesen selbst kann er nicht. Je nach der
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 383
Größe der in jener Unterlassung liegenden
Schuld trifft ihn zur Strafe ein Uebel. Hier
neigt die Auffassung, wie auch sehon in den
Zeiten des A. TVs, dazu Schuld and Strafleiden
als strenge Aequivalente zu fassen: für jede
Krankheit eine ganz bestimmte Sünde als Ur-
sache vorauszusetzen. Der Tod kam seit Adams
Sünde in die Welt, hat indessen über den ein-
zelnen nur Macht infolge der eignen Versündi-
gung desselben: daher ganz Sündlose ohne den
Tod zu sehmecken in das Paradies eingehen.
Außerdem ist aber der Mensch wegen seiner
Sünde auch der Macht der Dämonen, der Zau-
berei, des bösen Blicks u. dgl. preisgegeben. —
Die 3te Abtheilung, den soteriologischen Lehr*
kreis betreffend, beschäftigt sich zunächst mit
Gottes Heilsrathschluß. Derselbe beruht darauf,
daß die Gerechtigkeit in Gott durch die Barm-
herzigkeit temperiert ist. Dieser Umstand be-
stimmt ihn, dem sündigen Menschen einen Weg
der Wiederherstellung offen zu halten. Dies ist
der Weg der Buße (nmt'n), der Demüthigung
vor Gott, an welche sich als zweites Heilsmittel
das Studium und die Beobachtung des Gesetzes
anschließt. Diesen Weg haben die Israeliten
beschritten, welche das Gesetz am Sinai über
sich nahmen: durch diese Erklärung ward eigent-
lich der Zustand der Sündlosigkeit für Israel
wieder hergestellt. Indessen der Exod. 32 be-
richtete Abfall zum Götzendienst war gewisser-
maßen ein zweiter Sündenfall und zwar ein spe-
ciell israelitischer. Der böse Trieb kam in
Israel wieder zur Herrschaft. Es kommt nun
darauf an, den Stand der sittlichen Reinheit wie-
der zu erwerben. Diese Gerechtigkeit vor Gott
wird erlangt durch Verdienst (trot). Die mar
schließt in sich die Gesetzesgerechtigkeit und
384 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
zugleich einen Lohnansprncb. Sie kommt zu
Stande durch Erfüllung der Vorschriften (rms&);
hat ein Mensch diese alle erfüllt, so ist er p*rs.
Solche waren z. B. die Erzväter. Man kann das
aber selbst gar nicht wissen, ob man zn diesen
„Gerechten" gehört, denn die Rechnung wird
von Gott gemacht, dessen Buchführung wir nicht
übersehen. Er regelt das Conto eines jeden
Menschen täglich, abschließend aber am Ende
seines Lebens: da wird ihm gewissermaßen die
göttliche Generalrechnung vorgelesen. Vorher
kann kein Mensch genau wissen, wie es mit
ihm steht. — Außer der Erfüllung der bestimm-
ten Vorschriften ist aber auch die Verrichtung
guter Werke ein Heilsmittel für den Menschen,
wie Almosengeben und andre Liebeswerke, wes-
halb auch über diese Buch geführt wird. Bei
dieser verwickelten Methode giebt es natürlich
sehr viele Stufen der Gerechtigkeit und der Un-
gerechtigkeit. Es giebt solche, die vorwiegend
Gutes, solche, die vorwiegend Böses thun, zwi-
schen ihnen viele, die mit guten und bösen Tha-
ten abwechseln und auch dieses wieder in sehr
verschiedenen Verhältnissen, auch ist die Quali-
tät der guten und bösen Werke im Einzelnen
eine sehr ungleiche — kurz es ist offenbar eine
Sache, die Gott viel Mühe macht, immer eine
reinliche Uebersicht zu haben. Eine sehr an-
genehme Aushülfe für solche, die sich eines
starken Deficits an guten Werken bewußt sind,
bietet die stellvertretende Gerechtigkeit der Vä-
ter; an dieser kann man Antheil haben, wenn
man seinen israelitischen Stammbaum nachweist;
ebenso hilft die Gerechtigkeit lebender Heiliger
dem Zeitgenossen. — Wer aber eigne Werke
aufweisen kann, hat Anspruch auf Lohn, letzte-
rer regelt sich nach Qualität der Leistung, frei-
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 385
lieh hilft dabei die nachsichtige Beurtheilung
Gottes mit Der Lohn ist sowohl irdisch als
himmlisch, gegenwärtig als zukünftig; er wird
nicht nnr dem Einzelnen selbst, sondern nm sei-
netwillen auch dem ganzen Volke zu Theil. So
waren alle Siege oder sonstige glückliche Er-
eignisse in Israel Folgen seiner Verdienste. —
Die Versöhnung wird herbeigeführt durch Be-
sänftigung des zürnenden Gottes in der Buße,
der Mensch entschließt sich von der Gesetzes-
übertretung abzulassen und sich der Gesetzeser-
ftillung zuzuwenden. Es erfolgt zuerst •■rm
Sttndenbekenntniß, das auch innerlich geschehen
kann, damit verbindet man Fasten und Casteiung.
Bei Unterlassungen ist die Buße hinreichend zar
Versöhnung, bei Uebertretungen schiebt sie die
Strafe bis zum Versöhnungstage auf. Der letz-
tere hebt für alle gewöhnliche Sünden den gött-
lichen Strafbeschluß für das bevorstehende Jahr
auf; indessen ist damit noch keine völlige Sühne
geschaffen, es müssen noch Leiden hinzutreten,
bei den schwersten Sünden ist der Tod des
Sünders nöthig. Auch hier aber kann fremde
Sühne stellvertretend eintreten, auch sühnen
gate Werke und Thorastudium und das Selbst-
opfer des Märtyrers. Bei alledem giebt es aber
auch hier keine absolute Sicherheit, ob man
wirklich vollkommen Versöhnung erlangt habe. —
Die 4te Abtheilung endlich beschäftigt sich
mit dem eschatologischen Lehrkreis. Der Tod
ist für den Frevler Strafvollzug, für den Ger
rechten freilich auch der Sold früherer Sünden,
indessen in milderer Form als np^u» Kuß Got-
tes eintretend. Im Tode geht die Seele wieder
ans dem Leibe, doch nur zögernd, die der Ge-
rechten geht hin zu Gott, die der Gottlosen zum
Scheol. Die Anschauungen vom Zustand nach
25
386 Gott. gel. Abz. 1881. Stück 12. IS.
dem Tode sind sehr verschieden: es ist nicht
recht klar, ob Seheol und Gehinnom za unter*
scheiden sind, ob Gan Eden der einzige Aufent-
halt der Gerechten- ist oder ob sie einen Zwi-
schenzastand durchmachen. Nach einigen. Stel-
len kann man aus dem Gehinnom durch Buße
zuletzt in den G&n Eden gelangen, oder aneh
Abraham holt die Büßer durch sein Verdienst
heraas. —
Die Seligen im Gan Eden haben auch Ab-
stufungen ihrer Paradiesesfreaden, die zum Theil
sehr sinnlich geschildert werden. — Die Vollenr
dang des ganzen Israel wird durch den Messias
herbeigeführt, dessen Kommen durch Buße und
Gesetzeserfüllung beschleunigt wird. Man hat
seine Ankunft theila durch apokalyptische Rech-
nung, theils durch gewisse Anzeichen (die
Wehen des Messias) für die Hoffenden bestimm-
bar zu machen gesucht Sein Wegbereiter wird
der Prophet Elia sein: er stellt Israel äußerlich
als Volk und innerlich als Gottes Knecht her.
Der Messias wird, obwohl präexistent, doch nie
als göttliche Hypostase gedacht. Er ist ein
davidischer Sproß, wie alle andern Davididen
und wird stets nur als irdischer König gedacht.
Seine Ankunft wird anfangs verborgen sein, in
der Stille wird er für sein Werk reif, er übt
sich in der Beobachtung des Gesetzes, wenn er
hervortritt wird er zu leiden haben, doch zu-
letzt Israel befreien (bau) wie einst Mose. Dann
wird er das Reich aufrichten, im Kampfe gegen
die Abtrünnigen sein Leben wagen und daa Ge-
setz in Israel erneuern. Um mit Jesaj. 53 zu-
rechtzukommen, erfand man noch einen zweiten
leidenden Messias, der durch seinen Tod Israels
Sünden söhnt und als Sohn Joseph's bezeichnet
wird. — Der messianisehe König aber zertrttm-
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 3R7
mert die Weltmacht des vierten oder letzten
Weltreichs mit seiner Hauptstadt Rom, er Bam-
melt die Zerstreuten Israels, steigt auch in den
Scheol, die gestorbenen Israeliten herauszufüh-
ren, es erfolgt die Auferstehung der Todten,
die neue Weltzeit (ann öbu) tritt ein. Die-
sem messianischen Zeitalter wird eine verschie-
dene Dauer bestimmt, doch stimmen alle An-
sichten darin überein, daß sein Umfang eben
ein begrenzter sein werde. Während desselben
wird Jerusalem wieder gebaut und herrlich er-
neuert, namentlich die Pracht des Tempels wird
alles übertreffen. Der Tempeldienst wird wie-
der hergestellt und die Thora zur unbedingten
Geltung erhoben. Infolge dessen herrscht in
der Gemeinde Israels Gerechtigkeit, daher sich
dann der Segen Gottes über Volk und Land un-
gehemmt in seiner ganzen Fülle ergießen kann.
Ist die Herrschaft des Messias über Israel fest-
begründet, so kann er dazu schreiten, seinen
weiteren Beruf als Weltherrscher zu erfüllen;
dies wird aber nicht so geschehen, daß die
Weltvölker einfach zwangsweise judaisiert wür-
den, vielmehr werden die letzteren bewogen
durch die Vorzüglichkeit Israels den Anschluß
an dasselbe suchen. Gleichwohl ist man nicht
geneigt, Proselyten anzunehmen, nur eine kleine
Schaar Heiden wird wirklich in das Judenthum
übergehen, die übrigen werden sich begnügen
müssen, dem Volke Israel reiche Tribute und
Geschenke darzubringen.
Das Ende dieser messianischen Weltherr-
schaft wird durch eine mächtige Erhebung der
Völker herbeigeführt, das Zeitalter Gog und
Magog beginnt. Dieser gewaltige Kampf hat
das Ende der Welt zur Folge: Gott schreitet
selbst ein, es beginnt das Weltgericht. Die
25*
388 Gott. gel. Ans. 1881. Stück 12. 13.
Todten, doch blos die aas Israel, erstehen auf,
die überlebenden Heiden werden in das Ge-
hinnom gesendet, dessen Qualen verschieden
beschrieben werden. Israel wird wegen seiner
Gesetzesbefolgung gerecht gesprochen. Darauf
erfolgt Schöpfung eines neuen Himmels und
einer neuen Erde, deren Lebensformen bald mehr
spirit ualistisch, bald mehr sinnlich aufgefaßt
werden. Die Seligkeit der Gerechten hat ver-
schiedene Stufen, alle aber stehen in Gemein-
schaft mit Gott, der ihren Beigen anführt. —
Wir haben den Rahmen des Systems vorge-
führt, die solide Ausfüllung desselben mit rei-
chen Stoffmassen bei Seite lassend, aber wir
glaubten grade dadurch, daß wir nur diese Um-
risse nachzeichneten, dem Leser einen Eindruck
davon zu geben, auf welch gediegnem Unterbau
ein Ganzes ruhen muß, das eine solche Ge-
schlossenheit und Gliederung seiner Tbeile zeigt.
Uns ist bei der Durcharbeitung desselben anfs
Neue klar geworden, wozu uns auch die eigne
Beschäftigung mit den Quellen des Judenthums
geführt hat, daß so scharf auch der prinzipielle
Gegensatz des Christenthums gegen das Juden-
thum ist und so zahlreich infolge dessen auch
die Lehrabweichungen im Einzelnen sein müs-
sen — doch die historische Entwicke-
ln g des Christenthums zahlreiche jüdische
Stoffe in sich aufgenommen fyrt, welche bis auf
den heutigen Tag nachwirken. Wir können
darum den Ausdruck des Verfassers (Einl. p.
XXXI), daß denen alles Verständniß für den
Gegensatz beider Religionen abgehe, „welche
meinen, die Lehrweise Jesu und der Apostel in
ihren Grundzügen aus Talmud und Midrasch ab-
leiten zu könnena — nicht für sehr glücklich
gewählt halten. Denn grade die „Lehr weise"
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 389
| Jesu und der Apostel, namentlich des Paulus,
hat doch mit den Formen des Midrasch außer-
ordentlich viel Verwandtes, wie dies ja doch
wohl auch bei ihrem Hervorgehen »us dem jü-
dischen Volke nur natürlich ist. Was kann es
z. B., um nur bei dem vom Verf. selbst berühr-
ten Stoffe stehen zu bleiben, Uebereinstimmende-
res geben als die Art, wie Paulus den Messias
den durch Adams Sündenfall allgemein gewordnen
Tod aufheben läßt und die Allgemeinheit des
letzteren dadurch erklärt, daß alle Menschen
die Uebertretung Adams gewissermaßen wieder-
holt hätten (Rom. 5, 14) — was kann es dem
Aehnlicheres geben als die vom Verf. p. 238 —
240 dargestellten jüdischen Lehren ? — Ist fer-
ner nicht die Eschatologie der Apokalypse fast
bis auf den Buchstaben die des alten Juden-
tums, wie sie der Verf. in den §§. 81—90
darstellt? Ist die Lehre vom Gerieht, das den
Einzelnen nach seinem Tode trifft p. 273 nicht
genau dasselbe, was wir Ebr. 9, 27 lesen?
Sind nicht die Vorstellungen vom Gehinnom (p.
328 ff. 373) dieselben, welche uns Lucae 16, 23 ff.
begegnen ? *) Dies nur einzelne flüchtige Anden-
tungen, zu denen der Stoff des Buchs selbst die
Handhabe bot, die Vervollständigung des Bil-
des würde selbst ein Buch erfordern. — Eine
bemerkenswerthere Erscheinung als diese ist es
aber, daß das historische Christenthum, sobald
und sooft es Kirchenthum wird und so die
Formen des Nomismus annimmt, wie durch
eine Art Atavismus eine Rückbildung in das
*) Dem Umstände, daß der Messias in den Scheol
steigt, am die dortigen Israeliten zur Theilnahme an
seinem Reiche heraufzufuhren (vgl. p. 351), verdanken
wir das xaieX&dvTa tk ?« xanitaia descendit ad inferna
des symbolum apostolicum.
390 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
Judenthum zeigt. Diese Erscheinung wiederholt
sich zu den verschiedensten Zeiten der kirchli-
chen Entwickelung. So ist die dogmatisierte
Inspirationslehre eine Arbeit der Synagoge (vgl.
p. 78 — 81), deren Folgesatz, die alleinige norma-
tive Autorität der heiligen Schrift, wir im Tal-
mud gerade so formuliert finden wie in der Con-
cordienformel (vgl. p. 83 unsres Buchs mit F.
C. 572). Die damit sehr wohl sich vertragende
Anschauung, daß die Schrift norma normans sei,
der eine norma normata als Ergänzung zur Seite
gehen müsse, ist zunächst eine altjüdische, welche
Deutung des Gesetzes durch die Weisen ver-
langt (vgl. p. 86 ff.). Für den authentisch inter-
pretierenden Sanhedrin dürfte es wohl nicht
schwer sein, das christliche Seitenstück der öku-
menischen Synoden und Goncilien ausfindig zu
machen. Und wie die jüdischen Interpreten aus
der Ueberlieferung (nbap) schöpfen (vgl. p. 89)
und wie als geltendes Gesetz (nsbin) von ihnen
dasjenige festgestellt wird, was 1) allgemein
seit unvordenklichen Zeiten als in Geltung stehend
anerkannt ist und 2) was sich auf eine legitime
Autorität zurückführen läßt: so finden wir, daß
ganz ebenso die römische Kirche aus der Tra-
dition schöpft und daß als solche zu gelten hat
quod semper quod ubique quod ab omnibus ere-
ditmn est. — Und wenn die Schrift interpretiert
wird durch die Mischnah, die Mischnah aber
durch die Gemara: so wird in der lutherischen
Kirche die Schrift durch die augsburgisehe Con-
fession, diese aber durch die Goncordienformel
ausgelegt, was also mutatis mutandis auf Eins
herauskommt. Auch in andern Lehrstücken fin-
den sich manche Aehnlichkeiten. Die jüdische
Lehre, daß die Buße eine verdienstliche Leistung
sei (p. 252. 300), ist bekanntlich von der römi-
Weber, System der altsyaagog. palästin. Theologie. 391
sehen Kirche wiederholt worden. Aach die 3
Stücke derselben: die contritio cordis confessio
oris und satisfactio opens finden wir bereits im
Judenthum (vgl. p. 303-305).
Ganz und gar das Vorbild der katholischen
Gerechtigkeitslehre finden wir im Judenthum.
Die Gerechtigkeit setzt sich zusammen aus einer
Summe einzelner Handlungen, über die Gott
Bach fuhrt, daraus geht für den einzelnen in
Bezug auf seinen Stand im göttlichen Urtbeil
eine völlige Unsicherheit hervor (vgl. p. 273.
320 f.). Ebenso lehrt die römische Kirche. Bei
ihr ist die dem Menschen inhärierende Gerech-
tigkeit die Bedingung der Seligkeit, der Ein-
zelne kann aber niemals wissen, ob er genug
von derselben besitzt Ferner, wenn das eigne
Thun durch gute Werke die Gerechtigkeit er-
langt, die vor Gott gilt, so ist damit die Mög-
lichkeit gegeben, daß einzelne wirklich die voll-
kommene Gerechtigkeit erwerben. Dies geschah
nach jüdischer Lehre von den Erzvätern (vgl.
p. 278), nach katholischer von den Heiligen.
Diese Gerechten können durch ihre guten Werke
den Defect ihrer Volksgenossen in Israel decken
(vgl. p. 280 ff. 286) wie in der römischen Kirche
die Heiligen durch den thefeaurus meritorum,
th. supererogationis perfectorum. — Auch darin
stimmen beide Systeme, daß in ihnen dem Glau-
ben ein Verdienst zugesprochen wird (vgl. p.
292. 295 mit dem meritum de congruo des Tri-
dentinums) — und aus den Erörterungen von
p. 300 geht klärlich hervor, daß in der Anseimi-
schen Satisfactionstheorie nicht der biblische,
sondern der talmudische Sühnebegriff in die
Kirche übergegangen ist. — - So ließe sich noch
vieles anführen, doch wird das Gesagte genügen,
892 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
diese interessante historische Erscheinung zu
veranschaulichen. —
Heben wir zum Schluß noch einige Punkte
hervor, bei denen nach unsrem Dafürhalten die
Aufstellungen des Verf.'s sich nicht als richtig
erweisen. Nach unsrer Meinung kann man näm-
lich nicht behaupten, daß die specifiscb jüdische
Theologie von der Lehre des gesammten alten
Testaments unterschieden sei (Einl. p. IX), wenn
man, wie der Verf. selbst, von dem Grundsatze
ausgeht, daß dieses Neue, durch welches das
Gesetz der ausschließliche Mittelpunkt des reli-
giösen Denkens und Lebens in Israel ward, von
Esra begründet sei. Denn Esra gehört ja doch
jedenfalls auch dem A. T. an und daß wie er
Nehemia*) und der Verfasser der Chronik ge-
sinnt sind und daß seinen Anschauungen Eze-
chiel sehr nahe steht und daß die mittleren Bü-
cher des Pentateuch sich wesentlich auf demsel-
ben Boden bewegen, dürfte doch kaum bezwei-
felt werden können. Demnach erscheint es uns
nicht richtig, den Nomismus dem A. T. ent-
gegenzusetzen, sondern gesagt werden zu müs-
sen, daß die spätere jüdische Theologie nur die
consequente Fortbildung der bereits im A. T.
im sogenannten Mosaismus hervortretenden no-
mistischen Richtung gewesen sei, welche sich in
späterer Zeit, besonders seit dem Exil, im Gegen-
satz zu der prophetischen entwickelt und diese
allmählich verdrängt hatte. Und darum können
wir dem Verf. nicht beistimmen, wenn er Oehler
deshalb lobt, weil er die biblische Theologie des
*) Man vergleiche des Nehemia Buchführung über
seine guten Werke: c. 5, 19. 13, 14. 22. 31. besonders
in Beziehung auf das Gottesvolk mit den Grundsätzen
der jüdischen Theologie, welche der Verf. p. 274 f.
ausführt.
Weber, System der altsynagog. palästin. Theologie. 393
A. T. von dieser jüdischen Theologie abgrenzt,
denn diese Theologie kann abgegrenzt werden
nur gegen den Prophetismus, mit dem Mosais-
nrag dagegen hängt sie so eng zusammen wie
nur möglich. Die israelitische Prophetenreligion
war eine Religion des Geistes und der Freiheit,
der Gesinnungen nnd der sittlichen Tbaten, die
jüdische Gesetzesreligion war eine Religion des
Boches and des Buchstabens mit seinem Zwange
nnd legte ein Joch auf, für dessen Aufbtlrdung
damit sie ihm gelinge Esra die Maske Moses
vornahm; sie war eine Religion der Werke und
der Ceremonie, der Gelehrsamkeit und des
Kopfes, denn das Thorastudium, dem die Er-
füllung der Gebote wie ein Schatten nachfolgt,
ist es was selig macht. Auch selbst auf dieser
Stufe ist Großes erzielt worden, wir wollen es
nicht verkennen — die jüdische Theologie, der
gesammte Nomismus von Esra (Mose) an bis
zum Abschluß des Talmud hat es zu einem
großartigen Organismus, einem Werk voll stau-
uenswerthen Scharfsinns und Reichthums des
Geistes gebracht, aber man thut den Propheten
Unrecht, wenn man ihnen nachsagt, es sei ihnen
jemals in den Sinn gekommen „das Gesetz zur
Basis ihrer Heilslehre" (Einl. p. IX) zu neh-
men. Das thaten sie so wenig, daß der Prophet
Jeremia sogar behauptet, es sei Jahve gar nicht
eingefallen beim Auszuge aus Aegypten irgend
welche Vorschriften über Opfer zu geben c. 7, 22.
vgl. c. 6, 20 und daß er kurzweg leugnet, daß
an der Bundeslade irgend etwas gelegen sei
c. 3, 16. —
Die Kritik des jüdischen Gottesbegriffs vom
christlichen ans (p. 145. 149) hätten wir, sp
sachlich und maßvoll sie auch gehalten ist, doch
anders gewünscht. Der kirchlich trinitarische
394 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
Gottesbegriff ist nach unserm Dafürhalten dem
Judenthum gegenüber keine besonders günstige
Position. — Warum ist p. 284. 286 der talmu-
dische Traetat Edijoth statt nach der gewöhn-
lichen Schreibung Ednjoth genannt? Zn den
Berichtigungen auf der letzten Seite tragen wir
noch nach: p. 382 Z. 7 ist zn lesen „vor dem
Wolf« statt „vor dem Volk« ; p. 328 Z. 1 lies
„dem" statt „denn".
Jena. C. Siegfried.
Indische Grammatik, umfassend die klassische
Sprache und die älteren Dialecte von William
D wight Whitney. Aus dem Englischen übersetzt
von Heinrich Zimmer. Leipzig, Druck und Ver-
lag von Breitkopf und Härtel 1879 (a. u. d. T. : Bi-
bliothek indogermanischer Grammatiken bearbeitet von
F. Bücheier u. s. w. Band II).
Von den indogermanischen Grammatiken,
welche im Verlage von Breitkopf und Härtel er-
scheinen sollen, sind, bis jetzt die indische von
Whitney und die griechische von G. Meyer aus-
gegeben worden, beides treffliche Werke, aber
erheblich verschieden an Anlage und Ausfüh-
rung. Die Grammatik von Meyer hält sich ge-
nauer an den der Sammlung vorgezeichneten
Plan, indem sie ihren Gegenstand durchaus vom
Standpunkt modernster Linguistik aus behan-
delt, während die Whitneysche Arbeit sich im
Wesentlichen nach dem alten grammatischen
Schema richtet. Diese Verschiedenheit mag zum
Theil auf einer verschiedenen Stellung der Ver-
fasser zu den sprachwissenschaftlichen Proble-
men beruhen; hauptsächlich aber hat sie ihren
Grund in dem allgemein bekannten Zustand der
Sanskritgrammatik, für welche die Zeit zu einer
solchen Behandlung, wie sie Meyer dem Griccbi-
Whitney, Indische Grammatik. 896
sehen bat angedeihen lassen, noch nicht gekom-
men ist
Die indischen Grammatiker haben für ihre
europäischen Nachfolger zwei Aufgaben übrig
gelassen, die geschichtliche Darstellung des ans
der Literatur gezogenen Sprachstoffs und die
Einfügung der indischen Grammatik in den lin-
guistischen Rahmen. Das Verdienst Whitneys
nun besteht darin, in der vorliegenden Gramma-
tik mehr als irgend Jemand anders nach der er-
sten der angegebenen Richtungen hin geleistet
zu haben. Ueberall ist das was die Grammati-
ker liefern von dem was die Sprache selbst bie-
tet, streng gesondert und die Sprache ist in
einem Umfange ausgebeutet worden, wie nie
auvor. Nicht nur die vedischen Sanhitas sind
sorgfältig benutzt (wobei Whitney schon die
neuerlich erschienene ebenso mühselige wie
nutzbringende Arbeit von Charles R. Lanman
On noun-inflection in the Veda, New-Haven 1880
zu Rathe ziehen konnte), sondern auch aus der
gewaltigen Masse der Brähmana-Literatur ist
zum ersten Mal reichlicher Stoff beigebracht
worden. Für die Mittheilung dieser Sammlun-
gen, durch welche ein fester Grund für eine ge-
schichtliche Behandlung des Sanskrit gelegt
worden ist, sind alle Benutzer der Grammatik
dem Verfasser zum lebhaftesten und aufrichtig-
sten Danke verpflichtet, und besonders warm
wird die Anerkennung derjenigen sein, welche
etwa aus eigener Erfahrung abschätzen können,
wie viel entsagender Fleiß in diesen anspruchs-
losen Sätzen enthalten ist. Für eine zweite
Auflage wäre nur etwa zu wünschen , daß Wh.
bei selten (zwei oder dreimal) vorkommenden
Formen die Gitate beifügte, und vielleicht wäre
es möglich, den Stoff noch durch Herbeiziehung
396 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
des Epos, für dessen Sprache das Wörterbuch
von Böhtlingk und Roth eine reiche Fundstätte
ist, zu bereichern. Wenn so der Stoff immer
vollständiger herbeigeführt sein wird, wird es
auch an der Zeit sein, die Darstellung streng
geschichtlich zu gestalten, während jetzt die
klassische Sprache noch eine bevorzugte Stel-
lung einnimmt, wie etwa das Attische in den
bisherigen griechischen Grammatiken.
Die linguistische Behandlung des Sanskrit
ist von Bopp glorreich begonnen und nach ihm
in verschiedenen Monographien und Aufsätzen
weiter geführt worden, aber zu einer zusammen-
fassenden Darstellung ist man noch nicht ge-
langt. Auch Whitney beansprucht nicht, eine
solche geliefert zu haben. Fehlt doch die Laut-
lehre, welche das Lautsystem des Sanskrit aus
dem der Grundsprache herzuleiten hätte, noch
ganz. Daß Whitney in dieser Beziehung zurück
gehalten hat, kann man nur billigen. So viel
im Einzelnen in sprachwissenschaftlichen Wer-
ken z. B. von Ascoli für die Lautlehre des
Sanskrit geleistet worden ist, so wird doch noch
viel Wasser zum Meere fließen, ehe man an die
Aufstellung einer systematischen Lautlehre wird
gehn können. Gelehrte, welche den Feinheiten
der modernen Lautforschung gewachsen und mit
den übrigen indogermanischen Sprachen be-
kannt sind, finden hier einen reichen und dank-
baren Stoff.
Die Anordnung der Whitneyseben Gramma-
tik ist diejenige, welche uns aus den griechi-
schen, lateinischen und den meisten indischen
Grammatiken geläufig ist. Nach einer kurzen
Einleitung (in welcher auf S. XVII neben der
Maiträyani-Samhitä und dem Käthakam nun-
mehr auch noch die jüngst in Bruchstücken nach
Whitney, Indische Grammatik. 397
Europa gekommene Kapishthala-Samhitä zu er-
wähnen sein würde) folgt eine Orientierung über
Lautsystem und Aussprache, und darauf in aus-
führlicher und lehrreicher Behandlung die Wohl-
lautsregeln, sodann die Declination der Substan-
tia, Adjectiva, Zahlwörter (welche herkömmli-
cher Weise vollständig aufgeführt werden, ob-
gleich, wie mir scheint, diese Aufzählung im
Grande nicht in die Grammatik gehört) und der
Pronomina, darauf die Conjugation, übersicht-
lich und besser als bisher irgendwo geschehen
war, nach Tempussystemen geordnet, dann die
Indeclinabilia, und endlich die Stammbildung.
Dieses dem Plan der Grammatiken gemäß als
Zugabe zu betrachtende Gapitel wird mit Dank
entgegengenommen werden, weil es vollständiger
als bisher irgendwo geschehen war, den beleg-
baren Wortstoff zusammenstellt. Mit Benutzung
dieser Sammlungen wird man nun einen not-
wendigen Schritt weiter gehen können, der frei-
lich noch in keiner Stammbildungslehre einer
indogermanischen Sprache (soweit mir bekannt
ist) geschehen ist. Es wird nämlich nun der
Versuch gemacht werden müssen, dasjenige was
in dem Gebiet der Stammbildung speciell in-
disch ist von dem was indogermanisch ist, zu
sondern. Reiche Indices, wie wir sie noch bei
keiner Sanskritgrammatik in gleicher Vollkom-
menheit besitzen, schließen das Werk ab.
Es ist selbstverständlich, daß jeder der aus
dem Sanskrit ein Specialstudium macht, aus
dem endlosen Stoff mancherlei nachzutragen fin-
det, und in manchen Punkten eine andere Auf-
fassung haben wird, als der Verfasser. Ich
theile aus demjenigen, was ich mir zu dem Ver-
horn notiert habe, einige wenige Einzelheiten
mit, die vielleicht von Interesse sein können.
398 Gott. gel. Anz. 18R1. Stück 12. 13.
In dem Abgehtritt über die Personalendnngen
§ 543 erwähnt Witney die sonderbare von var
abznleitende Form vam, welche RV. 10, 28, 7
erseheint, in dem Verse:
dpa vraj&m mahinä dä§6she vam.
Ich habe früher (Altindkehes Verb um S. 34)
yarn im Anschluß an Ludwig aus *varm gedeu-
tet, wobei ich annahm, daß m direct an die
Wurzel getreten sei. Diese Auffassung ist, wie
neulich Benfey (Gott. Nachr. vom 17. März 1880)
bemerkt hat, unrichtig, da das Suffix ja am lau-
tet, und nicht m. Ob aber Benfeys Auffassung,
wonach vam für vram (aus varam) stehen soll,
richtig ist, ist mir zweifelhaft, da ich keinen
Grund sehe, warum die Form vram sich nicht
ebensogut wie vran hätte halten sollen. Ich
möchte jetzt annehmen, daß vam eine durch die
Mittelstufe *varm gegangene Verkürzung ans
varam sei. Für die Annahme einer solchen ge-
waltsamen Verkürzung spricht der Umstand,
daß vam am Ende einer trochäisch verlaufenden
Reihe steht. Es scheint mir nämlich, daß Graft-
mann Recht hat, wenn er dieser Stelle des Ver-
ses derartige seltsame Verkürzungen zutraut. Er
hat sich darüber zuerst in seiner Anzeige mei-
nes Altindiscben Verbums geäußert (Jenaer Li-
teraturzeitung 1874 Nr. 20, Seite 299), wo er
bei Gelegenheit der Aoristform sishvap und a^ig-
nat sagt: „Wenn der Verf. aus einzelnen For-
men, in welchen dem Aorist kein a angefügt ist,
den Schluß zieht, daß dieses a nur einer ver-
hältnißmäßig jungen Erweiterung angehöre, so
kehrt derselbe das Verhältniß geradezu um. Ne-
ben den mehr als 150 Aoristformen mit ange-
fügtem a kommen ohne dasselbe nur vor sishvap
und a$i$nat, beide nur am Schlüsse von Trisk-
tubh-Zeilen (jenes zweimal, dies einmal), wo
Whitney, Indische Grammatik. 399
Znsammenziehungen and Verkürzungen, oft von
sehr gewaltsamer Art, gäng und gebe sind"
tl s. w. Wenn man> diesen Gedanken Gtaraß-
manns weiter anwendet, wird man manches Räth-»
sei sieh lösen sehn. So war ans bisher die Form
dart sehr anstößig, welche zweimal als zweite
Person erscheint in den Versen:
saptä y&t pürah $Arma gäradir d&rt
RV. 1, 174, 2
und ebenso 6, 20, 10, und einmal als dritte Per-
son in dem Verse
vricivato y&d dhariyüpiyäyära
bin pdrve ärdhe bhiyiaaparo dart, 6, 27, 5.
Han wird anzunehmen haben, daß in beiden
Fällen eine um des Metrums willen vollzogene
Verkürzung aus daxdar vorliegt. Aueh aus dem
Nomen schließt sich manches mit Leichtigkeit
an. So möchte ich darauf hinweisen, daß ütt
als Instrumentalis des Pluralis nur am Vers-
ende auftritt, und daß die Form änhas RV. 6, 3, 1
in dem Verse
deva pasi tyäjasä martam inhah,
welche Graßmann gegen den Accent als Ablativ
von auh auffaßt, entschieden für inhasas stehen
muß. Die Durchgangsform möchte *anhass ge-
wesen sein. Auch das fatale nrin möchte Graß-
mann in der Anmerkung zu seiner Uebersetzung
von RV. 1, 146, 4 als gewaltsam verkürzt an-
sehen. Jedenfalls verdient dieser Gedanke Graß-
mannen welcher^ wenn ieh nichts übersehen habe,
bis jetzt nicht weiter beobachtet worden ist, ein-
gehende Prüfung. Dabei, wird zu berücksichti-
gen sein, was Benfey, namentlich im 19ten
Bande der Göttinger Abhandlungen über den
Einfluß: dee Metrums auf die Sprachform be-
merkt
| 545 gedenkt Whitney der dritten Personen
400 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
auf e wie $&ye er liegt (von denen einige wie
ige duh6 vidi sieh bis in die Brähmanazeit ge-
rettet haben). Bei dieser Gelegenheit mache ich
auf eine sehr merkwürdige Form ans der Mai-
träyani - Samhitä aufmerksam , welche schon
Böhtlingk in seinem neuen Wörterbuch ange-
führt hat, nämlich ai$a als dritte Person Sing,
des Imperfects. Die Stelle lautet nach L.
v. Schröders Mittheilung so: (M. S. 1, 6, 8)
agnishomiyam purodagam dvitiyam anunfr va-
pet. täd bhnyo havyäm tipägät. nö asyänyä ige.
yärhi vä etäm purä brähmanä nir&vapaüs t&rhy
eshäm nä kägcanäi^a (k&§ cana ai$a). n& hi
vi etäm idänim nirväpanty äthaishäm s&rvaicfc
D. h. „er bringe dazu noch einen zweiten filr
Agni und Soma bestimmten Opferkuchen dar,
damit ist er dann zu der überlegnen Opfergabe
gelangt, und Niemand hat über ihn Gewalt.
Als noch die Brahmanen diesen darbrachten, da
hatte Niemand über sie Gewalt Jetzt nun, da
sie ihn nicht mehr darbringen, hat Jedermann
über sie Gewalt". Die Form ai§a hat meines
Wissens in dem gesammten Sanskrit keinen Ge-
nossen. Sie ist vermuthlich eine im Augenblick
vollzogene Analogiebildung. Wie neben v&hate
das Imperfectum ävahata steht, so entstand dem
suchenden Schriftsteller neben ige das Imper-
fectum aiga. (Gelegentlich mache ich auch dar-
auf aufmerksam, daß in dieser Stelle sicher na
und hi als zwei besondre Worte erscheinen).
§ 788 heißt es: „Die spätere Grammatik
giebt die Regel, daß mit a anlautende und mit
mehr als einem Oonsonanten endigende Wurzeln
als reguläre Reduplication an haben ; Perfecta
derart werden vorgeschrieben von Wurzeln wie
aks, arj, und anc oder ac; die einzigen andern
belegbaren Formen scheinen änarchat (MBh.)
Whitney, Indische Grammatik. 401
und änarsat (TA.) zu sein, welche danach als
Plnsquamperfecta eingeordnet werden". Ob
Whitney die Formen änarchat und änarsat mit
Zuversicht als Plnsquamperfecta betrachtet, ist
mir nach der Fassung dieses Absatzes nicht
ganz klar. Ich muß gestehn, daß es mir auch
nicht gelingt, zu einer entschiedenen Meinung
über diese Formen zu gelangen. Denn da rcbati
lediglich ein Praesensstamm ist, neben weichem
das Perfectum ära lauten würde, so ist ein
Plnsquamperfectum änarchat sehr auffällig. Man
müßte also änarchat doch wohl als Imperfectum
betrachten, dessen Bildung mir freilich nicht
recht deutlich ist. Dagegen mache ich darauf
aufmerksam, daß in der Brähmana-Sprache eine
von Whitney nicht erwähnte Form existiert,
welche ich nur als Plusquamperfectum auffassen
kann, nämlich susbupthäs. Eine von den Vor-
schriften nämlich, welche der Lehrer dem Schü-
ler ertheilt und welche gewöhnlich heißt: mä
sväpsih lautet im Qat. Br. 11, 5, 4, 5 ma su-
shupthäh. Augenscheinlich ist sushupthäs ein
anechter Conjunctiv oder nach Brugmanscher Be-
zeichnung ein Injunctiv vom Perfectstamme d. i.
ein Indicativ Plusquamperfecti ohne Augment.
Des Perfectum gushupe ,ich schlafe' ließe sich
lateinischen Perfectis, wie memini vergleichen.
Doch genug von diesen Einzelheiten!
An vielen Stellen möchte ich Whitneys Gram-
matik mehr sprachwissenschaftliche Färbung
wUnschen. So scheint es mir (um nur einen
Fall aus dem Perfectsystem anzufahren) nicht
das richtige Verfahren, wenn Whitney der Per-
fecta babhuva und sasüva nur als eines beson-
deren Falles von „Unregelmäßigkeit" erwähnt
Es wäre, glaube ieb, nützlich gewesen zusagen,
daß hier Reste der uralten Reduplicationsweise
26
402 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
vorliegen, welche sich in den europäischen Spra-
chen reiner erhalten hat, als im Sanskrit. Je-
doch liegt es mir sehr fern, Whitney wegen die*
ser Zurückhaltung tadeln zu wollen. Ueberhaupt
haben die wenigen kritischen Bemerkungen,
welche ich der neuen Sanskritgrammatik ge-
widmet habe, keinen anderen Zweck als den
Punkt genau zu bestimmen, wo die außerordent-
lichen Verdienste dieser von allen Sprachfor-
schern freudig bewillkommneten Arbeit liegen.
Der Uebersetzung kann ich keinen besonde-
ren Geschmack abgewinnen. Mir scheint, daß
sie, indem sie sich dem englischen Text allzu
buchstäblich anschließt, nicht selten undeutsch
wird. Auch laufen Uebersetzungen mit unter,
welche zu Mißverständnissen Anlaß geben kön-
nen. So liest man S. XV folgende Aeußerung
über die Sanskrit-Literatur: „Sie ist fast ganz
metrisch: nicht nur poetische Werke, sondern
auch Erzählungen, Geschichten (soweit man von
irgend etwas, das diesen Namen verdient, als
vorbanden reden kann) und wissenschaftliche
Abhandlungen jeder Art sind in Verse gebracht".
Dabei ist „Geschichten" irre leitend. Es wäre
dem modernen deutschen Sprachgebrauch ent-
sprechender gewesen, histories durch , Geschichts-
werke ', , Geschichtsschreibung ' oder einfach be-
schichte' wiederzugeben. — Im § 37 sagt
Whitney: „It is usual among European scholars
to pronounce both classes of aspirates as the
corresponding non-aspirates with a following h:
for exemple y dh. as in madhouse". Zimmer
setzt für madhouse „Kind-heit" ein, obgleich wir
doch das d in Kindheit nur schreiben, nicht
sprechen. — Im § 1051 bezeichnet Whitney
die Verbaladjective auf tavya- und ya- als ge-
rundiv; die Indeclinabilien auf tvä, ya und am
Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 403
als gerund. Ich halte diese Bezeichnung nicht
für empfehlenswerth, sie ist aber consequent,
während Zimmer die Form auf tvä als Gerundiv
und die parallele auf ya als Gerundium bezeich-
net Diese und ähnliche Irrthümer und Druck-
fehler finden ihre Entschuldigung in dem Um-
stand, daß die Uebersetzung rasch angefertigt
werden mußte, da die deutsche Ausgabe zu
gleicher Zeit mit der englischen erscheinen sollte.
Sie werden bei einer zweiten Auflage leicht zu
vermeiden sein.
Jena. B. Delbrück.
Mittelhochdeutsches Handwörterbuch
von Dr. Matthias Lexer, o. ö. Professor der
deutschen Philologie in Würzburg. Zugleich als Supple-
ment und alphabetischer Index zum Mittelhochdeut-
schen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 8 Bde.
Leipzig, Hirzel 1872-78. (I: XXIX S., 2262 Sp.;
H: VII S., 2050 Sp.; HI: VI S. u. 1226 u. 406 Sp.).
Lex.-8°.
Mittelhochdeutsches Taschenwörter-
buch, mit grammatischer Einleitung. Von Mat-
thias Lexer. Leipzig, Hirzel 1879 (XXHI, 314 S.)
kl. 8°.
Nach zehnjähriger Arbeit hat Lexer sein
Handwörterbuch abgeschlossen, welches nicht
bloß ein Register zum 'Mittelhochdeutschen
Wörterbuch ', sondern eine wesentliche und un-
entbehrliche Ergänzung desselben geworden ist.
Wir haben alle Ursache dem Verf. dankbar zu
sein für die mühevolle Arbeit. Ein Abschluß
ist freilich bei einem derartigen Werke auf
einem Gebiete nicht zu erreichen, wo jede neu
aufgefundene oder zum ersten Mal benutzte
Quelle Nachträge liefert. Der 406 Sp. umfas-
sende Anhang des 3. Bandes enthält bereits eine
reiche Lese von Ergänzungen, die naturgemäß
26*
404 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
sich zum größeren Theil auf die vordere Httlfte
des Wb. erstrecken. Auch an Berichtigungen
kann es nicht fehlen: einiges ist schon in den
1 Nachträgen' berichtigt; so das wunderliche
anse-zeciwnan (I, 27), das ansezech {ansaezee)
man ist; so das broedeltche name (I, 358) im
Ruiand, das broede lichendme ist, wo das richtige
Verständniß dem Verf. erst durch meine Aus-
gabe gekommen zu sein scheint. Vgl. ferner
die Nachträge unter dingeltn, Mver, niun» Sicher
kein Wort ist das ungeheuerliche dsaloft (N* 34),
das in dsal ofte {ofte steht fehlerhaft zweimal)
zu trennen sein wird, badelat ist gewiß nicht
'Einladung zum Bade'; wie wäre das durch-
gängige t in dem Worte zu erklären, das der
Schreibung der betreffenden Quelle gar nicht
gemäß ist? btmenzelte steht für bment-zelte.
Das beigefügte blas in Klammer war zu sparen,
da die Kürze in blas unzweifelhaft ist. blech-
schere ist wohl richtiger blechschaere. borel} das
unerklärt geblieben, ist altfr. buret, ein Wollen-
stoff. Unter diesen steht, aus einem unbegreif-
lichen Fehler Strobls beibehalten, als plnr. pr&t
dozen und flozen. dignicheit steht nicht für di-
genheit, sondern ist Ableitung von franz. digne.
entsamen, entsamet ist an den angeführten Stel-
len nicht adj., das es überhaupt nicht giebt,
sondern Composition mit guot. gerech N. 195
kann an der angeführten Stelle nicht adj., son-
dern muß infin. sein, gile, unerklärt geblieben,
ist franz. guile, Betrug, und sunder gile nicht
== sunder spot, sondern =±= sunder (äne) trüge.
In honeo-krate ist der zweite Thöil wohl lat.
crates, worüber vgl. J. Grimm bei Haupt 8, 421 f.
jdrä ist unrichtig statt jarä angesetzt. Mehr*
fach finden wir in den Nachträgen, auf die ich
mich hier beschränken will, Wörter als neu (in
r
Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 406
größerem Druck) aufgeführt, die unter derselben
oder in anderer Form schon im Hwb. standen.
So amasür, das 1,48 schon in der Form amaszür
vorkam ; ferner anemuotunge, angrif (steht unter
anegrif, ein Beweis, wie unzweckmäßig es war,
die Compositionen in zwei Reihen, mit an und
ane, zu trennen, ebenso wie titer- und ritter-,
während bei mite- richtig alle mit- eingereiht
sind), bedrücken^ beriUe, besterben, brennaere,
buremute, dristrenge, eirkuoche (s. eierhuoche),
erbietunge, erlin , gabeltrager (mit demselben Ci-
tate schon I, 721), gebande, gedoeze, geilender,
geleren, genüegen, gevögefae, gewarten, göckdman}
grüezec, harmschar, holze, hülzin, hüsgemach}
imerndt, isenhalde, jegerhorn, kiben, küber,
kirchwät , krämergewihte , leimdecker , puster,
saks, sturmwcter, tunhdmeister, ungeriht, verre-
Ungen9 vronkmelriehe. Anderseits sind Wörter
klein gedruckt, die als neue Wörter zu bezeich-
nen waren. Der Name Betetvin ist nicht iden-
tisch mit bebewin, sondern hier ist win, wie in
andern Namen «entstellt aus win. Vgl. ferner
bettegegate, brtwdertohter , entwarnen, geblasen,
gezomen, goltbUlemelin9 grüsenen, heric, herko-
mm, herzslehte, holzbihel, iferie, kerstranc, ori-
ginal, quitenwazzer, rthtegelt, rösinekin. Die
Reihenfolge der Worte . ist nicht selten nicht
streng alphabetisch, was bei einem Nachschlage-
buch immer unangenehm und störend ist. Mit-
unter ist es nur Vertauachung von zwei Wör-
tern, worauf weniger ankommt, wie wenn antse-
gede vor antsaezic, arzetaere vor arzentuom,
08cherzeUe vor aschermitwoche, ba/nline vor bonier
steht (vgl. noch S. 58. 59. 69. 75. 75. 84. 113. 119.
137. 142. 145. 168. 171. 173. 185. 195. 203.
209. 227. 237. 249. 258. 277. 277. 279. 280. 289.
294. 314. 316. 324. 329. 336. 343. 345. 353.
406 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
392), aber stärkere Mißgriffe sind, wenn ban-
meise aufSp. 43 statt 41 steht; wenn blaterspil,
blatise, blateen, blathamascher, blatlös in dieser
Reihenfolge stehen ; wenn gelide- erst nach einer
Reihe von Wörtern mit gelih- steht; geml, ge-
zafen, gemgel so folgen ; hantbeschouwerin auf
Sp. 228 statt 227 sich findet; commissionbrief
auf Sp. 278 statt 277 ; vergenlon auf Sp. 392
statt 391. Manche Verweisungen standen schon
im Hwb. und sind daher in den Nachträgen zu
streichen (s. äser, bebendle, bequingen).
Nachträge hier zu liefern fällt mir nicht ein,
so leicht es auch wäre. Ich will nur ein paar
Worte erwähnen zum Beweise, wie auch längst
und allgemein bekannte Quellen Ergänzungen
liefern und wie nur die Einseitigkeit des Verf.
daran schuld ist, daß sie fehlen. Hätte er außer
Lachmanns Ausgabe der Klage und der Nibe-
lungen auch andere benutzt, so würden ihm
Belege für digeltche (das fehlt), herrenliche (Nib.
C), hohen, vlekeliche daraus zu Gebote gestanden
haben. Das seltene Wort uohaltic fehlt, es
steht in der Litante.
Endlich noch eine Bemerkung über die Art
der Quellenbenutzung. Gewiß ist es einem Lexi-
cographen erlaubt, Specialwörterbücher auszu-
beuten, nur muß dann die betreffende Quelle
auch genannt werden. Bei Eonrads Rolands-
lied ist nun, wie sich leicht nachweisen läßt,
das Wortverzeichniß meiner Ausgabe excerpiert,
die Gitate aber sind in die der Grimmschen
Ausgabe umgeschrieben worden, so daß es den
Anschein hat, als habe Lexer den Roland neu
ausgezogen, während er doch mich ausgeschrie-
ben hat. Man vgl. unter den Nachträgen d-
waltic, aneböz, aneminne, anschin, begurten (wo
ich aber an der Construction mit doppeltem
Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 407
Accus, unschuldig bin !) edelinc, einvar, ergraben,
erleiden, ernenden, ersmielen, ersprengen , er-
wagen, erwarmen , geleidigen , genüege, gerich9
gesalben, gewerden, gewichen, gesogerdiche etc.
Ja L. giebt sich sogar den Anschein, als habe
er die Varianten bei Grimm excerpiert, vgl. un-
ter bezeichenen, entvürkten, geledigen, gewonen,
horsame, iserin, hübe, nieware, serigen, see. Nur
ein paarmal bei abweichendem Texte wird meine
Ausgabe erwähnt: s. bewallen, seile, undergeben,
wislichen; die beiden letzten Belege im Hwb.,
denn vom t an verschwindet das Bul. unter den
Nachträgen und erscheint im Hwb. selbst, weil
inzwischen meine Ausgabe erschienen war.
Eine ehrliche Art der Quellenbenutzung ist das
keinesfalls.
Das ' Taschenwörterbuch ' ist ein Auszug aus
dem Hwb., der gewiß allen denen, die nicht
Germanisten von Fach sind, gute Dienste leisten
wird. Es ist eine verständige Auswahl getroffen,
wobei die Rechts- und Urkundensprache Be-
rücksichtigung gefunden hat. Denn gerade auch
für Juristen und Historiker ist dies Buch be-
stimmt. Vorangeht eine kurze grammatische
Einleitung, die ebensogut hätte fehlen dürfen,
da sie einem Bedürfnisse kaum entspricht und
außerdem nicht durchaus auf dem heutigen
Standpunkt der Forschung steht Unrichtig ist
Umente mit i angesetzt, ebenso bisant statt bi-
sant. Statt MveMe war besser die Form bivilde
oder bivilde anzusetzen, galide ist falsch, es
muß gdleide heißen (mlat. galenda); der Beim
des Oesterreichers Ulrich von dem Tttrlin kann
nichts beweisen, gdleide verhält sich zu gälte
wie vespereide zu vesperte. Unverständlich ist mir
der aus dem Hwb. berübergenommene Ausdruck
zieher } der auf bildende (ausbildende? aufzie-
408 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
bende?) Pfleger. Daß das gar« nicht existie-
rende, nur auf einer Lachmannschen Schrulle
beruhende schierliche auch in diesem Taschen-
wörterbuch fortexistiert, ist ebensowenig zu bil-
ligen wie bei uosezzel, das an der betreffenden
Stelle des Lanzelet einfach aus weizel, Char-
pie, entstellt ist.
Heidelberg. E. Bartsch.
Der deutsche Episkopat in seinem Ver-
hältnis zu Kaiser und Reich unter Hein-
rich HI. 1039—1056. Von Franz Franei«.
Theil I. Programm zum Jahresberichte über das kgL
Lyzeum und die kgl. Studienanstalt zu Regensburg im
Studienjahre 1878/79. Stadtamhof, Druck von J. Mayr
1879. 72 Seiten. 8°.
Der Verfasser beabsichtigt, das genannte
Thema in 4 Theilen zu behandeln, nemlich 1.
Wahl und Einsetzung der Bischöfe, 2. die staat-
liehe Stellung und politische Wirksamkeit der-
selben, 3. Besitz des Episkopats, 4. die deut-
schen Päpste in ihren Beziehungen zu Hein-
rich III. Es ist der erste Theil, den wir hier
vor uns haben, der die Wahl und Einsetzung
der Bischöfe unter Heinrich III. behandelt.
Die Untersuchung schließt sich an die von
Friedberg und von dem Referenten über Lo-
thar HL, die von Witte über Eonrad HL, und
die vonGeardes über Ottol. an und ist zugleich,
wie alle diese Spezialuntersuchungen, ein Bei-
trag zur Regierungsgeschichte des betr. Königs
und zur Geschichte der Bisehofswahlen über-
haupt. Der Verfasser ist nach beiden Beziehun-
gen den Anforderungen seines Themas mit über-
legter Kritik und einsichtiger Auffassung gereckt
geworden; er kennt und benutzt sorglich das
«einschlägige Material an Quellen und Literatur,
Franziß, Der deutsche Episkopat unt. Heinrich" III. 409
namentlich stützt er sich natürlich auf Steindorff,
Jahrbücher des deutschen Reiches unter König
Heinrich III, Theil 1 ; und nach beiden genann-
ten Beziehungen ist seine Arbeit nicht ohne ver-
dienstliche Resultate geblieben.
Man ist, wenn man das Verhalten eines
Regenten bei der Einsetzung der Bischöfe wäh-
rend seiner ganzen Herrschaft abgesondert be-
trachtet, in der auf dem Gebiet des früheren
Mittelalters seltenen glücklichen Lage, die wirk-
liche Regierungsthätigkeit des Monarchen, seine
innere Politik in einem der wichtigsten Zweige
verfolgen und erkennen zu können, weil die Bi-
schofs wählen eben der einzige Zweig der [Art
«nd, über den uns die Quellen jener Zeit (aus
bekannten Gründen) eingehendere Nachrichten
überliefert haben. Bei gesonderter Betrachtung
der Bischofswahlen werden wir daher fast in
jeder Regierungsepoche konkrete bestimmte An-
schauungen von der Regierangsweise des Herr-
sehers gewinnen, welche nicht immer gerade
neue Züge deren bisher bekanntem Charakter
hinzufügen, aber jedenfalls immer die bekannten
Züge eigenartig bestätigen , sicherer und aus-
geprägter markieren werden. Das letztere ist
hier der Fall: wir sehen Heinrich III. das un-
umschränkte Verfügungsrecht bei Besetzung der
bischöflichen Stühle üben, indem er die Bischöfe
bald designiert, bald geradezu ernennt, und un-
ter den ihm vorgeschlagenen Kandidaten bald
beliebig auswählt, bald alle verwirft, so daß er
ungeachtet der verschiedenen Formen des Wahl-
verfahrens immer die Entscheidung in letzter
Hand behält; wir sehen ihn mit Vorliebe Män-
ner seines persönlichen Vertrauens befördern,
seine Kapläne, Kanzler, seine Verwandten, un-
gern wählt er ihm Fernstehende, Unbekannte;
410 ' Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
allein er läßt eich keineswegs rücksichtslos nur
von seinen Herrscherinteressen leiten, wie etwa
ein Konrad IL, sondern er hat auch das Inter-
esse der Bisthümer, der Kirche selbst wohl im
Auge. So wird das Bild dieses Herrschers, wie
es uns Giesebrecht dargestellt hat, in markan-
ten Zügen bestätigt und verschärft.
Für die Geschichte der deutschen Bischofs-
wahlen kommt besonders der zweite Abschnitt
der Schrift S. 17—28 in Betracht, wo der Ver-
fasser eine zusammenhängende Untersuchung
über die Art der Ernennung und Einsetzung der
Bischöfe giebt und mit guter Kenntniß die Ge-
sichtspunkte, auf die es ankommt, hervorhebt
Doch hat er es, vielleicht mit Rücksicht auf
sein spezielleres Thema, unterlassen, die Resul-
tate seiner Untersuchung für die allgemeine Ge-
schichte der Bischofswahlen zu verwerthen, bezw.
auf deren Bedeutung in dieser Beziehung auf-
merksam zu machen. Ich möchte dies mit Hin-
blick auf Waitz's Verfassungsgeschichte , beson-
ders Band 7 S. 269 ff. , und auf Gerdes' Disser-
tation, ' Die Bischofswahlen unter Otto dem Gro-
ßen in den Jahren 953 bis 973', Göttingen 1878,
in einigen Hauptpunkten hier thun. Zunächst
ist da zu bemerken, daß wir in den meisten
Fällen auf die Form des Wablverfahrens sto-
ßen, welche schon zur Zeit der Ottonen üblich
war (Gerdes S. 45 Zeile 4 von unten ff.) und
noch im 12. Jahrh. als die gewöhnliche be-
schrieben wird (WaitzVII S. 282 Note 1): eine
Deputation bringt die Insignien des erledigten
Stiftes an den Hof, und dort wird der neue Bi-
schof ernannt. Daneben kommt aber ein aus-
führlicheres Wahlverfahren vor, welches wir
ebenfalls schon unter Otto I. (Gerdes S. 42 ff.,
52 ff.) und noch im 1 2. Jahrhundert (Waitz I. c.
Franziß, Der deutsche Episkopat unt. Heinrich III. 4] 1
282 Note 3) finden : es werden am Orte der Se-
digvakanz mehrere oder es wird ein Kandidat
gewählt nnd diese bezw. dieser dem Könige
präsentiert, der dann den Präsentierten bezw.
einen der Präsentierten nominiert, nicht selten
aber auch ohne Rücksicht anf die Vorgeschla-
genen einen Andern ernennt. Ein charakteri-
stischer Fall des ersten Modus ist die Wahl
Lietberts von Cambray (Franziß S. 17 Note 5
nnd S. 64), charakteristische Fälle des zweiten
Modus sind die Wahlen Halinard's von Lyon
(Franziß S. 11 Note 3 und S. 57\ Wazo's von
Lattich (Franziß S. 17 Note 2, S. 19/21, S.49),
Wido's von Mailand (Franziß S. 8 Note 1 und
S. 56) — deutliche Anzeigen dafür, daß diese
Wahlmodi beide aus längerer Praxis hervorge-
gangen sind und daß keiner der beiden zu ir-
gend einer Zeit plötzlich und willkürlich in An-
wendung gebracht worden ist. Nicht minder
deutlich erhalten wir den Nachweis kontinuier-
lichen Zusammenhanges mit früheren und spä-
teren Formen, wenn wir die einzelnen Akte des
Wahlverfahrens ins Auge fassen. Ich gehe da-
bei auf die Unterscheidungen und Bezeichnun-
gen von Gerdes zurück, welche sich in sachlich
und formell empfehlenswerter Weise an die
ähnlichen Vorgänge bei den Pabstwahlen anleh-
nen (vgl meine Abhandlung in den Forschungen
zur Deutschen Geschichte XX, S. 362). Da be-
gegnet uns bei dem ausführlicheren Wahlmodus
wie zur Zeit Otto's I. die „Vorwahl" am Orte
der Sedisvakanz durch Klerus und Laien, vgl.
Gerdes S. 42 mit Franziß S. 8 Note 1 bezw.
Mon. Germ. SS. VIII 74, 32 ff. bei der Erhebung
Wido's von Mailand civibus convenientibus in
mmm tarn clericis quam laicis longas solventes
orationes in populo, quatenus de acquirendo et
412 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12.13.
eligendo archiepiscopo consulerentur, elegemnt etc.
und mit Franziß S. 11 Note 3 bezw. M. G. SS.
VII 236, 10 ff., bei der Erhebung Halinards von
Lyon vox totius cleri cum consensu populi etc.
und mit Franziß S. 19—21 bezw. M. G. SS.
VII 219, 32 ff. bei der Erhebung Wazo's von
Lüttich a clero et populo ad episcopatum repos-
citur, a cunctis eligitur. Innerhalb dieser Vor-
wahl findet eine „Vorberathung" (consulere ist
der technische Ausdruck dafür, der in der oben-
angeführten Stelle gebraucht ist, vgl. Gerdes S.
43) und eine „Abstimmung" (eligere ißt der
Ausdruck in den angeführten Stellen, vgl. Ger-
des S. 48) statt. Nach solcher Wahl der Kan-
didaten geht eine Gesandtschaft mit der „Bitte
um Bestätigung" an den König (petitio ist die
dafür gebrauchte Bezeichnung, vgl. Gerdes S.
52/53 und die nachher anzuführende Stelle aus
Anselmi gesta episc. Leod.), wobei die Kandi-
daten selbst mitziehen oder nur in absentia po-
stuliert werden; die Petitio geschieht mündlich,
aber auch durch der Gesandtschaft mitgegebene
Briefe der Gemeinde. Dann findet nach Bera-
tung des Königs und der Kurie, wobei die
Prüfung der zu Wählenden auf ihre kanonische
und sonstige Zulässigkeit, die ohne Zweifel schon
in der Vorwahl eine Rolle gespielt hat, nicht
unterbleibt, die „königliche Bestätigung" des zu
erhebenden Kandidaten statt. Daß auch Ver-
werfung der präsentierten Kandidaten seitens
des Königs zu Gunsten irgend eines von diesem
beliebten vorkommt, habe ich vorhin schon er-
wähnt. Alle diese Modalitäten sehen wir be-
reits unter Otto I. in Uebung, vgl. Gerdes 8.
42 ff., 52 ff. mit folgenden Stellen : M. G. SS.
VIII 74, 32 ff. bei der Erhebung Wido's von
Mailand cives . . . quatuor majoris ordinis viros
Franziß, Der deutsche Episkopat unt. Heinrich III. 413
sapientes optimae vitae bonaeque farnae elege-
nrat, qnitras electis universae civitatis ordines
ipsos ad imperatorem Henricutn . . . summa cum
diligentia direxerunt, et his imperatori reprae-
sentatie ipse discrete provideret consciliis rima-
tis, quatenns unum de istis quatuor archiepisco-
pom laudando atmlo et virga pastorali conti r-
maret, quem confirmatum civeö majores ,et mi-
nores indnbitanter tenerent; M. 0. SS. VII 236,
10 ff. bei der. Erhebung Halinard's von Lyon
vox tortus cleri cam consensu populi ... at
pastoris caram in iis gereret deprecatnr. ad im-
peratorem legationem mittant, at domnas Hau*
nardns pontifex eis detur exposcant. imperatoris
praeceptum mittitur, ut domnas Halinardas in-
thronizetur praecipitur; nachher verfügt Halinard
sich an den Hof, am die Beiehnang and Bestä-
tigung persönlich entgegenzunehmen*), worüber
*) Ich halte an der Meinung Giesebrechts fest, daß
der Bericht des Chron. S. Benigni Divion. 1. c. ein ge-
schlossenes Ganze sei, Steindorff Jahrb. d. deutschen
Reichs unter Heinrich HL S. 303 Note 2 will zwei ver-
schiedene Berichte, die an einander gereiht seien, an-
nehmen nnd nur den zweiten gelten lassen, Franziß ist
ihm darin gefolgt. SteindorfPs Annahme stützt sich 1)
darauf, daß der erste und zweite Theil der ganzen Wahl-
geschichte durch eine Abschweifung über Halinards Amts-
rahrang unterbrochen ist — solche vorgreifende Ab-
schweifungen begegnen aber zu oft bei mittelalterlichen
Autoren, um einen Verdachtgrund gegen die Einheit der
dadurch unterbrochenen Erzählung zu bilden; 2) darauf,
daß Halinard im ersten Theil des Berichtes Bedenken
gegen die Uebernahme des Pontifikats überhaupt hegt,
im zweiten Theil nur gegen einen einzelnen Punkt, nem-
lieh die Ableistung des dem Könige schuldigen Treueides,
diese Angaben, meint Steindorff, wären von einander ab-
weichend, wenn nicht einander widersprechend — aber
dieselben sind wohl mit einander verträglich; denn wenn
ttan dem Gange der Erzählung folgt, erkennt man, daß
diese beiden verschiedenen Bedenken zu verschiedener
41 i Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
gleich Weiteres zu bemerken sein wird; M. G.
SS. VII 219, 32 nach der einstimmigen Vorwahl
wird Wazo als Kandidat von Lüttich nach Re-
gensburg an den Hof gesandt, virga pastoralis
cum ecclesiae nostrae litteris praesentatur, res
agenda in crastinnm differtur, postera die a rege
cum episcopis et reliquis palatii principibus con-
sulitur ; nach lebhaften Debatten dringt die Kan-
didatur Wazo's durch, Bischof Bruno von Wirz-
burg und Hermann von Koeln regiae majestati
petitionem nostram conciliant et procerum ani-
mos in sententiam suam traiciunt. Und diesel-
ben Modalitäten finden wir noch im 12. Jahr-
hundert fast ebenso in Uebung. Auch die For-
men, in denen die „Verleihung" des Bisthums
seitens des Königs vor sich ging, sind wesent-
lich dieselben, wie schon zur Zeit Otto's I. und
wie noch zur Zeit des Investiturstreites; und
mit den Formen die dafür gebrauchten techni-
schen Ausdrücke: Wido von Mailand soll der
König laudando anulo et virga pastorali confir-
mare, M. G. SS. VIII 74, 38 ; von Halinard von
Lyon heißt es M. G. SS. VII 236, 37 propter
donum episcopates . . . Heinrici caesaris cu-
Zeit bei verschiedenen Stadien des Wahlverfahrens statt-
gefunden haben : das erste, als der König auf die Petitio
der Gesandtschaft von Lyon das Bestätigungsdekret er-
lassen hatte (und hier konnte sehr wohl das Zureden
des Pabstes helfen, da wir wissen, daß Halinard die
Uebernahme des Bisthums bereits früher einmal aus an-
geblich rein kanonischen Gründen abgelehnt hatte, s.
Steindorff a. a. 0. S. 135); das zweite, als Halinard wie
üblich die Belehnung und Bestätigung des Königs ent-
gegen nehmen sollte, da das vorher noch nicht geschehen
war, weil er der Erzählung gemäß bei Gelegenheit der
Petitio nicht selbst mit an den Hof gegangen war. Wenn
man dies in's Auge faßt (vgl. oben im Text das über die
Investitur Gesagte), so ist an der ganzen Erzählung im
Chron. S. Benigni Divion. wohl kein Anstoß zu nehmen.
Franziß, Der deutsche Episkopat uut. Heinrich III. 115
riam adiit . . . imperator ut moris est propter
datum honorem episcopii requisivit ab eo fidei
sibi debitae sacramentum; vgl. Gerdes S. 56/57,
Waitz V. G. VII, S. 280 ff.; hervorzuheben ist
hierbei, daß der Ring als Symbol des Bisthums-
besitzes unter Otto I. noch nicht üblich ist. Die
Gegenleistung des Belehnten ist der Treueid,
der schon unter Otto I. aus einem Trenver-
sprecben und Handschwur besteht (vgl. Gerdes
S.56) und noch im 12. Jahrhundert und später-
hin unter denselben Ceremonien vor sich geht
(vgl. Waitz 1. c. S. 287); nur ist für die letztere
Ceremonie noch nicht der technische Ausdruck
hominium aufgekommen. Aber daß die Sache
unter Heinrich III. wesentlich dieselbe war, er«
giebt sich deutlich aus der Erzählung der Chron.
S. Benign. Divion. M. G. SS. VII 236 , 40 ff.
Der König verlangt von Halinard von Lyon we-
gen der Verleihung des Bistbums fidei sibi de«
bitae sacramentum. Das ist eben der Treueid
nebst Handschwur, der von jeher dem ortho-
doxen Klerus zuwider war und gegen den sich
immer wieder Einzelne sträubten (s. Waitz V. G.
VI, S. 389/390, VIII, S. 454). Halinard ver-
weigert denselben aus kanonischen Bedenken;
der König wünscht wenigstens si non vult sa-
cramentum facere, vel ad hoc se proferat, utvi-
deatur fecisse, ne mos patriae nostrae adnulle-
tar, begnügt sich aber schließlich solummoda
verbo et promissis ipsius fidem assentiens —
derselbe Ausweg, welchen Lothar III. gegenüber
den analogen Bedenken Konrads von Salzburg
einschlug. Auch bei der Erbebung Lietbert's
von Cambray wird die Ableistung des Treu-
eides mit den Worten facta fidelitate imperatori
erwähnt, M. G. SS. VII 492, 12, vgl. des Re-
ferenten Schrift Lothar III. und das Wormser
416 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 12. 13.
Konkordat S. 73. Wenn der Kandidat nicht
selber bei seiner Ernennung am Hofe mit zu-
gegen war, mußte er selbstverständlich sich spä-
ter dorthin begeben, um die Belehnung vom
Könige zu empfangen, vgl. Gerdes S. 55 und
die eben erwähnte Wahlgeschichte Halinard's
von Lyon. Was die Ceremonien beim Einzug
und bei der Einführung der Bischöfe betrifft, so
möchte ich nur hervorheben, daß während in
den Quellen aus König Heinrich's Zeit eine
electio publica (vgl. Gerdes S. 59 und Forschun-
gen zur deutschen Gesch. XX, S. 361 ff.) nicht
ausdrücklich erwähnt wird, der feierliche Em-
pfang des Neuerwählten in der Bischofsstadt
unter derselben technischen Bezeichnung Sus-
ceptio wie zur Zeit Otto's I. und Lothar's in.
vorkommt, vgl. Gerdes S. 60 und Forschungen
zur deutschen Gesch. XX, S. 365 mit den Stel-
len M. G. SS. VIII 75, 9 usu antiquo ac im-
periis imperatoris urguentibus honorifice ac de-
vote 8usceptus est und M. G. SS. VII 220, 16
in sedem episcopii reducitur, honorifice ut de-
cebat suscipitur. Der kürzere Wahlmodus ver-
läuft, so weit uns die vorhandenen Nachrichten
sehen lassen, in seinen einzelnen Stadien we-
sentlich ebenso, mit der Ausnahme, daß eben
die vorherige Ernennung von Kandidaten, die
Vorwahl am Orte der Sedisvakanz wegfällt zu
Gunsten königlicher Designation oder Nomi-
nierung. Ernst Bernheim.
Auf mehrfache Anfrage.
Es wird bei den Gott. gel. Anz. als selbstverständ-
lich betrachtet, daß wer eine Schrift dahier bespricht,
dieselbe nicht auch anderwärts, auch nicht 'in kürzerer
Form', anzeigt.
Ffir die Redaction verantwortlich : E. Heimisch, Director d. G6tt.gel. Abi.
Verlag der Ditierich'schm Yirlags- Buchhmuümy.
Dntdt d$r DüUrich'schtn Univ.- Buchdruckerei ( W. Fr. Kemt»*U
417
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 14. 6. April 1881.
Inhalt: A. Samt er, Das Eigenthum in seiner sozialen Bedeutung.
Von 0. Hartmann. — A. H. 8 a y c e , Introduction to the Science of
Language. Yon A. Fick. — A. H. Chartarir, Canonicity. A Col-
lection of Early Testimonies to the Canonical Books of the New Testa-
ment. Ton 0. v. Qebhardt
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ana. verboten SB
Das Eigenthum in seiner sozial en Bedeu-
tung, yon Adolph Samter. Jena, Verlag von
Gustav Fischer 1879. XXX u. 503 S. 8°.
Als ein Zeichen der Zeit wird auch vor-
stehendes Werk in diesen Blättern erwähnt zu
werden verdienen. Seine Haupttendenz richtet
sich gegen die Vorherrschaft des Individualis-
mus in der Auffassung and Gestaltung des Eigen-
tums. Nach des Verfasserg eigenen Worten
gipfelt das Gesammtresultat seiner Untersuchun-
gen darin : „daß weder das Privateigentum noch
das Collectiv-Eigenthum Ansprach auf ausschließ-
liche Geltung hat; daß sowohl Privateigenthum
wie genossenschaftliches wie Staats- und Ge-
meinde-Eigenthum and demgemäß sowohl die
privatwirthschaftliche wie die gemeinwirth-
Bchaftliehe Productionsweise Existenzberechtigung
habe". In dieser Allgemeinheit scheint die Auf-
stellung allerdings von unerschütterlicher Stärke
zu sein. Alles wird aber darauf ankommen,
27
418 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
wie man sich das allgemeine Princip im Einzel-
nen ausgebildet und angewendet denkt. Und
ob hierin der Verfasser, trotz seines unverkenn-
baren Strebens zum Maßhalten, doch nicht zu
weit nach der Seite des Sozialismus hin sich
neigt, das kann mit Recht gefragt werden. Es
gilt dies namentlich hinsichtlich der Behandlung
des Grundeigentums. Weil der Grund und Bo-
den nicht beliebig vermehrbar ist, weil er in der
fortschreitenden Gesellschaft die Tendenz einer
andauernden Werthsteigerung verfolgt, weil sich
in ihm die productive Kraft der Natur unmittel-
bar verkörpert: eignet sich, nach der vom Ver-
fasser angenommenen sozialistischen Lehre, das
Grundeigenthnm besonders dazu „als gesell-
schaftliches Eigenthum zu functionieren und der
Gemeinschaft überwiesen zu werden" (S. 458),
„hat die Natur selbst dem Grundeigenthnm den
Stempel der Gesellschaftlichkeit aufgedrückt, es
zum Gemeingut bestimmt" (S. 462). Es ist
das ähnlich, wie wenn Emile de Laveleye, in
seinem fleißigen und lehrreichen Buche „de la
proprio et de ses formes primitives", in der
Schweizerischen , Allmende das Urbild und den
idealen Typus alles Eigenthums „le type da
vrai droit de proprio, qui doit servir de base
k la society de Pavenir" und „la solution da
probl&me sociale" entdeckt hat.
Unser Verfasser denkt sich freilich die prak-
tische Ausgestaltung und Anwendung des Grund-
gedankens in anderer Weise. Der Boden kann
und muß, nachdem er in's Staatseigentum über-
gegangen ist, „am zweckmäßigsten verpach-
tet werden una zwar in solch kleinen Parzel-
len, daß die Familie ausreichendes Ein-
kommen findet" (S. 491).
Nicht der finanzpolitische Gesichtspunkt soll
Samter, I). Eigenthum in sfeiner socialen Bedeutung. 419
bei dem gesellschaftlichen Eigenthnm des Staa-
tes im Vordergründe stehen. Vielmehr soll da-
durch dem ausschließlichen Spiel des individuel-
len Eigennutzes ein Gegengewicht geboten, es
soll den im Kampf um's Dasein Bedrängten
eine gesellschaftliche Zufluchtsstätte geboten, der
Misere soll ein Ende gemacht werden. Ob
niebt in der Gonsequenz dieses Gedankens auch
das liegen würde, daß den Vätern zahlreicher
Familie von Staatswegen das Pachtgeld zu re-
mittieren wäre? Und ob sich nicht bei der be-
grenzten Möglichkeit der Vermehrung solcher
einträglichen Pachtstellen, gegenüber dem steten
Andränge einer überzähligen Bevölkerung, ganz
ähnliche Schwierigkeiten ergeben würden, wie
sie schon vorlängst durch Aristoteles (politic,
lib. II, c. 3 § 5— 7) gegenüber verwandten an-
tiken Gesellschaftsidealen berührt worden sind?
Der Verfasser selbst betont übrigens wieder-
holt, daß keineswegs .durchaus aller Grund und
Boden in den Besitz der Gemeinschaft überzu-
gehen braucht" (S. 489). Er verwahrt sich und
ans gegen die Aussicht, daß plötzlich ein
Gesetz erlassen wird, kraft dessen alles oder
nahezu alles in den Händen der Einzelnen
befindliche Grundeigenthum enteignet und den
Händen des Staates bezw. der Gemeinde über-
antwortet würde (S. 463). Es werde dies das
Resultat einer allmählichen geschichtlichen Ent-
wicklung sein, freilich in unsrer schnell dahin-
eilenden Zeit immerhin mit größerem Geschwind-
Bchritt, als mit welchem in der ältesten Ge-
8chichtsperiode das ursprüngliche, in den Hän-
den der Gemeinschaft befindliche Grundeigen-
thum zum größten Theile in die Hände der
Einzelnen gekommen ist
Der Ankündigung einer soweit gehenden
27*
420 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
Verdrängung des einmal herausgebildeten Indi-
vidual-Eigenthums durch Staats- und Collective
eigenthum stehen wir gewiß nicht vereinzelt
gegenüber mit dem Bedenken: daß einer sol-
chen Entwicklung gewisse constante Grund-
triebe der menschlichen Natur glücklichen und
erfolgreichen Widerstand leisten werden, die
nicht schwächer geworden sind seit sie Aristo-
teles bei der Berührung des Eigenthums-Pro-
blemes (politic, lib. II, c. 2) weise erwog.
Unser Verfasser verfolgt ganz consequent
die gleiche Tendenz, die er bei der Behandlung
des Grundeigenthums einschlug, auch bei der
Auffassung des anderweitigen Staatsproductiv-
eigenthums. Bestimmt verwahrt er sich hier
überhaupt gegen die ausschließliche Col-
lectivarbeit (S. 429). Wie die literarisch -artisti-
sche Production, um die Möglichkeit einer gei-
stigen Knechtschaft auszuschließen, der Centra-
lisation entzogen bleiben muß: so kann auch in
anderen Richtungen die Collectivarbeit schädlich
wirken und bedarf jedenfalls des Gegengewichts
durch die Einzelthätigkeit und durch das pri-
vate Productiveigenthum. Andererseits aber
fordert auoh das System der individualistischen
Privatwirtschaft ein Gegengewicht in der wirt-
schaftlichen Staatsthätigkeit und im Staats-
preductiveigenthum. Der Staat soll hierbei
pflichtmäßig dem unter seiner Obhut productiv
Thätigen möglichst viel Lohn geben, während
der Arbeiter vom Privatlohnherrn möglichst we-
nig erhält. Die Erweiterung der Sphäre wirt-
schaftlicher Productivthätigkeit des Staates auf
Kosten der rein individualistischen Wirthschaft
soll sich am passendsten anbahnen und einlei-
ten durch das Zwischenstadium einer kräftigen
Entwickelang des Genossenschaftswesens und
Samter, D. Eigenthum in seiner socialen Bedeutung. 421
des genossenschaftlichen Productiveigentbums.
In welcher Weise aber der Staat ein ausreichen-
des Maß von Produotiveigenthum an sieh zu
nehmen and in welcher Weise er dasselbe zu
verwenden hat, bleibt als „Frage der Zukunft"
von genauerem Eingehen ausgenommen. Als
leitendes Ziel der Staatsthätigkeit aber wird
aufgestellt : „eine Gesellschaftsordnung herzu-
stellen, in welcher die Einzelnen zur Entfaltung
ihrer berechtigten Bestrebungen zu gelan-
gen vermögen und durch welche die Ungleich-
heiten beseitigt werden, die sich im Laufe der
geschichtlichen Entwicklung herausgebildet ha-
ben«. (S. 447).
Es enthält dieser letzte Satz, anders als die
vorhergehenden Sätze, in der Thal ein so all-
gemein lautendes humanes Programm, daß ziem-
lich ein Jeder es wird unterschreiben können.
Wenngleich gar Mancher das Moment der be-
rechtigten Bestrebungen strenger und ein*
schränkender auffassen wird als unser Verfasser
und gar Maneher viel mehr Ungleichheiten
auf die Rechnung einer unerbittlichen Natur-
notwendigkeit setzen wird, als auf die Rech-
nung einer freien geschichtlichen Entwicklung.
Allen den Ausführungen des Verfassers über
die praktische Function des Eigenthums geht
voraus eine umfangreiche Entwicklung der
Eigenthumsbildungen der Vergangenheit. Hier-
bei sind aber die interessanten Rechtsbildungen
des Hellenischen Alterthums gar nicht behan-
delt, die des Mosaischen Rechts nur flüchtig be-
rührt. Lediglich die Entwickelung des Eigen-
thums im Römischen Reich und im deutsehen
Mittelalter wird eingehend erörtert. Dies ge-
schieht jedoch nach eigenem Zugeständnis des
Verfassers so gänzlich an der Hand seiner Auto-
422 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
ritäten, besonders an der Hand von Tb. Momm-
sen, Maurer, Arnold, Gierke, daß ein genaueres
Eingeben darauf unnöthig ist.
Auch eine genauere Kritik der, schon früher
selbständig publicierten Abhandlung über den
Eigenthumsbegriff (S. 1 — 41) kann uns erspart
bleiben. Bittet ja der Verfasser selbst, bei den
rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen
nicht außer Acht zu lassen, daß er weder Jurist
sei, noch für Juristen schreibe. Da ist ihm
denn durchaus anerkennend zuzugestehen, daß
er sich mit Fleiß und im Ganzen mit Verständ-
niß in die juristischen Grundlagen hineingear-
beitet hat. Nur hat auch in seiner Beurtheilnng
das Rom. Recht kein besseres Glück gehabt, als
es so oft zu haben pflegt. Dem echten Römi-
schen Recht ist jedenfalls die Vorstellung, daß
nur das Privateigenthum engeren Sinnes wah-
res Eigenthum sei, ebenso fremd, wie die an-
dere Vorstellung, daß dies Privateigenthum ein
absolutes sei und seine Unumschränktheit be-
wahren müsse. Das Römische Eigenthum, mag
es in der Zuständigkeit der einzelnen Priva-
ten oder der Gesammtheit sich befinden, trägt
in seiner ganzen rechtlichen Ausgestaltung eben-
falls die deutlichen Spuren an sich, bedingt und
begrenzt zu sein durch die zwingenden Inter-
essen der Gemeinschaft, wie es nach des Ver-
fassers eigener richtiger Erkenntnis dem Wesen
aller vernünftigen Rechtsordnung entspricht
G. Hartmann.
Introduction to the Science of Language by
A. H. 8ayce. 2 Vols. London, C. Kegan Paul & Co.
1880. IX. 441 u. 421 S. 8°.
Bücher, wie das vorliegende, welche wissen-
schaftlichen Gehalt mit gemeinfaßlicher Dar-
Sayce, Introduction to the Science of Language. 423
Stellung verbinden, sind in England weit häu-
figer als bei uns. Es erklärt sich das leicht
aus den gesellschaftlichen Zuständen Englands.
Der englische Gelehrte ist in erster Linie Gentle-
man, es liegt ihm daher so nahe wie es dem
deutschen Gelehrten ferne liegt, sein Arbeits-
zimmer zu verlassen und im Gesellschaftskleide
seines Gleichen, der Gentry von England Be-
richt über den gegenwärtigen Zustand seiner
Wissenschaft zu erstatten. Daher finden wir
denn auch fast durchweg in den englischen Bü-
chern dieser Art den Ton der feinen Gesell-
schaft und eine faßliche und lebhafte Darstel-
lung, die freilich für unseren Geschmack hier
und da zum bloßen Geplauder herabsinkt. Die
Schreibweise unseres Sayce ist ganz besonders
leicht und lebhaft, ohne doch den wissenschaft-
lichen Gebalt zu beeinträchtigen. Sein Blick
ist weit: er umfaßt das Gesammtgebiet der
Sprache und der Sprachen; wenn auch insbe-
sondere auf indogermanischem Boden heimisch
unternimmt er vergleichende Streifzüge ins Se-
mitische, Ural- A Itaische, Chinesische, ja selbst
in die Jagdgründe der Indianer und sonstiger
„Wilden", Streifzüge, welche ihm mannigfache
Beute gewähren. Ein so reichhaltiges Material
wird von allen Seiten betrachtet: „Theories of
Language, Physiology, Morphology, Metaphysics
of Language, Roots, Origin of Language" u. s. w.
werden, wie das In halts verzeichniß ausweist,
nacheinander abgehandelt.
Es ist selbstverständlich, daß bei der unge-
heuren Ausdehnung seines Gegenstandes der
Verf. in manchen Partieen sich nur referierend
verhält, ohne neue Gesichtspunkte aufzustellen
und daß er nicht auf allen Gebieten die gleiche
Sicherheit bekundet. So hält er noch an man-
424 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 14.
eben Etymologieen fest, welchen die fortge-
schrittene Kenntniß der Laute den Boden ent-
zogen hat. Z. B. S. 119 „the adjectival termi-
nation sya or tya (f) as in dijii6<Hog* belonging
to the people« has Decome the sign of the ge-
netive (Inno-oio)". drjfiociog ist, beiläufig be-
merkt, componiert aus Srjfiog und ociog „populo
concessusu. Nach S. 153 soll die Grundform
des Zahlworts fünf quemquem sein, was sehr
bedenklich an Schleichers Jcankan erinnert.
S. 179 werden aepi und pi identificiert und beide
dem s. sv& gleichgesetzt, da es doch auf der
Hand liegt, daß a<pi zu lat. sibi und slav. sehe
gehört. S. 188 werden lat. tepor und tempos,
S. 189 arbor und röbur und (nach Br6al) erwr
und crus für „originally identical* erklärt u. s. w.
Man könnte noch manche verfehlte Einzel-
heit aufzählen, doch wäre dies Unrecht einer
Arbeit gegenüber, deren Hauptwerth nicht in
der Detailforschung, sondern in der Aufstellung
umfassender Gesichtspunkte besteht. Solche
Ideen bietet der Verf. besonders zur Entstehung
und Urgestalt der Sprache. Freilich vermag
ich hier nicht Allem beizupflichten. So kann
ich z. B. nicht einsehen, welche Parallele zwi-
schen dem Sprechenlernen der Kinder und der
ersten Sprachentstehung bestehen soll. Ich
denke, der sprechen lernende und der Sprache
schaffende Mensch stehen so weit von einander
ab als nur möglich. Anders der Verf. S. 104
sagt er: children — are the best example, we
can have of the way in which the first men
acquired their language, remembering only that
the child nowadays has a complete language
already framed for him, whereas the first men
had to frame theirs for themselves". Der in
den letzten Worten ausgesprochene Gegensatz
Sayce, Introduction to the Science of Language. 425
hebt meiner Meinung nach alle Analogie zwi-
schen dem Kinde und dem sprachbildenden Ur-
menschen auf. Der Verf. freilich glaubt ans
den Sprechversuchen der Kinder viel lernen zu
können, selbst in individuellen 'Sprechfehlern
derselben sieht er „survivals" früherer Sprach-
perioden. So z. B. S. 118. Nachdem er hier
die Behauptung aufgestellt „that the termina-
tion of these primitive roots or sentence-words
displayed a wearisome monotony of agreement"
fährt er fort „Survivals, as Mr. Tyler has
happily termed them, are among the most va-
luable means we have of arguing back to an
earlier state of things, and we can only treat
as a survival the habit of a child whom I know,
who in her first essays at speech affixed a final
ö to allmost all her words, saying for instance
come-ö and dog-ö for »come« and »dog«. Sayce
führt uns noch mehre, seiner Meinung nach,
instructive Kinder vor: S. 311 ein dreijähriges
Kind „who invariably substitutes n for ltf, IL
S. 311 „Mr. Taine's little girl« und II. S. 313
„a little boy", an welchem Mr. Charles Darwin
interessante Beobachtungen angestellt. Ich ver-
mag nicht abzusehen, was bei dieser „baby-
showa herauskommt.
Den Ursprung der Sprache sucht Sayce „in
gestures, onomatopoeia and to a limited extent
interjectional criesu. Doch ist wohl zu mer-
ken, daß der Verf. hierin nur das älteste Ma-
terial der Sprache erblickt, die Urform der
Bede ist ihm der Satz oder das Satzwort
(sentence, sentenceword). Geberden, Lautnach-
ahmung und Empfindungslaute theilt der Mensch
allerdings mit dem Thiere, aber die Bede des
Menschen, auch wenn sie sich bloß dieses ihm
mit dem Thiere gemeinsamen Materials bedient,
426 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
unterscheidet sich von der „Thiersprache" den-
noch vollständig, weil sie dieses Material zn
einem Satze als dem Ausdrucke eines Gedan-
kens verknüpft. Hierdurch fallen die rohen
Ansichten der „Evolutionisten*4 , welche die
menschliche Bede aus dem thierischen Geschrei
herleiten, da es die baare Willkür ist, den homo
sapiens Linnaei aus einem „homo alalus" (=
äXoyog) hervorgehen zu lassen, wir vielmehr
das Vermögen ein Urtheil und in Folge dessen
einen Satz zu bilden als dem Menschen ursprüng-
lich eigen anerkennen müssen, wenn wir uns
nicht in wüste Träume verlieren wollen, die
freilich heutzutage keck genug, zur schweren
Schädigung der Volksmoral, als „Ergebnisse
der Wis8enschafttf ausposaunt werden.
Sayce giebt S. 111 Beispiele für die Mög-
lichkeit aus „gestures, onomatopoeia and inter-
jectional cries" Sätze zu bilden: Thus by imi-
tating the gurgling of water and pointing to
the mouth, a man could signify what we ex-
press by the sentence „I wish to drink" or „I
am thirsty u ; and by uttering a cry of pain
and pointing to a knife, he could show that he
had been cut by it. In course of time a collec-
tion of words would be formed, each of which
represented what we now call a sentence. For
a sentence — is the name given by the gram-
marian to what the logician would call a pro-
position or a judgment, and though a judgment
may be analyzed into subject and object and
connecting copula (or mental act of comparison)
we cannot, if we wish to be intelligible, sepa-
rate its elements one from the other. The whole
sentence, the whole l6yo(y as the Greeks would
have termed it, is the only possible unit of
thought; subject and object are as much corre-
Sayce, Introduction to the Science of Language. 427
lated as the positive and negative poles of the
magnet". Dieser hier mitgetheilte Satz möge
genügen zu zeigen, wie sich der Verf. den Ur-
satz, das ursprüngliche Satzwort denkt «mit
dem die Sprache beginnt" (S. Ill), „ welche
durch einen einheitlichen Accent, noch erhalten
im Satzaccent des entfalteten Satzes zusammen-
gehalten wurde" (S. 112) ; „nothwendig mit einer
Geberde verknüpft war" (S. 116). „And this
complex of sound and gesture — a complex in
which — the sound had no meaning apart from
the gesture — was the earliest sentence". Der
Verfasser sonnt sich recht in diesem Gedanken,
der allerdings tief und groß genug ist, sich des-
selben zu freuen, er wird nicht müde ihn zu
wiederholen, z. B. S. 377, er verzeichnet eine
Reihe dicta probantia namhafter Denker und
Gelehrten : W. v. Humboldt S. 364, Renan S. 364,
Waitz S. 84, Fr. Müller u. A.
Nun entsteht die Frage: wie verträgt sich
dieser auf den ersten Blick einleuchtende Ge-
danke, daft die Sprache von Sätzen, nicht von
Wörtern ausging, mit der herrschenden Wurzel-
theorie? Sayce II, 1 ff. wagt mit derselben
nicht völlig zu brechen, wenn er auch einsieht,
daß sie mit seinem Lieblingsgedanken nicht
stimmt Es scheint mir daher angemessen, die
geläufige Annahme von Wurzeln einer näheren
Betrachtung zu unterziehen.
Da ist denn zunächst zu bemerken, daß die
Form, in welcher die indische Grammatik eine
große Zahl von Wurzeln aufstellt, falsch ist,
d. h. einem ursprünglichen selbständigen Worte
gar nicht geeignet haben kann. Die Hindus
sind zwar in der Ansetzung der Wurzelformen
nicht consequent, wenn sie neben Wurzeln mit
geschwächtem Vocal wie r kr ric tud vollvoca-
428 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
lische wie da as pat vac aufstellen. Eins yon
beiden kann nur wahr sein : entweder hatte die
„Wurzel" (deren Existenz einmal vorausgesetzt)
volle oder geschwächte Vocale. Setzt man nun
consequent die kürzeste Form an, so ergiebt
sich für die Mehrzahl der so angesetzten Wur-
zeln aus der bloßen Aufstellung derselben ihre
Un Wirklichkeit, ja Unmöglichkeit: z. B. ß sein,
vq sprechen, pt fallen, tn spannen, nk erreichen
u. s. w. Wie rein äußerlich, ohne alle Einsicht
in die Lautverhältnisse die Hindus bei der Auf-
stellung ihrer Wurzeln verfuhren, zeigen An-
sätze wie rc yuj dah: c j h sind, wie Collitz
nachgewiesen, durch Einfluß eines ursprünglich
folgenden e aus k g gh palatalisiert, man hat
also entweder rk yug dagh oder arce yuje dahe,
im indischen Kleide area yuja daha, als Wur-
zeln anzusetzen. Die Gunatheorie, welche auf
der Ansetzung von i-, u- und r-Wurzeln beruht,
darf heutzutage für beseitigt gelten , ich be-
merke hier nur, daß der Anhänger dieser Theorie
in vidh: vyadh, sup: svap, grbh: grabh einen
zweiten Guna annehmen muß, wo das a nicht
vor-, sondern nachspringt. Der entscheidende
Grund, warum pt vk und so denn auchiliqtud
gar nicht Urwörter gewesen sein können , liegt
in den Accentgesetzen. Die kürzesten Stämme
sind nämlich ursprünglich accentlos: i pt vk
entstehen durch Einwirkung des auf ursprüng-
lich vollvocalische ei pet vek folgenden Accents :
ei-mi: i-mfoi. Denke ich mir nun die Ursprache
aus lauter Wörtern wie i liq tud pt vq be-
stehend, so nehme ich damit an, daß die Sprache
einmal aus lauter tonlosen (enclitischen und
proclitischen) Wörtern bestanden habe, was na-
türlich reiner Unsinn ist.
Nun könnte der Anhänger der Wurzeltheorie
Sayce, Introduction to the Science of Language. 429
sich ans aller Noth gerettet glauben, wenn er
consequent die vollvocalischen oder hochbeton*
ten Formen ei 6s d6rk p6t als Wnrzeln ansetzte,
und für die vocalisch auslautenden wie sthä dhe
pö halte ich dies selbst für richtig (jedoch nur,
weil ich diese mit Saussure auf sth£a dhäe peo
zurückführe). Eine Folge von lauter einsilbigen
hochbetonten Wörtern ist zwar fast ebenso un-
denkbar als die von lauter tonlosen, doch ist
hier wenigstens das einzelne Wort durchweg
sprecbbar. Für die Meinung, daß 6d 6s derk
u. s. w. die Urgestalt des indogerm. Wortes sei,
läßt sich nur Ein scheinbarer Grund anführen.
Ich gebe ihn mit den Worten Delbrücks
Einleitung in das Sprachstudium S. 74
*Wenn wirklich die Prototypen der jetzt vorhan-
denen Flexionsformen dnrch Zusammensetzung,
insbesondere die Prototypen der Formen des
Verbum finitum durch Zusammensetzung einer
Verbal- mit einer Pronominalwurzel entstanden
sind, so muß die Wurzel, ehe das Wort ent-
stand, bestanden haben. Die Wurzeln sind
darum in den Wörtern enthalten, weil sie vor
ihnen da waren und in ihnen aufgegangen sind.
Sie sind die Wörter der vorflexivischen Periode,
welche mit der Ausbildung der Flexion ver-
schwinden. Und daher erscheint denn das-
jenige, was einst ein reales Wort war, vom
Standpunkte der ausgebildeten Flexionssprache
aus nur als ein ideales Bedeutungscentrum u.
Also: wenn ed-mi aus ed und mi, jenes „essen",
dieses „ich" bedeutend, zusammengesetzt ist, so
muß vor der Vollziehung dieser Zusammen-
setzung ed schon für sich ein selbständiges
„essen" bedeutendes Wort gewesen sein. Sehr
wohl; wenn nur 6dmi wirklich aus ed „essen"
und mi „ich" bestände. Zwar hat Bopp be-
430 ftött. gel. Anz. 1881. Stück 14.
kanntllch dies Compositum so aufgelöst, seine
Deutung des mi si ti auf Pronominalstämme
galt und gilt als ein Palladium der Wissen-
schaft, und ich selbst bin weit entfernt den
Grundgedanken Bopps antasten zu wollen. Frei-
lich die Durchfuhrung dieses Gedankens, wie
sie von Bopp angebahnt, von Kuhn und Schlei-
cher fortgesetzt, z. B. in Curtius Verb d. griech.
Sprache I, S. 35 ff. dargelegt ist, läßt sich heutzu-
tage nicht mehr halten, weil sie den Lautge-
setzen zu wenig Rechnung trägt. Zwar einige
der schlimmsten Verstöße lassen sich beseitigen
ohne Bopps Idee zu schädigen. So ist z. B.
das si der zweiten Person selbstverständlich
nicht aus tvi entstanden, sondern hat von jeher
Bi gelautet, ebenso ist das te, arisch ta der
2 pl. nicht aus tva geworden; beide Formen
erklären sich durch Zurtickführung auf das
Pronomen, welches bereits ursprachlich im No-
minativ sg. so sätod (s. sa sä tad = 6 § to =
got. sa so that-a) lautete, d. h. die beiden
„Stämme" se und te zu einem Systeme verei-
nigt hatte, ohne daß darum der eine aus dem
anderen entstanden wäre. Die Beziehung des
Pronomens se auf die zweite Person ist wenig-
stens nicht undenkbar, man vergleiche s. sa tvam
und o *AnoXX6da>QOQ ! was ungefähr so viel heißt
als „du! Apollodor!" Dagegen läßt sich, meine
ich, sogar beweisen, daß te einst für die zweite
Person gebraucht wurde. Dies ergiebt sich aus
s. te, das doch kaum aus tve entstanden ist;
auch ist die geläufige Form tvä erst aus tövo
«= s. t&va = tipo tev entstanden, worin -vo
Genetivzeichen ist wie in TXaoia-po der alten
korkyräischen Inschrift. Ebenso wenig wie si
aus tvi ist das $ in xkv&* xslpe&a *bUT\H
u. s. w. auf tv zurückzuführen. Ferner ist va
Sayce, Introduction to the Science of Language. 431
im Dnal. 1 p. natürlich Dicht ans ma entstan-
den, es gehört vielmehr zu 8. v&m vayam sl. v8
got. veis nhd. wir. Aach brauchen die Plurale
und Duale mes tes ves nicht, allen Laut- nnd
Denkgesetzen zum Trotze ans ma-tva n. s. w.
„ich nnd dutf) entstanden zn sein, sondern
können schlichtweg als Plurale aufgefaßt wer-
den, wie solche im s. nas 1 p. vas 2. p. äpfjug
vpfuq wirklich vorliegen. Endlich ist die An-
nahme von bereits ursprachlichen Verstümme-
lungen aufzugeben: (ptyco got. balra ist nicht
aus (peQco-fju „verstümmelt", so wenig als (p£(>e
= s. bhara aus <psQ€&* oder s. jajrii aus jar-
nata u. s. w.
Aber auch nach Vornahme aller dieser Ver-
besserungen bleiben immer noch Bedenken
schwerster Art gegen Bopp's Zerlegung von
6dmi „ich essea in ed „essen" und mi „ich".
Das Pronomen 1 p. heißt nicht mi, sondern me
(8. ma) und die Entstehung von ursprachlichem
i aus e ist ganz unerhört. Ebenso wenig kann
m s. me 1 med. aus ma-mi entstanden sein,
wie Kuhn meint, wenigstens fehlt alle ursprach-
liche Analogie. Müssen wir nicht also doch
fiopps Idee ganz aufgeben und uns nach einer
anderen Deutung umsehen? Das ist allerdings
Ludwigs Meinung (Infinitiv im Veda Prag 1871).
Um Ludwig gerecht zu werden, muß man zwi-
schen seinem Grundgedanken und der Ausfüh-
rung desselben sowie den daraus gezogenen
Consequenzen genau unterscheiden. Das neue
frincip, welches er aufstellt, ist die Herleitung
des Verbum finitum aus dem Verbum infinitum,
seiner Grundanschauung gemäß, daß das Be-
sondere aus dem Allgemeinen entstanden sei
nayiceshädviceshärambhah" wie das Motto sei-
ner Schrift lautet
432 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
Den Beweis hierfür findet Ludwig darin,
daß im Veda Formen, die ihrer Bildung nach
deutlich Infinitive sind, zur Bezeichnung der 1.
und 3. Person verwendet werden, wie c&ye ich
liege, cäye er liegt, dad6 ich, er ist gegeben;
ferner in der Verwendung des Infinitivs im
Sinne des Imperativs, und für das finite Verb
historischer Tempora im lateinischen inf. histo-
ricus. Dieser Gedanke Ludwigs ist zweifellos
richtig und sichert seinem Urheber einen unver-
gänglichen Namen in der Geschichte der Sprach-
forschung. Dagegen ist in der Durchführung
dieses Princips Vieles verfehlt: Ludwig erkennt
nicht, daß außer den geläufigen Infinitiven anf
i und m noch andere „Infinite" bestanden ha-
ben, so vor Allem die auf s. a, ä, welche er
durch einen wunderlichen Lautproceß auf -äni,
-äi zurückführt. Auch muthet uns Ludwig zu
viel zu, wenn wir mit ihm alle Formen des
Verbum finitium nun ohne Weiteres für ursprüng-
liche Infinitive halten sollen. Wo begegnen uns
denn Infinitive wie ädmi yujmahe dädvahe u. s. w.j?
Warum ferner finden wir die Formen mit inne-
rem m und v nur in der ersten, die mit s und
th in der zweiten, die mit t in der dritten?
Hier schüttet Ludwig in seinem Eifer gegen die
Boppsche Theorie das Kind mit dem Bade aus:
das Princip Ludwigs und die Erkenntniß Bopps
widerstreiten sich nicht, sondern lassen sich un-
gezwungen mit einander vereinigen.
Es liegen nämlich neben den Formen, welche
ihrer Bildung nach Infinitive sind, aber als Ver-
bum finitum fungieren, vollere Gestalten, welche
sich von jenen nur durch eine innere Vermeh-
rung unterscheiden. Das Verhältniß dieser vol-
leren zu den einfacheren Formen ist vor Allem
Sayce, Introduction to the Science of Language. 433
zu untersuchen. So haben wir in der ersten
Person :
1 sg. imp. 8. bharä-n-i neben bharäi.
8. caye ich liege neben Ktf-p-f». Der Infi-
nitiv ksXcu ist im Griechischen erhalten: tax-
tela* bei Hesych. und xctcu, ebenda s. v. oqsgxm-
wtk¥\ ganz gleich sind niQ&ai %evm u. 8. w.
gebildet, die ursprünglich keinem bestimmten
Tempus angehören. Ebenso ist s. name inf. =
name ich beuge mich.
1 sg. pf. med. dadä lat dedt neben diöo*
j»-<o. Ebenso in der zweiten:
2 sg. asi = z. ahi du bist ist nicht in as-si
zu zerlegen, vielmehr ist asi Infinitiv wie z. B.
8. sam-cäkshi: daneben liegt iaa-t du bist.
Attisch ei du bist und et du gehst sind mehr-
deutig. Lit. 2 sg. suki verhält sich zu s.
bhara-8-i, wie s. asi zu ia<ft.
In der dritten Person:
8. c&ye er liegt, neben c6-t-e = *rf-*-af. —
Die 3 sg. aor. pass, des Sanskrit dä'yi aväri
avedi ist wohl einfach Infinitiv. Ebenso ist
(ptQt* neben s. bhara-t-i = got. bairith, Infinitiv,
derselbe, welchen Bezzenberger in s. bödhe-the,
tadä the erkannt hat. Neben der 3 sg. pf. 8.
dad6 liegt dido t-cu. — In die Reihe s. duh&m:
dahatam und duhräm : duhratam fügt sich i-ys-
vopav ein. Zu Grunde liegen Infinitive wie s.
vidäm.
Wie verhalten sich nun ue1-(*-at zu s. caye
ich liege: xsta* inf. liegen, £o-<s-i zu s. asi, s.
bbara-s-i zu lit. snki, s. bhara-t-i zu tfiQei, s.
ce t-e = %%%'% ai zu s. caye er liegt = xeta*
liegen? Der Thatbestand läßt, wie mir scheint,
nur Eine Erklärung zu. Ursprünglich wurde
der Infinitiv z. B. keiai liegen für alle drei Per-
sonen des Sing, gebraucht, später infigierteman
28
484 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
die Pronomina me se te und gewann so kei-m-ai
für die erste, kei-s-ai = s. cäshe für die zweite,
kei-t-ai für die dritte Person sg. Für die
Darstellung der Flexion des Dual und Plural
nehme ich als beliebiges Beispiel 16iqmi ich
lasse. In liq-ves-i 1 du. liq-mäs-i l.pl. sind
die Plurale ves, mes infi giert; liq-dhvai 2 pl.
med. scheint eine Nebenform zu dem Infinitiv
s. -dhyäi wie -dhai in liq-me-dhai 1 pl. med.*),
endlich liq6n-t-i und liqn-t-ai 3 pl. enthalten die
Infinitivformen liq£ni: liqnai vgl. z. B. di-ddra*.
Hiernach würde sich das ursprüngliche Schema
etwa so stellen:
Act. sg. 1 16iq-m-i 2 l&q-s-i 3 16iq-t-i, du. 1
liq-v6s-i 2 liqt-6s-i 1 pl. Iiq-m6s-i 3 pl. Iiq6n-t-i.
Med. sg. 1 liq-m-ai 2 liq-s-ai 3 liq-t-ai, da. 1
liq-v6-dhai, pl. 1 liq-me-dhai 2. liq-dhvai 3
liqn-t-ai.
Ist diese Auffassung richtig, so ist leiqmi
gar nicht in die „Wurzel" leiq und den Prono-
minalstamm ma aufzulösen, sondern die ganze
Flexion von leiqmi leiqsi u. s. w. beruht auf
den Infinitiven l&qi liqeni liqai liqdhai, und von
dem Hervortreten der „Wurzel4* als eines ur
sprünglich selbständigen Gebildes kann hier
nicht die Rede sein, man müßte denn behaup-
ten, der Locativ 16iqi setze einen „Stamm" leiq
voraus. Doch ist die Berechtigung zu einer
solchen Annahme sehr zweifelhaft, wenigstens
hat bis jetzt wohl noch niemand behauptet, daß
wegen s. upari ein einstmals durchflectiertes npar
neben üpara angenommen werden müsse. — In
s, dhimafti = &i(*s&a i&ipe&a scheint eine
kürzere Form des Inf. auf -dhai vorzuliegen,
*) Ist s. bhäradhvam = <p*qbc&ov, so ist s. bhäradhve
2 pl. med. = <}iQs<T&at inf. med. and damit das ursprüng-
liche Infinit auf -dhvai bewiesen.
Sayce, Introduction to the Science of Language. 435
wie eine solche auf #* in *Xv&$ s. crudbi (vgl.
zend. crfiidhy&i inf.) erscheint; ebenso verhält
sich s. dä'tn er gebe zu den Infinitiven dä'tum
d&'tos dä'tave (vgl. eppev = ippsvai).
Neben den Formen des Verbum finitum,
welche als einfache oder infigierte Infinitive auf
i und n (s. m) aufzufassen sind, giebt es eine
noch ältere Formenschicht, welche auf bloßen
Vocal auslautet. Diese Formen sind:
In der ersten Person:
1 sg. praes. y^oo got. baira z. ufya, conj.
(ptgoo s. stävä.
1 sg. pf. s. cak&ra ytyova air. cechon(a)
got man.
In der zweiten:
2 sg. imp. 8. kuru mache, bh&ra = tpi^s
got. nim.
2 pl. pf. s. jajn'a, daraus ySyats durch Infi-
gierung von *: y%yv-%-* = gegn-t-e.
In der dritten:
3 sg. praes. äol. ti^tj didw und darnach
(pOQfJ ÖOxlfJHÜ.
3 sg. pf. yiyovB air. cechuin(e) s. cak&'ra.
Daß diese Formen älter sind als die dem
mi si ti u. s. w. zu Grunde liegenden Infinitive
auf i, älter auch als die Infinitive auf n (s. m),
liegt auf der Hand; der Locativ wie der Accu-
sativ setzen den Instrumental voraus, wie denn
z. B. me-i und me-n älteres me resp. me (pe s.
mä) voraussetzen und wirklich neben sich lie-
gen haben. Vielleicht ist es möglich aus diesen
Trümmern die Urflexion des indogermanischen
Verbs wiederherzustellen, eine Flexion, welche
ganz aus den eigenen Mitteln des Wortes bloß
durch den accentbewirkten Ablaut bestritten
wurde.
Anstatt fingierter „Wurzeln" liegen also der
28*
436 Gott. gel. Anz. 1881, Stück 14.
Verbalflexion wirkliche lebendige Wörter zu
Grunde, welche wir „Infinite" nennen wollen.
Zum Theil sind dieselben wirkliche Infinitive,
wie die auf i und n (s. m). Eine noch ältere
Schicht wie bhere gegone kommt in der Sprache
nicht mehr als Infinitive vor, ist aber der Aus-
gang für die Infinitive auf i und n. Das Infinit
entspricht nun den bisher an die Wurzel ge-
stellten Anforderungen: es ist weder Verb noch
Nomen, sondern beides; zugleich ist es ein Ens
und keine bloße Abstraction. Was die Urform
des Infinits anlangt, so ist diese als Instrumen-
tal zu bezeichnen, insofern dieser Casus ur-
sprünglich gar kein Zeichen annimmt (z. B. ps
s. mä = m6 me' als Accusativ verwendet), nicht
ganz passend erscheint diese Benennung jedoch,
insofern die Instrumentalform vor der Ausbil-
dung aller anderen Casus bereits vorhanden
war. Das Infinit als Basis der gesammten Ver-
balflexion verträgt sich nun auch vortrefflich mit
der von Sayce verfochtenen Idee: daß nämlich
das Einfache in der Sprache der Satz, das
Satzwort sei. Solche Sätze oder Satzwörter
sind <piQu> (pigs yiyovs wirklich; freilich ellipti-
sche Sätze, wenn wir ihre Verwendung betrach-
ten, (fiqe kann seiner Bildung nach nur be-
deuten „mit Tragen", es heißt aber in der wirk-
lichen Sprache „trage (du)". Die grammatische
Beziehung, hier die an einen gegenwärtigen
Zweiten gerichtete Aufforderung ist in <ftQ*
lautlich gar nicht ausgedrückt, sie ist ursprüng-
lich ergänzt durch die Geberde der Weisung.
Ebenso ist iptQoa nicht lautlich vollständiger Aus-
druck für „ich trage" (man müßte sonst (f>£Q*>
in (fsqo-s zerlegen), das „ich" wurde ursprüng-
lich durch eine auf den Sprechenden zurück-
weisende Geberde bezeichnet. Man muß ganz
Sayee, Introduction to the Science of Language. 437
allgemein mit Sayce S. 112 annehmen, daß der
Ursatz aus einem Lautzeichen verbunden mit
einer Geberde bestand, daß die Einheit beider
den vollen Satz bildete. Diese Betrachtung
läßt uns überhaupt erst die Entstehung der Ur-
wörter begreifen. Nehmen wir z. B. an, daß pö
(= p£o) ein solches Urwort sei. Dieses konnte
nicht als ein für sich gedachtes Abstract ent-
stehen, wohl aber in einem gedanklichen Zu-
sammenbange wie z. B. „trinke du". Trat
nun in einem gegebenen Falle z. B. bei der Auf-
forderung eines Vaters an sein dürstendes Kind
ein dringender Anlaß ein die Lippenthätigkeit
beim Trinken lautlich zu bezeichnen, so konnte
dieser lautliche Ausdruck ja wohl als „pö p6o"
erscheinen, aber die notbwendig damit verbun-
dene Geberde der Aufforderung vervollständigte
erst das „pötf zum Satze „trink". So mögen
wir denn die Infinite durch Infinitive übersetzen,
müssen aber wohl bedenken, daß diese als solche,
für sich, nichts waren, sondern erst durch die
begleitende Geberde zu einem sprachlichen Et-
was d. h. zu einem Satze wurden: keiai heißt
nur, wenn es aus seiner ursprünglich notwen-
digen Verbindung mit einer ergänzenden Ge-
berde gerissen ist „liegen", mit einer solchen
heißt es „ich liege" s. c&ye, oder mit einer an-
deren „ er liegt" s. c&ye u. s. w.
Auch die sogenannten Pronominalstämme
können nicht für sich, sondern nur in einem
gedanklichen oder Satzzusammenhange entstan-
den sein. Wenn in dem Gedanken des ursprüng-
lichen Menschen die Hinweisung vorwog, so
konnte der Verbalbegriff ausgelassen und die
Hinweisung durch ein Lautzeichen gekräftigt
werden. Ein „t£ da!" ist entstanden in ellipti-
schen Sätzen wie „siehe da!" u. s.w., wie solche
1
438 Gott. gel. Anz. lötfl. Stück 14.
elliptische Sätze noch heutzutage üblich sind.
Wenn Bürger sagt ^Hier, komm hier", so ist
das erste „hier" gleichbedeutend mit dem darauf
folgenden Satze „komm hier", unser „ja" heißt
eigentlich „so", wie ital. si und war ursprüng-
lich einem Satze „so ist es" gleich. Sonach
dürfen wir den Satz aufstellen: das Infinit und
das Localadverb (oder kurzweg „Locale") sind
die ältesten Satzwörter, beide sind in ellipti-
schen d. h. durch Geberde ergänzten Sätzen ent-
sprungen. Der Satz, in welchem das Infinit ent-
sprang, enthielt dieses selbst mit einer Geberde
aufs Ich, Du u. s. w. (z. B. bhire -f- Geberde =
trage du), dagegen entstand das Locale in einem
Satze, worin das Infinit (der Verbalbegriff) aus-
gelassen oder durch eine Geberde angedeutet,
die Weisung aber durch ein Lautzeichen hervor-
gehoben wurde, also z. B. Geberde + te =
.siebe da". Der lautlich vollständige Ursatz
d. h. derjenige, in welchem beide Elemente des-
selben, Infinit wie Locale, ihren lautlichen Aus-
druck erhielten, ist erst eine spätere Schöpfung,
er ist das entwickelte Verbum finitum, wo das
Locale in das Infinit infigiert ist, z. B. keiai:
kei-t-ai er liegt.
Das hier verfochtene Princip, im Anschlüsse
an Sayce's Idee von der Ursprttnglicbkeit des
Satzwortes statt von der Wurzel von den In-
finitiven als den der Verbalflexion zu Grunde
liegenden Urformen auszugehen, erweist sieh be-
sonders fruchtbar für die richtige Auffassung
der sog. Tempusstämme. Setzen wir statt der
„Wurzel" liq das Infinit 16iqe resp. leiqe als Ba-
sis, so ergeben sich hieraus sämmtliche Tempo*
stamme als bloße durch den Accent und die Re-
duplication bewirkte Umgestaltungen dieser
Grundform: pre. leiqö und leiqo, aor. Iiq6 and
liqe pf. teloiqe und leliqä, leliqS' und zwar sind
Sayce, Introduction to the Science of Language. 439
alle diese Formen einst wirklieh vorhandene
Wörter gewesen wie sie es noch sind in Xrinm
= leiqö, letm = 16iqe, lim (vgl. ik&i) « liqö,
UXome = teloiqe, s. ririca wie jajhi, 2 pl. pf.
= leliqe. Der Stamm liqe' ist der des griechi-
schen sog. Passivaorists. Dieser gilt ganz mit
Unrecht für eine den Griechen eigene Bildung,
er findet sieb genau entsprechend im Sanskrit
im part. aor. med. z. B. vidä-nä (zu vindati)
uod in den slav. Aoriststämmen auf e und a
(tir^: tire, ber$: btora), sowie in „den baltischen
Aoristen (lit likati, biro, bridäu, kirp&u, lett.
pirku, dilu, dfimu, viru)a Bezzenberger in G.G.A.
1879 S. 674. Daß die Sanskritgrammatiker
vid-äna-s trennen, daß dieses äna aus mäna
verstümmelt (!) sein soll, genügt es erwähnt zn
haben. Um die völlig gleiche Bildung des griech.
Aorist Pass, und des s. part. aor. med. zu er-
kennen, genügt die Zusammenstellung beider
Formen. Man vergleiche: »xtf-f*«'«* plyfj dAupy-
vcu und s. dihä-n& picä-na vidä-nä, §vfj und s.
stuvä-ni, i&rv und budhä-nä, eyQtj$* iyiQ^g
Hesych. und ßfoiyG und s. krä-nä vrä-nä, i<p-
^aQfjv und s. urä-nä, hccQnijfMv iQanijofiev und
s. trshä-na, sprdhä-nä. Der Stamm leliqö' ist
der dritte Perfectstamm des Griechischen (wenn
man n¬da den ersten, inim&ikev den zweiten
nennt). Im Sanskrit und Germanischen wird
aus diesem Stamme das part pf. med. resp.
pass, gebildet, nur daß im Germanischen das
alte S durch Einfluß des Accents in a verwan-
delt wird. Man vergleiche: nem&ij-fä IsXhj(*6~
voq uztfjwf; und s. didiä-na riricä-nä titvishä-na
got stigans, iQQvy-Ka teivxtj-*** und tushtuvä»nä
jajushä-nä got kusans, BtQtjjcu (= p*pQW**)
ßißltj-xa und s. babhrä-na got baurans, 86x*l~*<*
foxy-ta* (= (taoxq-) und s. sehä-nä (sebä =
sashä = toxi) a- &• w.
440 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
Zur Stütze der oben aufgestellten Behaup-
tung, m s t in xet-p-m s. c6-sh-e xcZ-t-cu seien
in das Infinit xetec* = cäye infigiert, haben wir
noch Beispiele ursprachlicher Infigierung beizu-
bringen. Solche Beispiele gewähren uns die
drei nasalierten Präsensclassen des Sanskrit (7.
9. 5 Glasse). Die Infigierung liegt bei der 7.
Glasse auf der Hand: s. yu-nä-kti: yu-n-jm&s:
yu n-j&nti infigieren deutlichst n& in den starken,
n in den schwachen Formen, und wenn auch
die accentgemäße Vertheilung von n& (= ne)
und n nur im Sanskrit und Zend nachzuweisen
ist, so steht doch für Jeden, in dem eine Ahnung
von dem Eunstbaue der Ursprache aufgegangen
ist, von vornherein fest, daß das System ynnekti:
yungm&ri: yungenti = lat. jungunt keine ari-
sche Neuschöpfung sein kann.
In der neunten Präsensclasse des Sanskrit
ist n&, n ebenfalls infigiert, nicht affigiert, wie
das zuerst von Saussure Systeme prim, des
Voyelles p. 240 ff. nachgewiesen ist, und zwar
tritt hier nk (n) vor dem schließenden Vocal
des „Stammes" ein. Dieser schließende Vocal
lautet im Sanskrit i, im Griechischen mit regel-
rechter Entsprechung a (vgl. ir*JQa- järi-shus.
Sag: s. äsls lat. eras, xQipaq: s. kravis, (fettes,
iöoevarto: s. aeu-eyavit, 8%svaq: s. havis, #17«-
irjQ : s. duhi-tär u. s. w.). Das s. i war aber in
st&ri- u. s. w., wie das Griechische zeigt, ur-
sprünglich ein A-Laut, daher verbindet sich in
den starken Formen nä mit dem folgenden
Stammauslaute zu na z. B. st&ri-tum : str-nä'-mi
aus str-n&a-mi. Machen wir die Probe im
Griechischen, so kann hier also die Präsensbil-
dung -?w**, -vafMv nur dann erscheinen, wenn
der allgemeine Verbalstamm auf a (= s. i) aus-
lautet, und so ist es in der That:
Sayce, Introduction to the Science of Language. 441
ddpvijfjb* (== dap-ve-a-pi) dd(*-v-a-tan dctpd*
dpdtog, s. dami-t&r.
tidvatcu: xedd-GGai cf. Gxida
xiQVfj(ji* ixlgrato : xepa-ico xsQa-trocu axqa-tog.
xQtftAvdvtUiV : xq£(acc-zcu.
Uvapar TQinopcu Hsch.: fad-fto
niXvatai : neXd-uc* mXd-cfGa* nXy-to a-nXy-
%og (a)
mtvdg: netd-aaak ns-ma-pSvog.
noQvdpev ntoXstP = nsQPdpcv : neqd-GGab, n£-
nqatak nqä-tog.
duxoxidrdto; axedd-aocu, tfxcdda.
Ferner: paQvapcu kämpfe: t*6Qtxt wie s. mrnä'ti:
inari in ämari-tar, xdfivco (ans xapp^ft»): xdpa-
«05 xixpfj-xa ä-xpä-tog, s. ä-cami-shta, cami-tär,
rdfApm: %4(ia-xog} tfofifj-iai, ipy-tog (a), AXIvm
lat. lino vgl. s. linäti zu layi. Ebenso verhalten
sich s. krtnä'ti kauft zu ngia-ttöai, (s. krlta für
kriyi-ta) = nquxto in d-nQidtfjv), s. äramnät
stillte zu y-gipa stille, s. ästrnät lat. sterno zu
8. st&ri-tum, 8. grnä'ti ehrt zu ytya-g lat. grä-tus
= s. gürtä. Hätte die Wurzelschrulle nicht im
Wege gestanden, so mußte man längst einsehen,
daß die ganze Verbalclasse auf s. i, griech. a
wie 8. pari, st&ri, tiXa tragen , x4qcc mischen,
&p4pa (== s. a-dhvanl-t) sterben gar nicht auf
Wurzeln wie par rsX xeq (!) ruhe, sondern auf
den Wörtern s. pari, tiXa, xtga, Wörter, welche
theiiweis noch als solche nachweisbar sind. So
ist äya-pcu gar nichts als das flectierte äya- und
dieses Schwächung des bekannten Wortes ptya
= an. mjök = s. mähi, s. ramnä'ti ruht auf
rami und dieses rämi ist das griechische Wort
y-Qtpa still. In hXdv hXrjv %&%Xap&v ist selbst-
verständlich keine „Metathese" des Wurzelphan-
toms ntsX oder taXu eingetreten, sondern «? regej*
442 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
recht getilgt und in hXrjr thXtjxa zXtjzog der
Auslaut ebenso regelrecht gedehnt. Die Ent-
sprechung von s. gürtä und lat. grätus ist bei-
läufig bemerkt ebenfalls ganz regelrecht: s.8t&ri
= *ot€Qcc gäbe regelmäßig geschwächt s. stri-ti
= GiQa-io-g; für ri (= griech. qcl lat. ra) tritt
aber im Sanskrit, da dessen gekürzte Vocale
durchweg eine Stufe tiefer stehen als die euro-
päischen, r ein also strta, die Dehnung dieses r
würde *8ttrtä (wie stir-ni) = lat. strätus geben.
Ebenso s. gäri: gri = gr: gürtd, aber yiQa-g:
(grä): lat. grätus. Doch kann dies hier nicht
weiter verfolgt werden.
Auch in der 5. Präsensclasse des Sanskrit
ist nä (n) ursprünglich infigiert und zwar in
„Infinite" auf u. Den Beispielen Saussures
a.a.O. fügeich zu: s. cakn&väma: cikvancikvas
xlxvg(&.\. xixxvg), äsaghnos : sabu-rf ox» Qo-g l%v~
QÖg, s. dabhnuv&nti : z. debaoma, wozu ved. adbhu-ta
(Bezzenberger in s. Beiträgen III 171 ff.) rnöti
oQWfju: s. arvan oqovoo, strnöshi (Ttoqwuh: 0w-
Qiaacu ist (toQpi-aaai germ, straujan, s. däcnöti:
däcu-ri, prusb^ute: prushvä Tropfen, dhrshnuhi:
fact's, jinvati : jiv, pinvati : ptvan. Im Grie-
chischen: &%vv\kah\ a%tpwv d%£(av, &ÖQWfkan
öoqsTv (= d'Qpsty cf. 8. dhürv), ÖQsyvvg: oQyvta
s. rjii, yawpa* : yav sich freuen lat. gau Freude,
SXXvfu: oiXopsvog (oXpd) dXopdg, <p&dyu =
(p&dvpn z. cpanvanti zu s. spbavaya cans,
zu sphäy.
Wie weit auch sonst Infigierung stattgefun-
den, muß weitere Forschung lehren ; auf die An-
wendung von Infixen bei der Deminutivbildung
hat bereits Bezzenberger in s. Beiträgen V 99
hingewiesen; derselbe theilt mir zwei deutlichst
mit Infix gebildete s. Deminutive mit: yämaki:
yämi und svapitaki: svapiti (Aufrecht in Zs. d*
d. morgen!. Gesellsch. 34, 175). Ich (gebe hier
Sayce, Introduction to the Science of Language. 443
eine kleine Sammlang von griech. deminutiven
Verben, welche deutlich Infigierung enthalten:
ämaxd^opa* Hsch.: aoW£o/*a*, doxtxdo Hsch.:
doxa, (Avvnxä&w Hsch.: pimctgatia Hsch., 07*0-
xoQÖdta Hsch. = (fftoQÖdm Hsch.: a^QÖoq Ge-
walt; aqnaXlfa: ceprraC«, ßqvaXlfa : ßQvdfa, dctpct-
<ntofaypH>e Zischen: atypög olfa, tgiykifa: %qlt&f
TQvkl£(a: fjpf'£<0; nonnvfodfa: normvtt», tjßvXXtäv:
i\fiäv\ i^anajvXXwv : igancrnav, ißvXXwv: ßifco,
ßQvXXwp : ßQvv, w&vXXsw Hsch. : w&eto ; fiaddXXu :
paddto, iaQÖdXff Hsch.: ßctQdtjv ßwsZv, jJQpaXci-
(ttno Hsch.: rjQpoaato, ^QtaXiovto: äq%im\ xay-
%aXdw: xay%äv- XixsQilfcco: Xaxzlfa, paGtctQlfai
patimfo, oxw&aQtfai oxw9l£(o. Das Verzeich-
aiß läßt sich noch sehr vermehren; Verba de-
minutiva ähnlicher Bildung sind noch heute im
Deutschen üblich wie liebeln: lieben, tänzeln:
tanzen u. s. w.
Wenn so die „Wurzel" zu Gunsten des
Sayceschen „Satzwortes" aufzugeben ist, so ist
selbstverständlich, daß auch der „Stamm" als
leere Abstraction beseitigt werden muß. Anstatt
der rohen Zerhackung des lebendigen Wortes in
„Wurzel" oder „Stamm" und „Suffix", d. h. in
zwei non entia, ist vielmehr zu zeigen, wie Ka-
tegorie aus Kategorie in gesetzlicher Weise sich
entwickelt. So entspringen Participien aus den
Infinitiven, besonders deutlich die sogenannten
part, necessitatis: z. B. s. dätavyä ist nicht aus
der „Wurzel" da und dem „Suffix" tavya ge-
bildet, sondern dätavyäm „zu geben" ist das,
was dä'tave „zu geben" ist, und ob das in dä-
tavi-ä scheinbar an dä'tave angetretene a „die
Pronominalwurzel a" oder „das secundäre a-
Suffix" oder „paragogisch" sei, mag dahingestellt
sein. Ebenso ist lat. ferendus der, welcher „fe-
rendo" ist, und eine „zu beherzigende" Mahnung,
444 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
eine Mahnung, die „zu beherzigen a ist. Die Ab-
stracto auf s. yä griech. %a haben Verba aufs, ya
gr. ym zur notwendigen Voraussetzung, ebenso
die s. nomina agentis auf yu vgl. Bechtel G.6.A.
1879 S. 272, dagegen ruhen die Adjective auf
tog auf dem Locativ. Besonders deutlich tritt
dies bei den Ortsadjectiven auf yoiog wie 7#a-
xtjoiog hervor. Es kann keinem Zweifel unter-
liegen, daß 'I&axrJGwg auf den Locativ 'I&axtjOi
zurückzuführen ist. Man vergleiche: &Qid&og:
0Qtä<r$9 IlsvisXtftoog : IJemXtjo*, llteXedciog : Ilts-
Xeäto, OvXaötog: QvXrjai, QXvfaog: QXvtjto,
Hiernach sind auch die nQV(*vy<na Homers Taue,
welche sich ^iiQVfiv^ai an der Prymne" befinden.
Ebenso ist 'Agystog: ö "Agyst, Maga&mvtog: i
MccqccÜgovIj AaxsdatfJiovtog : 6 Aaxedalpov*, 2&U-
vovvnog: 6 Sshvovvu (oop) u. s. w. An sonsti-
gen beweisenden Formen stelle ich noch zusam-
men : avtiog : civil, ägtiog : agunog, yvvcua öwga :
yvpcu-fiaptjg, defyog : defy-tsgog, dijfiog : d^c* =
ddp in dripl-ifoßog, fögiog : fat, lytog : lift, xga-
Tcudg: xgat ai-yvaXog , naXcudg: ndXai, noXog:
not, ngwiog: ngcoi. Noch deutlicher ist elvdhog
= slv äXi, ivvv%iog = iv vv%i9 lm%&oviog = ifd
Z&OVI, vnoxeiQtog = vno %eigi. Die Vocalver-
kürzung in ötjfjtiog (vgl. navdypsi) ivdijfjuog er-
klärt sich aus alter Oxytonierang, erhalten in
äyveufg: acpevog, yegcuog: ysgai^regog, naXaiog:
ndXcu, wie im s. divyi d. i. divi ä „wag im
Himmel (divi) ist". Wie das Patronym TeXa-
poivhog zu denken ist als b TsXaptiovi „dem Te-
lamon (gehörig)", so beruht TeXapwldfig auf
dem Ablativ TiXapaptd, „der vom TelamonB,
TsXapoowddtjg ist „der von der TsXapnavtad sc.
ywsady der vom Telamonischen Geschlechte".
Diese Betrachtungen können hier nicht wei-
ter verfolgt werden ; sie sind veranlaßt worden
durch den kühnen und glücklichen Gedanken
Charteris, Canonicity. 445
Sayce's, daß nicht von Wurzeln, Stämmen und
Suffixen, als leeren Abstractionen, sondern vom
Satzworte auszugehen sei. Auf den übrigen
reichen Inhalt der Sayce'schen Schrift kann ich
hier nicht eingehen, und muß mich mit einer
allgemeinen Empfehlung derselben nicht nur für
Lernende, sondern auch für Lehrende begnügen.
A. Fick.
Canonicity. A Collection of Early Testimonies to
the Canonical Books of the New Testament, based on
Kirchhofer's 'Quellensammlung'. By A. H. Charte-
ris, D.D., Professor of Biblical Criticism and Biblical
Antiquities in the University of Edinburgh ; and one of
Her Majesty's Chaplains. Edinburgh and London,
William Blackwood and Sons. MDCCCLXXX. (88,
CXX, 484 S. 8°).
Wenn man, durch die Fassung des Titels ge-
leitet, das vorliegende Werk zunächst vornehm-
lich in seinem Verhältniß zu Kirchhofers „Quel-
lensammlung zur Geschichte des Neutestament-
liehen Canons bis auf Hieronymus" (Zürich 1844)
zu würdigen unternimmt, so wird man mit der
Anerkennung des Geleisteten nicht zurückhaltend
zu sein brauchen. Der Verf. hat nicht nur, unter-
stützt durch eine Anzahl jüngerer Freunde, die von
seinem Vorgänger zusammengestellten Texte auf
Grund der in den letzten vierzig Jahren erschie-
nenen neuen Ausgaben sorgfältig revidiert, son-
dern auch durch Einleitungen und textkritische
sowol als sachliche Anmerkungen die Brauch-
barkeit des Buchs zu erhöhen sich bemüht. Ganz
neu hinzugekommen ist namentlich die Introduc-
tion (S. I — CXX), welche in 17 Abschnitten über
die wichtigsten Zeugen und geschichtlichen Zeug-
nisse für den Gebrauch der neutestamentlichen
Schriften orientiert Die Quellenauszüge selbst
sind, hier und da vermehrt, im wesentlichen ebenso
gruppiert wie bei Kirchhofer. Den Anfang ma-
446 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
chen die ältesten Zeugnisse für eine Sammlung
heiliger Schriften (bis auf Athanasius) and die
späteren für den Canon des Neuen Testaments
(vom Goncil zu Laodicea bis zum — Bonner Alt-
katholikencongreß v. J. 1874!). Dann folgen
die Stellen patristischer Schriften, die sich auf
das Neue Testament als Ganzes beziehen, sodann
im einzelnen die Zeugnisse für die vier Evange-
lien, für die Synoptiker, für Matthäus, Marcus
u. s. w. bis zur Apokalypse. Dieß der erste
und Haupttheil (S. 1—358). Der zweite Theil
bringt die Bezeugung durch heidnische Schrift-
steller (S. 361 —379, darunter auch solche Stücke,
in denen zwar von Christen, nicht aber von ihren
heiligen Schriften die Bede ist), der dritte durch
Häretiker (S. 383—448). Der vierte Theil end-
lich handelt von außerkanonischen Evangelien
(S. 451—471), worauf noch Errata (S. 473 f.,
hinzuzufügen S. XXXV Anm. 1 Echhardt, wofür
Gebhardt, und S. 169 Anm. 4 Z1H, wofür TIE
zu lesen ist) und ein von Bev. James Coullie
ausgearbeiteter Index (S. 475—484) folgen.
Was der Verfasser im Vorwort als seine Ab-
sicht bezeichnet, hat er in anerkennenswerter
Weise ausgeführt, und Kirchhofers Quellensamm-
lung, ohnehin längst im Buchhandel vergriffen,
kann nun als völlig antiquiert gelten. Nur die-
jenigen werden sich ihrer etwa noch bedienen,
welche für die griechischen Texte eine lateini-
sche Uebersetzung, von welcher hier ganz ab-
gesehn worden ist, nicht missen mögen. Man
kann also, wenn man die Voraussetzung des
Verfassers von der Brauchbarkeit und Zweck-
mäßigkeit einer derartigen Sammlung theilt, für
diese Wiederbelebung des Eirchhoferschen Wer-
kes nur dankbar sein.
Anders gestaltet sich das Urtheil, wenn man
das vorliegende Buch, abgesondert von seinem
Charterte, Canonicity. 447
Vorgänger, för sich allein betrachtet Man sieht
sieh dann zuvörderst vor die Frage gestellt, ob
wirklich im gegenwärtigen Zeitpunkt und bei
dem gegenwärtigen Stande der Forschung nach
den Anfängen und der Entwicklung des neu-
testamentlichen Canons, eine solche Behandlung
des Gegenstandes, wie sie uns hier geboten wird,
als nützlich und der Sache förderlich bezeichnet
werden kann. Wer den Verhandlungen, welche
in den letztverflossenen Jahrzehnten hierüber ge-
führt worden sind, mit Aufmerksamkeit gefolgt
ist, wird diese Frage, wenn überhaupt, so doch
nur in sehr bedingter Weise bejahen können.
Daß es dem Docenten, welcher über Geschichte
des neutestamentlichen Canons liest, recht er-
wünscht sein mag, ein Handbuch zur Verfügung
zu haben, in welchem sich die in Betracht kom-
menden Belege gesammelt finden, ist einzuräu-
men. Aber selbst unter diesen Gesichtspunkt ge-
stellt, möchte man die Anlage der Quellensamqt-
lung anders wünschen. Dieses bunte Durch-
einander von ausdrücklichen Citaten und bloßen
Wortanklängen, von abendländischen und mor-
genländischen Quellen, ist in hohem Grade ver-
wirrend und, wenn man, wie der Verfasser, vor-
nehmlich auf Studierende als Leser rechnet, um
so bedenklicher, als es in dem Buche selbst an
den nöthigen Directiven zur Sichtung und rich-
tigen Beurtheilung des mannigfaltigen Stoffes
fehlt. Die ausführliche Einleitung giebt zwar für
die kirchlichen Schriftsteller bis auf Origenes
herab die nöthigsten Daten, läßt aber die grund-
legenden Fragen nach der Entwicklung des Be-
griffs der Canonicität und den Merkmalen der-
selben so wie nach den localen Verschiedenheiten
der Canonsgeschichte ganz bei Seite.
Die Erörterung der zahlreichen Controversen, welche
in den einleitenden Abschnitten zur Sprache kommen,
448 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 14.
läßt das Streben nach möglichster Objectivität nicht ver-
kennen. Die Urtheile des Verfassers sind demgemäß be-
sonnen und vorsichtig abwägend, bleiben aber dabei nicht
selten zwischen den Extremen schwankend. So z. B. in
betreff des Briefs an Diognet, von dem es heißt: nThe
date may be from the end of the second to the beginning
of the fourth century ; or it may be the fiction of a later
time" (S. 65 Anm. 1, wo kurz vorher, mit Berufung auf
Donaldson, die Abfassung durch Henr. Stephanus als
„not absolutely inconceivable" bezeichnet worden war).
Ueber die Entstehungszeit der Acta Pauli et Theclae ur-
theilt der Verf. S. 180 Anm. 1 folgendermaßen: „This
Book is probably that to which Tertullian refers (de
bapt. c. /7), and dates from some time after the middle
of the second century" ; dagegen S. 199 Anm. 1 äußert
er sich darüber wie folgt: a work of the second century
. . . which Tertullian (de bapt. c. if) says was written
by a presbyter who confessed that he manufactured it
from love of Paul. According to Jerome it dates from
the beginning of the second century". Die Litteraturan-
gaben, welche übrigens nur gelegentlich auftreten und auf
Vollständigkeit augenscheinlich keinen Anspruch erheben,
möchte man doch oft etwas reichhaltiger wünschen. Wenn
z. B. in dem Abschnitt über das Muratori'sche Fragment
SS. LXXIX ff.), der doch dazu dienen soll, den Leser über
len Stand der Frage zu orientieren, nichts von dem er-
wähnt wird, was seit Hesse's Monographie (1873) darüber
geschrieben worden ist, so muß das als ein Mangel be-
zeichnet werden, selbst wenn man dem Verf. die Berech-
tigung zugesteht, den Werth dieser Urkunde für die Ge-
schichte des neutestamentlichen Canons nicht so hoch an-
zuschlagen, wie es meist geschieht. „It seems to J«",
heißt es darüber S. LXXX, „compiled from dislocated
pieces; at all events, the connection between the sentences
is often obscure. The only use which can be safely made
of its testimony regarding some disputed point is of a
general kind" u. 8. w., und zum Schluß (S. LXXXI):
„On the whole, we must regard this famous fragment «*
an unsatisfactory document".
Der Druck des Buchs, namentlich der mitgetheilten
Texte, macht den Eindruck großer Correctheit ; die Aus-
stattung läßt nichts zu wünschen übrig.
Göttingen. 0. v. Gebhardt.
Für die Redaction verantwortlich : F. Bechtd, Director d. Gott. gel. Am.
Verlag der IHeteiich' sehen Vertage -Buchhandlung.
J)roc1c der Theif rieh' sehen Univ.' Buchdruckevei ( W. Fr. Ktwhm).
449
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 15. 16. 13. u. 20. April 1881.
Inhalt: J. Coaz, Die Lauinen der Schweiieralpen. Yon J. Bartach,
— K. Both, Geschieht« dee Forst- und Jagdwesens in Deutschland.
Von B. Braun. — Lamp recht von Regensburg, heraus?, t.
K. Weinhold. Von F. Beck. — Aristophanis Thesmopho-
riazQßae ed. H. H. Blaydes. Von Ä. von Ydsm. — F. Beiini,
fiieerca del fosforo delle urine. Yon Tk. Hueemann.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. verboten se
Die Lauinen der Schweizeralpen. Von
J. Coaz. Bearbeitet und veröffentlicht im Auftrage
des eidgenössischen Handels- und Landwirthschafts-
Departements. Mit einer Lauinenkarte des Gotthard-
gebietes, fünf Tabellen und vielen Abbildungen. Bern.
J. Dalp'sche Buch- und Kunsthandlung (E. Schmid).
1881. 147 SS. 8°.
Wer mit theilnehmendem Interesse den Fort-
gang des Kampfes verfolgt, welchen in den
Alpenländern eine Scbaar einsichtiger Männer
wider die den Menschenwerken feindlichen Ele-
mentar-Gewalten and ihren starken Bandesge-
nossen, den Unverstand des Volkes, führt, der
hat in den vordersten Bei hen jener wackren
Caltur-Kämpfer seit drei Jahrzehnten stetig den
Mann gefanden, dessen Namen das ans vorlie-
gende neae Werkchen auf seinem Titel trägt.
Ein Bach des eidgenössischen Oberforstinspec-
tors Coaz über die Lauinen darf bei jedem Al-
penfrennd, schon ehe er es aufgeschlagen, einer
achtungsvollen Aufnahme sicher sein. Wer es
29
450 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
gelesen, wird nicht unterlassen, ihm ein freudi-
ges „Willkommen!" entgegen zn rufen.
Während an der Erforschung der meisten
Seiten der Alpen-Natur, an der Entschleierung
des Gebirgs-Baus, an dem Studium der atmo-
sphärischen Vorgänge und der Vegetation Natur-
kundige aller Nationen zahlreich und mit Erfolg
sich bet heil igt haben, ist eine der verbreitetsten,
großartigsten und zugleich verhängnißvollsten
alpinen Natur-Erscheinungen, die Lauine, so gut
wie vollständig dem Forschungs-Sinn der Alpen-
bewohner vorbehalten. Der Fremde, welcher
im Sommer die Alpen durchwandert, sieht bis-
weilen nach stärkerem Schneefall in den Hoch-
regionen an jäher Gipfel-Lehne eine Lauine
hinabfegen in den Grund einer Firnmulde und
läßt mit dem Ergötzen der Neugier sein Auge
auf dem schönen Schauspiel ruhen. . Von den
Schrecken der Lauinen-Stürze gewinnt er nnr
eine dunkle, mehr ahnende Vorstellung aus den
Schneemassen, mit denen ein Lauinenzug einen
Wildbach für den ganzen Sommer fest über-
brückt hat, aus dem Bilde der Verwüstung, das
Waldungen darbieten, in welche Lauinen selbst
oder die ihnen voraneilende Windsbraut einge-
brochen sind, aus den Schutzwehren, mit denen
die Bergbewohner ihre Häuser und ihre Ver-
kehrswege gewappnet haben gegen den An-
sturm der Schneefluth. Eine volle anmittelbare
Eenntniß des Pbaenomens in seinen furchtbar*
sten Gestalten kann nur der gewinnen, der Jabr
aus Jabr ein die Lauinenzeit in den Alpen mit
durchlebt. Auf eine von praktischer Erfahrung
und zugleich von wissenschaftlichem Sinn ge-
tragene monographische Darstellung der Laui-
nen von der Hand solch eines Mannes haben
wir lange warten müssen. Seit Simler und
Coaz, Lauinen der Schweizeralpen. 451
Scheuchzer die Lauinen classificierten and be-
schrieben, sind sehr wenige and meist sehr we-
nig fördernde Beiträge zur Kenntniß der Latri-
nen za verzeichnen. Mit Litteratur Studien
braachte Coaz nicht viel Zeit zu verlieren.
Das Werk von C. geht naturgemäß ans von
der Vorbedingung der Lauinenbildung, von dem
Schneefall in den Schweizer Alpen. Es be-
zeichnet die Grenzen, innerhalb deren die Luft-
Temperatur bei Schneefällen sich zu halten
pflegt (+ 4° C. bis — 10° C.) und characteri-
siert die je nach der Temperatur verschiedene
Beschaffenheit des Schnees, den feuchten, groß
flockigen, leicht haftenden Schnee warmer Tage
und den trocknen, feinen Schneestaub, der in
kalter Luft fallend ein Spiel der Winde wird,
die ihn umberwirbeln und in ungleicher Verkei-
lung ablagern. Länger beschäftigt den Verf.
die Ermittelung der Masse des Schnees, der in
den Schweizer Alpen, speciell in dem Gotthard-
Gebiete fallt, dessen Lauinenzüge als Beispiel
für die Verbreitung des Phaenomens auf einer
beiliegenden Karte (1:50,000) eingetragen sind.
Coaz hat hier mit den bekannten Schwierig-
keiten zu kämpfen, denen überhaupt die Mes-
sung des Schneefalls unterliegt. Um auch die
Beobachtungen derjenigen Stationen mit ver-
werthen zn können, welche nur die Höhe der
aus der Schmelzung des Schnees gewonnenen
Wasserschicht angeben, bemüht er sich das Vo-
lumens-Verhältniß zwischen frisch gefallenem
Schnee und seinem Schmelzwasser*) zu bestim-
men aus den besonders vollständigen und zu-
*) Dies Verhältniß schwankt bekanntlich nach den
Untersuchungen von van Swinden und Quetelet zwischen
3 : 1 und 19 : 1 (im Mittel 9 : 1). Jelinek hält 12 : 1 für
die durchschnittlich anwendbare Proportion.
29*
462
Gott. gel. An*. 1881. Stück 15. 16.
verlässigen Beobachtungen zweier im Höben-
gtirtel der Lauinenbildung gelegener Stationen.
Für den Gr. St. Bernhard (2478») ergiebt sieh
aus 3 Jahrgängen (1876—1878) das Volumens-
Verhältniß von frischgefallenem Schnee zum
Schmelzwasser = 12,064:1, für Sils -Maria
(1810*) aus 4 Jahrgängen (1876—1879) «
12,33 : 1. Das Mittel aus beiden Beobachtungs-
Reihen (12,12: 1) benutzt G. dann für die Um-
rechnung der Schmelzwasserhöhen in Schnee-
höhen. Bei den starken Differenzen der zwi-
schen 21,93 und 8,17 sich bewegenden Monats-
Mittel für den Exponenten der Proportion, schie-
nen mir die von Goaz berechneten Reinen zu
kurz und die nahe Uebereinstimmung der Re-
sultate für beide Stationen eine mehr zufällige.
Da überdies die Wahrscheinlichkeit nahe lag,
daß je nach den Temperatur Verhältnissen für
die einzelnen Monate sich verschiedene Werthe
des Exponenten der Volumens-Proportion zwi-
schen Schnee und Wasser ergeben würden, habe
ich für die beiden von G. gewählten Stationen
die vollen in den Schweizerischen Meteorologi-
schen Beobachtungen vorliegenden Materialien
rechnend verwerthet (Gr. St. Bernhard 16 Jahr-
gänge 1864—1879. Sils-Maria 11 Jahrgänge
1869—1879). Der Exponent des Volumens-Ver-
hältnisses zwischen frischem Schnee und Schmelz*
wasser beträgt darnach:
Oktober .
November
December
Januar
Februar
März.
April
Mai .
Juni .
Jahr
Bernhard.
Sils.
7,79
7,65
10,29
12,88
11,92
18,71
12,36
14,35
12,04
12,86
11,67
10,52
9,43
9,31
7,23
8,73
6,22
7,16
10,10
11,47
Coaz, Latrinen der Schweizeralpen. 468
Beide Beobachtungs-Reihen zeigen ein regel-
mäßiges Steigen der Verhältniß-Ziffer vom Herbst
bis zu einem im Janaar liegenden Maximum,
von da ab ein ebenso regelmäßiges Fallen der
Ziffer bis znm Juni. In den kälteren Monaten,
wo der Schnee in lockerer Gestalt fällt nnd die
Zwischenräume zwischen den über einander ge-
lagerten Schneeflocken nur mit Luft (nicht mit
Wasser) gefüllt sind, ist seine Anhäufung eine
minder dichte. Dasselbe Schnee-Quantum nimmt
zu dieser Zeit mehr Raum ein als in den wär-
meren Herbst- und Frühlings-Monaten. Mit die-
sem zweifellosen Ergebniß contrastiert nun Über-
raschend die Thatsache, daß der frische Schnee
des Großen St. Bernhard, der höheren kälteren
Station, dichter (10,10) zu liegen scheint als der
von Sils (11,68). Besonders in den seh nee rei-
chen Winter-Monaten (Nov. bis Febr.) ist der
Exponent der Volumens - Proportion zwischen
Schnee und Schmelzwasser bei Sils durchweg
weit höher als beim Gr. Bernhard. Wie erklärt
sich diese Abnormität? Ich glaube: durch den
mächtigen, rein lokalen Einfluß, welchen der
fiber die Paßhöhe des Bernhard streichende kräf-
tige Wind auf die Resultate der dortigen Beob-
achtungen ausübt. Die meisten und stärksten
Schneefälle auf dem Gr. Bernhard sind von hef-
tigem Wind begleitet. Der Schnee, welchen der
Sturm in den Regenmesser hineinpeitscht, mag
durch die Vehemenz des Winddruckes zu größ-
rer Dichtigkeit zusammengedrängt werden, als
es im freien Felde oder gar im Windschatten
geschieht. Daraus ergiebt sich wahrscheinlich
die durch die Temperatur- Verhältnisse nicht er-
klärliche Erniedrigung des Exponenten der Vo-
lumens-Proportion zwischen Schnee und Schmelz-
wasser bis unter den Betrag herab, der für das
454 Gott, gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
windstillere Sils ermittelt ist. Noch eines ist zu
bedenken. Der auf dem Großen St. Bernhard
fallende Schnee wird durch die winterlichen
Stürme großen Theils fortgeweht. Fast in je-
dem der Winter- Monate (Nov. bis Febr.) begeg-
nen wir bei einem oder mehreren Tagen im
Beobachtungs-Journal der Notiz, es habe zwar
stark und anhaltend geschneit, doch sei wegen
des heftigen Windes nur wenig oder kein Schnee
im Recipienten gefanden worden. Diese unvoll-
ständige Messung der fallenden Schneemenge
äußert auf unsere Special-Untersuchung den
Einfluß, daß diejenigen Monate (Nov. bis Febr.),
in denen der Exponent des Volumens- Verhält-
nisses vom Schnee zum Schmelzwasser ein be-
sonders hoher ist, bei der Bildung des Jahres-
Mittels nicht mit dem vollen, ihnen gebührenden
Gewicht in die Wagschale fallen. Auch dadurch
wird die Verhältnis- Zahl unter ihre wahre Höhe
herabgedrückt. Diese Störungen, welche den
Werth der sorgsamen Beobachtungen auf dem
Gr. St. Bernhard beeinträchtigen, würden mich
dazu bestimmen, grade bei dieser Untersuchung
von den Beobachtungen des Bernhard-Hospizes
ganz abzusehen.
Begleiten wir Coaz nun weiter zu der Be*
Stimmung des Quantums der Schneemassen, die
im Laufe eines Jahres im Gottbard-Gebiet nie-
derkommen, so werden wir nicht ohne einige
Ueberra8chung den Weg betrachten, den er zu
diesem Ziele einschlägt. Er wählt aus dem
Schweizer Beobachtungs-Netz 10 Stationen aus,
2 Paßstationen (Gr. Bernhard und Bern hard in),
5 aus Hochthälern (Be vers, Sils, Castasegna,
Spltigen Dorf, Platta), 3 aus tieferen Lagen am
Nord- und Süd -Hang der Alpen (RagaU,
Marsohüns, S. Vittore). Aus den Journalen die*
Coaz, Lauinen der Schweizeralpen. 466
ser 10 Stationen berechnet er seinen Mittelwerth
von 442,55mm (in Schmelzwasser), resp. 5363,7mm
(in Schneehöhe) für den jährlichen Schneefall.
Daß Coaz aas dem Gotthard-Gebiet selbst keine
Station mit in seine Rechnung aufgenommen
hat, mag seine guten Gründe haben. Aber ob
die Aaswahl der in die Rechnung aufgenomme-
nen Stationen für den vorliegenden Zweck durch-
aus geeignet war, darf wohl bezweifelt werden.
In der Aaswahl von Coaz überwiegen die tief
liegenden Stationen mit schwachem Schneefall
zu stark und die beiden Paß-Stationen kommen
wegen der störenden Wirkung des Windes, der
viel Schnee ungemessen entführt, nicht zu voller
Geltung. Ueberlegt man noch, daß die ausge-
dehnten Gipfel Regionen naturgemäß gar keine
Vertretung im Beobacbtuugs-Material haben, so
sagt man sich leicht, daß der gefundene Durch-
schnitt zu niedrig ausfällt für den Schneefall
des Gotthard-Gebiets, besonders zu niedrig für
die Region, in welcher die meisten Lauinen los-
brechen. Die Massen des im Gotthard- Gebiete
jährlich fallenden und des durch die zahlreichen
Lauinen in Bewegung gesetzten Schnees dürften
erheblich größer sein, als Coaz sie veranschlagt.
Nachdem Coaz noch eine gute Beohachtungs-
Beihe von Sils über das Zusammensinken des
lagernden Schnees mitgetheilt, wendet er sich
im zweiten Capitel zur Bildung der Laui-
nen. Dabei kommt natürlich sofort die Sonde-
rung verschiedener Arten von Lauinen zur
Sprache. Die Terminologie der Lauinen ist seit
lange etwas in Verwirrung gerathen durch den
Mißgriff der meisten Autoren, verschiedene Ein-
theilangs-Principe zu vermengen. Man berück-
sichtigt gewöhnlich bei der Classification der
Lauinen 1) die Temperatur, bei welcher eine
456 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15.16.
Lauine abgeht und die davon abhängige Con-
sistenz ihrer Schneemassen, 2) die größere oder
geringere Vollständigkeit, mit der ein Lauinen-
stnrz die Lehne, ttber welche er abgleitet, ent-
blößt, außerdem wohl auch die Bewegungs-Art
nnd die Wirkungs-Weise der Lauine. Dem er-
sten und zweifellos bedeutungsvollsten Einthei-
lungs- Grunde entspringt der Gegensatz von
avalanghe fredde, lavina da fraid gegenüber avar
langhe calde, lavina da chod (minder treffend :
Winter- nnd Frühlings-Lauinen). Denselben Ge-
gensatz bringen mit Betonung der Beschaffen-
heit des Schnees bei verschiedener Temperatur
zum Ausdruck die Bezeichnungen avalanches de
poussiere, Staublauinen und avalanches solides *),
Schlaß-Lauinen. Für die letztere, nur provincial!
innerhalb der Schweiz übliche Benennung
— schla88, schlasem, schlesem heißt dialektisch
er feuchte, gut cohaerierende Schnee — ) zieht
Coaz nach dem Beispiel von Scheuchzer n. a.
den Namen Grundlauinen {avalanches de fand)
vor. Nun muß man allerdings anerkennen, daß
die Begriffe Schlaß-Lauine nnd Grand-Lauine
wirklich in den meisten Fällen sich decken,
daß, um Coaz' (S. 26) eigene Worte zu brau-
chen, die Lauinen feuchten Schnees „gewöhn-
lich vom Grund weg abrutschen41. Aber ganz
unbedenklich ist die Identification der beiden
Begriffe doch nicht Der Name Grundlauine
führt uns in eine andere Reihe von Begriffen
über, in dieselbe Reihe, welcher auch die von
Coaz sehr passend vorgeschlagene Bezeichnung
Ober-Lauine angehört. Man versteht darunter
Abrutschungen von Neu-Schnee auf der Firn-
*) Ob diese Bezeichnung, die z. B. Kaltbrunner, Ma-
nuel du voyageur p. 250 anwendet, im Volk gebräuchlich
ist, weiB ich nicht. Coaz führt sie nicht mit auf.
$
Coas, Lauinen der Schweiieralpen. 467
kniete einer älteren, durch den Lauinensturz
nicht mit in Bewegung gesetzten Schneeschicht
Jeder Unbefangene wird die Begriffe Grand-
laaine and Oberlaaine für sich ausschließende
Gegensätze halten. Diese schlichte naturge-
mäße Auffassung ist dem, welcher mit Goaz alle
Schlass-Lauinen Grand Lauinen nennt, verwehrt.
Für Coaz giebt es (S. 142) „Grund-Lauinen,
die ihren Grand auf der Eiskruste des alten
Schnees haben und als Ober-Lauinen abfahren".
So geht der wesentlichste Inhalt, der Kern eines
Begriffes verloren, wenn man den Umfang zu
weit ausdehnt
Offenbar liegt hier eine Vermengung zweier
thatsächlich von Grund aus verschiedener Ein-
theilungs-Principien vor. Beide Scheidungen,
die auf Grund der durch die Temperatur be-
dingten Beschaffenheit des abfahrenden Schnees
und die auf Grund der vollständigen oder par-
tiellen Entfernung von Schneelagern durch
Lauinensturz sind bedeutungsvoll für das Stu-
dium und werth neben einander in der Lauinen*
Statistik Berücksichtigung zu finden. Damit
sind aber aueh die wirklich brauchbaren Unter-
scheidungen verschiedener, wohl charakterisier-
ter Lauinen- Arten erschöpft Alle die anderen
Doch vom Volksmund genannten oder von Ge-
lehrten erklügelten Species kann die Wissen-
schaft über Bord werfen. Goaz that dies still-
schweigend mit der Bezeichnung Wind-Lauinen ;
ausdrücklich lehnt er die von den Gebr. Schlag-
intweit in die Wissenschaft eingeführten Namen
Roll- und Rutsch-Laainen ab; er hätte ebenso
auch den volkstümlichen Aasdruck Schlag-
Lauinen bei Seite schieben können schon um
der Mißverständnisse willen, die an ihn sich
knüpfen. Die Schlag-Lauinen werden von Ber*
458 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
lepsch (Schweizerkande S. 336) als besondere
Kategorie den Staub- and Grund Lauinen voran-
gestellt, dann aber in confaser Auseinander-
setzung, welche den Namen von der Entstehung
mancher Lauinen durch Einschlagen abfallender
Schnee-Bretter (corniches de neige) herleitet, mit
den Staublauinen (das sind offenbar die 'Harein'
der Berner) zusammengeworfen. Die Schlag-
intweits knüpfen die Deutung des Namens nicht
an die Entstehung, sondern an die Wirkungs-
Weise der Lauinen, erkennen aber in Schlag-
Lauinen ebenfalls Staub-Lauinen. Schaubach
(Deutsche Alpen I, S. 107) scheint die Schlag-
Lauinen für eine Mittel-Gattung zwischen Staub-
und Schlass-Lauinen zu halten. Sie sind indeß
zweifellos mit letzteren durchaus identisch, wie
Goaz und vor ihm schon Scheuchzer richtig er-
kannt haben.
Ohne auf diese unerquicklichen, aber doch
wohl unerläßlichen Begriffs-Abgrenzungen tiäfer
kritisch einzugehen, wendet sich Goaz — ein
Mann, dem an der Sache mehr als am Namen
liegt — zu den Ursachen der Lauinen-Bildung.
Was in einem 30jährigen Berufsleben, in stetem
innigen Verkehr mit der Natur das scharfe Auge
des erfahrenen Forstmanns erspäht, tritt hier in
lichtvoller, treffender Darstellung uns entgegen.
Besonders der Nachweis des Einflusses, weichen
das Relief, die geologische Beschaffenheit, die
Bewässerung und die Pflanzendecke einer Berg-
lehne hemmend oder fördernd auf die Entwicke-
lung von Lauinen ausübt, muß als eine Glanz-
partie des trefflichen Buches und zum Theil als
ein kräftiger Fortschritt der Lauinen-Kenntnift
gelten.
Das dritte, von guten Abbildungen begleitete
Capitel schildert die Lauinenkegel, die
Coaz, Lauinen der Schweizeralpen. 469
Schattkegel des in den Thalsohlen angehäuften
Laninen-Schnees. Die Verdichtung, welche der
Schnee beim Aufschlagen der Lauine und bei
der Bildung des Lauinenkegels erleidet, scheint
in der Schweiz noch nicht durch exacte Messun-
gen festgestellt zu sein. Bei dem großen Laui-
nensturz zu Bleiberg in Kärnthen (25. 2. 1879)
fand man das Gewicht des Kubikmeters Schnee
aas den oberen Lagen des Lauinenkegels 665
kgr, aus den unteren Lagen 792 kgr, während
nengefallener Schnee per Kubikmeter nur 70,9
kgr. wog. Es wäre von Interesse, wenn ähn-
liche Wägungen auch anderwärts vorgenommen
würden.
Das umfangreiche vierte Capitel (S. 57 — 90)
beschäftigt sich mit der Geschichte und
Verbreitung der Lauinen in den Schwei-
zer Alpen und reproduciert geographisch geord-
net in geschickter Auswahl aus der Menge von
Schilderungen einzelner Katastrophen die be-
sonders instructiven, so auch die beste Darstel-
lung, die je von einem Lauinensturz gegeben
wurde, den Bericht des Ingenieurs Gösset über
den von ihm erlebten, für Tyndall's Führer ver-
hängniflvollen Schneebrueh am Haut de Cry
(28. 2. 1864).
Nach zwei kürzeren Abschnitten über die
Rettung der in Lauinen Verunglückten
and über die erschöpfend dargelegten Nach-
theile der Lauinen, folgt in Capitel 7 und 8
(S. 102 — 129) die Beschreibung der Schutz-
mittel, welche gegen Lauinenzüge sich an-
wenden lassen. Während man früher sich be-
gnügte, auf eine möglichst schadlose Ablenkung
der Lauinen hinzuwirken, indem man die Ge-
bäude bergseits in den Boden hineinbaute oder
durch eine Spaltecke schützte, die Straßen mit
460 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
Galerien überwölbte, schreitet man jetzt, wo es
wünschenswerth und möglich ist, dazu, die Bil-
dung der Lauinen selbst zu verhüten. Es be-
darf wohl kaum der Versicherung, daß hier bei
der Verbauung der Lauinenzttge und der ihr
folgenden Aufforstung der Lehnen der Verf.
wieder ganz in seinem Elemente ist und aus
einer Fülle feiner Beobachtungen wohlerwogene
Rathschläge für diesen schweren Kampf wider
die Lauinengefahr ableitet.
In Capitel 9 werden wir über den Stand der
von der Schweiz angeordneten (auch für Italien
in Aussicht genommenen) Lauinen-Statistik
unterrichtet, die dem Verf. künftig noch reichere
Materialien zur Behandlung des interessanten
Gegenstandes an die Hand geben wird.
Das Schluß-Capitel giebt anhangsweise eine
Uebersicht des Vorkommens von Lauinen in
andern europäischen Gebirgen. Auch
die deutschen Mittel-Gebirge werden dabei nicht
vergessen. Für die Vogesen wird das Vorhan-
densein von Lauinen in Abrede gestellt*). Ans
dem Schwarzwald dagegen werden (S. 139 — 142)
eine Reihe höchst interessanter Daten (26jährige
Beobachtungsreihe über das Sehwinden des letz-
ten Scbneerests am Feldberg) über die Schnee -
anhäufung und über Lauinenstürze mitgetheilt
Für die übrigen deutschen Mittel Gebirge bat
dem Verf. das Material gefehlt. Im Riesen-Ge-
birge verstreicht wohl kein Winter, ohne daß in
die oberen Thälern der Aupa, des Weißwassers
und der Elbe, in den Kessel, die Schneegruben
nnd die Teiche Staub- und Schlass-Lauinen nie-
dergingen. Die ständigen Siedelungen der Berg-
bewohner haben sich theils nicht bis in die ge-
*) Schwerlich mit Recht, vgl. Collomb, Preuves de
Texistence d'anciens glaciers dans les Vosges. Paris 1847
p. 181.
Coaz, Lauinen der Schweiseralpen. 461
fohrdetenThalstrecken hinaufgewagt, theils nach
einschüchternden Erfahrungen (wie dem Lauinen-
Sturz, der 15. 12. 1666 im Riesengrunde zwei
Banden sammt ihren Bewohnern begrub) daraus
wieder zurückgezogen. So beobachtet fast nur
der Forstmann die „Schneelehnen", die oft ver-
heerend bis tief in den Hochwald hinab ihre
Straßen ziehen. Selten nur (so 1865, 1877)
verursachen Lauinenstürze, die einen Bauden-
Bewohner oder Waldarbeiter überraschen, Un-
glücksfälle, welche dann vorübergehend die Auf-
merksamkeit der ganzen Bevölkerung auf das
auch in unserem bescheidenen Gebirge keines-
wegs fehlende Phaenomen der Lauinenbildung
hinlenken. Wie in diesem Punkte, so ist wohl
auch in anderen das Schluß-Capitel, in welchem
der Verf. auf Mittheilung fremden Materials an-
gewiesen ist, noch mancher Ergänzung und Ver-
besserung fähig. Ueberall wo Coaz auf die eigene
nie versagende Beobachtungsgabe sich stützen
kann, hat er schon jetzt eine mustergültige, für
unsere Zeit abschließende Leistung geschaffen.
Breslau. J. Partsch.
Geschichte des Forst- und Jagdwesens in
Deutschland von Dr. Karl Roth, Professor
an der Universität zu München. Berlin, Wiegandt,
Hempel & Parey 1879. XVI u. 678 S. 8°.
Kein Zweig der Volkswirtschaft arbeitet in
so großen Zeiträumen, wie das Forstwesen. Der
Umtrieb des Menschengeschlechtes ist kurz im
Vergleich zu demjenigen des Waldes. Was der
Knabe sät, kann er, der Segel nach, auch in
spätem Greisenalter nicht erndten. Daher zielt
in unserer auf raschen Erwerb gerichteten Zeit
das mächtige Drängen und Treiben im Forst-
wesen vor Allem auf Abkürzung der Zeiträume,
innerhalb deren die forstlichen Zwecke seither
462 Gott. gel. Anz. 1881. Stüek 15. 16.
erreicht warden; nnd zwar in zwei Richtungen,
einesteils durch technische Beschleunigung und
Verbesserung des Wachsthums, der Reife und
des Werthes, durch Wohlfeilheit und daraus sich
ergebende Anwendbarkeit der bezüglichen Hülfe-
mittel im Großen, anderentheils durch Herab-
setzung des Umtriebs zum Zwecke höchstmög-
licher Verzinsung der Anlagecapitalien , auf
Grund der Zinszinsrechnung. Das letztere Prin-
cip wendet sich folgerecht gegen die aus der
historischen Entwicklung hervorgegan-
genen jetzigen Thatbestände. Je tiefer es in
das Wohl und Wehe der deutschen Nation, zu-
mal in die Interessen der ländlichen Bevölke-
rung eingreift, desto verdienstvoller erscheinen
die mühsamen Arbeiten, welche sich die Auf-
gabe stellen, die Quellen der Geschichte zu er-
öffnen und nicht allein für die allgemeinen cul-
turhistorischen Zwecke, sondern auch für die
Beurteilung der materiellen Tagesfragen nutz-
bar zu machen. Die letzteren sind uns hier in
erster Linie maaßgebend.
Das vorliegende Werk hat in der fraglichen
Beziehung höchst Dankenswerthes ge-
leistet.
Es ist nicht die Absicht des Referenten, die
Schwächen des Werks zu verschweigen oder zu
verdecken. Was zunächst die Form betrifft, so
läßt dasjenige, was man in der Schriftstellern
„Systematisierung" nennt, zu wünschen übrig.
Vorausgegangene forstliche Geschichtsschreiber
haben auf diesen Gesichtspunkt mehr Werth
gelegt. Auch hinsichtlich des Stoffs ist zu be-
merken, daß der im Ganzen erstaunliche Auf-
wand von Arbeit nicht gleich vertheilt ist, die
verschiedenen Zeitabschnitte nicht mit gleicher
Liebe behandelt, insbesondere die älteren Perio-
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 463
den relativ reicher bedacht sind. In dem Ab-
schnitt Aber die forstliche Gesetzgebung fehlen
die französischen Gesetze. Ist auch der Titel
nur auf das Forst- und Jagdwesen in Deutsch-
land gerichtet, so wird die Lücke doch em-
pfanden, und zwar aus zwei Gründen, erstens
weil von Frankreich die systematische und grund-
sätzliche Gesetzgebung für Forst-, Jagd- und
Fischereiwesen zuerst ausgegangen ist, auch
viele deutsche Gesetze auf jene französischen
gegründet waren, und zweitens, weil die fran-
zösischen Gesetze, in Folge politischer Territo-
rial-Veränderungen auf deutschen Boden über
tragen worden, und in weiten deutschen Gebie-
ten heute noch in Uebung sind. Diese Ein-
drücke sind jedoch nicht geeignet, den hohen
Werth des Inhalts insbesondere der vorderen
Abschnitte zu beeinträchtigen.
Die große Anzahl der bereits vorhandenen
forstlichen Geschichts werke (sie beträgt, abge-
sehen von dem in Zeitschriften zerstreuten Ma-
terial, über 30, von denen viele freilich nur lo-
cale Bedeutung und Tendenz haben) erleichtert
zwar die Forschung sehr. Allein dies wird bei
dem vorliegenden Werke nicht fühlbar; es ist
unverkennbar das Ergebniß reinen Original-
studiums, frisch und gesund, von bleibendem
Werth für alle Zeiten, mit Bienenfleiß gesam-
melt, auf Grund tiefer Kenntniß der alten Spra-
chen, namentlich des Lateinischen, scharf auf-
gefaßt und geistreich dargestellt. Die Masse
der Excerpte aus Literatur, Decreten, Gesetzen,
Verträgen, Statuten, Instructionen, Weisthümern,
Hark- Wald- und Jagdordnungen, gerichtlichen
Urtheilen, PräJudicien u. s. w. ist ebenso außer-
ordentlich, wie der Fleiß und die Gewissenhaf-
tigkeit, womit das Mosaik des colossalen Mate-
464 Gott gel. Arne. 1881. Stuck 15. 16.
rials zusammengefügt ist. Und so liegt ein
chronologisches Bilderbuch vor uns, welches, von
den ältesten Zeiten der deutschen Geschichte
beginnend und bis gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts gleichmäßig vorschreitend innerhalb der
selbstgesteckten Grenzen Reichthum mit Treue
und Zuverlässigkeit vereinigt. Dabei ist in
hohem Grade die Objectivität überall gewahrt:
was freilich durch den Verzicht auf eingebende
Beurtheilung der Neuzeit wesentlich erleichtert
wurde. Die durchweg waltende Milde des Ur-
theils ist sehr wohlthuend. Dieser Grundzug ist
nicht beeinträchtigt durch einen hier und da
einfließenden liebenswürdigen Sarcasmus, wie
z. B. pag. 558, wo das Unkraut „Humbugia
silvaticatf als eine in der neueren deutschen
Forstliteratur üppig wuchernde botanische Spe-
cies bezeichnet ist. Hierdurch kündigt sich je-
doch nur der allgemeine Standpunkt des Ver-
fassers gegenüber der durchaus materiellen Rich-
tung der neueren mathematischen Schule an.
Mit Befriedigung darf ausgesprochen werden,
daß dieser sein Standpunkt derselbe ist, wie
derjenige des Gefühls und Gemüthes im Gegen-
satze zu der herzlosen Schablone des Rechnen-
knechts, die Achtung vor der historisch über*
kommenen die Rechte auch der Zukunft wah-
renden Anschauung im Gegensatze zu dem
Eigennutze der Gegenwart; des conservativen
und nationalen Elementes und sittlichen Rechts-
geftthls im Gegensatze zu den destruetiven Ten-
denzen des momentanen Privatvortheils.
Der Verfasser theilt seine Geschichte in drei
Abschnitte, von denen der erste bis zur Auf-
lösung des großen Frankenreichs, der zweite
von da bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts reicht,
und der dritte die letzten Jahrhunderte umfaßt.
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 465
Wie dehnbar die deutsche Forstgeschichte in
Beziehung auf solche Grundeintheilung ist, und
wie wenig greifbare Anhaltspunkte in den that-
sächlichen Verhältnissen liegen, ergiebt sich zur
Genüge daraus, daß die zwei bedeutendsten Vor-
gänger, Stieglitz und Bernhardt, zwar
ebenfalls drei Hauptabschnitte unterscheiden,
aber zu ganz verschiedenen Zeitpunkten in ihrer
Einteilung gelangen. Stieglitz begrenzt die
erste Periode mit der Entstehung der Bannforste
(800 n. Chr.), die zweite mit der Ausbildung
der Landeshoheit (um 1100 n. Ghr) und die
dritte Abtheilung seines Werks betrifft die nach
Entwickelung der Landeshoheit stattgefundenen
Veränderungen.
Bernhardt' s 1. Band enthält die Geschichte
bis 1750, der 2. Band geht von da bis 1820,
der 3. bis auf die neueste Zeit. Die Grenze
zwischen dem 1. und 2. Abschnitt Both 's ist
begründet durch Neubildung des Deutschen
Reichs als Wahlreich, Auflösung der Gauver-
fassung, Uebergang der Grafenämter in feste
erbliche Hände, Entwickelung des Lehenswesens
u. s. w., die Grenze zwischen dem 2. und 3.
durch Aufhebung des Faust- und Fehderechts,
Anbahnung geordneter Bechtszustände mittelst
des Landfriedens, durch Neu- Organisation des
Reichskammergerichts mit Eintheilung des Beichs
in 10 Kreise behufs des Vollzugs der gegebenen
Urtbeile. Diese drei Abschnitte sind nicht, wie
in den zwei ersten Bänden Bernhardts, in wei-
tere Unterabschnitte der Zeit nach zerlegt, son-
dern sofort nach dem einschlagenden Material
geordnet, der erste Abschnitt ohne, die beiden
folgenden mit Zerlegung in „Capitel", welche
unter besonderer Ueberschrift, mehrere die ein-
30
466 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
zelnen Gegenstände betreffende resp. schei-
dende Paragraphen umfassen.
Erster Abschnitt: Bis zur Auflösung desgroßen
Frankenreichs. 63 §§ auf 100 Seiten.
§§ 1 — 14: Aelteste Zustände nach den Auf-
zeichnungen des Cäsar nnd des Tacit a 8.
Entwickelung der persönlichen und bürgerlichen
Rechtsverhältnisse, Freiheit und Unfreiheit der
Person, Gliederung der Stände vom Leibeige-
nen bis zum König, ursprüngliche Gemeinschaft
des (das Jagdrecht einschließenden) Grund-
eigenthums, allmählige Entwickeluug von Privat-
besitz, Markgenossenschaft, erblichen und zeit-
lichen Colonats- (Pacht-)verhältnissen in pa-
rallelem Gange der verschiedenen Stufen des
Standes und der Rechtsfähigkeit (Adelige, Freie,
— Dienstgefolge und unabhängig Freie — Halb-
freie und Unfreie) einerseits, und der analogen
Givilrechts- und Besitzverhältnisse andererseits.
Volksrechte (Leges) der einzelnen Volksstämme.
Politische Gliederung der Gaue, innerhalb der-
selben Herzogtümer, Grafschaften, Marken und
Gente mit den entsprechenden Aemtern; geist-
liche Stifter und Grade nach Einführung des
Ghristenthums u. s. w. Mitwirkung der Wal-
dungen und Jagden in allen diesen Entwick-
lungen.
§ 15: Werth-, Geld- und Münzverhältnisse
während des I. Zeitabschnitts.
§§ 16—22: Gerichtswesen, Gerichtsbeamten,
Zuständigkeit der Gerichte nach Maaßgabe der
Verschiedenheit des Objectes und des rechts-
suchenden oder denunciirten S objectes, Civil-
und Strafrechtspflege, Strafenbezug, Immunitäten
bestimmter Stände und der Markgenossenschaf-
ten, welche in ihrer Eigenschaft als Grundherr-
Schaft bezüglich des gemeinschaftlichen Grund-
Both, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 467
eigenthums, eine Ausnahme von der Gerichts-
barkeit der öffentlichen Beamten besaßen. Die
Kirchen suchen gleiche Immunität durch Privi-
legien zn erwerben. Das Grundeigenthum, ins-
besondere an den Waldungen, bleibt im Uebri-
gen gemeinschaftlich zur Nutznießung unter den
betheiligten Bauerngütern oder zugehörigen
Grundherrscbaften. Gleichmäßig bildet sich aus
den Beziehungen der Dienstgefolgschaften, d. h.
ans dem persönlichen Verhältniß des Vor-
nehmeren zu den Dienstmannen, das dingliche
Verhältniß des Lehens aus, wozu auch Wal-
dungen oder Nutzantheile an gemeinschaftlichen
Waldungen gehören.
§§ 23—31: Schutz des Eigenthums, insb.
Wald- und Jagdeigenthums, nach Form und ur-
sprünglichen Begriffen. Eingriffe in dasselbe
werden ungleich milder beurtheilt, als
in späterer Zeit, namentlich, im Gegensatz
zn Straßenraub, Hoch- und Landesverrath, nicht
mit Todesstrafe oder mit Verstümmelung, son-
dern nur mit Geldstrafe gesühnt. Näheres
Aber die Formen des forst- und jagdgerichtli-
chen Prozesses in § 30.
§§ 32—48: Jagdbetrieb, Gegenstände der
Jagd, Wildgattungen, Werkzeuge, Vorrichtungen
und Thiere zur Jagdausübung, Abrichtung der
letzteren.
§§ 49—63: Allmählige Entstehung und
Ausbildung der Bann forste, und des Begriffs
der Einforstung, als eines sowohl von dem
Princip der Identität des Jagdeigenthums mit
dem Grundeigenthum, als auch von dem her-
gebrachten markgenossenschaftlichen Verhältniß
wesentlich abweichenden, ja in diese Rechte ein-
greifenden Ausnahmezustands.
Die alte Bedeutung des Wortes „Forst" ist
30*
468 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
jedenfalls in der Forstgeschichte wichtig und
zur Erklärung vieler Urkunden und Rechtsver-
hältnisse nothwendig. Sie ist, obwohl vermöge
des in neuerer Zeit ausgedehnten Begriffs, in
ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht mehr zwei-
felhaft Alle Autoritäten sind darüber einig,
daß darunter ein zwar nicht nothwendig einge-
zäunter, aber doch deutlich und bestimmt abge-
grenzter, vorzugsweise Wald-, aber auch Feld-
areal umfassender Grundbesitz zu verstehen ist,
innerhalb dessen irgend einem Rechtssubject
(ursprünglich nur dem König, später auch an-
deren Personen) die Nutzung an Waldproducten,
Jagd oder Fischerei vorbehalten ist Auch
ist kein Zweifel, daß in den Bannforsten dem
König, resp. später dem Kaiser, wenn auch nicht
das Waldeigenthum und Nutzungsrecht, doch
Wildbann und forstliche Obrigkeit (ein in die
neuere Zeit hineingreifender Begriff) zustand.
Dagegen besteht vielfache Meinungsverschieden-
heit über die Etymologie des Worts. Dieser
Streit ist insofern unpractisch, als über die ur-
sprüngliche Bedeutung selbst nicht mehr ge-
stritten wird. Dagegen ist nicht abzuläugnen,
daß die Etymologie mindestens sehr interessant
ist, schon deshalb, weil viele geistreiche Män-
ner sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt
haben, ohne daß das um dieselbe noch schwe-
bende Dunkel geklärt worden wäre. Darin mag
wohl auch der Grund liegen, weshalb viele forst-
geschichtlichen Schriftsteller sich mit diesem
kleinen Worte befassen, und aus diesem Grunde
möge das Nachstehende hier eingeflochten wer-
den. Bernhardt widmet der Etymologie des
Wortes fünf Seiten seines Werks (pag. 50—54
des I. Bandes), und gelangt zu dem auch von
Both ausgesprochenen Ergebniß, daß die Frage
s
Roth, Gesclüchte des Forst- und Jagdwesens. 469
unentschieden sei. Diejenige Deutung, welche
von zwei bedeutenden Autoritäten der deutschen
Sprach- und Alterthumskunde empfohlen wird
Schmitthenner pag. 588 des ersten Bands
er 12 Bücher vom Staat, und Grimm Wörter-
buch, und Grammatik 1. Band pag. 416), erklärt
die Abstammung aus dem gothischen foräha,
die Föhre, Kiefer oder Tanne. Roth erwähnt
ihrer nicht, wohl aber Bernhardt. Weder
Grimm noch Schmitthenner, auch Bern-
hardt nicht, citiert die eigentliche Quelle die-
ser Deutung, nämlich Struve Syntagma juris
feudalis, Frankfurt a./M. 1734. Gap. VI, § 28.
Unter der Ueberschrift; cunde forestum dicatur1
findet sich dort folgende Stelle: 'Descendit fore'
stum forte a foro vel furu, abiete, ut lingua
Gothica dicitur*. Referent hält diese Deutung
— obgleich sie Weigandt (Wörterbnch) ver-
wirft und die Ableitung von dem altromanisohen
fork (außerhalb) vorzieht — für die richtige,
and zwar aus dem von Grimm angegebenen
Grunde, weil das Wort erst von der Fränki-
schen Zeit her vorkommt. Wäre foresta altro-
manischen Ursprungs und nicht seoundär latini-
siert, dann würde es sich schon in der vorde-
ren Zeit irgendwo und irgendwie vorfinden.
Zweiter Abschnitt: Von Mitte des 9. bis Mitte
des iß, Jahrhunderts. 76 §§ auf 281 Seiten.
1. C a p i t e 1 : Allgemeiner Ueberblick der Zu-
stande. §§ 64—86.
§§ 64—71: Theilung des Frankenreichs,
Deutschland wird selbstständiges Wahlreich; in
Folge dessen Rückgang der Macht der Krone
und Wachsthum der Standesrechte, Auflösung
der Gauverfassung, Entstehung der, oft meh-
rere untergeordnete Graftschaften umfassenden
Herzogthllmer, Fürstenthümer, Mark-,
470 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 16. 16.
Land- und Pfalzgrafschaften. Entfaltung
des Lehn 8 wesens, der befestigten Städte und
der Reichsstände. Erblichkeit und Identität
der Reichs am ter mit dem bezüglichen Grund-
besitz tritt mehr und mehr an die Stelle der
Verleihung, die Gliederung der weltlichen und
geistlichen Stände, die Ei gen th ums- und Rechts-
verhältnisse gestalten sich unter Mitwirkung des
inzwischen eingedrungenen römischen Rechtes
mannigfaltiger, aber durchweg zum Nachtheil
des freien Grundbesitzes der kleinen Leute und
der Theilhaberscbaft der letzteren an den Wal-
dungen, Jagden und Fischereien in Eigenthum.
Dagegen bilden sich Genußrechte auf die min-
der werthvollen Baumtheile und Holzarten, auf
„unfruchtbares" Holz im Gegensatze zu dem
fruchttragenden, welches, theilweise auch wegen
der Jagd, vorzugsweise jedoch seines höheren
Geldwertes wegen, dem Grundeigenthümer ge-
hörte ; ferner auf Windfälle, Mast, Weide u. 8. w.
Das Streurechen gehört erst der spä-
teren Periode an. Wesentlich aus diesem
Grunde sind die Waldungen noch weitaus über-
wiegend Laubholz. Allmählig entwickelt sieb
die „Einhegung" behufs der Verjüngung uner-
achtet des noch durchweg herrschenden Fehmel-
und Plänterbetriebs, Auszeichnung und Anwei-
sung des zu schlagenden Holzes durch Forstbe-
dienstete, hier und da Niederwaldbetrieb.
§§ 72—76 : Rechtspflege für Civil- und Straf-
sachen im Allgemeinen.
§ 77 : Münz- und Werthverhältnisse im Mit-
telalter.
§§78 -81: Näheres im Bereiche des Forst-
und Jagdstrafwesens. Steigende Härte der
Strafen: einerseits Einschränkung der Geld-
bußen, andererseits Ausdehnung der peinlichen
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 471
Strafen an Leib und Leben, beides im pa-
rallelen Gange der Entwickelung der persönli-
chen Freiheit, da die , nach heutigen Begriffen,
sehr hohen Geldstrafen der alten Zeit in den
Gesetzen nur gegen die höher Gestellten gerich-
tet waren. Daß die Leibeigenen nach
Belieben gestraf t wurden, war selbst-
verständlich.
§§ 82—86: Betrieb der Jagd, Fischerei und
Bienenzucht.
2. Capitel: Waldeigenthums- und Wald-
nutmngsrechte. §§ 87—103.
Das hohe Interesse, welches dieser Theil dar-
bietet, würde sich noch steigern, wenn der Über-
wältigende Reichthum an Stoff gegenständlich,
räumlich und zeitlich mehr geordnet und mit-
telst Ueberschriften geschieden wäre. Er würde
dann dem gewöhnlichen Leser besser verständ-
lich, und, was für die Philosophie der Geschichte
die Hauptsache ist, in seinen Endzielen durch-
sichtiger sein. Der Fleiß, mit welchem die Sa-
chen zusammengeschafft sind, ist außerordent-
lich, und die Frische der Darstellung vom An-
fang bis zum Ende fesselnd.
Ebenso verhält es sich mit dem folgenden
3. Capitel: Jagdrecht und Jagdnutzung.
104—122 auf 83 Seiten.
4. Capitel: Wdldbienen. §§ 123—126.
5. Capitel: Forst- und Jagdpersonal, §§
127 — 131, — eine schöne Sammlung von cha-
racteristischen Beispielen, wie die Forst- und
(meistens zugleich) Jagdbeamten gestellt, ihre
Befugnisse, Verpflichtungen und Bezüge organi-
siert waren.
6. Capitel: Strafrecht in Forst-, Jagd' und
Fischereisachen. §§ 132—139.
Es ist wunderbar, wie die bezüglichen sitt-
472 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
liehen Anschauungen im Laufe der hier in Frage
stehenden 7 Jahrhunderte, wenn auch für ge-
ringere Holzfrevel nicht selten sich mildernd,
doch im Ganzen und Wesentlichen nicht allein
nicht gelinder wurden, sondern sogar sich zu
solcher Barbarei steigern konnten, daß für das-
selbe Vergehen, welches in alter Zeit mit der
Bezahlung von 60 Solidi = ca. 150 Mark heu-
tigen Geldes, gesühnt wurde, die Strafandrohun-
gen in allen möglichen Gradationen, und ört-
lich, je nach dem Geschmacke eines zeitigen
Gewalthabers, außerordentlich verschieden, wuch-
sen, bis zu 100 Pfand Gold, bis zum Abhauen
des rechten Daumens, oder der rechten Hand,
bis zum Anbrennen der Füße, (pag. 343) ja bis
zum Aushaspeln der Gedärme (pag. 372), zum
Feuertod, zum Gottesgericht des kalten Wassers,
oder (pag. 365) zur Hinrichtung durch Abschla-
gen des Kopfes öffentlich unter der Gerichts-
oder Dorflinde, wo dann der gefrevelte Stamm
als Richtblock diente. Mitunter gingen die Be-
stimmungen des Gesetzes so weit, daß der Sün-
der dem „Herrn" auf Gnade oder Ungnade
übergeben wurde. Massenhaft werden uns die
traurigen Bilder dieser mit dem Einflüsse
des Christenthums wachsenden, ja un-
ter geistlichen Herrschern mitunter recht schroff
hervortretenden Entartung im Original entrollt
Sie sind nicht wohlthuend.
Dritter Abschnitt: Neuere Zeit von der zwei-
ten Hälfte des 16. Jahrhunderts an. §§ 140—291. Seite
385-665.
§§ 140-143: Einleitung: Allgemein Ge-
schichtliches, Landfrieden, Reichskammergericht,
Eositive Bestätigung der von den Reichsständen
is dahin erworbenen Landeshoheit, Macht, Wür-
den, Ehren und Gewalt. Daraus sich ergebende
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 473
Gliederung der Nation und, für den vorliegen-
den Zweck, Entwickelung der Waldeigenthums-
kategorieen in ihrer gegenwärtigen Gestalt.
Den Werth-, Geld- und Münzverhältnissen
der letzten Geschichtsepoche sind wiederum in
§ 144 eingehende Erörterungen, und, im Ver-
laufe des Abschnitts, noch, öftere Notizen ge-
widmet, welche ein treues Bild der bezüglichen
Zustände wiedergeben. Ein kleiner Zweifel pag.
526 möge kurz berührt werden. Die Gemsjagd
bei Tegernsee wird im Jahre 1506 um jährlich
„zween Ftixa verpachtet Das beigefügte
Fragezeichen soll wohl sagen, daß Zweifel be-
stehn, was mit diesem Zins gemeint sei. In Er-
mangelung eines besseren Schlüssels wird ge-
stattet sein, als Autorität Gustel von Blasewitz
anzurufen, welche den langen Mußjö Peter von
Itzehö mit der Neckerei begrüßt, er habe
„. . . seines Vaters goldene Füchse
„ durchgebracht
„Zu Glückstadt in einer Instigen Nacht."
Hiernach werden unter „Füx" Goldgulden oder
die zu Anfang des 16. Jahrhunderts ziemlich
gleich werthi gen Ducaten zu verstehen sein.
1. Capitel: Forst- und Jagdhoheit, §§ 140
— 150. — Begriffe und Unterschiede von Lan-
deshoheit, Fischereiregal, Forst- und Jagdhoheit,
forstliche Obrigkeit. Die letztere bildet sich erst
in der neueren Zeit aus. Ihr Ausfluß sind die
Waldordnungen.' Diese sind, insoweit sie
von deutschen Landesherrn herstammen, in
§149 specificiert verzeichnet. Dann folgt im
2. Capitel, §§ 151—177, ein Panorama
dieser deutschen Waldordnungenf in reicher Ent-
faltung des Stoffs.
3. Capitel, §§ 178—183: Der Uebergang
auf die jeteigen Zustände.
Obwohl geordnet auch nach den einzelenn
474 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
wirtschaftlichen Gegenständen, zeigen diese Ca-
pitel doch nicht scharf auf dasjenige Endziel
hin, welches in heutiger Zeit den Vordergrund
aller practischen Betrachtung ausfüllt: die Ei-
genthumskategorie. Nicht etwa soll ge-
sagt sein, daß sie vernachlässigt wäre: die be-
züglichen Thatsachen sind genau und gewissen-
haft verzeichnet. Allein die historische Ent-
wicklung ist nicht auf diesen entscheidenden
Gesichtspunkt gerichtet, und deshalb vermißt
man um so mehr die französische Gesetz-
gebung, welche mit der für die damalige Zeit
unvergleichlichen Colbert'schen Ordonnance von
1669 beginnend, im Verlaufe der französischen
Revolution, Invasion und Occupation in die
deutschen Lande bis nach Westphalen und Kur-
hessen hin eindringend, heute noch in die deut-
sche Forstgeschichte scharf eingreift. Sie kann
unmöglich entbehrt werden, ohne daß dem Zeit-
bild des Ganzen ein wesentlicher Character be-
nommen wird.
Die Waldeigenthum8kategorie erfordert, in-
soweit die staatliche Obervormundschaft in Frage
steht, Beachtung in zwei Hauptgesichtspunkten :
1) Bewirtschaftung und
2) Schutz.
Um diese beiden Punkte dreht sich in heu-
tiger Zeit die Frage der „Forsthoheit". Sie
unterscheiden sich, nach heutiger Anschauung
der Befugniß und Verpflichtung des Staats, den
Eigenthümern Gesetze vorzuschreiben, in fol-
genden Beziehungen:
Zu 1) Bewirthschaftung.
Privatwald ist, insoweit nicht örtliche Ge-
fahren von Lawinen, Wassern etc., obwalten
oder staatlich zu überwachende Fideicommisse
eingreifen, hinsichtlich der Bewirthschaf-
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 475
tnng frei; dagegen ist, nicht allein Doma-
nial-, sondern auch Communal- und Stif-
tungswald der vom Staat überwachten Be-
wirtbschaftung dahin unterworfen, resp. zu unter-
werfen, daß, grundsätzlich, nicht der momen-
tane Nutzen, welcher aus dem vorliegenden
Waldobjeet (durch Veräußerung der älteren
Holzbestände oder gar des unreifen Holzes oder
schließlich des Bodens) gezogen werden kann,
sondern vielmehr derjenige Nutzen Endziel sein
und bleiben muß, welchen die Gegenwart mit
aller Zukunft gleichberechtigt, als stetiges
Maximum in dem Falle bezieht, wenn nach
Maaßgabe der zeitlich als best erkannten tech-
nischen Hülfsmittel dem Boden aller effective
Werth abgerungen wird, welcher ihm nach»
baltig stetig und möglicher weise abgerungen
werden kann. Dieses Maximum von Werth
wird aber nur dann erzielt, wenn ein entspre-
chender Holzvorrath, abgestuft nach Alters-
klassen, vorhanden ist, und stetig in Vorrath
gehalten wird; wenn insbesondere die älteren
Holzvorräthe, selbst für den Fall ihrer Verwerth-
barkeit zu laufendem Preiß, nicht, zum Zwecke
des früheren und höheren Capital- und Zinsen-
genusses, abgeschlachtet, sondern in gerechter
Würdigung des gleichen Anrechts der künftigen
Generation, je so lange in Zuwachs erhalten
werden, bis das effective bei stetig nach-
haltigem organischem Zusammenwirken aller
Altersklassen, unabhängig von Zinszins-
rechnung für den Einzelbestand, stän-
dig alljährlich erreichbare Werthmaximum erzielt
ist; wenn ferner die Bodenkraft durch Schonung
vor Streunutzung u. s. w. erhalten wird — ein
Gesichtspunkt, den der Verfasser mehrfach mit
Wärme betont. Also folgt, als Richtpunkt einer
476 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
vernünftigen Forsthoheit über Staats- und Com-
munalwald in dem historisch überkommenen
Sinne, die Obsorge des Staates dahin, daß je-
nem Zweck Genüge geschieht. Und diesem
Sinne entsprechend ist die Forsthoheit, insoweit
sie ad 1 insbesondere für Communalwald
in Frage steht, zu definieren als:
„die Mittelwirkung oder Kesultirende aus
„einerseits der staatlichen Ober Vormundschaft
„über das Gemeindewesen, andererseits aus der
„von der letzteren für den Wald nothwendig zu
„bedingenden, resp. anzuordnenden wissenschaft-
lich technisch gebildeten Leitung und Bewirth-
„schaftung durch staatlich bestellte Organe".
Es ist selbstverständlich, daß die Begriffe,
auf welche sich diese heutigen Anschauungen
oder forstwirtschaftlichen Grundsätze stützen,
dermalen ungleich klarer sind, als vor 200 und
mehr Jahren. Die wichtigste Aufgabe einer auf
die beutigen Zustände bezogenen Forstgeschichte
wird also dahin gehen, herauszufinden und fest-
zustellen, ob und wie weit der vorstehend defi-
nierte Grundgedanke nicht blos in abstracten,
sondern auch in den historisch überkommenen
Gedanken des deutschen Volkes wurzelt.
In der französischen Geschichte liegt die
Sache klarer. Die französische Gesetzgebung,
insbesondere die Ordonnance von 1669 zeichnet
sich vor den gleichzeitig und später bis zu Ende
des 18. Jahrhunderts erschienenen deutschen
Verordnungen aus durch weitaus schärfere Lo-
gik, tieferes Eingehen auf die einzelnen wirth-
schaftlichen Gesichtspunkte und insbesondere auf
die Eigenthumskategorien. Die Revolution der
1790er Jahre beseitigte die bewirthschaftende
Staatsobervormundschaft für Privatwald, allein
durchaus nicht für Communalwald.
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 471
Wenigstens wurden anter dem Consultate, na-
mentlich durch die Gesetze vom 9. Flor, IX.,
19 Ventose X und 9/19 Flor. XI, die durch das
1790 94r wildeste Treiben der Revolution ge-
lockerten Bande wieder gut zusammengeleimt;
übrigens war dies keine sehr schwierige Auf-
gabe; denn selbst die in der äußersten Revolu-
tion gegebenen Gesetze vom 15/19. Sept. 1791,
14 Aug. 1792, 10/11. Juni 1793 u. s.w. hielten
den Grundsatz, daß die Communal Waldungen
unter staatlicher Controle und Bewirt-
schaftung (durch Staatsoberförster)
stehen, in ganzer Kraft aufrecht.
In den deutschen Staaten liegt dieser Gang
ihrer Vielfachheit wegen, ungleich verschwom-
mener. Gleichwohl ist auch in Deutschland die
für die Nachwelt genau ebenso wie für die Ge-
genwart besorgte Forsthoheit (staatlich forstliche
Bewirtschaftung, forsteiliche Staatsobervormund-
schaft) ein Grundton der Waldordnungen, eine
historisch begründete und entwickelte, zwar für
Privatwald nach und nach obsolet gewordene,
aber für Communalwald, wenn auch hier
nnd da in noch heilbarem Grade abgeschwächt,
fortbestehende, nicht ohne Unrecht gegen die
Zukunft abzuläugnende oder wegzuescamottie-
rende Thatsache, welche in dem vorliegenden
Capitel unseres Werkes durch eine Masse von
Belegein außer allen Zweifel gestellt wird.
Hierin ist wohl ein Hauptverdienst der mühsa-
men Arbeit zu erkennen. Nur hätte die Frei-
gabe der Privatwaldungen näher im Einzelnen
verfolgt werden müssen. Aus den Nachweisen;
des Verfassers ist ersichtlich, daß die Annahme,
als seien die Waldordnungen vorzugsweise oder
nur im Interesse der Jagd und des Jagdregals
erlassen worden, nicht zutreffend ist, obwohl
478 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
zugestanden wird, daß die Sorge für den Wild-
stand zur pfleglichen Behandlung auch der nicht
domanialen Waldungen, wesentlich beigetragen
hat. Die landesväterliche Obsorge für nachhal-
tige Benutzung der Waldungen tritt sehr deut-
lich hervor. Besonders interessant ist die Mit-
theilung § 159 und 160, daß das Reichs-
kammergericht zu Wetzlar eine gegen diese
Obsorge gerichtete Klage der Waldeigenthtimer
mit Entschiedenheit verwarf (1762) und sogar
(1768) die landesherrliche Forsthoheit in dem
auf die Waldungen der adeligen Landsassen
ausgedehnten Rechte der Holzanweisung schützte.
Zur Ergänzung der vom Verfasser citierten Be-
lege möge der nachstehende Wortlaut des § 26
der „Verwaltungsordnung für den Oberforst
Darmstadt" vom 20. April 1776 hier eine Stelle
finden.
26. Aufsicht auf die Gemeinde-Waldungen und jährlicher
Holz-Bericht von denselben.
„So wie Unsere Besoldungen überhaupt kein Moses
Wartgeld seyn, sondern Wir vor dieselbe Arbeit, und
zwar ganze Arbeit, und eine treue und eifrige Dienst-
leistung verlangen , also reichen Wir sie denen Forst-
Bedienten in deren Forsten Gemeinde- oder Privat-Wal-
dungen sind, nahmentlich auch vor dieselbe mit, und
wollen daß gute und ohneigennützige Aufsicht auf diese
Waldungen gehalten werde; und damit Unsere Unter-
thanen ihres Eigenthums auch froh werden, und nicht
vor jedes Scheit Holtz das sie nöthig haben, mit ohn-
nöthigem Lauffen und Suppliciren geplagt werden mö-
gen, so befehlen Wir, daß jeder Ober-Förster, in dessen
Forsten dergleichen Waldungen sein, über die Bedürf-
nisse der Eigenthümer, nach dem weiters beiliegenden
Formular so, wie von Unsern eigenen Waldungen, und
mit diesem zugleich auch jährlich einen Holtz-Bericht
einsende, und wann derselbe von Unserem Ober-Jäger-
meister decretiret worden, die Anweisung darnach thue;
es soll aber dieser Bericht völlig ohnentgeltlich erstattet
werden, und von Niemand, er habe Nahmen wie er wolle,
Both, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 479
weder vor dessen Einsendung noch Decretur etwas ge-
fordert oder angenommen werden".
Der Erlaß dieser denkwürdigen Verordnung
geschab unter dem Regiment des Freiherrn
Friedrich Karl von Moser, Sohn des be-
rühmten Stuttgarters, welcher seinen Freimuth
5 Jahre lang (1759—1764) auf dem Hohentwiel
büßte. Ein schönerer Edelstein in der forstli-
chen Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts wird
sich nicht finden. In dem größten Theile des
westlichen Deutschlands herrschen bezüglich
der Gemeinde Waldungen heute noch die glei-
chen (für den Domanialwald selbstverständlichen)
Anschauungen. Daß in Preußen, unter dem
Einfluß der ungeheuren Opfer, welche dem Preu-
ßischen Volke in Folge der Ereignisse von 1806
auferlegt werden mußten, die Gemeinden in Be-
ziehung auf Bewirtschaftung ihrer Waldungen
(ja sogar auf beliebige Theilung unter die Orts-
einwohner zu Privateigenthum, zu Ackerland
und Wiesen in den Fällen, wo es sich um Ge-
meinheitstheilnngen im Sinne des Gesetzes vom
7. Juni 1321 § 108 und 109 handelt; conf. auch
§ 4 des Edicts vom 14, Sept. 1811) nahezu frei-
gegeben wurden, und diese in Folge davon weit
mehr zurückgegangen sind, als selbst in den
dem directen französischen Regiment unterworfen
gewesenen deutschen Landen, wird von dem
Verfasser nicht hervorgehoben, ist aber eine
traurige Thatsache, deren Remedur die preußi-
schen Staatsmänner in neuester Zeit um so mehr
beschäftigt, als ihnen durch die Annexion von
Hannover, Kurhessen, eines Theils vom Groß-
herzogthum Hessen, Nassau, sowie auch durch
die näheren Beziehungen der preußischen Re-
gierung zu Elsaß-Lothringen diejenigen besse-
ren Zustände näher getreten sind, welche sich
480 Gott. gel. Anz. 18RI. Stück 15. 16.
in den bezeichneten Landen in Folge der dort
strengeren Handhabung der forsteilichen Be-
wirtschaftung nicht allein erhalten, sondern so-
gar, unter Zuthun der forstwissenschaftlichen
Fortschritte, außerordentlich gehoben haben. Es
gereicht den jetzt leitenden Organen des Preu-
ßischen Forstwesens zur höchsten Ehre, daß sie,
unbekümmert um die wissenschaftlichen Nörge-
leien und Gegenzänkereien, diejenigen Schäden
und Fehler wieder auszumerzen streben, welche
Folge des harten Schlags von Tilsit waren, und
sich in enormem Ertragsausfall, im Vergleich
zu den besser bewirtschafteten westdeutschen
Gommunalwaldungen , darstellen. Die erste
Frucht dieses Strebens ist das für die östlichen
Provinzen erlassene Gesetz vom 14. August 1876.
(Ges. Samml. 1876 pag. 373).
Dagegen ist, für ganz Deutschland, eine
trostlose Thatsache weder zu verschweigen noch
in ihrem Fortgang zu hindern: die Privat-
waldungen gehen zurück. Diejenigen II.
Klasse sind am Sterben, das noch in frischem
Grün blühende Leben der I. Klasse wird nur
durch die Familienfideicommisse ge-
fristet. Die historische Darlegung auch die-
ses wichtigen Gesichtspunktes würde den Werth
des Werks wesentlich erhöht haben, zumal sich
bedeutende Fragen der Neuzeit daran reihen.
Die großen Waldflächen, welche dermalen fidei-
commissarisches Eigenthum Standes- und patri-
monialgericbtsberrlicher Familien sind, waren
meistens noch zu Ende des 18. Jahrhunderts
Domanialwald. Die Sou verainität der klei-
nen Fürsten wurde aufgehoben, die Domänen,
aus deren Erträgnissen vordem die jetzt, iifi
Schwerpunkte, auf der Steuerkraft ruhenden Ko-
sten der Regierung großenteils bezahlt worden,
Roth, Geschichte .des Forst- and Jagdwesens. 481
sind Privaieigenthum. Für Nassau, Kurhessen,
Hannover etc. hat man diese Fehlsicht nicht
mehr begangen. In der That ist der Uebergaug
des in Folge der Mediatisiernngen den großen
Familien zugewachsenen enormen Grundbesitzes
in die Kategorie des Privatbesitzes, eine hi-
storische Thatsache von höchster Bedeutung für
das ganze staatswirthschaftliche Gebäude von
Deutschland; denn sie hat die frühere Gestal-
tung der Gesammt- und der Sonderinteressen
und die bezüglichen Anschauungen wesentlich
verschoben*).
Die agrarische Bewegung der Neuzeit hat
einen hohen Zuwachs erhalten, welcher sich
bei den Reichs- und Landtagsverhandlungen
über die Holzzölle, über den Beeren- und Pilz-
paragraphen etc. frappant erwiesen hat. Aber
auch hinsichtlich des eigentlich forstlich
technischen Momentes ist diese Thatsache
von der größten Tragweite, und ihre Würdi-
gung dürfte in einer Geschichte des Forstwesens
nicht fehlen; denn das Drängen zu Nutzholz-
zucht, an Stelle der seither vorzugsweise ange-
strebten Brennholzwirthschaft beruht wesentlich
*) So z. B. finden wir bei Wagener (standes-
herrlichem Forstmeister zu Castell), pag. 24 seiner „An-
leitung zur Regelung des Forstbetriebs" folgenden Satz:
„Unter den Consumenten können diejenigen Staats-
Angehörigen etc., welche die kostspieligen Waldpro-
ducte verbrauchen, die sog. menge- und gütereichste
Production allerdings aus Eigennutz befürworten,
wenn sie eine Uebervortheilung ihrer Mitbesitzer be-
absichtigen."
Im Hinblick auf die Art, wie die Standesherrn die
Wälder zu Privateigenthum erworben haben, und was
die Souyerainität heute werth wäre, wird wohl die Frage
zulässig sein, ob die Souveränität ein „kostspieliger"
Taaschpreis war?
31
482 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
in der richtigen Erkenntniß Seitens der großen
Privatwaldbesitzer, daß ihre Hocbwalduhgen,
vermöge der Concurrenz der Steinkohle sowohl
für den Hüttenbetrieb als anch für den Privat-
brand, in Zukunft nur dann den höchstmöglichen
Geldertrag liefern werden, wenn die ganze
Wirthschaft, von der Bestandsbegründung an
bis zu dem Abtrieb mehr als seither auf Nutz-
holzzucht gerichtet wird. Es liegt klar am
Tage, daß hierdurch die leitenden wirtschaft-
lichen Gesichtspunkte eine gänzliche Umgestal-
tung erfahren müssen.
Auf die Freigabe der Privat Waldungen
von der forsteilicben Bewirtschaftung hat die
französische Gesetzgebung wesentlich mitge-
wirkt. Der Verfasser erwähnt dies § 182, ohne
jedoch des Näheren darauf einzugehen, nament-
lich ohne der Thatsache zu gedenken, daß,
wenigstens nach dem Buchstaben der Gesetze,
die Communal Waldungen in Frankreich heute
noch unter ungleich schärferer Controle seitens
der Forstbehörden bewirthschaftet werden, als
in manchen deutschen Staaten, z. B. in Alt-
preußen (den östlichen Provinzen), selbst nach
dem Gesetze vom 14. Aug. 1876, denn dieses
Gesetz leistet für wirklich gute nachhaltige
Forstwirtschaft noch keineswegs hinreichende
Gewähr. Möchte für vollständige Gleichstellung
mit Kurhessen, Nassau u. s. w. baldige Sorge
getragen werden!
Zu 2) Schutz.
a) Erhaltung der Substanz und zwar
einestheils in der Eigenschaft als Wald (Verbot
der Waldrodungen), anderenteils in derjenigen
Größe, welche eine forstmäßige Benutzung er-
möglicht (Verbot der Waldtheilung und Be-
stimmung der Flächen-Minimalgrenzen, beides in
Both, Geschichte des Forst- and Jagdwesens. 483
zweierlei Richtung: erstens hinsichtlich der
Befugniß der Marken und der Gemeinden, ihre
Waldangen in Privatbesitz zu vertheilen, und
zweitens hinsichtlich derBefugniß des Privat-
manns, seinen Wald weiterhin durch Theilung
in kleinere Stücke zu zerlegen).
b) Erhaltung der Bodenkraft und Fruchtbar-
keit (Verbot der excessiven Weide, der Streu-
nutzung etc.).
In beiden Beziehungen constatiert der Ver-
fasser mit Unmuth den Rückgang der Forst-
hoheit in den Gemeinde- und mehr noch den
Privatwaldungen. Referent kann, obwohl im
Wesentlichen vollkommen einverstanden , doch
zu b) nicht umhin, den Ausspruch pag. 462
und 561, daß das Streurechen unbedingt
schädlich und in Communalwald unbedingt
alles Streurechen zu verbieten sei, als zu weit
gehend zu bezeichnen. Selbst im Doeianialwald
würde dies verfehlt sein, da der Wald durch
Streuabgabe der Landwirtschaft zu Zeiten der
Noth unendlichen Nutzen oft ohne Schaden, ja
sogar mitunter zum Nutzen der Forstcultur
oder doch wenigstens ohne verhältnißmäßigen
Schaden bieten kann, und es somit Pflicht der
Forstverwaltung ist, das Richtige abzuwägen,
und zu gewähren, was sie ohne effectiven
Schaden gewähren kann. Hat sie das Recht,
Art, Ort und Maaß zu bestimmen, dann steht die
Sache schon recht. In Privatwald ist von Sei-
ten der Forsthoheit wohl nichts zu machen, es
sei denn hinsichtlich der Streuberechti-
gungen in fremdem Walde, so lange diese
Doch bestehen. Hier vermissen wir die Erwäh-
nung des für das Großherzogthum Hessen er-
lassenen dem Kopfe v. Wedekind's entsprun-
genen Gesetzes vom 2. Juli 1839, wonach alle
31*
484 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
Streu, welche im Communalwald, oder, auf Grund
von Berechtigung, in fremdem Wald zu erndten
ist, in der Regel wie da» Holz durch Lohn-
arbeiter in Verkaufsmaaße aufgearbeitet, aber
nicht in Natnr verabfolgt, sondern meistbietend
versteigert und der Geld -Bein erlös zu glei-
chen Theilen nnter die Bezugsberechtigten
vertheilt werden muß. Dieses Gesetz bat des
Nagel auf den Kopf getroffen, und innerhalb
des Bereichs seiner Geltung seit den 40 Jahren
seines Bestehens unendlich segensreich gewirkt,
denn es beschränkt die Gonsumtion auf den
wirklichen dringenden Bedarf, weil Niemand
baares Geld für Streu hingiebt, wenn sie ihm
nicht absolut unentbehrlich ist. Jeder aber kann
sie haben, wenn er das Geld dafür ausgiebt.
c) Organisation des Schutzdienstes.
Die Frage, wie die Grenze zwischen dem ver-
waltenden (Oberförsters-) Dien st einerseits und
dem eigentlichen Forstschutzdienst andrerseits
zu ziehen sei, und welche Bolle hierbei die ein-
zelnen Eigenthumskategorien spielen, welcher
wissenschaftliche Bildungsgrad für die einzelnen
Stufen des Dienstes zu fordern sei n. s. w. ist
nicht im Zusammenhang erörtert; ebensowenig
d) die Befugniß der Waldeigenthttmer, mit-
zuwirken bei Präsentation^ Ernennung der Forst-
diener, Bestimmung, resp. Bewilligung der Ge-
halte oder Gehaltszulagen, ferner bei der Bil-
dung der Dienstbezirke, seien dieselben nun aas
einer oder aus mehreren Waldeigenthumskate-
gorien zusammengesetzt.
In solchen Fragen ist wiederum die franzö-
sische Gesetzgebung vorleucbtend gewesen, ins-
besondere ist hervorzuheben, daß zu Zeiten der
ersten Bepublik durch das Gesetz vom 9. Flor&l
an XI äußerst zweckmäßige und umfassende
Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 485
Bestimmungen getroffen wurden, welche sich auf
die deutschen Rbeinprovinzen übertrugen und,
nebst den von dem Interregnum (Grüner etc.)
in den Jahren 1814 und 1815 erlassenen sehr
guten Gesetzen, großenteils heute noch in Ue-
bung sind. Unser vorliegendes Gescbichtswerk
steht in diesen Beziehungen zurück hinter dem
von Moritz Mohl verfaßten vortrefflichen Aus-
sebußbericht an die Würtembergische Stände*
kammer vom 16. Juli 1879 (ca. 24 Druckbogen).
Mit tiefer Kenntnis) des ganzen Bereichs der
bezüglichen Geschichte, Literatur, Gesetzgebung
und der Sache selbst, vertfaeidigte dieser, die
Forstpolizei innerhalb der letzten ca. 200 Jahre
eingehend behandelnde ebenso geistreiche als
überzeugungstreue Schriftsatz die der laxeren
Anschauung der Regierung und der Kammer-
majorität entgegenstehenden Bedenken , blieb
aber im eigentlichen Sinne des Wortes Stimme
des Predigers in der Wüste. Schwerlich ist im
Verlauf der letzten Jahrzehnde über die ein-
schlagenden Fragen etwas Besseres geschrieben
worden.
Aus dem weiteren Inhalte der drei Capi-
tel von der Forst hoheit wird noch das Ab-
lösungswesen und die Forstgerichts-
barkeit hervorzuheben sein. Ersteres ist als
eine Hauptfrage heutiger Zeit hier und da er-
wähnt, z. B. pag. 462 und 464. Der auf-
fallende Bückstand der bezüglichen Gesetz-
gebung, im Vergleich zu der Ablösung der land-
wirtschaftlichen Grundlasten, sowie die stief-
mütterliche Behandlung wird gerügt, unter wel-
chen das deutsche Forstwesen im Gegensatz zu
der längst befreiten Landwirtbschaft noch seufzt
Die Forst gerichtsbarkeit wird durch
die einzelnen Waldordnungen hindurch eingebend
486 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
verfolgt. Die lange Reihe von anziehenden Bil-
dern, welche, hinsichtlich sowohl der Strafbe-
stimmungen als auch des Strafprozesses entrollt
werden, bietet, anschließend an die Gitate des
2. Abschnitts einen Blick in die Willkürherr-
schaft, welche, zumal in den kleineren deutschen
Staaten, noch in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts waltete. Schade, daß der Verfas-
ser keine Eenntniß gehabt hat von dem nach-
stehenden § 44 der Erbach - Fürstenauischen
„Forst-, Wald- und Jagdordnung" vom 22. Febr.
1770, unter der Ueberschrift
»Sollen alle Unter thanen auf dem Bulltag er-
scheinen«
lautend wie folgt:
„sollen sowohl alle Bußfällige als auch andere Unter-
„thanen auf dem Bußtag erscheinen, und sowohl ihre
„Bestrafung als auch ernstliche Verwarnung, sich
„künftig vor Schaden zu hüten, von Unserem Forst-
„Amt anhören".
Ein zärtlicheres Beispiel landesväterlicher
Für- und Vorsorge wird wohl nicht in deutschen
Landen bestanden haben. Das Gerichtswesen
der heutigen Zeit macht alles dies obsolet,
Strafgesetz, Strafproceß, Civilproceß u.s.w. sind
in Reichsgesetzen geordnet, das Givilgesetz wird
nicht zurückbleiben. —
4. u. 5. C a p i t e 1 : Jagdrecht und Jagdpolisei.
Jagdbetrieb und Jagdpersonal. §§ 184 bis 242.
Diese Gapitel geben eine ebenso reiche als
vollständige Darstellung aller bezüglichen Ver-
hältnisse in den verschiedenen Epochen der
neueren Geschichte, und sind eine höchst dan-
kenswerte Gabe an alle diejenigen, welche sich
für die Culturgeschichte und für die Geschichte
der Jagd insbesondere interessieren. Auf nähe-
res Eingehen wird um so mehr verzichtet wer-
den können, als die bis zum Jahre 1848 be-
i Roth, Geschichte des Forst- und Jagdwesens. 487
standenen Jagdverhältnisse von diesem Zeit-
punkte an mehr oder weniger verschwan-
den sind.
6. u. 7. Gapitel: Anfänge der Forstliteratur
und fortschreitenden Ausbildung der Forstwirth-
schafl §§ 243-291.
| Beide Gapitel sind, abgesehen von den vor-
| dersten §§, etwas cursorisch behandelt. Bereits
Eingangs ist dies angedeutet. Der Verfasser ist
j oft zurückhaltend mit seinem Urtheil und be-
gnügt sich hier und da mit Verzeichnung der
Namen und der bezüglichen Schriften. Insbe-
i sondere ist der neueren und neuesten Literatur
und Wissenschaft keine tiefere Beachtung ge-
widmet.
Die häufige Verweisung bezüglich des Nähe-
ren auf Bernhardt hinterläßt den Eindruck,
als sei der Verfasser von der Forstgeschichte
Bernhardt' s zu der Zeit überrascht worden,
wo er, mit den älteren Perioden nahezu fertig,
gerade im Begriffe stand, seine neueste Periode
in Angriff zu nehmen, und habe aus Besorgniß,
Wiederholungen zu bringen, auf detailirtere
Ausarbeitung des letzten Zeitabschnittes verzich-
tet. Dies hat auch seine Berechtigung; allein
man kann einwenden: erstens, daß in solchem
Falle eine modificierte Oeconomie des ganzen
Werks angezeigt gewesen wäre, und zweitens,
daß Bernhardt, in Beziehung auf ruhiges
objectives Urtheil, nicht unbedingt und überall
als Autorität in dem Grade anzuerkennen ist,
wie es bei dem Reichthum seines Geistes wün-
schenswerth gewesen wäre*).
*) Beispielsweise möge das Urtheil Bernhardts
über v. Wedekind (auf der von Roth citierten pag.
87) angeführt werden. Neben mancher Anerkennung ist
Folgendes ausgesprochen: »Wedekind besaß einen nur
488 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
Gleichwohl ist unschwer der bereits im Ver-
laufe des ganzen Werks durch vielfache Andeu-
tungen kundgegebene Grundton zu erkennen,
der sich in dem Schlüsse § 291 am deutlichsten
ausspricht, wie folgt:
Vom Staatswaldverkauf ist jetzt keine Rede mehr,
dagegen spuckt ein anderer böser Geist, vom Gelehrten-
sessel ausgegangen, genannt das Rentabilitätsprincip,
welches niedrige Umtriebszeiten und dem Zinsruß des
Capitals mehr entsprechende Procente auch in Staats-
waldungen verlangt; im Widerspruch mit gesunden na-
tionalwirth schaftlichen Anschauungen. Fände dies Prin-
cip Eingang, so stände abermals der Ruin der Staats-
waldungen vor der Thür. Gefährlich und verführerisch
ist dasselbe immerhin, weil bisher höhere Umtriebszeiten
bestanden, und der Herabgang auf niedrigere eine Ab-
minderung des Materialstocks mit sich bringt, daher auch
mittelmäßigen Verstand« etc. Wären nicht die vielen durch
und durch originellen Schöpfungen Wedekinds ein leben-
diges Zeugniß gegen dieses Urtheil, so würde sich die
Ungerechtigkeit desselben allein aus folgender Anecdote
ergeben, v. Wedekind war in der Ständekammer an-
wesend gelegentlich der Besprechung des Forstbudgets.
Mehrere Abgeordnete ergingen sich in den bekannten
Phrasen, über die geringe Rentabilität, Unduldsamkeit,
Zurückhaltung etc. der Forstwirthschaft. Er verließ die
Sitzung gegen Mittag, besprach sich sofort mit seinem
Buchdrucker, begab sich nach Hause, fing an zu schreiben,
ein Blatt nach dem andern wanderte frisch aus der Fe-
der in die Druckerei, und Abends 10 Uhr stand der Sate
des ausgezeichneten Schriftchens „Ueber Popularität und
Liberalität in Forstsachen", welches die Reden vom
Vormittag mit schneidender für alle Zeit wahrer und
bleibender Logik abführte. In der Nacht erfolgte die
Correctur, früh Morgens der Druck und um 9 Uhr hatte
der Portier die Brochure zur Behändigung an jedes der
zur Sitzung eintretenden Ständemitglieder. Solcher Lei-
stung ist nur ein genialer Geist fähig, v. Wedekind
hat sich durch seine Werke ein Denkmal gesetzt, wel-
ches dasjenige Beruh ardt's — allen Respect vor des-
sen Leistungen — weit überragt.
Roth, Geschichte des Porst- und Jagdwesens. 469
in kurzer Zeit viel Geld, freilich auf Kosten der Nach-
kommenschaft, die sich mit einem viel geringeren Mate-
rialertrag behelfen und viel höhere Preise für das Holz
bezahlen müßte.
Referent constatiert mit hober Befriedigung,
daß Roth hier einen ungleich freieren Blick
zeigt, als Bernhardt, welcher pag. 309 des
3. Bandes seines Werks, mit der Bodenreiner-
tragstheorie liebäugelnd, sagt: „der Streit hat
sein Ende noch nicht erreicht". Dies ist un-
genau. Der Streit ist grundsätzlich entschieden.
Wie Roth richtig sagt, fragt es sich nur, ob
man das nachhaltige Maximum der Werther-
zeugung auf 10 Millionen Beetaren deutschen
Waldes ferner festhalten will oder ob nicht.
0. Hey er hat pag. 61 und 63 pos. II seiner
„Statik" ausgesprochen, daß er dies nicht will;
denn er erklärt das System der arithmetisch er-
mittelten nachhaltig höchstmöglichen Durch-
schnittsgeldsreinertrag pro Flächeneinheit für
„unwirtschaftlich"; er hat ferner pag. 74
ausgesprochen, daß er die für Privatforstwirth«
ßcbaft gültigen Grundsätze auch für die Staats-
forstwirt bsebaft, maaßgebend erachtet Referent
ist mit dem Verfasser, mit Hagen, Helfe*
rieh, Schaff le, Held u. 8. w. dahin einver-
standen, daß die Staatsforst wirthschaft , incl.
Communalwald das Maximum an Wertbproduc-
tion, d. h. das Hartig'sche Programm
festhalten muß. Für Privatwald wird das-
selbe, abgesehen von Familienfideicommissen,
nicht aufrecht zu erbalten sein.
Der Verfasser schließt mit dem Wunsche,
jener oben citierte „böse Geist" nicht Herr
werden, auch für die Jetzt extrem deprimirten
<togdverhältnisseu eine bessere Zukunft erblühen
möge. Ist auch dem letzteren Wunsche ein
490 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
günstiges Prognosticon schwerlich zu stellen, so
liegt doch die volle Berechtigung des ersteren
allzusehr auf flacher Hand, als daß nicht von
der Zukunft die Zurückverweisung des Renten-
princips auf den Lehrstuhl, dem es behufs der
Fest- und Klarstellung der Begriffe unentbehr-
lich ist, und als daß nicht, was die Praxis be-
trifft, die Beschränkung des Rentenprincips auf
Privatwald, jedoch auch hier nicht ohne Beob-
achtung vernünftiger die Rechte der Nachwelt
achtender Grenzen, mit Zuversicht erwartet wer-
den dürfte.
Die äußere Ausstattung des Werks ist in je-
der Beziehung sehr gut.
Darmstadt, Sept. 1880. Braun.
Lamprecht von Regensburg. Sanct Francisken
Leben und Tochter Syon, zum ersten Mal herausge-
geben nebst Glossar von Karl Weinhold. Pader-
born, Druck und Verlag von Ferd. Schöningh, 1880.
645 SS. 8°.
Zu den mannigfachen und bleibenden Ver-
diensten, die sieb Weinhold um unsere Mutter-
sprache erworben hat, gesellt sich nun auch das
Verdienst, daß er die Dichtungen Lamprechte
von Regensburg ans Licht gezogen und zugleich
mit alle dem versehen hat, was dazu dient, die-
selben zu erläutern und nach ihrem literarischen
Werthe wie nach ihrer kulturhistorischen Bedeu-
tung zu würdigen. Alles, was man bisher davon
kannte, beschränkte sich nur auf kurze Auszüge,
welche theils in den Heidelberger Jahrbüchern
und in Hoffmanns Fundgruben, theils in Wein-
holds Mhd. Lesebuche und in Franz Pfeiffers
Altd. Uebungsbuche mitgetheilt waren.
Schon die dort gegebenen Mittbeilungen lie-
ßen erkennen, daß Lamprechts Werke nicht ohne
Bedeutung waren, und regten vielseitig das Ver-
Lamprecht v. Regensburg, herausg. v. WeinholcL 491
langen nach näherer Kenntniß derselben. Die-
sem Verlangen hat die vorliegende erste kriti-
sche Ausgabe vollkommen entsprochen. Aus
ihr ersehen wir nun deutlicher, daß der Dichter
einer Bekanntmachung werth war. Denn seiner
Sprache wie seiner Verskunst nach gehört er
durchaus nicht zu den Spätlingen; sein Leben
des Heiligen Franciskus zeigt sich als
die älteste deutsche Bearbeitung dieses Heiligen ;
sie schließt sich auf das engste an die von
Thomas von Celano in den Jahren 1228 bis
1230 auf Befehl Pabst Gregors IX. verfaßte
vita S. Frcmcisci\ nicht minder gehört sein
zweites Werk, die Tochter Syon oder die
Liebe der Seele zu dem himmlischen Bräuti-
gam, zu den ausführlichsten und bedeutendsten
deutschen Gedichten über diesen Gegenstand
der Mystik ; es gewährt namentlich einen merk-
würdigen Einblick in die Bildung der deutschen
Minoriten aus der Zeit Davids von Augsburg
uud Bertholds von Regensburg, mit denen der
Dichter in engem Verkehre stand.
Zur Herstellung des Textes hat der Heraus-
geber die vorhandenen Handschriften alle zu
Rathe gezogen ; für das Leben des H. Francisk,
das wohl am wenigsten bekannte Werk des
Dichters, stand ihm nur eine Hdschr. zu Ge-
bote, für die Tochter Syon dagegen drei. Sie
sind in der besondern Einleitung, welche jedem
Gedichte voraufgeht, mit Rücksicht auf ihren
sprachlichen und kritischen Werth vom Herausg.
näher besprochen worden.
Dem Ganzen ist eine allgemeine Einleitung
vorausgeschickt, welche von den Lebensverhält-
nissen des Dichters, von seinem Stil und von
seiner Darstellung, schließlich von seiner Vers-
kunst und von seinen Reimen handelt.
492 Gott. gel. Anz. 1881. Stock 15. 16.
Die Zeit von Lamprechts dichterischer Thä-
tigkeit setzt der Heraosg. mit guten Gründen in
die Jahre 1240 — 1255, während Koberstein und
Bartsch dieselbe noch „vor den Schluß des 13.
Jahrhunderts", Wackernagel und Martin an die
„Scheide des 13.— 14. Jahrb." rücken zu dürfen
glaubten*). Bestimmteres läßt sich darüber
erst sagen, wenn die Amtszeit des Provinzial-
mini8ters der Franziskaner, des Bruders Ger-
hard, ermittelt ist, der zur Tochter Syon dem
Dichter den Stoff überlieferte.
Ueber die Quellen, welche beiden Dichtungen
zu Grunde liegen, ist in den besondern Einlei-
tungen dazu die Bede. In dem älteren Werke,
das der Dichter noch als knappe und vor
seinem Eintritt in den Hinoritenorden geschrie-
ben, schließt er sich genau an seine Vorlage,
an Thomas von Celaeno an; in der Tochter
Syon nimmt er eine freiere Stellung ein gegen-
über seiner ihm mündlich von Br. Gerhard vor-
getragenen Quelle, einem lateinischen Traktat,
den Weinhold S. 285—291 nach einem Codex
der Wiener Hofbibliothek hat abdrucken lassen.
Anf diesen Traktat läßt der Herausg. eine ge-
naue Inhaltsangabe der Tochter Syon folgen
und handelt dann von der Entstehung dieser
Allegorie und ihrer weiteren Verbreitung.
*) Wäre die schriftstellerische Wirksamkeit Lamp-
rechts so spät zu setzen — was man nach der Darstel-
lung Weinholds kaum mehr annehmen kann - dann
könnte man vielleicht auch Heinrich Frauenlob wegen
seines Spruches no. 255 ed. Ettmüller, in welchem dieser
den Minoriten Simonie und Gleißnerei vorgeworfen hat,
mit unter die Angreifer zählen, gegen welche Lamp-
recht im Leben des Franciskus V. 1738 folg. den Orden
vertheidigt. Eher bezog sich wohl Frauenlob auf die
Vorfälle, welche in Closeners Chronik S. 50—51 (Chro-
niken der D. St. VIII) aus dem Jahre 1287 berichtet
werden.
Lamprecht v. Regensburg, herausg. v. Weinhold. 493
Bieten sonach die Einleitungen schon ein
reiches nnd übersichtlich geordnetes Material
zum Verständniß des Schriftstellers wie zur
Orientierung über denselben, so gewähren noch
überdies die beigefügten Anmerkungen schätz-
bare Beiträge zur Erklärung schwieriger Stel-
len und suchen namentlich die Beziehungen des
Dichters zu seinen Quellen im Einzelnen näher
zu bestimmen. Das Ganze beschließt ein sorg-
fältig zusammengestelltes Glossar.
Die Bemerkungen, welche Bec. hier folgen
läßt, sind nicht im Geringsten dazu angetban,
den Werth des vortrefflichen Buches irgendwie
herabzusetzen, sondern betreffen nur einzelne
Stellen, in denen er von der Auffassung und
Erklärung des Herausg. abweichen zu müssen
glaubt.
Zu Franoiskus 22 ich bin in dem kriege, | daz
diu werlt wip noch man | triuget: dieselbe Re-
densart findet sich auch bei Ottocar in Maß-
manns Eaiserchron. II, 667, 93 ich bin des im-
mer in kriege, daz der diu Hute betriege u. 8. w.
Zu Franc. 489 : hier muß es heißen in dühte,
do er was entsläfen, wie sin hüs waer vol riter-
wäfen ; im Texte ist das Komma nach do statt
vor dasselbe gesetzt.
Zu Franc. 673: sin leben an werden, wie die
Handschr. hat, war zu belassen mit Bücksicht
auf die im Glossar S. 548b verzeichneten Bei-
spiele; vergl. noch Berthold v. Begensburg
319, 20 und 27 ; 469, 8 ; Schwabenspiegel ed.
Wackernagel 10, lö; 23, 2; Germania 111,366,
Z. 11 von unten; Stadtbuch von Augsburg ed.
Meyer S. 140, Z. 18 und 28.
Zu Franc. 874: vingerbar^ wie ein Finger
oder ganz bloß, fehlt im Glossar sowie bei
Lexer; es steht noch Eolmar. Liederb. 75, 106;
494 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
vergl. auch Herant v. Wildonie 26, 306 sin Up
ist als ein vinger bar, so wie vingerblöz im Oren-
del ed. Ettmüller IV, 9.
Zu Franc. 925: kuchengar zun ist im Glossar
nachzutragen.
Zu Franc. 988 : gerliche bedeutet hier so wie
V. 1064 und 3545 nach meiner Auffassung nicht
„begierig, freudig", sondern gänzlich = garliche.
Zu Franc. 1307 ist unkunde gedruckt statt
Urkunde; ebenso V. 1363 besazt für besaz.
Zu Franc. 2336 folg. im was zer marter also
gdchy | daz er sinen geverten nach | eteswenne
verre lie, \ so snelliche er vüre gie: deutlicher
scheint mir der Plural, sine geverten, da der
Sinn ist: er war so auf die Marter erpicht, daß
er seine Gefährten zuweilen weit hinter sich
zurück ließ.
Zu Franc. 2362 da die heiden und die kristen \
mit urliuge ensament kristen; statt eines unge-
nauen Reimes möchte ich hier lieber einen rüh-
renden R. annehmen, wie solche S. 31— 32 vom
Herausg. angemerkt sind, demnach kristen schrei-
ben als Pluralform zu dem ind. praet. kreist;
über die starke Flexion von kristen vergl. das
Präteritum verkristen beim Pfaffen Lamprecht
Alex. 4520 und Hildebrand im D. W. V, 2162.
Zu Franc. 2454 ich bin daz wol gelonbet:
hier nimmt der Herausg. an, daß gelouben einen
doppelten Accusat. regiere in der Bedeutung:
einem etwas glaubwürdig versichern; das wird
kaum nachweisbar sein; der doppelte Acc. wie
im J. Titurel 4152, 2—3, hat bei diesem Zeit-
worte einen andern Sinn; ich schlage daher vor
zu ändern in ich bin derz wol geloubet. Diese
Ausdrucksweise ist namentlich in hofischen Ge-
dichten nicht selten, wie z. B. im Parz. 555, 4;
in Ulrichs v. Türheim Rennewart ed. Roth
Lamprecht v. ftegensburg , herausg. v. Weinhold. 495
S. 47, 13; MSFr. 140, 30; 168, 24; 188, 28;
GAbent. I, 91, 78; J. Tit 3732, 1; 4218, 4.
Zu. Franc. 2613 unlange sAt werte daz\ in
der Handßchr. steht vil lange; es könnte auch
borlange im Original gestanden haben.
Zu Franc. 3005—7 den (mantel) hat im
ein guoter man gelihen an; ebenso bei
David von Augsburg im Spiegel der Tugend
333, 1 daz ander ist uns alles an gelihen als
der seinem spüe ein vremdez kleit entmint.
Zu Franc. 3172 ein metwahsen man, derselbe
seltene Ausdruck auch im Cod. Stutgart. theol.
et philos. no. 64 (vom J. 13^3) fol. 48b: er ist
ein metwahsen man unde hatswarzez här; vergL
Lassberg LS. I, 161, 16 mittdwahsen unde ran.
Zu Franc. 2185 da* er \ umbe sines hälses
ric | bunde eines seiles stric ; hier soll der Aus-
druck ric nach dem Glossar so viel als „Ge-
stelle" bedeuten. Es sind aber noch andere
Stellen vorhanden, in denen das Wort in ganz
ähnlichem Zusammenhange steht und zugleich
eine bestimmtere Bedeutung erfordert. So wird
in Wackernagels Predigten S. 387 aus einer
Handschrift folgender Bibelspruch citiert : swenne
ir den minnesten geboiseront, der an mich ge-
loubit, so wer iu bezzvr, daz iu ain mülistainan
den ric were gehenkit^ wo also mit ric das Col-
lum der Vulgata in Matth. 18, 6, Marc. 9, 42,
Luc. 17, 2 wiedergegeben ist. Ebenso verstehe
ich Konrads Trojanerkr. 36220 folg. traf in der
stolze degen zier \ und schriet im abe der collier
| enewei der bintriemen stric; \ daz er im niht
ab stach den r%c\ \ daz was ein michel saelekeit ;
mit bintriemen stric hier ric zu identificieren,
wie es Lexer imHandw.II, 415 gethan, erlaubt
schon näher besehen der Zusammenhang nicht;
ric ab stechen ist hier synonym mit hals abstechen
496 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 16. 16.
oder h. abstözen. Endlieh gehört hierher eine
Stelle aas Konrads Liedern I, 149 ed. Bartsch:
din sun den ric \ verschriet im (= dem slangen)
und des mundes giel.
Zu Franc. 3198 er was — gemachsam und
gewänne; „behaglich im Umgänge" scheint die
Bedeutung von gemachsam nicht genau wieder-
zugeben; es ist hier wohl = facilis, habüis
commodus, sich anbequemend, vergl. Pfeiffers
Glossar zu Eonrad v. Megenberg, Niclas v. Wyle
Translat. 129, 31.
Zu Franc. 3247 statt ze dienen würde ich
lieber ze dienne geschrieben haben, wie es V.
3662 geschehen ist ; in der Handschr. beide Mal
dinne.
Fr. 3523 verstehe ich unter unbesihteheit Un-
achtsamkeit, Sorglosigkeit, mit Bezug auf V.
3520; „Augenleiden" kann es kaum bedeuten;
in den Sieben Todsünden bei Mone Schausp. 1)
333 wird unbesihteheit deutlich von bUntheü
unterschieden.
Fr. 3783 daz im sin kraft wart gelegen kann
nicht heißen: daß seine Kraft „zu erliegen be-
gann", wie im Glossar angegeben ist; wartmri
man wohl in was zu ändern haben, vergl Gre-
gor 96 und Erec 9065.
Fr. 3993 unverborgenliche ist im Glossar an-
vermerkt geblieben, desgleichen bei Lexer; es
findet sieb aber noch in der Martina 185, 63;
212, 23. Ebenso vermisse ich im Glossar das
Wort wundenmäl aus V. 4060, ebenfalls bei
Lexer nicht aufgeführt; es steht noch in der
Martina 234, 35.
Fr. 4150 und 4196 Seraphin (: hin) und &■
raphinne (: inne); ebenso reimt Muscatblut 32, 8
finne: Seraphmne,
Fr. 4612 zu dem seltenen Ausdruck die
Lamprecht v. Regenribiurg, herausg. v. Weinhold. 497
spräche verlegen, die Sprache verlieren, vergl.
Neumanns Serap. XXVIII, 312 (a. 1395) spre-
chend machen einen siechen der die sprach ver-
legt hast; gewöhnlicher war die spräche legen> so
Job. Hanpt Arzneib: S. 95 [543] ob ein siecher
mensch die sprach gelegt hat ; GAbent. III, 67,
899 des wart er also mxbvelhaft, dag er die
spräche legte; Nicolaos von Jerosch. 17350 die
spr. legte er zuhant\ Denifle, Die Schriften von
Sense I, 418.
Zu Syon224 dem mac versmähen harte | di-
ser werlde wolenste (: gespenste) ; im Glossar S.
569 8. v. versmähen ist wolenste als Genetiv ge-
faßt und daher S. 642 wolanst als Nominativ
angesetzt Allein der Genetiv nach versmähen
wäre doch gegen die Gewohnheit; überdies
läßt sich wolenst[e~] als Nominativ bei Heinrich
von Neustedt nachweisen, vergl. Zarncke Lit.
Centralbl. a. 1875, S. 1615.
Syon 488 ist invar unerklärt geblieben, auch
im Glossar nicht erwähnt.
S. 620 süejse frowe% riht dich üf \ und lein
dich her an mine huf! sägt die Spes zur ohn-
mächtig vor ihr liegenden Tochter Syon. Ich
meine, es maß huf, Hüfte, heißen; nur damit,
nicht mit der Wange, kann man eine Ohnmäch-
tige stützen. Man wird auch hier ungenauen
Reim anzunehmen haben oder eine der mittel-
deutschen } ähnliche Aussprache des Dichters, die
es gestattete! ]uf auf huf zu reimen wie bei Otte
im Eraclins 3684 oder dem König vom Oden-
walde VII, 49 und in Pfeiffers Uebung. 157, 84,
um die Fälle im Passional nicht zu erwähnen.
S. 639 nie ougensehen wart so lieht; darnach
im Glossar ougensehen n. „das Sehen mit den
Augen"; ich glaube, man hat ougensehe enwart
zu schreiben und ougensehe f. pupilla, oculorum
32
498 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
acies anzusetzen; vergl. J. Tit 4787, 4 ein stein,
der tuot den ougensehen widerbiete; Laßbergs
LS. II, 203, 102 wie man die minen ougensehen
(: beschehen) mit Mute gar verspannet; Barlaam
, ed. Pfeiffer 144, 40; das Compositum fehlt bei
Lexer.
S. 682 däzuo mäht du tool wizzen \ in dines
herzen vizzen — hier scheint die nach L in den
Text gesetzte Wortform vizzen sehr gewagt,
nicht nur weil ihr Reim auf wizzen eine von
fitz zu weit abliegende Aussprache bedingt und
weil sie sonst auf deutschem Boden nicht nach-
weisbar ist; die beiden andern Handschriften
bieten dafür die Lesarten gemzzen, gewissen
und in V. 807 kehrt dieselbe Ausdrucksweise
wieder: intelligentia verstandenheit , diu dines
herzen gewizzen treit und zwar nach überein-
stimmender Ueberlieferung. Es scheint daher
gerathener wizzen für vizzen zu setzen und wie
so oft bei Lamprecht (vergl. S. 31 — 32) auch
hier einen rührenden Reim zu statuieren.
S. 1271 got ist guot, er ist ouch reht, de-
weder z im anz anders jeht\ der zweite Vers ist
nur in einer Handschr. überliefert, wo noch dazu
reht für jeht steht ; gewagt bleibt es, dem Dich-
ter diese Verbalform zuzutrauen ; ich würde vor-
ziehen zu lesen: dewederz ir anz ander seht
wie in V. 1669 steht
S. 1561 stritwort} das Lexer noch nicht
kennt, findet sich auch bei Schönhuth Ordensb.
23, Z. 5 von unten: dikein übel rede (bs. rete)
an stritworten oder itelen worten sol gen
uz dikeines brüderes munde.
S. 1695 er muoz in relUer mäzen \ üf hengen
unde nider läzen; in der Anmerkung dazu ist
üf hengen wohl richtig erklärt mit : den Flug in
die Höhe nehmen (lassen); im Glossar dagegen
Lamprecht y. Regensburg, lierausg. v. Weiabold. 499
heißt es S. 588 „die Zügel anziehen im Gegen-
satz zu niederlassen". Beide Ausdrücke, hengen
und läzen sind hier sicher von der Jagd und
zwar von der Vogelbeize entlehnt; auch bei
Hadamar v. Laber haben sie eine gleiche bild-
liche Verwendung gefunden 43 und 486 ; vergl.
auch Osw. von Wolkenstein 28, 1, 1 und zu
wwfer läzen Gregor 1507.
S. 2338 ez enwart nie dehein putze so an-
gestlich alsam der Up; an dieser Stelle bedeutet
putze wohl schwerlich „Pfütze", wie im Glossar
609 angegeben ist; ich verstehe der putze, die
Schreckgestalt, das Scheusal, wie schon in den
Fundgr. I, 362 und bei Zarncke-Müller I, 287a
die Stelle aufgefaßt ist.
S. 2461 folg. ist in den Text gesetzt: ich
hoer des den eddn vögeln jehen, sie ezzen kerne
vil gerne; die Handschriften lesen aber herze
für kerne. Da man unter den edeln vögeln nach
weidmännischem Sprachgebrauch nur Jagdvögel
verstehen kann, keine Tauben, so ist die Aende-
rung unstatthaft. Ueber den hier in Kede stehen-
den Leckerbissen der „edeln Vögel" vergl. Hein-
rich Mynsinger 7: der sackerfalke — — will
auch geatzet sein gar zärtlich von frischen her-
tzen und hirn der ander vogel\ S. 9: die weil
der girofalke wild ist} so isset er von der peiß
(Jagdbeute) nit anders dann das hertz und das
fleisch das gen dem rechten flügel nächet bi dem
hertzen gestanden ist; S. 35: ob si (die häbich
und die sperber) von dem vogel in der peisse, den
si erflogen haben, begern zu essen, so begernt si
forderlich das herz davon, und darumb dievogel,
die herfliegen, öffnen sie an den Seiten, das si
das hertz davon genemen mögen.
S. 2492 folg. daz waen ich nieman gerne tuo.
I Swer in hat, der habe zuo, \ daz er im niht
32*
500 Gott, gel. Adz. 1881. Stuck 15. 16.
entvar; für nieman sagte wohl in dieser Verbin-
dung der Dichter ieman, ebenso wohl im folgen*
den Verse iht für niht; vergl. V. 67 und das
Glossar s. v. iht.
S. 2640 zehant so man in (den Wein) gelist
unde die wile er gist ; im Glossar dazu ist aus
Versehen angesetzt: gissen st. Zw. gähren";
richtiger war auf jesen zu verweisen; vergl.
Frauenlob Spr. 133, 6, wo die md. Form gest
das ursprüngliche zu sein seheint.
S. 3187 vürwert kann nicht gut „vorwärts"
an dieser Stelle bedeuten; deutlicher wäre ge-
wesen vüre wert oder vür in wert, höher an
Werth, mehr werth.
S. 3820 ir suit iuch üz machen mit den juno
frowen allen, im Glossar 601 : üzmachen, auf den
Weg machen" ; richtiger wohl : ausrüsten, schmü-
cken, putzen; vergl. meine Bemerkung zu Erec
2968 und Schiller-Ltibben V 8. v. ütmaken.
S. 3837 gein einem halben häre, vergl. dazu
Wartburgkrieg ed. Simrock 54, 9 niht als umb
ein halbez här.
S. 3981 folg. Frou Karitas zir frowen sprach:
schöne frowe schöne, frou tohter von Syöne, ir
müezet btten eine wile. Hier ist schöne vom
Herausg. S. 265 und 615 als unumgelantetes
Adjektiv gefaßt und demgemäß die Interpunktion
gesetzt, vergl. auch S. 405. Dem widerstreitet
aber der Zusammenhang, wie der sonstige Ge-
brauch. Denn man. lese z. B. Berthold von Re-
gensburg 484, 8 ir vogel, ir riehen Hute, schon,
herre7 schöne! unde verdrücket daz arme vische-
lech nicht mit unrechtem gewalte ; 11,101,35; 190,
23; oder Hadamar 60,5 ich sprach: schona, ge-
selle lieber, Ute ! und Stejskals Anm. ; 62, 6 ich
sprach: schöna, geselle, — du muostdich eben Mieten!
Aristophanis Thesmophoriazasae, ed. Blaydes. 501
Danach ist schone Imperativ oder Adverbium
mit der Bedentang : halt ein ! gemach ! ruhig !
Zeitz, Sept. 1880. Fedor Becb.
Aristo phjkn is Thesmophoriazusae, ad&o-
tatione cfftica, commentario exegetico, et scholiis grae-
cis instruxit Fredericus H. M. Blaydes, aedis
Christi in universitate oxoniensi quondam alumnus.
Halis Saxonum, in orphanotrophei librariaMDCCCLXXX.
pag. IX et 271. 8°.
Die Thesmophoriazusen bilden den ersten
Band einer neuen Ausgabe des Aristophanes von
Blaydes, von der inzwischen auch bereits der
zweite Band, die Lysistrata enthaltend, erschienen
ist. Daß der Herausgeber, welcher bekanntlich
auch den Sophokles herausgegeben hat, zu einer
solchen Ausgabe des Aristophanes sehr wohl be-
fähigt ist, haben schon seine früheren Arbeiten,
in denen er die Constituierung des Textes na-
mentlich in den Acharnern erheblich gefördert
bat, hinlänglich dargethan. Und auch die vor-
liegende Ausgabe der Thesmophoriazusen bietet
des Guten und Dankenswerthen genug und ver-
dient auch bei uns in Deutschland die ernste
Beachtung aller derer, welche sich mit der Kri-
tik und Erklärung des Aristophanes beschäftigen.
Der Herausgeber ist im Aristophanes selbst,
ebenso wie in den Tragikern vorzüglich bewan-
dert, und die Fülle von meistens trefflich ausge-
wählten Parallelstellen aus beiden Gebieten ist
für die Erklärung unseres Stückes sehr förder-
lich. Dabei hat er sich ein feines Gefühl für
die Ausdrucksweise des scenischen und im Be-
sondern des komischen Dichters erworben, und
gerade nach dieser Seite hin sind seine Bemer-
kungen zu einem großen Tbeile sehr beachtens-
502 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
werth. Auch hat Blaydes offenbar eine unge-
wöhnliche Begabung für die Conjectural-Kritik.
Die Conjecturen strömen ihm leicht massenweise
zu. Unter diesen Conjecturen befinden sich nicht
wenige treffliche Emendationen, während freilieb,
wie kein besonnener Kenner des ^istophanes
sich verhehlen kann und hier auclftiicht ver-
schwiegen werden darf, die große Masse des fast
erdrückenden Gewimmels von Conjecturen, mit
denen Blaydes seine nach dieser Seite hin wirk-
lich beklagenswerthen Leser förmlich überschüt-
tet, den Stempel eines leichtfertigen und ober-
flächlichen Fabrikates nur zu deutlich an sich
trägt. Ich will nun die Ausgabe nach den drei
Seiten der handschriftlichen Grundlage, derCon-
stituierung des Textes und der Erklärung etwas
näher beleuchten.
Es ist bekannt, daß in den früheren Ausgaben
des Aristophanes der handschriftliche Apparat
sehr ungenügend ist. Leider muß constatiert
werden, daß im Wesentlichen dasselbe auch bei
dieser neuen Ausgabe der Thesmophoriazusen
der Fall ist. Wenn der Herausgeber noch im-
mer von einem codex Urlinas spricht, der der
Juntina zu Grunde gelegen hätte, so mögen
diese Frage Andere entscheiden. Aber das
durfte Blaydes freilich nicht begegnen, daß er
in dem Ravennas von den Correcturen einer
ganz späten Hand in unserem Stücke gar Nichts
bemerkte, während dieselbe sich doch in der
Schrift, der Farbe der Dinte u. 8. w. sonnenklar
von der Hand des ersten Schreibers unterscheidet
Und doch hat diese Hand (es ist die des Euphro-
synus Boninus, der den Druck der Juntina lei-
tete) an hunderten von Stellen den Text unseres
Stückes corrigiert, und zwar nur aus eigenem
Gutdünken ohne Hülfe irgend einer Handschrift.
Aristophanis Thesmophoriazusae, ed. Blaydes. 603
Alle diese Correcturen aus dem sechzehnten
Jahrhundert ftlhrt Blaydes als Lesarten der er-
sten Hand an. Es ist demnach nicht fraglich,
daß Wer in Fragen der handschriftlichen Ueber-
lieferung seine Schlösse auf den Apparat der
Auggabe des Herrn Blaydes gründet, sein Haus
auf Sand gebaut hat.
Abgesehen davon, daß an vielen Stellen bei
Blaydes die Angaben über die Lesarten des Ra-
vennas auf ungenauer Lesung beruhen, führt er
selbst bisweilen neben seiner eigenen Collation
die Angaben aus der Ausgabe von Immanuel
Bekker an, und in diesen Fällen hat meisten -
theils Bekker Recht und Blaydes Unrecht.
Für den Augustanus hat Blaydes keine neue
Collation, sondern bringt nur wieder die alte,
welche seiner Zeit Bernhard Thiersch besorgt
hatte. Ohne Schaden für die Text -Kritik
konnte Blaydes den ganzen Augustanus unbe-
achtet lassen, der ohne Frage aus dem Ravennas
abgeschrieben ist. Aber die Collation, welche
er bringt, ist ganz ungenügend, ja schädlich,
denn wenn man über die Lesarten dieses Codex
bei Blaydes Schlüsse ex silentio macht, so kommt
man an einer großen Zahl von Stellen (diesel-
ben sind nach hunderten zu zählen) zu ganz
falschen Resultaten.
Die Thesmopboriazusen sind uns aber nur in
zwei Handschriften, dem Ravennas und dem
Augustanus, erhalten. Für den handschriftlichen
Apparat bei Blaydes würde sich also, was ich
nicht gern sage, aber doch nicht verschweigen
darf, das unerfreuliche Resultat ergeben, daß
derselbe ungenügend, ja, offen gesagt, ganz un-
brauchbar ist.
Was nun die Gestaltung des Textes betrifft,
so strömen dem Herausgeber die Conjecturen in
504 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 16. 16.
der üppigsten Fülle zu. Oft, sehr oft, macht er
zu einer Stelle vier bis sechs verschiedene Con-
jectures Es wäre wirklich ungebührlich, wenn
man verlangen wollte, daß dieser ganze Schwann
von Einfällen vortrefflich wäre, aber so viel
dürfte der Leser von Herrn Blaydes dooh wohl
erwarten, daß er nicht gerade jeden oberfläch-
lichen Gedanken in seiner Ausgabe niederlegte,
sondern unter seinen Einfällen einige Umschau
hielte und denjenigen keinen Platz in dem Buche
gönnte, welche sich sofort als baar unmöglich
erweisen, wenn man sie nur einigermaaßen ernst-
lich in's Auge faßt. Und doch finden sich solche
offenbar nur ganz oberflächlichen und völlig un-
möglichen Einfälle unter den Conjectnrep des
Herausgebers so ziemlich auf jeder Seite seiner
Ausgabe. Wenn nun aberBJaydes pei einer nur
zu großen Zahl seiner Vermutbungen gerade das,
was ihm bei der Lesart der Handschriften an-
stößig ist, in seiner eigenen Conjectur wieder
anbringt, so heißt das doch ein leichtfertiges
Spiel mit der Gednld des Lesers treiben.
Ueberbanpt aber scheint das ganze Buch eil-
fertig zum Drucke befördert zn sein. Oft stim-
men die Angaben in der adnotatio critic* unter
dem Text oder in dem Gommentar gar nicht mit
dem Texte selbst überein. In den addendis fin-
den sich viele Conjecturen dps Herausgebers
oder erklärende Parallelstellen angeführt, welche
genau ebenso schon in der adnotatio critica oder
in dem Gommentare zu der betreffenden Stelle
vorgebracht sind, ja gar nicht selten wird am
Schlüsse einer Anmerkung dieselbe Notiz noch
einmal aufgetischt, welche sich wenige Zeilen
vorher im Eingange findet. Es sind dies Spa-
ren einer Hast und Eilfertigkeit in d$r Arbeit,
welche einen recht unangepelffpen Eindrück
Aristophanis Tbesmophoriazusae, ed. Blaydes. 506
machen and dem mancherlei Guten und Treff-
lichen, was die Ausgabe bietet, erheblichen Ein-
trag tbun. So hat Blaydes die Textkritik in
nnserm Stück tbeils durch Billigung von Emen-
dationen Anderer, theils durch eigene treffliche
Conjeeturen gefördert. In die erstere Classe
gehören Stellen wie v. 281 in den addendis,
wo er mit Recht Reiske zustimmt, der schreiben
will : oaov vo XQW' dv^Q%Bta§ tijg Xiyvvog. v. 758
erklärt Blaydes mit Recht für eine Interpola-
tion: MN* toviI %o &4qpi* %r\g Uoeiag ylyvsxa*
,(aue den addendis sieht man, daß er darin
Bakiraysen folgt), v. 873 schreibt er richtig nach
Lenting xapdvtctg (statt xdpvoptag). v. 1003
folgt er demselben mit Recht, indem er dg&ff
at» <^aa* (statt S^dtf) schreibt, ebenso v. 1129
dXXf ov r&Q dp di^ano (Lenting hat das y&t>
angesetzt). In v. 1050 billigt Blaydes mit
Recht die Emendation Herwerdens dtosgonfitifc
(statt cU&iqog adzfe). y. 204 behält Blaydes
mit Recht pvxuQtina (statt vvx&qij<jkx) bei, in*
dem er darauf hinweist, daß wxteQekti* mit
einem absichtlichen Anklang an ig^tSar gebil-
det ifct. Mit demselben Rechte hält er v. 1006
an dem ßvvkg der Handschriften (statt ßoph)
fest. (Der Hiatus nach ßovfo ist unerträglich.
v. 1218 ist zu schreiben: val val7 aif / stdsg
otJrrf; und v. 1225 xaxoScupov dlld tq4& **** |
\jQtapov%ia. In der Lüeke ist etwa ausgefallen :
päXXo tfjd' iym.)
Von den eigenen Emendationen des Heraus-
gebers mögen folgende als besonders beachtens-
wert hervorgehoben werden : v. 34 in den ad-
dendis pa %6v Ji* oidtnco y\ ooa ye xap1 eld4vm7
v. 248 in den addendis Song (statt des elg der
Handschriften), v. 361 vdftovg (statt v6(A0y\
v. 457 da ydq p" (statt dtt yaQ), v. 687 vvv
(statt neos), v. 885 «Mbf**;- (statt T€*fh>ijx6.)} v.
506 Gott. gel. Abz. 188). Stück 15. 16.
1013 in den addendig td dtöp irrdqx^ tavta*
drjXov ovv on, v. 1108 <rt/'; (statt et;.), v. 1119
neQisGTQapfitv'1 yv (statt nsQMOiQappivov), v. 1120
odx into 'vtjo* äv <r' (statt oix intuvycd <f) v.
1214 stellt Blaydes im Anschluß an Aves 1648
richtig das Medium her, indem er schreibt:
diißaXo (i'} co yQci1.
Ebenso schätzenswerth ist eine ganze Reibe
von erklärenden Bemerkungen, welche der Com-
mentar enthält. In denselben ist namentlich die
reiche Fülle von meistens ganz passenden Pa-
rallelstellen hervorzuheben. So v. 57 zu xoavevs*,
V. 81 zu TOtV aitd, v. 131 zu xatsyXmtttafiivov
(in dem zu diesem Verse gehörenden Scholion
ist übrigens zu schreiben: S<m cfö efdog cpiXijpa-
tog naqd td talg (statt noXXatg) yXmtta$g p$-
fuypivov. In dem zu v. 773 angeführten Scho-
lion zu Nubes 830 ist zu schreiben: xai nom
tpaxdv iv dyyeito tw nvqi im&sig (statt xai not$)
(pettily^ iv navdoxsltp svqefoig). Auch das Scho-
lion zu v. 1098 in unserm Stücke ist ganz ver-
stümmelt. Ich vermuthe, daß es gelautet hat:
£2? *Avdqopidag tqla td nQwta xai [zov tstdqtov
td ig vavtftoX&v, td d&] Xandv ini&v%s[)> mg
xai] td i£yg.)9 v. 206 zu Idov ys xXintuv, v.
265 zu sloxvxXqödtM, v. 283 zu dya&jj tdxfl* y-
287 zu noXXd noXXdxtg, v. 292 iv xaXai, v. 413,
v. 427 zu OQimjoeat' (hier und ebenso v. 1205
zu Stav td%Mta tritt in der reichen Auswahl
guter Parallelstellen die ausgedehnte Belesen-
heit des Herausgebers besonders glänzend her-
vor), v. 449 zu time: in der Bedeutung nqouqovy
v. 468 zu imfytv t^v %oXtfv, v. 472 zu otdtpf'
ixqioqd Xoyov, v. 476 zu £t>Vo*<f ipavty dttvd
noXXd, v. 495 zu and tfixovg, y. 617 zu xaoda-
pi&ic, v. 619 zu tig ioi? dvqq (To*; , v. 704 %i\v
äyav ati&adiav, v. 805 zu xai ptv df/ xai} v. 828
zu tv taXg ctqauatg, v. 846 zu 6 <P ovdtna, V«
feelmi, Ricerca del fosforo delle urine etc. 507
887 zd ndfolst rJ ius v. 1064 zu ipol —
UtVlCt y\
Vortrefflich ist ferner die Bemerkung des
Herausgebers zu v. 1080 und v. 1085, daß es
heißen müßte: %t %6 xaxöv* statt: tl xaxov.
Beide Verse sind Interpolationen, welche die
Steigerung des Ausdrucks ganz unpassend unter-
brechen. Zu y. 692 wird die Parodie aus dem
Telephus tiberzeugend nachgewiesen. Richtig
bat zu v. 936 Blaydes auf das Wortspiel zwi-
schen jtQvtavig und 7iqotsLvsiv hingewiesen. Sehr
wahrscheinlich erscheint mir auch die Vermu-
tbang, welche er in den addendis zu v. 429
ausspricht, es wäre statt äpaKty4n<o$ zu schrei-
ben äpioifyinoQ.
Saarbrücken. Ad. von Velsen.
Ricerca del fosforo delle urine in caso di
avvelenamento e prodotti che vi si riscontrano. E s a m e
•dell ' urina di un itterico grave in corre-
lazione coll' esame di una urina fosforata. Sulla
fallacia del reattivo di Van Deen per
determinare le macchie di sangue. Sopra due a r-
sine formatesi in uno stomaco di maiale salato coli*
anidride arseniosa. Memorie e note del Prof. Fran-
cesco Selmi Bologna. Tipografia Gamberini e
Parmeggiani. 1880. 33 S. in gr. Quart. Mit einer
Steindrucktafel.
Der um die Toxikologie und gerichtliche
Chemie hochverdiente italiänische Chemiker hat
wiederum vier kleinere Abhandlungen, welche er
im Laufe dieses Jahres in den Sitzungen der
Academie der Wissenschaften in Bologna vor-
trug, zu einem Buche vereinigt, das die Beach-
tung der Gerichtschemiker auch außerhalb Ita-
liens in hohem Maße verdient.
Besondere toxikologische Bedeutung , und
zwar auch für die medicinische Seite dieser Dis-
ciplin, haben die beiden ersten Abhandlungen,
welche in Bezug auf den behandelten Gegen-
508 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 15. 16.
stand mit einander in inniger Verbindung stehen,
während die dritte nnd vierte weder mit ihnen
noch anter einander eng zusammenhängen.
Die erste Abhandlung, unstreitig die wich-
tigste des vorliegenden Heftes, behandelt das
vom Verf. schon wiederholt in Angriff genom-
mene Thema der Wichtigkeit der Harnunter-
suchung zum forensischen Nachweise des Phos-
phorismus acutus. Ich habe bereits früher bei
Besprechung einer von Selmi inspirierten Ar-
beit von Pesce und Stroppa in diesen Blät-
tern daraufhingewiesen, daß Selmi wiederholt
die Beobachtung gemacht hat, daß bei niedriger
Temperatur aus dem Harn mit Phosphor ver-
gifteter Menschen und Thiere eine Verbindung
sich verflüchtigt, welche darüber aufgehängtes
Silbersalpeterpapier bräunt, ohne Bleicetatpapier
zu afficieren. Pesce und Stroppa constatier-
ten auch die Anwesenheit einer phosphorbaltigen
Substanz, vermuthlich einer niederen Oxydations-
stufe des Phosphors, welche P an nascierenden
Wasserstoff abgiebt Beide Facta hat Selmi
bei der Untersuchung des von einem Selbstmör-
der im Laufe des ersten Tages entleerten Harns
in vollem Maße bestätigt und damit den Nach-
weis geliefert, daß wir in solchem ein sehr wert-
volles Material zur Constatierung des Vorhan-
denseins einer Phosphorvergiftung in günstig
verlaufenen Fällen besitzen. In diesen Bestäti-
gungen liegt aber keineswegs der Schwerpunkt
der ersten Selmi'gchen Abhandlung. Derselbe
liegt in weiteren chemischen Studien, welche den
allerdings durch das bekannte Auftreten von
Leucin und Tyrosin im Phosphorvergiftungsharn
wahrscheinlichen verändernden Einfluß des Phos-
phors auf die Albuminate des Tbierkörpers stur
Evidenz darthut. Es ist Selmi gelungen, Dicht
allein im Harn des ersten, sondern auch in dem
Selmi, Bicerca del fosforo delle urine etc. 509
der beiden folgenden Tage mehrere fluchtige and
feste organische Basen nachzuweisen, von denen
einzelne einen hohen Gebalt an Phosphor zeig-
ten. Der Beschreibung dieser Basen und ihres
Verhaltens gegen verschiedene Reagentien ist
der größte Theil der ersten Abhandlung gewid-
met und auf sie bezieht sich auch die beige-
fügte Tafel. Das Auftreten dieser Körper und
besonders auch des im Harne des ersten Tages
aufgefundenen Coniins macht die früher von
Schnitzen und Riesa aufgestellte Hypothese,
daß der in das Blut eingedrungene Phosphor,
soweit derselbe nicht mit Sauerstoff sich verbin-
det, nach Art eines Ferments auf die organischen
Substrate, in specie die Albuminate, wirke, zu
einer ausgebildeten Theorie, für welche ja auch
das Vorkommen von Leucin nnd Ty rosin, die
wiederholt bei Phosphorismus acutus aufgefunden
wurden, spricht. In der That treten derartige
Basen nach früheren Versuchen Selmi's bei Ei-
weißzersetzung in niederer Temperatur auf nnd
es gewinnt durch ihren Nachweis die acute Phos-
phorvergiftung eine Stellung in der unmittelbaren
Nähe der putriden Processe, bei denen, wie
Selmi betont, die Untersuchung des Harns sich
ebenfalls auf jene Basen richten sollte. Ich möchte
hinzufügen, daß man auch Grund hat, nach ihnen
bei einer Reibe von Vergiftungen zu suchen,
welche in ihrem Symptomencomplexe und na-
mentlich in den dadurch hervorgerufenen ana-
tomischen Veränderungen dem Phosphorismus
nahe stehen, besonders bei Intoxicationen mit
Arsenik, und Antimon. Jedenfalls wird es zu-
nächst unerläßlich sein, dieselben specieller beim
Phosphorismus an Thieren experimentell zu stu-
dieren, wozu ein den Einfluß der Wärme auf
jene leicht zersetzlichen Körper vermeidendes
Verfahren von Selmi bereits angegeben ist
510 Gott. gel. Anz. 18dl. Stück 15. 16.
Schon in seiner ersten Abhandlung hebt Selmi
hervor, daß das Vorhandensein der von ibm
constatierten Harnveränderungen nach Einführung
von Phosphor möglicherweise im Stande sei, die
differentielle Diagnose des Phosphorismns und
jener rätbselhaften Affection, die wir als Icterus
gravis oder acute Leberatrophie bezeichnen, zu
begründen. Die zweite Abhandlung bringt einen
positiven Anhaltspunkt dafür, indem Selmi in
dem ihm von Professor Brugnoli in Bologna,
dem italiänischen Monographen der Itterizia
grave maligna, übergebenen Harn eines an die-
ser Affection Leidenden keine Spur von phos-
phorhaltigen Basen aufzufinden vermochte. Die
gasförmige Phosphorverbindung im frischen Harn
mit Phosphor Vergifteter kann hier nicht zur
Unterscheidung benutzt werden, weil dieselbe
anscheinend nur in den ersten 24 Stunden
nach der Vergiftung existiert; wenigstensn war
sie in Sei mi's Falle am zweiten und drit-
ten Tage nicht mehr vorhanden. Inwieweit da-
bei die eingeleitete Terpenthinölcur zum Ver-
schwinden beigetragen, muß vorläufig dahinge-
stellt bleiben.
In der dritten Abhandlung bespricht Selmi
die neuerdings wieder von Ferry an's Tages-
licht gezogene Reaction von Blutflecken mittelst
Guajakharz und ozonisierten Terpenthinöls. Die
Unzuverlässigkeit dieses Reagens, welche Selmi
schon 1870 bei Gelegenheit einer von ihm aus-
geführten gerichtlichen Untersuchung erkannte,
ist in Italien von V i t a 1 i bereits dargelegt wor-
den und ist dasselbe dort ebenso wie bei nns
längst verlassen. Immerhin ist es von Interesse,
zu erfahren, daß die Chlorverbindungen der Al-
kalien die Uebertragung des Ozons vom Ter-
pentbinöl auf das Guajakharz in hervorragender
Selmi, Ricerca del iosforo delle urine etc. 511
Weise bewirken, während Sulfate das Eintreten
der Blaufärbung verhindern und die bereits ein-
getretene Reaction vernichten.
Die vierte Abhandlung Selmi's schließt sich
an die bekannten Untersuchungen desselben über
Ptomaine und speciell an eine im Jahre 1878
der Accademia dei Lincei gemachte Mittheilung
über ein giftiges krystallinisches PtomaYn, wel-
ches von ihm mittelst Aether aus den Einge-
weiden zweier exhumirter Leichname, in denen
eine große Menge von Arsenik gefunden wurde,
extrahiert war. Selmi sprach damals die Ab-
sicht aus, die fragliche Bildung von Alkaloiden
an mit Arsensäureanhydrid versetztem und ver-
grabenem Thierfleische studieren zu wollen und
theilt nun die von ihm bisher ausgeführten Unter-
suchungen an einem im Arsenikpökel längere
Zeit befindlich gewesenen Schweinsmagen mit.
Die in einer kurzen Notiz schon früher der Acca-
demia delle Scienze mitgetheilte Entdeckung von
zwei giftigen Arsenbasen wird hier in ausführ-
licher Weise dargestellt und die Details der von
Professor Vincenzo Giaccio am Frosche
ausgeführten Versuche mitgetheilt. Es erhellt
daraus, daß die beiden chemisch sich leicht dif-
ferenzierenden Arsine (das eine ist flüchtig, das
andere fix) auch ausgesprochene Verschiedenheit
ihrer physiologischen Wirksamkeit zeigen, indem
die eine flüchtige Base zu 24 Mgm. ihres chlor-
wa8serstoffsauren Salzes den Tod unter tetani-
foimen Erscheinungen bewirkt, während die an-
lere lähmend auf die Nervencentra und das Herz
einwirkt, welche beiden Actionen übrigens bekanntlich
kuch anderen Ptomalnen, welche keinen Arsenik enthal-
ten, zukommen. Die Untersuchung hat auch einen histo-
rischen Werth, indem angeblich ein Rival der Aqua Tof-
W in den Zeiten der Giftmischerei, die sogenannte
Lcquetta di Perugia, nach der Tradition in einer Weise
weitet wurde, bei welcher an die Bildung der genannten
512 [Gott. gel. Ans. 1881. Stück 16. 16.
Arsine wohl gedacht werden kann. Der Sage nach wurde
das Giftmischerpräparat so erhalten, daß man Stücken
eines getödteten Schweins mit weißem Arsenik einrieh
und die abträufelnde Brühe sammelte, welche angeblich
weit heftigere Wirkung als eine Lösung von Arsenig-
säureanhydrid haben sollte. Allerdings ließe sich letz-
terer Umstand auch in der Weise erklären, daß sich bei
dieser Procedur unter dem Einflüsse des Fleischsaftes
arsenigsaures Alkali bildete.
Man erkennt aus dieser kurzen Inhaltskizze der vor-
liegenden Abhandlungen leicht das wissenschaftliche und
praktische toxikologische Interesse, welches sich an die-
selben knüpft. Man sieht wiederum, daß die forensische
Chemie und Toxikologie noch keineswegs als wissen-
schaftlich völlig erschlossenes Gebiet anzusehen ist, fur
welches man sie in den meisten europäischen Ländern zu
halten scheint. Bei jedem bedeutenderen Giftmordspro-
cesse macht man dann freilich die Erfahrung, daß un-
endliche Lücken vorbanden sind, welche im Interesse des
öffentlichen Rechts ausgefüllt werden müssen. Es ist das
überaus bedauerlich, da nirgendwo anders die Ignorierung
bestimmter Facta einerseits und die mangelhafte Jfrkennt-
niß derselben andererseits so viel Unheil zu schaffen
vermag als in der forensischen Chemie. Ein mangelhaf-
tes Abscheidungsverfahren kann einem Verbrecher seiner
Strafe entziehn, die Überschätzung des vermeintlichen
Werths einer Reaction einen Unschuldigen zum Giftmör-
der stempeln. Bei uns beruhigt man sich bei diesem Zu-
stande; die theoretischen Speculationen haben die Ver-
treter der Chemie zumeist der früheren praktischen Rich-
tung entfremdet, und der Staat vertraut auf den Instao-
zenzug der wissenschaftlichen Arbitrien und Subarbitrien,
die einander ergänzen und bestätigen oder berichtigen
sollen, in Wirklichkeit* aber oft genug contradictorisch
und trotzdem mitunter sämmtlich von der Wahrheit ent-
fernt sind. In Italien denkt man anders; das specielle
Studium der forensischen Toxikologie blüht und der ein-
sichtige Minister der Justiz hat derselben einen beson-
dern Sporn durch die Errichtung einer Specialcommisston
aus den angesehensten Fachmännern zur Prüfung und
Entscheidung- der derzeitig vorliegenden toxikologische»
Streitfragen unter dem Präsidium Sei mi's gegeben.
Sept. 1880. Th. Hussmann,
Fftr die Redaction verantwortlich: F. Btchtd, Director d. GÖtt. gel. Am-
Verlag 'der DUUricKichm* Ytrlag*- Buchhandlung.
Druck der tHtürtch* sehen Unit,- Buchdruck** (W. fr. Kernt**).
613
Grö tti ng ische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschafte«.
Stück 17. 27. April 1881.
Inhalt : Drei ethnologische Pnblioationen ans und über Australien.
Von ff. Oerlcmd. — J. D. Leader, Mary Queen of Scots in captivity.
Ton R. FauU. — G. Mihalkovics, A'ltalanoe Boncztan (Allge-
meine Anatomie). Yon W. Kraust.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Drei ethnologische P ublicationen aus
und über Australien.
1) The Native Tribes of South Australia,
comprising the Narrinyeri by the Rev. George Taplin;
The Adelaide Tribe by Dr. W y a 1 1 ; The Encounter
Bay Tribe by the Rev. A. Meyer; The Port Lincoln
Tribe by the Rev. C. W. Schürmann; The Dieyerie
Tribe by S. G a s o n ; Vocabulary of Woolner District
Dialect (northern Territory by John Wm. Ogilvie Ben-
nett with an introductory Chapter by J. D. Woods.
Adelaide, E. S. Wigg and Son, Rundle Street. 1879.
XLIV. 331 S. 8°.
2) The Folklore, manners, customs and lan-
guages of the South Australian Aborigines :
gathered from inquiries made by authority of South
Australian government. Edited by the late Rev. G.
Taplin, of Point Macleay. First series. Adelaide:
by authority, E. Spiller, Governm. printer, North-
terrace. 1879. VHI. 174 S. 8°. (Addendum: Gram-
mar of the Narrinyeri Tribe of Australian
Aborigines. By the Rev. G. Taplin, Aborigines'
Missionary, Point Macleay. Adelaide, printed by W.
C. Cox, Government printer, North-Terrace. 1878.
28 S. XII S. Facs.
33
514 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
Beide Werke sind für unsere Kenntniß der
Eingeborenen Stidaustraliens sehr wichtig; eine
zusammenfassende Besprechung derselben ist in*
haltlich abef auch dadurch gerechtfertigt, daß
der leider zu früh verstorbene, hochverdiente
Missionar Taplin — er starb 47 Jahre alt am
24. Juni 1879 — bei beiden als Verfasser oder
als Herausgeber in erste Linie tritt. — In dem
introductory chapter des ersten Werkes (S. I—
XLIV) giebt J. D. Woods eine allgemeine, nicht
uninteressante Schilderung der Sitten der Einge-
borenen Australiens und geht dabei in ausführ-
licherer Besprechung auf die Gründe ein, welche
das Hinschwinden der australischen Stämme be
dingen. Ausgestorben sind nach ihm schon der
Port Adelaide-Stamm, der Gawler-, der Kapunda-
Stamm, die Burra, Rufu u. s. w., andere oder
eigentlich alle nach seiner Ansicht dem Aus-
sterben nahe. Neues über diese so wichtige
Frage, sei es an Material oder an Auffassung
und Erklärung bringt Woods nicht; ja er be-
handelt den Gegenstand ohne seine eigentliche
Bedeutung ganz zu würdigen; und gleich der
Autor der ersten Abhandlung seines Bandes wi-
derspricht ihm. Es ist dies zugleich die um-
fangreichste Arbeit des Bandes, von George
Taplin: The Narrinyeri, an account of the tribes
of South Australia, inhabitating the country
around the Lakes Alexandrina, Albert and
Coorong and the lower Part of the river Murray,
their manners and customs and an account of
the Mission at Point Macleay, S. 156, mit 5
Tafeln Abbildungen. Taplins Arbeit erscheint
hier in 2. Auflage; allein die erste (1873) ist in
Europa wenig bekannt geworden und dazu ent-
hält diese zweite eine ganze Reibe wichtiger
Zusätze. Das 1. Cap. bespricht den Stamm als
Ethnologische Publicationen aus u. über Australien. 515
solchen, zählt die 18 Unterabtheilungen dessel-
ben auf mit ihren (meist thierischen) Totems
oder Ngaitye, schildert in einzelnen besonders
interessanten Zügen den Charakter desselben
und schließt mit dem Nachweis, daß die
Narrinyeri keineswegs aassterben, vielmehr durch
die christliche Civilisation gehoben werden. Im
2. Capitel (social customs) ist die Darstellung der
Ceremonien der Mannesweihe sowie der Todten-
gebräuche der werthvollste Theil; das 3. Cap.
handelt von verschiedenen Zaubergebräuchen,
das 4. aber, die politischen Einrichtungen des
Stammes schildernd, ist von ganz besonderem
Interesse. Jede der 18 Clanschaften, in welche
die Narrinyeri zerfallen, hat einen Häuptling,
Rupulle, d. h. Landbesitzer genannt, der nicht
erblich ist, vielmehr von den Familienhäuptern
des Clans gewählt wird und den Clan nach
außen hin vertritt. Noch merkwürdiger ist die
Institution der Ngia-ngiampe , d. b. Männer,
welche, verschiedenen Clanen angehörig, von
Geburt an durch ihre Väter in ein eigentüm-
liches Tabuverhältniß gebracht und später die
Handelsagenten ihrer beiden Stämme sind, wenn
diese unter einander Waaren austauschen wol-
len : das Mitglied des einen Stammes bringt
dann dieselben seinem Ngia-ngiampe im ande-
ren Stamm und dieser bringt ihm die Tausch-
waaren seines Stammes. Dabei aber vermeiden
die Ngia-ngiampe, mit einander sonst nirgend-
wie zu verkehren, ja sich nur zu sehen. Ueber
den eigenthümlichen Senat eines jeden Einzel-
stammes, welcher aus den ältesten Mitgliedern
desselben gebildet wird und Tendi heißt, berichtet
Taplin hier zuerst. Er ist die oberste Rechts-
behörde des einzelnen Clanes; doch können
auch mehrere Stämme zu einem Tendi zusam-
33*
516 Gott. gel. Aoz. 1881. Stück 17.
menkommen. Seine und der Rupulle Macht ist
nicht unbedeutend, wie überhaupt die Eingebo-
renen streng an ihren Gesetzen halten (S. 136).
Wichtig ist dann ferner die Auseinandersetzung
der sehr verwickelten und schwierigen Ver-
wandtschaftsverhältnisse (Cap. 6), weiche Taplin
ganz ebenso beim Meru-Stamm (den Narrinyeri
benachbart, am Murray) vorfand. Kinder von
Brüdern gelten für den Bruder als eigene Kin-
der, ebenso Kinder von Schwestern für die
Schwester, daher umgekehrt alle Vaters-Brüder
Väter, alle Mutter-Schwestern Mütter der Kinder,
Vaters- Schwestern und Mutter-Brüder Onkel und
Tanten sind. Dies Verwandtschaftssystem, für
welches Taplin nur die tamulischen Analogien
heranzieht, findet sich bei anderen Völkern
gleichfalls entwickelt; für die ethnologische Un-
tersuchung der Familienentwickelung bei den
verschiedenen Völkern bringt dies Gapitel also
sehr beachtenswerthes Material. Dasselbe ist
um so schätzenswerther, weil Taplin für diese
praktisch vom Volke sehr ins Einzelne ausge-
arbeiteten Beziehungen sämmtliche einheimische
Namen verzeichnet. Cap. 7 behandelt die Mytho-
logie des Stammes, und die mannigfachen neuen
Mittheilungen über die einschlagenden Anschau-
ungen der Eingeborenen sind bei unserer man-
gelhaften Kenntniß derselben von großer Wich-
tigkeit. So über den Hauptgott der Narrinyeri,
der Alles geschaffen hat und im Himmel lebt,
dessen Stimme der Donner, dessen Pfad der
Regenbogen ist. Taplin erzählt eine Menge
Legenden von ihm, auch eine Sündfluthlegende,
einige nach der Arbeit des Rev, 6. H. A. Meyer,
die, in Deutschland ebenfalls wenig bekannt,
uns noch, weil sie ebenfalls dem vorliegenden
Band einverleibt ist, begegnen wird. Eine Reihe
Ethnologische Publication en aus u. über Australien. 517
von Mythen über andere Götter und Geister
schließen sich an. Auch die Berichte Taplins
über seine eigenen Erlebnisse so wie die Ge-
schichte der Mission zu Point Macleay (Gap. 8)
enthalten eine Menge werthvoller, weil sehr cha-
rakteristischer Züge für die Eigenart der Ein-
geborenen, die z. Th. wirklich ergreifend sind ;
ebenso das Supplementcap. 11, welches einzelne
illustrative Anecdoten enthält, die zugleich für
Sitten, Charakter (warme Familienanhänglich-
keit) und mythische Anschauungen derNar. be-
deutend sind. Das Schlußcapitel 1 2 handelt von
der Zukunft der Eingeborenen und ihrer Fähig-
keit fürs Christenthum ; hier weist Taplin, ganz
im Gegensatz zu Woods, die Fortschritte nach,
welche das Christenthum und mit ihm die Bil-
dung unter den Eingeborenen gemacht hat und
spricht die Zuversicht aus, die letzteren wür-
den, wenn richtig und nach Recht behandelt,
keineswegs aussterben, vielmehr sich neben und
unter der weißen Bevölkerung halten können.
Cap. X behandelt die Sprache, und hier müs-
sen wir gleich den Anhang des zweiten Werkes
mit heranziehen, in welchem der Verf. ebenfalls
eine Grammatik derselben giebt. Letztere ist
natürlich ausführlicher, als Cap. X, in welchem
z. B. die Verba fast ganz , die Adjektiva und a.
ganz fehlen. Dagegen bietet dasselbe wieder
anderes, was der Grammatik fehlt, nämlich ein
vergleich. Wortverzeichniß von 71 Kummern,
eine Reihe von Ortsnamen in der Narrinyeri-
sprache, ferner einige Phrasen sowie syntaktische
und sonstige Bemerkungen, welche der Gramma-
tik fehlen. Beide Arbeiten ergänzen einander.
Aber sie widersprechen sich auch: die Formen
der Deklination, welche die Grammatik giebt,
sind z. Th. abweichend von denen des Cap. X,
518 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
ohne daß Taplin irgendwie darauf Rücksicht
nimmt. Sachlich ist hier kaum zu entscheiden:
man wird sich indeß am besten an die Gram-
matik halten, da diese später erschienen and
gerade die Deklination hier, wie Verf. sagt, nach
sorgfältiger Ueberlegung von ihm niederge-
schrieben ist. Sehr interessant ist die Bemer-
kung, daß die „Wilden" ihre Sprache werth hal-
ten und gegen Sprachfehler empfindlich sind.
Es folgt nun in Woods' Sammelband eine kür-
zere Arbeit: some account of the manners and
superstitions of the Adelaide and Encounter Bay
aboriginal tribes, with a vocabulary of their
languages, names of persons and places etc.
principally extracted from his official reports by
William Wyatt (formerly protector of the abori-
gines, South Australia). S. 157 — 181. Sie gilt
hauptsächlich dem Adelaide-Stamm und hat vor-
zugsweise durch Spezialmittheilungen über Be-
gräbnißsitten u. dergl. so wie namentlich über
Mythologie Werth. So erzählt Wyatt von Monain-
cherloo oder Teendo yerle, d. h. Sonnenvater, den
Schöpfer des Himmels und aller Dinge, vomMo-
nana, der in den Himmel aufstieg (aber gewiß
kein vergötterter Mensch ist, wie Wyatt meint),
von der Sonne (weibl. gedacht) und ihren bösen
Schwestern, von dem (meist männL) gütigen
Mond u. s. w. Das Vokabular enthält auch
Worte der Stämme von Encounter- und Rapid-
bai (südl. von Adelaide, Hindmarsh-Halbinsel),
um die gänzliche Verschiedenheit des Sprach-
schatzes dieser so nahen Nachbarn zu erweisen.
Einige Sprachproben machen den Schluß. —
Die schon erwähnte Abhandlung von H. E. A.
Meyer, die nun folgt, manners and customs of
the aborigines of the Encounter Bay tribe, South-
Australia (195—206) ist schon 1876 gedruckt,
r
Ethnologische Publicationen aus u. über Australien. 519
in Europa aber kaum bekannt geworden. Sie
ist dadurch besonders beachtenswerth, daß Meyer
schon längere Zeit unter dem Stamme gelebt
hatte, ehe der letztere in nähere Berührung mit
den Weißen kam. Außer den merkwürdigen
mythol. Berichten (welche Taplin wie manche
andere Mittheilungen Meyers benutzt hat und
die dem Leser des Bandes zweimal geboten
werden) bietet sie auch sonst noch eine Reihe
unbekannter Einzelnheiten z. B. für Erziehung
der Knaben und Jünglinge, Behandlung der
Todten u. a., so daß der Wiederabdruck des
seltenen Heftes gewiß sehr dankenswerth ist.
Es folgt des bekannten Missionar C. W.
Schürmann Arbeit über die Port Lincoln-Stämme :
The aboriginal tribes of Port Lincoln in South
Australia, their mode of life, manners, customs,
etc. by C. W. Schürmann, of the Lutheran Mis-
sion. Soc, Dresden. (S. 209 — 251). Sie ent-
hält viel neues, z. Tb. sehr interessantes Mate-
rial über die verschiedenen Stämme, ihre sprach-
lichen und Verkehrs Verhältnisse, so wie ferner
über einzelne merkwürdige Sprachformen, die
verschiedenen Weihen der Jünglinge (im 15. 17.
und 18. Jahre) und manchen wichtigen Zug aus
der Mythologie, dem Aberglauben, Familienleben
u. s. w. Dies ist um so mehr zu betonen, als
Schürmanns Abhandlung uns eine Ueberraschung
bereitet: auch sie ist der Hauptsache nach schon
gedruckt, aber freilich unter anderem Namen.
Sie ist z. Tb. identisch mit einer Abhandlung
von Dr. Charles Wilhelmi „manners a. customs
of the Austral, natives", die 1862 in Melbourne
and dann in etwas verkürzter Uebersetzung in
der Zeitschr. „Aus allen Welttheilena Jahrgang
1870 erschienen ist. Wilhelmi sagt selber, daß
er Schürmann viel verdanke; jedenfalls hat er
520 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
auf seinen eigenen längeren (botanischen) Wan-
dernngen durch Südaustralien, während welcher
er auch Port Lincoln zweimal besuchte, von
dem Missionar ein Heft mit Aufzeichnungen
empfangen, welches jetzt mit bedeutenden Zu-
sätzen Schürmann selbst herausgegeben hat.
Doch hat auch Wilhelmi manches, was bei letz-
terem fehlt, obwohl demselben das meiste ange-
hört, was W. gebracht hat. Sprachlich ist na-
türlich Schürmann genauer, ja einzelne direkte
Sprachfehler bei Wilhelmi erledigen sich durch
die vorliegende Originalarbeit.
Der bei Woods folgende Anfsatz führt den
endlosen Titel: The Manners a. Customs of the
Dieyerie tribe of Australian Aborigines. Embra-
cing an account of the character of the race;
the country it inhabits; its rites, ceremonies,
and superstitions, its social usages and laws,
the diseases peculiar to it. A catalogue of ani-
mals, plants, weapons and ornaments, accom-
panied by the native names, together with
examples of the construction of the dialect, and
a complete vocabulary. By Samuel Gason, Po-
lice Trooper, edited by George Isaacs. (S. 257
- 307). Die höchst interessante Arbeit ist in
Deutschland durch die Auszüge bekannt, welche
Bastian (Zeitscbr. für Ethnol. 1874) aus ihr
gegeben hat. Hier liegt sie nun ganz vor, sehr
werthvoll durch eine Menge von Mittheilungen über
Mythologie, über Verfassung und Becht, Todten-
gebräuche, Gannibalismus , Zauberei u. dergl.
Unter dem sprachlichen Material des Verf. sind
besonders die Liste der Names given according
to age and relationship zu betonen, sowie die
verschiedenen Stern- und sonstigen astronomi-
schen Benennungen. Das Vocabular ist sehr
reich; man muß es combinieren mit der Liste
Ethnologische Publicationen aus u. über Australien. 521
der Thier- und Pflanzennamen, sowie der Gerätbe,
Waffen, Schmuckgegenstände, welcher letzterer
genaue Beschreibung auch ethnologisch recht
werthvoll ist. — Als Schluß der Sammlung folgt
dann noch 311 — 316 ein Vokabulary of the
Woolner District Dialect, Adelaide River, Northern
territory, by John Will. Ogilvie Bennett. Der
Dialekt, ttber den wir außer einer Wortsamm-
hing von etwa 240 Worten und einigen Orts-
namen leider nichts erfahren, ist um so inter-
essanter, als er im äußersten Norden des Fest-
lands der Insel Melville gegenüber gesprochen
wird und wir von Nordaustralien nur sehr we-
nig sprachliches Material haben.
Das zweite oben genannte Werk verdankt
dem verstorbenen Dr. Bleek, dem bekannten
Erforscher der südafrikanischen Sprachen seinen
Ursprung. Derselbe war Bibliothekar der Biblio-
thek Sir George Grey's, welche auch für die
Sprachen der Bewohner Ozeaniens von so hoher
Bedeutung ist. Als solcher bat er 1874 den
Governor der stidaustr. Colonie, Sir A. Mus-
grave um genaue Aufzeichnungen über die Ein-
geborenen Südaustraliens hinsichtlich ihrer Sit-
ten und Gebräuche und namentlich ihrer Volks-
überlieferungen. Das Gouvernement der Colonie
ging auf diese Bitten ein ; auf Taplins Vorschlag
wurden Fragebogen angefertigt und diese weit-
hin versandt, auch nach Northern Territory ; die
Antworten, wie die zurückkommenden Bogen
sie enthielten, sind hier zusammengestellt. Die
Fragen, 48 an der Zahl, bezogen sich auf
Namen, Verfassung, Totem, Recht und Gericht,
Erbrecht der Stämme, auf ihre Ehegesetze, Ver-
wandtschaftsbezeichnungen (die besonders be-
tont werden), ihre Todtengebräuche , religiösen
Anschauungen , früheren Zustände , auf Canni-
522 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
balismus, Waffen, Geräthe, Sprache (sehr , im
einzeln ausgeführt, 15 Fragen) Krankheiten und
Heilverfahren, Feste, Mannesweihe, Zahnaus-
schlagen, Besehneidnng u. s. w. In einer Ein-
leitung spricht auch hierTaplin sich dahin aas,
daß die Eingeborenen keineswegs ausstürben;
daß ihr Hinschwinden oft nur scheinbar (Ver-
schwinden durch Wegziehen, Vermischen mit
anderen Stämmen n. s. w.) gewesen sei und be-
hauptet dies für die Gegenden und Stämme, die
er persönlich kennt, auf das allersicherste. Er
macht dann ferner einige Bemerkungen über die
Ethnologie der Südaustralier; wenn er aber der
Ansicht ist, die Australier müßten für gemischt
aus zwei Stämmen angesehen werden, deren
einer von Indien, der andere aus der ozeani-
schen Inselwelt gekommen sei, weil sich bei den
Australiern Sitten fänden, die theils unter den
Dravida Stämmen, theils auch bei den Poly-
und Melanesiern wiederkehrten, so können wir
diesen Satz nicht gelten lassen, da die betref-
fenden Sitten und (religiösen) Anschauungen,
auf welche er seine Behauptung stützt, über den
ganzen Erdball verbreitet sind, für Spezial?er-
wandtsch^ften also keine beweisende Kraft be-
sitzen. Darin aber bat Taplin ganz sieber
Hecht, daß die Australier nicht Autochthonen sind.
In den Antworten sind nun behandelt 1) der
„Marruraa-Stamm (unt. Darling) v. Rev. W. Hol-
den, sehr ausführlich, mit Wortverzeichniß; 2)
der Overland Corner-Stamm, Murray; 3) der
Moorundee-Stamm , Murray , sprachlich ziem-
lich reich; 4) die Narrinyeri, v. Taplin, sehr
ausführlich, die schon erwähnten Arbeiten des
Verf. wesentlich ergänzend , mit werthvollen
Photographien, darunter 4 sehr gute und inter-
essante Porträts, und einer Reihe sehr genauer
Ethnologische Publicationea aus u. über Australien. 523
anthropol. Messungen. Der Goolwa Clan ist be-
sonders behandelt v. Moriarty (Police-trooper), 5)
Die Tatiara- und Südost-Stämme ; 6) der Padtha-
way-Stamm; 7) die Naracoorte und Stidost-
ktisten Stämme (5 — 7 an Encounterbai wohnend);
8) die Wallaroo, Halbinsel York, zwischen St.
Vincent- und Spencergolf, mit kurzem Vokabular ;
9) der Stamm an Flinders Bange (westl. v. L.
Torrens); 10) der Stamm v. Mount Remar-
kable", an der Nordostküste des St. Vincentgolf,
beide vom fernen Norden nach Taplin's Ansicht
herabgedrängt, jetzt recht tief stehend; 11) der
Bericht über den Dieyerie-Stamm ist von 6a-
son und ergänzt sein oben besprochenes Werk
sehr reichlich, dem andererseits vieles hier ent-
lehnt ist. Bemerkungen von Taplin, namentlich
sprachliche, schließen sich an, so ferner Notizen
über die Eingeborenen nach Lake Eyre hin,
von F. W. Andrew; 12) der Nimbalda-Stamm
am Mt. Freeling (südl. v. L. Gregory) ; 13) der
Antakerrinya-Stamm in Gentralaustralien, Char-
lotte Water, Nordgrenze v. Südaustralien. Ein
paar Bemerkungen folgen dann 14) über den
Stamm von Port Darwin Halbinsel und end-
lich werden ausführlich 15) die Stämme des
West - Distrikts Südaustraliens (Port Lincoln —
Fowlerbai) behandelt. Unter den Beigaben ist
eine Abhandlung über die Zähne der Eingebo-
renen von Interesse, namentlich aber eine Reihe
Briefe Moorhouse's, des früheren Protektors der
Eingeborenen, aus 1840 — 42, welche ethnolo-
gisch einen hohen Werth haben ; das Narrinyeri-
Vokabular, welches auf S. 125—141 folgt, ist
sehr reich, während Taplin im Cap. X des erst-
genannten Werkes nur wenige Worte zur Ver-
gleichung mit anderen Sprachen auswählt. Lei-
der stimmen beide Listen oft nicht tiberein,
524 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
z. B. heavens 1) wyirrewarre, 2) in heaven
waiiriwar; tree 1) lamatyeri, 2) yape; hill 1)
ngurle, 2) ngnrli ; house 1) manti, 2) mante
u. 8. w. Einige dieser Abweichungen, die Taplin
nicht erklärt, mögen dialektisch sein. Wohl zu
beachten sind die vielen Synonyma des Verz. 2,
welche der Sprache das Ausfallen der Tabu-
worte, welches auch hier in Anwendung kommt,
erst ermöglicht. Uebrigens bietet auch Verz. 1)
manches Wort zur Ergänzung von 2). Auch
die Vergleichung von 70 Worten in 43 austral.
Dialekten ist dankenswerth ; eine reichhaltige
vergleichende Zusammenstellung der Verwandt-
schaftsbezeichnungen und ihre Besprechung (S.
156—174) macht den Schluß des merkwürdigen
Bandes. Derselbe bringt ein außerordentlich
reiches Material in einer Fassung, welche durch
die stets wiederkehrenden Fragen trotz der vielen
Zwischen -Aufsätze bequem und übersichtlich wird.
Er ist eine der bedeutendsten Bereicherungen
unseres Wissens und daher ist dringend zu wün-
schen, daß Taplin's Verheißung, dieser Band sei
nur der erste in einer Reihe weiterer Veröffent-
lichungen, durch den Tod des so eifrigen und
einsichtigen Herausgebers nicht unterbrochen
werde. Nächst ihm verdient übrigens auch die
Regierung Südaustraliens für den Eifer und die
Umsicht, mit welcher sie das Unternehmen ge-
fördert hat, den lebhaften Dank aller derer, die
sich für die Eingeborenen interessieren. In ihrer
Hand wird es stehen, daß die folgenden Bände
erscheinen, und auch hier gilt der Spruch: 'bis,
qui cito!'
8) The Aborigines of Victoria: with notes
relating to the Habits of the natives of other parts of
Australia and Tasmania. Compiled from various
sources for the government of Victoria by R. Br o ugh
Ethnologische Publicationen aus u. über Australien. 525
Smyth. By authority: John Ferres. Governm. printer.
Publish, also by George Robertson, Melbourne. — London.
Trübner and Co. ; and G. Robertson 1878. 4°. Vol. I.
LXXKL 483. Map showing approzimataly some of the
areas occupied by the Aborig. tribes of victoria com-
piled by R. Brough Smyth. Vol. II: VI, 456. Map:
Australia includ. Tasmania.
Hier haben wir eine höchst stattliche Publi-
kation der Nachbar-Regierang, der Regierang
von Viktoria, and dem Aeußeren des Baches
entspricht das Innere: auch dies Werk ist in-
haltlich höchst bedeutend, es ist grundlegend,
ja nach manchen Seiten hin erschöpfend (soweit
dies überhaupt möglich ist) für die Eingebore-
nen Viktorias und zugleich auch wichtig für das
ethnologische Studium des Continents überhaupt.
Denn gleich die Introduction bringt eine aus-
führliche ethnologische Gesammtschilderung der
Australier, bei welcher allerdings die Stämme
des Viktorialandes im Vordergrund stehen, die
aber durch manches neue Material and dann
durch die reiche Zusammenstellung einzelner
Züge des äußeren Lebens werthvoll wird. Man-
ches freilich ist nicht zu billigen, so die Be-
hauptung, daß die Beschneidung durch malai-
scbe Trepangtiscber nach Australien gekommen
sei, so ferner die Vermutbungen über Zusammen-
hänge der australischen und der arischen Sprache,
Zusammenstellung gleichklingender Worte aus bei-
den u. s. w. Derartige linguistische Ungeheuer-
lichkeiten sind übrigens bei den Engländern be-
liebt; im 2. Band kehren sie wieder und auch
Taplin hat dergleichen.
Zunächst werden nun die Eingeborenen des
Viktorialandes sehr ausführlich nach ihren phy-
sischen Eigenthümlichkeiten besprochen. Eine
Reihe von Körpermessungen (die eingehender
sein könnten) beginnen die Schilderung, Haar
526 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
and Haut, Hantgerach, Sinne, Kraft, Gebrauch der
Füße und Zehen werden besprochen and dann über
die Kassen gehandelt, d. b. über die Abweichun-
gen vom gewöhnlichen aastral. Typus, welche
sich hier and da im Continent finden. Auch
hier möchte man reicheres Material wünschen;
die Vergleichungen mit anderen Rassen (selbst
mit Chinesen) sind nicht besonders lehrreich und
die Zusammenstellungen verschiedener Schilde-
rungen anderer Schriftsteller geben nar bekann-
tes. Interessant sind die Bemerkungen über die
Mischlinge; sehr werthvoll sind die Schilderun-
gen der psychischen Eigenthümlichkeit der Vik-
toria-Australier, sowie die Besprechung ihrer
Verbreitung und Volkszahl, die eingehend und
durchaus lehrreich ist. Hierauf wird (46 — 97)
über Geburt und Erziehung der Kinder gehan-
delt und alle eigenthümlichen Sitten der Vik-
toriastämme (auch anderer Stämme, welche indeß
meist aus den Quellen schon bekannt sind) hin-
sichtlich der Kinderbehandlung, ferner der Be-
schneidung, der Mannesweihe geschildert ; ebenso
werden die verschiedenen Ehegebräuche, die
Internuptialgesetze , die Verwandtschaftsverhält-
nisse u. s. w. besprochen, wobei für Viktoria-
Land viel neues Material sich ergiebt Es folgt
(98—122) die Behandlung der Todten, die Be-
schreibung des täglichen Lebens (123—182), der
Nahrungsmittel (183 — 252), der Krankheiten und
ihrer Behandlung (253-269), hierauf der Klei-
dung, des Putzes, ( — 282) dann der Kunstleistun-
gen und des regen Kunstsinns der Eingebore-
nen und ist diese letztere Besprechung ganz be-
sonders lehrreich. Die Beschreibung von Waf-
fen, Geräthen und Kähnen ist sehr aasgedehnt,
(299—422); dann folgt eine sehr werthvolle
Sammlung australischer Mythen, welche bei gro-
Ethnologische Publicationen aus u, über Australien. 52?
ßem Reichthum viel neues und unschätzbares Ma-
terial bringt, darunter einiges Wichtige auch für
Tasmanien. Der Werth des Bandes wird erhöht
durch eine Menge vortrefflicher Holzschnitte, un-
ter denen freilich die Portraits am wenigsten
gut gerathen sind. Bei dem Kapitel über Krank-
heiten wünschte man noch manchen weiteren
Aufschluß, z. B. über den Verbreitungskreis,
Procentsatz der Erkrankungen und namentlich
über die eingeschleppten Epidemien genauere
Zahlenangaben, die so äußerst wichtig wären.
Doch begreift es sich, daß dieselben äußerst
schwierig oder auch gar nicht zu geben sind.
Die ethnographische Karte , welche auch die
kleineren Stämme und Glanschaften und bei den
größeren den Wanderbezirk angiebt, ist eine
wichtige Beigabe zu dem Bande.
Der zweite Band zerfällt in drei Theile, de-
ren letzter (379 — 439) eingehend die Tasma-
nier behandelt: wichtig ist diese Behandlung
deshalb, weil sie z. Th. aus schwer zugängli-
chen Quellen schöpft und viel Material, auch
manche noch nicht veröffentlichte Mittheilungen
bringt. Von S. 410 an handelt Jos. Milligan
über die Sprachen der Tasmanier und ihre Art
zu sprechen und giebt hierauf ein sehr reich-
baltiges Wortverzeichniß dreier Dialekte (wohl
das reichhaltigste, was vorhanden ist) sowie
kurze Phrasen aus der „native language", ohne
Angabe des Dialects (wie es scheint, aus ver-
schiedenen Dialecten) und sprachlich keineswegs
genau aufgefaßt, da sie von den Vokabularen
nicht selten (und keineswegs etwa dialektisch)
abweichen. Tasmanische Orts- und Personen-
namen so wie einige Lieder (zu Tänzen ge-
gangen) in tasman. Sprache folgen. — Der 2te
Theil umfaßt eine Reihe Appendices. Zuerst
528 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
notes and anecdotes of the aborigines of Australia
(221—284) von Phil. Chauncy, der, seit 1839 in
Australien, seit 1841 District surveyor war und
seine Bemerkungen sind da von wirklichem
Quellenwerth , wo sie, frei von literarischer
Gelehrsamkeit, direkt aus der eigenen Beobach-
tung, aus dem Lebep, dem Verkehr mit den Ein-
geborenen entnommen oder veröffentlichte Be-
richte anderer Personen sind, die im unmittel-
baren Verkehr mit jenen standen. So geben sie
für die jüngste Geschichte, dann aber auch für
das Wesen der Eingeborenen manchen Aufschluß.
Interessant sind auch bei ihm (wie auch Taplin
solche moderne australische Zeichnungen ver-
öffentlicht) die Holzschnitte nach austral. Origi-
nalzeichnungen , welche z. Tb. Engländer mit
ihren charakteristischen Kleidern und Gesten
sehr gut darstellen. Auch Briefe christianiserter
Eingeborenen giebt er wie Taplin (the Folklore
u. s. w.); über die Thätigkeit und den Erfolg
der Missionare äußert er sich sehr günstig. Was
er ferner über Customs and Superstition sagt
(267 f.) enthält werthvolles neues Material, wel-
ches sich z, Th., wie auch der folgende Ab-
schnitt über die Moral Condition der Eingebore-
nen, auch auf Westaustralien bezieht, wo der
Verf. 12 Jahre ebenfalls als surveyor gelebt
hat. Gerade über Westaustralien haben wir ver-
hältnismäßig wenig Material und ist jeder neuer
Zuwachs doppelt erwünscht. Die folgenden
tradition of the Austral Aborigines on the Namoi,
Barwan an other tributaries of the Darling von
Rev. Will. Ridley enthalten einige Ergänzungen
zu den früheren Veröffentlichungen Ridleys; die
notes on the natives of Australia von Albert Le
Souef (289-299) und John Moore Davis (310—
322) und mehr noch die über die Eingeborenen
Ethnologische Publicatiouen über u. aus Australien. 529
vein Cooper's Creek von Alfr. V. Howitt (300—
309), femer die Bemerkungen Will. Locke's ttber
Sprache und Sitten des Stammes von Kotupna
(333 — 339) enthalten manche charakteristische
Züge, welche die genannten Verf. aus ihrem
persönlichen Verkehr mit den Eingeborenen auf-
gezeichnet haben ; besonders interessant sind die
Bemerkungen Howitts ttber die Zeichensprache
der Eingeborenen und die Mittheilungen einiger
Corrobori-texte durch Locke. Das ist eben ein
großes Verdienst der Arbeit Smyth's, daß sie
solche einzelnen, an sich sehr werthvollen, aber
leicht verloren gehenden Aufzeichnungen gesam-
melt und zugänglich gemacht hat. Howitt giebt
noch ausführliche notes on the system of con-
sanguinity and kinship of the Brabrolong tribe,
North Gippsland (323—332), welche zu Taplins
Arbeiten eine erwünschte Ergänzung bilden, in-
dem sie ganz ähnliche Verwandtschaftsverhält-
nisse und Verwandtschaftsnamen im südöstlichen
Viktorialand schildern, wie jener aus Südaustra-
lien. So weit die Appendices A— 6. Appendix
H, hunting the Blacks (by the honorable A. F.
A. Greeves) giebt traurige Beiträge zu dem ÄGe-
setzu des Aussterbens der Schwarzen vor der
Cultur der Weißen; ähnliches, nur noch Schreck-
licheres berichtet Hull (383 f.) in Bezug auf die Tas-
manier — es sind dies nur neue Beispiele für
die bekannte Thatsache, wie die cultivierten
Engländer friedliche Eingeborene überfallen und
abgeschlachtet haben, oft mit der unmenßchlicb-
sten Rohheit. Den letzten Appendix bildet die Ab-
handlung von George Haiford, Prof. der Ana-
tomy u. Physiol, an der Universität Melbourne,
über die Crania der Eingeborenen, in welcher 5
austral. Schädel von verschiedenen Seiten abge-
34
530 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
bildet werden; eine Reihe van Maaßen folgt in
engl. Zollangaben.
Der erste und hauptsächlichste Theil des Ban-
des aber bandelt über die Sprachen (1—220).
Er ist aus 23 (hier wohl zuerst gedruckten) pa-
pers von verschiedenen Autoren zusammenge-
stellt und umfaßt die Sprachen der Eingeborenen
von Lake Tyers, der Brabrolong (beide in Gipps-
land); der Stämme von Lake Hindmafsh und
noch zahlreicher anderer Stämme aus dem Wim-
mera- Gebiet — natürlich die reichste Material-
sammlung für Viktorialand, welche vorhanden
ist. Besonders werthvoll sind die Arbeiten von
Rev. John Bulmer über die Sprache von L. Tyers
(24—39), welcher u. a. mehrere austral. Erzäh-
lungen mit engl. Interlinearversion giebt ; ferner
die des Rev. Hagenauer über den Nord-Wimmera-
Dialekt, der Missionäre Hartmann und Spieseke
von der Sprache des Lake Hindmarsh (S. 50—
59 u. a. verschied. Stellen), Green's Vokabular
und Phrasen der Anwohner desYarra (99 — 115),
Thomas' Grammatik und Vokabular der zwei
Melbourne -Stämme (118—133) nebst vielen
Sprachproben, das Vokabular der „Eingeborenen
in Viktorialand" (wahrschein]. Yarra- und Kü-
stenstämme) S. 133 — 153 ; der Dialekt der „ Ja-
jow-er-ong-Rassea (Loddon. ihre Westgrenze die
Pyrenäen) von Jos. Parker (154— 165); Ebenfalls
merkwürdig ist die Sammlung von einheimischen
Pflanzen- und Ortsnamen* wie dieselben in ver-
schiedenen Sprachen des Viktorialandes vorkom-
men (169—220); Wo es ging, ist bei letztem
die wörtliche Bedeutung des Namens in engl.
Uebersetzung beigefügt.
Dies reiche Material ist jedenfalls sehr dan-
kenswertb, aber es ist eben auch weiter nichts
als eine Anhäufung von Material, wie es gerade
Ethnologische Publicationeii über u. aus Australien. 531
einkam, ohne eine Spnr von zusammenfassender
Durcharbeitung, ja auch nur von Ordnung; zu
verschiedenen Dialekten muß man die Beiträge
hier and da aufsuchen. Ein gutes Register er-
leichtert freilich diese Arbeit ; aber dasselbe war
auch unentbehrlich. Was aber noch schlimmer
ist, und was die Sprachproben bei Woods ebenso
betrifft, wie die in dem offiziellen Band, den
Taplin herausgegeben, sämmtliches Sprachmate-
rial (in Smyth's Werk mit der einzigen Aus-
nahme des vom Missionar J. W. Spieseke von
Lake Hindmarsh gesammelten) ist in englischer
Orthographie geschrieben ! Ja Smyth giebt nicht
einmal irgend welche bestimmte Interpretation
der von ihm verwendeten Buchstaben, wie man
dieselbe doch in den beiden erstgenannten Wer-
ken findet. Zunächst verlangt daher die Be-
nutzung des Materials eine Menge sehr lästiger
Vorarbeiten, die sachlich ganz unnütz sind, und
manche Lauteinzelnheit bleibt dennoch unauf-
geklärt, trotz des im ganzen ja einfachen Laut-
systems der australischen Sprachen. Dies ist bei
der ganzen Lage der Dinge sehr zu beklagen;
um so mehr, als so viele Eigennamen vorkom-
men, und als wir auch nicht selten je nach den
verschiedenen Quellen dasselbe Wort verschieden
geschrieben finden. Wem soll man glauben?
Und um so unbegreiflicher ist diese Art der
Herausgabe, als doch andere sprachliche Arbei-
ten, welche auf Veranlassung der Regierung des
Viktoria-Landes herausgegeben wurden, nach
Ellis' Ethnical Alphabet geschrieben sind, die
Vokabularies of Dialects spoken by aboriginal
natives of Australia nämlich, die zur Intercolonial
exhibition 1866 gedruckt und 1867 in Melbourne
erschienen sind. Leider sind in dem linguistisch
unbrauchbaren englischen Schriftsystem auch die
34*
532 Gott.- gel. Auz. 1881. Stück 17.
offiziellen sprachlichen Erhebungen niederge-
schrieben, welche die Regierung von Neu-Süd-
Wales an die anthropologische Gesellschaft von
Großbritan. u. Irl. eingesendet hat und die in dem
Journal derselben (Bd. VII, 232— 74) abgedruckt
sind. Auch sie zeigen dieselben Vorzüge wie
Smyth's gewaltiges Werk, vor allem große Reich-
haltigkeit, aber auch den gleichen Fehler der
Ungeordnetheit.
Fassen wir nun unser Urtheil über Smyth's
beide Bände zusammen, so vermissen wir strenge
Ordnung und trotz manchen Ansätzen zu weite-
rer Bearbeitung wissenschaftliche Bewältigung
des Stoffes, dem der Verfasser nicht gewachsen
war, und da er ursprünglich Geologe ist, nicht
gewachsen sein konnte. Dieser Stoff aber ist
ganz außerordentlich reich; was zusammen zu
bringen war, ist mit dem größten Fleiß zusam-
mengebracht. Wir haben daher volles Recht,
die Bände, wie wir vorhin thaten, grundlegend
für das ethnologische Studium Australiens in
gewissem Sinne erschöpfend und doch uner-
schöpflich zu nennen. Hierfür gebührt natürlich
Smyth, wie bei den beiden anderen Werken
Taplin und Woods der lebhafteste Dank, aber
gewiß nicht minder auch den Regierungen, für
welche die beiden ersteren arbeiteten. Es ist eine
durchaus beachtenswerte und erfreuliche Er-
scheinung, daß wir die Regierungen dreier
Territorien mit derartigen Veröffentlichungen be-
schäftigt sehen. Hoffentlich fahren sie in die-
ser Thätigkeit fort und schließen auch die noch
weniger bekannten Gebiete des Continents in
den Kreis derselben ein.
Straßburg Nov. 1880.
Georg Gerland.
Leader, Mary Queen of Scots in captivity. 533
Mary Queen of Scots in captivity: A
narrative of events from January 1569 to December
1584, whilst George Earl of Shrewsbury was the
guardian of the Scottish queen, by John Daniel
Leader, fellow of the Society of Antiquaries.
Sheffield : Leader <fe Sons. London : George Bell & Sons,
York Street, W.C. 1880. (XXXVI. 644). 8°,
Die unendliche Litteratnr über Maria Stuart
wächst immer noch Jahr ans Jahr ein gleich
einer Fluth, weil eben der Stoff und das Inter-
esse an ihm unendlich ist. Zu den nicht gerade
häufigen dankenswerthen Erscheinungen gehört
aber ohne Frage das vorliegende Buch. Schon
äußerlich zeigt es sich ungewöhnlich in Einband
und Druck. Ein wissenschaftliches Werk aus
Sheffield als Verlagsort zumal gehört in der
That zu den Seltenheiten. Auf Subscription
herausgegeben ist ihm in dieser beinah veralte-
ten Weise die Liste der Subscribenten vorge-
druckt. Indeß schon die artistischen Zuthaten,
photographische Abbildungen eines gegenwärtig
dem Herzoge von Devonshire in Hardwicke Hall
gehörenden Porträts der Schotten königin und
einiger anderer hervorragenden Persönlichkeiten,
vor allen aber die reichen Belege in den Noten
erwecken Aufmerksamkeit und Vertrauen, die
denn auch nicht unbelohnt bleiben. Der Ver-
fasser, welcher als Redacteur eines Tagesblatts,
Tbe Sheffield and Rotherham Independent, die
Zeit für historische Arbeiten wahrlich sehr zu
Rathe halten muß, bittet seine Leser beschei-
den um Entschuldigung, wenn er sich an einen
so sehr schon zum Ueberdruß bearbeiteten Stoff
wagt Mit Recht aber hebt er hervor, daß alle
Welt sich vorwiegend doch nur um die auf-
regenden Hergänge während Maria's Eönigtbum
in Schottland, ihre Flucht von dort oder um die
534 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
tragische Schlußkatastrophe in Fotheringhay zu
bekümmern pflegt, während die fast achtzehn-
jährige Gefangenschaft, obwohl es auch über
diese Periode an Materialien wahrhaftig nicht
gebricht, weit geringere Aufmerksamkeit erregt.
Von dieser langen Zeit aber sind an vierzehn
Jahre entweder auf dem Schloß in Sheffield
oder in anderen nicht fern abgelegenen Orten
verbracht worden, so daß also zunächst die lo-
calen Beziehungen den Verfasser auf den Ge-
genstand gebracht haben, dessen Erforschung
er mit einem durchdringenden Fleiß obgelegen
hat und dessen Ausführung in klarer, an-
spruchsloser Darstellung, die vielleicht hier und
da von Wiederholung nicht ganz frei ist, der
Sache durchaus entspricht.
Was die Quellen betrifft, so stehen ja auch
für den in Betracht kommenden Lebensabschnitt
Maria's die beiden stattlichen Urkundenwerke
des rassischen Fürsten Labanoff und des Fran-
zosen Teulet zur Verfügung, die überhaupt zu
den hervorragendsten Beweismitteln für die Ge-
schichte in der zweiten Hälfte des seohszehnten
Jahrhunderts gehören. Anderes wird aus eini-
gen viel kritikloseren Arbeiten wie Th. Wright's
Queen Elizabeth and her times oder Miss Strick-
land's Letters of Mary Queen of Scots, sehr viel
Wesentliches über den Grafen von Shrewsbury,
dessen Hut Maria während der längsten Zeit
anvertraut war, und seinen Familienverbindan-
gen aus Lodge, Illustrations of British History
entnommen. Der Verfasser hat aber nicht allein
von diesen und ähnlichen Sammlungen den be-
sten Gebrauch gemacht, sondern es sich nicht
verdrießen lassen die großen Aktenstöße des
Staatsarchivs und die Oottonschen Handschrif-
ten im Britischen Museum, Materialien, die sieh
Leader, Mary Queen of Scots in captivity. 586
zu Händen der englischen Regierung ansammel-
ten, nach den Correspondenzen Burleigh's und
Walsinghain's und den zahllosen von ihren Agen-
ten aufgegriffenen Briefen Maria's, welche schließ-
lich für den erschütternden Hoohverrathsproceß
als schwer lastende Zeugnisse dienten, von
Neuem auf das Sorgfältigste und mit bestem
Erfolg durchzusehn Davon gewähren die aus*
fahrliehen und genauen Mittheilungen in den
Noten so wie die Kritik den besten Beweis, die
er an einigen seiner Vorgänger, namentlich an
Fronde übt. Es ergiebt sich auch an dieser
Stelle wiederholt, daß Froude's Auszüge aus
ungedruckten Quellen der Revision gar sehr
bedürfen. Leader, wie jeder gewissenhafte For-
scher sieht sich genöthigt, vor der unhistori-
sehen Imagination ernst zu warnen, welche das
in England wegen Beines fesselnden Stils Über
die Gebühr bewunderte Geschichtswerk Fronde'*
beherrscht. Selbst bei Labanoff konnten hier
und da einige Lücken ausgefüllt werden. Für
loeale Zwecke than Hunter's Hallamsbire und
gelegentlich selbst die alten Stadtrechnungm
von Sheffield guten Dienst. Der Verfasser
hat die großen Gruppen der einschlagenden
Correspondenzen mit historischem Sinn na*
mentlich auch dahin geprüft, um zu erkunden,
weshalb die einen ergiebiger fließen oder
weniger zuverlässig sind als die anderen, wes-
halb z. B. die Berichte des französischen Ge-
sandten La Motte besser erbalten sind als die
seines Nachfolgers Manvissi&e. Die Beweise
von der Echtheit der in französischer und eng-
lischer Version erhaltenen Mitteilungen von
dem Bekenntniß, das Graf Bothwell vor seinem
Ende im Kerker zu Malmoe abgelegt haben soli,
aus welchem Maria in ihrer Haft großen Trost
536 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
zu schöpfen erklärte, findet er mit Recht unzu-
reichend. Dagegen steht er nicht an, den be-
rüchtigten Schmähbrief, welchen Maria im Jahre
1584 an Elisabeth richtete, der unter Burleigh's
Papieren in Hatfield House aufbewahrt wird, als
authentisch anzuerkennen, was freilich auch La-
banoff im Widerspruch mit allen ultramontanen
Verfechtern der unrettbaren Königin schon vor
ihm gethan hat, indem er nur Zweifel hegt, ob
ein Schreiben mit so indecenten Ausfällen wirk-
lich jemals abgegeben sein könnte. Endlich mag
noch erwähnt sein, daß aus dem Umstände, daß
Maria im Jahre 1575 für ihre Freunde vier in
Gold gefaßte Miniaturporträts in Frankreich an-
fertigen ließ, mit gutem Grund die zahlreichen,
so unendlich verschieden aussehenden Gemälde
hergeleitet werden, die sich von ihr in den al-
ten Schlössern Englands befinden, wogegen das
sog. Sheffield Picture in Hardwicke Hall vom
Jahre 1578 die deutlichen Spuren unmittelbarer
Aufnahme trägt und das Original des in Hat-
field befindlichen und einiger ähnlichen Copien
zu sein scheint.
Mit Auffassung und Urtheil über Maria wäh-
rend der von ihm speciell untersuchten Zeit hält
Leader keineswegs zurück. Auf die Frage, ob
die Ca8settenbriefe, die einst Bothwell abge-
nommen sein sollten und als Beweise in dem
von ihren schottischen Gegnern gegen die nach
England entwichene Königin angestrengten Pro-
ceß gedient haben, echt oder gefälscht gewesen,
geht er als außerhalb seiner Aufgabe liegend
nicht näher ein. Er bezeichnet vielmehr die
Schrift Buchanan's, welche diese Briefe zuerst
publicierte und welche gleich bei ihrem Er-
scheinen im Jahre 1571 auch von Maria in
Sheffield mit großem Unwillen gelesen wurde,
Leader, Mary Queen of Scots in captivity. 537
als eine gemeine Parteischrift, die mit niehten
als historische Quelle dienen könne. Er ist über-
dies sehr geneigt sich den geschickten Gegen-
beweisen Hosack's anzuschließen, der unter den
Neueren, wie man bereitwillig zugeben wird, als
der bei weitem wirkungsvollste Sachwalter für
Maria's Unschuld an der Ermordung Darnley's
aufgetreten ist. Leader selber aber tritt nicht
minder mit der erforderlichen Uneingenommen-
heit an seinen Gegenstand heran und kann ge-
rade deshalb nicht anders als auf jeder Seite
seiner gediegenen Arbeit den unumstößlichen
Nachweis liefern, daß das ganze Leben Marias
eine einzige Conspiration, ein unentwirrbares
Netz von verräterischen Intrigen und sie selber
mit eben so endlosen Versicherungen ihrer Auf-
richtigkeit und Ergebenheit, zu denen die eigen-
bändigen Urkunden das Gegentheil bezeugen,
eine vollendete Schauspielerin und Heuchle-
rin war.
Indem nun Leader bis in die kleinste Ein-
zelheit ihrem traurigen und immer unerträglicher
werdenden Dasein nachgeht, weiß er doch ener-
gisch die großen Fäden zusammen oder aus-
einander zu halten, die sieb durch das Gewebe
hindurch ziehn. Niemals hatte Maria, auch
nachdem sie hilfeflehend und anfänglich als Gast,
als Souveränin über die englische Grenze ge-
kommen, eingewilligt, den ihr im Vertrage von
Edinburgh schon acht Jahre zuvor auferlegten
Eid zu leisten, daß sie Titel und Wappen von
England, die sie einst als Königin in Frankreich
angelegt, entsage, bis sie auf natürlichem Wege
Elisabeth beerben würde. Selbstverständlich
richteten daher auch in England alle, welche
als Anhänger des alten Glaubens oder aus an-
deren Grttnden dieser grollten, ihre Augen auf
538 Gott. gel. Anz. 1881. Stock 17.
die schöne flüchtige Königin, welche in den er-
sten Jahren immer noch als Fürstin von glei-
• ehern Bang behandelt wurde. Bis 1571, bis zu
dem mit dem Herzoge von Norfolk angezettel-
ten Com plot, welches auf Spanien bauend den
Aufstand in England, die Ermordung Elisabeth's
und die Thronerhebung Maria's bezweckte, hatte
die Königin von England denn auch den Ge-
danken keineswegs fahren lassen, jene nach
Schottland zurückzufuhren. Am Allerwenigsten
hätte sie sich entschließen können wie den vor-
nehmen Peer ihren Untenthan auch die gesalbte
Königin eines anderen Beiebs für den begange-
nen Hochverrath mit der Strafe an Leib und
Leben verantwortlich zu machen und damit das
göttliche Recht der Krone, welches sie selber
so hoch hielt, anzutasten. Daß sie ihr aber die
Freiheit nicht wieder gewähren durfte, stand
fortan fest. In der ganzen Zeit von 1572 bis
1586 ist daher Maria's Befreiung, wie oft auch
von beiden Seiten ein Vertrag in Anregung kam
und selbst verhandelt wurde, ernstlich nicht mehr
in Erwägung gezogen worden. Es war Maria's
Verhängniß, daß sie den Ausgang, der eine
Weile für ihre Nachfolge in England entschieden
günstig gestanden, nicht in Geduld erwarten
konnte. Ihre Hitze und Leidenschaft, die Ver-
wegenheit ihrer Anhänger in England und Schott-
land, der Rückhalt, den sie an Frankreich wie
an Spanien zu haben meinte, die doch unter
einander niemals einig werden konnten, der
Papst und seine Jesuiten, Alles wirkte zusam-
men, so daß sie zu einem Werkzeug der ent-
gegen gesetztesten fremden Zwecke gerade mit
ihren ewigen Verschwörungen, die doch stets von
Neuem auf Ermordung der exeommunicierten
Königin von England abzielten, schließlich in
das Verderben rann.
Leader, Mary Queen of Scots in captivity. 539
Ohne dem Autor, der sich streng am chro-
nologischen Faden hält and häufig die mangelnde
Zeitbestimmung seiner Documente glücklich zu
lösen versteht bis ins Einzelne zu folgen , wird
es dem Referenten, falls er nicht ganze Ab-
schnitte aussehreiben will, fast unmöglich einer
so tüchtigen Leistung gerecht zu werden. Er
muß sich damit begnügen Dies und Jenes be-
sonders herauszuheben, wo, wie ihm scheint, das
Verständnift der oft recht verwirrten Verhält-
nis8e vorzugsweise gefördert worden ist. In-
sonderheit ist es dem Verfasser gelungen das
enge Stillleben Maria's, das immer mehr in
strenges GefiLngniß auswächst und das er mit
der den Engländern eigenen Meisterschaft der
Kleinmalerei schildert, in die richtige Beziehung
zu bringen mit der gewundenen Politik der eng-
lischen Regierung und dem universal europäi-
schen Hintergrunde, auf welehem sich in der
Kirche wie in den Großreichen der Zeit Refor-
mation und Gegenreformation in wüthender
Feindschaft gegenüber standen. Wer liest nieht
mit Tbeilnahme von den Beschäftigungen, Er-
holungen, Tändeleien dieser Gefangenen, ihrer
Stickerei, den selbst gearbeiteten Geschenken,
die sie damit,- namentlich auch an Elisabeth
machte, ihren Aufträgen in Paris und London.
Wie ernstlich leidend sie oft war, wird vor Allem
dadurch bestätigt, daß ihr im Sommer wieder-
holt der Besuch der warmen Quellen von Buxton
gestattet werden mußte. Andererseits aber er-
krankte sie nachweislich jedesmal besonders
heftig und suchte sich selbst dem zum Bedürf-
niß gewordenen Umgange mit ihrer Umgebung
zu entziehen, wenn sie entweder, wie öfter ge-
schah, auf einem der vielen geheimen Anschläge
ertappt worden war oder den Sendboten der
540 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
Regierung ausweichen wollte, die mitunter zu
Conferenzen und Untersuchungen bei ihr ein-
trafen.
Gegenüber der Spürkunst der letzteren und
der immer schärferen Einsperrung ist es geradezu
erstaunlich, daß doch auch immer neue Mittel
und Werkzeuge gefunden wurden um die Cor-
responded, meist mit großem Raffinement ver-
steckt, hin und her zu befördern. War ihr doch
bis zuletzt ein Rest eigener Dienerschaft ver-
blieben. Bestechung und Künste aller Art hal-
fen andere gewinnen, und selbst die Diener de-
rer, die sie zu Falle bringen wollten, trugen ge-
schäftig zu dem geheimen Verkehr bei. Wer
wollte es leugnen, daß Elisabeth sie hartherzig,
erbarmungslos, besonders aber überaus knauserig
behandeln ließ. Jahre lang schwankte sie, hielt
jeden Entschluß zurück, so daß ein rasches,
blutig abschließendes Verfahren, wie es ihre
Räthe und bald auch die englische Nation for-
derten, statt des langen Märtyrerthums fast eine
Wohlthat gewesen wäre. Aber man staunt doch
nicht minder, wenn man aus Maria's eigenen Brie-
fen die Ueberzeugung gewinnt, daß, wie sie we-
der jemals einwilligte, daß ihr Sohn vor ihr
oder ohne sie König in Schottland sei, oder wie
sie Alles aufbot, um der Brautwerbung Alen$on'8
um die Hand Elisabeth's und der Möglichkeit
einer Descendenz derselben zu begegnen, sie
doch von . den eigenen Helfershelfern sehr übel
und geradezu verrätherisch bedient wurde. Ver-
trauensselig, trotz aller Bedrängniß fest in ihrer
dynastischen und confessionellen Ueberzeugong,
umstrickte sie von ihrer Haft aus gelegentlich
noch immer junge Männer mit hexenartigem
Zauber. Aber es ist doch eine eben so auf-
fällige Thatsacbe, daß der Bischof von Roß wie
Leader, Macy Queen of Scots in captivity. 541
der Bischof von Glasgow, welche draußen nach
einander Jahre lang ihre Bevollmächtigten wa-
ren, durch deren Hände die allergeheiirsten An-
zettelungen liefen, im Factionstreiben der Mächte
oder geradezu bestochen Untreue an ihr be-
giengen, daß ihr eigener Oheim, der Cardinal
von Guise, ein hervorragender Wortführer rück-
sichtsloser Orthodoxie selbst über Frankreich
hinaus, gleich anderen hochgeborenen Herren
dort sich an dem französischen Witthum Maria's
vergriff, aus welchem diese nach Elisabeth's
wiederholter Forderung einzig und allein ihre
Kerkerhaft bestreiten sollte. Und haben ihre
Schwäger, zwei Könige von Frankreich hinter
einander, hat die alte Königin Katharina, bat
Philipp IL, der die Durchführbarkeit oder Un-
möglichkeit seiner Pläne über alle Begriffe be-
dächtig und langsam zu prüfen pflegte, die arme
unselige Fürstin anders als einen Spielball in
dem gewaltigen Wettkampf der Zeit behandelt?
Schließlich muß noch auf die nicht am We-
nigsten bedeutende Seite des Buchs, die genaue
Erörterung der mit dem ganzen Hergange eng
verschlungenen Verhältnisse des Grafen von
Shrewsbury hingewiesen werden. Aus dem
ruhmvollen Geschlecht der Talbots, der größte
Grundherr in Yorkshire, ein Ehrenmann von
etwas melancholischem Temperament, war er
während dieser Epoche mit der Hut der Ge-
fangenen meist in seinen eigenen Häusern mit
kostspieliger Verwendung seiner Leute und Geld-
mittel betraut worden und gerieth nun zwischen
die Intrigen, die Berechnungen, den niemals
rastenden Argwohn der beiden Königinnen nicht
nur, sondern zumal unter den »bösen Bann und
den maßlosen Ehrgeiz der Gemahlin, der er in
zweiter Ehe angetraut worden. Als deren Toch-
542 Gott. gel. Anz. 1*81. Stück 17.
ter sich mit dem Grafen Lennox, einem Brnder
des ermordeten Darnley, vermählt und die kleioe
Arabella Stuart geboren hatte, die Gräfin von
Shrewsbury aber für dieses Kind auf die um-
strittenen Throne von England und Schottland
zu sinnen begann, da fiel nicht nur ein neuer
Zankapfel in den unheilbaren Streit der beiden
gekrönten Weiber, sondern erfuhr der Graf außer
dem gesteigerten Mißtrauen derselben und den
niemals endenden Klagen, welche er in seinen
Briefen an Burleigh vorzubringen hatte, noch
den ärgsten Unfrieden im eigenen Hause. Um
so mehr sprechen alle Zeugnisse, besonders die
immer noch menschliche Behandlung für ihn,
welche er Maria Stuart angedeihen ließ. Elisa-
beth hat nicht umhin gekonnt, ihm nach Nor-
folk's Untergang die hohe Würde des Earl Mar-
shall von England zu verleihen, aber nicht min-
der von ihm gefordert, daß er als Lord Steward
dessen Proceß leitete und späterhin einer der
Strafrichter der Schottenkönigin war. Aber
glücklich schätzte er sich doch, daß endlich,
nachdem Throgmorton's Verschwörung, hinter
welcher der spanische Gesandte Mendoza and
englische Jesuiten steckten, im Jahre 1584 an
den Tag gekommen war, ihm sein schweres,
unerquickliches Amt, dem er fünfzehn Jahre,
die besten seines Lebens, hatte opfern müssen,
abgenommen wurde und er sich nach langen,
vergeblichen Versuchen persönlich mit glänzen-
dem Erfolg bei Hofe rechtfertigen konnte. Be-
, kanntlich hat ihn Sir Amyas Paulet, der strenge
Puritaner, für den Best der Leidenszeit Maria's
abgelöst, ein Abschnitt, dessen Darstellung sich
Leader mit Recht erspart hat, da ihm vor eini-
gen Jahren dureh die urkundlichen Mittheilan-
Mihalkövics, Allgemeine Anatomie. 543
gen des Jesuiten Morris eine sehr willkommene
Beleuchtung zu Theil geworden ist
R. Pauli.
A'lt&länos Boncztan (Allgemeine Anatomie) irta
G. Mihalkövics. Budapest , Franklin-Tärsulat
Könyvnyomdäja. 1881. VDI und 740 S. in Octav.
Mit 544 Figuren in Holzschnitt.
Die Einigung Deutschlands hat dazu beige-
tragen, dem Königreich Ungarn einen hohen
Grad von politischer Selbständigkeit zu ver-
schaffe«, deren Früchte anoh auf dem Gebiet
eigener wissenschaftlicher Forschung allmählich
reif werden. Eine erste Forderung, nämlich
der Besitz von Lehrbüchern, die in ungarischer
Sprache verfaßt sind, ist von dem Verf. in Be-
treff der allgemeinen Anatomie auf ausgezeich-
nete Weise erfüllt worden. Ref. kann freilich
nur nach den zahlreichen und vortrefflich aus«
geführten Holzschnitten urtheilen; diese reden
aber, eine für das Auge des Anatomen sehr
verständliche Sprache und glücklicherweise ist
der Bau des menschlichen Körpers im Lande
der Magyaren ganz derselbe wie anderswo,
eventuelle Differenzen der Raeenschädel selbst*
verständlich ausgenommen. Begegnet man zwi-
schen den Abbildungen auch manchen guten
Bekannten, unter denen Ref. zahlreiche Gopieen
seiner eigenen Holzschnitte mit besonderer
Freude begrüßen konnte, so hat der Verf. doch
eine hinreichende Anzahl von eigenen neuen
Bildern gegeben, um die Aufmerksamkeit der
anatomischen Welt auf sie zu ziehen. — Be-
kannt ist der Verf. von früher her durch Ar-
beiten, die unter Ludwig's Leitung in Leipzig
und bei Waldeyer in Straßburg ausgeführt, in
deutscher Sprache gedruckt worden und deren
544 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 17.
Resultate bereits in die deutschen Lehrbücher,
jedenfalls in das vom Ref. herausgegebene
Handbach der menschlichen Anatomie (Bd. I,
1876; Bd. II, 1879, Bd. III, 1880) übergegan-
gen sind. Nur der Iste eben genannte Band
(Allgemeine und microscopische Anatomie) hat
vom Verf. benutzt werden können. — Die Aus-
wahl der Holzschnitte ist vortrefflich, ihre
Schönheit hebt sich durch das glatte Papier,
wie überhaupt die Ausstattung nur zu loben
ist. Wenn der vom Verf. in Aussicht gestellte
zweite Band, welcher die specielle Histologie
enthalten soll, entsprechend aasfallt, so wird
man den ungarischen Studenten der Medicia
zum Besitz ihres ersten und einzigen Lehr-
buches der Histologie incl. Entwickelung der
Gewebe gratulieren dürfen. Für den selbstän-
dig Forschenden können sich die jedem Gapitel
angehängten Literatur- Verzeichnisse förderlich
erweisen; sie umfassen zwar nur die letzten
Jahre (seit 1870), was auf den ersten Blick son-
derbar aussieht, indessen seine Erklärung in
folgenden Umständen findet. Erstens sind wich-
tigere Arbeiten früherer Zeit gelegentlich in No-
ten citiert und zweitens ist im letzten Decenninm
eine moderne Histologie in Deutschland ent-
standen, welche vermöge der Verbesserang der
Hülfsmittel, die erst seit jener Zeit etwa Allge-
meingut geworden sind, in der That eine neue
Epoche repräsentiert. Letztere dürfte nicht so
rasch vorübergehen wie manche scheinbar neue
Aera, die in Wahrheit als von etwas ephemerer
Natur sich herausgestellt bat
W. Krause.
Für die Redaction rerantwortlich : F. Bechtd, Director d. Gott. gel. Abi.
Verlag der DittericK sehen Verlags- Buchhandlung.
. Druck dir Meterich'schm Univ.- Buchdruck*« ( W. Fr. Xtmtnmrl
546
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 18. 19. 4. u. 1 1. Mai 188 1.
Inhalt: 0. Kaufmann, Deutsche GescMehte bis auf Karl den
Grotten. Von Jl Mtüttm. — U BL Zote ab erg, La ehrontyne de
Jean eVeque de Nikiou. Von Tk. Nöldek*. — T h. Schreiber, Die
antiken Bildwerke der Villa IadorUL Yon A. MiduuUa.
s Eigenmächtiger Abdruck ton Artikeln der Gott. gel. Ans. rerboten s
Deutsche Geschichte bis auf Karl den Gro-
ßen. Von Georg Kaufmann. Bd. I. : Die Ger-
manen der Urzeit. Leipzig, Duncker und Humblot.
1880. 860 S. 8°.
Georg Kaufmann in Straßburg verdanken wir
schon eine erhebliche Anzahl Monographien über
Episoden der römischen Kaiserzeit, des deut-
schen Alterthums und der frühen Kircbenge-
schicbte. Zur Kaiserzeit hat er mehrere Unter-
suchungen über Theodosius den Großen, über
Apollinaris Sidonius, fiber die Fasten der späte*
ren Kaiserzeit als Mittel zur Kritik der west-
römischen Chroniken, über die Stellung der Bö*
mer in den Staaten der Völkerwanderung, das
Föderatverhältniß des Tolosanischen Reichs zu
Rom, den Combinator Prosperi u. a. geführt.
Zur deutschen Geschichte gab er kritische Erör-
terungen über die Burgunder in Gallien, über
den Verfasser der lex Salica, die Entstehung
des deutschen Königthums und der Vassalität und
über die Säcularisation des Kirchenguts durch
35
646 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19..
die Söhne Karl Martells. Zur kirchlichen Ent-
wickelung aber behandelte er namentlich den
heiligen Martin von Tours und als Bilder der
heidnischen nnd der christlichen Kultur während
des 5. und 6. Jahrhunderts die Rhetorenschulen
und Klosterschulen.
Jetzt macht er, wie er sagt, nicht ohne Za-
gen in dem vorliegenden Werke den Beginn
mit einer Gesammtdarstellung der altern deut-
schen Geschichte, die er bis auf Karl den Gro-
ßen herabzuführen beabsichtigt. Er will, laut
der Widmung an Rudolf Sohm, nachdem er sich
seit mehr als zehn Jahren mit diesem Gedanken
getragen und immer wieder zur Monographie
zurückgekehrt ist, nun er seinen Entschluß ge-
faßt, den Blick unverrückt auf das Ganze rich-
ten, und es soll ihm ein geringerer Kummer
sein, wenn ihm bei Benutzung der theilweise
vor vielen Jahren angestellten Untersuchungen
oder fremden Forschungen ein Irrthum im Ein-
zelnen unterläuft, als wenn er fehlgreife in der
Erfassung des Zusammenhanges,' in welchem die
Thatsachen mit einander stehn. Dabei erklärt
er die Darstellung ohne gelehrte Begründung
geben zu wollen, denn solle das nicht blos zum
Scheine geschehen, so müsse sich das Buch in
ein Bündel von Monographieen auflösen. Er
will deshalb mit wenigen Ausnahmen vermeiden,
sich mit den früheren Bearbeitungen auseinan-
derzusetzen oder die Schriften aufzuzählen, denen
er da folgte, wo er nicht selbst die Unter-
suchung führte. Auch über seine Gesammtan-
schauung von der Periode, die er behandeln
will, spricht er sich Sohm gegenüber aus.
In der Zeit, in der sich das römische Kai-
serreich mit den Germanen berührte, sieht er
an und für sich keinesweges eine Periode des
6. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 547
Rückschrittes. Das römische Volk vollendete
in der Form des Kaiserstaates seine eigene
Entwicklung und erschloß der Kultur neue
weite Gebiete. Aber bei kultivirten Völkern
ist aller Despotismus kurzlebig und ohne eine
gesunde Verkeilung der Güter kann vollends
kein Staat bestehen. Deshalb war das römische
Reich bereits im 4. Jahrhundert zur Ruine ge-
worden, längst ehe es die Germanen zerstörten.
Rom hatte noch immer eine Fülle von gelehr-
ten und in jedem Zweige einer höheren Cultur
erfahrenen Menschen; es fehlte ihm auch nicht
an kriegerischen Talenten und an dem Muthe,
der für seine Ueberzeugung freudig das Leben
läßt Dazu kam der Reichthum an Capital je-
der Art, ein Schatz geschichtlicher Erinnerun-
gen, die selbst in schlaffen Seelen Begeisterung
weckten, und endlich eine gewaltige Erneue-
rung des religiösen Lebens. Aber es war alles
vergebens. Hoffnungslos und rettungslos ver-
brauchten sich alle diese Kräfte und Gaben in
gegenseitiger Vernichtung. Wer sich die Augen
nicht verschließt, muß hier begreifen lernen,
daß der Staat die unentbehrliche Grundlage
alles gesitteten Daseins bildet. Der Staat muß
den Menschen erst herausheben und sicher stel-
len vor den Flut hen gemeiner Leidenschaften,
dann mag Kunst und Religion das Werk voll-
enden. Aber ohne ihn vermögen sie nichts,
ohne ihn erzeugen sie nur rasch welkende Bltt-
then, denen das Gebäude fehlt, das sie schmücken
sollen. Die Völkerwanderung ttberfluthete diese
Welt der alten Kultur mit barbarischen Völ-
kern : der Osten mit Slaven, das Abendland mit
Germanen. Die alte Kultur sank in Staub.
Aber wo Germanen zerstört hatten, da wuchs
lin frischer Wald von jungen Völkern aus den
35*
648 €kttt. gel. Ans. 1881. Stück ia 19.
Ruinen. Freiheitssinn , Arbeitskraft und «nt-
wiokelungsföhige Anfänge einer neuen staat-
lichen Ordnung haben sie als Saat eingestreut
in den von den Arbeitsresultaten vieler Jahr-
hunderte gesättigten Boden.
In dieser seiner Auffassung bestreitet der
Verfasser lebhaft, daft man über diese Periode
nichts wissen könne, was sich zu wissen lohne.
Allerdings blieben uns mit Ausnahme der Hel-
den der Kirche die handelnden Personen meist
fern und fremd; oder es treten doch nur ein-
zelne Züge ihres Wesens hinreichend scharf
hervor. Man müsse zufrieden sein, wenn es
gelinge, den Platz zu bezeichnen, auf dem der
Mann stand, die Aufgabe, die er erfüllte. Wolle
man näher eindringen in das Geheimnis, wie
sich seine Persönlichkeit gestaltete und verhielt
in dem Kampfe mit den sie umgebenden Not-
wendigkeiten, so müsse man das Urtheil fast
immer auf Grund von zerstreuten Blättern spre-
chen, die gerade zufällig aus den Akten seines
Lebens erhalten sind. Aber das sei ja auch
nicht die einzige Aufgabe der Geschichte, wenn-
gleich die reizvollste. Die Geschichte werde in
erster Linie nicht für die Todten geschrieben,
nicht um ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen,
sondern für die Lebenden ; bei aller Dürftigkeit
sei die Ueberlieferung dieser Periode doch reich
genug, um einen Ueberblick über dieEntwicke*
lung der Gesellschaft zu gewähren und ein er-
schütterndes Bild von dem Werden und Ver-
gehen menschlicher Lebensordnungen.
Man muß anerkennen, daß der Verfasser die-
ser Anschauung von den Anforderungen an den
Geschichtsschreiber in erfreulichem Maße gerecht
wird. Mit steigendem Vergnügen und Interesse
wird Jeder der lebensvollen bewegten Darotel-
6. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Or. 649
long der Persönlichkeiten folgen, ans deren Cha-
rakter und Handlungsweise wir das Wesen des
Volkslebens und die Motive der Zeitereignisse
verstehen lernen. Der Verfasser ist für fesselnde
historische Schilderung ungewöhnlich begabt
and übt sie mit sehr gewandter, leichter und
klarer Feder.
Der vorliegende 1. Band enthält nach einer
Einleitung, die die gesäumte Entwicklung kurz
überblickt, im ersten Buch die Geschichte der
Germanen bis 375 n. Chr. Fünf Kapitel er-
zählen die Vorgänge der vorgeschichtlichen Zeit,
die Kämpfe der Germanen und Römer bis 16
?. Chr., den Aufstand des Civilis, die Bildung
des Zehntlandes und den Markomannenkrieg,
endlich die Völkerwanderung in ihren alaman-
niöohen und ihren gothiscben Vorstößen.
Das 2. Buch schildert die Zustände, das
Land, das Volk, seine Zahl und Gliederung,
den Geschlechterstaaft, die Stände, die Heeres-
verfassung, die Volkswirthschaft , die Gefolg-
schaften, den Staatsverband, die Landsgemeinde,
die Hnndertschafte und den Rath der Großen,
ferner das Königthnm, die Gesammt- und die
Theibtaaten , Fehderecht und Blutrache, Recht
und Gericht, Leben und Sitte, endlich auch
Poesie, Runen, Religion und Volkscharakter.
Dazu werden als Anbang ein Exkurs über den
Stamm der Sueben, ein Sttbnevertrag oder eine
„Liebliche Richtung" zwischen den Sippen des
Todtschlägers und des Getödteten, aufgerichtet
im Jahre 1587 zu Appenzell, und eine Abhand-
lung Aber die Runen und das lateinische Alpha-
bet beigegeben.
Das 3. Buch behandelt die Zeit des Ueber-
ganges, die Westgothen von 375 bis 419, und
führt uns das geistige Leben des vierten Jahr-
550 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18.19.
hunderte, Ulfila and die Bekehrung der Gothen,
die Germanen im römischen Reiche und das
Eingreifen |der Hunnen, dann die Westgothen
nnd das römische Reich bis zur Schlacht bei
Adrianopel, die Zeit des Theodosius nnd die
Westgothen, endlich die beiden großen Figoren
des Alarich nnd Stilicho vor. Ein Anhang ver-
breitet sich über die Auffassungen der älteren
deutschen Geschichte von Moser bis auf Roth
und Sohm. —
Seinem ausgesprochenen Zwecke nach kann
der Verfasser beanspruchen, daß vor allem auf
seine Darstellungsweise Werth gelegt werde.
Es kommt ihm in erster Linie auf wirkungsvolle
Vorführung der Momente an, welche entschei-
dend für den Gang der Ereignisse und damit
für die Entwickelung der Volksgeschichte waren.
Wir stehen davon ab zu zeigen, wie er uns
das große Drama des Kampfes der Römer um
Germanien entrollt. Kein Geschichtsschreiber
wird dem Griffel des Caesar und Tacitus neue
Züge beifügen wollen, er kann nur streben, den
Scenen ihren vollen Werth zu lassen, die diese
Meister als die ergreifenden Wendepunkte em-
E fanden. Kaufmann zeigt uns deshalb mit le-
endiger Anschaulichkeit Caesar mit seinen zit-
ternden Römern dem Ariovist gegenüber, der in
seinem barbarischen Stolze an dem wiederer-
weckten Selbstvertrauen des Kulturvolkes su
Grunde geht. Auf die Tbaten Caesars in Gal-
lien folgen die Züge des Drusus und Tiberius
in Germanien, das Verbalten des Varus und
der Freiheitskampf Armins. Die Varusschlacht
schildert der Verfasser mit packenden doch nir-
gend pathetischen Zügen. Den Forschungen
über die Oertlichkeit gegenüber verhält er sich
sehr skeptisch. In gleich ruhiger und doch von
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 661
frischer Empfindung durchdrungener Auffassung
der Quellen werden die Kämpfe des Germani-
cu8, der Rückzug des Gaecina und endlich der
letzte Zusammenstoß mit Armin erzählt. Mit
voller Lebendigkeit spielt sich das Ringen um
die Entscheidung vor uns ab, in welchem alle
Siege der Römer nur Rettungen vor dem äußer*
8ten Untergange, alle Niederlagen der Deut-
schen nur Zeugnisse ihrer Unüberwindlichkeit
waren. Diese Unüberwindlichkeit besiegelte
Tiberius mit seinem Entschlüsse, der Rhein solle
die Grenze sein, und erkannte damit an, daß
Armin in der That der Befreier Deutsch-
lands war.
Daran schließt sich der Verlauf des batavi-
schen Aufstands, des Markomannenkrieges und
die alamannische und die gothische Periode der
Völkerwanderung. Letztere führt der vorliegende
Band nur bis zu dem Abzüge der West-
gothen fort.
Wir glauben aus diesem Gange der Dar-
stellung einige Episoden herausgreifen zu sollen,
um zn zeigen, wie der Autor seinen Stoff be-
handelt. Ueberall tritt mit Recht die Persön-
lichkeit, als der wahre Inhalt der Geschichts-
erzählung in den Vordergrund.
Nach der Schlacht bei Naissus an der Morawa
269 schrieb der Kaiser Claudius: „320,000 Go-
then habe ich vernichtet, auch ihre 2000 Schiffe
versenkt, die Flüsse sind mit Schildern bedeckt
und das ganze Küstenland mit Schwertern und
Lanzen. Man kann den Boden nicht sehen vor
der Masse der Leichen". Der Brief ist ein Sie-
gesbulletin, der auf die Stimmung wirken soll.
Die Römer wurden nicht übermttthig durch den
Erfolg. Gerade in dem Jahr nach jener Schlacht
überließ Claudius trefflicher Nachfolger den Ger-
562 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 16.19.
then das ganze so hartnäckig umstrittene Ge-
biet jenseit der Donau.
Es war der gewaltige Krieger Aurelian, der
sich dazu entschloß. „Hand am Schwert" nanu-
ten ihn die Soldaten, als er noch Tribun war,
und erzählten Wunderdinge von seiner Tapfer-
keit. Im Sarmatenkriege habe er an einem
Tage 48 Barbaren mit eigener Hand getödtet,
im Ganzen aber fiber 950. Von den Soldaten
kam die Kunde ins Volk, und die Knaben san-
gen davon ein Lied beim Soldatenspiel:
Tausend, Tausend, Tausend, Tausend. Tausend habe
ich erschlagen,
Ich allein, ich habe Tausend, Tausend, Tausend Mann
erschlagen,
Tausend, Tausend Jahr soll toben der, der Tausend,
Tausend schlug;
So viel Wein im Faß hat Keiner, als der Eine Blut
vergoB.
So furchtbar er sich den Feinden machte, so
streng hielt er die Soldaten im Zaum. Er war
eines Bauern Sohn aus den Donaulanden, hatte
von unten auf gedient und wußte, was Notjj thai
„Willst Du Tribun sein , ja wenn Du über-
haupt am Leben bleiben willst", schrieb er sei-
nem Stellvertreter, „so halte die Soldaten in
Zucht. Niemand r$ube auch nur einen Hahn
oder ein Ei, Niemand reiße eine Traube vom
Stock, oder zertrete die Saat. Keiner fordere
Salz, Oel oder Holz, Jeder sei zufrieden mit
seiner Lieferung. Von der Beute bereichere
sich der Soldat, nicht von den Thränen der
Bürger. Die Waffen müssen rein, das Eisen
muß geputzt, das Schuhwerk stark sein. Er
gehe reinlich, verthue seinen Sold nicht in der
Schenke, sondern bewahre ihn in seinem Gttrtd.
A<? 4rme gl*ta?e die Refte, pn<l aw Finger der
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 553
Ring. Er striegele das Saumthier and verkaufe
das Futter nicht Einer diene dem andern. Wer
erkrankt, soll von den Aerzten unentgeltlich be-
handelt werden; aber an die Wahrsager sollen
sie ihr Geld nicht wegwerfen. In den Quartie-
ren halte sich jeder anständig, und wer Streit
anfängt, soll mit Schlägen bestraft werden".
Fünf Jahre kanm, 270—275, war Aurelian
Kaiser; aber in diesen fiinf Jahren hat er an
der Donan mit den Gothen gestritten, am Po
mit den Atanunen, in Gallien mit einem Usur-
pator, in Aegypten einen Aufetand gebindigt
nnd in Syrien die stolze Zenobia besiegt, ihre
feste Stadt Palmyra erstürmt und die zahllosen
Schaaren der Araber und Perser zerstreut, die
ihr zu Hülfe zogen. Eben war er von diesem
syrischen Fetdznge wieder in Enropa angelangt,
da kam die Nachricht, daft die Palmy rener den
Vertrag gebrochen nnd den Aufstand erneuert
hätten. Sofort kehrte er um nnd strafte die
Stadt mit furchtbarer Strenge. Er achtete we-
der Entfernung noch Ermüdung. Von einem
Ende des Reiches eilte er zum andern, immer
kämpfend, strafend, sichernd and in allen Käm-
pfen schließlich siegreich. Sein Triumphing
zeigte den Körnern die mit Gold nnd Edelsteinen
in zierlichster Kunst geschmückten Hofwagen
ans Palmyra nnd das einfache, von vier ge*
zähmten Hirschen gezogene Gefährt eines gothi-
schen Königs. Die gelehrte Königin Zenobia
ging in dem Zage, mit goldenen Ketten gefes-
selt, nnd zehn gothische Weiber, die in Männer-
traeht im Männerkampfe mitgestritten hatten.
Ans allen Enden der Erde brachte er die Zeu-
gen seiner Siege, er war in Wirklichkeit der
Erneuerer des römischen Reiches. Und dieser
gewaltige Held entschloß sich dazu, den Gothen
564 Gott. gel. Am. 1881. Stück 18. 19.
das linke Donauufer Preis zu geben; kein Zwei-
fel, daß es nicht zu behaupten war. —
An die wildbewegte Periode des Diocletian
und Constantin knüpft das dritte Buch die
Schilderung der Vorgänge von Constantin bis
znm Einbruch der Westgothen und deren Schick*
sale bis 419.
Das vierte Jahrhundert ist die Zeit der Rhe-
toren Libanius und Themistius, der Kaiser Con-
stantius und Julianus, der Theologen Äthans-
sins, Arias und der großen Cappadocier. Um
den Unterschied unbegreiflicher Begriffe stritt
anf den Straßen der Pöbel mit dem Knittel und
in den Kirchen stritten die Bischöfe in zahl-
losen Concilien , Audienzen , Gerichtsversamm-
langen.
Die Bbetoren werden mit Fng zuerst ge-
nannt ; denn sie gaben der Zeit den Charakter.
Julian war der Rhetor auf dem Throne, und der
Streit der Bischöfe war eine Fortsetzung des
Streites der Rhetoren. Wohl lebte in dem kai-
serlichen Helden und in dem Stolze der Bischöfe
noch etwas anderes; aber nie hätten sie diese
Wege eingeschlagen, wären sie nicht von der
Rhetorenschule her gewohnt gewesen, Alles mit
ihren Worten zu meistern. Es gab nichts, das
man auf sich beruhen ließ, das man einfach
anerkannte, weder ein Recht der Menschen oder
eine Einrichtung der Väter, noch ein Gebeimniß
des Herzens. Mit allem spielte die kecke Zange
oder die allmächtige Hand, mochte sie nun ge-
leitet sein von ehrlicher Ueberzengung oder von
Laune und Leidenschaft. Es stand nichts fest.
Der Mensch war das Maß aller Dinge. So ver-
schieden die Ziele sind, denen die Einzelnen
nachgehen, darin erweisen sie sich doch alle
als Kinder der Zeit, und der Eindruck ist sei-
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 555
ten erhebend: auch gut angelegte Naturen er-
scheinen in widerlicher Mischung.
Constantius, der Mann der Pflicht, der am
schwelgerischen Hofe mäßig lebte, den Schlaf
jederzeit der Arbeit opferte nnd selbst auf die
kleinen Behaglichkeiten des Lebens verzichtete,
um der Würde seiner Stellang nichts zu ver-
geben — dieser Mann der Pflicht ward znm
scheußlichen Despoten. Er mordete seine Ver-
wandten nnd jeden Andern, der seinen Verdacht
erregte, nnd knechtete die Gewissen auf die un-
erhörteste Weise. Er wollte das Beste der
Kirche, der Streit sollte aufhören, die Wahrheit
an den Tag kommen, aber er endete mit will-
kürlicher Anordnung. Grade je schroffer er
auftrat, je mehr ward er zum Werkzeuge An-
derer und erntete nur den Spott, daß er die
kaiserliche Post ruiniert habe durch die ewigen
Reisen der Bischöfe von einem Concilium zum
andern.
Sein Nachfolger Julian, 360 bis Juni 363,
war in der ganzen Erscheinung das Gegentheil
von ihm. Constantius ging glatt rasiert, Julian
mit langem, struppigem Bart. Jener war steif,
dieser voll Lebhaftigkeit, jener ängstlich seiner
Würde etwas zu vergeben, dieser setzte sie ab-
sichtlich hintenan. Constantius verachtete das
Urtbeil des Volkes, Julian haschte nach Popula-
rität. Constantius war ein mittelmäßig begabter
Mann, der aber in seiner Bildung fertig war,
Julian eine geniale Natur, aber voll jugendli-
cher Unruhe und kleinlicher Schwäche. Con-
stantius endlich war eifriger Christ und Julian
ein eifriger Heide — Trotzdem zeigte gerade
ihre Stellung zur Religion eine auffallende Aehn-
lichkeit, und bei dem sonstigen Gegensatz der
Personen tritt darin die Gewalt der die Zeit be-
556 Gott. gel. An*. 1881. Stück 18. 19.
herrschenden Richtung um so stärker hervor.
Beide hatten ein starkes religiöses Bedürfnis,
and beide glaubten berufen zn sein, die religiöse
Wahrheit durch ihren Willen festzustellen: nur
daß Gonstantius an den christlichen Dogmen
berumformte und Julian an den heidnischen My-
then. Dem 'einen wie dem andern fehlte die
ruhige Ergebung , die einfache Frömmigkeit
Die Religion war ihnen nichts Gegebenes, son-
dern sie suchten darnach, Gonstantius auf den
neugebahnten Wegen, Julian in den verfallenen
Schachten, aus denen die Alten einst Gold ge-
wonnen hatten.
Julian war nieht blos der Begabtere, er war
auch der Empfänglichere; in ihm spiegeh sich
die Zeit deutlicher. Sechs Jahr war Julian alt,
als Constantin starb und wenige Monate später,
im September 337, die drei Söhne das Testa-
ment ihres Vaters umstießen und alle ihre männ-
lichen Verwandten ermorden ließen, um allein
zu herrschen. Von der großen Familie blieben
nur zwei Knaben, Julian und sein zwölfjähriger
Bruder Gallus, am Leben. Aber ihr Dasein war
trostlos und beständig bedroht von dem Miß-
trauen ihres Vetters Gonstanttns. Gallus ward
auch wirklich getödtet und Julian entging dem
Tode nur durch die Fürbitte der Kaiserin.
Seine Erziehung war in der Hand der Hoftbeo-
logen. Sie zwangen den Knaben, ascetisehe
Uebungen mitzumaehen, die befohlenen Formeln
nachzubeten und die verfluchten zu verfluchen.
Deren waren gar viele. Die Synode von An-
cyra (358) hat allein achtzehn verschiedene An-
sichten über das Verhältniß von Gott Vater und
Gott Sohn verflucht, und das waren noch
nicht alle.
Julian kannte den Hof und die Hoftbeolo
0. Kaufman», Dtatsol* Qescbichte bi» apf Karl d. Gr. 5*7
gen; er sah, wie oft die Begeisterung für die
Wahrheit nur Geschäft, wie der feierliche Ernst
nur Maske war. Zorn Spötter gebore«, mußte
er die Schwächen der verhaßten Peiniger durch-
schauen und maßte sich ihnen dennoch gehorsam
beugen. Das Cbristentbnm zeigte sich ihm Ton
der verächtlichsten Seite. Im Gegensatz dazu
erschienen ihm die hohen Alten im idealen
Lichte nnd mit schwärmerischer Begeisterung
wandte er sich ihnen au. In dieser Stimmung
ward ihm gestattet, in Athen zu studieren, wo
damals der Neuptatoniker Maximns, der die My*
then der Alten und ihre philosophischen Ideen
an einer Art Religion vermengte, der berühm-
teste Lehrer war. Sein Einfluß war um so gfö-
ßery weil er zugleich als Prophet erschien. Sein
Geist ward bewundert und sein Gebet verehrt;
man zweifelte nicht, daß er auch Wunder thun
könne. Julian ward sein Schüler. Er fastete
nnd betete, ließ den Bart wachsen, ging im
schmutzigen Philosophenmantel und verachtete
die Schätze und die Freuden dieser Welt Da
rief ihn ein Befehl des Constantius nach Mai»
land. Er ward rasiert, in den Purpur gesteckt
and den Soldaten als Cäsar vorgestellt, als der
Gehülfe und einstige Nachfolger des Kaisers.
Die Schilderung Julians nach Bestrebungen
nnd Eigentümlichkeiten ist vortrefflich.
Von einem geistreichen Manne ist Julian der
Romantiker auf dem Throne der Gaesaren ge-
nannt worden, allein trotz des sonderbaren nnd
haltlosen Gemenges, aus dem seine Religion be»
stand, war er doch selbst auf religiösem Ge-
biete nicht blos ein romantischer Träumer, Er
war zugleich der Mund, durch den das Heiden-
thtun noch einmal zu Worte kam, ehe es unter-
lag. Was in dieser Beziehung nach ihmgc*
55« Gott. gel. Anz. 1881. Stftck 18. 19.
schab von Dichtern and Philosophen, waren nur
Seufzer; er führte dagegen noch einen wirkli-
chen Kampf mit dem siegenden Christentum,
und trotz der verfehlten Streitschriften einen
sehr geschickten Kampf. Er hütete sich, eine
Verfolgung zu beginnen und Märtyrer zu schaf-
fen, obgleich die Christen ihn auf das Heftigste
reizten. Selbst den Bischof Markus verbot er
hinzurichten, der einen prächtigen Tempel zer-
stört hatte und so dem bürgerlichen Gesetze
verfallen war. Er wollte es den Christen über-
lassen, sich selbst zu vernichten : er kannte den
fanatischen Haß ihrer Parteien.
So gewährte er denn Religionsfreiheit. Die
um ihres Glaubens willen Verbannten durften
zurückkehren, und das gab den kirchlichen
Kämpfen eine neue Wendung und zugleich
neue Nahrung. In Afrika kehrten die Donati-
sten, im Orient kehrten die Orthodoxen zurück
und nahmen die Kirchen wieder ein, die ihnen
einige Jahr zuvor entrissen waren. Die Gegner
wehrten sich und erhoben ein lautes Wehge-
schrei: „Schämt ihr euch nicht, demjenigen die
Freiheit zu verdanken, der Christum haßt?"
Mit Behagen sah Julian diesem Treiben zu, und
noch größere Genugthuung gewährte ihm ein
Sühneversuch. Er versammelte die Häupter der
verschiedenen Sekten in seinem Palaste und er-
mahnte sie, sich gegenseitig zu dulden. Er
habe ihnen ja das Beispiel der Toleranz ge-
geben. Aber da begann ein wilder Wortkampf :
die einen verfluchten die andern. Julian wollte
die Buhe wieder herstellen und donnerte sie
an: .Hört mich, die Franken und die Alaman-
nen haben mich gehöret". Allein die Bischöfe
tobten wilder als die Barbaren und höreten ihn
nicht
Q. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 569
Gerechter Spott liegt in dem Gesetze, durch
welches er den Christen die Stellen von She«
toren und Grammatikern zu bekleiden verbot.
Nach der Lehre der heiligen Eiferer gehörte
das Heidenthum den bösen Geistern, waren
streng genommen auch Homer und Sophokles
Diener des Teufels : die Frommen mußten also
eigentlich dem Julian dankbar sein/ daft er den
Christen verbot, aus ihrer Erläuterung einen
Lebensberuf zu machen. Aber die Kirche konnte
auch wieder die Bildung nicht entbehren, die
bis dahin allein in den Rhetorenschulen zu ge-
winnen war. Sie hätten ohne das alle Fühlung
verloren mit den höheren Schichten der Gesell-
schaft. Das Edict war völlig berechtigt, trug
durchaus nicht den Charakter einer Verfolgung
der Christen und war doch sehr wirksam ge-
gen sie.
Julian war in mancher Beziehung nicht zum
Regenten geschaffen; er war von Hause aus
eine zu weiche und reizbare Natur, und konnte
seine Gefühle oft nur schwer beherrschen. Bei
der Ankunft seines verehrten Lehrers Maximus
sprang er in voller Gerichtssitzung von seinem
Sitze auf und küßte ihn. Gregor von Nazianz
verhöhnte ihn, daß er Nachts aufgestanden sei,
um ein Urtheil umzustoßen, das er am Tage
vorher gefällt hatte. Man darf daraus nicht
schließen, daß es Julian an der nöthigen Ent-
schlossenheit gefehlt habe, dem Gesetze seinen
Lauf zu lassen ; Ammian, der seinen Liebling
scharf controliert und manches an ihm sogar
ohne Grund tadelt, lobt gerade die Rechtspflege
Julians. Liegt der Erzählung Gregors überhaupt
irgend ein Vorgang zu Grunde, so war er sicher
der Art, daß Gregor ihn bei einem orthodoxen
Kaiser zum Beweise der unermüdlichen Sorgfalt
560 Gott. *»!. Ahm. 1*81. Stttofc 10. 19,
benutzt und den Fürsten mit allen Blumen über-
schattet haben würde, welche ihm die olasw-
gehen Autoren und die Sprache der Bibel za
liefern vermochtet».
„Diese ängstliche Sorgfeit nnd reizbare Em-
pfänglichkeit mußten dem jungen Kaiser viel-
fach schwere Kämpfe bereiten; aber nnr nm so
höher ist es 'anzuschlagen, daß er sieh in allem
Wesentlichen- fest zeigte. Er schenkte gern, ms
Gutherzigkeit wie ans Eitelkeit; aber er war
doch sparsam mit Steaernachlässen. Er bestand
darauf, daft geleistet werde, was vorgeschrieben
sei; nur die Bedrückung suchte er zu hemmen,
die übermäßigen Forderungen setzte er herab.
Eine sparsame Verwaltung sollte den Ausfall
decken, und bei dem Throne selbst anfangend
säuberte er den Hof von einem endlosen Beam
tentrosse. Auf diesem Gebiete verdient er nn
getheilte Bewunderung. Die Grundsteuer Gal
liens setzte er von 25 auf 7 vom Tausend herab
nnd mit diesen beschränkten Mitteln führte er
seine glänzenden Feldzüge und reorganisierte
die Verwaltung der lange Jahre von den Fein-
den zerrissenen Provinz. Aehnlicb verfuhr er
im übrigen Reiche. Noch größer war er als
Feldherr. Der kühnste Entschluß war ihm reebt,
und nie war er verlegen am das, was zunächst
zu thun sei. Auch hier waren die gelehrten
Erinnerungen an Alexander und an Cäsar nicht
ohne Einfluß auf ihn, auch hier war er nicht
frei von Eitelkeit; aber er war der Held, der
sein Heer begeisterte und von Sieg zu Sieg
führte. Zwar sein letzter Feldzug mißglückte,
über der schmähliche; Friede, der nach seineitf
Tode mit den Persern geschlossen ward, fällt
ihm nicht zur Last: er würde aliens Anseheine
naeb das Heer ohne wesentlichen Verlust zurück-
geführt haben.
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 561
Er starb auf der Höbe seines Ruhmes ; nicht
dieRhetoren weinten ihm nach — die wil-
den Bataver zerrissen den Boten, der ihnen sei-
nen Tod meldete.
Die Charakteristik geht noch in viele ein-
zelne Züge ein, and schließt endlich mit der er-
greifenden Schilderung des Heldentodes des
Kaisers. —
Aehnlich scharf eindringende Darstellungen
werden von den Männern gegeben, welche da-
mals für die Entwickelung der christlichen
Kirche entscheidend wurden. Ambrosius, Arius,
Augustin, Martinus, Gregor von Nyssa, Hierony-
mu8, Gregor von Nazianz, Basilius werden mit
oft nur wenigen aber klaren und entscheiden-
den Strichen gezeichnet. So charakterisiert eine
Erzählung die letzteren beiden.
Beim Tode seines Bischofs 370 war Basilius
Presbyter und trachtete danach, das Bisthum
zu gewinnen, denn Caesarea war damals einer
der wichtigsten Sitze des Orients. Er hatte
großen Anhang, aber auch viele Gegner, und
wünschte für den Wahlkampf den Rath und
Beistand seines Freundes Gregor von Nazianz.
Aber dergleichen Agitationen waren nicht nur
regelmäßig sehr ärgerlich und aufregend, son-
dern auch für den Ruf eines angehenden Heili-
gen bedenklich. Basilius kannte Gregor genau
genug, um zu wissen, daß er nicht kommen
werde, wenn er ihm schreibe, um was es sich
handele ; und so schrieb er ihm, er sei todtkrank
und bitte ihn zu kommen, damit er ihn vor sei-
nem Ende noch einmal sehe. Gregor rüstete
sich in seiner Sorge alsbald zur Reise und
überlegte schon alle möglichen Themata und
schöne Wendungen für die Leichenrede; da
hörte er, der Bischof von Cäsarea sei todt, und
36
562 0**t, gel. Adz. 1881. Stück 18. 1ft,
die Bischöfe der Provinz strömten nach Cäsarea
zur WahL Alsbald durchschaute er die Intrigue
des „heiligen" Basilius, blieb zu Hause und
schrieb ihm einen strafenden Brief. Nichte
des to weniger unterstützte er mit seinem Vater
zusammen die Partei des Basiliua auf das Kräf-
tigste, und sein Vater reiste zuletzt trotz
Schwäche und Krankheit noch selbst nach C&-
sarea» die Wahl zu entscheiden,
Der Vorgang bat ein doppeltes Interests.
Einmal muß der heilige Basiliua dergleichen
Feinheiten schon öfter begangen haben, da ihn
Gregor gleich durchschaute, sobald er nur tob
der Wahl borte» und sodann : der heilige Gregor
bat die Wahrhaftigkeit nicht als eine unent-
behrliche Eigenschaft für einen Bischof ange-
sehen.
Uebrigeus ^ar Gregorys Spürsinn auch noch
durch eine, besondere Beimischung verschärft,
dutch eine Regung von Rivalität, die freilich
sehr natürlich war. Basiliua und Gregor waren
Jugendfreunde und Studiengenossen, hatten sich
beide vor den übrigen durch hervorragende Be-
gabung ausgezeichnet und suchten nun auf dem-
selben Felde und mit denselben Mitteln, durch
Beredsamkeit und Heiligkeit, zu wirken und zu
glftnzen. So waren sie trotz aller Freundschaft
zugleich Rivalen und Gregor hielt es für eine
starke Zumuthung, daß er ohne Weiteres, sich
selbst von der Wahl ausschließen und. für Basir
lin& wirken sollte. „Du hättest auch bedenken
müssen, daß wir in allem gleich sind und die-
selben Ansprüche haben", schreibt er ihm in
jenem Strafbriefe. Die Entrüstung über die
Unwahrheit konnte dieses persönliche Interesse
nicht zurückdrängen.
Indeft sah Gregor doch ein, daß hier die
G. Kaufman», Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 563
Verhältnisse für Basilhis ungleich günstiger la-
gen, und daß er nicht in Frage komme, und da
auch sein Vater energisch für Basilius war, so
wurde jene Regung überwanden, aber nur, um
kurz darauf um so leidenschaftlicher hervorzu-
b rechen.
Basilius ward zum kirchlichen Haupt der
ganzen Provinz erwählt; Gregor aber blieb „der
interessante junge Mann" von großer Begabang,
der jedoch trotz seiner 40 Jahre ohne Amt and
Würde in seines alten Vaters Hanse saß* und
ihn hier und da in seinen bischöflichen Func-
tionen vertrat. Der Vater forderte, er sollte
ein kirchliches Amt übernehmen, und mit ihm
drängte Basilius als Freund und als Gebieter.
Gregor mußte nachgeben, und da weibete ihn
Basilius zum Chorbisehof von Sasima 372. Gre-
gor kam hin und war außer sich, als er das
Nest sab, in welchem seine glänzenden Gaben
vergraben werden sollten. Noch viele Jahre
später, da er vor der auserlesenen Gesellschaft
der Hauptstadt die Triumphe erlebt hatte, nach
denen seine Seele dürstete, begann ihm das
Blut zu wallen, als er in dem Gedichte „lieber
sein Leben44 an diesen Abschnitt kata*
„Das ist keine Stadt, das ist nur eine große
Poststation. Kein Freigeborener hält siob hier*
auf in diesem Staub und diesem Wagengerassel.
Keinerlei Anregung ist hier für einen gebilde-
ten Menschen; hier giebt es nur Postkneefete
und Steoerexecutoren, nur Peitschenhiebe und!
Jammergeschrei. Hat mich dazu Athen erzogen,
um hier den Staubwolken zu predigen und dem
verständnislosen Pöbel? Fünfzig Chorbisehöfe
hast Du zu ernennen, und da stiebst Der mir
ein seiches Loch aus! Wir sind in unserem
Bildungsgang und in unseren Leistungen immer
36*
664 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
gleich gewesen, und früher wenigstens hast Da
Dich auch nie zu überheben gewagt; hättest
Du es aber gewagt, so wärest Du von jedem
Unparteiischen zurückgewiesen worden". Das
sind die Gedanken, welche das spätere Gedicht
wie die gleichzeitigen Briefe Gregors erfüllen.
Es erschien ihm als eine Verrätherei, als eine
Böswilligkeit des falschen Freundes, der den
Rivalen aus der Welt schaffen wollte.
Gregor ertrug dies nicht lange; er empfand
plötzlich ein unwiderstehliches Verlangen, fern
von der Welt in mönchischer Uebung zu leben,
und verließ den verwünschten Ort. Basilius be-
zeichnete dies als Verrath an Glauben und
Kirche; er wußte ganz genau, daß diese Sehn-
sucht nach der Einsamkeit nur verletzte Eitel-
keit war. Gregor antwortete im Tone der be-
leidigten Unschuld, und dabei bemerkt man in
jeder Zeile, wie unerträglich es ihm war, den
alten Jugendfreund und Studiengenossen als
Vorgesetzten auftreten zu sehen. „Wie ausge-
lassen und wild geberdest Du Dich in Deinem
Briefe gleich einem jungen Füllen! Doch frei-
lich, es ist nicht zu verwundern. Du bist ja
kürzlich zu hohen Ehren gekommen und nnn
spreizest Du Dich auf Deinem Throne
Ich soll den Glauben und die Kirche schädigen
durch mein Verhalten? Ich trage still die mir
widerfahrene Beleidigung, und wenn Alle mei-
nem Beispiele folgen würden, dann würde der
Glaube nicht geschädigt durch diesen Streit;
allein es ist ja gewöhnlich, daß der Glaube
mißbraucht wird als Waffe in Privathändeln". —
Auch die Charakteristik des Ulfila glauben
wir wiedergeben zu sollen.
Ulfila ist im Gothenlande geboren, ist mit
der gotbischen Jugend aufgewachsen unter Zel-
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 665
ten und Wagen, bei Jagd und Krieg and halb-
nomadischem Leben. Seinen Ohren and Augen
blieben die Sorge and die Klage über den Druck
der Steuer and die ungerechten Gerichte der
Statthalter fern. Die Männer und Jünglinge,
zu denen der Knabe hinaufsah, drückten sich
und bückten sich nicht um Würden und Ehren;
sie lebten lässig dahin, nahmen den Tag wie
er kam, waren rauh und roh, aber stark und
stolz. Vor allem, er blieb frei von dem Oden
Treiben und kleinlichen Wesen der Rhetoren-
schulen; denn dergleichen gab es nicht im Go-
thenlande.
Ulfila war trotzdem später ein gelehrter
Mann, gelehrter als die meisten Römer. In
drei Sprachen hat er zahlreiche Abhandlungen
geschrieben, griechisch, gothisch und lateinisch,
während die römischen Gelehrten meist nur die
eigene Sprache verstanden, selten zwei. Grie-
chisch und gothisch redete Ulfila als Mutter-
sprachen und seine sonstige Bildung wird er
einem Priester danken, der ihn als seinen künf-
tigen Gehülfen erzog, sowie er später den
Auxentius. Dieser Unterricht war naturgemäß
überwiegend kirchlich. Versprengte Gemeinden
sind immer sorgsam in der Pflege ihres Glau-
bens, und die Gappadocier genossen damals
zwar Glaubensfreiheit bei den Gothen, aber sie
bildeten doch eine Diaspora unter den Heiden
und werden auch den stärkenden Einfluß sol-
cher Notblage nicht entbehrt haben.
Die Eltern und Lehrer des Ulfila zählten zu
den Arianem; denn Ulfila sagt in seinem Te-
stament ausdrücklich, er sei stets Arianer ge-
wesen, und zur Zeit des Goncils von Nicäa war
er noch zu jung, um sich selbständig zu ent-
scheiden. Sein Arianismu8 beweist für den
£66 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 1& 19.
Arianismus derjenigen, welche ihn erzogen.
Vielleicht zerriß auch der Streit seine Familie;
vielleicht erfahr er schon als Knabe die ganze
Bitterkeit des Kampfes, der ihn bis an seinen
Tod begleitet hat ; doch wie dem auch sei, so
viel bleibt gewiß, daß er in arianischer Lehre
erwachsen ist.
Die Ootben hatten mit dem Kaiser Licinius
gegen Constantin gekämpft und schwere Nieder-
lagen erlitten; dann machten sie Frieden mit
ihm und traten als Foederate in sein Heer. In
diesen Angelegenheiten gingen mehrfach gothi-
sche Gesandte an den Hof, und einer solchen
Gesandtschaft, etwa nm 330, ward auch der
junge Ulfila beigegeben, der als Dolmetscher
dienen konnte. So trat er früh in unmittelbare
Berührung mit der römischen Welt und ohne
Zweifel vor allem mit den Häuptern des Aria-
nismus, denen er Kunde brachte von der klei-
nen Kirche im Gothenlande. Diese Verbindung
ist dann immer enger geworden. Als Jüngling
trat er schon in den Dienst der Kirche und
ward Lector, wahrscheinlich bei einer ariani»
sehen Gemeinde seiner Heimath. In dieser
Eigenschaft begab er sich 341 nach Antiochien
und ward hier auf einer Versammlung der Aria*
ner von Eusebiue von Nikomedien zum Bischof
geweiht. Er war damals dreißig Jahre alt. Ab
£)iöceae ward ihm das Volk der Gothen be-
stimmt.
Es war eine Mission, ein Apostolat, nicht
die Bestellung für einen fertigen Sitz; nur we-
nige Gothen waren bis dahin bekehrt; die Ge-
meinde sollte er erst schaffen, die Kirehe erst
gründen. Aber die Predigt der Cappadocier
und die der Audianer hatten ihm vorgearbeitet,
so feindlich sie ihm waren. Er kam zur Zeit
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 86T
der Ernte, and er kam als der rechte Mann,
ä^ine Erfolge waren bo groß, daß sie den Zorn
de* Goifcenfürsten erregten. Ble batten das
Christentum geduldet, so lange nichts von ihm
zn fürchten war. Aber Ulfila gewann Taugende,
nnd er lehrte sie nicht nur, er wandelte auch
ihr Leben. Ruhm nnd Sieg nannte er eitle
Dinge. Von dem Kampfe mit den Feinden
wies er sie anf den Kampf mit den unsicht-
baren Mächten, von der römischen Beute auf
das ewige Leben. Und er sagte dais alias so,
daß es Eindrück machte. ^Die Gothen hingen
an seinem Worte, sie thaten alleä, w&fe vi sagte,
sie konnten nicht denken, daß etwas fturecht
sei, was er empfahl". 80 schildern ihh seine
orthodoxen Gegner, nnd seine Freunde vergbt*
terten ihn. Der Kaiser Gonstantins fiahhte ihh
den Moses seiner Zeit.
Aber was sollte werden, wenn er die Mas§6
des Volkös gewann ? Wo blieb die kriegerische
Kraft des Stammes? Wie weit dergleichen all-
gemeinfe Erwägungen, wie weit der persönliche
Gegensatz eines hervorragenden Ftthrert die
Entscheidung gab, läßt öich nibht nntertnctrtftt;
wir sehen nur, daß die Aühähger Ulfilafc Hb
341—48 von gothisehen Häuptlingen verfolgt
warden. Ulfila selbst bestand tausend Gefabren,
nnd viele seiner Gothen starben für den Glad be 11.
Sieben Jahre hielt Ulfila ans; dann flog 4r
348 über die Donau, wo ihm der Kaiser Cöfl-
afcantins die Berglandschiften Mösiens angele-
sen hatte, die Thäler nnd Hügel nid HikopAlift
nnd Flewna. So ward die Gemeinde äü eniem
Staat. Ulfila war ihr Bischof nnd ihr Fürst tb-
gleich. Sie traten Unterthanen Rom«, t&gi&rtm
sich aber Selbst nnd lebten nach ihren SHten
nnd Gesetzen. Viehzucht war ihr Geschäft, tfflfl
568 . Gott, gel. Anz. 1881. Stück 18; 19.
die Religion beherrschte ihre Gedanken. Das
kriegerische Leben war abgethan, und nicht
bloß solange Ulfila lebte. Noch nm die Mitte
des sechsten Jahrhunderts, also, nach 200 Jah-
ren, saßen sie in ihren Bergen als ein friedli-
ches Hirtenvolk. Still lebten sie, während West-
gothen, Ostgothen und andere verwandte Stämme
in furchtbaren Haufen an ihnen vorbeizogen, die
Halbinsel beherrschten, und unermeßliche Beute
machten.
Diese Umwandlung des kriegerischen Vol-
kes ist ein redendes Zeugniß für die Macht der
Persönlichkeit Ulfila's, aber auch ein Beweis für
die Noth wendigkeit seiner Vertreibung aus dem
Gotbenland. Das Volk hätte sich selbst auf-
geben müssen, wenn es Ulfila folgen wollte,
Dreiunddreißig Jahre hat er in Mösien regiert
und gepredigt. Es war die glücklichste Zeit
des Arianismus.
Ulfila starb gerade als die Verfolgung be-
gann. Theodosius hatte den arianischen Bischof
von Gonstantinopel bereits abgesetzt, aber ge-
gen den alten Gothenbischof verfuhr er nocb
rücksichtsvoll. Politische und persönliche Gründe
forderten dies. Im December 380 entbot er ihn
mit einigen anderen Bischöfen nach Gonstanti-
nopel, um die Secte des „Zuckerbäckers" zu
beruhigen, welcher eine neue Distinction in dem
Dogma vom Wesen des Sohnes aufgebracht
hatte und viele Anhänger unter den Gothen
zählte. Aber wenige Tage nach seiner Ankunft
in Gonstantinopel erkrankte Ulfila und starb.—
Die Schilderung führt dann zum Einfall der
Hunnep und der Erscheinung des Attila, dem
der Verfasser nicht weniger gerecht wird.
Er war der gewaltigste unter allen Kriegs
fürjsten der Völkerwanderung, und er hat nichts
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 569
gegründet , das Dauer hatte, oder als Aussaat
für die Zukunft gelten könnte. Sein Thun war
Zerstörung. In ibm gipfelten die Fluthen der
Barbarei, welche sieb verwüstend über die alte
Cnlturwelt ergossen.
Aber auch nur in diesem Hauptpunkte hat
die gemeine Vorstellung Recht. Den Schmutz
und die Gemeinheit des alten Hunnen hatte
Attila abgelegt. Nur der Typus der Race, der
große Kopf mit den kleinen Augen, die aufge-
stülpte Nase und der dünne Bart verriethen
seine Herkunft. Im Auftreten bewahrte er
große Würde und hielt auf ehrfurcbsvolle Eti-
kette. Beim Einzug in das Dorf, wo er resi-
dierte, empfingen ihn lange Reihen von jungen
Mädchen, die unter zeltartig ausgespannten
Leintüchern einherschritten, mit feierlichen Ge-
sängen. Er wohnte in einem sorgfältig gebau-
ten Hause ; bei Tafel war sein Sitz erhöht ; sein
Sohn, der neben ihm saß, wagte nicht, zu ihm
aufzuschauen. Nach jedem Gange mußten sich
die Gäste erheben und einen Becher auf das
Wohl des Königs leeren. Bei alledem verfiel er
doch nicht in Prunksucht, sondern blieb einfach
und mäßig. Nicht einmal an seinen Waffen
und seinem Sattelzeuge duldete er einen Zier-
rath von edlen Steinen, wie ihn die anderen
Häuptlinge der Hunnen gern trugen. Bei Tafel
ließ er den Gästen goldene Becher reichen; er
selbst trank aus dem Holzbecher wie seine Ah-
nen. Auch in der Kost bewahrte er die alte
Sitte. Er genoß nur Fleisch, während er den
Gästen von römischen Köchen ausgesuchte Spei-
sen bereiten ließ. Merkwürdig war sein ehe-
liches Leben geordnet. Er hatte zahlreiche
Frauen, aber sie wohnten in verschiedenen Or-
ten. Hier hielten sie Hof, umgeben von einer
570 Gott. gel. Ane. 1881. Stück 18. 19.
Schaar von Dienerinnen, die aus allen Völkern
stammten und die Fertigkeiten kunstvoller Hand-
arbeit mit einander austauschten. In seinen
Diensten standen auch viele Römer und Grie-
chen; namentlich bildeten sie eine regelmäßig
arbeitende Kanzlei. Sie führten sogar Listen
über die Flüchtlinge und Ufeberläufer, die über
die römische Grenze entkommen waren.
Allein trotz aller dieser Anfänge and For-
men eines gebildeten Lebens, die er tbeils Von
den Gothen, theils von den Rötnern übernommen
hatte, war Attila doch ein Barbar und er fühlte,
daß er es war. So höhnisch er Rom behandelte,
im Geheimen gestand er ihm einen unähdliohen
Vorrang zu ; aber er beugte sieb nicht vor die*
ser Cultur, wie die großen Germanenfürsten de*
Jahrhunderts, sie erbitterte ihn eher. Konnte
er sich mit seinem Volke nieht zu ihrer Höhe
erheben, so sollten die Römer um so härter
seine Gewalt fühlen. Sein Stolz arid Uebermüth
kannten so wenig eine Grenze wie seine un-
ruhige Tbatensucht. Sonst verstand er feerne
Leidenschaften zu beherrschen: so stark sife
waren, so durften sie seine Pläne doch nicht
stören; allein der wahnwitzige Gedaüke einer
Weltherrschaft narrte auch diesen in politischen
Dingen sonst so nüchternen Geist. —
Daran schließt sich das ergreifende Schick-
sal des Valens aus der Zeit des Tbeodosius.
Wenn man den Natneh Tbeodosius des Gro-
ßen nennt, so steigt das Bild eines gewaltigen
Kaisers auf, der dem Erdreiche die Ruhe wie-
dergab und auf eine Reihe tob Jahren sicherte,
so etwa, wie Ranke das Bild KaHs des Gfoßen
zeichnete« Vor ihm und nach ihm große Un-
ruhe und Auflösung, unter ihm Friede und Si-
cherheit. Aber dieses Bild entsteht nur dnreb
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 67 1
den Vergleich der grenzenlosen und hoffnungs-
losen Verwirrung, die nach seinem Tode anhob.
Friede und Buhe sah das Reich auch unter
Theodosius wenig, und in den kurzen Friedens-
jahren wenig Glück. Kein Jahr ohne Bürger-
krieg oder ohne die Erwartung seines Aus-
braches, ganz abgesehen davon, daß auch die
Verhandlungen mit den Persern nnd den un-
ruhigen Barbaren beständig als drohende Wol-
ken an dem politischen Himmel hingen. Diese
Kriegsnoth war aber noch nicht das Schlimmste.
Schlimmer als die Kriege selbst war die trau-
rige Thateache, daß sie alle mit Verrath be-
gonnen oder beendet waren. Die römischen
Truppen haben sich dessen schuldig gemacht
und ebenso die germanischen, und die Verhält-
nisse lagen so, daß man beinahe kein Recht
hat sie deshalb zu tadeln. Man wußte kaum
noch, wer Kaiser war, so rasch und leicht ward
aus einem Usurpator ein legitimer Herrscher,
and wenn man heute an dem bedrohten Kaiser
festhielt^ so konnte man morgen von dem dann
legitimen Kaiser als Rebell und Aufruhrer ge-
köpft werden. Hatte doch Theodosius selbst
den Maximus anerkannt, und der beilige Am-
brosias sehrieb an den Usurpator ßugenius mit
den feierlieben Titeln der kaiserlichen Majestät.
Dazu kam noch ein anderes Moment. Der Ver-
rath oder die Treue der HeereBtheile hingen
fast ganz ab von der Haltung ihrer Generale.
Die Kaiser wechselten rasch, häufig wurden
Kinder zu dieser Würde erhoben, und oft wa-
ren vier und fünf legitime Kaiser neben einan-
der zu verehren. Da mußte das Verhältnis der
Truppen zum Kaiser zurücktreten, der General
aHein war maßgebend für das Corps.
Diese Generale hatten aber einen vollen Ein-
572 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
blick in das Chaos von Intriguen, das den Hof
beherrschte. Sollten sie weichen, wenn die
Kämmerlinge nnd Eunuchen den Kaiser über-
redeten, sie zu verbannen oder zn tödten? Es
war natürlich, daß sie sich leicht mit Gewalt
dagegen setzten.
Kein Engel und kein Held hätten sich aus
dem Gewebe von Klagen nnd Verklagen los-
machen können, dessen Fäden von allen Städten
nnd Posten des Reiches zum Palaste des Herrn
liefen unerreichbar nnd unverfolgbar. So gut es
ging, suchte man sich zu schützen oder zu rä-
chen, ein Jeder mit seinen Waffen. Die Gebil-
deten fanden sich mit einigen Phrasen ab, wenn
sie Unrecht, Recht nannten. Und ihr durch die
Kenntniß der großen Alten wachgehaltenes Be-
darf niß nach politischer Ehre und vaterländi-
schem Stolze befriedigten sie dnrch eine krank-
haft gesteigerte Bewunderung der Vorzeit und
deren spielenden Vertauschung mit der Gegen-
wart. Der Pöbel, und es war ein sehr ver-
wöhnter Pöbel, machte sich Luft, indem er durch
sein Beifallgescbrei oder sein Zischen den Statt-
halter oder den Kaiser selbst beeinflußte.
Von Zeit zu Zeit empfand der Pöbel das
Bedürfniß einer etwas stärkeren Aufregung,
dann prügelte er die kaiserlichen Beamten, zer-
störte ihren Palast, zündete ein paar Häuser an
oder tumnltuierte sonstwie. Solche Aufstände
waren auch unter Theodosius nicht selten und
einer davon erlangte eine traurige Berühmtheit.
Der Commandant von Thessalonich, ein Ger-
mane Namens Botherich, hatte einen beliebten
Wagenlenker gefangen gesetzt, Beim nächsten
Rennen verlangte das im Circus versammelte
Volk stürmisch seine Freilassung von dem Com-
mandanten. Botherich blieb aber fest, reizte
6. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 57U
vielleicht auch den Pöbel noch, oder einige
Demagogen entflammten den Haß, den die Rö-
mer auf alle Barbaren hatten, welche so stolz
and mächtig über sie dahinschritten : genug,
plötzlich erhob sich die Masse im Aufstände
and erschlag den Botherich nebst mehreren an-
deren hohen Beamten. Theodosias war außer
sich vor Zorn. Dem heiligen Ambrosius gelang
es zwar, ihn zu beschwichtigen; aber bald dar-
auf gewann der Zorn wieder die Oberhand und
riß ihn fort zu einer That, die nicht bloß ihn
selbst für alle Zeiten brandmarkt, sondern auch
die fluchwürdige Bohheit dieses ganzen Regi-
ments aufdeckt. An die Behörde erging der
Befehl, das Volk zu einem Wagenrennen in den
Circus zu rufen, in dem Botherich erschlagen
war. Das Volk glaubte, der Kaiser habe gnä-
dig verziehen, und der Circus füllte sich; auch
aus der Umgegend strömte es herbei. Als nun
aber Alt und Jung sich auf den Sitzen drängte,
da erschienen statt der Rosse und Wagen Schaa-
ren von Soldaten und begannen ein schonungs-
loses Gemetzel. Niemand konnte entrinnen; die
Ausgänge waren besetzt. Drei Stunden währte
das Morden; nach der geringsten Angabe sollen
sieben Tausend erschlagen sein. Die Welt war
in stummem Entsetzen gefesselt. Wer sollte es
wagen, den fürchterlichen Herrn zur Rechen-
schaft zu ziehen?
Da sich der Kaiser in Mailand aufhielt, so
zweifelte Ambrosius nicht, daß es seine Pflicht
sei, es zu thun, und er verfuhr dabei mit Klug-
heit und unerschütterlicher Festigkeit. Er ver-
mied es zunächst, ihn zu sehen, und schrieb
ihm einen mahnenden Brief. Er erinnerte an
Davids Sünde und an Davids Buße. „Kein
Engel, kein Erzengel vermag eine Sünde zu
574 Gott. *•). Abi. 1881. BMok 18. 19.
vergeben; nur denen vergiebt der Herr, die
Buße thunu< Als dann Theodosius zur Zeit dei
Gottesdienste* ganz wie gewöhnlich die Kirche
besuchen wollte, da trat ihm Ambrosias in der
Vorhalle entgegen nnd wies ihn zurück. „Es
scheint, ,o Kaiser", sprach er, „daß Da die HD-
geheure Größe de» Mordes, den Da verübt bast,
selbst jetzt noch nicht erkennst, nachdem Deine
Leidenschaft sich gelegt hat. Der Glanz Deiner
Krone Wendet) wohl Dein Auge nnd verdunkelt
Deine Vernunft. Aber bedenke, daß der Mensch
gebrechlich ist und gar bald dabin geht Aas
Staub sind wir gemach^ and za Staub werden
wir wieder werden. Da bist davon nicht aus*
genommen. Du bist niohts andere» als die Men*
sehen, die Du gemordet hast. Wir sind alle
Mitknechte eine» Meisters und Königs. Kannst
Da die Augen aufschlagen zum Tempel dieses
Dir und ihnen und una allen gemeinschaftlichen
Herrn? Wie willst Du die Hände aufbeben
zum Gebete, die da triefen vom Blute der un-
schuldig gemordeten? Willst Da mit diesen
Händen den hochheiligen Leib des Herrn em-
pfangen ? Willst Du sein kostbares Blut in Dei-
nen Mund nehmen? Entferne Dieb von hier
und vermiß Dich nicht, Frevel auf Frevel so
hänfen. Thue Buße, um die Gnade wieder an
erlangen".
Acht Monate lang blieb Theodosius in dem
Banne ; dann that er in dec Kirche vor ver-
sammelter Gemeinde öffentliche Buße. Unter
Tiuräaen und Seufaern flehte er um Gottes. Ver-
gebung und gehorchte dem Ambrosias, der 3m
ermahnte, ein Gesetz zu erlassen: da& Tods»'
wtheile öiwt 30 Tag» nach dem Aussprach
peebtejkräftig and voUäiehhar sein sollten. Die*
aes Ende wirkt venttbaend. Ei ifit ja herolkb)
G. Kaufmann, Deutsch* Geschichte bia auf Karl d. Gr. 575
daß sich ein Mann fand, der den Math hatte,
einen solchen Kaiser zur Buße zu zwingen;
aber was ist daa für ein Staat, in welchem ein
tüchtiger Kaiser solche Gewaltthat begehen
konnte ! —
Endlich werden uns Stiliebo and Alariob mit
lebhaften Strichen gezeichnet.
Stilicho war der Sohn eines Vandalen, der
unter den Kaiser Valens (f378) eine Abtei-
lung germanischer Reiter befehligte. Geboren
um 360 wachs er in überwiegend römischer Um-
gehung auf, ohne sieh dam germanischen We-
sen ganz zu entfremden. Seine Feinde unter
den Römern schalten ihn einen Barbaren; der
spitzige Hieronymus nannte ihn einen Semibar»
taurus» und noch am Ende seines Lebens hatten
die barbarischem Truppen ein näheres Verhält-
nis zu ihm: aber sein Vaterland fand er in
Born. Nichts ist ungerechter als die Verleum-
dung, daß. er das Reich den Barbaren verrathen
habe« Die Behauptung ist auoh sinnlos : es gab
gab keine barbarische Macht, an deren Förde»
rung Stilicho. ein irgendwie denkbares Interesse
b&tte nehmen können. Mit seinen persönlichen
Interessen, sogar mit seiner Familie war er an
das kaiserliche Haus geknüpft, und seine ganze
Kraft hall er treu in Roms Dienste gestellt Im
römischen Reiche der Erste zu sein nach dem
Kaiser, das war sein Ehrgeia und das Ziel sei-
ner Wttnseha. Er halte es früh erreicht. Von
gebietender Gestalt und begaht mit klarem,
sicherem Geiste stieg er schnell von Stufe zu
Stufe. Als Offizier wie als Diplomat mit Aus-
zeichnung genannt, war er bald der erklärte
Liobliög de« Theodosius, der ihm sogar seine
Adoptivtochter Serena zur Frau gab. Schon
385, ehe er noch dreUKg Jahre alt war, erhielt
576 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
er ein selbständiges Commando und 392 die
Würde eines magister militnm, die höchste mi-
litärische Würde, die das Reich kannte. Bei
seinem Tode übergab ihm Theodosins das Ober-
commando über die vereinigten Armeen der bei-
den Reiche and legte ihm an's Herz, über beide
Söhne väterlich zu wachen. Keinem besseren
Manne konnte sie Theodosins empfehlen«
Dreizehn Jahre hindurch hat Stilicho dar-
nach das Westreich regiert und in der kirchli-
chen Frage wie in der Behandlung der Germa-
nen nach den Grundsätzen seines Meisters und
Vorbildes Theodosius regiert, aber ohne dessen
leidenschaftlichen Zorn und den Germanen gegen-
über mit größerer Vorsicht Was ein Mann
thun konnte das Land zu retten, das hat Stilicho
gethan. Nach der Schiacht am Frigid us hatten
zwar die Truppen des Eugenius dem Theodosius
gehuldigt, und die Legionen des Ostens und
Westens waren wieder, was sie sein sollten,
Truppen eines Reiches, die nur zufällig theils
hierhin, theils dorthin commandiert waren. Allein
sie hatten doch mit einander gefochten. Die
Donauarmee hatte die Rheinarmee besiegt; das
konnte keiner vergessen. Neckereien begannen,
wo immer die Leute sich trafen, in dem Zelte
des Marketenders wie beim Schwemmen der
Pferde. Von Worten kam es dann oft zu Schlä-
gen, und gerade in der Zeit, da Theodosius
starb, drohten diese Schlägereien in Schlachten
auszuarten. Stilicho's Klugheit gelang es, diese
Aufregung zu beruhigen. Dann machte er sich
an die noch schwerere Arbeit, die in Folge des
Bürgerkrieges über Tausenden schwebende Rechts*
Unsicherheit zu beseitigen. Er bestätigte die
Gültigkeit der unter Eugenius vollzogenen Rechts-
geschäfte, gab Denjenigen, die durch den Ty-
0. Kaufmann, Deutsehe Geschichte bis auf Karl d. Gr. 577
rannen an Amt und Ehre geschädigt waren, ihre
ehemalige Stellung zurück and bestimmte, daß
auch die Beamten, welche in den Dienst des
Eugenius getreten waren, keinen Makel and
keine Strafe erleiden sollten. Nur verloren sie
die höheren Posten, die ihnen Eugenia« etwa
verliehen hatte, und traten in ihre frühere Stel-
lang zurück.
Die gleiche Milde and Gerechtigkeit athme-
ten alle seine Erlasse; selbst in den bösen
kirchlichen Kämpfen wußte er sie za bewahren.
Uneingeschränkte Cnltusfreiheit konnte er frei-
lich nicht gewähren. Das wäre damals die
Entfesselung des Krieges Aller gegen Alle ge-
wesen. Er hielt den Grundsatz des Theodosias
fest: es soll nur eine katholische Kirche geben,
nur eine Heilsanstalt, nnd das soll die Kirche
sein, welche den Sohn dem Vater gleich ehrt,
die Kirche des Athanasius und Ambrosias. Den
anderen Parteien schloß er die Tempel and die
Kirchen and untersagte ihnen auch die private
Aasübung des Callas; abär persönlich blieben
sie unangefochten. Die Ehren und Aemter des
Staates standen dem Heiden and Sectirer ebenso
gut offen, wie dem Anhänger des Nicäischen
Bekenntnisses. Den Heißspornen der Partei ge-
nügte er damit nicht; aber der heilige Augusti-
nus, der damals so recht in der Kraft seiner
Jahre stand, war des Lobes voll und schrieb
gewissermaßen das Programm der kirchlichen
Politik Stilicho's: „Niemand soll zur Annahme
der wahren katholischen Lehre gezwungen wer-
den ; nur der soll sie bekennen, der es freiwillig
that and ohne Furcht. Sonst füllen wir unsere
Kirche mit Heuchlern". —
A 1 a r i c h war auf der Donauinsel Peace ge-
boren, etwa am 370, von gothisehen Eltern, die
37
578 Gott. gel. Anz. 1881. Stuck 18, 19«
dem edlen Geschlechte der Balthen, d. h. der
Kühnen, angehörten. Er wuchs in den Kriegen
auf, die seit dem Hunnenangriffe alle gothischen
Völker beschäftigten, und er wußte es nicht an-
ders, als daß ein tapferer Gothe entweder im
Dienste Roms oder im Kampfe gegen Born
Ruhm und Macht erwerben müsse. Genannt
wird er zum ersten Male in dem Heere, das
Theodosius gegen Eugenius rüstete (393/94).
Er führte in demselben nicht bloß sein Gefolge
oder die Männer seines Gaues, sondern er hatte
von Theodosius ein größeres Commando erhal-
ten; doch auch so zählte er immer nur noch zu
den Offizieren dritten Ranges. Das genügte ihm
nicht, und als er unter den von Stilicho dem
Ostreiche zugetheiiten Truppen nach Constanti-
nopel kam, da forderte er von Rufin einen
höheren Rang. War er schon König, als er
diese Forderung erhob, oder trieb ihn der ge-
kränkte Ehrgeiz auf die Bahn des Agitators)
die schlummernde Begierde seines Volkes zu
wecken und den ungeheuren Kampf zu begin-
nen? Ungern bescheiden wir uns, so fern zn
bleiben dem Geheimnisse des persönlichen An-
theils, den der Führer an der Bewegung hatte;
denn so wenig wir von Alarich wissen, so ver-
breitet doch dies Wenige einen Glanz von so
jugendlicher Frische und männlicher Sicherheit
um ihn, daß man sein Bild deutlicher fassen
möchte.
Sein erster Kampf um Rom wird geschil-
dert, die Hülfe, die Stilicho der Stadt bringt,
das Leben und der Wechsel der Günstlinge am
Hofe des Arcadius und Honorius, der Sieg des
Stilicho, sein Vertrag mit Alarich und seine Er-
mordung in Ravenna; dann das Wiederauftreten
des Alarich, die Belagerung Roms und seine
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 579
unterwürfigen Verhandlangen mit Honorius, die
Episode des Attalus, und der nochmalige ver-
gebliche Versach mit Honorius tiberein zu
kommen.
Nun war seine Geduld am Ende. Der Kai-
ser selbst war freilich unangreifbar in der
sumpfumgebenen Festung, aber Rom war wieder
seine Stadt und sollte für ihn büßen. Mit die-
sem Gedanken zog Alarich zum dritten Male
vor Korn. Durch die erste Belagerung hatte er
den Senat gezwungen, seine Verhandlungen mit
Honorius zu unterstützen. Da sie nicht zum
Ziele führten, zwang er die Stadt durch die
zweite Belagerung, von Honorius abzufallen und
sich mit ihm zur Aufstellung eines Gegenkaisers
zu verbinden. Jetzt kam er vor die Stadt, um
sie zu plündern. War sie nicht stark genug,
um als Bundesgenossin zu nützen, so war sie
doch reich genug, berühmt und geliebt genug,
um in ihr den römischen Gegner empfindlich zu
züchtigen.
Es war kein leichter Entschluß. So manche
Stadt hatten seine Gothen in Flammen auf-
gehen lassen; aber Rom war eine ganz beson-
dere Stadt Ihr Name war Macht und Herr-
lichkeit In ihr verehrte und bewunderte die
Welt den Ursprung des gewaltigen Reiches, das
auch in seinem augenblicklich so jammervollen
Zustande dem klugen Barbarenfürsten als das
einzige wirkliche Reich galt Wer durfte es
wagen, sich an dieser Stadt zu vergreifen?
Dunkele Sagen gingen, daß jeder sterben müsse,
der es wage. Andere Prophezeihungen waren
noch schrecklicher. „Einst wird der Tag kom-
men, wo dieses Haupt der Welt im Feuer ver-
geht; aber das ist das sichere Zeichen, daß der
Untergang der Welt bevorsteht". Aber je sei-
37*
680 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
teuer die Frucht, desto mehr reizt sie. „Nicht
aus eigenem Willen ziehe ich gegen Rom. Ein
Dämon treibt mich, eine innere Stimme. Un-
aufhörlich ruft sie mir zu: Mache dich auf,
zaudere nicht und zerstöre Rom". So ließen
die Römer den Alarich sprechen, und sie trafen
damit ohne Zweifel den Grundzug seiner Stim-
mung; nur haben sie ihn in das Sentimentale
und Mystische gesteigert. Alarich blieb der
ruhig überlegende Feldherr und der maßvolle
Mann. Er entschloß sich zur Eroberung Roms,
als er den Trotz des Honorius nicht anders
strafen konnte und er keinen Grund mehr hatte,
seinem Heere die Plünderung der Stadt zu ver-
sagen, von deren Ungeheuern Schätzen die ans*
schweifendsten Vorstellungen im Umlauf waren.
Aber auch bei der Eroberung überließ er sich
nicht der blinden Zerstörungswut^
Mitte August des Jahres 410 lagerte er vor
den Thoren Roms, nahm die Stadt nach kurzer
Belagerung und gab sie seinen Gothen auf drei
Tage zur Plünderung preis. Es war die Nacht
des 24. August, als die Gothen eindrangen.
Sie warfen Feuer in die Häuser am Thore, nnd
beim Scheine des Brandes, der die nächsten
Straßen (das schöne Quartier, der „Gärten des
Sali ustu) verzehrte , jagten sie die Einwohner
Tor sich her und brachen in die Häuser ein,
wo es einem Jeden gefiel Es waren drei
schreckliche Tage; und doch, wenn man das
Schicksal anderer eroberter Städte und andere
Eroberungen Roms vergleicht, so muß man die
Schonung bewundern, welche die Gothen übten.
Zwar wurden Viele erschlagen und viel Mehrere
mißhandelt und in Knechtschaft geführt, aber es
war kein allgemeines Morden und keine allge-
meine Verknechtung. Alarich hatte befohlen,
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 581
die Menschen zu schonen und nur das Gut zu
rauben. Es war endlich auoh kein wüstes Zer-
stören nnd Verbrennen. An und für sich waren
die Gothen nicht mild und schonend. Die Raub*
fahrten des dritten Jahrhunderts, die Verwüstung
spanischer Städte im fünften Jahrhundert zer-
stören jeden derartigen romantischen Traum.
Aber hier waren sie mitten in der Plünderung,
ich möchte wohl sagen, gehalten. Zwei Mächte
waren es, die sie hemmten, der Wille ihres Kö-
nigs und das Christentum.
Die Gothen waren Arianer und deshalb in
Glaubensfeindschaft iflit den Priestern, die in
Born die Kirche vertraten; aber die Arianer
fühlten sieh nicht als Secte, sondern als allge-
meine Kirche. Es galt ihnen nur als vorüber-
gehendes Mißgeschick, daß in mehreren Orten
die Bischöfe der feindlichen Lehre von Nicäa
herrschten. Die heiligen Orte der christlichen
Tradition waren alle auch ihnen heilig. Nächst
Jerusalem und Bethlehem war aber kein Ort
heiliger als Rom, keine Kirche geehrter als die
de» heiligen Petrus und des heiligen Paulus.
Mitten in ihren leidenschaftlichen Klagen über
die Zerstörung der Stadt und in ihren Wuth-
ausbrüchen über die Barbaren konnten deshalb
die Zeitgenossen doch eine Reihe von Beispie-
len auffallender Milde nicht verschweigen. In
ihrem reichen Hause auf dem Aventin ergriffen
einige Gothen die fromme Marcella und schlugen
sie in roher Weise, damit sie die Schätze an*
zeige, die sie verborgen glaubten. Als aber
die Heilige unto* allen Qualen nur darum bat,
ihre Pflegetochter vor Gewalt zu schützen, da
wurden die Krieger von Ehrfurcht erfüllt und
führten die beiden Frauen in die Kirche des
heiligen Paulus. Einen unauslöschlichen Ein-
582 Gott, gel An«. 1881. Stück 18. 19.
druck machte vor Allem die Rettung der heili-
gen Gefäße ans der Kirche von St Petras.
Man hatte dieselben in ein entlegenes Hans ge-
schafft nnd eine fromme Jnngfran als Wächterin
dazu gesetzt. Aber ein Gothe fand das Ver-
steck. Schon war er im Begriff, sich voll Gier
auf den kostbaren Schatz zu stürzen; da sagte
die Wächterin: „Diese Gefäße sind Eigenthum
des heiligen Petrus. Willst Du sie rauben, so
kann ich Dich nicht abhalten ; aber der Heilige
wird den Frevler an seinem Eigenthum zu tref-
fen wissen a. Das Mädchen war wehrlos; doch
sie fühlte sich sicher, uncf was ihr Kraft gab,
das lähmte den Krieger, der vor ihr stand.
Scheu zog er sich zurück und meldete Alarich,
was er gefunden und was er gethan habe.
Alarich befahl ihm , mit einer genügenden
Scbaar zurückzukehren und die heiligen Ge-
fäße sammt ihrer Wächterin sicher in die Kirche
zu geleiten. Als der sonderbare Zug das Haus
verließ, Gothenkrieger in friedlicher Haltung,
die goldenen Gefäße nicht als Beute fortschlep-
pend in Säcken und Körben, wie der Augen-
blick sie bot, sondern in geordnetem Zuge ehr-
fürchtig tragend; da eilten von allen Seiten
Flüchtlinge herzu Greise und Kinder, Männer
und Weiber bildeten eine Procession, die sich
mit jedem Schritte verlängerte und feierliche
Hymnen singend der Kirche zuging. Auch Go-
then kamen herbei, auch Heiden schlössen sich
an, — es war ein Schauspiel, wie es die Welt
wohl nie sonst gesehen. DieWuth plündernder
Barbaren und der Fanatismus feindlicher Cod-
fessionen wurden in Andacht gebändigt. Es
war ein schöner Triumph der Religion.
Aber die Scheu vor der Religion allein hätte
doch nicht ausgereicht, die dreitägige Plünde-
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 688
rung in solchen Sehranken zu halten. Der
Wille des Königs hielt die Ordnung aufrecht.
Er muß eine starke, auserlesene Schaar zusam-
mengehalten haben, um sich in jedem Augen-
blicke Gehorsam zu erzwingen. Lose war das
Band, das die Leute zusammenhielt, die ihn als
ihren König ehrten, und außerdem waren dabei
Haufen von Hunnen, entlaufene Sklaven, Ban*
den von allerlei germanischen Stämmen, die
sich erst kürzlich angeschlossen hatten und
ebenso leicht wieder ablösten und zu den Rö-
mern gingen. Es bedurfte einer überlegenen
Kraft, um sie im Zaume zu halten und sie zu
zwingen, die Stadt schon nach drei Tagen wie-
der zu verlassen. Mehr als alle seine Siege
zeigen diese Tage die Größe des Helden.
Am 28. August verließ Alarich die Stadt.
Durch Campanien zog er an die Meerenge von
Messina, um nach Sizilien überzusetzen und von
da nach Afrika. Durch Afrika wollte er Hono-
ring zwingen, seine mäßigen Bedingungen zu
erfüllen. Aber ein Sturm zerstreute die Schiffe,
welche die erste Abtheilung der Gothen über
die Meerenge setzen sollten, und bald darauf
starb Alarich in der Blüthe seiner Jahre, inmit-
ten einer großartigen Laufbahn. Fünfzehn Jahre
hindurch hatte er als König an der Spitze der
Gothen gestanden und diese ganze Zeit hindurch
den Plan verfolgt, im Reiche des Kaisers eine
rechtlich gesicherte Stellung zu gewinnen.
Athaulf war sein würdiger Nachfolger. Ge-
gen einen vornehmen Römer sprach dieser sich
bei der Hochzeitsfeier mitPlacidia zu Narbonne
wiederholt und mit leidenschaftlichem Ausdruck
über seine Pläne aus. „ Anfangs dachte ich
Rom zu vertilgen", sagte er, „um ein Gothen-
reich an seine Stelle zu setzen, der Stifter einer
584 Gott. gel. An*. 1881. Stück 18. 19.
neuen Weltherrschaft zu werden, wie es dereinst
Augustus war. Aber im Laufe der Zeit er-
kannte ioh, daß es nicht möglich sei, daß sich
die Gothen der ruhigen Ordnung des Gesetzes
nicht fügen würden« - Seitdem habe ich mir das
als Aufgabe gesetzt, daß ich mit der Kraft mei-
ner Gothen das römische Reich schütze und
schirme".
Wallia endlich schloß den Frieden mit Ho-
norius, wie ihn Athaulf gewünscht hatte. Aber
wenige Jahre nur währte es, da war der Ver-
trag zerrissen und das Volk der Westgotbeo
trat als selbstständiges Reich neben Rom1, das
erste germanische Reich auf römischem Boden,
der erste Kulturstaat der Germanen. Er bildete
die Schwelle zu einer neuen Periode der Welt-
geschichte. —
Wir glauben mit diesen Bruchstücken hin-
reichend gezeigt zu haben, daß der Verfasser is
ungewöhnlich anschaulicher und überzeugender
Weise seinen Stoff zu y erarbeiten vermag, nod
daß seine Quellenstudien ihn zu voller Klarheit
über denselben, zu der Gegenwärtigkeit und Be-
herrschung der innern Beziehungen der Ereig-
nisse und der handelnden Menschen erhoben
haben, welche die unentbehrliche Voraussetzung
der Geschichtsschreibung ist und bleibt.
Wir wollen aber auch nicht damit zurück-
halten, daß wir dieses ungetheilte Lob auf die-
jenigen Theile des Buches beschränken zu müs-
sen glauben, für welche reiche und in den
Hauptsachen wenig anfechtbare Quellen den ge-
wissermaßen aus dem eignen Innern reprodu-
zierten vollen Fluß epischer Geschichtsschreibung
erlauben.
Für die mehr dogmatischen Abschnitte and
Ausführungen, wie namentlich für das ganze
G. Kaufmann, Deutsche Geschichte bis auf Karl d. Gr. 566
zweite Buch vermögen wir dem Verfahren nnd
den Zielen des Verfassers nicht durchaus bei-
zustimmen.
Er ist darin zwar nicht ganz seiner Absicht
treu geblieben, keinerlei gelehrte Begründung
zu geben. Eine gewisse Anzahl Belegstellen
beizufügen, hat er sich gleichwohl nicht ent-
brechen können. Aber wenn man bedenkt, daß
in einem solchen Abschnitte kaum eine einzige
Seite ohne Behauptungen bleiben kann, welche
aus immerhin wenigstens beach tens wert hen Grün-
den bestreitbar sind oder doch anders aufgefaßt
werden dürfen, und man andrerseits dem Verfasser
auch gewiß nicht zumuthen will, alle diese be-
strittenen Verhältnisse als zweifelhafte in seine
Darstellung einzuführen, so kann man nicht um-
hin zu fragen, ob das Material, wie es zur Zeit
noch liegt, eine Geschichtsschreibung, wie sie
der Verfasser zu üben wünscht, in der That
verträgt.
Wir haben keine rechte Vorstellung von dem
Publikum, an welches sich der Verfasser mit
diesen, an sich sehr interessanten und mit man-
cherlei neuen Gedanken ausgestatteten Ausfüh-
rungen wendet. Populär sind dieselben trotz
der leichten und ansprechenden Schreibweise
so wenig, als die erzählenden Darstellungen.
Der Verfasser wird auch schwerlich wünschen,
daß die Behandlung als eine populäre betrach-
tet werde.
Die historische Erzählung, wie sie Kaufmann
giebt, wird gerade der hinreichend Sachkundige
würdigen, er sucht die Subjektivität in ihr, und
fordert nur, daß der Historiker aus den Quellen
das gebe, was ihm nach seiner wohlgeprüften
aber gleichwohl individuellen Ueberzeugung als
Wahrheit erscheint. Kaufmann bat selbst ein-
586 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
foal das Thema behandelt: „In wie weit darf
die Geschichte subjektiv sein?" Den Geschichts-
schreiber macht das Herz, er schildert vor allem
die hervorragenden Menschen in ihrem Streben
und Handeln, und daftir ist der Maßstab neben
den immer zweifelhaft bleibenden Ueberlieferun-
gen, wesentlich das eigne Innere.
Wo es sich aber gar nicht um den dramati-
schen Verlauf innerer Vorgänge, sondern um
Thatsachen der Ethnographie und des Staats-
rechts handelt, aus deren Feststellung erst
Grundlagen für Urtheile historischer Natur ge-
wonnen werden sollen, da sind die Forderungen
des Sachkundigen offenbar andre. Eine subjek-
tive von der seinigen abweichende Auffassung
wird jeden Geschicbtsfreund gewiß interessieren,
aber doch nur, wenn er ihre Gründe ohne we-
sentlichen Zeitverlust zu erkennen und kritisch
zu beurtbeilen in den Stand gesetzt wird. Ohne
Begründung hingestellte Behauptungen werden
den Leser schwerlich veranlassen, völlig die
Mühe der Prüfung zu übernehmen, und sie wer*
den ihren Zweck um so weniger erfüllen kön-
nen, je mehr ihr Inhalt vom bekannten Gleise
abweicht, und je geringere Hoffnung er läßt,
Sicherheit über den Gang der Schlußfolgerungen
des Verfassers zu erlangen.
Deshalb glauben wir, daß sich auch Kauf-
mann trotz seines anerkennenswerthen Strebens
und Talentes, seinem Leser ganz unmittelbar
gegenüberzutreten, darein wird fügen müssen,
die Darstellung der staatlichen und wirtschaft-
lichen Zustände unserer Vorzeit entweder in ge-
wohnter Weise als Zusammenfttgung von Mate-
rialien zu behandeln, oder sie, was uns seinem
Zwecke am besten zu entsprechen schiene, über-
haupt nur mit dem Faden seiner Gescbichtser-
Zotenberg, La chronique de Jean e>eque de Nikiou. 587
Zählung soweit erforderlich zu verknüpfen, und
dabei von Allem abzusehen, was nicht im We-
sentlichen allgemein anerkannt ist, und mehr
als Hindeutungen bedarf.
Wir wttnschen lebhaft, daß er in seiner glück-
lich angelegten schriftstellerischen Individualität
uns bald auch die Kette bedeutsamer Persön-
lichkeiten, die von Alarich bis auf Karl den
Großen unsere Geschichte bestimmen, in ihren
nach Charakter und Umständen selten anders
als tragischen Schicksalen lebensvoll vorführe.
A. Meitzen.
La chronique de Jean e^v^que de Nikiou.
Notice et extraits par M. H. Z o t e n b e r g. Paris.
Imprimerie Nationale 1879. (Extrait du Journal asia-
tique. 1877. no. 15). 264 S. in 8°.
Die erste dürftige Notiz über die Chronik
des Johannes von Nikiu bat meines Wissens
d'Abbadie gegeben im „Catalogue raisonng de
man. Ethiop." 8. 38 ff. Genaueres erfahren wir
durch die äthiopischen Kataloge von Wright (S.
300 ff.) und von Zotenberg (S. 223 ff.). Außer
den 3 Handschriften d'Abbadie's, des Brit. Mus.
und der Pariser Bibliothek ist keine weitere
bekannt. In der vorliegenden Schrift bekommen
wir nun durch Zotenberg die eingehende Dar-
stellung und Würdigung des merkwürdigen Ge-
sehichtswerkes. Ref., der gern einem Kundige-
ren die Besprechung dieser Schrift überlassen
hätte, kann hier nur im Wesentlichen Zoten-
berg's Resultate wiedergeben, thut das aber mit
gutem Gewissen, da derselbe mit großer Sorg-
falt und Umsicht gearbeitet hat, unterstützt von
einer Gelehrsamkeit, wie sie schwerlich einem
andern Pariser Semitisten zu Gebote stände ; er
hat nicht bloß die einschlägige byzantinische
568 Gott. gel. Abs. 1881. Stock 16. 19.
and römische Literatur in weitestem Umfange
herangezogen, sondern auch die gedruckte und
ungedruckte christlich-arabische, syrische und
koptische. Freilich kann man von ihm sagen:
„an der Quelle saß der Knabe"!, aber wohl
Wenige hätten die Aufopferung gehabt, im Inter-
esse der Wissenschaft sich gerade diese, durch-
weg unerquicklichen Sachen aus den Schätzen
der Pariser Bibliothek zum Studium auszu-
wählen.
Johannes von Nikiu in Unterägypten schrieb
gegen 700 n. Chr. eine griechische Weltchronik.
Von den letzten Abschnitten des sehr schlecht
redigierten Werkes hält Zotenberg es für mög-
lich, daß sie koptisch abgefaßt waren, worüber
ich kein Urtheil fallen kann, da ich dieser
Sprache unkundig bin. Die Chronik wurde
später, ungewiß wann, in's Arabische übersetzt
Leider besaß der Araber nur ungenügende Kennt-
niß des Griechischen; er verwechselte z. B. *o-
(kfjq mit ««7*7? (S. 147) und wieder xo^tijg mit
xoftfjg (S. 142) und leitete die nqdaivoi („die
Grünen" als Partei) von nqaoew ab. Dabei
verkürzte er seine Vorlage stark und zwar oft
in recht unverständiger Weise. Diesen arabi-
schen Text übertrug im Jahre 1602 ein ans
Aegypten gebürtiger Geistlicher in's Aethiopische,
treu und sorgfältig, wie es scheint, aber ohne
Sacbkenntniß, daher er natürlich Manches un-
richtig auffaßte. Ueber den Verfasser hat Zoten-
berg aus arabischen Handschriften einige wenige
Nachrichten aufgetrieben. Derselbe war Bisehof
von Nikiu und Regens der Klöster (daher sein
Name Medabber yJ^); er wurde aber abge-
setzt, weil er einen Mönch, der Unzucht ge-
trieben, ro fürchterlich hatte prügeln lassen, daft
Zotenberg, La chronique de Jean e>eque de NUriou. 589
er nach zehn Tagen starb; beiläufig ein Beleg
dafür, wie wenig Rieh die muslimische Regierung
in die inneren Angelegenheiten der Geistlichkeit
mischte!
Wer sich nur einmal den Malalas angesehn
hat, dem muft schon ans den Capitelttberschrif-
ten die Aehnliehkeit des Johannes von Nikiu
mit diesem Chronographen auffallen. In der
That weist denn auch Zotenberg nach, daft ein
großer Theil nnsres Buches in engster Beziehung
zu Malalas, Johannes von Antiochia und ähnli-
chen Autoren steht Wir finden dieselbe Pseudo-
historie und euhemeristische Mythenerzählung,
dieselben Fabeln über Geschichtliches, worunter
sich erst für spätere Zeiten mehr wirklich histo-
risches mischt. Auch die christlichen Orakel-
sprüche und die characteristischen Quellencitate
fehlen nicht; der heitere Ovid hat es sich
wohl nicht träumen lassen, daß er so als „ Aude-
jös, der Weise der Heiden" noch einmal einen
testis veritatis in der äthiopischen Mönobslite-
ratnr abgeben werde (S. 17). Die Ueberein-
stimmung ist sehr oft ganz oder nahezu wört-
lich. Freilich fehlen bei Johannes von Nikiu
gerade manche für uns wichtigere Angaben je-
ner Byzantiner. Bei der Art, wie diese Leute
einander abschrieben, und bei der starken Ver-
kürzung unseres Buches wird es sehr schwer
sein, das Verhältnis der Texte genauer festzu-
stellen. Der Zeit nach hätte Johannes von
Nikiu den Malalas allerdings selbst benutzen
können, denn es darf jetzt, zumal nach den Er-
mittlungen K. J. Neumann's über den ursprüng-
lichen Umfang der Malalas-Handschrift (Hermes
XV, 356 ff.), als sicher angenommen werden, daß
dieser Autor bald nach Justinian's Tod geschrie-
ben hat Daft der äthiopische Text zuweilen et-
690 Gott. gel. Aüz. 1881. Stück 18. 19.
was besser and vollständiger ist als der unsres
Malalas, ließe sich vielleicht damit erklären,
daß der Bischof von Nikin eben eine noch bes-
sere Handschrift vor sich gehabt hätte als die,
immerhin nicht üble, Oxforder. Doch mag es
näher liegen, die Uebereinstimmnng aus einer
gemeinschaftlichen Quelle abzuleiten. An histo-
rischem Urtheil übertraf der Bischof den braves
Antiochener keineswegs. Wie aber für diesen
Antiochia, so ist für jenen Unterägypten und
besonders Nikin der Mittelpunkt seines Inter-
esses. Historischen Werth hat sein Buch kaum
irgend bis zu der Darstellung ziemlich später
Zeitendes oströmischen Reichs. Daß die eigen-
tümlichen Angaben über die Geschichte Aegyp-
tens unter den Achämeniden, welche uns Zoten-
berg auch im äthiopischen Text mittheilt, we-
nigstens zum kleinen Theil auf gute selbständige
Nachrichten zurttckgehn könnten, möchte ich doch
noch bezweifeln. — Der Gelehrte, welcher end
lieh eine gute Ausgabe des Malalas veranstal
tet, wird allerdings wohl thun, zu anderen Pa
rallelschriftstellern auch unseren heranzuziebn
freilich darf er das nicht ohne Hülfe eines ge
wiegten Orientalisten thun, da dazu gründliche
Kenntnisse des Aethiopischen und Arabischen
gehören. Leider scheint die Hoffnung geling,
daß wir den arabischen Text wiederfinden wer-
den, der uns wenigstens etwas weiter bringen
würde als der äthiopische, oder gar den voll-
ständigen griechischen Urtext.
Weit mehr entbehren wir diesen, griechischen
oder koptischen, Urtext noch für den letzten
Theil des Werkes, welches, im Gegensatz an
den früheren, von großem directen Werthe ist
Der Verfasser erzählt hier auf Grund schrift-
licher und mündlicher Nachrichten, zum Theil
Zotenberg, La chronique de Jean Iveque de Nikiou. 591
sogar eigner Erlebnisse, was im letzten Jahrhun-
dert in Aegypten und in Gonstantinopel gesohehn
war. Freilich ist Alles bracbstttckartig und viel-
fach verwirrt, theilweise durch Schuld des ara*
bischen Uebersetzers , theil weile gewiß aber
schon durch die des Verfassers, allein der kriti-
sche Benutzer kann auch aus dem, was uns Zo-
tenberg (in französischer Uebersetzung) vorlegt,
viel für die Geschichte jener Zeit lernen. Mir
waren besonders die genauen Nachrichten über
die Ereignisse von großem Interesse, welche den
HerakHns auf den Thron führten. Wir sehen
hier, welch langen Kampf es der aufständischen
Partei kostete, zuerst Aegypten zu erobern als Ba-
sis für die Gewinnung des ganzen Reichs. Das
vom älteren Heraklius geleitete Unternehmen
gegen den scheusliohen Phokas trägt hier gar
nicht mehr den Stempel des Abenteuerlichen.
Wie elend das Reich durch und durch war,
zeigen solche provinzielle Aufzeichnungen erst
recht. Dem jüngeren Heraklius, gewiß dem
bedeutendsten Kaiser seit Constant! n und Julian,
war eben eine Sisyphusarbeit zugefallen, als er
das Reich innerlich und äußerlich wiederher-
stellen sollte. Noch greller beleuchtet dessen
Zustände die Erzählung von der Einnahme
Aegyptens durch die Araber; dieselbe ist zwar
sehr verwirrt, giebt aber eine recht brauch*
bare Ergänzung der muslimischen Nachrichten
ab. Ferner erhalten wir allerlei Angaben über
die Verhältnisse Aegyptens in der ersten arabi-
schen Zeit, Angaben, die allerdings nicbts weni-
ger als unparteiisch sind. Wie weit die Dar-
stellung, welche der Chronist von der Geschichte
der Nachkommen des Heraklius giebt, eine Ver-
vollständigung des sonst Feststehenden bildet,
vermag ich nicht zu sagen. Aber auf alle Fälle
592 Gott. gel. An*. 1881. Stück 18. 19.
verdiente wenigstens dieser ganze letzte Theil
vollständig im äthiopischen Texte herausgegeben
zu werden. Schwerlich giebt es ja in der äthio-
pischen Literatur noch ein anderes Bach, so«
welchem wir auch nur annähernd so viel über
die Geschichte nicht - abessiniseher Länder
lernten.
Jobannes von Nikin ist ein strenger Mono-
pbysit, mit dem ganzen fanatischen Eifer, den,
wenn ich mich nicht tausche, diese Partei in
noch höherem Grade entwickelt hat als die s.g.
orthodoxe. Natürlich wirkt seine kirchliche
Parteistellung stark auf die Darstellung ein ; sie
führt nicht selten zu wahrer Geschichtsver-
drehung. Dabei wird er freilich durchweg nar
die unter seinen Parteigenossen gangbare Auf-
fassung wiedergegeben, nicht mit Bewußtsein
gefälscht haben. Im Allgemeinen preist er
selbstverständlich monopbysitisch gesinnte Män-
ner und stellt andersgesinnte Männer in ein
schlechtes Licht. Mitunter werden aber auch
solche, wenn sie sonst hervorragten, mehr oder
weniger als Monophysiten dargestellt Selbst
mit Kaiser Justinian geschieht das in gewisser
Weise; freilich steht daneben unvermittelt die
richtige Angabe, daß er ein Feind dieser Lehre
gewesen. Man siebt, die verschiedenen Quellen
sind hier nicht verarbeitet. Zenon ist hier ein
ganz erklärter Monophysit Von Anastasius
wird erzählt, der ägyptische Gottesmann Abb!
Jeremia habe ihm vorherresagt, daß er als Er-
wählter des Herrn den Thron besteigen werde,
und ihm dabei eingeschärft, den reinen mono-
pbysitischen Glauben zu bewahren, was denn
auch geschehen sei. Umgekehrt berichtet eine
von Zotenberg S. 131 mitgetheilte melkitisehe
Legende, dieser Abbä Jeremia sei ein Orthodoxer
Zotenberg, La chronique de Jean e>eque de Nikiou. 5&S
gewesen und babe den Anastasi us als Kaiser
yon seiner Ketzerei zur Orthodoxie bekehrt
Gewiß ist dies nur eine Verdrehung jener Er-
zählung, denn Anastasius war ja ein Monophy-
sit; es wäre aber ergötzlich, wenn sich etwa
nachweisen ließe, daß gerade Abbä Jeremia zu
den Melcbiten gehört hätte.
Eine Schwierigkeit, von der sich Niehtorien-
talisten kaum eine Vorstellung machen können,
liegt in der Bestimmung der Eigennamen. Die
arabische Schrift ist, auch wenn alle ihre {Hilfs-
mittel aufgeboten und sorgfältig angewandt
werden, nicht sehr geschickt zur Wiedergabe
griechischer Laute. Schier unkenntlich werden
diese aber leicht, wenn, wie ganz gewöhnlich,
die diakritischen Zeichen gar nicht oder falsch
gesetzt und dazu ähnlich aussehende Conso-
nanten verwechselt werden. So lange er arabi-
sche Schriftzeiehen vor sich hat, ist nun aller-
dings der Arabist auf eine ganze Reihe solcher
Mängel und Entstellungen gefaßt und weiß we-
nigstens den meisten rasch zu begegnen. Das
wird aber anders, wenn ein Aethiope jene viel-
deutigen Zeichen beliebig, ohne alle Kenntniß
des Richtigen und also in 9 Fällen von 10
falsch, in die äthiopische Schrift umgesetzt hat,
welche immer nur einen ganz bestimmten Laut-
werth ausdrücken kann. Dazu kommen dann noch
die Entstellungen der Abschreiber. Zur Identi-
ficierung muß man also die Namen in arabische
Schrift zurückversetzen, dann alle diakritischen
Zeichen fortnehmen, die sonst leicht vorkom-
menden Vertauschungen in's Auge fassen und
nun probieren, ob sich eine passende griechi-
sche Namensform findet. Die Schwierigkeit wird
noch dadurch erhöht, daß in diesem Namen d
und t manchmal vertauscht werden, wohl nach
38
594 Gott. gfl. An«. 1881. Stück 18. 19.
einer koptisch- griechischen Aussprache. Zoten-
berg, welcher schon in seinem trefflichen Kata-
loge gezeigt hatte, daft er in derartigen Ent-
zifferungen geübt sei, hat nun aber die große
Mehrzahl der Namen richtig gestellt; was er
nicht herausgebracht, wird bis auf wenige Fälle
unsicher bleiben, wenn nicht etwa neue Hülfe-
mittel aufgefunden werden. Nur für ganz we-
nige Namen möchte ich eine andre Form vor-
schlagen; so scheint mir in dem Stück über die
Achämeniden der von ihm als Artaxerxes ge-
deutete Name vielmehr Xerxes zu sein. In dem
König Hestätes, den Alexander tödtet (8. 52),
sehe ich einfach i><natoq} welches Wort der ara-
bische Uebersetzer als Eigennamen aufgefatt
haben wird.
Ich hebe noch ausdrücklich hervor, daß Zo-
tenberg sich immer sehr vorsichtig ausdruckt,
keine gewagten Hypothesen vorbringt und es
offen aasspricht, wenn er eine Stelle des äthio-
pischen Textes nicht sicher zu verstehn glaubt.
Die Beschaffenheit der arabischen Vorlage, woraus
diese genommen ist, und der Umstand, daft der
Uebersetzer kein geborner Aethiope war und
die fremde und längst ausgestorbene Sprache
nicht ganz flüssig schreibt, erklären es leicht,
daß es an solchen Stellen nicht fehlt. Sonst ist
die Handschrift gut, und mit Heranziehung der
beiden andern oder wenigstens der des British
Museum würde sich der äthiopische Text wohl
ziemlich rein herstellen lassen. Für die Sprach-
kunde wäre das freilich kaum ein großer Ge-
winn, denn auch die Uebersetzung der Chronik
des Johannes hat ihre Bedeutung nur durch den
Inhalt.
Straßbarg i. E. Th. Nöldeke.
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludovisi. 595
Die antiken Bildwerke der Villa Ludo-
visi in Rom beschrieben von Theodor Schrei-
ber, Docent an der Universität Leipzig. Heraas-
gegeben mit Unterstützung der Centraldirection des
deutschen archäologischen Instituts. Mit drei Holz-
schnitten und einem Plan. Leipzig, Verlag von Wil-
helm Engelmann. 1880. 8°.
Je mehr Schwierigkeiten einem gründlichen
Studium der Archäologie durch die außerordent-
liche Zerstreuung der Denkmäler bereitet wer-
den, desto dankbarer wird man jeden neuen
tüchtigen Beitrag zur Inventarisation des archäo-
logischen Materials begrüßen. Nachdem Ed. Ger-
hard vor sechzig Jahren mit der Katalogisierung
einiger großen italienischen Sammlungen begon-
nen hatte, verstrich allzu lange Zeit, in welcher
sein Beispiel nur vereinzelte Nachfolge fand.
Erst neuerdings ist die ebenso unscheinbare und
Selbstverleugnung erfordernde wie nützliche Auf-
gabe des Katalogisieren und Inventarisieren
wieder eifriger angegriffen worden, großeotbeils
anf die Anregung oder mit Unterstützung des
deutschen archäologischen Instituts. Für die ge-
naue Eenntniß der römischen Museen gab zuerst
wieder der Katalog der lateranischen Antiken
von Benndorf und Schöne einen vortrefflichen
Beitrag, während für den Vatican noch immer
Gerhards 1826 aufgenommenes Verzeichniß am
branchbarsten ist und für die beiden capitolini-
schen Museen es an jedem halbweges befriedi-
genden Kataloge fehlt. Für die zahlreichen zer-
streuten Antiken Roms wird hoffentlich das von
Matz begonnene, von v. Duhn zu Ende geführte
Verzeichniß die langersehnte Kunde bringen;
dieses wird aber die vier größten Privatsamm-
lungen, die der Villen Albani, Borghese, Ludovisi
nnd das neue Museum Torlonia, nicht mitum-
ffedstoi. Für die drei Villen sind wir noch immer
38*
596 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 18. 19.
auf veraltete oder unvollständige Kataloge, auf
Platners sehr mangelhafte Verzeichnisse in der
„Beschreibung der Stadt Born" und auf Em.
Brauns Bemerkungen in seinen „Ruinen und Mu-
seen Korns" angewiesen; der Katalog des Mu-
seums Torlonia von dem jüngst verstorbenen P.
E. Visconti ist vollends eine ganz unbrauchbare
Arbeit, welche einstweilen durch Schreibers Aus-
führungen in der Arch. Zeit. 1879 S. 63-79
eine sehr erwünschte Ergänzung erhalten bat
Demselben Gelehrten verdanken wir nunmehr
auch den vorliegenden Katalog der ludovisischen
Antiken, und zwar in einer solchen Gestalt, daß
wir nur wünschen können auch die übrigen ge-
nannten Sammlungen bald in ähnlicher Weise
beschrieben zu erhalten.
Die Antiken der, wie jedem Besucher Koros
bekannt ist, besonders schwer zugänglichen Villa
Ludovisi bedurften einer vollständigen und gründ-
lichen Katalogisierung in besonders hohem Grade,
ebenso sehr wegen der vielen ausgezeichneten
Stücke, welche hier auf verbältnißmäßig engem
Baume vereinigt sind, wie wegen der Mangel-
haftigkeit der bisherigen litterarischen Hülfsmittel.
Ein italienisches kurzes Verzeichnis von Franc.
Gapranesi (1842) ist schwer zugänglich und
höchst dürftig; Platners und Brauns Arbeiten
sind ebenfalls ungenügend ; eine in den vierziger
Jahren von Braun veranlaßte und von diesem
hochgepriesene Aufnahme der hauptsächlichsten
Stücke durch den älteren Riepenhausen erwies
sich, als zwanzig Jahre später das archäologische
Institut deren Herausgabe durch B. Kekule be-
absichtigte, als materiell und stilistisch so wenig
genau, daß man den Plan fallen lassen mußte.
So blieb es bei monographischen Behandlungen
einzelner hervorragender Denkmäler, wie sie vor
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludovisi. 697
Anderen Keku16 sieb hat angelegen sein lassen.
Schreibers im Jahre 1877 unter verbältnißmäßig
günstigen Bedingungen ausgeführter und mehr-
mals revidierter Katalog giebt nun zum ersten
Male eine vollständige und naeh wissenschaft-
lichen Grundsätzen bearbeitete Beschreibung.
Was dabei zunächst auffällt, ist die ungeahnte
Vermehrung des Stoffes. Denn meistens be-
schränkt sich der Besucher der Villa auf die
Haaptsammlung, welche jetzt in den beiden trau-
rigen magazinartigen Räumen der Statuengallerie
zusammengedrängt steht, und wendet höchstens
noch einige Aufmerksamkeit einzelnen Stücken
im Belvedere und hie und da im Garten zu.
Schreibers Eifer ist es aber gelungen, außer
manchen anderen übersehenen oder nicht gehörig
beachteten Stücken noch ein paar bisher ganz
unbekannte Schlupfwinkel zu entdecken, in der
sog. chiesuola auf dem Gebiete der ehemaligen
Villa Altieri, und in den Kellerräumen der Sta«
tuengallerie. Es befinden sich darunter manche
werthvolle Denkmäler, welche man gern ihrem
Versteck entzogen sähe. Besonders zahlreich
sind Götterbüsten, des Zeus (no. 281. 282; 283
dürfte nach der Beschreibung eher Poseidon dar*
stellen), zwei neue der Hera zu den längst be-
kannten der daran schon so reichen Sammlung
(no. 248. 284), des Hephästos (no. 249), des
Apollon (no. 315), der Artemis (no. 287) eines
blasenden Windgottes oder Triton (no. 251) u. s. w.,
außerdem einige interessante Sarkophage; auch
auf die fünf sitzenden männlichen Statuen an
der Gartenmauer (no. 240. 243—246) mag hin-
gewiesen sein. Einstweilen wird man dankbar
sein müssen, daß einige der interessantesten
Werke auf des Verf. Veranlassung für das In-
stitut gezeichnet worden sind. Auch der Zahl
596 Gott. gel. Auz. 1881. Stück 18. 19.
nach ist die Ausbeate sebr erbeblich, denn wäh-
rend die Statuengallerie 123 Stücke enthält, um-
faßt das gesanimte Verzeichniß nunmehr fast die
dreifache Anzahl, 339 Nummern, darunter bei-
nahe hundert in jenen beiden Lokalitäten.
Neben der Vollständigkeit ist ein vielleicht
noch wichtigeres Erfordern! ß eines Eataloges die
Genauigkeit der thatsächlichen Angaben über
Darstellungsweise, Ergänzungen, Material, Matte
u.s.w. Eine Einzelprüfung in diesen Beziehun-
gen ist natürlich nur den Originalen selbst gegen-
über möglich. Diese habe ich nicht anstellen
können, aber der günstige Eindruck von Zuver-
lässigkeit, welcher sich beim bloßen Lesen jede»
aufdrängen wird, hat sich mir bei einer Verglei-
chung mit den nicht ganz wenigen Notizen, di*
ich mir theils in früherer Zeit, theils im Herbst
1878 an Ort und, Stelle gemacht habe, durchaq»
bestätigt. Wo in Nebensachen pein Widersrucb
bestand, habe ich mich fast immer überzeugen
können, daß der Verf. meinen Angaben gegen-
über Recht haben müsse ; doch will ich sieht
verschweigen, daß mir dasEerykeion im liniea
Arm der Statue no. 28 antik und damit die Deu-
tung auf Hermes gesichert erschien. Mit noch
größerer Bestimmtheit als Schreiber halte ick
jetzt die ergänzten Tbeile derKnidierin (no. 97)
für modern und nur den Torso für alt; damit
erledigen sich manche der von mir Arch. Zeit
1876 S. 145 ff. gemachten Bemerkungen. Auch
füge ich hinzu, daß die zurttckgebengte Haltung
des Kopfes, welche Brauns Publication (Kunst-
myth. Taf. 77, nach Biepenhausens Zeichnung)
der Statue verleiht und welche zu dessen selt-
samer Auffassung des Motivs geführt hat, in
Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Nur bei eimm
allzu nahen Standpunkt des Zeichners war ein
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa LudoviBi. 599
solches Versehen möglich. Dies ist nicht der
einzige Fall, wo Braun, trotz seiner umfassenden
Kennftniß der römischen Antiken, nicht nach den
Originalen, sondern nach Abbildungen und an-
dern litterarischen Hülfsmitteln gearbeitet hat.
In dem Bache über die „Ruinen and Maseen
Roms" finden sich zahlreiche Belege für diese
Beobachtung; ich will hier nur beispielsweise
anführen, daß, wie Schreiber richtig bemerkt,
die Arme des ruhenden Ares (no. 63) nie ge-
brochen waren, während Braun Platners entgegen-
gesetzte Angabe ausschreibt; umgekehrt ist
Brauns Angabe, die Beine des einschenkenden
Satyrn (no. 71)*) seien nie gebrochen gewesen,
völlig wider den Augenschein und vielleicht nur
aus Platners Schweigen geschlossen.
Die genaue Beobachtung der Ergänzungen
oder erhaltener Reste hat zu manchen interessan-
ten Berichtigungen herkömmlicher Ansichten ge-
führt So hielt der dem sog. Germanicus des
Eleomenes entsprechende Hermes (no. 94) in
der Linken ein gesenktes Eerykeion; der
noch erhaltene Rest desselben widerlegt endgiltig
die an sich schon recht befremdliche Meinung,
daft das obere Ende des emporgerichteten Stabes
die herabgleitende Chi amy s am Arme festgehalten
habe. Der sitzende Apollo (no. 116) ver-
dankt seinen Hirtenstab, der zu mancherlei Deu-
tungen veranlaßt hat, lediglich der Willkür eines
modernen Ergänzers. Umgekehrt widerlegt der
sicher antike Rest der Schwertscheide die vorge-
schlagene Deutung des am Boden sitzenden
Kriegers (no. 118) als Personification eines
*) DaÄ an der Copie in Petworth die von Schreiber
angeführte Inschrift %4noXl(6r*os (ohne inoia) wahrschein-
lich modern, jedenfalls keine Künstlerinschrift sei, habe
ich mittlerweile Arch. Zeit. 1880 S. 17 Anm. 29 gezeigt.
600 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
Hafens. Dankenswert!) ist auch die Mittbeilung
über das Relief no. 103, welches ich Arch.
Zeit 1871 Taf. 53% 2 nach einer für zuverlässig
ausgegebenen Zeichnung Riepenhansens , ohne
eigene Prüfung des Originals, publiciert und
ebenda S. 148 f. besprochen habe. Die Angabe,
daß es ein griechisches Grabrelief sei, wies ich
damals zurück ; mit Recht, da es sich jetzt als
Nebenseite eines römischen Medeasarkophages
herausstellt. Ich ging aber zu weit, wenn ich
den antiken Ursprung des Ganzen in Zweifel
zog; ob freilich der damaligen Vorlage gegen*
über „ohne Grund" (Schreiber S. 123), möchte
ich bezweifeln: das unantike sentimentale Ab-
wischen derThränen seitens der Frau war eben
nur ein Fehler der Zeichnung, und der so an-
stößig stillose Mantel des Mannes ist am Origi-
nal gar nur mit Kohle auf den Grund gezeich-
net! Wie ließ sich das vermutben? Interessant
ist ferner der Nachweis von fünfzehn tiefen, re-
gelmäßig angeordneten Bohrlöchern an dem He-
rakles köpfe no. 17, welche auf das für Hera-
kles bisher erst in einem einzigen sicheren Bei-
spiel nachgewiesene Attribut einer Strahlenkrone
(Florentiner Gemme bei Gori Thes.gemm. astrif.
I, 121) hinzuweisen scheinen. Bestätigen kann
ich die Deutung, welche der Verf. den Bohr-
löchern über der Stirn des archaischen
weiblichen Kopfes (no. 23) giebt ; auch mir
erschienen sie zur Befestigung von Drahtlöckchen
bestimmt. — Für modern erklärt Schreiber die
in der That sehr auffällige Halbfigur eines Kna-
ben mit der Urne an dem Grabstein no. 37, die
Amor und Psyche genannte Gruppe no. 50, den
Portraitkopf no. 64, den bronzenen Kolossalkopf
des M. Aurelius no. 85 (so schon Ficoroni).
Ein Zweifel gegen eine Annahme des Verf.s
scheint mir hinsichtlich des linken Armes der
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludovisi. 601
Athena Parthenos des Antiocbos (no.
114) gestattet. Schreiber giebt an, neu seien
beide Arme mit dem auf den Achseln (Schal-
tern?) anfliegenden Rande der Aegis, und fer-
ner bemerkt er (S. 136) : „Die r. Schulter ist ein
wenig gesenkt, die 1. dagegen erhoben, was dar«
auf zu deuten scheint, daß die Rechte als tra-
gend, die Linke als aufstützend gedacht waru.
Die Hebung der linken Sqhulter ist in der That
nieht unbeträchtlich; ferner ist es beachtens-
wert b, daß die Aegis sich hier gegen den Hals
bin zu einigen Falten zusammenschiebt, ein
Motiv, welches nicht in einem Aufstützen, sondern
nur in einem Heben des Armes (wie es auch der
Ergänzer durchgeführt hat) seinen Grund haben
kann. Sollte aber auch jenes Stück der Schulter
nnd der Aegis ergänzt oder tiberarbeitet sein, so
spricht doch für einen ursprünglich gehobenen
Arm die völlig durchgeführte, gewiß nicht mo-
derne Bearbeitung der ganzen Gewandpartie zwi-
schen der linken Achsel und dem Gürtel. Unter
der Achsel wird sogar das Nackte sichtbar, was
bei einem gesenkten und aufgestützten Arm un-
möglich wäre. So wenigstens erschien es mir
bei einer Untersuchung, die ich 1878 grade auf
diesen Punkt hin unternahm. Die Frage ist
nicht unwichtig, wenn es gilt den Grad der Ab-
hängigkeit der Statue des Antiochos von ihrem
unverkennbaren Urbilde, der Parthenos des Phi-
dias, zu bestimmen.
Nur in wenigen Fällen hätte ich die Be-
schreibung etwas eingehender gewünscht. Daß
der berühmte Herakopf (no. 104) nicht genauer
analysiert wird, scheint mir gerechtfertigt, aber
z. B. bei dem Knaben mit der Gans (no. 11),
welchen der Verf. mit Recht „eine ungeschickte
Umbildung der Gruppe des Boethos" nennt, hät-
ten die Abweichungen von letzterer etwas klarer
602 Gott. gel. Am. 1881. Stück 16. 19.
und vollständiger angegeben werden dürfen : wie
die am Körper des Knaben emporgezogene Gans
ihren einen Faß gegen das vortretende linke
Bein des Gegners stemmt u. s. w. Die sehr in-
teressante altertümliche Frauenstatue no. 29
(an deren rechter Seite die beiden gefältelten
Säume in der That an einander genäht sind)
hätte eine eingehendere stilistische Würdigung
verdient. Bei der G#ruppe des Menelaos
(no. 69) ist die Beschreibung nicht genau, die
Bestimmung des Motivs nicht scharf genug, der
dritte Absatz enthält mehre ungenaue oder schiefe
Behauptungen. Die Stellung des linken Fußt*
des Jünglings ist weder mit einem ruhigen Stehen
(wie bei der Frau) noch mit einem Herantreten,
sondern nur mit einer Wendung zum Fortgeben
(von einem „entschiedenen Ausdruck des Weg-
sehreitens" hat meines Wissens niemand gespro-
chen) in Einklang zu bringen. Daran ändert
die Bemerkung nichts, daß der Oberkörper an
dieser Bewegung nicht theilnehme: er ist eben
erst im Begriff sich aus der Umarmung zu lösen,
während im Unterkörper die Wendung bereite
begonnen hat, eine bekanntlieh in der antiken
Kunst häufige Art eine allmähliche Bewegung
darzustellen. Die Vergleichung der Stellung un-
seres Jünglings mit derjenigen des lysippiseben
Apoxyomenos übersieht über einer oberflächlichen
Aehnlichkeit den großen Unterschied im eigent-
lichen Grundmotiv der Bewegung beider Figuren.
— Zum Symplegma des Satyrn und der
Nymphe (no. 54) bemerke ich, daß das weit
vorzüglichere Neapler Exemplar (Clarac IV 667,
1546 A), welches 1860 im gabinetto segreto stand,
jetzt aber nicht mehr sichtbar zu sein scheint,
mit dem ludovisischen nicht ganz genau über-
einstimmt. Der rechte Arm der Nymphe ging
dort, wie der erhaltene Best zeigt, ziemlich steil
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludovisi. 608
in die Höbe und die Hand packte entweder den
Kopf des Satyrn, wo ein Ansatz derselben übrig
geblieben zu sein scheint, oder sie ward von der
Rechten des Satyrn gepackt (so erscheint das
Motiv auf der Windsorer Zeichnung des unter-
gegangenen Exemplars von Whitehall, Arch, Zeit.
1874 S. 68); in der ludovisischen Gruppe wird
der Arm mehr horizontal gehalten und dadurch
der Ausdruck des Bingens geschwächt. Ferner
ist in der Neapler Gruppe der ganze Leib der
Nymphe bis unter den Schoß völlig entblößt, und
ea scheint, daß die Linke das Gewand am Schen-
kel *u fassen suchte, um die entstandene Blöße
zu bedecken. In der ludovisischen Gruppe ver-
hüllt dagegen das Gewand die linke Hüfte und
ein$a Theil des Unterleibes und fällt über den
linken Unterarm herab, während die linke Hand
die zudringliche Linke des Satyrn von der Brust
zu entfernen sucht. Letztere beiden Abweichun-
gen stehen offenbar im Zusammenhang mit ein-
sonder. Das Exemplar von Whitehall zeigte die
ueiehere Gewandung des ludovisischen, aber das
niebtwagende Motiv der in die Luft vorgestreck-
ten Kftgdi welches die allein erhaltene Zeich-
nung aufweist, fiel wahrscheinlich einem unge-
schickten Ergänaer zur Last —
In Anordnung und Behandlung der einzelnen
Artikel hat sieh, Schreiber offenbar Benndorfs
und Schönes lateranischen Katalog zum Muster
genommen. Auch bei ihm finden wir die An-
gabe der Ergänzungen der eigentlichen Beschrei-
bung vorangestellt. Bei Einzelstatuen oder wo
Abbildungen vorliegen mag das bequem sein,
bei Gruppen oder gar bei figurenreichen Reliefs,
besonders wenn sie noch nicht publiciert sind,
scheint mir der Vortheil dieses Verfahrens zwei-
felhaft m sein, da der Leser nunmehr gezwungen
wird an zwei Stellen zu lesen, um sich das Bild
604 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18. 19.
innerlich hervorzurufen. Sehr praktisch sind, na-
mentlich bei uiipublicierten Stücken, die Verwei-
sungen desVerf.s auf gleiche oder ähnliche Bild-
werke und deren Abbildungen, die sich gelegent-
lich zu vollständigen Katalogen steigern (z. B.
no. 71. 165; bei no. 90 wäre die Anführung einer
ähnlichen Statue erwünscht gewesen). Die Künst-
lerinschriften sind sämmtlich in Facsimileholz-
schnitten dem Texte einverleibt. Den Schluß der
Artikel bilden Angaben über die Publicationen
der ludovisischen Antiken selbst, sowie sehr aus-
führliche Literaturnachweise, denen hie und da
einige Kürzungen kaum geschadet haben würden.
Besonders dankenswerth ist die sorgfältige Bück*
sichtnahme auf Fundnotizen, ältere Beschreibun-
gen und die Publicationen des 16. und 17. Jahr-
hunderts (aber warum mußten z. B. bei Ferner
auch alle Nachdrucke citiert werden?); sie
gewähren über Ergänzungen wie über Schicksale
der Statuen mancherlei Aufschluß. Gelegent-
lich wird ein Zweifel erlaubt sein. Sollte no. 137
wirklich aus Villa Medici stammen und nicht
vielmehr nur ein Versehen in der Unterschrift
bei Cavalieri, etwa durch Verwechselung mit der
mediceischen Statue (Uff. 337 D.) veranlaßt, anzu-
nehmen sein? So viel mir bekannt, waren die
Besitzer jener Villa wohl sehr eifrige Käufer,
aber zum Abgeben wenig geneigt. Bei der
kauernden Aphrodite (no. 12) ist es kaum nö-
thig, eine neue Ergänzung seit den Zeiten Äl-
drovandis anzunehmen; ich denke, dieser wird
geschrieben haben: con la man sinistra Hen la
sua camicia, con la destra un panno (nicht
porno, wie in den Ausgaben steht und von Bois-
sard getreulich wiederholt wird). Dann wird
aber auch der nach einer Zeichnung Salviatis
ausgeführte Stich von Episcopius (Taf. 78), ohne
Ortsangabe, schwerlich auf dies Exemplar gehen,
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludorisi. 605
da bier alle Ergänzungen fehlen. Als ein Beispiel,
zn wie erheblichen Resultaten solche Stadien füh-
ren können (vgl. aach Arch. Zeit 1880 S. 13 ff.),
führe ich die Anmerkung zu no. 91 an; in die*
der weist Schreiber den ohne Grund auf Julius
Cäsar bezogenen Bronzekopf als identisch mit
dem angeblich in Liternum gefundenen Kopf des
Scipio nach, welcher in der neuerdings von Ber-
noulli wiederaufgenommenen Untersuchung über
die Scipiobüsten eine hervorragende Rolle spielt.
Diese Untersuchungen gründen sich zu gro-
ßem Theil nicht allein auf gedruckte oder ge-
stochene Quellen, sondern auch auf handschrift-
liche Inventare, welche es Schreibers Spüreifer
gelungen ist in römischen Staats- und Privat-
archiven aufzufinden und sich nutzbar zu machen«
Aus diesen neu erschlossenen Quellen ist vorzugs-
weise die höchst dankenswerthe Geschichte der
Sammlung geschöpft, welche die Einleitung bil-
det. Während bisher die Entstehung der Ludo-
visischen Sammlung nur Gegenstand vager Ver-
muthungen war, liegt jetzt das Wesentliche klar
vor. Die Villa ist das Werk eines Mannes, des
Cardinalnepoten Ludovico Ludovisi, und — es
ist in der That erstaunlich! — in wenig mehr
als einem Jahre zu Stande gebracht. Denn in
das Jahr 1622 fällt der Ankauf der ehemaligen
Villa Orsini, der Beginn der Neubauten unter
Leitung Domenichinos und die Erwerbung der
meisten Antiken. Schon im nächsten Jahre starb
der päpstliche Oheim Gregor XV., und demnächst
verließ der Cardinal, den Anfeindungen der nun-
mehr herrschenden Familie Barberini weichend,
Rom, ohne auch nur die Villa vollendet zu ha-
ben. Schreiber hat hinter Hecken eine Anzahl
von Marmoren (no. 190 — 206) entdeckt, welche
allem Anschein nach nie zur Aufstellung gelangt
sind, sondern seit drittehalb Jahrhunderten dort bei
606 Gott. gel. Anz. 1681. Stück 18. 19.
Seite liegen ! Nur wenige unbedeutende Antiken
wurden mit der Villa selbst oder mit der Villa
Altemps (später Conti, jetzt Torlonia) in Fräs-
cati erworben (s. über letztere das Inventar IJ
auf S. 26). Auch die einst so reichen Samminn-
gen der Familie Cesarini waren bereits durch
frühere Verkäufe allzu sehr gelichtet, als daß
dem Cardinal Ludovisi mehr als ein letzter, im
Ganzen unerheblicher Rest übrig geblieben wäre,
darunter die interessante Karyatide no. 146 (s.
das Inv. II vom Jahre 1616 auf S. 25). Den
eigentlichen Grundstock der neuen Sammlung
bildete der Hauptinhalt einer der hervorragend-
sten Sammlungen des Cinquecento, von den bei-
den Brüdern Cesi, dem Cardinal Paolo Emilio
(t 1537) und dem Cardinal Federico (f 1565)
mit großem Eifer gebildet und in dem Garten
des Palazzo (nicht Villa) Cesi im Borgo aufge
stellt. Wir kennen sie ziemlich genau aas der
ausführlichen und begeisterten Schilderung Ulisse
Aldrovandis, welcher sie im J. 1550, also unter
dem zweiten Besitzer, kennen lernte. (Auf die-
sen, nicht, wie der Verf. S. 7 andeutet, auf den
Bruder geht auch Aldrovandis Lob ; das beweist
der von Schreiber nicht mitangeführte Schluß-
satz : AI Sig. Iddio jriaccia, che se ne possa lieta-
mente, e di lungö godere il $uo buon Sigtiore.)
Der Verf. hat nicht bloß Aldrovandis Beschrei-
bungen sorgfältig verwertbet, sondern auch das
Verkaufsdocument von 1622 im Staatsarchiv auf-
gefunden und mitgetheilt (luv. IV, S. 27). Die-
ser Sammlung entstammt z. B. der berühmte
Kolossalkopf der „ludovisischen Junotf, Welcher
freilich erst von Winckelmafin in seinem Werth
erkannt werden mußte, uüi tu seinem Weltrahm
tu gelangen. Zu den bisher genannten Erwer-
bungen kamen dann zahlreiche Eitizelänkäofe
und neue Funde, auch einzelne Geschenke rötiri-
Schreiber, Antike Bildwerke der Villa Ludovisi. 607
scber Großen an den allmächtigen Nepoten. Aber
seltsam, grade bei einigen Hauptstücken der
Sammlung — bei der Galliergruppe und ihrem
einstigen Genossen, dem jetzt capitolinischen
sterbenden Gallier, bei dem Ares, bei der Gruppe
des Menelaos — fehlt es an jeder Notiz über die
Herkunft. Darauf gründet sich die alte Ver-
muthung, daß diese meist sehr wohl erhaltenen
Werke auf dem Boden der Villa selbst, bekannt-
lich einem Theile der sallustischen Gärten, zum
Vorschein gekommen seien. Oder besaß der Car-
dinal sie vielleicht schon vorher, wie Julius IL
schon als Cardinal den Apollon besaß, welcher
dann der erste Anlaß zur Gründung des belve-
derischen Statuenhofes ward? Jedenfalls tauchen
jene Statuen für unsere Kunde erst in und mit
der Villa Ludovisi auf, waren also schwerlich
schon lange vorher bekannt. Einen Ueberblick
über die Resultate des so rascb unterbrochenen
Sammeleifers des Cardinais bietet das wiederum
erst von Schreiber aus dem Hausarchiv der Fa-
milie Buoncompagni-Ludovisi ans Licht gezogene
Inventar der Villa von 1633 (S. 28 ff.), welches,
obgleich nicht einmal ganz vollständig, doch
über 380 Marmorwerke nennt! Dies Inventar,
kurz nach dem Tode des Cardinais aufgenom-
men, bezeichnet den Höhepunkt der Sammlung.
Die Villa selbst ward freilich noch durch den Ankauf
der benachbarten Vignen Altieri, Verospi, Borioni bis an
die Porta Salara erweitert (s. den Plan am Ende des
Buches), auch kamen einzelne Stücke hinzu; aber zahl-
reichere und wichtigere (die Gruppe von San Udefonso,
der „sterbende Fechter" u. s. w.) gingen der Sammlung
verloren, und bei den Wanderungen der Marmore, na-
mentlich aus dem Hauptpalast in die ehemalige Bibliothek
(die jetzige Statuengallerie) ward Vieles ausgeschieden
und gerieth in jene Magazine, in welchen erst Schreiber
diese vergrabenen und verschollenen Schätze wieder ent-
deckt hat.
Das besprochene Buch legt einen Wunsch nahe, den
606 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 18.19.
es noch gestattet sein mag hier auszusprechen. Unsere
Kenntniß der „Wanderungen und Wandelungen" des rö-
mischen Antikenvorrathes liegt noch sehr im Argen. Die
von der italienischen Regierung neuerdings begonnene
Herausgabe der Doeumenti inediti per sertrire aUa stork
dei Musei d' Italia und Eug. Müntzs treffliche Arbeiten
schaffen allmählich authentischen Stoff herbei. Unser
Buch bringt auch seinen Beitrag dazu. Meines Wissens
haben v. Duhn und Schreiber noch manches ähnliche Ma-
terial gesammelt. Unser Verf. verweist auch gelegentlich
auf bibliothekarische Studien, die er den wichtigen Fund-
berichten Flaminio Yaccas und den Aufzeichnungen Cas-
siano dal Pozzos nicht ohne Erfolg gewidmet habe. Daß
er das unschätzbare Büchlein AMrovandis genau kennt
und zu würdigen weiß, zeigt fast jede Seite. Möchte doch
Schreiber die Ergebnisse seiner Studien uns nicht vorent-
halten. Yacca und Sante Bartoli (für letzteren bietet
auch die Bibliothek in Windsor manches Neue) würden
wir gern in einer zuverlässigeren und bequemeren Aus-
gabe benutzen können, als in den Drucken Montfaucons,
der Roma antica von 1741, und in Feas Miscellanea. Yor
Allem aber würde eine sorgfaltige, mit kurzem aber ge-
nauen Commentar versehene, mit beständiger Bücksicht
auf die ältesten Publicationen durchgeführte Ausgabe von
Aldrovandis Statue für das bezeichnete Gebiet der ar-
chäologischen Studien von dem höchsten Werthe sein,
sie würde über eine Menge schwieriger, vereinzelt kaum
zu lösender Fragen helles Licht verbreiten. Ich sollte
nach der vorliegenden Arbeit denken, daß Dr. Schreiber
hierzu besonders berufen und wohl vorbereitet sei, und
kann nur den dringenden Wunsch aussprechen, daß er
dieser unscheinbaren und mühevollen, aber sehr dankens-
werthen Aufgabe recht bald seine Kräfte widmen möge.
Daß sorgfältige Register (der Abbildungen, der Ge-
genstände u. 8. w., der Orte, an welchen im Buche er-
wähnte Antiken sich befanden oder befinden) dem Buche
nicht fehlen, bedarf kaum der Erwähnung. Auch verdient
die Verlagsbuchhandlung, welche sich bei diesem Kata-
loge wie bei Dütschckes „antiken Bildwerken in Ober-
italien44 einer Unterstützung seitens des archäologischen
Institutes zu erfreuen hatte, für die Ausstattung volle
Anerkennung.
Straßburg i. Eis. Ad. Michaelis.
Für die Redaction verantwortlich : F. Btchtd, Director d. Gott. gel. Ans.
Verlag der DUtoidCschm Vorlagt- Buchhandlvmf.
Druck dsr DkUrich'tchtn Univ.- Buchdrucktni (W. Fr. Katstmtrh
609
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 20. 21. 18. u. 25. Mai 1881.
Inhalt : Jahns, Atlas snr Geschichte des Kriegswesens. Von
6. Köhler. — 8 chirr mach er, Geschichte von Spanien. Bd. IV.
Yom Verf. — Krichenhaner, Theogonie und Astronomie. Schrei-
ber, Apollon Pythoktonos. Yon W. A Rosehtr. — Revue des Stades
jnives. Nr. 1. von 8 Löwenfeid.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Atlas zur Geschichte des Kriegswesens
von der Urzeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts.
Bewaffnung, Marsch- und Kampfweise, Befestigung,
Belagerung, Seewesen. Von Max Jahns. Leipzig.
Grunow 1878. 100 Tafeln mit gegen 1500 Figuren
und Plänen.
Handbuch einer Geschichte des Kriegswesens etc. Tech-
nischer Theil. (Fortsetzung.)
Mit so großer Sympathie auch die ersten
Hefte des Atlas zur Geschichte des Kriegswesens
aufgenommen worden sind und in Bezug auf
das Alterthum auch der Text (Handbuch) im
Wesentlichen befriedigt hat, so enttäuscht sind
wir von der Fortführung des Werks bei seiner
Ausdehnung auf das Mittelalter. Allerdings hat
sich der Verfasser nur anheischig gemacht eine
auf den Forschungsergebnissen der letzten Jahr-
zehende beruhende Zusammenstellung des in
Monographien zerstreuten Materials über den
technischen Theil des Kriegswesens zu geben,
aber ohne eignes ausgedehntes Quellenstudium,
wie es zur Sichtung des Materials und zur Aus-
39
610 Gott. gel. An*. 1881. Stück 20. 21.
füllnng der Lücken erforderlich ist, und obne
skeptische Kritik bei Benutzung desselben, ist
ein solches Unternehmen nicht durchzuführen.
Der Verfasser zeigt sich Schriftstellern wie
Viollet-le-Duc, Rüstow, Wttrdinger, Lacombe,
Demmin, Meynert, Meyer (Geschichte der Feuer-
waffentechnik) etc. gegenüber viel zu gläubig.
Davon wird nicht bloß das Handbuch, sondern
auch der Atlas berührt. Im Allgemeinen wird
man letzteren jedoch als unabhängig vom Hand-
buch betrachten können, da jedes Blatt eine
eingehende Legende hat und in seiner Ausfüh-
rung für den vorliegenden Zweck nichts zu
wünschen übrig läßt. Wir werden es daher
vorzugsweise mit dem Handbuch zu thun haben
und müssen vor Allem bemerken, daß sich darin
bei Bezeichnung der Blätter des Atlasses zahl-
reiche Druckfehler eingeschlichen haben, welche
die Benutzung des Atlasses sehr erschweren.
Das Handbuch selbst ist lückenhaft und sehr
ungleich in seinen einzelnen Theilen. Mit Vor-
liebe ist die Befestigungskunst bebandelt und
sowohl im Atlas wie im Handbuch ein uner-
meßliches Material aufgespeichert. Namentlich
ist der Einfluß, den die Artillerie im 15. und
1(5. Jahrb. auf die Befestigung gewinnt, sehr
ausführlich dargelegt. Der Belagerungskrieg
fällt schon dagegen ab und die Taktik ist sogar
dürftig dargestellt. Für die Infanterie ist Bttstow
fast in seinem ganzen Umfange wiedergegeben,
für die Kavallerie liegen solche Vorarbeiten aber
nicht vor. Der Verf. hat daher die reiche Ver-
gangenheit dieser Waffe nicht zu bewältigen
vermocht. Die mittelalterliche Bewaffnung irt
im Ganzen befriedigend dargestellt, aber mehr
für eine Kulturgeschichte als für ein militäri-
sches Handbuch. Man muß von solchem doch
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 611
verlangen können, daß man sich darin leicht
orientieren kann, wie die Bewaffnung in dieser
oder jener Schlacht war. Bei der merkwürdi-
gen Neigung des Verfassers stets in die folgende
Periode überzugreifen and neue Erscheinungen
vorzudatieren, ist das aber außerordentlich er-
schwert, ja unmöglich gemacht. Die Artillerie
ist völlig unkritisch behandelt. Nur theilweise
befriedigend ist die Darstellung der Schlachten.
Der Verf. hat sich hauptsächlich an diejenigen
gehalten, die bereits eine gute Darstellung ge-
funden haben und giebt diese dann sans gene
wieder. Dabei ist natürlich die ältere Zeit
schlecht weggekommen. Er beginnt erst mit
den Schlachten der franz.-englischen Kriege des
14 Jahrh. Von den Reiterschlachten der Bitter-
zeit erfährt man daher so gut wie gar nichts.
Um das nachzuholen wird die Schlacht von
Tannenberg 1410 gewählt, die allerdings in
hohem Grade geeignet ist, die Taktik der$itter-
zeit zu veranschaulichen. Aber dazu würden
gründlichere Studien gehört haben, als Verf.
darauf verwendet hat. Er läßt sich fast durch-
weg von Job. Voigt führen und nimmt alle die
Uebertreibungen desselben in Bezug auf Stärke
der Heere, die Ausdehnung der Schlachtlinie,
die völlig aus der Luft gegriffene Formation der
Truppen, das Detachement von Seemen und das
Lager von Frögenau mit in den Kauf. Die
Ansicht, daß die Schlachthaufen des Fußvolks
und der Reiterei wahrscheinlich gemischt ge-
standen hätten, ist unbegründet. Die Treffen
bestanden nur aus Reitern, das Fußvolk befand
sich dahinter in der Wagenburg, die nach eng-
lischem Vorbilde einen integrierenden Theil der
Schlachtordnung bildete. Von sla vischen Flügel-
reserven hinter den drei Treffen (S. 885) und
39*
612 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
und deren Eingreifen ist nirgends die Bede.
Ebenso wenig von südslawischen nnd tatarischen
Plänklern, die sich zwischen die Rotten der
deutschen Ritter stahlen, um den Pferden mit
scharfem Hesser die Sprunggelenke abzuschnei-
den. Es beruht dies auf einer falschen Deu-
tung einer Stelle der Ghron. conflict us. Das
Eingreifen des Hochmeisters wird unrichtig dar-
gestellt und das Haupt des Eidechsenbundes be-
fand sich nicht in Reserve, sondern im Treffen
des Hochmeisters. Der Verlust eines großen
Tbeils der Ordensartillerie gleich zu anfang der
Schlacht ist vollkommen begründet, was Verf.
hezweifelt.
Ich habe mit diesen Bemerkungen nur den
Standpunkt des Verf. in Bezug auf die histori-
sche Kritik der Thatsachen andeuten wollen,
auf seinen Mangel an Schärfe in Beurtheiluog
der einschlägigen neuen Literatur habe ich oben
hingewiesen.
Die Urzeiten und deren Völker, die Kelten,
Germanen, Normannen sind im Allgemeinen gut
dargestellt, die Byzantiner, Neu-Perser, Araber
und die orientalische Kriegsfeuerwerkerei nur
skizziert. Dies gilt auch von den Turkvölkern,
wohin der Verf. in erster Reihe die Hunnen,
Avaren, Ungarn, in zweiter die Mongolen, Ta-
taren und TUrken rechnet. Von den Ungarn
wird zu wenig gesagt, das 15. Jahrhundert, wo
sie die Vormauer der christlichen Welt gegen
die Türken bildeten, ist ganz übergangen. In
Betreff der Mongolen und Türken fehlt ihm die
Kenntniß der Quellen. Er stellt die Schlacht
bei Wahlstadt 1241 nach Thebesius (Liegnitzer
Jahrbücher) dar, als ob sich in Liegnitz beson-
dere Ueberlieferungen erhalten hätten. Theb.
schöpft aus Miechow und dieser aus Dtugoss,
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 613
auf den alle Nachrichten zurückführen, ohne
daß dessen Angaben beglaubigt sind, noch eine
innere Wahrscheinlichkeit haben. In Bezug auf
die Türken begnügt er sich mit v. Hammer und
Ziockeisen und verliert sie seit der Eroberung
von Konstantinopel ganz aus den Augen.
Das Kriegswesen der Russen, Finnen, Ae-
stier, Littauer und Polen ist nur skizziert. Bei
Polen wird sehr richtig hervorgehoben, daß ihre
Ausrüstung und Bewaffnung sich im Mittelalter
durchaus nach deutschem Muster gebildet bat
and die polnische Nationaltracht erst mit An-
fang des 16. Jahrh. festere Formen annimmt.
Er hätte hinzufügen können, daß auch ihre
Taktik durchaus deutsch war, sowohl in der
Formation der Schlachthaufen mit einem „Spitz",
als in der Aufstellung in drei Treffen. Selbst
die Schwertumgürtung vor der Schlacht wurde
in deutscher Weise ausgeführt. Die Kriegskunst
der Hussiten wird (S. 887—898) eingehend nach
Palacky besprochen. Die Aufnahme der Kriegs-
V
Ordnung Wenzel Wlczek von Cenow's ist nur an-
zuerkennen. Die Schweden, Norweger und Dä-
nen sind fast zu knapp gehalten, ebenso die
Spanier bis zu den Zeiten Ferdinands des Ka-
tholischen. In Bezug auf die Bewaffnung der
Spanier muß ich bemerken, daß sie bis zur Be-
rührung mit den Engländern 1367 sehr leicht
war und daß sich der Einfluß der letzteren hier in
derselben Weise geltend macht, wie in Italien und
Deutschland. Wir haben hierfür das compe-
tente Zeugniß von Ayala*), wie in Italien das des
*) Don Pedro Perez de Ayala, obersten Kanzlers
von Castilien Chronik Don Pedros. Madrid 1779. Er
focht bei Najera als Bannerträger auf seiten Don Pedro's
und sagt I 399: ca ay comenzaron las armas de baci-
netes 6 piezas 6 cotas, et arnls de piernas 6 brazos, 6
614 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
Filippo Villani. Fttr letzteres wird mit Recht
nach dem Vorgange Burkhardts*) die hohe Be-
deutung des Condottieri-Wesens für die Ent-
wicklung der modernen Kriegskunst hervorge-
hoben. Referent, der dies 1873 unabhängig von
Burkhardt zur Sprache brachte **), fand damals
entschiedenen Widerspruch.
Frankreich, England und Deutschland stehn
selbstredend im Vordergrunde der Betrachtung.
Ersteres wird infolge der guten Vorarbeiten die
hier vorhanden sind, besonders bevorzugt.
Hinsichtlich des Seewesens begnügt sich der
Verf. im Allgemeinen den Standpunkt der ma-
ritimen Nationen mehr in politischer Beziehung
darzustellen, als in die Technik des Schiffis-
wesens einzudringen, do eil darf man deshalb
mit dem Verf. nicht rechten und kann ihm ftr
das Gebotene nur dankbar sein.
Es bleibt noch übrig unsere oben ausge-
sprochene Ansicht über die Bearbeitung der
einzelnen Disciplinen näher zu begründen.
1. Befestigung und Belagerungskrieg.
Ueber die Befestigung haben wir nur wenige
Bemerkungen zu machen. Verf. bezeichnet (S.
616) den Haupttburm der Burgbefestigung mit
„Bergfrit". Im ganzen Lauf des Mittelalters
glaves 6 dagas £ estoques; ca antes otras usaban, per-
puntes (gesteppte Wftmmser) capellinas, e' lanzas (Wurf-
spieße im Gegensatz zu glaves, Lanzen), £ antes decian
omes de caballo 4 daqui comenzaron „tantas lanzas".
Ich bemerke das, weil der Graf Clonard, dem Verf. folgt,
die schwere Bewaffnung schon in das 18. Jahrhundert
verlegt.
*) Burkhardt, die Kultur der Renaissance in Italien.
Basel I860. Abschnitt der Krieg als Kunstwerk.
**) üeber den EinfluB der Feuerwaffen auf die Tak-
tik. Historisch - kritische Untersuchungen von einem
höhern Offizier. Berlin bei Mittler. 1878. S. 5.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 615
bezeichnet Bergfrit nichts anderes als hölzerner
Thurm, sowohl bei provisorischen Befestigungen
wie im Belagerungskriege (Ebenhöhe). Auch
in den Bargen werden die hölzernen Thttrme
damit bezeichnet, womit man die Belagerungs-
thürme zu überhöhen suchte. Wie das im Mit-
telalter häufig vorkommt, bebalten sie diesen
Namen auch bei, wenn sie später in Stein aas*
gebaut wurden. Es sind dies stets hohe Thttrme
von geringem Durchmesser, die mit demHaupt-
thurm nichts zu thun haben. Auch die hölzer-
nen Eirchthürme wurden Bergfrit (beffroy) ge-
nannt und behielten dann ihren Namen, wenn
sie in Stein ausgeführt wurden. Der Oberst
von Gohausen, der zuerst den Haupttburm der
Barg Bergfrit nennt, weiß zur Begriindang sei-
ner Ansicht nur eine Stelle in einer Urkunde
bei Lacomblet anzuführen*), wo aber Bergfrit
durchaus nichts anderes bedeuten kann, als höl-
zerner Thurm. Krieg von Hochfelden **) nennt
den betreffenden Thurm immer nur Haupttburm.
Was der Verf. S. 657 von der Verbreiterung
der Mauern der Städtebefestigungen durch An-
setzen überwölbter Strebepfeiler nach den Kreuz-
ztigen sagt, könnte den Eindruck machen, als
ob dies eine allgemeine Maßregel gewesen wäre.
Es hat jedoch nur in sehr beschränktem Maße
stattgefunden. Nur Städte wie Köln konnten
sich das erlauben.
Unter den vielfachen Bedeutungen von Bar-
bacan (S. 661) ist diejenige als Zwinger tiber-
sehn, die in Italien gebräuchlich war, so daß
*) Von Gohausen. Die Bergfriede, besonders rhei-
nischer Bargen. S. 8.
**) Krieg von Hochfelden, Gesch. der Milit. Archi-
tectur in Deutschland von der Römerherrschaft bis zu
den Kreuzzügen. Stuttg. 1859.
616 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
höchst wahrscheinlich der norddeutsche Ana-
druck Parcham für Zwinger, der durch den
deutschen Orden eingeführt wurde, eine Ver-
stümmelung von Barbacan ist*).
Unter den Grenzbefestigungen (S. 1107-
1115) vermißt man die eigenthümlichen Maß-
nahmen des deutschen Ordens in Preußen, die
Gehege, Burgen, Blockhäuser und die „Wildniß".
Zu den Quellen für die Befestigungsgeschicbte
von Danzig (S. 1121) gehört vor Allem Hoburg**l
Der außerordentliche Aufwand von Mitteln, wel-
chen die Stadt bei ihrer eigenthümlichen Stel-
lung Polen und später Schweden gegenüber seit
Ende des 15. bis Mitte des 17. Jahrhunderts auf
den Festungsbau verwandte, hat hier Großartiges
geschaffen. Verf. hätte daher ein reiches und
interessantes Material gefunden.
Die Marienburg in Preußen Taf. 70. 1 ist
sehr mangelhaft dargestellt. Der Plan ist aus
Puffendorf***) entnommen, stellt also die Burg
nicht um das Jahr 1350, sondern 300 Jahre
später dar. Die Außenwerke sind daher zu
streichen. Von den Danzkern war nur der eine,
der große Danzker, durch Bogenmauern mit dem
Hochschloß verbunden und sprang in den Graben
vor. Die übrigen waren gewöhnliche Zwinger
thttrme in den Ecken. Es wäre hier Gelegen-
heit gewesen die Identität der Danzker, wie sie
namentlich in Marienwerder am großartigsten
auftreten, mit den Barbacanen von Garoassone
nachzuweisen. Die preußischen Geschichtswerke
*) barchanus nennen deutsche Urkunden des 13.
Jahrh. die Zwingermauer.
**) Geschichte der Festungswerke Danzigs. Danzig
1852.
***) Sam. v. Puffendorf. Sieben Bücher von denen
Thaten Karl Gustavs. Nürnberg 1697. S. 151.
Jähfts, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 617
sehreiben ihnen einen sehr nebensächlichen
Zweck zu.
Die mittelalterlichen Schuß- und Wurf-
maschinen sind nicht got abgehandelt. Was
den Verf. S. 657 veranlaßt die Maschine des
Valtnrins mit der Sehnepperfeder „Rutte" zu
nennen, ist nicht ersichtlich. Ottokar von
Steier*) nnd der Verfasser von Ludwigs Kreuz-
fahrt**) bezeichnen die Ratte (Ruthe) als Wurf-
zeug nnd nicht als eine Maschine für den di-
rekten Schuft. Wenn für die fragliche Maschine,
die auch in Deutschland in Gebrauch war,
durchaus ein Name erforderlich erscheint, so
wäre Tarant, der nach den Stellen, die San
Marte S. 278 über ihn anführt, für den direkten
Schuß eingerichtet gewesen zu sein scheint414141),
der angemessenste. Verf. bezeichnet den Tarant
freilich S. 635 irrthttmlich als bohrende Ma-
schine, gleichbedeutend mit terebrus.
Die Ratte erinnert dagegen nach der Be-
schreibung obiger Dichter am meisten an den
Onager, als einarmigen Hebel (Ruthe). Daß
der Onager des Alterthums vom Mittelalter über-
nommen worden ist, geht aus den Abbildungen,
die sich in mehreren Bilderhandschriften des
Mittelalters von ihm finden, hervor f).
Die Eintheilung in niedere und hohe Wurf-
maschinen, wie sie Verf. durch das Wurfzeug
*) Reimchronik 8. 272:
„Von Schwefel ein Feuer
Warf er hinauf (auf den Berg) mit der Kutten".
**) Beispiele aus deutschen Dichtern hei San
Marte 282.
***) San Marte 278. Mart. 7: „noch triboc, noch
Wide, noch pfederer, noch tarant" und H. Georg 5736:
„Es warf oder schuft tarant oder mangen".
f) Honagri (Onager) kommen bei der Belagerung
von Crema vor (Ann. MedioL Schulz höfisches Leb»
II, 361).
618 Gott. gel. Anz. 1681. Stück 20. 21. *
Fronspergers *) veranlaßt (S. 736), eintreten läßt,
ist in keiner Weise gerechtfertigt, da sieb in
keiner altern Handschrift eine Zeichnung der
Fronspergerscben Maschine findet. Da das Be-
dürfnis nach niedrigen Maschinen sich erst nach
den weitern Fortschritten der Feuerwaffen er-
geben haben kann, kann dieselbe kein hohes
Alter haben. Die Man gen, welche Verf. den
niedern Maschinen zurechnet, geboren aber zu
den ältesten Wurfmaschinen überhaupt**). Daß
die Mange einen Schwängel (Ruthe) hatte, also
zu den hohen Maschinen gehörte, wird mehrfach
bezeugt***), daß sie ferner im Gegensatz zu
den Maschinen mit Gegengewicht durch Mann-
schaft bedient wurde, sagt das Lindauer Glos-
sar f). Sie geborte also zur 4. Glasse der Wurf-
maschinen des Egidio Golonna. Verf. tritt mit
seiner Eintheilung auch in Widerspruch mit dem
Atlas, indem er denTribock, die Blide und den
Pheter (petraria) zu den hohen Maschinen mit
festem Gegengewicht rechnet, da nach seinen
Zeichnungen die Blide ein bewegliches Gegen-
gewicht hat. Sie bildet die 2. Klasse des Egidio
Golonna, der Tribock mit festem Gegengewicht
die erste. Die dritte Klasse mit festem und be-
*) Atlas. Tafel 78, Fig. 6.
**) Im 12. Jahrh. wird die Mange zu den Schuß-
waffen (tormentis balistariis) gerechnet (Schultz, Höfisches
Leben II, 344). Mit dem Aufkommen des Ausdrucks
espringal hört das auf.
***) Unter andern in einer Rechnung der Stadt Forli
1858 über die Ruthe eines mangonneau Napoleon m.
Etudes II, 34.
t) Würdinger. Jahns Handbuch S. 643 Anm. Der
Ausdruck Mangenthurm der Lindauer Befestigung deutet
mehr darauf hin, daß er zur Aufbewahrung als zur Auf-
stellung von Mangen gedient hat, so daS der Einwand
des Verf. nicht gerechtfertigt ist.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 619
weglichem Gegengewicht (tripantum) scheint
bald wieder in Vergessenheit gerathen sein, da
sieh keine Zeichnung davon erhalten hat, wenn
man sie nicht in der Maschine Taf. 73 No. 5
erkennen will.
Der Ausdruck petraria bedeutet Wurfmaschi-
nen überhaupt Nach Aufkommen des Tribocks
scheint er ftlr die Maschinen, welche mehrere
Steine mit einem Wurf schleuderten, gebraucht
worden zu sein.
Hinsichtlich des T u ra 1 e r (S. 645) irrt sich
der Verf. Es war keine Wurfmaschine, sondern
ein Widder*). Die Verfeinerungen, welche die
Blide erfuhr (als bricola, couilard) und wodurch
sie die übrigen Wurfmaschinen verdrängte, fin-
det man zwar im Atlas, sie werden im Hand-
buch jedoch nicht erwähnt. Auch die Zeit,
wann der Tribock und die Blide zuerst aufkom-
men (1212 reap. 1239) wird nicht angeführt**).
*) Schon die Stelle der steierschen Reimchronik:
„und die tumelere, daz ist ein werich also getan, daz
man seiden dafür chan Gezymmern noch gemauren, daz
dafür mag getawrn" deutet darauf hin. Bestimmter
drückt sich Wigand von Marburg (SS. rer. Pr. IL 532)
aus: Magister carpentariorum de Marienburg Marquar-
dus confixit et construxit unam machinam sive arietem
(vulgariter tumeler) quo mediante ejecit unum propugna-
culum de acie castri contra Mimelam".
**) Ebensowenig wird angegeben bis zu welchem
Gewicht Geschosse von Maschinen geworfen worden sind.
Nur indirect wird (S. 1131 Anm.) eine Andeutung dar-
über gemacht. Von Hefner- Altenak fand i. J. 1849 bei
den Ausgrabungen der 1399 zerstörten Burg Tannenberg
steinerne Kugeln von 3" bis 2' 7" Durchmesser. Es
läßt sich ja darüber streiten, ob Kugeln von der letz-
tern Dimension, die etwa dem Gewicht von 16 Ctr. ent-
sprechen, von Geschützen oder Maschinen geworfen wor-
den sind, obgleich die sorgfältig gerundete und geglättete
Kugel, die sich von andern geringerer Größe mit rauher
620 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
Auch andre Wurfmaschinen: die Algarada, der
Pedrel (patrellus), die Biblia, bidda bleiben un-
erwähnt. Marga (S. 643) ist offenbar ein
Schreibfehler für Manga bei Otto von Frei-
singen.
Unter den aasgeführten Belagerangen ver-
mißt man die von Chateau Gaillard durch Phi-
lipp August, die dem Verf. Gelegenheit gegeben
hätte, die Darstellung Viollet-le-Duc's nach eng-
lischen Nachrichten zu berichtigen.
Der Einfloß, den die Artillerie zu Anfang
des 15. Jahrhunderts auf die Belagerang der
Festungen ausübte, wird nicht gewürdigt. Den
S. 1133 angeführten Beispielen der Ueberlegen-
heit der Vertheidigung über den Angriff lassen
sich eine größere Zahl gegenüberstellen, wo es
dem Angreifer mit Hülfe der großen Büchsen
gelang, die Festung in wenigen Tagen zur
Uebergabe zu zwingen. Ich bed&ure sie wegen
Oberfläche wesentlich unterschied, von vorn herein für
ein Geschütz spricht, was v. Hefner infolge dessen auch
annahm. Die Gründe indessen, die Würdinger dafür an-
giebt nnd denen J. beistimmt, daß die Kugel von einer
Maschine geworfen sei, zeugen von einiger Unkenntnis,
indem W. behauptet, daß Geschütze, welche 2—3 Ctr.
geschossen hätten, sogar im 15. Jahrhundert sehr außer-
gewöhnliche und berühmt gewesen wären. Es handelt
sich hier aber um das Jahr 1399 und aus dieser Zeit
(1392) berichtet die Limburger Chronik (Ausgabe Rössel
S. 88) : „Da hatten die Stett große Büchsen, deren schoß
eine Sieben oder Acht Centner. Und da gingen die
grossen Büchsen an . . ." Die aus derselben Zeit stam-
mende noch vorhandene Wiener Bombarde hat im Kes-
sel einen Seelendurchmesser von 2' 6" und erweitert sich
dann nach vorn, kommt also der großen Frankfurter
Büchse, die vor Tannenberg verwendet wurde, ziemlich
nahe. Was die 20 Pferde betrifft, die das Geschütz auf
den Berg zogen, so dienten sie nur zur Nachhülfe, da
man Aufzüge angebracht hatte, woran jedenfalls Men-
schen thätig waren.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 621
Beschränktheit des Raums nicht auffuhren zu
können.
2. Bewaffnung.
Die veraltete Atisicht, an der Verf. festhält,
daß die Tapete von Bayeux i. J. 1066 durch
die Gemahlin Herzog Wilhelms, Mathilde, ge-
fertigt worden sei, veranlaßt ihn (S. 536) über
die Bewaffnung der Angelsachsen auf derselben
wegwerfend zu urtheilen. Nun zeugt aber die
Aneinanderreihung der Gruppen, aus denen die
Tapete zusammengesetzt ist, im Verein mit den
zugehörigen Unterschriften von einer so genauen
Kenntniß des Feldzugs, daß man nur einen
hochgestellten Augenzeugen aus der Umgebung
Wilhelms als Entwerfer der Stickerei voraus-
setzen kann, der gewiß die Bewaffnung der
Angeisachsen sehr genau kannte. Freeman*)
ist nicht mit Unrecht der Ansicht, daß dies nur
der Bischof Odo, Bruder des Herzogs Wilhelm,
gewesen sein kann, der die Tapete zur Aus-
schmückung der Kathedrale von Bayeux, die
er nach dem Kriege erbaute, fertigen ließ.
Die Kenntniß der Herkunft ist daher nicht so
unwesentlich wie Verf. S. 546 Anm. meint.
Die Beweisführung (S. 541), daß die Hals-
berge ursprünglich nur den Hals und Kopf ge-
deckt und später sich zum Haubert erweitert
habe, ist durch Heranziehung der assize of arms
König Heinrichs IL v. J. 1181 ziemlich un-
glücklich geführt. Abgesehn davon, daß die
Zeit viel früher fällt, spricht das Original nicht
von einer Halsberge für die 3. Klasse, sondern
von einem halbergellum (haubergeon), womit
später der valet arm6 bewaffnet wurde, und
*) Freeman. History of the norman conquest.
622 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
stellt dies der lorica der knights der 1. Klasse
gegenüber. Die lorica der letztern ist aber
nichts anderes als der große haubert Uebri-
gens soll damit die Beweisführung San Marte's*)
(S. 35), welche S. 517 in einer Anmerkung ge-
geben ist, nicht geschwächt werden, die sehr
viel für sich hat. Der durch Baltzer**) zur
Vervollständigung geforderte Beweis, daß die
kurze Halsberge schon in der frühern Zeit über
der Brünne getragen worden sei, dürfte sich in
dem letzten Willen des heiligen Everard, Her-
zogs von Frejus bieten, wo es heißt: „Bruuiam
unam cum balsberga et manicam unam . ..****).
Hiermit wird zugleich die abgeschmackte Ansicht
Demay'sf) ihre Widerlegung finden, daß die
Brünne sich von der Halsberge nur im Stoff
unterschieden habe, der Ausdruck grand haubert
erst seit dem Aufkommen oder vielmehr der all-
gemeinem Verbreitung des Kettengeflechts (Ende
des 12. Jahrhunderts) ff) erscheint. Die alte
Brünne war ohne Hals- und Kopfdeckung.
Der Uebergang vom Glockenhelm zum Topf-
helm läßt sich nach den franz. Siegeln bei
*) San Marte. Zur Waffenkunde des altern deut-
schen Mittelalters. Quedlinburg 1867.
**) Balt/.er. Zur Geschichte des deutschen Kriegs-
wesens in der Zeit von den letzten Karolingern bis auf
Kaiser Friedrich U. Leipzig 1877. S. 63.
***) Hewitt. Ancient Armour and Weapons in Eu-
rope. I, S. 245.
f) Demay. Le costume de guerre et d'apparat
d'apres les sceaux du moyen-äge. Paris 1875. S. 6.
ff) Der große Haubert mit daran befestigten Faust-
handschuhen zeigt sich auf Siegeln zuerst bei Philipp
d'Alsass 1170. Das Siegel Guy de Laval's v. J. 1095
zeigt den mit aufgenähten runden Platten oder Ringen
besetzten haubert, das Siegel Raoul's, Grafen von Ver-
mandois v. J. 1116 den aus verschobenen Vierecken ver-
gitterten haubert.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 62S
Demay ganz genau verfolgen. Zuerst kommt
die barbiöre (Gesichtsschutz) statt des Nasen*
bandes seit 1193 (Siegel des Matthieu von
Montmorency) — 1196 auch auf dem Siegel
Herzog Friedrich des Katholischen von Oester-
reich — , bald darauf auch -der Nackenschutz,
und 1214 auf dem Siegel des Prinzen Louis,
Sohn Philipp Augusts, der erste Topfhelm vor,
der schon 1217 ziemlich allgemein getragen
wird*). Diesen einfachen Verlauf erkennt man
beim Verf. (S. 552) nicht heraus, der undatierte
Quellen, wie Hervard von Landsperg und die
Wandmalereien von Braunschweig mitsprechen
läßt. Wenn diese Malereien auch im Allge-
meinen Heinrich dem Löwen zugeschrieben wer-
den, so kann doch der Tbeil, welcher den Topf-
helm erkennen lättt, erst aus dem Anfange des
13. Jahrhunderts sein.
Was 8. 549 über den Schild gesagt wird,
bedarf sehr der Einschränkung. Die franz.
Siegel wissen nichts von einem Ovalschilde oder
gar einem Kreisschilde. Mit Annahme des gro-
ßen Hauberts geht man zum äeckigen Schilde
über, etwas höher als breit, der erst in der 2.
Hälfte des 14. Jahrb. und nicht schon in der
Mitte des 13. mit dem Dreispitz vertauscht wird**).
Die Helmdecke ist nicht während der Kreuz-
zttge entstanden, sondern findet sich zuerst An-
fang des 14. Jahrhunderts. Daß der Ausdruck
ventail (Anteil) als ein Bestandteil der Kapuze
(des Härseniers) zum Schutz des Kinns vor-
kommt***), wird vom Verf. nicht erwähnt, ob-
gleich es dadurch so merkwürdig ist, daß der-
selbe Theil, das Kinnstück, an der Schale des
*) A. Schultz. Höfisches Leben II, 53.
**) Demay S. 28.
***) Beweis bei A. Schultz.
624 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
15. Jahrb. ebenso genannt wird. Ventail heißt
außerdem der vordere Theil des Topfhelms, der
zuweilen eine förmliche Thür vorstellt, die durch
ein Gharnier geschlossen wird. Auch das Vi-
sier wird so genannt.
Was Verf. S. 552 in einer Anmerkung über
den Gesichtsschutz von Kettengeflecht sagt, der
vom Kinn nach der Stirn geführt und oben am
Helm eingehängt wird, bezieht sich auf die
Haube (bassinet) und kommt daher erst im 14
Jahrb. vor*). Das Härsenier, welches Verf. S.
552 ganz richtig als die Kapuze aus Kettenge-
flecht, wenn auch mit einer sonderbaren Ver-
wechselung mit camail bezeichnet, macht er in
einer Anmerkung derselben Seite zu einem Ge-
sichtsschutz aus Kettengeflecht, der von der
Stirn ausging. Die Stelle aus Parcival, die er
anführt, bezieht sich nur auf die Kapuze. Der
Huffenier ist nicht von huvet (Mütze) abzuleiten,
sondern diente zum Schutz der Hüfte**).
Die Schlachtgeißel, der Morgenstern und die
Streitaxt (S. 557) sind in dieser Zeit nicht
Waffen der Reiterei, sondern des Fußvolks. Die
Schulterflügel (ailettes) gehören dem 13. Jahrb.,
ganz einzelne Fälle abgerechnet***), gar nicht
an und dienten nicht, wie Verf. meint, zum
Schutz der Schultern, sondern zum Erkennungs-
zeichen, werden daher auch recognaissances ge-
nannt. Sie waren heraldisch bemalt.
Die Kesselbaube mit Visier, wie sie S. 558
besprochen und Taf. 40, Fig. 4 nach Viollet-le-
Duc abgebildet wird, gehört erst dem 15. Jahrb.
*) Siehe den Grabstein von Alb. von Hohenlohe,
Günther von Schwarzburg und viele andre bei v. Hefher-
Alteneck. Trachten des christlichen Mittelalters.
**) Beweis bei A. Schultz.
***) Demay erwähnt sie zuerst 1294. S. 16.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 625
an. Das bassinet mit Visier wird zuerst von
Guillaume Guiart*) erwähnt.
Der Waffenrock oder besser das Waffenkleid
des 13. Jahrb. über der Halsberge kommt zuerst
Anfang des 13. Jahrh. vor.**). Bis dahin
wurde es unter der Rüstung getragen***). Die
Stelle S. 5ö8 „zu eben der Zeit, da die Schulter-
flügel, der Topf heim und das Visier* Bassinet
üblich wurde, begann auch die Sitte über dem
Maschenhemde noch ein besonderes wallendes
Waffenkleid zu tragen" ist nur für den Topf-
helm richtig. Was S. 559 von Platten und
Schienen gesagt wird, gehört erst in's 14. Jahrh.,
soweit die Arm- und Beinbekleidung damit ge-
meint ist. Kein Denkmal, kein Siegel des 13.
Jahrh. läßt Ellbogen- und Kniekacheln, Arm-
und Beinschienen erkennen f). Erst mit dem
Jahr 1300 beginnt man zunächst das Bein und
erst viel später auch den Arm mit Leder oder
eisernen Schienen zu versehen, zunächst nur in
Frankreich. Etwas anderes ist es mit der Brust-
bekleidung, doch davon erwähnt Verf. nichts.
Die befingerten Handschuhe mit Eisenplättchen
kommen auch erst im 14. Jahrh. vor und nicht,
wie Verf. annimmt, in der zweiten Hälfte des 13.
Die Bewaffnung des spätem Mittelalters,
welche Seite 425 — 756 besprochen wird, leidet
an denselben Fehlern, Alles früher datieren zu
wollen. So gleich im Eingange, wo es heißt,
*) Guillaume Guiart. Branches des royaux lignages
etc. Collect. Buchon.
**) Demay S. 10.
***) Ebend. S. 8.
t) Die Handschrift der Berliner Bibliothek über
Gottfrieds Tristan aus dem 13. Jahrh. läßt doch auch
unsicher, ob die Arm- und Beinbekleidung Leder oder
Eisen ist.
40
626 Gott. gel. Anz. 1881. Stack 20. 21.
daß Anfang des 14. Jahrb. Panzerhemd*) and
Eisenbosen mehr oder minder „benagelt", d. li-
mit Platten verstärkt wurden. Das ist in
Deutschland vor den 30er Jahren des 14. Jahrb.
nicht der Fall Der Korazin (S. 728) ist nur
von den reichsten Feudalherrn getragen worden,
durfte also nur ganz beiläufig erwähnt werden.
Vom Bauchpanzer (Schurz), aus mehreren eiser-
nen Schienen zusammengesetzt, ist vor Anfang
des 15. Jahrhunderts in datierten Monumenten
nirgends die Rede. Die Fig. Taf. 51. 1, die
auf 1340 bestimmt wird, ist daher um etwa 80
Jahre vordatiert. Das collarium (Koller) ist
nicht mit dem cam ail zu verwechseln, besteht
vielmehr, wie aus den Grabsteinen, welche die
Verstorbenen unbedeckten Haupts darstellen, her-
vorgeht**), im 14. Jahrhundert aus einem steifen
aufrecht stehenden Halskragen, der äußerlich
mit Kettengeflecht oder Schuppenwerk, später
mit Blech bekleidet ist Er lag unter dem ca*
mail. Letzterer scheint in Deutschland mit „Ge-
hänge" (Haubengehänge) bezeichnet worden zu
sein, wie aus den Inventarien des deutschen
Ordens hervorgeht***). Es war an der Haube
(Beckenhaube) befestigt. Als selbständiges
Rttststück, wie es zum Eisenhut getragen wurde,
nahm es den Namen nHundskogeltf und im 15.
Jahrhundert den „Harnaschkappe" an. Der
*) Verf. braucht hier den Ausdruck Ringbrünne
für Panzerhemde und Halsberge oder Maschenkapuze
(Här semer) für camail. Beides entspricht nicht dem
Sprachgebrauch und kann nur zu Irrthümern Veranlas-
sung geben. Das letztere ist sogar geradezu falsch.
**) v. Hefner- Alteneck. Trachten II, 146 (Graf von
Orlamünde) und 156 (Joh. von Linden). Siehe auch Dr.
Luchs, Schles. Fürstenbilder.
***) Lotar Weber. Preußen vor 600 Jahren. Danag
1878. S. 677.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. H27
Ausdruck „Halsveste", den Verf. dem Raolands»
lied entnimmt, gehört dem Ende dt& 12. Jahr-
hunderte an, kann daher füglich nicht far das
14. Jahrh. verwendet werden.
Die große Kesselhaube, welche nach dem
Verf. um die Mitte des 14. Jahrh. die üblichste
Kriegstracht der schweren Reiterei geworden
sein soll, erscheint nach Demay (S. 22) zuerst
auf dem Siegel Philipp des Kühnen von Bur-
gund 1403. Die Handschrift der Paris. Natio-
nalbibl. des Titus Livius, der Taf. 51, 2 ent-
nommen ist, scheint daher zu früh datiert. Der
Ausdruck „Helmfenster" für Visier ist nicht rich-
tig. Wie wir oben gesehen haben, wird aller-
dings ventail, das dem Helmfenster entspricht,
auch für Visier gebraucht, bezeichnet eigentlich
aber den vordem Theil des Topfhelmes, Augen-
schlitz und Löcher zur Respiration, und das wird
von Ottokar von Steier mit Helmfenster be-
zeichnet.
Es ist wiederum verfrüht, wenn Verf. S.436
sagt, daß die Rüstung, welche seit 1400 allge-
mein angenommen wurde, der Harnisch von
lichtem Eisen mit Kuiraß, Schurz und Krebs etc.
gewesen sei. In den Schlachten von Tannen-
berg und Azincourt ist davon noch keine Rede,
wenigstens was Schurz und Krebs betrifft. Er-
sterer erscheint in Deutschland erst in den 20er
Jahren des 14. Jahrhunderts*) und der Krebs
erst viel später.
Die Plattenrüstung des Pferdes (Barssen) ist
nach den Siegeln bei Demay (S. 56) erst zu
Anfang des 16. Jahrhunderts abgeschlossen und
nicht, wie Verf. S. 746 sagt, schon in der Mitte
des 15. Zu Anfang des 16. Jahrh. erscheinen
*) Bei v. Hefner-Alteneck, Trachten, zuerst II, 97
(Peter von Stettenberg f 1428 Grabstein).
40*
628 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
auch die Söldner, wenigstens die „Kyrisser"
wieder mit Barssen (Barden), welche seit Mitte
des 14. Jahrb. ohne Pferderüstung waren, die
nur von hochgestellten Kriegern getragen wurde
3. Taktik.
Ueber die Fechtweise zur Zeit der Karo-
linger (S. 531—535) ist so gut wie gar nichts
gesagt. Hier wäre ein näheres Eingehn auf
die Quellen durchaus nothwendig gewesen und
Bicher hätte für die spät karolingische Zeit
eine reiche Ausbeute gegeben. Der Verf. hat
die Aeußerungen des Kaisers Leo (f 801) über
die Fechtweise der Franken und Longobarden,
wie vor ihm schon Peucker, ganz übersehn, die
für die erste Zeit der Karlinger von höchstem
Interesse sind und das fränkische Heer schon
stark an Kavallerie zeigen. Ich kann nur dar-
auf hinweisen, da hier nicht der Baum ist sie
wiederzugeben. Wenn ich die Stelle über die
Schlachtordnung derselben recht verstehe, so
geht daraus hervor, daß sie noch in einem Tref-
fen fochten, und da unmittelbar nach Karl dem
Großen das Dreitreffensystem das herrschende
wird, so erscheint die Annahme gerechtfertigt,
daß er dasselbe eingeführt hat.
Auch die nachkarlingische Zeit (S. 579— 592)
ist sehr dürftig weggekommen. Außer dem,
was Baltzer mittheilt, wird wenig geboten and
doch sind die Fortschritte in dieser Zeit ganz
außerordentlich. Bestimmt erkenntlich werden
sie erst bei der Expedition Wilhelm des Er-
oberers 1066 nach England, dessen Heer doch
vorherrschend aus Franzosen bestand. Die vor-
züglichen Quellen, welche für diese Expedition
vorliegen und in Freeman einen geschickten
Bearbeiter gefanden haben, lassen es bedauern,
daß der Verf. nicht näher darauf eingegangen
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 629
igt, da die Fechtart der Angelsachsen außerdem
sehr an die Urzeiten erinnert. Was er S. 543
darttber mittheilt, ist so unbefriedigend und
theilweis den Thatsacben widersprechend, daß
es besser gewesen wäre, es überhaupt wegzu-
lassen. Auch über die interessante Schlacht
von Bouvines 1214 weiß uns der Verf. nichts zu
berichten, obgleich dieselbe zeigt, daß es die
Heerführer dieser Zeit verstanden, selbst bei
nicht unerheblichen Heeren*) sich im gegen-
seitigen taktiscbeu Bereich zu entwickeln und
eine geordnete Schlachtordnung herzustellen,
auch sich nach bestimmten Principien zu schlagen.
Wenn man die außerordentlichen Fortschritte
der westeuropäischen Heere vom 9. bis zum 13.
Jahrhundert in's Auge faßt und aus der Ge-
schichte weiß, daß dergleichen sich nicht ohne
äußere Einflüsse vollzieht, so liegt die Frage
nahe, woher sind diese Einwirkungen gekom-
men? Man wird unwillkührlich auf das ost-
römiscbe Reich verwiesen, das seit Karl dem
Großen in immer nähere Verbindung mit dem
Abendlande trat und zahlreiche Söldner aus
demselben bezog, welche die Kenntniß der grie-
chischen Kriegskunst heimbrachten. Die italie-
nischen Städte sendeten zur Zeit ihrer aufstei-
genden Blüthe im 11. Jahrh. ihre Söhne in
*) Der Verf. giebt nach Capefigue die Starke des
franz. Heeres bei Bouvines S. 824 auf 80,000 Mann:
5000 Bannerherrn) 50,000 Bitter und Knechte (Icuyers),
28,000 Communaltruppen der Nordprovinzen und 21,000
Abenteurer, deren Kern die Söldner des Königs bildeten,
an. Das Chron. Senoniensi weiß dagegen nur von 9000
Reitern und 50,000 Mann zu Fuß; und das entspricht
von sämmtlichen Quellenschriften am meisten den Lei-
stungen der französischen Aufgebote späterer Zeit. Von
Söldnern ist nirgends die Bede, sie scheinen sich beim
Heere des Dauphins Louis in Poitou befunden zu haben,
der den Feldzujg schon etwas früher eröffnet hatte.
630 Gott. gel. An*. 1881. Stück 20. 21.
*
griechische Dienste (Anna Commena), um die
Kriegskunst daselbst zu erlernen und sich ge-
schickt zu machen den drohenden Gefahren, die
sich ihrer angestrebten Selbständigkeit ent-
gegenstellen konnten, zu begegnen. Die un-
mittelbare Berührung mit den Griechen seitens
der Normannen in Unteritalien und später des
Abendlandes während der Kreuzzüge that das
Uebrige. Verf. hat dagegen die Mittheilungen
über die Kriegskunst der Byzantiner seit dem
Kaiser Leo abgebrochen und kommt nicht wie-
der darauf zurück !
Was Verf. über die franz. Lanze des 13.
und 14. Jahrhunderts sagt, daß ihr 2 Bogen-
schützen zugetheilt waren, findet in den Quellen
keine Bestätigung, auch giebt er keine Quelle
dafür an. Im 13. und der ersten Hälfte des 14.
Jahrb. ist von Lanze im spätem Sinne überhaupt
noch keine Rede. Die franz. Lanze der zweiten
Hälfte des 14. Jahrh. bestand aus 3 Pferden nnd
2 Gewapneten, dem homme d'armes (chevalier
oder dcuyer) und dem valet arme oder haubergeon*).
Auch die Aufstellung in Linie oder wie man es
nannte, en haye, fand in dieser Zeit noch nicht
statt, so allgemein dies auch angenommen wird.
Die Ansicht ist auf den p&re Daniel **) zurückzu-
führen, der sie aus der Schlacht von Bouvines
abstrahiert. Hier stand jedoch nur ganz aus-
nahmsweise das erste Treffen des rechten Flü-
gels in Linie, um mehr Terrain einzunehmen
und eine Ueberflügelung des Feindes zu ver-
hindern. Froissart***) gebraucht nur einmal
den Ausdruck en haye für die homines d'armes,
*) Die Bogenschützen nach englischem Vorbilde kom-
men mit ganz geringer Ausnahme in Frankreich erst im
16. Jahrh. vor.
**) Daniel. Histoire de la milice francaise. Paris 1728.
***) Ausgabe Kerwyn de Lettenhove V, 49.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 631
welche hinter den genuesischen Armbrust-
schützen bei Crecy standen, um deren Flocht
zu verhindern, also nicht zum Gefecht. Sie wa-
ren ganz außer Verbindung mit der eigentlichen
Schlachtordnung. Die Ordonanz König Johanns
vom letzten April 1351 läßt über die Fechtart
in geschlossenen Trupps (par grosses routes)
keinen Zweifel. Noch im Gefecht von Mons en
Vimcu 1421 formierte sich das Centrum der
Franzosen mit den Bestbewaffneten und Bestbe-
rittenen im Spitz und durchbrach damit die Bur-
gunder *). Die Fechtweise en haye kommt erst
mit den franz. Ordonanzkompagnieen des 15.
Jahrb. auf.
Ganz unrichtig ist S. 851 die Aufstellung
der englischen Bogenschützen geschildert. Der
Verf. weicht hier selbst von Rüstow ab, den er
sonst als Autorität anerkennt, indem er sagt,
sie standen en manifere d'un herse, d. h. nach
Art eines Fallgatters mit aus- und einspringen-
den Winkeln, während Rtistow richtiger be-
merkt, sie standen wie ein Staketenzaun, en
herse, vot den Geharnischten**). Er irrt nur
in Bezug auf den Staketenzaun. Die correctere
Ausgabe Froissarts von K. d. L. sagt nicht
herse, wie Buchon, sondern herce (heri§on) im
Sinne von Fronthinderniß***). Die anonyme
Chronik von Valenciennes drückt dies Verhält-
nis mit den Worten aus, daß die Bogenschützen
*) Memoires de St. Rimy. Collect. Buchon TBL 192 :
Les dauphinois avoient mis les mieux months et armds
au milieu de leur bataille et en pointe. Si se frapperent
en la bataille du due, et rompirent sa bataille en pas-
sant outre.
**) Rüstow, Geschichte der Infanterie. Gotha 1857.
S. 104. 105.
***) Ausgabe K. de Lettenhove T, 50: „en manifcre
d'une herce*'.
682 Gott. gel. Anz. 1881. Stack 20. 21.
„en manure d'un escut" vor den Kittern ge-
standen hätten*). Dazu kommt, daß die engli-
schen Bogenschützen im ganzen Lanf des 14.
Jahrh. überhaupt keine Pfähle mit sich geführt
haben, die erst von Heinrich V. vor der Schlacht
von Azincourt 1415 eingeführt worden**).
Auch darin irrt J., wenn er sagt, daß die
Bogenschützen zum Theil schwer bewaffnet, oder
doch mit Brustharnisch und Pickelhaube ver-
sehn waren, indem er sich auf Chaucer beruft
Andre Zeitgenossen versichern, daß sie infolge
ihrer leichten Bekleidung im Stande waren, den
Bogen mit großer Kraft zu spannen***). Auch
St. Remy und Waurin sprechen sich in Bezug
auf Azincourt in derselben Weise aus.
Bei Besprechung der Taktik der deutschen
Reiterei (S. 898-922) versäumt es der Verf.
von der Formation der Haufen mit einem Spitz
zu sprechen und kommt erst später ganz ge-
legentlich darauf, als ob das eine ganz zufällige
Formation gewesen wäre. Er sagt sogar S. 907:
„bei der vollen Gleve hielt im ersten Gliede der
Ritter, im zweiten der mittelschwer bewaffnete
Knecht, im dritten der Schütz", als ob sie eine
Linienstellung eingenommen hätten. S. 919
wird das gelegentliche Gefecht der deutseben
Reiterei zu Fuß besprochen und dabei der arge
Verstoß gemacht, daß Herzog Albrecht von
Oesterreich in der Schlacht von Göllheim ein
„novum bellandi genustt eingeführt habe, indem
er die Reisigen habe absitzen lassen f). Im
*) K. de Lettenhove V, Notes S. 475.
**) Gesta Henrici quinti S. 42. Der Verf. ist der
Kapellan des Königs, der ihn begleitete und ids Augen-
zeuge spricht.
***) Ebendaselbst 8. 54 Anm.
. f) Verf. verstößt hier, wie sehr häufig, gegen den
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 683
Gegentheil bestand seine Instruction darin, die
Pferde der feindlichen Reiterei zu erstechen, was
als die neue Art des Kampfs bezeichnet wird.
Die Baiern, die dies traf, fochten indeß zu Fuß
weiter.
Das deutsche Söldnerwesen der adligen Rei-
ter, das im 14 Jahrb. einen so bedeutenden
Aufschwung nahm und zu dessen näherer Dar-
stellung jetzt durch Publication zahlreicher Ur-
kundenwerke ein umfangreiches Material vor-
liegt, wird S. 915} mit wenigen Worten abge-
macht und erst dem 15. Jahrhundert zugeschrie-
ben. Wie die Einrichtung der französischen Or-
donanz-Eompagnien dafür vorbildlich geworden
sein soll, ist nicht verständlich, da es lange vor
denselben existierte. Auch die Einrichtung re-
gelmäßiger Reitergeschwader, mit der Kaiser
Maximilian I. i. J. 1498 vorging, hat weder mit
den franz. noch burgund. Ordonanzkompagnien
etwas gemein, sondern ist ganz original. Es
wäre zweckmäßig gewesen, die' ganze Urkunde
mitzutheilen *), da sie noch zur Zeit Karls V.
die Grundlage für Anwerbungen deutscher Reiter
Grundsatz bei Citaten stets die neuste Ausgabe anzu-
führen, welche hier in den M. G. Pertz SS. XVII 418 zu
suchen gewesen wäre, nicht als Chron. Salisb. wie Geißel,
dem er das Citat entnimmt, noch hat, sondern Gont.
Ratisb.
*) Der Auszug, den Verf. nach Meynert mittheilt,
ist ganz incorrect. Nicht der Fähnrich führte das
Rennfahnlein, sondern der Rennfähnrich. Ersterer war
zur Vertretung des Hauptmanns bestimmt und trug das
Hauptbanner. Ein Lieutenant war außer ihm nicht vor-
banden. Nichtkombattanten (Pferdepfleger) waren nicht
die Marstaller und Edelknaben, wie Verf. meint, son-
dern die Trabanten, die, wie ihr Name andeutet, unbe-
ritten waren. Ihre Zahl belief sich im Ganzen auf 300,
die der Kombattanten auf 1500, wovon 100 Kyrisser und
100 Schützen.
634 Oött. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
abgab*), was dem Verf. allerdings entgangen
zu sein scheint. Die Zahl der Schützen hatte
sich zn dieser Zeit schon vervierfacht und ans
dem Rennfähnrich war ein zweiter Rittmeister
geworden. Auch die Spießer waren um 200
vermehrt.
S. 922 bis 943 ist dem deutschen Fußvolk des
spätem Mittelalters gewidmet und im Allgemeinen
recht gut durchgeführt. Ueber die Etymologie
des Worts Trabanten , womit man im 15. Jahrb.
das Fußvolk bezeichnete, läßt sich streiten. Mit
Traben hängt es schwerlich zusammen. Da sie
eng mit der Wagenburg verbunden waren, diese
aber Tabor hieß, ist es sehr wahrscheinlich, daß
das Wort aus Taboriten verstümmelt ist Es
ist nicht richtig, wenn S. 942 gesagt wird, die
Bewaffnung der Landsknechte sei anfangs die-
selbe gewesen, wie die der Trabanten, da die
Landsknechte sich nach Schweizer Art bewaff-
neten und keine Setztartschen etc. führten.
S. 943 bis 955 wird sodann die Wagen-
burg besprochen. Bei Courtray hatten die
Flamänder noch keine Wagenburg, wie Verf.
meint. Die Wiedereinführung derselben knüpft
sich an die Schlacht von Mons-en-Pevfelel304**).
*) Siehe die Bestallung Kaiser Karls V. für den
Markgrafen von Brandenburg über 2000 gerüster Pferd
bei Fronsperger I, S. 36. Sie besagt, daft darunter 1600
Spießer und unter denselben 100 Kyrisser „mit ganzen
Barschen, wohl bedeckten stehlen Gliedern und verdeck-
ten Hengsten", auch 400 Schützen sein sollen. Ueber
die 2000 Pferde sollen 4 Fahnen und 2 Schützenfahnlein
gehalten werden. Genau nach demselben Muster sind
die Bestallungen der kaiserlichen Obersten, Markgraf
Albrecht von Brandenburg und Herzog Moritz von Sach-
sen, auf je „1000 gerüster Pferd" vom 5. Apr. 1544.
(Kriegsirach des Grafen Bheinhard zu Sohns).
**) Bei frühern Erwähnungen der Wagenburg mift
Jahns, Atlas zur Geschiebte des Kriegswesens. 635
Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie von Philipp,
einem Sohne des Grafen von Flandern erster
Ehe, der seine Schule in Italien gemacht hatte
und im Frühjahr 1303 nach Flandern zurück-
kehrte, um als ältester Prinz*) den Oberbefehl
zu Übernehmen, eingeführt wurde, zumal da sie
in derselben Weise wie in Italien zur Deckung
des Rückens verwendet wurde, wie das auch
noch bei Tannenberg stattfand. Verf. hebt den
Unterschied zwischen dieser Verwendung und
der Ziska's, welcher sie in die erste Linie zog,
nicht hervor. Dadurch wurde die Wagenburg
erst zum wirklichen Streitmittel. Die Wagen
wurden danach eingerichtet und stärker gebaut.
Die Ausführlichkeit, mit welcher die Wagen-
burg behandelt wird, entspricht durchaus der
Wichtigkeit derselben, da sie seit den Hussiten-
kriegen in allen Theilen Deutschlands in Ge-
brauch blieb, nur hätte das nachgewiesen wer-
den müssen. Nach der Darstellung des Verf.
gewinnt es den Anschein, als ob die Wagen-
burg nur eine besondere Liebhaberei des Mark
grafen Albrecht Achilles gewesen wäre. Einen
der instruetivsten Fälle ihrer Anwendung bietet
das Gefecht von Thomaswaldau am 28. Juli
1488**), das jedoch nicht erwähnt wird. Auch
man sehr vorsichtig sein. Dtugoss erwähnt sie bei Wahl-
statt aus keinem andern Grunde, als weil sie zu seiner
Zeit üblich war. In diese Kategorie gehört auch der
angebliche Bericht Hermanns von Salza, der nur in einer
Ueberarbeitung aus dem 15. Jahrh. auf uns gekommen
ist. Er spricht von Wagenburg und Büchsen ganz im
Sinne des 15. Jahrhunderts.
*) Seine älteren Bruder waren mit dem Vater Ge-
fangene in Frankreich.
**) Der Originalbericht Georgs von Stein an Hans
voa Minkwatz, den sächsischen Kanzler, befindet sich in
SS. rer. Siles. X, S. 157,
636 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
vermißt man die Dispositionen des Markgrafen
im Feldzuge 1474 am Rhein •). Erschöpfend ißt
die Darstellung des Streites mit den Wagen-
burgen daher durchaus nicht, es fehlt eben der
Kampf. Sehr interessante Situationen ergeben
die Feldzüge Podiebrads gegen Matthias Corvi-
nus von Ungarn 1469—1471.
Bei Besprechung der Taktik zu Anfang des
16. Jahrhunderts (S. 1050 ff.) zeigt Verf. gar zn
wenig eignes Urtheil. Nachdem er Rtlstow fast
wörtlich wiedergegeben**), wird auch noch
Viollet-le-Duc mit herangezogen***), so wenig
beide auch zu einander passen. Während Rti-
stow die Kreuzform des Infanteriehaufens als
Defensivform hinstellt, bezeichnet sie Viollet-le-
Duc als Angriffsform und Verf. stellt beide un-
vermittelt neben einander (S. 1067), nimmt so-
gar die Zeichnungen des letztern im Atlas auf
(Taf. 58, 1. 2), obgleich ihr bloßer Anblick die
Ueberzeugung gewährt, daß hier für den An-
fang des 16. Jahrh. unmögliche Formen produ-
ciert sind. Ob Verf. auch seine Behauptung,
daß unter Karl V. jedes Fähnlein Infanterie 10
Musketiere gehabt hat, Viollet-le-Duc entnimmt,
habe ich nicht controllieren können. S. 1209
führt er sogar an, daß die Zahl der Musketiere
sich um die Mitte des 16. Jahrh. um das öfache
vermehrt habe, wo er in Rüstow (S. 224) lesen
konnte, daß als Alba 1567 aus Italien nach den
Niederlanden marschierte, er jedem Fähnlein 15
Musketiere zugetheilt habe. Es ist das erste-
mal, daß Musketiere überhaupt erwähnt werden.
*) Bei Minutoli, Das kaiserliche Buch des Mark-
grafen Albr. Achilles. Berlin 1850, S. 427—431.
**) Rüstow, Gesch. der Inf. S. 201—267. Es han-
delt sich also um 4 Bogen.
***) Viollet-le-Duc , Dictionaire du mobilier. Tactiqoe
pendant le moyen-age.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 637
Was S. 1068 und 1069 über die Taktik der
Reiterei gesagt wird, ist nicht geeignet, eine
Anschauung vom Reitergefecht dieser Zeit zu
geben. Die Behauptung S. 1215, daß eine Rei-
terstandarte zu Karls V. Zeiten aus 60 schweren
Lanzen, 120 Kürassieren nnd 60 Ar k ©busier-
reutern bestanden habe, ist zwar auf Monte-
cuccoli*) zurückzufahren, aber nichts desto we-
niger falsch, wie aus den Angaben, die ich oben
über die deutsche Kavallerie unter Karl V. ge-
macht habe, hervorgeht**). Sie paßt auch nicht
für die Ordonanzkompagnien, die Karl V. in
den Niederlanden, Mailand und Neapel unter-
hielt, wie sich aus Glonard ergiebt. Der Aus«
druck Kürassier kommt bei den italienischen
nnd spanischen Militärschriftstellern des 16. Jabrh.
von Savorgnani (1570) bis Meudoza (1596) über-
haupt nicht vor und erscheint erst bei Melzo ***)
Anfang des 17. Jahrhunderts. Erstere gebrau-
chen noch den Ausdruck Ferraruoli im Sinne
von pistoliers nach Art der deutschen Reiter,
also einer leichten Reiterei. Der Ausdruck Kü-
rassier für den schweren mit langen Pistolen be-
waffneten Reiter scheint erst seit Umwandelung
der französischen und niederländischen Lanciers
in mit langen Pistolen bewaffnete Reiter all-
gemeiner geworden und Deutschland entnommen
zu seinf).
*) Opere diRaim. Montecuccoli. Edit. Grassi. Mi-
lano 1831 L S. 87. Es heißt hier übrigens mezze-corazze,
das sind Schützen nach Art der deutschen Reiter.
**) Die Bestallungen bei Fronsperger sind Urkunden
entnommen.
***) Ludovico Melzo. Delle regole militari sopra il
gorerno della cavalleria. Antwerpen 1611.
f) In Deutschland war man schon auf dem Reichs-
tage zu Speier 1570 dazu übergegangen, die Lanze ganz
zu beseitigen. Man behielt aber auch in dieser neuen
688 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
Die Folgerungen, welche Verf. S. 1215 aus
der Angabe Montecuccolis zieht, sind daher
grundlos. Die deutsehen schweren Reiter sind
einfach aus den Seh ützeniähn lein Maximilians,
wie sich diese um die Mitte des 16. Jabrh. ge-
staltet hatten, hervorgegangen. Wallhansen*),
den Verf. heranzieht, ist für deutsche Verhält«
nisse gar nicht maßgebend, da die Lanciere, die
er noch behandelt, in Deutschland längst abge-
schafft waren. Er entlehnt nach seiner Gewohn-
heit aus fremden Schriftstellern.
Auch ist es ein Irrthum, wenn Verf. S. 1218
sagt, die Reiter hätten Schwadronen von 1500
bis 2000 Pferden gebildet, ebenso weiter antra,
daß sie den Gebrauch eingeführt hätten, im
Trabe zu attackieren. Dies geschah schon vor-
her seitens der deutschen Spießer, um die ge-
schlossene Ordnung des Haufens zu erhalten.
Ich weiß wohl, daß Verf. seine Angaben ans
Napoleon**) entnimmt, doch ist dieser in deut-
schen Angelegenheiten sehr schlecht unterrichtet.
Die Ausdrücke spanische und niederländische
Ordonanz, welche Rüstow für die Infanterie ein-
geführt hat, sind ganz praktisch, der Ausdruck
Form den Namen Eyrisser bei, wie aus einer Bestallung
im 2. Tbeil von Fronsperger, der 1573 herauskam, her-
vorgeht (S. 20). Obgleich ihre Zahl um das doppelte
gestiegen war — auf 1000 Schützenreiter 100 Kyrisser
— so war dieses Verhältnis gegen die französischen und
holländischen Formationen, die ganze Kompagnien von
Kürassieren errichteten, doch zu gering. Man hatte da-
her in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts in Deutsch»
land das Verhältnis von 3 zu 2, so daß von 1000 Rei-
tern 600 Kürassiere und 400 Karabiniers (Arkebusier-
reiter) waren.
*) Jac. v. Wallhausen, Kriegskunst zu Pferde. Frank-
furt 1616.
**) Louis Napoleon. Etudes sur le passe' et Pavemr
de l'artillerie. Paris 1846.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 639
Brigade im Sinne einer bestimmten Formation,
wie Verf. ihn nach Rüstow gebraucht, ist aber
unhistorisch und daher unstatthaft (S. 1222).
Auch ist es nicht richtig, daß das einzelne spa-
nische Bataillon dem Bataillon ungarischer d.h.
deutscher Ordonanz wesentlich gleich formiert
gewesen sei (S. 1212), da die Spanier sich in
Quadraten nach dem Terrain im Verhältniß von
4:7 formierten, während die Deutschen sich in
Quadraten nach der Kopfzahl aufstellten. Die
Spanier hatten daher bei gleicher Kopfzahl eine
viel größere Front
Eine Menge wichtiger Punkte, wie der Ueber-
gang zu Regimentern, in Deutschland bei der
Infanterie seit Mitte des 16. Jahrhunderts, bei
der Kavallerie erst zu Anfang des 17»; ferner
die Zahl der Chargen, die Verschlechterung des
moralischen Elements in den Landsknechten,
wie sie schon um die Mitte des 16, Jahrb. ein-
trat, werden gar nicht erwähnt.
Hinsichtlich der mittelalterlichen Kriegfüh-
rung, die S. 986 skizziert wird, ist ein wichti-
ger Faktor übersehn, der Mangel an Geld. Er
vor Allem trägt die Schuld, daß die Kriege ihren
schleppenden Gang annahmen und nur darauf
ausgingen, dem feindlichen Lande Schaden zu
thun, um auf diese Weise zu seinen Absichten
zu gelangen. War Geld vorhanden, so standen
Söldner zugebote und man konnte sich große
Ziele setzen. Die Absichten Johanns von Eng*
land im Feldzuge von 1214 gingen auf eine
Theilung Frankreichs hinaus und das Aufgebot
seiner Kräfte, hauptsächlich durch englisches
Geld erreicht, hätte dem entsprochen, wenn die
klägliche Niederlage von Bouvines dem Feldzuge
nicht bald ein Ende gemacht hätte. Das Geld,
das der deutsche Orden durch vorzügliche Ad-
640 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
ministration des Landes und durch seine Han-
delsspeculationen gewann, verschaffte ihm Polen
gegenüber durch Annahme deutscher Söldner
große Vortheile, wie das bei der Eroberung
Pommerellens und in den Kriegen, welche 1329
—32 zur Behauptung desselben dienten, hervor-
tritt. Aber auch sonst finden sich Beispiele, daft
man im Mittelalter den großen Krieg wohl ver-
stand. Die Anlage des Feldzugs von 1410 pol-
nischerseits, als deren Schöpfer der geniale
Witotd angesehn werden muß, ist den modernen
Ideen darüber völlig nahestehend. Die Concen-
tration fast des gesammten Ostens von Europa
auf einem und zwar dem schwächsten Punkt
des Ordensstaates mit der Absicht direct auf
Marienburg zu marschieren, kann noch heute
als Muster der Strategie für den großen Krieg
aufgestellt werden. Ebenso iß*- der Feldzug des
Königs Matthias Corvinus von Ungarn 1474 in
Schlesien so reich an großen Conceptionen, daft
er noch heute unsere Bewunderung erregt. Die
Ansicht, daß nur die Burgunderkriege Karls des
Kühnen einen höhern politischen Charakter ha-
ben, ißt daher sehr zu modificieren.
An Finessen, geschickten Entwürfen und dem
angemessener Durchführung sind die Feldzüge
Francesco Sforza's so reich als irgend ein mo-
derner Krieg. Dasselbe gilt von den Feldzügen
Qonsalvo di Cordova's, des großen Capitan.
4. Die Feuerwaffen.
Der Eingang dieses Kapitels (S. 670) ist
ziemlich geschickt dargestellt, obgleich ich nicht
alles unterschreiben möchte. Verf. begeht dann
aber den Fehler, zunächst zur Handfeuerwaffe
ttberzugehn, da er damit sogleich ins 15. Jahr-
hundert überspringen muß. Es beweist wenig
Jahns, Attas zur Geschichte des Kriegswesens. G41
Kritik, wenn er die Entstebnng des Lunten-
Schlosses nach Würdinger *) ins Jahr 1378 setzt,
ohne daß der geringste Beweis dafür beigebracht
wird. Ueber die Un Zuverlässigkeit der Angaben
Wttrdingers habe ich mich schon anderweitig
ausgesprochen**). Indem Verf. dann S. 784
die Angaben Schöns***) heranzieht, bewegt er
sich schon im 16. Jahrb., obgleich er (S. 786)
den Standpunkt der Handfeuerwaffe Ende des
15. Jahrh. anzugeben meint Im Uebrigen sind
die Handfeuerwaffen mit vielem Fleiß bearbeitet
und reichlich durch Zeichnungen veranschaulicht.
f Vom schweren Geschtttz (S. 786 ff.) kann
man das weniger sagen. Die Handschrift Cod.
germ. N. 600 der Münchener Bibliothek kann
unmöglich aus der Mitte des 14. Jahrh. sein, da
sie schon Geschütze darstellt, die Steine werfen.
Frühestens ist sie 1380 zu setzen. Verf. ver-
zerrt nun von vorn herein die Entwickelung der
Artillerie, indem er die Angaben Uffanosf) (S.
787), der zu Anfang des 17. Jahrh. schrieb,
zum Ausgangspunkt nimmt. Uffano wußte von
der Artillerie des 14. Jahrh. .etwa so viel als
wir vor 50 Jahren, bevor durch Anstrengung
einzelner Männer und durch Aufsuchung archi-
valischen Quellenmaterials in Rechnungen etc.
da« Dunkel gebrochen wurde, in welches sich
das erste Jahrh. der Artillerie hüllte. Was uns
Uffano mittbeilt, ist die Darstellung einiger Ge-
*) Würdinger, Kriegsgeschichte von Baiern etc. von
1347—1506. München 1868. IL. Bd. S. 350.
**) Archiv für die Artill. und Ingenieuroffiziere. 83.
Bd. (1878) 3. Heft. Quellen zur Geschichte der Feuer-
waffen etc.
***) Schön, Geschichte der Handfeuerwaffen. Dres-
den 1858.
f) Uffano, Tradado de la artilleria. Brüssel 1613.
41
642 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
schütze, die zu seiner Zeit noch existierten und
höchstens his in die Mitte des 15. Jabrh. hinauf-
reichen, alte Steinbttchsen ans eisernen Stäben
und Ringen zusammengesetzt. Andre hater, wie
er sagt, ans dem Vegez*) entnommen, der die
Geschütze des Valturius wiedergiebt, wie das
Winkelstück, das Uffano aber falsch verstanden
hat. Was er von der erstem ^ßgt9 daft die
Länge ihrer Kammer 4 Kaliber, die ihres Rohrs
8 Kaliber gewesen sei nnd die Ladnng ein Drit-
tel des Steingewichts betragen habe, deutet auf
Ende des 15. Jahrhunderts. Welchen kritischen
Standpunkt nimmt Verf. daher ein, wenn er von
dieser Büchse abstrahiert, daß die ältesten Ge-
schütze dieselben Proportionen gehabt haben,
und welche Unkenntniß der altern Artillerie-
Literatur geht daraus hervor, da die sogenannten
Feuerwerksbücher aus der ersten Hälfte des 15.
Jahrh., von denen einige gedruckt sind **), aus-
drücklich sagen, daß das Gewicbtsverhältniß des
Pulvers zum Stein in dieser Zeit wie 1 : 10 ge-
wesen ist, andre noch ältere Daten dasselbe wie
1 : 14 erkennen lassen und daß das 14. Jahrb.
über 2 Kaliberlängen des Rohrs nicht hinaus-
geht ! Diesem unkritischen Standpunkt des Verf.
entspricht es auch, wenn er von einigen noch
vorhandenen alten Geschützen sagt, daß z. B.
die große Wiener Steinbüchse, von aerTaf. 59. 5
eine Zeichnung nach einer Skizze bei Demmin
gegeben ist, aus der ersten Hälfte des 14 Jahrh.
stammen soll, wo überhaupt noch keine Stein-
bttchsen existierten, und daß die tolle Gretevon
*) Wahrscheinlich der deutschen Ausgabe des Flav.
Veget. Ren. v. J. 1511 oder 1529.
**) In der Ausgabe des deutschen Yegez v. J. 1529
und bei Hoyer, Geschichte der Kriegskunst, Göttingen
1800. IV. Zusätze und Erläuterungen S. 1107 ff.
Jahns, Atlas zur Geschieht« des Kriegswesens. 648
Gent (S. 787) wahrscheinlich 1382 geschmiedet
and jedenfalls 1411 verwendet sein soll, wäh-
rend nur eine geringe Kenntniß dazu gehört,
am za erkennen, daß sie frühestens aus der
Mitte des 15. Jahrh. sein kann. Die Taf. 59.7
abgebildete konische Büchse als eine solche za
bezeichnen, die wahrscheinlich bei Grecy 1346
verwendet worden ist, setzt Allem die Krone
auf. Verf. nennt seine Quelle nicht, da sie
wahrscheinlich eine sehr unlautere ist. Der
veuglaire Taf. 59. 16 des Masee d'artillerie von
Paris ist ungefähr 100 Jahr jünger als Verf. ihn
datiert. Ueber die faule Mette von Braunschweig
sind die Angaben nicht benutzt, die unlängst in
den Chroniken deutscher Städte (Braunschweig,
1. Theil) veröffentlicht worden sind. Es würde
zuviel Raum beanspruchen, wollte ich dem Verf.
auf allen seinen Abwegen folgen und seine An-
sichten richtig stellen. Nur Einiges sei daher
hervorgehoben. Die ursprüngliche Form der
Seele war nicht konisch, wie Verf. S. 786 sagt,
wie man überhaupt in der ersten Zeit von einer
Seele nicht sprechen kann, da das Geschütz von
der Kammer gebildet wurde, die vorn nur eine
Erweiterung von */* bis 1 Kaliberlänge hatte,
um das Geschoß aufzunehmen. Als dieser Theil
länger geworden war und „das Rohr" genannt
wurde, nimmt es von der cylindrischen die ko-
nische Form an, was wie aus einer Handschrift
der Ambraser Sammlung hervorgeht, als ein
großer Fortschritt betrachtet wurde. Die koni-
sche Form herrscht in der ersten Hälfte des 15.
Jahrh. vor und selbst der Breslauer Froissart
(v. J. 1468) hat noch einige konische Röhren. Auch
die Winkelstücke gehören nicht zu den ältesten
Geschützen, wie Verf. (S. 796) nach Sa vor g-
41*
644 Gott. gel. Anz, 1881. Stück 20. 21.
nani*) annimmt, Sie treten erst im dritten Jahr-
zehend des 15. Jahrb. auf. Man bezweckte da-
mit die Aufhebung des Rückstoßes, welcher bis
dahin verhindert hatte, schwereren Geschützen
eine höhere Elevation geben zu können. Mit
dem Aufkommen des mit Schildzapfen versehe-
nen kurzen Rohrs, des heutigen Mörsers, bald
nach der Mitte des 15. Jahrb., verschwinden sie
wieder. Das Raisonnement über Mörser auf S.
797 ist daher hinfällig. Die Benutzung von
Keilen war erst durch die Winkelstücke ermög-
licht, die auch schon Mörser oder Böler ge-
nannt worden zu sein scheinen.
Haufnitz ist der. böhmische Name für Stein-
büchse. Von Hauptbüchse kann er schon des-
halb nicht abgeleitet werden, weil dieser Name
erst um die Mitte des 15. jahrh. vorkommt, die
Hanfnitz dagegen schon lange vorher bestand.
Wenn S. 798 der Vogler (veuglaire) **) mit den
Kammerbüchsen identificiert wird, so ist das
nicht ganz zutreffend, da auch die Haufnitz und
Terrasbüchse Kammern haben konnten. Die
Terrasbüchse ist nicht Wagenbüchse, wie Verf.
meint. Sie steht der Steinbüchse als längere
Büchse (Kanon), die den directen Schuß ge-
stattete und vorherrschend Bleikugeln schoß,
gegenüber und ist mit dem Vogler nahezu identisch,
so daß im südlichen und östlichen Deutschland,
wo die Terrasbüchse in Gebrauch war, der
Vogler nicht vorkommt, wie in den Rheingegen-
den die Terrasbüchse nicht.
*) Savorgnani, Arte militare, terrestre e maritima.
Venezia 1570.
**) Die Erläuterung dieses Namens hätte wohl unter-
lassen werden können. Vom Katheder mag dergleichen
seinen Effekt nicht verfehlen, gedruckt macht es einen
peinlichen Eindruck.
Jahns, Atlas zur Geschichte des Kriegswesens. 645
Auf S. 801 bis 815 wird die Pulverbereitung
und die Munition besprochen. Es hätte hier er-
wähnt werden müssen, daß die Anwendung der
Holzasche zur Läuterung des Salpeters, die schon
in arabischen Handschriften des 13. Jahrb. vor*
kommt, in den altern Feuerwerksbüchern aus
dem Anfange des 15. Jahrb. noch nicht erwähnt
wird, so daß der Salpeter dieser Zeit sehr un-
rein gewesen sein muß.
S. 955—973 wird die Artillerie des 15. Jahrh.
besprochen. Verf. leitet diesen Abschnitt mit
einer sehr mühsamen chronologischen Zusammen-
stellung von gleichzeitigen Daten der ersten
Hälfte des 15. Jahrh. ein, die leider dadurch an
Werth verliert, daß dabei nicht mit der erfor-
derlichen Kritik verfahren ist. Die Nomenclatur
der von Kaiser Maximilian I. eingeführten Ge-
schützgattungen besehließt den Abschnitt. Die
Daten sind theils aus Würdinger, theils aus
Essen wein*) entnommen und in keiner Weise
erschöpfend, da weder auf die eignen Angaben
des Kaisers, wie sie im Weißkunig und in sei-
nem Memorienbuch niedergelegt sind, eingegan-
gen wird , noch im Atlas Zeichnungen davon ge-
geben werden.
Die Artillerie Kaiser Karls V. wird S. 1048
nach Uffano dargestellt, der indessen erst An-
fang des 17. Jahrb. schrieb und daher nicht
maßgebend für Karl V. sein kann. Ebenso we-
nig ist dies mit Jakob Pteuß **) der Fall (S.
1049), dessen Werk überhaupt nicht original,
sondern der „Kriegsordnung" entnommen ißt,
*) Quellen zur Geschichte der Feuerwaffen etc«
Leipzig 1877.
**) Jakob Preuß, Ordnung, Namen und Regiment alles
Kriegsvolks, von Geschlecht, Namen und Zahl der Büch-
sen. Strasburg 1530.
646 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
die ohne Druckort und Jahreszahl um 1525 ver-
öffentlicht wurde and dem Zeugmeister Maxi-
milians, Nickel Otten *), zugeschrieben wird. Wir
haben also die Artillerie Maximilians hier vor
uns. KarlV. hat sich vor dem Jahre 1542 nicht
mit der Artillerie beschäftigt. Seine Thätigkeit
in dieser Zeit ist in dem interessanten Werke
Henrard's**) besprochen, das dem Verf. unbe-
kannt geblieben ist, Man bleibt daher Über die
.Entwicklung der deutschen Artillerie im 16.
Jahrh. völlig im Unklaren.
S. 1218 ff. wird die Reorganisation der spa-
nischen Artillerie und die Vereinfachung der
Kaliber niederländischerseits besprochen. Sie
gehören .beide schon dem Anfange des 17. Jabrb.
an. Es ist nun einmal eine Eigentümlichkeit
des Verf. alles vorzudatieren und dadurch das
thatsächliche zu beeinträchtigen.
Nach alle dem ist der wissenschaftliche Werft
des Werks nicht, allzuhoch anzuschlagen, ob*
gleich des Guten noch immer viel übrig bleibt
Als Handbuch leidet der Text dadurch so sehr,
daß weder Inhaltsverzeichniß noch Register, was
beides bei solchem Werke dringend erforderlich
ist, vorhanden sind. Wenn sich die Verlags-
handlung nicht selbst den größten Schaden zu-
fügen will, wird sie sich entschließen müssen,
beides noch - nachträglich zu liefern , da das
Handbuch so völlig abstoßend auf Jeden wirkt,
der es benutzen will. Auch vom Atlas müßte
die Inhaltsangabe der einzelnen Blätter voran-
gestellt werden. 6. Köhler.
*) Michael Ott von Oechter dingen, Kais. Max. ober-
ster Feldzeugmeister.
**) Henrard, Histoire de l'artillerie en Belgique.
Bruzelles 1865.
Schirrmaeher, Geschichte von Spanien. 4. Bd. 647
Geschichte der Europäischen Staaten.
Herausgegeben von A. H. L. Heeren, F. A. Ukert
und W. v. Giese brecht. XLH. Lief., 2. Abth. :
Geschichte von Spanien von Friedrich
Wilhelm Schirrmacher. Vierter Band. Ge-
schichte Castiliens im 12. und 13. Jahrhundert. Gotha.
Fr. A. Perthes. 1881. XVHI und 696 S. 8°.
Im zweiten Bande der Geschichte Spaniens
hatte sich Heinrich Schäfer vorgesetzt, in unun-
terbrochener Folge dieselbe von der Auflösung
des Kalifats von Cordova bis zu den Eroberun-
gen Ferdinands im südlichen Spanien und dem
Ende der Herrschaft der Mowahiden in der
Mitte des 13. Jahrhunderts darzustellen, gleich-
wohl führte er in diesem Bande die Geschichte
Castiliens nur bis zum Tode Kaiser Alfonso's VI.
(1109) und behandelte danach im dritten Bande,
der erst im Jahre 1861 nach einer Pause von
siebzehn Jahren erschien, absehend von jener
wichtigen, die Bildung und Entwicklung der
christlichen Nachbarreiche wesentlich bestimmen-
den Macht der Mitte, mit besonderer Berück-
sichtigung der Staatsverfassung und des See-
wesens, die Geschichte Aragons und Cataloniens
bis über die Mitte des 13. Jahrhunderts hinaus.
Hierdurch sah sich der Fortsetzer veranlaßt, in
dem ersten der drei weiteren, von ihm zu be-
arbeitenden Bände, in denen die Geschichte
Spaniens bis zum Ausgang des Mittelalters ge-
führt werden soll, zurückgehend auf die Zeiten
Kaiser Alfonso's VI., die ruhmreichen Zeiten der
Macht Castiliens während des 12. und 13. Jahr-
hunderts im Zusammenhang zur Darstellung zu
bringen. In Bezug auf den vorliegenden reichen
Stoff und die Aufnahme des ansehnlichen wis-
senschaftlichen Apparats hat er sich mannigfache
Schranken setzen und ernste Enthaltsamkeit
648 Gott, gel. Anz. 1831. Stock 20.21.
üben müssen, and trotzdehi erforderte die Dar-
stellt! ng des noth wendig Zusammengehörigen
einen derartigen Umfang, daß die Schilderung
des geistigen Lebens in Staat und Kirche, in
Literatur und Kunst dem folgenden Bande auf-
gespart bleiben mußte. Dort wird es auch am
Ort sein, wenigstens in großen Zügen eine An-
schauung von der hohen Stellung zu geben, zu
welcher sich die Geschichtschreibung in Spanien
während jener zwei Jahrhunderte erhob und ein-
gehender, als es in diesem ersten Bande ge-
schehen durfte, von den Resultaten Gebranch zu
machen, zu denen die Quellenuntersuchnng führte.
Durch sie sah sich der Verfasser bestimmt, der
cronica general Alfonso's X. für die geschilder-
ten Zeiten eine bei weitem größere Autorität
einzuräumen, als ihr von spanischen Autoren
zu Theil geworden ist. Kaum genannt findet
sich dagegen Conde's domination de los Arabes,
welchem Werk von jenen, trotz der gerechten
Abfertigung, die es durch Dozy erfahren hat,
und trotz der den reichsten Ersatz bietenden
stattlichen Folge arabischer Autoren, deren Ge-
schichtswerke in vortrefflichen Textansgaben
oder Uebersetzungen vorliegen, noch immer die
Anerkennung gezollt wird , die allein einer
Quelle ersten Banges zukommt.
Um die Geschichte der Masmüditen und zwar
für die Zeit von 1121 bis 1224 hat sich unter
den arabischen Berichterstattern keiner ein grö-
ßeres Verdienst erworben als Abd-el-w&chid.
Wenn er sagt: „Ich habe in diesen Blättern
nichts berichtet, was ich nicht durch Mittheilung
aus Büchern festgestellt, oder von zuverlässigen
Leuten vernommen oder selbst erlebt habe, in-
dem ich die Wahrheit und Gerechtigkeit suchte
und vor allem bemüht war, daß ich nicht Je-
Schirrmacher, Geschichte von Spanien. 4. Bd. 649
ttflradem etwas entzöge, was ihm gebührte, oder
hinzufügte, was er nicht verdiente", so hat die
Untersuchung' nicht gefunden, daß er damit zu-
viel gesagt nätte. Um so mehr ist zu bedauern,
daß es ihm nur darauf ankam, eine kurze Zu-
sammenfassung der Nachrichten über die Herr-
schaft der Masmüditen zu geben. Bei seinen
Berichten über die Regierung der Söhne, Enkel
und Urenkel cAbd el-Mämen's, über ihre Mütter,
Secretaire, Katmnerherren und Veztre babe er
sieh, sagt er, nur auf das Nothwendige be-
schränkt.
Für die Zeiten von 1170-1263 ist zum er-
sten Mal die arabische Handschrift der Biblio-
thek zu Kopenhagen benutzt worden, über welche
Herr Professor Dozy in seiner Ausgabe des Ibn
Adhari, Introduction p. 103, ausführlich gehan-
delt hat. Leider machte die außerordentliche
Veräerbtheit des Textes der Benutzung die
größte Vorsicht zur Pflicht. Gleichwohl ver-
dankt unsere Darstellung dieser getrübten Quelle
recht wesentliche Aufklärungen.
Wenden wir uns der Gruppierung des Stoffes
zu. Durch die Schlacht bei Navas de Tolosa,
den entscheidendsten Wendepunkt für den Nie-
dergang der Herrschaft derMoslims in Spanien,
gliedert sich diese zweihundertjährige thaten-
reicfte Epoche in zwei fast gleiche Hälften, so
daß die erste, anbebend vom Tode Kaiser AI
fouso's VI., des Eroberers von Toledo, die Zei-
ten der Königin Urraca, der Könige Alfonso VII.,
Sancho III., Alfonso VIII. und seit dem Jahre
1158, der Trennung der Königreiche Gastilien
und Leon, zugleich der Könige Fernando II.
nad Alfonso IX. von Leon, die zweite die der
Könige Enrique L, Fernando III. , Atfonso X.
und Sancho IV. urarfam. Heinrich Schäfer hatte
650 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
die Darstellung der Ereignisse, welche die An-
wartschaft Alfonso's I. von Aragon auf die
Krone von Leon und Castilien veranlaßte, der
Feder des Geschichtsschreibers dieser Reiche
überlassen, der sich überdieß zu einer eingehen-
den Prüfung und Darstellung der Regierungs-
zeit der Königin Urraca nicht weniger durch
die über sie bestehenden Unklarheiten als durch
die verdunkelnde Leidenschaftlichkeit aufgefor-
dert sa h, mit welcher einerseits die historia
Compostellana den Bischof Diego Gelmirez von
Santiago, den energischen Beschützer Castifiens
gegen Aragon, verherrlicht, andererseits die ca-
stilischen Historiographen herabgezogen haben.
Bei der dem nächsten Bande vorbehaltenen
Schilderung der zunehmenden Einwirkungen der
päpstlichen Macht auf Kirche und Staat Spa-
niens wird dieser erste Erzbischof von Santiago
noch einmal im Vordergründe erscheinen. —
Nach einer Einschaltung über Ibn Tümart, den
Reformator des nordafrikanischen Islam und
Begründer der Sekte der Almohaden wird in
vier Kapiteln das Leben Kaiser Alfonso's VII.
behandelt, die ersten Erfolge bis zur Aner-
kennung der Kaiserwürde, darauf seine Conflikte
mit den Vasallenfürsten von Portugal, Navanra
und Aragon, deren glückliche Beilegung ihn erst
in den Stand setzte, sich die anarchischen Zu-
stände zu Nutze zu machen, die mit der Em-
pörung der spanischen Mosltms gegen die ver-
haßten AI mora vide n über Andalusien hereinge-
brochen waren. Zum ersten Mal ziehen die Ca-
8tilier in Kordova ein, ohne es in eine christ-
liche Stadt verwandeln zu können, Ibn Ganije,
der Almoravide, bleibt ihr Gebieter, doch ate
Vasall Alfonso's, der sich durch die Genuesen
zu der gewinnverheißenden aber bei der drohen-
Schirrmacher , Geschichte von Spanien. 4. Bd. 651
den Landung der Almohaden and der schwan-
kenden Haltung der Andalusier trotz der Mit-
hülfe Navarras nnd Aragons äußerst gewagten
Unternehmung gegen den reichen Handelsort
Almeria fortreißen läßt. Leider bricht die von
einem Gleichzeitigen abgefaßte Chronik des Kai-
sers, über deren Glaubwürdigkeit in Vicente de
la Fuente'8 spanischer Kirchengescbichte sehr
einseitig und hart geurtheilt worden ist, schon
in den Anfängen der Schilderung jenes Unter-
nehmens ab und leider lassen sich nach der
Eroberung von Almeria auf Grund kurzer anna-
listiscber und urkundlicher Notizen nur die Rich-
tungen der Kriegsztige bestimmen, welche Al-
fonso zur Abwehr der hereinbrechenden Almo-
haden und zur Behauptung Almerias in sei-
nen letzten zehn Lebensjahren unternommen hat.
Gegen die bisherigen Annahmen wird erwiesen,
daß der Verlust dieses Emporium dem Tode des
Kaisers kurz vorausgegangen ist. Die Darstel-
lung wendet sich dann den schweren Verhäng-
nissen zu, die, eine Folge der Trennung der
Königreiche Gastilien und Leon und des früh-
zeitigen Todes Sanchos III., nach dessen kräf-
tiger Regierung sich die Gastilier zurücksehnten,
während der Minderjährigkeit seines Sohnes,
König Alfonso's VIII., durch die Factionskämpfe
der Gastro und Lara und die Usurpation König
Fernando IL von Leon über Castilien kamen,
durch deren Nachwirkungen sich nicht allein Al-
fonso VIII. Zeit seines Lebens in der vollen
Durchführung seiner gegen die Almohaden ge-
richteten Unternehmungen gehemmt sah, son-
dern auch sein Nachfolger König Fernando III.,
bis dann im Jahre 1230 der Tod Alfonso's IX.
von Leon zur Wiedervereinigung der getrennten
Reichstheile führte. Für die mehr als fünfzig-
652 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20.21.
jährige, in fünf Kapiteln behandelt* Ilegierting
Alfonso's VIII., deren hohe Bedeutung allein
schon sich in den Namen Alarcos nnd Navas de
Tolosa aasspricht, lagen in des gelehrten Mon-
debar Memorias del rey Alonso VIII. die ftJr-
derndsten Vorarbeiten vor, die ihre Ergänzun-
gen und Berichtigungen, soweit es sich nament-
lich um die Contacte mit der Macht der Almo-
haden handelt, in sehr umfänglicher Weise darch
die Mittheilungen Abd-el-w&hids and des unbe-
kannten Verfassers des Ms. Copenh. erhielten.
In einer Beilage ist der Versuch gemacht, die
Unklarheiten und Widerspruche zu beseitigen,
die über die Zahl der Kinder Alfonso's und die
Zeit ihrer Geburt bestehen.
Das zweite Buch behandelt die Epoche der
großen Eroberungen Castiliens im südlichen Spa-
nien. Nach der aus unzureichenden Quellen ge-
schöpften Schilderung der glücklicherweise nur
kurzen Regierung König Enrique's I. während
dessen Minderjährigkeit die Lares nochmals die
höchste Gewalt usurpieren und die wirren Zu-
stände aus der Jugendzeit Alfonso's VIII. wie-
derkehren, erhebt sich die Darstellung auf um-
fangreichen urkundlichen und annalistischen
Grundlagen zu den ruhmvollen Zeiten König
Fernando's des Heiligen. Ein erstes Kapitel
umfaßt seine Kriegszttge nach Andalusien bis
zum Jahre 1230, dem Tode seines Vaters, Kö-
nig Alfonso's IX. von Leon. Zu nicht geringen
Abweichungen von den bestehenden Annahmen
führten die Untersuchungen über die Zeitbe-
stimmungen jener Feldzttge. In zwei weiteren
Kapiteln finden die von den größten Erfolgen
gekrönten Eroberungszttge ihre Darstellung:
Cordova, Murcia, Jaen und Sevilla werden
ehristtitob. Ibn-el-abmer von Granada, dessen
Schirrmacher, Geschichte von Spanien. 4. Bd. 658
Klugheit der Islam den letzten Halt auf spani-
schem Boden verdankt, erkennt die Oberhoheit
Castilieng an. In einem vierten Kapitel wird
das diese großartigen Erfolge bedingende maß-
volle Verhalten Fernandos gegen die neidvollen
Nachbarn, besonders gegen Aragon geschildert.
Gleichfalls in vier Kapiteln , die jedoch bei
der Fülle des historischen Materials den doppel-
ten Umfang erreichen, wird die Regierung Al-
fonso's X. behandelt, die in Bezug auf die Le-
bensziele des Vorgängers fast nur Rückschritte
aufzuweisen hat, an überspannten und darum
verfehlten Plänen, an nicht durchgeführten Re-
formarbeiten, an Empörungen- dar nächsten Ver-
wandten wie der Ricoshombres, an Auflehnun-
gen der andalusischen Moslims und Demüti-
gungen durch die Waffen der afrikanischen Me-
rmen überreich ist, und mit der Machtberaubung
durch den eigenen Sohn, den Erbinfanten Sancho,
endet. Die ganze Folge der Begebenheiten ist
in der Weise gegliedert, daß in den vier Kapi-
teln die ersten Jahre schwankender Politik, die
Verirrungen seiner Kaiserpolitik, die mit Papst
Gregor X. zu Beaucaire geführten Unterhand-
lungen und die unheilvollen Rückwirkungen die-
ser antinationalen Politik auf Gastilien geschil-
dert werden. Von den Vorarbeiten verdankt
der Verfasser für die ganze Zeit Alfonso's die
meiste Förderung Mondejar's Memorias histori-
cas del rei Don Alonso el Sabio, speciell für
dessen römisches Königthum Busson's Schrift:
„Die Doppelwabl des Jahres 1527 und das rö-
mische Königthum Alfons X. von Castilien". In
einer Beilage wird auf Grund einer Mittheilung
des Don Juan Manuel die Geschichte des Auf-
Standes des Infanten Don Enrique und der Mos-
664 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
lims Andalusiens einer besonderen Prüfung
unterzogen.
Den Abschluß des Ganzen bildet die Regie-
rung König Sanchos IV.. der in die Bahnen Kö-
nig Fernando's III. wieder einlenkt, Krieg mit
den Merinen, Frieden mit den christlichen Nach-
barreichen sucht und, obwohl durch die von ihm
selbst in Folge seiner Auflehnung gegen den
Vater geschärften Parteigegensätze vielfach ge-
hemmt, mit Hülfe des Fürsten von Granada das
wichtige Tarifa gewinnt und gegen die Merinen
behauptet.
Rostock. Fr. Schirrmacher.
Theogonie und Astronomie. Ihr Zusammen-
hang nachgewiesen an den Göttern der Griechen, Aegyp-
ter, Babylonier und Arier von Anton K rich e n»
bauer. Wien bei Carl Konegen 1881. Vlll und
461 S. gr. Oct.
Um von der in der That ganz abnormen Wun-
derlichkeit, um nicht zu sagen Verfehltheit, des
vorliegenden äußerst splendid ausgestatteten Wer-
kes einen Begriff zu geben, genügt es wohl
einige die wichtigsten Principien und Resultate
des Verf. charakterisierende Sätze aus der Ein-
leitung (S. 1 — 40) herauszugreifen und diese
alsdann durch einige Behauptungen aus den
späteren Abschnitten des Buches zu illustrieren.
Der Verf., Herr A. Krichenbauer, „Besitzer
der goldenen Medaille für Kunst und Wissen-
schaft" (wie es emphatisch auf dem Titel heißt),
welcher sich auf S. II „alle Rechte, insbesondere
das Uebersetzungsrechttf seines für Astronomen,
Historiker und Archäologen gleich wichtigen
Werkes (S. 7 f.) ausdrücklich vorbehält, ist kein
Neuling mehr auf dem Gebiete seiner Wissen-
schaft. Er hat seine Methode der Untersuchung
Krichenbauer, Theogonie und Astronomie. 655
bereits in einer Reibe von Schriften dargelegt
Diese sind: 1) Ein Schloß auf das Alter der
Ilia8, Wien 1874. 2) Beiträge zur homer. Ura-
nologie, ebenda 1874. 3) Die Irrfahrt des
Odysseus, Berlin 1877. 4) Die Irrfahrt des
Menelaos, Wien 1877. „Man wird darin (sie!)
ersehen", heißt es S. 2, „daß ich in Bezug auf
den Himmel vom Sirius ausging, zur Wage ge-
langte, dann die Sterngruppe Bär, Bootes, Orion
und Plejaden erklärte, dann zum Löwen und
zu den Steinböcken geführt wurde und schließ-
lich den Poseidon als unmittelbaren Nachbar
der Steinböcke ebenfalls als Sternbild erkannte,
und zwar als das Sternbild des — Wasser-
mannes". An dieses Resultat- soll nun die ge-
genwärtige Untersuchung wieder anknüpfen.
Zwar hat eine böswillige Kritik die bisherigen
Ergebnisse des Verf. bis jetzt nicht anerkannt,
sondern geglaubt, er wolle die Philologie com-
promittieren und die Welt mystificieren (S. 6),
doch hat diese Verkennung der Wahrheit Herrn
K. nicht hindern können, seine bahnbrechenden
mythologisch-astronomischen Studien mit dem
Cirkel in der einen und mit dem aus dem Binge
gelösten Himmelsglobus in der andern Hand
(S. 43) rüstig fortzusetzen und „auch die an-
dern Götter derllias, Here, Athene, Ares, Apol-
lon, Artemis, Aphrodite, Thetis als Vertreter
eines oder mehrerer Sternbilder an der Ekliptik,
Zeus aber als Sonne nachzuweisen" (S. 2). So
„gestaltete sich ein Götterkreis entsprechend
dem Thierkreise an der Ekliptik und die Hand-
langen der Götter erschienen als der religiöse
Ausdruck einer bestimmten Himmelsanschauung,
eines bestimmten kosmischen Vorganges aus der
Zeit um — 2110 v.Chr.". Hr. K. „erkannte,
daft wir wirklich Bruchstücke eines halb ver-
schollenen Gesanges in der Ilias erhalten haben
666 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20.21.
die »ich aber erklären and so ordnen lassen,
daß wir die Umrisse des alten Liedes erkennen".
„Dieses Götterepos bebt sich natürlich (!)
vom historischen oder Heldenepos der Ilias voll-
ständig ab, weil der Schauplatz der Himmel ist
und die Zeit der Handlung um 2000 v. Chr. (!)
fällt, wo von dem historischen Epos noch keine
Rede sein kann", Doch der Verf. „konnte bei
diesem Ergebnisse der Untersuchung [das allein
schon hingereicht hätte, jeden andern Forscher
zu befriedigen und ihm die Krone der Unsterb-
lichkeit zu verleihen, Anm. d. ßec] nicht stehen
bleiben u. Geleitet von der Erwägung, daft wohl
noch andere Götterkreise aus späterer Zeit in
den durch Absonderung des ältesten gewonne-
nen Abschnitten der Ilias enthalten seien, setzte
Herr K. seine zwar mühevollen (S. 6) aber
doch schon durch glänzende Ergebnisse belohn-
ten Untersuchungen fort und — siehe da — „es
ergab sich ihm aus einem Theile der Götter-
handlungen und Göttergestalten ein zweiter Cy-
klus, der in sich abgeschlossen abermals der
Ausdruck bestimmter uranisoher Verhältnisse war,
und zwar — aus dem 15. Jahrh. v. Chr. Ein
Best von Mythen zeigte nur mehr wenige Spu-
ren realen Inhalts, war bereits mehr ein poeti-
sches Spiel mit den alten Formen. Es führte
dieses Stadium in die Zeit von ungefähr —
1000 v. Chr. bis in die historische Zeita.
„Aber auch dieser Erfolg war dem Verf.
noch nicht hinreichend. ... Es muß sich das
Analoge auch bei derTheogonie und Mythologie
anderer Völker nachweisen lassen. So wurde«
auf das Gebiet der vergleichenden Mythologie
gedrängt (!), aber erst als sein ganzes Gebäude
der griechischen Tbeogonie geschaffen war. Er
wandte seine Prinzipien auf die Tbeogonie der
Krichenbauer , Theogonie utid Astronomie. 657
Babylonier, Aegypter und Arier (sie!) an und
fand, daß auch dort die chaotischen Knäuel von
Mythen sich lösen, ordnen und erklären lassen,
die Mythen chronologisch und genetisch der in-
dividuelle Ausdruck dieser Völker für dieselben
astronomischen und kosmischen Vorgänge sind,
welche die Grundlage der aus Homer geschöpf-
ten Theogonie waren. Nun erst (!) erschien die
homerische Theogonie als ein ganz natürlicher
Zweig der Gulturentwickelung des alten Orients
überhaupt, und der Verf. gewann die feste
Ueberzeugung, daß er zur Literatur
der Theogonie kein überflüssiges (!)
Buch hinzufüge".
Nach diesen Auseinandersetzungen, welche
ich, um möglichst objektiv zu verfahren, größten-
teils mit den eigenen Worten Herrn K.'s ge-
geben habe, hätte es, sollte man meinen, des
Verf. erste Pflicht sein müssen, nachzuweisen,
daß die Griechen schon vor 2000 v. Chr. den
Thierkreis kannten, und daß Ideler Unrecht
hatte, wenn er in seiner berühmten Abhandlung
über den Ursprung des Thierkreises (Philos.-
histor. Abh. d. Berl. Ak. 1838 S. 21 u. 24) ein
über das 7. Jahrh. v. Chr. hinausreichendes Alter
des griech. Zodiakus und dessen ägyptische Her-
kunft bezweifelt, aber was bietet uns Hr. E. statt
dieses Nachweises ? Nichts weiter als die boden-
lose Behauptung (S. 22) „die Thierkreisbilder ha-
ben ihren Namen von den Aegyptern, denn nur
dort trifft es zu, daß die Namen in Beziehung zur
Natur des Landes stehen" (?!) Zwar weiß der
Verf. aus Mädlers Gesch. d. Himmelskunde 1872
S. 28, daß „nach Idelers Untersuchungen sich
die Thierkreisbilder [auf ägyptischem Boden]*),
*) Diesen wichtigen Zusatz läßt freilich Herr K. weg.
Vgl. Ideler a. a. 0. S. 3 und Letronne in seiner Abh.
42
668 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
nicht über die Zeit Cäsar» zurück nachweisen
lassen", doch lehnt er eine Widerlegung die-
ser Thatsache einfach mit den Worten ab,
„es könne dies nicht Gegenstand der vorliegen-
den Untersuchung Bein" (S. 23). Im Folgenden
wird der Name des Steinbocks mit der Behaup-
tung erklärt, daß um 2400 v. Chr. am 21. Juni
— die Jagd auf die Steinböcke in Aegypten
begonnen habe. (Die Astronomen von Fach
mögen beurtheilen, ob der Verf. berechtigt
ist, sich bei diesen Monatsdaten des Jahres 2400
y. Chr. „die Sonne im Untergang" das betr.
Sternbild am östlichen Himmel zu denken.)
Aehnlich soll das Bild der Fische seinen Namen
erhalten haben, weil am 21. Juli des Jahres
2400 „die Aegypter sich von den Fischen nähr-
ten, die im zurücktretenden Nil sich in Fülle
vorfanden". Da am 21. September „die Ham-
mel schon (!) auf die Weide getrieben wurden",
so hat das zu dieser Zeit bei untergehender
Sonne am östlichen Himmel erscheinende Stern-
bild den Namen Widder erhalten (S. 23). Das
allerinteressanteste Ergebniß dieser Untersuchun-
gen ist es aber, daß die Löwen in Aegypten ihre
Schonzeit hatten, da nach Herrn E. „wahrschein-
lich erst am 21. Jänner die ägyptischen Löwen-
jagden begannen" (8. 24).
So viel aus der Einleitung des Buches. Zar
Charakteristik des sonstigen Inhalts mögen fol-
gende Sätze genügen. S. 108 heißt es von der
Gorgo: „Die Gorgo muß . . ein Stern sein, der
1 80 Grade vom 325 Grade entfernt ist, also ein
Stern, der am21.Decbr. Mitternachts kulminiert
Nur so ist er das echte Wahrzeichen des aigis-
haltenden Zeus. Stellen wir uns den Himmels*
globus für 2110 v. Chr. demgemäß ein, den 145.
Sur Porigine Grecque des zodiaques pr&endus lägyptiens.
Revue des deux Mondes 1887.
Krichenbauer , Theogonie und Astronomie. 65U
Grad unter den Meridian, so haben wir genau
dieselbe Himmelsstellung, wie sie zur Erklärung
der eulenhäuptsgen Athene nothwendig war. Es
ist nar ein Stern in dieser Linie, und dieser ist
wieder Alphard, der veränderliche Stern. Soll
dieser wirklich die Gor go sein, so muß das
Epitheton ßloavQctmg dazu passen . . . das Wort
ist bisher unerklärt [vgl. jedoch Curtius Grdz.
d. gr. Etym.5 S. 549 und Studien z. gr. u. lat.
Gr. I, 2, S. 295 ff.], weil man an den Himmel
nicht dachte [Verf. scheint also die neueren Un-
tersuchungen, wonach die Gorgon en Gewitter
dämonen sind, nicht zu kennen] ; die Etymologie
liegt so offen wie in atjtWQog, das Wort kommt
von «fyu* wehen, övqco ziehe und bezeichnet,
daß etwas durch Wehen leicht weggezogen wer-
den kann [vgl. dagegen Curtius in d. Stud. z.
griech. u. fat. Gr. I, 2 S. 295 ff.]. So leite ich
ßXo'GVQ-ton-iq ab von ßlo-ßka&-9 ßXto&Qog, ßXa-
cndvco, wachse, avQ(o} ziehe, und <3ip} das Auge ;
es bezeichnet ein Auge, das durch
Wachsen auseinandergezogen wird"
u. s. w. Anderwärts (S. 168) wird von einer
„katzenhäuptigen Gorgou (!) geredet. Als ein
weiteres Beispiel höchst seltsamer etymologischer
Methode will ich nur die Untersuchung des
Namens 'Evvoi anführen: Jlv ist dem Verf. —
heißt es S. 168 — nicht die Präposition „ina,
sondern zu den Stammformen gehörig, die den Be-
griff der Einheit ausdrücken, olpog, u n u s , a i n s ,
eins (Curt. Etym. 4. Afl. S. 320). v ist der
Rest von av, av-w, zünde an, eva> senge, skr.
u s h , brennen, leuchten ; Enyo heißt also wört-
lich: die allein Leuchtende und diese Bedeutung
führt uns direkt auf den Sirius" u. s. w. In
diesem Stile ist das ganze Buch geschrieben.
Kein Kundiger wird es, glaube ich, aus der
42*
660 Gott. gel. Ana. 1881. Stück 20. 21.
Hand legen, ohne ein paar Mal recht herzlieh
über die wunderbaren Gedankensprünge des
Verf. gelacht zu haben. Doch hat das Werk
nicht bios eine heitere, sondern auch eine recht
ernste Seite. Es illustriert gewissermaßen die
Worte Schillers:
„Ohne Wahl vertheilt die Gaben,
Ohne Billigkeit, das Glück" u. s. w.
Unter den Gaben verstehe ich in diesem Falle
das Glück des Verf. für seine Schrift einen Ver-
leger gefunden zu haben und noch dazu einen
solchen, welcher die Kosten glänzender Ausstat-
tung nicht scheut. Es ist eine traurige und
niederschlagende Thatsache, daß oft völlig wert-
lose Bücher in glänzender Ausstattung das Licht
der Welt erblicke^, während viele tiefeindrin-
gende, gediegene wissenschaftliche Arbeiten ge-
wissermaßen als todtgeborene Kinder in den
Pulten ihrer Verfasser eingesargt liegen müssen,
weil diese keinen Verleger dafür zu finden ver-
mögen. Für solche ist es nur ein schlechter
Trost, zu sehen, daß die Kritik sich durch
äußeren Glanz und durch den hochtönenden Ti-
tel eines „k. k. Gymnasial-Direktors und Be-
sitzers der goldenen Medaille für Kunst und
Wissenschaft11 nicht bestechen läßt, sondern
werthlose Bücher an den Ort schickt, wohin sie
gehören: in die Papiermühle.
Apollon Pythoktonos. Ein Beitrag zur grie-
chischen Religions- und Kunstgeschichte. Von Th.
Schreiber. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 1879.
II, 106 S. und 2 Lichtdrucktafeln.
Einen äußerst wohlthnenden Gegensatz zu
dem soeben besprochenen größeren Werke bil-
det die vorliegende (Leipziger) Habilitationsschrift
Schreiber, Apollon Pythoktonos. 661
Th. Schreibers, welche sich zwar auf die Unter-
suchung nur eines Mythus — ' nämlich des
Apollon Pythoktonos — beschränkt, denselben
aber so vielseitig nnd gründlich, mit solcher Be-
sonnenheit des Urtheils und Gelehrsamkeit auf
literarischem wie archäologischem Gebiet behan-
delt, daß sie wohl als ein Muster mythologi-
scher und religionsgeschichtlicher Specialfor-
schung bezeichnet zu werden verdient.
Der Verf. hat seinen gesammten Stoff in 10
Abschnitte eingetheilt, wobei nur zu beklagen
ist, daß er es verschmäht hat, die einzelnen Ca-
pitel zur leichteren Orientierung des Lesers über
den Gang der Untersuchung mit kurzen Inhalts-
angaben zu versehen.
Cap. I (S. 1—9) behandelt die älteste lite-
rarische Version des Mythus vom Apollon Py-
thoktonos, welche uns in dem homerischen
Hymnus auf den delphischen Apollon vorliegt,
nnd, wie der Verf. nachweist, durch spätere
Zeugnisse theils bestätigt, theils modificiert oder
erweitert wird. Schon hier tritt uns die wich-
tige Thatsache entgegen, daß namentlich die
Legenden anderer apollinischer Cultusorte auf
den ursprünglichen (delphischen) Mythus erwei-
ternd eingewirkt haben. Wenn übrigens der
Verf. von dem ältesten delphischen Mythus
annimmt, daß er die Erlegung des Drachen und
die Gründung des Orakels noch nicht in ur-
sächlichen Zusammenhang gebracht habe, oder
daß die Drakaina von Haus aus nicht zu dem
delphischen Orakel in irgend einem Verhältnisse
stehe (S. 7), so scheint dem doch der auf S. 50
von S. selbst hervorgehobene Umstand, daß auch
auf Delos, zu Tegyra, Gryneia und Sikyon
die Legende des Dracbenkampfes an eine Ora-
kelstätte geknüpft war, zu widersprechen, so
662 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 20. 21.
lange nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen wer-
den kann, daß jene Combination zweier Mythen
erst später von Delphi aus dorthin gelangt
ist. Daß der sicherlich schon vor der Entwieke-
lung des delphischen Apollonkultus bei allen
Hellenen verbreitet gewesene Mythus von einem
drachentödtenden Orakelgotte vorzugsweise in
Delphi lokalisiert und entwickelt worden ist,
dürfte sich einfach aus der Beschaffenheit des
delphischen Bodens erklären, wo ein eigenthüm-
licher kalten Hauch*) ausströmender Erd
Schlund (aiofia yijs) mit prophetischer Wirkung
zugleich an das Grab eines verwesenden Dra-
chen und an seinen orakelnden Ueberwinder
erinnerte. Daraus folgt aber doch wohl, daß der
delphische Mythus von jeher die Drakaina
in engstem Verhältnisse zum Orakel stehenließ.
Insofern freilich mag S. recht haben, als die
Drakaina im ältesten Mythus vielleicht noch
*) Vgl. folgende Ausdrücke des Hymnus : xtfio fäy1
aod-fiaivovaa xvhvdofiiytj xata %<m)qov, (v. 181), hSnu
dt S-vfiov (foivbv an onv eioveet (v. 183), alia 6t f
aviov nveti Taia /utketwa xal tjkix7(OQ 'Yntgiojy. Höchst
wahrscheinlich hängen diese Vorstellungen des ac&/taimr
und &v/4oy dnonvtiv mit dem merkwürdigen Hauche
(nvkZfAtt, dt/u6$t dva&v/jiao*s Flut, de def. or. 46 u. 50)
zusammen, welche der delphische Erdschlund ausströmte.
Nach Plut. a. a. 0. 50 entwickelte derselbe mitunter
eigenthümliche Gerüche, welche auf die Idee eines ver-
wesenden Körpers führen mochten. Die Wurzel jw,
wovon nv&w, bedeutet ursprünglich stinken: Fick, Wör-
tern.* S. 126. Uebrigens giebt, so viel ich sehe, der
homer. Hymnus keinen positiven Anhalt für S.'s Annahme,
daß der Drache in keinem Verhältniß zum Orakel ge-
standen habe. Ein solches ist zwar nicht mit klaren
Worten ausgesprochen, folgt aber doch wohl indirect ans
dem Umstände, daß der Mythus vom Drachenmord un-
mittelbar an die Legende von der Orakeigrundung ange-
knüpft ist und dasselbe Lokal hat.
Schreiber, Apollon Pythoktonos. 663
nicht die Rolle einer Hüterin oder Prophetin
des Orakels spielte. Aber die Auffassung der-
selben als einer Tochter der Erde scheint mir
nralt zu sein, weil sie sich unmittelbar aus der
Beschaffenheit der eigentümlichen delphischen
Orakelsitte ergiebt. Wahrscheinlich galt der
Erdschlund, über welchem der Dreifuß stand,
von Anfang an als Grab des Drachen (Luc. de
astro!. 23), ebenso der unmittelbar daneben be-
findliche Omphalos, als dessen Tumulus (Varro
1. 1. VII, 17, Schoemann Or. Alt.2 II, S. 301 u.
Wieseler Annali d. inst. XXIX, p. 160 ff. Göt-
tinger gel. Anz. 1860, St. 17—20)*).
Im zweiten Abschnitt (S. 9 ff.) wird die all-
mähliche Umwandlung des ursprünglichen My-
thus in jene euhemeristische Legende nachge-
wiesen, welche den von späteren Schriftstellern
beschriebenen Gebräuchen des Stepterionfestes **)
zu Grunde lag. Gewiß mit Recht zweifelt S.
an der Haltbarkeit der von 0. Müller aufge-
stellten, auf den ersten Blick höchst bestechen-
den Hypothese von dem Zusammenhang der
Knechtschaft Apollons bei Admetos mit der del-
phischen Kultlegende. Auch die S. 18 ff. gege-
bene Darstellung der Geschichte des v6po$ Ilv-
&*xd$ hat viel Wahrscheinlichkeit. Das Resul-
tat der die Ealenderzeit des Stepterion betref-
fenden Untersuchung, welche ich ebenfalls als
in der Hauptsache gelungen anerkennen muß,
lantet S. 36: „so ergibt sich, daß das S. als in
sich abgeschlossenes [vermuthlich von der Stadt-
*) Das „in Form einer Höhle überbaute Adyton"
(Bursian, Geogr. I, 176) ist wohl mit den (d&ta arrQa
ÖQaxovtot (Eurip. Phoen. 232) identisch.
**) Vergh über diese Form des Namens meinen Auf-
satz in Fleckeisens Jahrbb. f. klass. Philol. 1879. S.
784 ff.
664 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20.21.
gemeinde Delphi ausgehendes S. 33] Cultnsfest
für sieh bestand und jedes neunte Jahr ohne
Unterbrechung in der Zeit vor den Pythien ab-
gehalten wurde, bei deren Beginn es bereits seit
einigen Tagen (wenn nicht Wochen) beendet
wara. So viel scheint sicher, daß das Stepterion
in seinen Hauptzügen ein uraltes lokales Fest
war (vgl. den Anhang S. 95) und in die Zeit
vom 7. Bysios bis 7. Bukatios fiel. Höchst
wahrscheinlich wurde es, wenigstens in der äl-
reren Zeit, unmittelbar im Anschluß an den Ge-
burtstag des Gottes (7. Bysios) gefeiert, weil
nicht nur der Drachenkampf, dessen Erinnerung
es geweiht war, im Mythus gleich auf die Ge-
burt des Apollon folgte, sondern auch die wahr-
scheinlichste Deutung des Drachen als des Win-
ters und des Apollon als Sonnen- und Früh-
lingsgottes (vgl. Schreiber a. a. 0. S. 66 and
meine Studien z. vgl. Mythol. d. Gr. u. Römer I,
S. 41 ff.) auf ein zu Anfang des Frühlings ge-
feiertes Fest hinweist. Wie trefflich sich der
meteorologische Charakter des Bysios für jenes
Fest des Drachenkampfes eignet, ersieht man
aus A. Mommsen8 Griecb. Jahreszeiten I, 16 ff.,
wo auch auf die in diesem Monat häufigen Erd-
stöße hingewiesen wird, welche noch jetzt von
den Griechen als Zeichen guter Ernte gedeutet
werden. Wenn neben diesem lokalen Feste des
Stepterion auch noch die amphiktyonische Feier
der Pythien, welche dieselbe mythische Grundlage
hatte, bestand, so erklärt sich dieses Bedürfnis
eines Doppel festes wohl am Besten aus dem
Umstand, daß der Monat Bysios sich nicht wohl
zur Seefahrt eignete (Hesiod. «^a 674 ff. Momm
sen a. a. 0. S. S. 18 f.), so daß die ferner wob
nenden Verehrer des Apollon Pythoktonos unbe
dingt auf eine sommerliche Feier ange
wiesen waren. (Vgl. Hy. in Ap. Pyth. 112 ff.)
Schreiber, Apollon Pythoktonos. 665
Im 3. and 4. Capitel bespricht S. die dem
delphischen Mythus parallelen Legenden von
Tegyra, Delos, Gryneia, Ephesos, Kroton und
Sikyon und weist — entsprechend den Grund-
sätzen 0. Müllers in den Proll. S. 221 ff. — den
allmählich sich vollziehenden Ausgleich der ver-
schiedenen Lokalsagen nach. Treffend erschei-
nen namentlich die Bemerkungen über das Ver-
bältniß der tegyraeischen Legende einerseits zur
delphischen anderseits zur delischen (S. 43 u.
52). „Es läßt sich vermuthen" — äußert der
Verf. gewiß richtig S. 51 — „daß mit der Grün-
dung eines Cultsitzes auch der Gesammtumfang
der betr. Mythen angesiedelt wurde", und „daß
nach und nach, besonders in benachbarten Cul-
tusstätten, sich das Bedürfhiß geltend machte,
die Gegensätze und Widersprüche der einzelnen
Ortslegenden auszugleichen , wodurch manche
Lokaltraditionen zu Gunsten anderer verdunkelt
wurden, manche mehr in den Vordergrund tre-
ten mochten u. So scheint ursprünglich auch
Delphi ein Geburtsort des Apollon gewesen zu
sein, welehe Ehre später Tegyra und Delos für
sich allein in Anspruch nahmen, und der Schau-
platz des Drachenkampfes wurde mehrfach auch
nach Delos verlegt, weil derselbe ursprünglich
im engsten Zusammenhang mit der Geburt des
Gottes stand (vgl. auch Schreiber in Fleckeisens
Jahrbb. 1880, S. 685 und meinen Aufsatz über
die Parolen des Aratos und Brutus ebenda S. 601).
Mit der Deutung des Mythus vom Drachen-
kampfe beschäftigt sich der 5. Abschnitt. Der
Verf. behandelt darin die sämmtlichen bisher
bekannten Interpretationen und entscheidet sich
schließlich für eine physikalische Deutung der
Sage, doch verzichtet er darauf, deren ursprüng-
lichen Sinn klar zu erkennen. Die von mir in
606 . GOtt. gel. Ana. 1881. Stfttfe 20.21.
den Studien zur vgl. Myth. d. Gr. u. Rom. I,
p. 41 aus gewissen Parallelen germanischer nnd
indischer Mythologie und aus der Feier des
Drftcbenkaropfes im Frtthling erschlossene Deu-
tung des Apollon als Sonnen- oder Frühlings-
gottes und des Drachen als Winters findet S.
im Allgemeinen zwar ansprechend aber doch
deshalb „Bedenken erregend, weil sie nicht ein-
zelne, sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen,
sondern einen ziemlich ausgedehnten Zeitbegriff
mit wechselndem Inhalt dem Symbol des Drachen
unterlege" (S. 66). Daß dieser Einwand nicht
ganz zutreffend ist beweist nicht Mos der nament-
lich von den Germanen so deutlich ausgeprägte
Mythus vom Kampfe des Sommers und Win-
ters (vgl. meine Schrift S. 41 f. und Mann bardt,
Die Götter d. deu. u. nord. Völker S. 143 ff.),
sondern auch die im Hymnus (v. 124) erhaltene
Bezeichnung des Drachen als t&qat äyQiov, da,
wie ich in meiner Schrift Die Oorgonen n. Ver-
wandtes S. 124 nachgewiesen habe, Homer den
Ausdruck tiQaq vorzugsweise von meteorischen
Erscheinungen gebraucht, zu welchen ja anch
der x«'jUttV, (welches Wort zugleich das Unwetter
bezeichnet), gehört. Vgl. auch die IL P. 549 ge-
gebene Charakteristik des Winters:
ij *al ystfiwvoq dvc&aXniog, oq §d ts Sqymv
titv&Qdönovg ävinavcev in\ %$ov\ pijXd
te xijde*
mit folgenden Versen des Hymnus auf den pythi-
sehen Apollon (124), welche das schädliche Trei-
ben des Drachen schildern sollen:
xaxd noXXä
dv&Q<AnovQ iQÖsan$p inl %&ovl, noXXä
noXXd d$ pijXa tavavnöd9, iml niXe nypa
Schreiber, Apollon Pythoktonos. 667
Sicherlich haben die während des Bysiofe in Hei*
las so häufigen Erdbeben viel zur Entwickelung
des Mythus vom Kampfe des Apollon mit dem
Drachen, dem Kinde der Erde, mit beigetragen.
Noch immer gilt der Februar («= Bysios) dem
Griechen als der furchtbare Monat, in welchem
Winter und Sommer mit einander um die Herr-
schaft kämpfen (Mommsen, Oriech. Jahreszeiten
I, 8. 16ffi).
Die letzten Abschnitte der Schrift (Cap. VI
— X) sind endlich den sämmtlichen, theils nur
literarisch überlieferten, theils noch vorhandenen
Monumenten bildender Kunst, welche den Dra-
chenkampf darstellen, gewidmet. Von besonde-
rem Interesse sind zwei bisher unedierte römi-
sche Statuetten (abgebildet auf Taf. I), die Leto
mit beiden Kindern auf den Armen darstellend.
Ans verschiedenen Gründen, namentlich aber aus
der Vergleichung mehrerer kleinasiatischer Mün-
zen, welche genau dasselbe Motiv wie jene rö-
mischen Statuetten darstellen, schließt S. mit
großer Wahrscheinlichkeit, daß das zu Grunde
liegende Original ein berühmtes Werk griechi-
scher Erfindung aus bester Zeit war und sich
vordem in Kleinasien befand, später aber nach
Rom gelangte und unter dem großen Denk-
mälerschatz der Stadt besonderes Ansehen ge-
noß. „Beide Voraussetzungen treffen bei einem
Werke zu, von dem Plinius (H. N. XXXIV, 77)
berichtet, daß es Apollon und Artemis auf den
Armen der Leto darstellte .... ich meine die
Erzgruppe des Euphranor, welche im Tempel
der Concordia stand".
Mit diesem ebenso hübschen wie einleuchten-
den Ergebniß beschließt der Verf. seine ver-
dienstliche Untersuchung. Wir hoffen Herrn S.
recht bald wieder auf demselben Gebiete mytho-
668 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20. 21.
logischer und religionsgeschichtlicber Forschung
begegnen zu können.
Meißen, Jan. 1881. W. H. Roseher.
Revue des £ t u d e 8 juives. Publication trime-
strielle de la Soci&e* des ätudes juives. Nr. 1 Juillet-
Septembre 1880. Paris, ä la soci^te* des Etudes juives.
(VIII. 164. 8°.)
Unter dem Proteetorat des Barons James
v. Rothschild hat sich in Paris eine Gesellschaft
con8tituiert, welche sich die Förderung jüdischer
Studien zur Aufgabe macht. Durch die Be-
gründung einer selbständigen Revue haben diese
Bestrebungen einen Mittelpunkt erhalten, wie
ihn etwa die historisch-diplomatischen Forschun-
gen in der Bibliothfeque de l'6cole des chartes
seit langen Jahren besitzen. Noch eine ge-
raume Zeit kann vergehen, ehe es möglich sein
wird, größere wissenschaftliche Arbeiten zu
unterstützen oder ungedruckte Werke zu edie-
ren; die Zeitschrift soll daher das Amt
eines Herolds Übernehmen, um überall da, wo
nur das geringste Interesse vorhanden ist, zur
Theilnahme am gemeinsamen Werke aufzu-
rufen. Die Ankündigung an den Leser macht
darauf aufmerksam, wie ungeheuer groß das
Gebiet ist, dessen Erforschung es gilt : die Bibel
mit ihren zahllosen Problemen, die reiche tal-
mudische Literatur, die so viel geschmäht und
so wenig gekannt ist, die Erzeugnisse des Mit-
telalters in ihrer so merkwürdigen Mannigfaltig-
keit, vor allem aber die politische Geschichte
der Juden von den ältesten Zeiten bis in unsere
Tage hinab. Man denke nur daran, wie wenig
für die Geschichte der Juden im Mittelalter ge-
than ist, und wie viel Material noch in den
Archiven und Bibliotheken versteckt liegt; die
Aufhellung ihrer wirtschaftlichen und socialen
Äevue des Stades juives. I. 669
Verhältnisse wird zugleich überraschende Schlag-
lichter werfen auf manche, bisher unverstandene
Vorgänge einer längst entschwundenen Zeit.
Niemand wird sich wundern, wenn in einer
französischen Zeitschrift vor allem Frankreich
vertreten sein wird. Für die zweite Hälfte des
Mittelalters kommt noch als besonderer Grund
hinzu, daß die jüdischen Gelehrten jenseits des
Rheins weit über ihre Genossen in den andern
Ländern Europas hervorragen, daß sie eine Li-
teratur geschaffen haben, welche „im Allgemei-
nen den Stempel des französischen Geistes, jene
wunderbare Mischung von Sauberkeit, Klarheit,
Geschmack und Mäßigung an sich trägt".
Wird also die Revue jedem wirklich wissen-
schaftlichen Streben eine gastfreie Stätte ge-
währen, so schließt sie dagegen alles aus, was
der religiösen Propaganda und bloßen Erbau-
ungszwecken dient oder eine dogmatische Pole-
mik hervorzurufen geeignet ist. Sehen wir uns
das erste Heft an, so macht schon äußerlich die
noble Ausstattung einen wohlthuenden Eindruck.
Die innere Einrichtung ist die, daß zuerst grö-
ßere Abhandlungen , dahinter Miscellen folgen ;
den dritten Theil bildet eine bibliographische
Uebersicht der Literatur des Jahres 80, (wobei
das betreffende Gapitel der bibl. de Tee. des
chartes als Muster gedient hat) und Recensio-
nen wichtigerer Erscheinungen. Einen Einblick
in die organisatorische Thätigkeit der Gesell-
schaft gewähren die Protocolle, welche den
Schluß des Heftes ausmachen
Die Reihe der Abhandlungen eröffnet Joseph
Derenbourg (Mitglied des Institut de France)
mit einer Studie über das Buch Hiob, welche in
dem Dulder weder eine historische noch eine
symbolische Figur sieht, sondern ihn als den
670 Gott, gel Ajoz. 1881. Stuck 20. 21.
Typus einer hebräischen Legende nachzuweisen
sucht*). — Die bisherige, vorzugsweise biblische
Tradition über Gyrus und die Rückkehr der
Juden aus dem Exil prüft Halevy auf Grund
zwei nenentdeckter Keilinschriften**) — Arsine
Darmesteter zeigt an einigen Beispielen, wie we«
nig man bisher die großen Inschriftenwerke eines
Bökh und Mommsen für die Geschichte der Ja-
den unter römischer Herrschaft ausgebeutet
hat***). — An einer Liste himy arischer Eigen-
namen weist H. Derenbourg (der Sohn des oben-
genannten) den Einfluß nach, welchen die klei-
nen jüdischen Gemeinden Südarabiens auf jenes
Volk ausgeübt haben, während sie selbst unter
der Herrschaft des Islam ihre Namen den Ara-
bern entlehnten!). — In die Zeit des Mittel-
alters versetzt uns die Steuerrolle der Pariser
Juden v. J. 1296 u. 97, welche H. Isidore Loeb
mit sehr lehrreichen Auseinandersetzungen be-
gleitet. Abgesehen von dem philologischen und
literarischen Interesse, welches diese Liste ge-
währt, giebt sie uns ein Bild von der Stärke
der dortigen Bevölkerung und den Quartieren,
auf welche sie sich beschränken mußte. Eine
Vergleichung mit der Bolle von 1292, welche
Gäraud im Livre de la taille veröffentlicht hat,
lehrt uns, daß im Laufe von vier. Jahren ihre
Anzahl um fast 25 Prozent sich vermindert hatte.
„Diese außerordentliche Schwankung der jüdischen
Bevölkerung von Paris ist, (wie der Hgb. richtig
hervorhebt), das sicherste Anzeichen einer schlech-
*) Reflexions ddtach^s sur le livre de Job.
**) Cyrus et le retour de l'exil.
***) Notes e"pigraphiques touchaut quelques points de
Fhistoire des juifs sous Pempire romain.
t) Le8 noms des personnes dans Fanden testament
et dans les inscriptions hünyarites.
Revue des Etudes juiyes. t. 671
ten, wirihscbaftlichen Lage nod einer Bedrückung,
fttr welche die Vertreibung von 1306 den be-
redtesten Commentar abgiebt"*). Derselbe Au-
tor sacht in einem zweiten Artikel zu ergründen,
welche Stadt Frankreich* mit dem in hebräisphen
Schriften häufig vorkommenden mt», Hysope be-
zeichnet werden soll. Das Ergebniß dieser äußerst
mühsamen Studie, in der Herr L. sich zugleich
als einen tüchtigen Kenner mathematischer Geo-
graphie präsentiert, ist die Identification jener
Oertüchkeit mit Orange im Dep. Vaucluse **). —
Unter allen Artikeln jedoch erweckt der letzte
das außerordentlichste Interesse, weil er eine, man
kann fast sagen, unmittelbar in die Gegenwart
hineinragende Bedeutung gewinnt. Die Metzer
Akademie der Wissenschaften hatte im J. 1785
als Preisaufgabe die Frage gestellt: Est-il des
moyens de rendre les juifs plus utiles et plus
heureux en France? Neun Arbeiten liefen zum
festgesetzten Termin ein; sieben in einem für
die Jaden günstigen, zwei im ungünstigen Sinne.
Von den Verff. geborten vier dem geistlichen,
drei dem richterlichen Stande an, ein achter war
Secretär einer gelehrten .Gesellschaft und der
neunte war — ein polnischer Jude, der in Paris
lebte. In der Prüfungscommission befand sich
der später so berühmt gewordene Roederer. Mit
Begeisterung ergriff auch er die Frage; er über-
nahm das Referat bei Verkündigung des Urtheils;
nur die beiden besten Arbeiten unterwarfereiner
öffentlichen Kritik uud demonstrierte ebenso klar
wie unparteiisch, warum keine von beiden des
vollen Preises würdig sei. Die Frage wurde für
das nächste Jahr wiederholt. Für ihn selbst bot
die Goncurrenz die Veranlassung, den Plan zu
*) Le Me des juifs de Paris en 1296 et 1297.
**) La viMe d'Hysope.
672 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 20.21.
einem Memoire zu entwerfen, welcher den Gegen-
stand in musterhafter Weise behandelte. Dies
der kurze Inhalt der Abhandlung des Herrn
Gaben *).
Aus der Reihe der Miscellen bebe ich hervor:
Bulles inedites des Papes, von denen die letzte,
die Goelestins III, durch zwei schwerverständ-
liche, vielleicht gar nicht bierhergehörende Worte
(dextere excelsi) die Aufmerksamkeit der Diplo-
matiker erregen wird. Daß der Text correct
wiedergegeben ist, dafür kann ich mich verbür-
gen ; ich habe ihn mit dem Original im Pariser
Nationalarcbiv verglichen. — Ein zweites Pro-
blem bieten die Lettres des juifs d'Arles et de
Constantinople (1489) aus der Zeit der Verfol-
gungen in der Provence unter Ludwig XL Hr.
Darmesteter läßt noch die Möglichkeit ihrer
Echtheit zu, obwohl er selbst sehr beachtens-
werte Gründe für das Gegentheil beibringt.
Ich glaube, man kann sie ruhig für Erfindungen
eines witzigen Kopfes ansehen; verlieren sie
dadurch auch ihren historischen Werth, so sind
sie, um den Geist jener Zeit zu charakterisieren,
nicht ohne Bedeutung.
Das Vorstehende wird genügen, um von dem
reichen Inhalt des ersten Heftes eine Vorstellung
zu geben; wenn die gleiche Gediegenheit der
größeren und kleineren Artikel auch die nach-
folgenden Hefte auszeichnet, so wird die Revue
sich schnell eine geachtete Stellung unter den
wissenschaftlichen Zeitschriften erwerben.
Berlin, Dez. 1880. S. Löwen fe Id.
*) Emancipation des juifs devant la soci^te* royale
des sciences et arts de Metz en 1787 et M. Roederer.
Für die Redaction verantwortlich: F. Bechtd, Director d. OÖtt. gel. Ans.
Verlag der Di tUrich' sehen Verlags 'BuchJumdUmß.
Draok der DisUrich' sehen Univ.- Buchdrucker« (W. fr. Kamt**).
6 öttf ngische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König). Gesellschaft der Wissenschaften.
Stttck 22. 1. Juni 1881.
Inhalt : Jelaleddin M i r z a , Bach dar Könige. Von Trumpp.
— F. Philipp!, Zar Reconstruction der Weltkart« dos Atfrippa. Von
Ä Bansen. — Wright, Zechariah and his prophecies. Von C.
^» » '■ »
megjrttö,
ss Eigenmachtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten sb
Buch der Könige vom Beginn der Geschichte his
zum Ausgang der Sasaniden, von Jelaleddin
M i r z a. 8°, 26 Bogen (408 p.), mit 66 Bildnissen
und einer Münztafel. Preis 5 fl. ö. W. = 10 Mark.
Wien 1880, L. C. Zamarski, k. k. Hofbuchdrucker und
Hoflithograph.
Der Titel des erwähnten Baches lautet etwa«
sonderbar; das kommt daher, daß es ein rein
persisches Buch ist, für Perser bestimmt und
darum auch ganz in orientalischem Gewände
gehalten ohne irgend ein Zeichen seines abend-
ländischen Ursprungs. Die äußere Ausstattung
des Werkes ist wirklich prachtvoll, und durch
die photolithograpische Herstellung einem fein
geschriebenen persischen Manuscript zum Ver-
wechseln ähnlich. Auch die 56 Bildnisse der
persischen Könige sind eine Zierde des Buches,
in acht orientalischem Geiste gehalten und müs-
sen ftr die persische Jugend keine geringe
Attractionskraft ansahen, wen» sie auch der
abendländischen Phantasie ihren Ursprung ver-
43
Q74 Gott. gel. An*. 1881. Stück 22.
danken. Auch die am Ende beigegebene Münz-
tafel mag ein wichtiges Mittel sein, die Auf-
merksamkeit in Persien auf die Münzkunde hin-
zuleiten und sie dadurch zu fördern. Bei dieser
schönen Ausstattung auf feinem starkem, etwas
gelblichtem Papier (um die Farbe des in Hand-
schriften gebräuchlichen Papiers nachzuahmen)
ist der Preis von 5 fl. Ö. W. oder 10 Mark ein
sehr billiger zu nennen, und die Herstellung
eines solchen Werkes gereicht dem Hoflithogra-
phen Zamarski in Wien zu aller Ehre. Wir
wollen hier nur noch den Wunsch beifügen, daß
er recht bald die orientalische Literatur mit
solchen billigen Prachtwerken weiter bereichern
möge.
Gehen wir nun aber auf das Werk etwas
näher ein !
Das Titelblatt, in acht orientalischem Ge-
schmack mit der buntesten Farbenpracht herge-
stellt, enthält oben die Worte: „Im Namen (Got-
tes) des Sündenvergebenden, des (All-)erhalten-
den ltf In der Mitte auf Goldgrund die Auf-
schrift: „Buch der. Könige. Geschichte
der Könige von Iran, vom Anfangder
Äbädis bis znm Ende der Säsäniden".
Unten als Sinnspruch: „Der Herr gibt das lag*
liehe Brod der Ameise und der Schlange".
Das in rother Farbe photolithograpbierte
Vorwort wollen wir hier ebenfalls in lieber*
Setzung mittheilen, da es für uns manches In-
teressante enthält, insofern es die Anschauungen
eines Persers über die abendländische Kunst
zum Ausdruck bringt. Es lautet: „Möge es
nicht verborgen bleiben! In den Reichen von
Europa (i. e. ^UUt&y) giebt es eine Anzahl
von Gelehrten, die die Sprachen des Ostens ge-
Jelaleddin Mira»» Buch to Könige. 67»
lernt und die Btioher jenes Welttheils, poetisohe
wie geschichtliebe, mit vollkommener Lust ge-
lesen haben, und ein jedes, das. ihren Beifall
findet, auch drucken nnd auch in ibre Sprache
übertragen. Nan da im Lande der Franken die
Kunst der Photographie (&\jfy& La**) über die
Maßen fortgeschritten ist*), nicht nnr um Ab-
bildungen von Gestalten und Gemälden zu neh-
men, sondern auch um Geschriebenes (oLfU^i)
und Bücher der Kalligraphen, wie das herrliche
Wort (i. e. Qur'än), die Handschrift des Mirza
Shafij und Ansäri und die Schrift des Mirnmäd
und anderer abzubilden und zu drucken, ist es
möglich und sie ist auf eine (solche) Weise ver-
wendbar, daß man den Abdruck von dem Ori-
ginal nicht unterscheiden kann; nachdem sie
nämlich das Bild genommen und auf den Stein
übertragen haben, drucken**) sie es, und diese
Manipulationen nennt man im Idiom der Fan<-
ken Photolithographie (^ly^Äjyä).
„Das Drucken persischer, arabischer, türki-
scher und anderer Bücher auf die neue er-
wähnte Weise ist also rathsamer, weil das
Drucken arabischer und persischer Buchstaben
nach jener Weise, die bisher im Gebrauche ist,
mehr Schwierigkeiten mit sich bringt und in
den Augen der Leser nicht so gebilligt und
*) J*tol> ist ein Druckfehler, statt Jgel^.
**) Das Hindustani ._«! ^ ist schon ganz in das
Neupersische aufgenommen worden, naturlich mit Abwer-
fung des aspirierten *^. (ch) und Uebergang in das un-
aspiiierte ^ Man . versteht übrigens darunter hauptsäch-
lich die Lithographie, selten den .Typendruck.
43*
*W - £*t* gtl. A»*. 1331. Stack 01.
approbiert wird. Damm ging der gelehrte Phi-
lologe Hofratb (*>tj*>*) Henry Barb, welcher der
Director des Collegiums der orientalischen Spra-
chen von Wien ist, der Sachlage gemäß Herrn
Zamarski, den Besitzer einer der berühmtesten
Druckereien dieser Stadt, an, daß er einige
Gnmd8chriften von Büchern auf diese beliebte
Weise drucken möchte, und als Buch, das pas-
send zum ersten Muster wäre, wurde das Kö-
nigs buch (0U>y*j> jubLj), das eines von den
Werken ist, die in unserer Zeit verfaßt worden
sind und das in der Hauptstadt Teheran ge-
druckt worden ist, ausgewählt und der Gedanke,
dieses einzigartige Buch, das in dieser Zeit
schwer zu bekommen ist, wiederum zu drucken,
empfahl sieh uns aus zwei Gründen als passend,
ersten», weil es im BHek auf andere Geschieht»-
werke abgekürzt und für die Leser und Studie-
renden, besonders für die Europäer, brauchbarer
ist, darum daß man von der ^Geschichte and den
Sitten der früheren Könige von Iran, wie die Schrift-
steller und Chronisten des Ostens sie beschrie-
ben haben, aus diesem (Buch) mit Leichtigkeit
sich Kenntniß verschaffen kann; zweitens, weil
dieses herrliche Buch, das in rein persischer
Rede und gegen die Gewohnheit frei von ara-
bischen Wörtern verfaßt ist, jedem Verständigen
und Einsichtigen, in dessen Hand es gelangt,
gewiß gefallen wird und auch ein Beweis dafür
ist, daß ehr -mit Bildern ausgestattetes -Buch in
der zuckerstreuenden nersischen Sprache, das
frei von arabischen Wörtern ist, leicht mög-
lich ist
„Der Schreiber dieses Buches von einer Ambra-
Vttätt ist der sehr geringe segenerflehende Mfrzä
Hasan xudädäd von Tabriz, Secretär der Gfe»
Jelftleddin Mirxa , Buck der Könige. 477
aandschaft miner wie Satorn erhabenen /. Ma-
jestät, des Shäbinshäb, der Zuflucht von IräQ,
Näsiru-d-din Shah Qäjär, möge sein band blühend
und fest bleiben! Er bittet ihn wegen Beines
sohlechten Sehreibens entschuldigen -zu wollen.
Gott (aber) ist der Bewahrer, vor dem Schaden
der argen Welt, weil er Gerechtigkeit <ttbt (und)
dem Unterdrückten eine Zuflucht ist Im Jäter
tausend zweihundert and sieben und neunzig der
Hijrab, in Wien, der Hauptstadt von Gestenreich
und Ungarn hat der Weg sein Ende erreicht".
Wir sehen aas diesem Vorwort, daß das
fragliche Buch schon in Teheran gedruckt wor-
den ist; der Name des eigentlichen Verfassers
wird hier nicht genannt, weil dies in der gleich
nachfolgenden Vorrede geschieht, wo der Ver-
fasser sich selbst einführt Es wäre uns indes-
sen wichtig gewesen, über den Verfasser etwas
näheres von dem Oopisten za vemetaea» was
er uns gewiß mit Leichtigkeit hätte bieten ken-
nen. Dieseß Vorwort enthält auch keine An-
deutung darüber, wer die Bildnisse der persi-
schen Könige gezeichnet bat, die> wie der erste
Btiek zeigt, < nicht ans orientalischer Feder ge-
flossen sind, Wichtig in philologischer Hinsieht
ist der neu aufwachende Purismus in der
persischen Sprache, wozu wir den Persern nur
gratulieren können mit dem herxtieben Wunsche,
daß es ihnen gelingen möge, ihre seböne Sprache
von dem falschen Zierrat arabischer Worte und
Phrasen wieder zn reinigen.
Nach diesem Vorworte folgt wieder eine Auf-
schrift: „Königsbueh. Erzählung von den Kö-
nigen von Persien in persischer Sprache, welche
nützlich für die Leute, besonders für tKeKhäbeä
ist. Erstes Buch. Vom Anfang der Abädis bis
zum Ende der Säsänidea".
678 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
Auf der folgende* Seite stehen oben die
Worte: „der Sammler dieser Erzählung Jaläl,
Sohn des Fattf jAfi Shäh Qäjära*); darunter
sein Portrait in europäischer Kleidung mit der
obligaten persischen Kuläb, auf einem gewöhn-
lichen Stuhle sitzend.
Auf der dritten Seite folgt nun die eigent-
liche Vorrede des Buches, die wir ebenfalls in
Uebersetzung mittheilen wollen. „Im Namen des
vergebenden, gütigen Gottes. So spricht der
sehr geringe Jaläl, Sohn des Fath1 jAH Shäh
Qäjär:
Da seit dem Anfange des weltbesehfltzenden
Königs Näsiru-d-din Shäh Qäjär **^, möge die
Zeit seiner Herrschaft dauernd sein ! fortwäh-
rend, jede Art von Wissenschaft und Kunst
in Iran verbreitet wird und aus jedem Lande
Gelehrte und Künstler naeh Persien kommen
und verschiedene Künste und unzählige Wissen-
schaften die Leute dieses Landes lehren, und
dieser König eine große Schule errichtet hat,
welche Däru-1-funun (Haus der Wissenschaften)
genannt wird und in Wahrheit diesen Namen
verdient, weil die Grundlage jeder Wissenschaft
und Kunst aus dieser Schule sieb erhebt, so bat
dieser Diener (= ich) einige Zeit in dieser
Schule mit Lehren der französischen Sprache,
welche die stlfteste der Sprachen Europas ist
und der Schlüssel jeder Art von Wissenschaft,
zugebracht und manche Bücher gelesen. Eines
Tages fiel er in die Betrachtung, woher es
*) Also ein Prinz der jetzt regierenden Qsj&r Dy-
nastie, die türkischen Ursprungs ist und auch noch lau»
§ere Zeit Türkisch als Hofsprache beibehielt. Fath* 'All
hah hatte eine große männliche Nachkommenschaft.
Der jetzige König ist sein Urenkel.
**) Er kam 1848 auf den Thron.
Jelaleddin Mina, Buch der Könige. Ä79
komme, daft wir tränier die Sprache unserer
Vorväter vergessen haben nnd trotzdem, daß die
Perser durch Bücherverfassen nnd Gedichte-
machen in der Welt berühmt sind, wir kein
Bnch in der Hand haben, das auf Persisch ver-
faßt worden wäre. Ich seufzte einige Zeit_ über
das zu Grundegehen der Sprache der Iräni er
und darauf wünschte ich den Anfang mit einem
persischen Buche zu machen. Ich fand kein
passenderes als die Erzählung der Könige von
Persien, darum gab ich dieser Schrift den Na-
men: „Buch der Könige"; und ich gab mir
Mühe, daß die laufenden Worte als eine be-
kannte Diction in das Ohr fallen möchten, da-
mit sie den Lesern nicht schwer wären. Ich
hoffe, daß die Einsichtsvollen (etwaige) Uneben-
heit der Worte dieses Buches nicht tadeln, weil
ich mein Augenmerk nur auf die Wahrheit und
kurze Ausdruckweise wandte.
[Die Bildnisse der Könige, welche bei den
Franken sind, nehmend, wurden sie nach jenen
gezeichnet. Und da das Erkennungszeichen des
persischen Käf (i. e. „ga) drei Punkte sind, so
wurden sie unter dasselbe gesetzt, um es vom
arabischen Eäf (i. e. pku) za unterscheiden.] tf
Der letzte Satz, den wir in Klammern ge-
setzt haben, ist offenbar- ein Zusatz des erwähn-
ten Gopisten und giebt zugleich einige Auskunft,
woher die Bildnisse der persischen Könige stam-
men, die demnach nach europäischen Origination
gezeichnet worden sind, wie schon oben ange-
deutet worden ist: der Name des Zeichners wird
nicht erwähnt. Als eine unpersische Neuerung
aber muß es bezeichnet werden, daß das persi-
sche Käf durch drei Punkte unten unterschieden
worden ist, was zu mancher Confusion Veran-
lassung geben muß. In persischen Handschrift
6$Q Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
ten wird ?ka und „g" gewöhnlich gar nicht
unterschieden und dem Leser überlassen, das
richtige herauszufinden. Wo es aber unterschie-
den wird (wie besonders in Handschriften, die
in Indien oder Ghoräsän angefertigt worden
sind), geschieht dies durch Verdoppelung des
oberen beinahe wagerechten Striches. In unsern
europäischen Drucken (die neueren englischen
Ausgaben persischer Bücher ausgenommen, wel-
che die richtige Bezeichnung angenommek ha-
beri), hat sich, offenbar vom Türkischen her,
der Unfug eingeschlichen, drei Punkte über das
Eäf zu setzen, was nicht nur eine unschöne,
sondern zugleich auch unrichtige diakritische
Unterscheidung ist, die in neuen Drucken abso-
lut aufgegeben werden sollte. Um so tadelns-
werther aber ist es, wenn, wie in dem vorlie-
genden Werke, bei genauerer Bezeichnung der
Eigennamen (sonst wird „k" und „g", dem per-
sischen usus scribendi gemäß, ja nicht unterschie-
den), drei Punkte unter das „k" gesetzt werden.
Auf Seite 8 steht oben das persische Wap-
pen. Dann folgen fünf Dynastien, die nach der
übereinstimmenden Ueberlieferpng der Perser
bis zur Zeit Yazdigird's. geherrscht haben sol-
len, nämlich 1) die Abädis, 2) die Jai's, 3)
die Shäis, 4) die Yäsäis, 5) die Gilshals. Er
macht über jede dieser Dynastien einige kurze
Bemerkungen, wobei er ganz den Angaben des
Dabistän sich anschließt. Mah-äbäd soll die
Menseben zuerst den Ackerbau etc. gelehrt ha-
ben, zu ihm soll ein Buch in himmlischer Spra*
che herabgekommen sein, das Dasätir heilte.
Nach ihm sollen „noch 14 geherrscht haben, von
deöeh der letzte Abäd - äzgr aus der Mitte der
Menschen sich zurückzog, um Gott zu dienen.
Auch über die Jai Dynastie wiederholt er nur,
Jelateddja Mir**, Buch der Könige. 681
was der Dabistin erzählt; sie soll einen Asper
aaturniseher Jahre (&j*S JU jL^I eb. = ein
tausend Millionen Jahre) regiert haben. Der
letzte dieser Dynastie soll Jai-äläd gewesen
sein. Noch kürzer äußert er sich über die
Shäis, er nennt nur den ersten Shäi Giliv, und
den letzten Shäi Mahbül, der ein Einsiedler ge-
worden sein soll. Die vierte Dynastie soll mit
Yäsän ihren Ursprung genommen _ haben und
der letzte derselbe soll Yäsän Äjäm gewe-
sen sein; dabei kann man nur nicht recht ein-
sehen, wie aus 0L4* das Hisbat ^14* gebildet
worden sein soll. Mit den Gilshäls weiß er
offenbar nichts anzufangen. Er sagt darüber
folgendes: „Den ersten dieser Dynastie heißt
man Gilsbäb. Die Zeit seiner Gebart bis zum
in die Welt kommen des irdischen Adam
Cjf\j> (*>T), den die Araber für den Vater der
Mensehen ansehen, ist eine gewesen. Die. Per-
ser halten ihn für den Sohn des Yäsän Äjäm
und für Gayömarz. Sie sagen: Gayömarz ist
der Große der Erde. Da im Persischen j und
tj» mit einander verwechselt werden, so liest man
jr*y£ auch u^yj^y? man heißt ihn den indischen
Adam und Gilshäh". Diese fünfte Dynastie soll
bis aqf die Regierung des Yazdigird, mit Aus-
schluß des ZafiS&k, sechstausend, vier und zwan-
zig und fünfzig Jahre in Iran gelebt haben.
Darauf brachten die Araber dies Land in ihre
Bände und die Kipder der Könige von Persieu
wurden der Herrschaft beraubt. Diese fünfte
Synastie bat man in 4 Tbeüe eingetheilt und
nen vier Namen gegeben; „Die Pishdädis,
die Kais, die Asbgäais und die S äs an Is".
Darnach wäre also Gilshäi keine Dynastie
682 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22
ftlr sieb, sondern nur der allgemeine Name der
folgenden vier Dynastien, zumal er Gilshäh mit
Gayömarz (Gayömars) identificiert.
Diese allein auf dem Dabistän (einem in
Indien verfaßten Buche!) beruhenden Sagen
werden mit Recht allgemein ignoriert, da dafür
alle weiteren Quellen, fehlen und auch Spiegel
hat daher in seiner Eränischen Alterthumskunde
davon gar keine Notiz genommen.
Unter der Dynastie der Pishdädis zählt er
dann mit Einschluß Zafifiäk des Arabers (<*;Ij)
und Afräsiäb des Türäniers folgende elf Perso-
nen auf: 1) Gayömars, 2) Hüshang, 3) Tahmü-
ras, 4) Iamshid, 5) Zafifiäk, 6) Faridün, 7) Mi-
nücihr, 8) Nüzar, 9) Afräsiäb, 10) Zäb, 11)
Garshäsp: damit hätte nun der prinzliche Ver-
fasser in das gewöhnliche Beet der altpersischen
Sage eingelenkt.
Es folgt dann auf S. 18 ein hübsches Bild
von Gayömarz und darauf die bekannten Sagen
über ihn, daß er die ersten Schritte zur Civili-
sation der Menschen gethan habe; er soll Da*
mävand und Istagr (Persepolis) gegründet und
vierzig Jahre lang regiert haben. Das *X» q^>-
Fest, das die Perser am 4ten des Monats Bab-
man feiern, wird auf ihn zurückgeführt, auch
soll er zuerst die Schleuder (q^^) erfunden
haben. Der Herr Verfasser führt auch eine
Blumenlese von Weisheitssprüchen aus dem
Munde Gayömarz an, die er seinen Kindern
überliefert haben soll und die in gutem Persisch
abgefaßt sind, z. B.: „Viel Freude macht den
Character (des Menschen) eingebildet, Vergnü-
gen ohne Zahl tödtet das Herz".
Das Leben Siämak's*), seines Sohnes, und sein
*) Eine muslimische Spielerei ist es, wenn Si&mak
Jelaleddin Mirza, Buch der Könige. 683
Tod durch wilde tmcultivierte Menschen wird
etwas weiter ausgesponnen, wobei es nicht ohne
Seitenhiebe auf die unwissenden Gargelabschnei-
der von Turkistän und Balü&stän abgeht
An dem Orte, wo sein SohnSiämak getödtet
wurde, soll er die Stadt Baty gegründet haben.
Der Enkel des Gayömarz, Hüshang, soll
ebenfalls viele Künste eingeführt haben. Ihm
wird sogar die Eroberung von Shüshan und Ba-
bel zugeschrieben, auch soll er zuerst die unter-
irdischen Wasserleitungen (ßj^) angelegt haben.
Ihm wird ein Buch zugetheilt, betitelt : ol0u^L>
&jz> (die bleibende Weisheit), das viele Ermah-
nungen enthält, aus denen der Verfasser einen
nicht unbedeutenden Auszug mittheilt Nach
Sprache nnd Inhalt ist jedoch dieses Buch ein
neueres Machwerk, ähnlich den moralischen Sen-
tenzen des Sa;di, denen es nachgebildet zu sein
scheint, nur mit Weglassnng aller arabischen
Worte.
Tahmüras, der Sohn oder Enkel des Hüshang,
der Divbändiger (JJL^p) genannt, soll 500 Jahre *)
regiert haben. Er soll einen sehr weiften Mini-
ster (;y^>) gehabt haben, mit dessen Hilfe er
die Widerspenstigen niederwarf, die sich gegen
ihn empörten. Dann fährt er fort: „Die Fran-
ken behaupten, daß Hüshang seines Bruders
für Seth, den Propheten, gehalten wird, Hushang für
IdrTs etc., wie überhaupt alle diese Persönlichkeiten für
Propheten (-m-m, das übrigens gewöhnlich falsch «*+aj
geschrieben ist) ausgegeben werden.
*) Sonst wird seine Regierungszeit auf 30 Jahre an-
gegeben.
664 Gott. geL Ans. 1881. Stück 82.
Sohn Tafcmuras, während er noch lebte, in die
andere Welt gesandt babe. Nachdem er (i. e.
Hüshang) sich in die Einsamkeit zurückgezogen
hatte, erschien ein Mann, der vorgab, er sei
Tahm&ras und der Nachfolger desselben. Einige
der Großen, die seinen Worten keinen Glauben
schenkten, erhüben sich, um Rache an ihm zu
nehmen u. Woher der Verfasser diese Notiz ge-
nommen hat, ist mir nicht bekannt, da Malcolm
(den er wohl allein im Auge haben kann), nichts
derartiges erwähnt. Unter seiner Regierung
soll der Götzendienst aufgekommen sein. Es
entstand eine große Dürre und viele Menschen
starben in Folge davon. Die Menschen mach-
ten Bilder von ihren Theuren aus Holz, Stein.
Silber und Gold und schauten beständig darauf
hin, so kam die Anbetung der Bilder ton jener
Zeit an auf. Auch von diesem Könige werden
einige Weisheitssprüche aufgeführt, z« B. „Mit
wenigem zufrieden sein ist besser als vieles au
wünschen11. Tahmüras hatte keinen Sohn und
deshalb folgte ihm Jam 8 hid, der entweder
sein Bruder oder Bruders Sohn gewesen sehi
soll. Er soll Persepolis gegrumtet und den gro-
ßen Palast dort gebaut haben, der „der Thron
des Jamsbid" heißt. Auch das Sonue^jahr und
die Feier des Neujahrs (y>ff) soll er eingeführt
haben. Wenn nftplieh die Saune in das erste
Haus des Frühlings {)>#) tritt und Tag und
Nacht gleich wurden, setzte er steh in «einen
Palast und lud seine Unterthanen zu einem
Feste ein, indem er unter sie Gaben vertheilte.
Zu seiner Zeit soll der Grieche Pythagoras
(ijuitf{ -£*) gelebt und zur Erheiterung dieses
Königs Musikinstrumente erfunden haben ; wahr-
lich eine seltsame Nachricht! Auch die Wein-
Jeltfedffl* Jfttaa, Buch dtf Könige. 685
bereitung wird auf jamshid zurückgeführt nach
der bekannten schon von Malcolm erwähnten
Sage, er soll daher ^b atA (Kttnigsaranei) ge-
nannt worden sein. Er theilte die Leute in 4
Classen ein: 1) die Gelehrten, 2) die Krieger,
3) die Ackerbauer, 4) die Handwerker.
Er fährt fort : „Alle Schriftsteller behaupten,
daß Jamshid den Dienst Gottes aufgab und
sich selbst Gott nannte, die Perser aber theilen
diese Meinung nicht, sie sagen, Jamshid sei ein
weiser Prophet gewesen. Er verlangte von sei-
nen Untergebenen das Versprechen, daß sie
nicht sündigen sollten, damit Gott Krankheit
und die Pein des Todes von ihnen nehme. Eine
Zeit lang hielten die Leute ihr Versprechen, zu*
letzt aber brachen sie es und gaben sich der
Sünde bin. Um die Menschen zu strafen nahm
Gott den frommen Jamshid aus ihrer Mitte weg
und sandte ober sie den Tyrannen ZaMäk, da-
mit er ihr Blut vergieße". Woher der Herr
Verfasser diese von der allgemeinen Tradition
abweichende Ansicht der Perser genommen hat,
sagt er nicht, wohl aus guten Gründen. Jamshid
soll sieben hundert Jahre*) regiert haben, doch
setzt der Verfasser vorsichtig hinzu: „die Wahr-
heit dieser Bede kennt Gotta. Nach dem Ver-
fasser des 0U«#,Lft y+zrj&r soll Jamshid der*
selbe Prophet sein , den die Araber Sulaimän
(Salons) nennen !
ZaMäk (das er durch « jy^ jl*«**, der Viel*
lachende erklärt), soll nach der Behauptung der
Perser w^t ^ (zehntausend Pferde besitzend)
geheißen haben, Sein Name wird auch durch
Jf»> erklärt, i. e. einer der zehn Fehler hat,
*) So auch nach dem Shännämah.
606 Gd«t> gel. An«. 1681, Stüok 33.
Diese zehn Fehler zählt der Herr Verfasser der
Seihe nach auf; er war von kleiner Stator, nie-
derträchtig, von böser Zange, tyrannisch, einge-
bildet etc. Er soll der Sohn des 0^ and der
Bruderssohn des 4U sein ; einige behaupten, daß
er der Sohn der Schwester des Jamsbid and der
Sohn des Mardäs sei. Er soll 1000 Jahre re-
giert haben. Die Sage, daß zwei Auswüchse
T^fJuAjA aaf seinen beiden Schulterbeinen wie
Schlangen zum Vorschein gekommen seien, die
man mit dem Gehirn von Menseben speisen
mußte, wird ebenfalls angeführt. Endlich er hub
sich der Schmied Kävah, um das Blut seiner
Söhne zu rächen ; er steckte sein Schmiedschurz-
fell auf eine Stange und rief die Leute gegen
Zafifiäk auf, dem er jede Hoffnung des Lebens
benahm. Er setzte Faridün, einen Sprößling des
Jamsßid auf den Thron, der jenes Schurzfell
mit Juwelen schmückte und zur persischen
Beichsfahne machte; alle persischen Könige
führten sie in ihren Heeren, bis sie in die Hand
'Umars, des Arabers, fiel, der ihre Edelsteine
den Soldaten schenkte und sagte: „wer von
dem Schurzfell der Schmiede Hilfe sucht, soll
durch das Eisen getödtet werden".
Die Regierung Farulün's wird als eine durch-
aus glückliche geschildert. Endlieh theilte er,
am sich ganz dem Dienste Gottes widmen zu
können, sein Beich unter seine drei Söhne, den
Westen gab er dem Salm, den Osten dem Tür
und den dazwischen, liegenden Theil mit der
Hauptstadt dem Irii. (Auf S. 73) folgen nun
die drei Brustbilder der drei Brüder). Die Mut-
ter des Salm und Tür war .eine Tochter des
ZaBBak, and die Matter des Inj eine Enkel-
Jelaleddia Mirsa, Buch der Könige. 667
tochter des Tahmüras, die Arnavär (jt^t) und
Iränduxt (c^^Oö^jj) hieß. Dies, sagt der Ver-
fasser, zeugt von der Rechtschaffenheit und
Bosheit derselben. Der Verfasser führt dann
eine Anzahl Sprüche von Inj an, ohne zu sagen,
woher er sie genommen hat. Die beiden Brüder
Salm und Tür tödteten aus Neid Irij ; das Weib
des letzteren aber gebar einen Sohn, Minncihr,
den Faridün zu seinem Nachfolger machte und
der erwachsen die Mörder seines Vaters besiegte
und tödtete. Faridün soll 500 Jahre regiert
haben. Dazu macht der Hr. Verfasser die Be«
merkung: „Die Gelehrten dieser Zeit glauben
das nicht. Einige Geschichtscbreiber der Fran-
ken behaupten, daß Zafihäk tausend Jahre oder
Faridün fünf hundert Jahre regiert habe. Mit
diesem Namen bezeichnen sie die Familie der-
selben, Vater um Vater habe Zafifiäk und Fari-
dün geheißen, wie in Europa die Leute jeder
Familie mit demselben Familiennamen benannt
werden". Bei diesen kritischen Anläufen des
Hrn. Verfassers ist nur zu bedauern, daß er
nirgends eine Quelle nennt.
Es würde uns zu weit führen, die Regierung
der übrigen Könige speciell anzuführen und wir
geben daher zur Dynastie der Kai über, unter
der der Hr. Verfasser mit Alexander dem Grie-
chen 10 Könige aufführt, die zusammen 752
Jahre regiert haben sollen, nämlich 1) Kai^ubäd
(ölJuS), 2) Kaikävus, 3) Kai^usran, 4) Luh-
räsb, 5) Gushtäsb, 6) Bahman, 7) Humäi (seine
Tochter, 8) Däräb, 9) Därä, 10) Alexander.
Wir heben hier nur Einzelnes aus. In die
Regierungszeit Gushtäsb's wird die Einführung
des Feuerdienstes in Persien verlegt. Zardu&ht
M9 Gott gel. Anz. 1881. Stock tt
soll den König für seine Lehre gewonnen haben,
der ihn mit sieh nach PersepoHs nahm und den
Befehl gab, daß 12,000 Exemplare des Zend
und Päzend mit Goldtinte auf Kuhhäute ge-
schrieben and in seinem Reiche verbreitet wer-
den sollten.
Von Däräb, dem Sohne Babman's, berichtet
er, daß er Philipp (v**A*) unterworfen und seine
Tochter zur Ehe verlangt habe. Er habe aber
v nur eine Nacht mit ihr zugebracht nnd sie wie-
der nach Griechenland zurückgeschickt; in jener
Nacht soll Alexander erzeugt worden sein. Er
soll Philipp einen jährlichen Tribut von 1000
Goldeiern aufgelegt haben. Er soll auch die
Stadt Däräbgard gegründet and die Post in
Persien eingeführt haben. Seine Begierungszeit
wird auf 12 Jahre angegeben; der Hr. Verfasser
legt ihm auch eine Anzahl Weisbeitssprüche in
den Mund, ohne Quellenangabe und nur mit der
Bemerkung o^t qU^u ;t.
Von Därä, dem Sohne Däräb's, wird erzählt,
daß er zu Alexander, dem Nachfolger des Phi-
lipp, einen Gesandten schickte, um den Tribut,
den Däräb den Griechen auferlegt hatte, einzu-
fordern. Alexander antwortete: „Der Vogel, der
die Eier legte, ist fortgeflogen, jetzt ist zwischen
mir und dir nur die Lanze und das Schwert*.
Darauf schickte ihm Därä einen Ballschlegel and
Ball mit einer bedeutenden Quantität Sesam-
körner, ihm damit andeutend, daß er noch ein
Knabe sei und mit Ball und BatlscMegel spie-
len sollte und daß das Heer der Perser zahlreich
wie die Sesamkörner seien. Alexander ließ in
Gegenwart des Gesandten einen Hahn kommen,
der die Sesamkörner sofort auffraß. Dann sagte
er zu dem Abgesandten des Dlrä : „wir haben
Jelateddin Minsa, Buch der Könige. 689
ans dieser Sache zwei gute Ausblicke in die
Zukunft gemacht: der eine ist, daft wir euer
Land tiberwinden und sein Theil aufessen wer-
den, und der andere ist, daß die tapferen Grie-
chen allein die Massen eures Heeres auffressen
werden, wie der Hahn die Sesamkörner". Der
Feldzog Alexanders gegen Persien, den er mit
30,000 Fußsoldaten und 5000 Reitern unter-
nahm, wird sehr kurz abgehandelt, ohne daft
aueh nur eine Schlacht erwähnt würde. Es
wird nur bemerkt, daft zwei Männer den Oärä
im Schlaf ermordeten und zu Alexander flohen,
der aber die Mörder tödten ließ. Man sieht aus
diesen absichtlich gebildeten Sagen und Ueber-
lieferungen, daß der ganze Gegenstand den Per-
sern ein höchst unangenehmer war; daher auch
der Versuch, Alexander zu einem Sohne Däräb's
zu machen.
Von Alexander wird berichtet, daß, obschon
seine Heerführer in ihn drangen, Persepolis zu
zerstören, er sich nicht dazu verstehen wollte,
weil er die Schande dieser That fürchtete. In
einer Nacht aber brachte ihn seine Concubine
(die athenische Hetäre Thais), nachdem sie mit
ihm viel Wein getruuken hatte, indem sie ihn
an die Niedermetzelung der Griechen durch die
Perser erinnerte, dahin, daß er den Befehl gab,
Persepolis mit Feuer zu verbrennen, was ihm
bis heute zur Schande gereicht hat Alexauder
regierte 13 Jahre und theilte Persien, nach dem
Rathe Aristoteles, unter die Großen, indem er
einem jedem eine Provinz zur selbständigen Re-
gierung überlieft, die (Provinz) Persien mit der
Hauptstadt aber schenkte er dem Griechen {Uä*J *).
*) Es ist das eigentlich Agathocles, der von Antio-
chus Theos, dem dritten der Seleuciden, zum Vicekönig
von Persiea ernannt worden war.
44
690 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
Nachdem er die Angelegenheiten Persiens und
Griechenlands geordnet hatte, zog er nach In-
dien und Sindh und eroberte diese Länder, und
zur Zeit seiner ZurUckkehr starb er in der Stadt
Tür-i Bäbil, die nahe bei Ba/däd liegt, im 36.
Lebensjahr. Nach ihm übergaben sie die Herr-
schaft über Griechenland seinem Sohn Igkan-
darüs, er nahm sie aber nicht an und sagte:
„Die Wissenschaft hat mich die Herrschaft ent-
behren lernen", und zog sich in die Einsamkeit
zurück. Die Herrschaft über Griechenland fiel
notwendigerweise dem Ftolemäus zu. Zur Zeit
seines .Todes fragten sie den Alexander, wie er
in einem so kurzen Leben die Welt unterworfen
habe ? Er antwortete : „Durch zwei Handlungs-
weisen, daß ich meine Feinde zwang, meine
Freunde zu werden und meine Freunde nicht
meine Feinde werden ließ". Er befahl, daß
man, wenn er zu Grabe getragen werde, eine
Hand heraushängen lassen solle, damit die
Leute sehen, daß er, trotz der Eroberung der
Welt, mit leeren Händen abziehe. Seiner Mut-
ter übersandte er die Botschaft: „Ueberlaß dich
nicht der Ungeduld und theile den Kammer
über meinen Tod mit Jemand, der nie in Trauer
versetzt worden ist". Statt einer Charakteristik
Alexanders folgen wieder eine Anzahl Sprüche
und kleine Anecdoten, nach denen Alexander
ein sehr frommer und gottesfürchtiger Mann ge-
wesen sein muß.
Es folgt nun die dritte Dynastie der Ash-
gänis. Er sagt darüber: „ Vom Hingang Alexan-
ders bis auf die Zeit Ardisbir's, welcher der
erste der Säsäniden ist, haben die Geschichts-
schreiber die Sache, darum nicht vollkommen
dargestellt, weil Iran in einige Theile ge-
theilt worden war und jeder König in seinem
Jelaleddin Mirza , Buch der Könige. 691
Lande die Herrschaft ausübte, so daß man jene
Zeit die „königslose Zeit" nannte. Man sagt:
Ashg, der Sohn des Därä, vertrieb mit der Hülfe
der anderen Könige _Astahin, den Feldherrn Ale-
xanders und säuberte Iran von den Griechen; die
Könige, durch deren Beistand er aufkam, zahl-
ten ihm jedoch keinen Tribut. Seine Nach*
kommenschaft heißen die Ashgänis und die Zeit
dieser Dynastie sind 461 Jahre; und mit Asta-
hm dem Griechen sind es 20 Personen gewesen;
1) Astahin, der Gouverneur Alexanders, herrschte
4 Jahre über Persien. 2) Ashg, aus der Fa-
milie Därä's, regierte 15 Jahre. 3) Ashgän, der
Bruder der Mutter des Ashg, der aus der Fa-
milie des Bruders des Kaikävus war, folgte sei-
nem Neffen und regierte 9 Jahre. 4) Ashg (II),
der Sohn des Ashgän, regierte 7 Jahre. 5) Shä-
pür, der Sohn des Ashg, war ein weiser und
tugendhafter König. Zu seiner Zeit lebte Jesus
der Prophet, und Visah und Bämin der Ver-
liebte. Er regierte 60 Jahre und verlegte seine
Residenz nach Madäin (Ctesiphon). 6) Bahräm,
der Sohn des Shäpür, war ein siegreicher Kö-
nig. Er unterwarf sich die meisten seiner Nach-
barn und baute in der Nähe von Stambül eine
Stadt von gebrannten Backsteinen und errichtete
daselbst einen großen Feuertempel. Er regierte
50 Jahre und machte Bai zu seiner Hauptstadt.
7) Paläsh *), der Sohn des Bahräm führte Krieg
mit Syrien (0^U£>) und Rom und blieb Sie-
ger. Er regierte 16 Jahre. 8) Hormuz, der
Sohn des Paläsh regierte 19 Jahre; er baute
Qädasiyyah und Nahrvän. 9) Narsi, der Sohn
des Paläsh, regierte 40 Jahre. 10) Firüz, der
Sohn des Hormuz führte 12 Jahre lang eine
*) Der Volgares der Griechen.
44*
•92 Gott. gel. Am. 1881. Stück 22.
tyrannische Regierung trad wurde zuletzt er-
mordet. 11) Paläsh (II), der Sohn des Firns
regierte 12 Jahre; er gründete die Stadt Lär.
12) gursrau, der Sohn des Paläsh, war ein
Wüstling; er starb in Rai an Dysenterie, nach-
dem er 40 Jahre regiert hatte. 13) Paläshän,
der Sohn des Paläsh, wurde, nachdem er 32
Jahre regiert hatte, durch eine Zeltstange, die
ihm auf den Kopf fiel, erschlagen. 14) Ardvän,
der Sohn des Asha? (£&t) regierte 29 Jahre.
16) Paläsh (III), der Sohn des Ashar, regierte
über Iran 12 Jahre. 17) Güdurz, der Sohn des
Paläsh, saß 40 Jahre auf dem Thron. 18)
Nar8i (II), der Sohn des Güdurz regierte 20
Jahre. 19) Güdurz (II), der Sohn des Narsi,
herrschte 15 Jahre. 20) Ardvän (II), der Sohn
des Narsi, regierte 30 Jahre.
Wir haben hier den Hrn. Verfasser wörtlich
sprechen lassen, weil diese Periode der persi-
schen Geschichte zu den dunkelsten und ver-
worrensten gehört. Er weiß auch nichts weite-
res zu bieten als eine trockene Liste von Re-
genten, die vielfach von der von Malcolm aufge-
führten abweicht und deshalb einige Beachtung
verdient. Wichtig wäre es für die Geschichts-
forschung, wenn er die Quellen angegeben hätte,
aus der er seine Angaben genommen hat.
Nun folgt die vierte Dynastie der Säsä-
niden und damit treten wir in eine hellere
Periode ein. Er zählt die Säsäniden auf 28
and die Zeit ihrer Herrschaft auf 502 Jahre
und 7 Monate. Wir wollen hier noch die Liste
der einzelnen Herrscher aufführen, da sie etwas
von der Malcolm'schen abweicht: 1) Ardisbir,
2) Shäpür, 3) Hormuz, 4) Bahräm, 5) Bahrain II.
6) Bahräm III. 7) Narsi, 8) Hormuz II. 9) Shä-
pür II. 10) Ardishir II. 11) Shäpür III. 12)
Jelateddin Mirja , Öach der Könige. 60S
Bahrain IV. 13) Yazdigird, 14) Bahräm V. 15)
Yazdigird II, 16) Hormuz III. 17) Pirüz, 18)
Paläsb, 19) Tubäd (^Lx), 20) Nüshirvän, 21)
Hormuz IV. 22) jusrau, 23) Shirüyab, 24) Ar-
disbir IL 25) Pnränduxt (Königin), 26) Azrami-
dutf; (Königin), 27)Farru*zäd, 28) Yazdigird III.
Bei der näheren Beschreibung der einzelnen
Herrscher Behaltet er nach Ardishir (Nr. 24)
noch Shahräzäd ein, der nur 40 Tage die Krone
trug, so daß die Gesammtzahl auf 29 erwächst.
Auf die einzelnen Herrscher der Säsäniden-
dynastie wollen wir hier nicht näher eingehen,
da der Hr. Verfasser im allgemeinen nur das
bietet, was sebon Malcolm in seiner Geschichte
Persians nach denselben Quellen zusammenge-
stellt hat Eine kritische Geschichte Persiens
können wir ja vom Hrn. Verfasser nicht erwar-
ten, da er sein Buch hauptsächlich für die Ju-
gend (0K:>y) bestimmt hat.
Vielleicht dürfen wir aber hoffen, daß die
Zeit nicht mehr so fern sein wird, wo auch der
Jngend Persiens eine kritische mit den abend-
ländischen Quellen verglichene Geschichte ihres
Landes und Volkes von einem ihrer Landsleute
wird in die Hände gelegt werden. Und wie
wird sie dann staunen, wenn sie eine wahre
Geschichte ihres Volkes zu lesen bekommen
wird statt der Fabeln und Märchen, die ibre
große Geschichte kaum ahnen lassen ! Auch
fthr uns Abendländer ist noch vieles in der Ge-
schichte Persiens dunkel und unsicher und es
bedarf noch eingehender Quellenstudien, beson-
ders auch der morgenländischen, bis wir zu
einer relativen Gewißheit werden gelangt sein.
Dazu könnten und sollten auch die Perser das
ihre beitragen, aber es genügt nicht, die alten
694 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
Sagen und Ueberliefernngen wieder zu produ-
cieren, sondern die Perser müssen abendländi-
sche Bildung sieb ebenso anzueignen trachten,
wie wir die morgenländische, dann erst werden
sie im Stande sein, einen richtigen Blick in die
Geschichte und Weltstellung ihres Volkes zu
thun. Mit puren Uebersetzungen abendländi-
scher Geschichtsforscher ist ihnen noch lange
nicht geholfen, sie müssen selbst forschen ler-
nen, wenn sie an der Hand ihrer Geschichte
wieder zu neuem Leben erwachen wollen.
Das vorliegende Buch hat wenigstens das
Verdienst, daß es die persische Geschichte, wie
sie bei den Persern selbst lebt, uns in kurzen
Zügen vorführt, was für Orientalisten insbeson-
dere von großem Werthe ist, und da es in
einem reinen Persisch geschrieben ist, so kann
es auch mit Nutzen zu persischen Vorlesungen,
besonders mit der Absicht in das Modern-Persi-
sche einzuführen, verwendet werden. Die klare
deutliche Schrift kann zugleich als treffliche
Vorübung für das Lesen persischer Handschrif-
ten dienen.
München, September 1880. Tr u mpp.
Zur Reconstruction der Weltkarte des
Agrippa. Von Dr. F. Philipp!. Mit 5 auto-
graphirten Kartenskizzen. Marburg. N. G. Elwert'-
sche Verlagsbuchhandlung. 1880. 25 S. 8°.
Die geographischen Arbeiten des Agrippa
sind in den letzten Jahren Gegenstand mehrerer
gelehrten Untersuchungen gewesen, ohne daß
indeß allgemein anerkannte Resultate gefunden
worden sind Man suchte theils den Inhalt der
Ghorographie, wie das geographische Werk des
Agrippa allgemein genannt wird, aus den späte-
ren geographischen Schriften des Strabo, Mela,
Philippi, Weltkarte des Agrippa. 695
Plinius, den Itinerarien u. s. w. zu eruieren, theils
stellte man Vermuthangen über die Form der
Weltkarte an, meistens mit Rücksicht auf die
tabula Peutingeriana. In Bezug auf letztere hat
Müllen ho ff im Hermes IX, S. 182 ff. nachge-
wiesen, daß man aus ihrer Form keineswegs
auf eine ähnliche Gestaltung jener Weltkarte
schließen dürfe, sondern daß letztere eine ovale
Form gehabt habe, also mit Plinius mit Recht
als ein orbis bezeichnet worden sei.
Während also auch Müllen hoff noch von
der tab. Pent, ausging, schlägt Philippi in oben
erwähnter Schrift einen andern Weg ein, um
eine Reconstruction der agrippaischen Weltkarte
zu ermöglichen. Er untersucht die uns aus dem
Mittelalter erhaltenen Karten und glaubt nach-
weisen zu können, daß eine Gruppe derselben
— natürlich durch eine lange Reihe von Mittel-
gliedern — auf jene Weltkarte zurückgeht.
Folgendes ist der Gang der Untersuchung:
Die mittelalterlichen Karten zerfallen in 3
Gruppen :
1) Sallustkarten. Diese enthalten, wie
Wuttke nachgewiesen, eine Illustration der
von Sali. lug. 18. 19. gegebenen Erdbeschrei-
bung. Wuttke hatte die ersten Anfänge die-
ser Gruppe in das Zeitalter des Augustinus ver-
legt, welcher de civ. dei XVI, 17 die Erde so
eintheilt wie die Sallustkarten, daß Europa und
Afrika die westliche Hälfte bilden, Asien die
östliche. Phil, glaubt gewiß richtig, daß, wenn
Augustin die Karte als bekannt voraussetze,
der Ursprung derselben in die früheren (2. — 4)
Jahrhunderte falle.
Ebensowenig wie diese bloß zur Illustrierung
eines Schulbuches dienenden Karten steht in Zu-
sammenhang mit dem Werke des Agrippa die
696 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
2. Gruppe: die Zonenkarten, welche
die ganze Erdscheibe nach Zonen darstellen.
In Betreff dieser schließt sich Phil, der Ver«
rauthung Müllenhof fs an, daß sie ein durch
vielgliedrige Tradition sehr verunstaltetes Bild
des Pergamenischen Globus sind. Interessant
ist dabei die Bemerkung Ph.'s, daß sämmtliche
Zonenkarten — vielleicht mit Ausnahme der
vielen Macrobius - Handschriften beigegebenen
Erdskizzen - südlich orientiert sind, d. h. Sü-
den an das obere Ende der Karte verweisen,
höchst wahrscheinlich deshalb, weil bei dem
Archetypus , dem kolossalen Pergamenischen
Globus, auf diese Weise am bequemsten der be-
wohnte Theil der Erde zur Anschauung gebracht
werden konnte. Die
3. Gruppe bringt ebenso wie die Sallust-
karten nur die den Alten bekannten Erdtheile
zur Darstellung, ohne die specifisch Sallustischen
Einzelangaben zu enthalten. Alle dieser Gruppe
angehörigen Karten haben 2 Eigentümlich-
keiten : die römische Orientierung — Osten oben
— und die Zeichnung Asiens mit dem kaspi-
schen Meer als Basen und ohne Andeutung de»
Südcontinentes. Daraus ergiebt sich, daß sie
mit dem System des Ptolemäus unbekannt sind,
vielmehr auf Eratosthenische Tradition zurück-
gehen. Phil, bespricht von dieser Gruppe zu-
nächst die Rundkarten, von denen er die beiden
bedeutendsten, die Hereforder und die Ebstorfer,
auf den anliegenden Tafeln II und III verklei-
nert vorführt. Leider sind diese Lithographien,
ebenso wie Tafel IV und V nicht recht gelun-
gen, wenigstens in dem mir vorliegenden Exem-
plar ein wahres Augenpulver und fast unbe-
nutzbar. Phil, stellt die Goncordanzen dieser
Karten zusammen und zeigt, daß sie trotz man-
Philippi , Weltkarte des Agripp*. 6*7
eher Abweichungen doch auf denselben Arche-
typus zurückgehen. Von den rechteckigen Kar-
ten sind bis jetzt wenige bekannt: bei der
Priscian-Karte der Gottoniana weist aber Phil,
so viele Uebereinstjmmungen mit jenen Rund-
karten nach, daß sich der gemeinsame Ursprung
beider nicht bezweifeln läßt. — Phil, stellt
weiterhin fest, daß die rechteckige Karte älter
sei als die volkstümliche runde, weil sie durch
Einzeicbnung von bestimmten mathematischen
Linien begründet wurde. Interessant ist der
Nachweis (8. 15 f.), daß die Karte, welche Oro-
sius bei der Abfassung des in seinem Werke
enthaltenen geographischen Abrisses benutzt, der
Hereforder, Ebsdorfer und Priscian-Karte sehr
ähnlich gewesen ist, was besonders hervortritt
bei der Beschreibung von Ostasien, die wie ab-
geschrieben erscheint von der Hereforder Karte
(Taf. V). Phil, schließt aus den Worten des
Orosius wohl mit Recht, daß er eine rechteckige
Karte vor sich hatte; die Umgestaltung dersel-
ben zur runden und das Herrschendwerden der
letzteren giaubt er in die Zeit zwischen Orosius
und Isidor setzen zu müssen, weil sich aus der
Vergleichung einiger Ausdrücke des Isidor mit
denen des Orosius ergäbe, daß ersterer eine
Rundkarte vor sich gehabt habe. Indeß passen
diese Ausdrücke infleditur regio, cingitur Ger-
mania, includit oceanus ebenso gut auf vier-
eckige Karten mit abgerundeten Ecken , wie
wir uns jedenfalls viele Karten dieser Art zu
denken haben und wie sie auch die Priscian-
karte zeigt
Für die Originalkarte, auf welche alle Kar-
ten der 3. Oruppe zurückgehen, hält nun Phil,
die Weltkarte des Agrippa, ohne indeß für diese
Behauptung weitere Beweise vorzubringen als
698 Gott. gel. Ans. 1881. Stack 22.
die schon oben angeführten, daß sie alle die
römische Orientierung zeigen und Eratostheni-
scbe Elemente enthalten.
Zum Schluß bespricht Ph. noch kurz die bis-
her gefundenen Resultate in Betreff der Karte
des Agrippa; dabei ist es erfreulich zu sehen,
daß er seine frühere Ansicht, es habe bloß eine
Karte, keine cborographia existiert, wie er sie
in seiner Dissertation de tabula Peutingeriana
(Bonn 1876) aufgestellt, fallen läßt und mit
Recht eine Scheidung des Buches von der Karte
verlangt. Nun bat Müllen hoff in der oben
citierten Abhandlung den griechischen Einfluß
auf die Karte nachgewiesen, sowie daß die Haupt-
grade des Eratosthenischen Netzes adoptiert wor-
den sind, J. Part seh (Darstellung Europa's im
geographischen Werke des Agrippa) gezeigt,
daß die Längenansätze des Agrippa bei den
Provinzen sich als zusammengesetzt erweisen aus
Itinerarangaben. Pbil. findet nun in seinen
Resultaten eine Bestätigung und Erweiterung
der Behauptungen Mtillenhoff's und zieht
den Schluß, daß die Karte eine Nachahmung
griechischer Arbeiten sei, dagegen die Itinerar-
angaben sich bloß in der Ghorographie gefunden
haben, also eigentlich nur in dieser die eigenen
Leistungen des Agrippa hervorgetreten seien.
Pbil. will also Ghorographie und Karte aufs
strengste gesondert wissen.
An und für sich darf man wohl voraussetzen,
daß die Arbeit des Verfassers der Karte und
der Ghorographie nicht derartig verschieden ge-
wesen sei, daß bloß in letzterer seine eigene
Leistung sich fand, während erstere nur einen
Abklatsch griechischer Vorlagen bildete. Wenn
Agrippa in der Ghorographie die Itinerarangaben
in ausgedehnter Weise benutzt hat, so ist es
eigentlich selbstverständlich, daß er bei Berech-
Philippi , Weltkarte des Ägrippa. 699
nung der Längenangahen bei den Provinzen
u. s. w. die betreffenden Karten mit eingezeich-
neten Itinerarien vor sich gehabt habe; sollte es
da nicht wahrscheinlich sein, daß er diese Iti-
nerarien auch in die Weltkarte mit hertiberge-
nommen habe? Wenn also die von Phil, be-
handelten Karten ans jener Weltkarte abzuleiten
sind, so ist dies doch noch kein Beweis für die
Verschiedenheit der Arbeit in jenen beiden Wer-
ken des Agrippa, sondern es werden dann in
dem Archetypus derselben die StraßenztJge weg-
gelassen sein; das übrige Material zur Karte,
vor allem in Betreff Asiens, soweit es nicht zum
imperium Romanum gehörte, war ja Eratosthe-
nisch, so daß es kein Wunder ist, wenn jene
Gruppe mittelalterlicher Karten ganz auf Era-
tosthenes basiert zu sein scheint.
Wenn nun die von Phil, statuierte Unter-
scheidung der Chorographie und der Karte kaum
so stricte zu handhaben ist, wie er verlangt, so
darf man bei der Reconstruction der Karte die
aus ersterer geschöpften Werke nicht unbeachtet
lassen. Schweder hat bekanntlich in seinen
Schriften: „Beiträge zur Kritik der Chorographie
des Augustus" (Kiel 1878) und „Concordanz der
Chorographie des Mela und des Pliniustf (Progr.
der Kieler Realschule 1879) die Benutzung der
Augusteischen Chronographie durch Mela und
Pliniu8 ziemlich evident nachgewiesen*); durch
*) G. Oehmichen hatte in einer recht flüchtigen
Untersuchung (Ritsch 1 acta DI, S. 399) diese Concor-
danzen durch gemeinsame Benutzung des Varro erklärt
und sucht diese Ansicht in der Recension der ungleich
sorgfältiger gearbeiteten Schwede r'schen Schriften in
der Jenaer Litt.-Ztg. 1879 S. 483 ff. zu vertheidigen. Ich
glaube, diese Recension verdient ad acta gelegt zu wer-
den, nur, scheint mir, muß Oehmichen den Rath, den
er S. 485, Sp. 1 unten Schweder giebt, an seine eigene
Adresse richten.
700 Gott. gel. Anz. 1861. Stück 22.
die Vergleicbung dieser beiden Autoren mit je-
nen mittelalterlichen Karten nnd der tabula Peu-
tingeriana, die auch gewiß in Beziehung steht
zur Weltkarte des Agrippa, wird man hier wohl
zu weiteren Resultaten kommen. Ob des Oro-
sius Bemerkung, er habe verschiedene Schrift*
steller bei der Abfassung seines geographischen
Abrisses benutzt, bloß, wie Phil. S. 15 nieint,
eine Ausrede sei, um vermeintliche Widerspruche
der Karte zu erklären, scheint mir recht zwei-
felhaft; lieber möchte ich glauben, daß er neben
der Karte noch ein geographisches Compendium
mit abweichenden Angaben vor sich hatte. Zwi-
schen dem Orosius und der Chorographie des
Agrippa, sowie der tab. Peut. findet sich eine
ganze Reihe von Differenzen, z. B. in Betreff
des Taurus (Partsch 1. 1. S. 12); Orosius hat die
Form Paropaimsadae, die mit Agrippa in Ver-
bindung stehenden Autoren Paropamsadae (Fleck-
eisen's Jhb. 117, S. 511)*).
Wenn die von Phil, mit Recht statuierte ge-
meinsame Quelle jener mittelalterlichen Karten
aus der Weltkarte des Agrippa abzuleiten ist,
so darf man, glaube ich, eher eine Umarbeitung
der letzteren voraussetzen, in welcher sie auch
dem Orosius vorlag, als große Differenzen zwi-
schen der Karte und der Chorographie des
Agrippa annehmen. Ein zuverlässiges Resultat
wird hier erst die Vergleicbung jener mittelalter-
lichen Karten ergeben. Hoffentlich wird der
Hr. Verf. bei seiner Vertrautheit mit diesem
Kartenmaterial bald weitere Untersuchungen
*) Nicht alle in diesem Aufsatz enthaltenen Behaup-
tungen halte ich noch aufrecht; die Nachricht von der
Weltvermessung ist gewiß zu verwerfen; ebenso glaube
ich mit Schweder, daß Mela die Chorographie, nicht
die Weltkarte an den behandelten Stellen benutzt hat.
Wright, Zechariah and his prophecies. 701
über diese Frage folgen lassen und die hier an-
gedeuteten Schwierigkeiten anf die eine oder
andere Weise definitiv wegschaffen.
Sondershausen. B. Hansen.
Zechariah and his prophecies considered in rela-
tion to modern criticism: with a critical and gramma-
tical commentary and new translation. Eight lectures
delivered before the university of Oxford in the year
1878 on the foundation of the late Rev. John Bampton
M.A. Canon of Salisbury. By Charles Henry Hamilton
Wright. Second edition. London 1879. S. LXXV
614. 8°.
75 + 614 macht 689 Seiten über eine Schrift
von 14 Gapiteln. Nach diesem Maßstabe würde
Jesaja einen Gommentar von 5 Bänden zu je
700 Seiten beanspruchen können, Jeremia und
Ezechiel etwa 4 solcher Bände und so fort.
Wenn das noch eine Weile so fort geht, werden
die altte8tamentlichen Gelehrten nur noch in
Bttchersälen von beträchtlichem Umfange arbeiten
können und die Exegese wird zuletzt in ihrem
eignen Fette ersticken. So respectabel das Ma-
terial auch ist, welches der Verf. in unermüdli-
chem Fleiße zusammengehäuft hat — es darf
ihm nachgesagt werden, daß er auch aus der
deutschen Fachliteratur kaum eine Broschüre
oder Abhandlung der Zeitschriften von nur eini-
gem Werthe sich hat entgehen lassen — aber
trotz alledem, weshalb diese maßlose Ausführ-
lichkeit der Behandlung? Daß die letztere breit
sei, darf man nicht sagen, denn es steckt überall
Inhalt darin, aber es ist zu viel Gründlichkeit.
Unser deutscher Dichter Karl Immermann sagt:
„auch in der Tugend halte Maaßu ! —
Der Zweck, den unser Verf. verfolgt, ist wie
er in der Vorrede p. VIII selbst sagt, ein apo-
logetischen Dagegen ist gar nichts einzuwenden,
zumal er wiederholt versichert, daß nicht Vor-
702 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 22.
eingenommenheit, sondern anbefangene Prüfung
der Grüude der Kritik ihn mit der Ueberzeugung
von der Unhaltbarkeit der letzteren durchdrungen
habe. Auch ist es immerhin angenehm, daß er
(ibid. p. IX) durchaus nicht gewillt ist, seine
Gegner „Rationalisten" und „Ungläubige" zu
schelten, obwohl man in Deutschland gegen der-
gleichen sich abzuhärten Gelegenheit gehabt hat.
— In der Einleitung des Werks behandelt der
Verf. in 8 Paragraphen das isagogische Material :
die Fragen von der Persönlichkeit des Propheten
und den überlieferten Nachrichten über denselben,
von der etymologischen Bedeutung seines Na-
mens, von der Abfassungszeit zunächst der frühe-
sten Weissagungen desselben; es wird sodann
berichtet über die traditionelle Ueberlieferung von
der Einheit des Buchs, die Geschichte seiner Kri-
tik, die Verschiedenheit des ersten und der spä-
teren Theile desselben, woran sich sodann Be-
trachtungen zu Gunsten der Einheit und der
Authentie desselben schließen; zuletzt erfolgt
eine fast erschöpfende Uebersicht über die wich-
tigsten der gegenwärtigen exegetischen sprach-
lichen und sachlichen Hülfsmittel der Erklärung.
Wir fühlen uns nicht veranlaßt, bei dieser
Gelegenheit das Material der bisherigen Sacbarja-
kritik aufs Neue durchzusprechen, weil wir über-
zeugt sind, daß der bis jetzt geführte Streit we-
gen falscher Fragestellung von beiden Seiten
ein völlig unfruchtbarer geblieben ist. Unsere
Ansicht davon aber näher zu entwickeln würde
um deswillen unzeitgemäß sein, weil eben Bern-
hard Stade in einer sehr wichtigen scharf-
sinnigen Abhandlung (Zeitschrift für die alttestl.
Wissenschft. Jahrg. 1881. Heft 1. p. 1—96) die
Frage angegriffen hat in einer Weise, welche in
Bezug auf die Schwächen der Kritik unsere völ-
lige Zustimmung hat. Da aber andrerseits die
- 1
I
Wright, Zecharifth and his prophecies. 703
Abhandlung noch unvollendet ist, läßt sieh vor
der Hand noch nicht zu der Gesammtansicht
Stade's Stellung nehmen und insofern dieselbe
jedenfalls ein neues Stadium der Sacharjakritik
einleitet, widerstrebt es uns vorher Aber eine
Sache hin- und herzureden, die eben im Begriff
ist eine neue Form anzunehmen. —
Auf die Einleitung folgt eine Uebersetzung
der Weissagungen des Sacharjabuches, hinsicht-
lich derer wir freilich nicht beurtheilen köunen,
wie sie einem englischen Ohre klingt, uns aber
erschien sie angenehm und flüssig. Der Ueber-
setzung in Klammern erläuternde Paragraphen
oder Zusätze beizufügen halten wir nicht für zu-
lässig, auch für unnöthig, wenn ein so überaus
eingebender Gommentar folgt. Ebenso muß nach
unsrer Ansicht ein Uebersetzer unter allen Um-
ständen zu einer festen Entscheidung kommen
und darf z. B. den Lesern nicht die Wahl lassen,
ob sie lesen wollen „sie brachen aufa oder „sie
wanderten44, „sie betrübten44 oder „sie unter-
drückten44 (vgl. p. LXV), „zittern44 oder „sich
winden44 (p. LXIII) „Sünde44 oder „Strafe44 tf).
LXXV), „kehr jetzt zurück44 oder „bitte kehr
zurück (p. XLIX) u. a. —
An diese Uebersetzung schließt sich dann die
eigentliche Auslegung der Weissagungen, welche
in dreizehn Kapiteln von p. 1 — 522 ausgeführt
ist Dieselbe hat ihr Absehen zunächst nur auf
die Reproduction der prophetischen Gedanken
gerichtet und nimmt es mit dieser Arbeit so ent-
setzlich genau, daß man die Sorgfalt und Geduld
des Verf.'s nur bewundern kann. Jeder der über
die betreffende Stelle, von der die Rede ist, eine
Ansicht geäußert hat, wird ausführlichst zum
Worte zugelassen und alle seine Gründe werden,
selbst wenn sie noch so albern sein sollten, ruhig
angehört und einer eingehenden Widerlegung
704 öött. gel. Ant. 1881. Stück 22.
gewürdigt. So bahnt gioh der Verf. mttiwuo
seinen Weg bis zur Aufstellung seiner eigenen
Ansicht. Diese erweist sich denn doch oft stark
beeinflußt durch die Gesichtspunkte der christü*
eben Dogmatik nnd es werden dadurch biswei-
len Voraussetzungen in die Auslegung hinein-
getragen, denen jedenfalls die wissenschaftliche
Grundlage mangelt. An manchen Stellen geht
daher auch die Gedankenausführung des Verf.'s
in einen erbaulichen predigtartigen Ton über,
der recht ansprechend wirkt, so lange man es
vergißt, daß diese Dinge nicht bewiesen sind.
Wir rechnen dahin z. B. die Deutung von
c. 12, 10 auf die Kreuzigung Christi und alles
was der Verf. daran schließt p. 384 — 398. —
Ad diese umfangreiche Sinneserläuterung wird dann
ein kritischer und grammatischer Commentar (p. 525—
598) angehängt, welcher ebenfalls viel schätzbares Mate-
rial enthält und den Beweis giebt, daß der Verf. ernst-
lich bemüht gewesen ist, seiner Arbeit eine solide sprach-
liche Grundlage zu sichern. Er kennt unsere deutschen
Grammatiker der hebräischen Sprache ganz genau; nur
irrt er nach unserer Ueberzeugung darin, daß er p. 369
die Autorität Büttcher's der Ewald 's gleichstellt.
Böttcher ist ein sehr sorgsamer und fleißiger Stati-
stiker, hat aber sehr wenig Einsicht in Bau und Bildung
der Sprache. - Desgleichen achtet der Verf. auf die
massorethische Accentuation und die neuesten kritischen
Arbeiten über dieselbe, auf die Uebersetzungen und ihren
Werth für die Textkritik — kurz dieser Anhang ist reich
au belehrenden Einzelheiten. — Den Schluß des Ganzen
bilden 2 Indices : der erste betrifft die behandelten Schrift-
stellen, der zweite ist ein ausführlicher Nominal- und
Realindex, der eine deutliche Vorstellung von der Menge
der in dem Buche behandelten Gegenstände hervorruft.
— Die Ausstattung des Werks in Druck und Papier ist
yon der bekannten englischen Solidität und Eleganz,
welche wir in Deutschland wohl noch lange werden ent-
behren müssen.
Jena. C. Siegfried.
iii i i rr r - i i- - — ■ r - ~ - i - - - «•^M^a^a^^«*m«^i^MM««M>**>
Fftr'die Redaction rerantwortlich : F.'Bechtd, Director d. Gott. gel. An«.
Verlag der DUUrich'achm Vtrlaga- Buchhandlung,
Druck dtr JHtUrich'aektn Uni*- Buchdruck** ( W. Fr. Ka*$tn#h
/
706
Gö ttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 23. 24. 8. u. 15. Juni 1881.
Inhalt: A. Wet sei, Die Translatio 8. Alexandra P. Meyer*
Die Fortsetzer Hermanns ron Reichenau. Von G. WaÜz. — M. S*
Zuckermandel, Tosefta. Vom Verfassm". — H. Grenacher*
Untersuchungen über das Sehorgan der Arthropoden. Von Spettgd. —
T. Z il 1 e r , Allgemeine philosophische Ethik. H. G i r a r d , La Philo-
sophie scientinque. Von Ammann.
S Eigenmachtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Die Translatio S. Alexandri. Eine kritische
Untersuchung von Dr. August Wetzel. Mit 3 Ta-
feln. Kiel, Druck von Schmidt und Klaunig. 82 und
7 unpaginierte Seiten in groß Octav.
Die Fortsetzer Hermanns von Reichenau.
Ein Beitrag zur Quellengeschichte des XI. Jahrhun-
derts von Paul Meyer. Eingeleitet von G. von Noor-
den (Historische Studien viertes Heft). Leipzig, Ver-
lag von Veit et Comp. 1881. 60 Seiten in Octav.
Gewiß gebort was auf dem Gebiet der Quel-
lenkritik, besonders für die Geschichte des Mittel-
alters, in den letzten Decennien gearbeitet ist,
zu den erfreulichsten Leistungen historischer
Forschung überhaupt: verlorene Schriften sind
wiederhergestellt, als unecht verdächtigte in ihr
Recht wieder eingesetzt, umgekehrt die Wert-
losigkeit anderer Berichte, weil abgeleitet, nach-
gewiesen, die Glaubwürdigkeit mancher lieber-
lieferung erschüttert oder geradezu vernichtet.
Aber es konnte freilich nicht anders sein, als daß,
wo so viele verschiedenartige Kräfte thätig wa-
ren, wo namentlich die übergroße Zahl derer,
45
706 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
welche unsere historischen Seminarien und Uebun-
gen bevölkern, sich vielfach auf dies Gebiet be-
gab, auch Auswüchse und Verirrungen mannig-
facher Art sich zeigten, bald mit unzureichen-
den Kräften oder Hülfsmitteln schwierige Auf-
gaben in Angriff genommen wurden , bald das
Streben neue Resultate zu gewinnen zu künst-
lichen Annahmen führte, oder übergroßer Scharf-
sinn zu entdecken glaubte, was einer einfache-
ren und unbefangenen Betrachtung verborgen
bleibt.
Die beiden Abhandlungen, die oben genannt
sind, scheinen mir dazu neue Belege zu bieten.
Die erste von Wetzel behandelt hauptsäch-
lich eine Frage, die schon öfter Gegenstand der
Controverse gewesen ist, ob die Angabe Adams
von Bremen von einer Schrift Einbards (Egin-
hards) über die alten Sachsen, die er benutzt
haben will, Glauben verdient oder auf einem
Irrtbum beruht und ihm nur die von einem Me-
ginhard vollendete, von Rudolf begonnene
Translatio S. Alexandri vorlag, in der sich so
gut wie wörtlich alle von Adam mitgetheilten Stel-
len finden. So wenig mich auch der Verf. von
der Richtigkeit jener Ansicht überzeugt hat, so
mag ich gerne zugeben, daß sich darüber strei-
ten läßt, und würde am wenigsten darin eine
Aufforderung finden, hier der Scbrift Erwähnung
zu thun. Aber diese geht viel weiter: die
Translatio S. Alexandri ist nicht allein nicht
die Quelle Adams, auch nicht die Ekkehards,
sie ist nicht das Werk Rudolfs und Meginhards,
sondern eine Fälschung zu irgend welchem ten-
denziösen Zweck. Ich muß offen sagen, daß
mir für weitgebende, bestimmter gleichzeitiger
Ueberlieferung gegenüberstehende Behauptungen
nicht leicht schwächere Gründe, oder daß ich
Wetzel, Die Translatio S. Alexandra 707
offen ausspreche was ich meine, grundlosere
Redewendungen vorgekommen sind.
Eine Handschrift unzweifelhaft des 9. Jahr«
hnnderts, wie der Verf. anerkennt, enthält das
Bnch sammt dem Brief des Meginhard an den
Klostergenossen Snnderold, in welchem er von
der Entstehung der Schrift Nachricht giebt, in
dem er erzählt, daß Budolf auf Bitten des Gra-
fen Waltbert, der die Gebeine des h. Alexander
nach Wildesbansen übertrug, die Geschichte die-
ser Translation begonnen, sie aber bei seinem
Tode unvollendet gelassen, dann er, Meginhard,
sie zu Ende geführt habe. Die Translation fand
nach den Ann. Xantenses 851 statt, Budolf
starb 865. Darüber heißt es: 'Wenn der ... .
Anftrag überhaupt glaubhaft sein soll, muß er
bald nach dem Jahre 851 gegeben und über-
nommen sein, doch dann sucht man wieder ver-
gebens nach einem Grunde, weshalb ein so be-
deutender Mann wie Budolf die Aufgabe, welche
ihm zu Tbeil geworden war und für ihn nicht
gar schwierig sein konnte, in fast siebzehn Jah-
ren nicht zu Ende geführt habe. Das ist ge-
radezu unglaublich, die Erzählung von einer
Beauftragung Budolfs, wie Meginhard sie uns
überliefert, kann nicht wahr sein; Budolf hat
nie eine historia translations S. Alexandri be-
gonnen'. Es dürfte überflüssig sein, ein Wort
hinzuzufügen, zu fragen, wie man wissen kann,
wann Graf Waltbert, der im nördlichen Sachsen
lebte, den Mönch Budolf in Fulda kennen lernte
und sich von ihm, dem namhaften Autor, eine
Erzählung der Translation und der Wunder er-
bat, oder ob etwa alle Arbeiten der Art unmit-
telbar nach dem Ereignis verfaßt sind, ob es
damals aller Orten Männer gab, die in jedem
Augenblick eine solehe ausführen konnten. Statt
45*
708 Gott. gel. Am. 1881. Stück 23. 24. '
alles dessen ist einfach zu sagen, daß es aner-
laubt ist, mit solchem Gerede positive Nachrich-
ten anzufechten.
Am Bande des Codex steht, ebenfalls von
einer ganz gleichzeitigen Hand, die Notiz 'Hucus-
que Buodolf. Der Verf. erwähnt mit keinem
Wort die ganz entsprechenden Bemerkungen
einer Handschrift der Annales Fuldenses: 'Huo-
usque Enhardus, Hucusque Buodolfus', wirft nur
die Aeußerung hin, daß auch die Autorschaft
Budolfs für die Annalen zweifelhaft sei. Er
behauptet aber, daß Meginhard, den er als Au-
tor des Briefes gelten läßt, von dieser Notiz
nichts gewußt. Grund : Meginhard giebt von
der (nach dem Verf. angeblichen Arbeit Budolfs)
den Inhalt an und sagt zuletzt: novissime au-
tem asserens, quomodo, abjecto demonum cultu
et acceptis predica tori bus Christi, ad veram et
catholicam christianamque religiunem se conver-
terint. Dem ganz entsprechend schließt Budolfs
Erzählung mit der Bekehrung der Sachsen, wo-
bei sie speciell die Taufe Widukinds hervorhebt
Daß Meginhard dies nicht auch in dem Briefe an-
geführt, findet der Verf. von einschneidender Be-
deutung. 4Wenn Budolf nach der Ansicht des
Briefschreibers diesen Satz verfaßte, so mußte (!)
derselbe ihn auch in seinem Resume wieder-
geben'. Meginhard erscheint ihm auch sonst
als arger Lügner. Er hat ebensowenig wie
Budolf das Mandat erhalten, eine Translatio S.
Alexandri zu schreiben (S. 80). In der That
sagt er das auch nirgends. Aber er hat auch
'ein von Budolf im Auftrage des Grafen Walt-
bert begonnenes Werk nicht vollenden können9.
Und das sagt er allerdings. Grund: 'Hätte er
das von Budolf unerfüllte Mandat ausgeführt,
so hätte er die beendete Arbeit nicht Sundrolt,
Weteel, Die Translatio S. Alexandri. 700
sondern dem Grafen mit einer Widmung über-
senden müssen' (!). Er durfte also nicht, wie
er in seiner bescheidenen Epistel that, das von
ihm vollendete Werk dem gemeinsamen Freunde
zur Prüfung vorlegen. Weiter : 'die Widmung an
Snndrolt kann nicht wahr sein (!), weil diesem,
der selbst in Fulda lange gewesen (er war ohne
Zweifel noch da, vgl. S. 24), mit Rudolf be-
kannt, die Beauftragung des letzteren nicht vor-
gespiegelt werden konnte'. Gewiß nicht. Aber
daraus wird eine Kritik, die nicht blos zweifeln
und negieren will, ganz andere Folgerungen
ziehen.
Nur einen Punkt mag ich hier noch berüh-
ren, die Behauptung, daft Ekkehard die Trans
latio nicht benutzt, sondern das angebliche Werk
des Einhard. Ganz klar scheint dem Verf. die
Sache freilich nicht gewesen zu sein. S. 77
wird ausgeführt, daß Ekkehard nicht die uns
erhaltene Handschrift gehabt. Und damit kann
man ja einverstanden sein, kann dafür selbst
anführen, daß der Name des Klosters sich bei
ihm in einer etwas anderen Form findet als in
dem Codex ('Wigaltingohuson' statt 'Wigalding-
hu8'), und daß es nicht recht wahrscheinlich
ist, daß er eine solche Veränderung vorgenom-
men. Aber durchaus nicht beistimmen kann
man, wenn nun jene Annahme sich in die davon
ganz verschiedene verwandelt: 'er hat unsere
Transl. nicht gekannt', und fast komisch klingt
es, wenn es dabei (S. 77) heißt, man dürfe 'nicht
annehmen, daß er den Ort unter den Wunder-
geschichten sollte entdeckt haben'. Wie nahe
Ekkehards Text doch gerade mit dieser Hand-
schrift zusammenhängt, hat der Verf. durch eine
Mittheilung gezeigt, die ich nicht anstehe für
das Werthvollste dieser ganzen Publication zu
710 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 28. 24.
erklären. Beim Ekkehard (S. 178, Z. 72 meiner
Ausgabe) findet sich eine Stelle dem Text der
Transl. S. Alexandri eingefügt, deren Quelle ich
nicht mit Sicherheit anzugeben vermochte, auf
Einbards Vita und Annalen verweisend. Nun
berichtet Hr. Wetzel, der die Hannoversche
Handschrift genau untersucht hat, daß zu An-
fang eine ganz entsprechende Stelle nachge-
tragen, durch ein beigefügtes Zeichen aber eben
dorthin gezogen ist, wo Ekkehard sie, nur mit
ein paar kleinen Aenderungen, giebt. Wenn
nun auch Adam in demselben Zusammenhange
diesen Abschnitt oder einen sehr ähnlichen in
seiner Quelle vorfand, so wird man darin nur
einen Beweis mehr sehen, daß auch Adam die
Transl. henutzte, während der Verf. freilieh
schließen will, daß die Stelle schon in der an-
genommenen gemeinsamen Quelle, Einbards Gesta
Saxonum, gestanden habe, und nur in der
Translatio anfangs übergangen sei, wobei er
aber selbst behauptet, daß sie in der Transl.
an einen falschen Platz gerathen, d. h. aber
gerade den, wo auch Ekkehard sie bringt. Von
diesem heißt es vorher, nachdem in 4 Columnen
sein Text mit dem von Einhards Vita Karoli,
der Translatio und Adams zusammengestellt ist:
'Wenn Ekkehard, bald von der Transl. abwei-
chend mit Adam oder mit Einhard oder mit
beiden übereinstimmt, bald mit der Transl. von
einem von ihnen oder beiden sich entfernt, oder
eine von allen drei Schriftstellern verschiedene
Lesart bietet, und wie die Möglichkeiten alle
heißen, die man aus den neben einander ge-
stellten Texten entnehmen möge'. Die Wahr-
heit ist aber, daß in den ersten 11 Zeilen, ab-
gesehen von einem Druckfehler, Ekkehards Text
sich von der Translatio nur dadurch unterschei-
Wetzel, Die Translatio S. Alexandra 711
det, daß er 'ARriae' statt 'AUris' schreibt, was
kein anderer Text thut, und 'suhlaUs* wegläßt.
Dann fährt derselbe fort: tractumque per tot
annos bellum ea conditione constat esse finitum,
and berührt sich hier mit Adam, der schreibt:
Tractumque per tot annos bellum ita constat
esse finitum, während die Translatio, überein-
stimmend mit der Vita, bat: Eaque conditione
a rege proposita et ab illis suscepta tractum
per tot annos bellum constat esse finitum. Dies
'Tractumque' ist der einzige Grund , weshalb
Ekkehard die Translatio, wie sie vorliegt, nicht
benutzt haben soll. In der That ist hier die
Warnung am Platz, die andere früher ausge-
sprochen und wohl nur zu weit ausgedehnt ha-
ben, nicht auf ein oder ein paar Worte Ver-
wandtschaften zu gründen. Uebrigens bleibt
Ekkehards Quelle beim Verf. im Dunkeln, da er
denn doch Bedenken trägt, ihn aus Einhards
Gesta schöpfen zu lassen, vielleicht schon des-
halb, weil er, der 'sich nicht scheut seine Quel-
len zu nennen', schreibt 'invenimus autem in
scriptis cuiusdam'. Es soll ein Grund mehr für
die Annahme sein, daß er nicht unsere Hand
schrift benutzt, wo Rudolfs und Meginhards
Name zu lesen war.
Ueber diese handelt der Verf. sehr eingehend,
und macht über die Schrift verschiedener Hände
Angaben, die von denen Pertz's etwas abwei-
chen, die sich aber auch an den mitgetheilten
3 Tafeln Facsimile nicht mit voller Sicherheit
prüfen lassen. Richtig und bemerkenswerth
scheint die Angabe, daß die den Eingang
von Meginhards Text bildenden Worte: 'Igitur
predicti Witukindi filius nomine Wibrecht' auf
Rasur stehen, ob sie aber von einer anderen
Hand als der, welche das Folgende geschrieben,
712 Gott. gel. Am. 1881. Stück 25. 24.
fierrtthren, ist nicht ganz deutlich. Auch ein
paar Berichtigungen zu dem von Pertz gege-
benen Text (S. 11) mögen Beachtung finden;
nur durfte freilich Tab. I, 3, Z. 2 nicht 'vilissi-
mis' gelesen werden, da sich hier eine Ligatur
findet, die auch einem Anfänger in der Paläo-
graphie geläufig sein sollte.
Ich kann diese Anzeige nur mit dem Wunsche
schließen, daß der Verf. in Zukunft sich weni-
ger in Worten gehen lasse, auch weniger ent-
schieden auftreten möge (S. 57 dreimal: 'ist
der Satz entschieden nicht an seinem Platze';
'der Verfasser des Werks bat ihn entschieden
nicht dahin gesetzt'; 'so hätte er entschieden
einen kaum minder unpassenden dafür gewählt'),
und daß er, ehe er die mehrfach in Aussicht
gestellten weiteren Untersuchungen vornimmt,
seinen Fleiß und Scharfsinn in ersprießlicherer
Weise verwenden lerne, als ihm dieser Schrift
nach zu urtheilen bisher Gelegenheit gewor-
den ist.
Noch anderer Art ist die zweite der oben
genannten Abhandlungen, und wenn ich glaube
auch an ihr gewisse Mängel hervorheben zu
müssen, so liegen sie auf einem verschiedenen
Gebiete. Hat Hr. Wetzel wenigstens keine
Mühe sich verdrießen lassen, um die gestellte
Aufgabe zu lösen und sich mit denen, die früher
über den Gegenstand gehandelt, weitläuftig ge-
nug auseinandergesetzt, so vermißt man bei
Hrn. Meyer eine hinreichende Kenntnis des
Materials. Er polemisiert eifrig und wie ich
meine in nicht gebührlicher Weise gegen eine
frühere Dissertation von Schulzen über die-
sen Gegenstand (S. 30. 32. 33). Aber er nimmt
doch einfach aus diesem die Ansicht herüber,
daß mit dem J. 1066 eine erste Fortsetzung des
Meyer, Die Fortsetier Hermanns you Reichenau. 713
Hermann abgeschlossen sei, während nichts vor-
liegt, als daß der von dem ersten Heraasgeber
benutzte Codex Sangallensis hier defect mit-
ten im Satze abbrach, und Pertz und Giese-
brecht unzweifelhaft richtig denselben Autor
auch in den folgenden von andern Handschrif-
ten überlieferten Jahren erkennen. Wohl nur
Schulzen kann die Meinung entlehnt sein,
daß Urstisius diesen Codex gekannt habe, wäh-
rend derselbe sehr bestimmt seine Handschrift
aus St. Georg im Schwarzwald dem Text
Sichard's gegenüberstellt Es ist, nachdem
Pertz die Sangaller Ueberlieferung und die
anderer Handschriften nicht genug geschieden,
ganz berechtigt, diesen Text für sich zum Ab-
druck zu bringen ; dasselbe soll in dem 13«
Bande der Scriptores geschehen. Man muß aber
da auf die Editio princeps des Sichard zurück-
gehen. Statt dessen citiert Hr. Meyer eine
vom J. 1579, von deren Dasein ich bisher nichts
gewußt, auch nirgends etwas gefunden habe.
Dieselbe hat ihn zu nicht wenigen Irrthümern
in den Angaben über Sichard's Lesarten ge-
führt. Die Noten S. 44, 4 und 9 S. 45, 1. 6
und 8 S. 46, 8. 9. 10. 11 S. 47 sind unrichtig;
anderes was Sichard wirklich hat ist nicht
angeführt.
Den Hauptinhalt der Schrift bildet der Be-
weis, daß die sogenannte Compilatio Sanblasiana
nicht aus Bernold geschöpft, sondern von Ber-
nold ausgeschrieben sei. In der Hauptsache ist
das aber nur dasselbe, was längst Schulzen
und Giesebrecht nachgewiesen, nur daß je-
ner unbestimmt von Cont. IL spricht, dieser an
dem Namen des Berthold festhält. Hr. Meyer
verwirrt aber die Sache dadurch, daß er diese
bald auch von ihm als Cont. IL, bald als Com-
714 Gott. gel. Anz. 1881. Stock 23.24.
pilatio Sanblasiana bezeichnete Arbeit als ein
einheitliches Ganzes ansiebt nnd die Interpola-
tionen verkennt, die schon Giesebrecht nach-
gewiesen hat, nnd die sich bei eingehender Un-
tersuchung ohne Zweifel noch zahlreicher heraus-
stellen werden. Ich mache nnr auf das J. 1071
aufmerksam, wo die Worte: Et si buiusmodi
sententia nondum consecratum exspectat et
damnatum (?), sich gar nicht an das Vorher-
gehende anschließen, 1073, wo der Ausdruck
'duces praedictos* gar keine Beziehung hat, die
Schlußworte: coepit in dies parvipendere ini-
micitias adversarionum suorum, gar nicht zum
Anfang des folgenden 'quamvis in maximis peri-
culis et angustiis' passen, enthalte mich aber hier
näher auf die Sache einzugeben, da ich anderswo
Gelegenheit habe, ausführlicher hierüber zu
handeln. Sicher bat der Verf. keinen Grund
von einer Irransicht Giesebrecht's zu sprechen
oder sich des 'von mir heute errungenen Er-
gebnisses' zu rühmen.
Indem er von solchen ich sage noch lieber
Zusätzen als Interpolationen der Gompilatio
Sanblasiana nichts wissen will, entzieht er sich
auch die Möglichkeit, in dem späteren viel aus-
führlicheren Theil einzelne hier ohne Zweifel
wirklich aus Bernold übernommene Einschiebsel
zu erkennen, und er kommt dadurch zu dem
Resultat, daß dieser seinerseits das ganze Werk
der Handschriften, die aus St. Blasien stammen,
benutzt, also erst in den 80er Jahren geschrie-
ben habe, was er gegen Pertz's auf die Mün-
chener Handschrift gestützte Annahme darzu-
thun versucht. Die Sache liegt aber in Wahr-
heit so, daß eine nähere Verwandtschaft zwi-
schen beiden Werken sich nur bis zum J. 1074
zeigt, eben wo auch nach Pertz (S. 385 N. 7)
Meyer, Die Fortaetzer Hermanns von Reichenau. 715
in der Mönchener Handschrift des Bernold de-
finitiv die gleichzeitige Fortführung beginnt.
(Nur der erste Satz der Fortsetzung, der letzte
d. J. 1074 über den Markgrafen Hermann geht
noch auf ßertbold zurück, steht hier aber 1073
und konnte leicbt von Bernold etwas später
nachgetragen werden). Damit ist auch die aus
dem J. 1073 angeführte Stelle über Papst Gre-
gor nicht in Widerspruch ; sie beweist höchstens,
daß dies Jahr und 1074 erst 1075 geschrieben
sind, eine Annahme, der absolut nichts entgegen-
steht. Wenn Hr. Meyer aber behauptet, daß
im Papstkatalog die Worte über die Dauer des
Pontificats Gregors — 1085 in der Original-
handschrift von derselben Dinte seien wie das
Vorhergehende, so wird er gestatten, daß ich in
solchen Dingen mehr Pertz, der das Gegen-
tbeil sagt, als ihm vertraue. Und hätte er
Recht, so würde das Gewicht dieses Arguments
ja dadurch aufgehoben , daß er gleich hinzu-
fügt und aus der Beschaffenheit der Handschrift
zu erweisen sucht, daß der Papstkatalog sicher
nach dem vorläufigen Schluß der Chronik abge-
faßt ist. Es ist also kein Grund, Bernold nicht
seit dem J. 1075 an seinem Werke arbeiten zu
lassen. Eben mit diesem ändert sich aber auch
der Charakter des bisher dem Berthold zuge-
schriebenen Werkes: es wird viel ausführlicher,
es ist in einem dem König viel feindlicheren
Geiste geschrieben. Daß derselbe Autor in et-
was späterer Zeit sein Werk so fortsetzen konnte,
läßt sich nicht in Abrede stellen. Aber berech-
tigt wäre die Annahme wohl, daß hier ein an-
derer Verfasser eingetreten sei. Und hätte die
Vermuthung des Verf.s, daß ein Gisilbert, der
nach Bernold 1080 als Gesandter K. Rudolfs
starb, bei dem Werke betheiligt gewesen, ir-
716 Gott. gel. Am. 1881. Stück 23. 24.
gend welchen weiteren Anhalt, so könnte man
sie vielleicht hier in Betracht ziehen. Doch ist
sie zu weit von 'völliger Sicherheit' entfernt,
als daß man näher darauf eingeben möchte.
Mit Schulzen aber dem Bernold auch das
ganze Werk — 1080, oder auch nur einen Theil
zuzuschreiben, ist freilich ganz unmöglich. Es
muß also dabei bleiben, daß es Berthold war,
welcher nach dem Zeugnis des Mellicensis de
SS. eccl. c. 92 und cod. Murensis (SS. V, S. 263
N. 14) die Chronik des Hermann fortsetzte, daß
wir aber sein Werk nirgends in reiner Gestalt
besitzen, im verschollenen Cod. Sangallensis bis
1066 wenigstens wahrscheinlich in einer etwas
abgekürzten Fassung, in den aus Sanct Blasien
stammenden Handschriften mit Zusätzen ver-
sehen, im Bernold excerpiert.
In der vorliegenden Schrift sind außer dem
schon erwähnten Sangaller Text auch der aus
St. Blasien stammende — 1066, der Bernolds
— 1076 abgedruckt. Für den letzteren konnte
der Verf. den Müncbener Codex benutzen, für
jenen ist auch die Pertz noch nicht bekannte
Wiener Handschrift 3399 in der Vorbemerkung
angeführt, ich finde aber keine einzige Lesart
unter den Varianten, und auch aus der jünge-
ren 7245 nichts, was nicht bei Pertz stünde,
so daß Hrn. Meyer schwerlich etwas weiteres
zu geböte stand, was wohl hätte angeführt wer*
den sollen. Auch sagt er nicht richtig, daß
Wattenbach 3399 mit der früher Göttweiber
Handschrift Mdentificiere' ; denn es heißt nur,
daß beide 'vielleicht' identisch seien. Etwas
mehr Vorsicht und Bescheidenheit wäre auch
diesem Autor zu wünschen.
G. Waitz.
Zuckermandel, Tosefta. 717
Tosefta nach den Erfurter und Wiener Handschriften
mit Parallelstellen und Varianten herausgegeben von
Dr. M. S. Zuckermandel. Beim Verfasser, jetzt
in Trier und in Commission bei A. Schnurr Pasewalk.
1880. 690 und 7 S. 8°.
Der Aufforderung des geehrten Professors
Herrn Paul de Lagarde ein Referat über meine
Tosefta-Ausgabe zu machen und mich hierbei
über die Stellung von Tosefta in der talmudi-
sehen Literatur, über das Verhältniß derselben
zur Mischna nach der gewöhnlichen Annahme
und nach meiner Auffassung auszusprechen, die
Ausgaben, Handschriften und ihr Verhältniß zu
einander anzugeben, komme ich um so bereit-
williger nach, als Herr Professor de Lagarde,
welcher die Erfurter Handschrift aus Autopsie
kennt (vgl. s. Symmicta 154 und m. Erfurter
Handschrift S. 3) einer der ersten war, (s. den
Prospect), welcher das lebhafteste Interesse für
Herausgabe des Werkes an den Tag legte und
dieses Interesse fortdauernd bis zum Schluß
bewährte, mir nicht nur manchen trefflichen
Rath ert heilte, sondern auch durch die Theil-
nahme, die er mir fortwährend bewies, mich er-
muthigte in den Schwierigkeiten auszuharren,
so daß ich ihm zu aufrichtigem Danke verpflich-
tet bin. Abgesehen von diesem persönlichen
Verhältnisse kann es für Wissenschaft und Re-
ligion nur förderlich sein, wenn an Stelle der
verworrenen Begriffe über den Talmud auf un-
parteiischer Forschung ruhende Resultate treten
und zur Klärung beitragen.
Mögen diese Zeilen dies bewirken!
Mancher Leser wird das Wort Tosefta
(«riDcin) — über die Schreibung des Wortes
habe ich in Rahmers „Jüdisches Literaturblatttf
1876 N. 14 gehandelt — welches zu deutsch so
718 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 28.24.
viel bedeutet als „Zusatz" und den Titel eines
Codex der talmudischen Literatur bildet, noch
nie gehört haben. Aber er wird sich beruhigen,
Wenn er aus unserer Darstellung erfährt, daß
Alles, was bis jetzt überhaupt über Namen,
Zweck, Zeit der Entstehung dieses Werkes an-
genommen wurde, nicht auf Zuverlässigkeit An-
spruch machen kann, daß nach der These, die
ich hierüber aufgestellt, alle Schwierigkeiten
sich lösen. Durch dieselbe erhält der Codex
einen viel höheren Werth, als er ihm bis jetzt
beigelegt wurde. Er ist nämlich — um es
gleich hier kurz zu sagen — nach meiner Ueber-
zeugung der Rest des ältesten Werkes aus der
talmudischen Literatur der palästinischen Mischna,
Religions-Gesetzes-Codex. Dieser meiner Ueber-
zeugung verdankt der Codex meine Ausgabe
nach den bis jetzt ältesten Handschriften ans
der talmudischen Literatur.
Man ging früher mit falschen literarhistori-
schen Voraussetzungen an die Erklärung der
einander widersprechenden Stellen der talmudi-
schen Literatur, man wußte nicht, daß Lebens-
verhältnisse, Rechtsanschauungen und andere
Begriffe wechseln, man mußte daher zu unhalt-
baren Ausgleichungen gelangen. Weist man
Tosefta und Mischna die ihnen zukommende
Stellung an, nimmt man mit meiner These an,
Tosefta stamme aus Palästina, die Mischna ans
Babylonien, so lösen sich die Widersprüche
leicht.
Ich will nun versuchen, dem mit der talnra-
dischen Literatur Unbekannten ein Bild von
dem Werthe unseres Werkes zu geben, will von
seinen äußeren Schicksalen zu seinem Wesen
übergehen und dann von den Handschriften,
ihrem Verhältnisse zu einander und zur Aas-
Zuckermandel , Tosefta. 719
gäbe sprechen, wodurch sich der Werth meiner
Ausgabe wird erkennen lassen.
Wie Menschen oft verkannt werden, ja wie
manchmal ein Kind von den eigenen Eltern
stiefmütterlich bebandelt wird, so haben Bücher
das Schicksal, lange Zeit bei Seite geschoben
zn werden und unberücksichtigt zu bleiben.
Aber die nach Wahrheit suchende Geschichte
rettet das Ansehen unverdient zurückgesetzter
Personen und zieht verkannte Bücher aus dem
Dunkel an's Tageslicht. Ein solches Schicksal
lange Zeit unbeachtet geblieben zu sein, hatte
das talmudische Werk, welches den Namen To-
sefta trägt.
Wenn man viele berühmte Talmudisten aus
den letzten Jahrhunderten, welche sämmtliche
Folianten des babylonischen Talmuds im Kopfe
hatten, so daß sie über jede Stelle desselben mit
der Unzahl von Gommentaren genaue Auskunft
geben konnten, nach Stellen aus Tosefta gefragt
hätte, sie würden schwerlich haben Bescheid
geben können. Es gab nur Wenige — sie sind
zu zählen, — welche sich mit Tosefta befaßten,
so B. David Pardo (vgl. m. Artikel in Babmer's
Literaturblatt 1877 N. 36). Diese Vernachlässi-
gung von Seiten der Lernenden zeigt sich auch
in den Ausgaben. Während der babylonische
Talmud an sechzigmal gedruckt wurde, (vgl.
Babbinowitz „über die Drucke des Talmud")
ist Tosefta separat gar nicht, sondern als An-
hängsel^ dem Werke des B. Isaac Alfasi (st
1003) beigedruckt, in der Weise, daß hinter je-
dem Traktat des Alfasi der gleichnamige To-
sefta-Traktat folgte, wodurch die Ordnungen
und Traktate von Tosefta auseinander gerissen
wurden. Von den elf Ausgaben des Alfasi von
1509—1840 enthalten neun Tosefta (vgl. meine
720 Gott. gel. Ans. 1881. Stück 28.24.
Erfurter Handschrift S. 108, Wiener Tosefta
Codex S. 13 Anm. 2), aber alle sind unverän-
derte Abdrücke der ersten Ausgabe mit allen
Lücken und Fehlern. Während jede neue Tal-
mudausgabe mit neuen Zuthaten, Erklärungen
oder Emendationen versehen wurde, giebt die
nackt hingestellte Tosefta ein Bild der Vernach-
lässigung, die ihr zu Theil wurde. Im vorigen
Jahrhundert (1720—1740) lebte in Wilna ein
Mann Namens R. Eliah Wilna, ausgestattet mit
seltener Geisteskraft und kritischem Scharfblick,
eine Erscheinung, welche die Bewunderung der
jüdischen Welt auf sich zog. Er erklärte den
Talmud mit einer zu seiner Zeit beispiellosen
Kühnheit. Er setzte sich — was keiner seiner
Zeitgenossen gewagt hätte — über die Erklä-
rungen der Alten o^a-ircan — hinweg, und was
besonders in Staunen setzte, er emendierte die
Texte der alten Codices mit einem seltenen
Freimuth und zeichnete sich außerdem von den
anderen Talmudisten dadurch aus, daß er die
bis dahin unbeachtete Tosefta gründlich stu-
dierte und mit Emendationen versah. Auf seine
Anregung wurde auch das Toseita-Studium be-
trieben, so daß einzelne Ordnungen derselben
mit Commentaren gedruckt, aber nicht zu Ende
geführt wurden In der 1870 zu Wilna erschie-
nenen Ausgabe des Alfasi wurde zwar Tosefta
ganz mit dem Gommentare von R. Samuel
Abigdor gedruckt, aber die Traktate wieder wie
früher auseinandergerissen. Der Text blieb der
alte und die Emendationen R. Eliah * Wilna's
enthalten unter vielen vortrefflichen meist Ver-
besserungen nach dem babylonischen Talmud.
In den dreißiger Jahren kaufte die kaiserliche
Bibliothek in Wien eine Tosefta Handschrift
(vgl. m. Wiener Tosefta Codex S. 15 Anm. 3) und
Zuckermandel, Tosefta» 721
die Bekanntmachung derselben im Kataloge von
Krafft und Deutsch machte Aufsehen in den be-
treffenden Gelehrtenkreisen. Sie stammt ans
dem 13. Jahrhundert (s. m. Erf. Handschr. S. 100).
Die Lücke der Ausgaben wurde nach der Hand-
schrift iu dem Buche nnett von Goldenthal ver-
öffentlicht und in der zu Wien 1870 erschiene-
nen Talmudansgabe wurde Tosefta mit den Va-
rianten der Wiener Handschrift abgedruckt Da
die Herausgeber aber von der modernen Kritik
Nichts verstanden, so hat diese Ausgabe, abge-
sehen davon, daß sie wieder in den alten Feh-
ler des Auseinanderreißens des Codex verfiel,
auf wissenschaftlichen Werth keinen Anspruch.
Die Herausgeber haben ganz subjektiv die ihnen
der Beachtung werthen Varianten aus der Hdschr.
unter Beibehaltung des alten corrumpierten Tex«
tes, in den Noten gegeben, die anderen einfach
ausgelassen. Das Tosefta-Studium wurde da-
durch wenig gefördert. Nach wie vor wird vom
Gros der Tal mud is teo der Talmud in alter Weise
betrieben und Tosefta wenig berücksichtigt
Der Grund dieser Vernachlässigung liegt in dem
Umstände, daß man über die Stellung von To-
sefta in der talmudischen Literatur keine klare
Vorstellung hatte.
Welches ist nun die allgemeine Annahme
über Tosefta? Den Talmudausgaben ist im er-
sten Bande f. 90 eine Einleitung zum Talmud
von R. Samuel Hannagid (1027—1055) vorange-
stellt, welche Angaben als Kanon für die Tal-
mudgelehrten galt. Wir wollen das Tosefta
Betreffende hier ausziehen. „Der Talmud zer-
fällt in zwei Theile Mischna und Erklärung zur
Mischna. Die Mischna wird genannt mündliche
Lehre, d. i. der Grund der Lehre, welcher von
unserem Lehrer Moses bis B. Jehuda Hannasi
46
72» Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
(2. Jahrhundert), welcher der Heilige genannt
wird, fortgepflanzt wurde", f. 100a „Der zweite
Theil der genannten zwei Theile, d. i. die Ge-
mara zerfällt in 21 Theile (Anzahl von Worten,
welche er erläuterte und zwar Tosefta und Bo-
raita . . .u f. 100 b. Tosefta ist der Best der
Mischna und wenn sie in den Spuren der
Mischna geht (mit ihr übereinstimmt), so ist sie
gültige Halacha. Boraita: darunter versteht
man Werke, welche die Alten verfaßt haben
nach der Mischna, wie die Mischna B. Cbya's
und B. Hoschija's". Maimuni (12. Jahrhundert)
in seiner Einleitung zu seinem großen Werke
Jad Hachasaka schreibt: B. Jebuda der Heilige
(Hannasi) sammelte alle mündlich überlieferten
Lehren und Begeln und Erläuterungen und Er-
klärungen, die sie vernommen hatten von Moses
unserem Lehrer und welche die religiösen Be-
hörden aller Geschlechter gelehrt hatten nnd
verfaßten daraus das Buch Mischna .... Zu
seinen unmittelbaren Schülern gehörten
„B. Ghija, welcher Tosefta verfaßte, um die
Worte der Mischna zu erläutern, ebenso verfaß-
ten B. Hoscbija und Bar Kappara Boraitas, um
die Worte der Mischna zu erklären". Beide
hatten die gaonäischen Quellen benutzt. Der
Gaon Scherira sagt (S. 7 ed. Wallerstein) „Rabbi
hat die allgemeinen Begeln in die Mischna auf-
genommen, dann kam B. Chija und erklärte in
der Boraita die einzelnen Fälle zu diesen Re-
geln". Wir übergehen hier die Schwierigkeiten
betreffs der Verschiedenheit. Diese sind darge-
stellt von Dünner „Die Theorieen über Wesen
und Ursprung der Tosefta" 1874, obwohl schwer-
lich jene das Tosefta-Problem so scharf gefaßt
haben, wie der Verfasser dieser Schrift. So
viel geht aus Allen hervor, daß Mischna die
Zuckermandel, Tosefou 7äS
autoritative Halacha sei , die anderen Werke
Tosefta nnd Boraita, insoferne sie mit Mischna
im Widerspruche stehen, zu verwerfen seien.
Tosefta bat anch nach B. Samuel Hannagid den
Boraita Charakter, da wo sie mit Mischna nicht
übereinstimmt, d. h. draußen stehend nicht reci-
piert. Da nun Tosefta für die Praxis keinen
autoritativen Werth hatte, so wurde sie vernach-
lässigt Die oben genannten Erklärer von To-
sefta emendieren erst Tosefta nach Mischna
und Gemara, um sie mit der Halacha in Ueber-
einstimmung zu bringen.
In den ersten Deceunien dieses Jahrhunderts,
als das wissenschaftliche und reformatorische
Streben bei den Juden erwachte, war es gerade
die Frage über die Entstehung der Mischna und
das Yerhältniß von anderen Sammlungen zu
ihr, welche einzelne Babbiner und Gelehrte
mächtig ergriff. Es haben auf diesen Gebieten
gearbeitet Bappoport, Luzzato, Krochmal, Gei-
ger, Grätz und in umfassender Weise mein hoch
verehrter Lehrer, der selige Seminar-Director
Frankel in seinen beiden Werken Darke Ha-
mischna und Mebo Hajeruschalmi. Man forschte
nach alten Quellen literarhistorischen Inhalts,
sammelte die Notizen in den Talmuden. So
wurde die gaonäische Schrift Seder Tanaim
Wamoraim (Beihenfolge der Gesetzeslehrer)
mehrmal herausgegeben, sowie der literarhisto-
rische Brief des Gaon Scherira (10. Jahrhundert).
Von den der Beform zugeneigten Männern wie
Geiger wurde die Mischna heftig angegriffen, für
die Mängel derselben wurde B. Jehuda Hannasi
verantwortlich gemacht, er sprach von einer al-
ten Halacha vor B. Jehuda Hannasi und der
neuen durch R. Jehuda Hannasi geschaffenen.
Frankel hielt den Traditionsstandpunkt fest,
40*
724 Gott. gel. Aaz. 1881. Sttfok 23. 24.
modificierte ihn aber, um die Schwierigkeiten
zu lögen. In seinem Werke Darke Hamisehna
S. 306 stellt er das Verhältnis von Miscbna
und Tosefta so dar: „Tosefta ging zuerst von
K. Akiba ans, d. h. er legte den Grund zu To-
sefta und nach seiner Anleitung redigierte sie
R. Nehemia. Wenn man fragt, warum wurdet
die Normen von Tosefta nicht gleich in Miscbna
aufgenommen, so ist die Antwort: die Miscbna
sollte in gedrängter Kürze das zusammenfassen,
was Tosefta mehr erläuternd und specialisierend
darstellt. So hat R. Akiba die Miscbna von der
Erklärung getrennt. Den Auszog der Halacba
nahm er in Misohna auf, und die Erklärung in
Tosefta . . R. Meir vervollständigte die Misehna,
R. Nehemia Tosefta, Rabbi schloß dann die
Miscbna ab, so daß sie seinen Namen erhielt,
und ebenso vervollständigte R. Cbija und R.
Hoschija Tosefta, sie fügten noch Mehreres
hinzu, so daß sie nach ihrem Namen genannt
wurde. In seinem anderen Werke Mebo Haje-
ruscbalmi wird die Forschung über Tosefta noch
einmal aufgenommen, welche auf einer genauen
Vergleichung der C i t a t e aus Tosefta im babylo-
nischen und jerusalemischen Talmud ruhen, wo-
bei die Frage erörtert wird, wie die Abweichungen
dieser Gitate in den beiden Talmudes von ein-
ander und von Tosefta zu erklären seien? Er
modificiert die oben angegebene Behauptung
von Tosefta in der Weise, daß nicht R. Cbija
und R Bosch ij a gemeinschaftlich das Werk als
ein einheitliches herausgegeben haben, sondern
jeder von ihnen hätte ein besonderes Werk ver-
anstaltet und unsere Tosefta sei eine Verschmel-
zung beider. Daher die Verschiedenheit der
Oitate, daB eine rühre von der Sammlung R.
Cfaija's, das andere von der R. Hoschija'* her.
j
Zuckerpandel , Tosefta. ])&
R. Cbija habe auch ursprünglich die Absiebt
gehabt eine Gegenmischna der R. Jebuda Ha-
nasi's entgegenzusetzen, sei aber dann davon
zurückgekommen. Man siebt, sobald man den
Kanon auf die Wirklichkeit prüft, wenn man
Tosefta selbst untersucht, kann man ihn nicht
festhalten. Tosefta hat entschieden nicht den
Charakter einer Erklärung zur Mischna, weder,
nach Form, noch nach Inhalt. Formal hat To-
sefta den Charakter der Mischna, die in der Ord-
nung der einzelnen Paragraphen nicht mit Mischna
übereinstimmt, einen anderen Eintheilungsgrund
hat, und sachlich ist sie der Mischna oft ent-
gegengesetzt. Eine Kritik der Resultate Fran-
keis bat Dr. Dünner in Gr. Monatsschrift 1870,
71 und in der oben genannten Schrift „Theo-
rien übet* . . . Toseftatf gegeben.
Was nun mich betrifft, so hat mich das lite-
rarhistorische Problem nicht erfüllt, sondern es
war schon in meiner Studienzeit mein Bestre-
ben, Klarheit in dem Labyrinthe des Talmud
mir zu verschaffen. In der Philosophie sah ich,
wie ein Problem sich weiter entwickelt, woraus
die verschiedenen Systeme entstehen. Warum
giebt es im Talmud so viele Meinungen über
eine Sache? Welche ist die wahre oder wahr-
scheinliche? Ich hatte noch zu den Füßen eines
berühmten Pilpulisten (Dialektikers), des R.Sa-
lomon Quetsch, Rabbiner in Leipnik und Nikols-
bufrg gesessen, der jede Frage der Erklärer
(Tossafisten) auf verschiedene Weise beantwor-
tete. Je geistreicher die Lösungen waren, desto
mehr war es mir ein Räthsel, wie das möglich
sei? Die Wahrheit kann ja nur eine sein.
Frankel, der ein wissenschaftliches Erfassen des
Talmud anbahnte, steuerte dem Pilpul dadurch,
daß er die späteren Erklärer (awiri») aus sei*-
7JM Gott. gel. Ans. 1881. Stück 28.24.
nen Vorträgen ausschloß und sich auf die älte-
ren (Dritten) beschränkte. Aber durch Quan-
tität konnte der Pilpul nicht beseitigt werden.
Die Fragen der erav^rw stoßen unwillkürlich
bei längerem Nachdenken auf. Ich erinnere
mich, daß ich in Breslau über ein Thema mo-
natelang grübelte, um Ober dasselbe in's Klare
zu kommen. In meinem rabbinischen Amte setzte
ich in jeder freien Stunde das Talmudstndium fort,
aus keinem .anderen Grunde, als um mir selbst
Klarheit zu verschaffen. Gewisse Themata gal-
ten als unergründlich, man konnte aus den
Widersprüchen nicht herauskommen. Zu diesen
Thematen lockte es mich immer wieder und
wieder, um doch der Schwierigkeiten Herr zu
werden. Ich studierte gerade die b^mmt (die
späteren Erklärer), welche die Widersprüche
scharf auseinandersetzen, und sie dann aller-
dings pilpulistisch zurecht legen. Schwerlieh
hätte ich meine Resultate veröffentlicht, da ich
nur das Talmudstudium um seiner selbst willen
trieb, fern von jedem reformatorischen Zweck,
und deutsche Arbeiten über talmudische The-
mata auf keine Leser rechnen konnten. Da
wurde im Jahre 1868 zu Breslau der jüdisch-
theologische Verein gegründet, der sich znr
Aufgabe setzte, das wissenschaftliche Talmud-
studium zu beleben. Der Verein hat zwar sein
Programm nicht erfüllt, wirkungslos aber ist er
doch nicht gewesen. Er gab auch mir Gele-
genheit, meine Talmudstudien einem weiteren
Kreise zugänglich zu machen. Ich bereitete Air
die Versammlung 1869 einen Vortrag vor über
den talmudischen Begriff Berera, der sich des
allgemeinen Beifalls erfreute. Er ist mit den
anderen gehaltenen Vorträgen in der Frankel-
Grätzischen Monatsschrift abgedruckt Jahrgang
Zuckermandel, Tosefta. 727
1869 S. 369. In demselben habe ich den ersten
Schritt gethan zur Beseitigung des Pilpul. Ich
stellte dort einen verschiedenen älteren Stand-
punkt auf, der im jerusalemischen Talmud fest-
gehalten wird von dem späteren in der babylo-
nischen Gemara und that dar, daß durch Ueber-
tragung des späteren Begriffs auf die frühere
Zeit erst die Widersprüche entstanden, die aller-
dings unlösbar sind. Für die folgende 1870
anberaumte Versammlung bereitete ich einen
zweiten Vortrag vor — ein wo möglich noch
schwierigeres Thema: „Ueber Beurtheilung von
Zweck und Absiebt bei Uebertretung religiöser
Verbote nach dem Talmud". Die Versammlung
kam zwar nicht zu Stande, mein Vortrag wurde
aber als erweiterter Aufsatz in der Monatsschrift
1871-72 abgedruckt und kennzeichnet sich
wieder durch Trennung des Standpunktes des
Jeruschalmi von Babli, ich zeigte wieder, wie
die Widersprüche entstanden, die Lösung der-
selben unmöglich nur Pilpul sein kann. In die-
sem Aufsätze machte ich schon S. 40 (1872) auf
die Verschiedenheit von Tosefta und Mi seh na
aufmerksam, daß in jener der ältere Standpunkt
vertreten sei. Während dieser Zeit hatte Dr.
Dünner in der genannten Msch. 1870, 571 seine
These über Tosefta aufgestellt. Er wies an
mehreren Beispielen nach, daß schwierige Misch-
na's ihre richtige Lösung finden, wenn man To-
sefta mit ihnen vergleicht. Er kam zur Be-
hauptung, daß — in den angeführten Beispielen
die Tosefta- Bestimmungen die authentischen äl-
teren Bestandtheile seien, welche B. Jehuda
Hannasi vorgelegen, die er in seiner Mischna
gekürzt habe, wodurch sie an Deutlichkeit ver-
loren hätten. Daß die Auffassung der Gemara
eine andere sei, erklärte er dadurch, daß diese
728 Gott. gel. Am. 1881. Stück 23. 24.
Tosefta-Stellen den Amoraim unbekannt waren,
weil Tosefta erst nach Abschluß des babyloni-
schen Talmuds gesammelt worden sei. — Ich
warf mich mit Eifer auf Vergleichung von
Mischna und Tosefta und veröffentlichte im.
Jahrgang 1872 der Msch. zwei Artikel zur Hala«
cbakritik, in welchen ich nachwies, daß der
Standpunkt von Tosefta logischer und klarer
sei als der der Mischna. Ich sagte dort einfach,
die Mischna sei corrumpiert und die LA. von
Tosefta richtig. Im folgenden Jahrgang der
Monatsschrift erschien ein dritter, vierter und
fünfter Artikel zur Halachakritik. In diesen allen
zeigte sich mir Tosefta als' ursprünglich und
logischer, als Mischna. Ich verwarf auf Autori-
tät von Tosefta gestützt die gangbaren Erklä-
rungen des babylonischen Talmud, und fand
auch Spuren in Jeruschalmi, wo der Standpunkt
von Tosefta erhalten ist. Welch mächtigen Ein-
druck die endlich gefundene Lösung der Wider-
sprüche im Talmud durch Tosefta auf mich
machte, kann man aus dem einleitenden Gleich-
nisse im fünften Artikel entnehmen. Aber noch
hatte ich den Standpunkt von der Authentieität
der Mischna durch R. Jehuda Hannasi festge-
halten. Ich nahm nur Gorruptele, Interpolatio-
nen an. Ich studierte dann unausgesetzt den
Traktat Oholot, welcher von den Gräbern han-
delt in Mischna und Tosefta mit den Noten von
R. Eliah Wilna zur Mischna. Dabei machteich
die Wahrnehmung, wie dieser oft die Mischna
nach Tosefta emendiert, daß er eine Stelle nach
Jeruschalmi erklärte, während der babylonische
Talmud eine ganz andere Auffassung hat. Da-
bei trat mir das Resultat zu Tage, daß man in
Babvlonien ganz andere Anschauungen von den
Gräbern hatte, als in Palästina, daß Tosefta
Zuäkermanüel , Tosefta, ^29
nur durch die Vorstellungen in Palästina sich
erklären lassen, während die Mischna auf ba-
bylonische Anschauungen zurückgehen, so daß
sich mir in Folge dieser Beobachtung die früher
gefundenen Verschiedenheiten zwischen Mischna
und Tosefta durch Orts- und Zeitverschieden beit
erklärten. Ich stellte auch in der Monatsschrift
1874 im sechsten Artikel zur Halachakritik die
Behauptung auf: Tosefta enthalte den Rest des
ursprünglichen palästinensischen Codex der
Mischna, unsere Mischna sei der aus dem ersten
nach den veränderten Vorstellungen in Babylo-
nien gekürzt« Codex. Im siebenten Artikel zur
Halachakritik stellte ich die These noch deut-
licher auf mit dem Hinzufügen, Jerusobalmi
hätte sich ursprünglich auf Tosefta bezogen, die
babylonische Gemara auf die babylonische
Mischna. Es entsprächen sonach den zwei Ge-
maren zwei Misch nas. Nachdem die Mischna
in Babylonien Autorität erhalten hatte, hat man
von der palästinensischen Mischna die Verschie-
denheiten derselben von der babylonischen so-
wohl in formaler als sachlicher Beziehung in
einem besonderen Codex gesammelt, die Stellen,
die gleichlautend herttbergenommen waren, aus-
gelassen, und dieser Sammlung den Namen
ttnooin, den Rest der Mischna muron -it»«
gegeben. Die Verschiedenheit der Citate in den
Gemaren erkläre ich durch Emendationen der
Amoräer in Folge ihrer Erklärung. Während
wir 60 an Tosefta den Rest der authentischen
palästinensischen Mischna haben, deren fehlende
Theile aus unserer Mischna ergänzt werden
können, haben wir Jeruschalmi nicht mehr in
ursprünglicher Gestalt. Vereinzelte Spuren wei-
sen darauf hin, daß Jeruschalmi sich ursprüng-
lich auf Tosefta bezogen, aber das Ausgleichungs-
730 Gott. gel. An«. 1881. Stück 23. 24.
werk mit Babli hat später dem Jeruschalmi
eine andere Gestalt gegeben. Die Notiz, die
dem R. Jochanan zugeschrieben wird: dpo
»:rp* '*n e«a*bK, welche besagt, daß Mischna
sowohl als Tosefta auf R. Akiba zurückgebe,
ist gewiß ein spätes Product, um den Gegen-
satz zwischen Mischna und Tosefta zu verwischen,
ähnlich wie die Divergenz zwischen den Scha-
len Schammais und Hilleis, welche ursprunglich
scharf auseinander gingen, später geschwächt
wurde durch den Satz „beide sind von einem
Hirten gegeben worden, beide sind Worte des
lebendigen Gottes".
Ich will zur Orientierung ein Beispiel von
allgemeinem Interesse geben, damit sich Jeder
ein klares Bild von dem Gesagten machen kann.
Tosefta Schebiit § 10 rbbrra «p* (7) P 71" m*
A. lesen wir: „Drei Länder giebt es in Bezog
auf das Ausräumen der Früchte am siebenten
Jahre : Judaea, das transjordanische Gebiet und
Galilaeatt. — Bekanntlich war das siebente Jahr
ein Brachjahr, in welchem jede Feldarbeit
ruhen mußte und das Eigenthum an den Boden-
erzeugnissen aufhörte. So lange nun auf dem Felde
Früchte waren, konnte man solche im Hause
haben, sobald sie auf dem Felde aufhörten,
mußte man sie aus dem Hause bringen, damit
sie Gemeinbesitz würden. Es mußte daher ge-
nau abgegränzt werden, nach welchen Feldern
der Einzelne sich zu richten hat. — „Jedes
dieser Länder hat wieder drei Theile und warum
werden diese drei Theile, Berg, Thal und Nie-
derung erwähnt, weil man nicht essen darf
(■pt* muß gelesen werden) auf dem Hochland
in Rücksicht auf das Thal, und nicht im Thale
in Rücksicht auf das Hochland, sondern das
2uckermandel, Tosefta. 731
4
Hochland richtet sich nach dem Berge, das
Flachland nach dem Thale und das Tiefland
nach der Niederung, in Syrien ist es nicht so.
. . . Z. 20. Welches ist sein Berg (Judaea's)?
Das ist der Königsberg, die Niederung, das ist
die Niederung von Lydda und das Thal von
Engedi bis Jericho. § 11. Welches ist das
Thal von Galtiaea? Genesareth und die Um-
gegend. R. Simon, der Sohn Eleasars sagt:
Welches ist der Berg des transjordanischen Ge-
bietes? Das ist Gharim und die Umgegend, die
Niederung, das ist Hesbon und ihre Städte in
der Ebene, Dibon und Bornoth Baal und Beth
Baal Meon, das Thal ist Beth Nimra Ramtha
und die Umgegend.
Vergleichen wirlfischna Schebiit § 2 OJnDrt
(9): Drei Länder giebt es bezüglich des Aus*
räumens: Judaea, das transjordanische Gebiet
und Galilaea. Jedes zerfällt wieder in drei
Länder. Ober-Galilaea, Unter Galilaea und das
Thal. Von Eephar Chananjah weiter hinauf ist
Ober-Galilaea, von Kephar Chananjah herunter
ist Unter-Galilaea und das Gebiet von Tiberias
ist das Thal und in Judaea der Berg, die Nie-
derung und das Thal. Die Niederung von
Lydda ist wie die Niederung des Südens und
der Berg des Südens ist wie der Königsberg,
von Beth Horon bis zum Meere ist eine Pro-
vinz. §. 3. Und warum werden drei erwähnt,
damit man in jedem einzelnen essen kann bis
vom letzten Theile Alles vernichtet ist. — Wir
wollen nur auf zwei Verschiedenheiten aufmerk-
sam machen. Wie die Erklärer annehmen, be-
zieht sich die letzte Dreitheilung der Mischna in
§ 2 auf p*vn ^ay, welches oben genannt war.
Dieses p"vn ^» hätte in Judaea gelegen zum
Unterschiede von dem transjordanischen Ge-
782 Gott. gel. Anr. 1881. Stüek 28. 24.
biete, das auch prn na* heißt, wo aber das
Gesetz vom siebenten Jahre nicht statt fand.
Der Geograph Estori Parcbi (14. Jahrhundert)
spricht sich in seinem Werke Eapbtor Waphe-
rach folgender Maßen ans: Ans dieser Mischna
gebt hervor, daß dieses iTvn n« znm eigent-
lichen Palästina gehörte, wie Judaea and Gali-
laea. Dem widerspricht aber Tosefta, wo na*
p*vn ausdrücklich als das Ostjordanland ge-
raßt wird, und er citiert obige Stelle. Er fährt
dann fort: Tosefta ist doch eine Erklärung znr
Mischna, wie kann nun die Erklärung im Wider-
spruch stehen zum Texte! Nach meiner Mei-
nung, schließt er, hat Tosefta hier das Richtige
(R. Akiba Eger führt nach einem Autor im Na-
men Estori Parcbi's das Gegentbeil an). — Eine
andere Verschiedenheit. Nach Tosefta bezwecke
die Dreitheilung jedes einzelnen Ländgebietes
die Sonderung in Bezug auf das Sebebiitgesetz,
während es in Mischna heißt, daß alle drei
Theile eines Landes einander gleich sind. Diese
Erklärung der Mischna folgt aus Pesachim 52.
Jeruschalmi muß sich auf Tosefta bezogen ha-
ben. Denn zu § 2 der Mischna wird der Grund
angegeben, warum jeder Tbeil des Landes ge-
sondert betrachtet wird. Man kann damns
schließen, daß der Text zu dieser Begründung
Tosefta wat. Die Tossafisten zu Pesachim 62
wollen zwar Jeruschalmi und Babli ausgleichen,
aber R. Moses Margolith bemerkt schon, daß
Babli hier entschieden im Gegensatze stehe zu
Babli, — aber auch Tosefta zur Mischna. In
Folge der Auffassung des Babli hat man die
palästinensische Mischna emendiert und ebenso
war es mit prn na*. In Babylonien hat man
wohl zwei ■pnvi na* angenommen und die Mei-
nung des R. Simon b. Eleasar in ToBefta als
Zuckermandel, Tesefat 7&3
Einzelmeinung verworfen. Mao kann sich aller-
dings wieder auf Tosafot Jebamoth 15 beziehen,
wo 7Tvn nay als das Ostjordanland gefaßt wird,
aber warum sind in Misehna auch nicht die
drei Theile genannt? Was hätte R. Jehuda
Hannasi in Palästina zu dieser Auslassung ver-
anlaßt? Unsere Erklärung beseitigt alle Fragen.
Daß man in Babylonien andere Begriffe über
geographische Oertlichkeiten hatte, als in Palä-
stina, gebt ans Gittin p. 7 verglichen mit To-
sefta Oboloth p. 617n hervor. Daß aber To-
sefta das Richtige hat, liegt auf der Hand,
Auch die Misehna Schebiit 6, 1, die viele Schwie-
rigkeiten aufwirft, ist gewiß aas den geographi-
schen Vorstellungen in Babylonien anders ge-
staltet. — Meine These rief aber sofort Angriffe
hervor. Ich ließ mich jedoch dadurch nicht ab-
schrecken und dachte an Herausgabe von Tosefta,
Nachdem ich von der Vorsehung begünstigt, die
lange Zeit verkannte, von Frankel als Tosefta
erkannte Erfurter Handschrift zur Vergleichung
erhieit, deren hohen Werth und Alter — ich
entzifferte eine Urkunde auf derselben aus dem
Jahre 1240 (s. m. Erf. Handscb. S. 17) — ich
erkannte, faßte ich den Entschluß Tosefta heraus-
zugeben. Ich gab 1875 im Vertrauen auf Gott,
welehes mich nicht täuschte, mein Amt auf und
ging nach Berlin, wo ich mit meiner Familie
bis September lö76 ohne Existenz lebte« Nach
Veröffentlichung meiner Erfurter Handschrift,
welche die Aufmerksamkeit von Zunz, de La-
garde und Olshausen erregte, und zur näheren
brieflichen Verbindung mit Lagarde führte, wo-
durch ich zur Herausgabe mehr ermuthigt
wurde, ging ich nach Wien, um den Wiener Co-
dex zu vergleichen. Wenn auch die Zeit des
dortigen Aufenthaltes eine Zeit des schwere*
784 Gott, gel An*. 1881. Stück 28. 24.
Kampfes fttr mich war, so war ich doch durch
das allgemeine Interesse, welches die Veröffent-
lichung des Werkes erregte, durch Unterstützung
von Seiten des hohen C u Itasministe ri ums, der
israelitischen Allianzen zu Paris und Wien, meh-
rerer Männer der jüdischen Wissenschaft, wie
des Herrn Raphael Kirch heim und des sei. Al-
bert Cohn, und durch die Bekanntschaft mit den
acbtung8werthen Gelehrten entschädigt Nach-
dem ich nach Beendigung meiner Collation des
Wiener Codex — gerade zur Zeit, als das Was*
ser bis zur Seele gelangte — unvermuthet den
Ruf erhielt, die hiesige Stelle anzunehmen, er-
kannte ich deutlich die Hülfe Gottes. Ich habe
hier vom September 1876 bis September 1880
die Arbeit vollbracht. Und wahrlich, wäre die
Herausgabe des Werkes nicht einer Idee ent-
sprungen, die geschäftlichen Schwierigkeiten,
denen ich kaum gewachsen war, hätten mich
Übermannt. —
Um nun ein Urtheil über meine Ausgabe zu
gewinnen, ist es nöthig, das Verhältniß der
Handschriften zu einander und zur früheren
Ausgabe zu kennen. Ueber den Werth der Er-
furter Handschrift habe ich in der oben citier-
ten Schrift („die Erfurter Handschrift von To-
sefta beschrieben und geprüft". Berlin, Ger-
schel) gehandelt. Ich wies nach, daß durch
Buchstabenwechsel, Versetzungen , Hinzufügen
und Auslassungen die Ausgaben verunstaltet
seien. Ein Beispiel sei hier erwähnt: für nv»an
der Hsch. hat die Ausgabe nran. Ich gab
Beispiele in lexikalischer und geographischer
Beziehung, die ganz frappant den hohen Werth
der Handschrift erhärteten, vgl. auch Beispiele
in Rahmer's Literaturblatt 1876 (mein Referat
über die erste Lieferung.) Ueber den Wiener
Zuckermandel, TosefU. 785
Codex babe ich in Rahmer's Literatnrblatt 1877
und auch im Separatdruck das Wichtigste ange-
geben. Wenn man das Verbältniß der Erfurter
and Wiener Hsch. zu einander angeben will, so
wird man sagen müssen, die Erfurter zeichnet
sich vor der Wiener durch Alter und Gorrectheit
aus. Hingegen hat die Wiener den Vorzug, daß
sie mit Ausnahme von 16 Blättern (s. m. W.Tosefta
Codex S. 9) ganz erhalten ist, während die Er-
furter nur 4 Ordnungen enthält und den Anfang
der fünften, aber von diesem fehlt Nichts. E
(Erf. Hsch.) verdanken wir einen ganzen Ab-
schnitt zum Traktat Maccot, von dessen Fehlen
man bis jetzt gar nichts wußte, den auch W
nicht hat. E hat ferner eine ganz eigentüm-
liche Vocalisation an vielen Stellen (s. m. Erf.
Hsch.), was in W (Wiener Hsch.) mangelt. Hin-
gegen verdanken wir W die Ausfüllung der
Lücke, welche die alten Ausgaben in Negaim
und Para haben, während die fehlenden Blätter
in W, theils in E, theils in A (Ausgabe) sich
finden. Was die LA. betrifft, so stimmen oft
beide Handschriften mit einander überein, aber
eben so oft stimmt A mit W, oder mit E. Ich
habe die Varianten von S. 13 bis 31 m. A. ge-
zählt und zusammengestellt. Sie betragen im
Ganzen an 327. Von diesen sind 146 E = W,
100 A = W, 68 A = E und 13 alle verschie-
den. Außer diesen beiden Handschriften kam
mir während des Druckes durch die Güte Ra-
phael Kirchheims ein Bogen Tosefta aus einem
alten Mspte. zu, den wir mit K bezeichnen wol-
len (s. Rahmer's Litteraturblatt 1878 N. 4-7).
Auch diese Varianten habe ich gezählt, sie sind
im Ganzen 115 u. z. 46 E = K und W = A,
27A = E«W, 18A«=K=*W, 14A = E = K
786 Gott. gel. Abz. 1881. Stück 23. 24.
6 E«K«W die anderen verschieden. E zeigt
sich immer als der relativ beste Codex.
In meiner Ausgabe, welche, was Vollstän-
digkeit betrifft, die Vorzüge der Handschriften
und Ausgabe vereinigt, habe ich zum Text die
Erfurter, soweit sie reicht, und von da bis zum
Schluß die Wiener genommen u. z. auf den
Bath Lagarde's mit den Fehlern, die Varianten
setzte ich in die Noten. Ich nahm auch die
von den Philologen beobachtete Form und spe-
ciell die Ausgabe der Genesis der Septuaginta
von de Lagarde zum Muster. Ich bezeichnete
die Handschrift und Ausgabe mit Buchstaben,
wodurch die Uebersicht erleichtert ist. Die An-
gabe der Zeilenzahl ist für die Noten und für's
Citieren sehr bequem, wie nicht minder die Zei-
chen für Fehlen und Zusatz. In der Vorrede
sind die Zeichen genau erklärt. Anfangs hatte
ich die Absicht, außer den Varianten der Hsch.
und Ausgabe auch noch die Varianten in den
Citaten der Talmude sowie die Emendationen
B. Eliah Wilna's u. A. anzugeben, ich hatte
schon einen Bogen in dieser Weise gedruckt,
ich überzeugte mich aber bald, daß das unaus-
führbar und verwirrend sei. Den so gedruckten
Bogen habe ich, obwohl er manche orthogra-
phische Fehler hat, der Vorrede beigegeben,
weil man leicht aus demselben sich ein Unheil
bilden kann über die Art der Emendationen der
Toseftastellen in der Qemara. Zwischen Text
und Varianten gab ich die Parallelstellen in den
Talmuden an, so wie Bibelstellen. Diese sind
im Text zur Kenntlichkeit durchschossen ge-
druckt Zur ersten Ordnung habe ich auch ein
Register der Bibelstellen, ein Register der Ta-
namin angegeben mit Beifügung aller Stellen.
Außerdem ein Register, wo Toseftastellen in
Znckermandel , Tosefta. 797
Kaphthor Wapherach, der gleichfalls eine Hand
«ohrtft hatte, zu finden seien. Ein Register zu
allen Ordnungen mit Einschloß des schon ge-
gebenen will ich in einem Sapplementhefte er-
scheinen lassen. Ich habe also bei meiner Aus-
gabe ganz objektiv gearbeitet, habe mich nicht
zu Gunsten meiner These zu einer Emendation
des Textes verleiten lassen. Ich habe die Cor-
rector selbst besorgt und außerdem noch einen
Corrector bezahlt. Wenn, was durch die Ent-
fernung des Ortes nicht anders möglich ist,
mehr Druckfehler als ich wünschen mag, sich
finden sollten, so thut das dem Verständnis
keinen Eintrag, da dieselben leicht zu erkennen
sind. Auch die Auslassung mancher Varianten
durch Uebersehen wird dem Urtheil Über die
Handschriften keinen Eintrag thun. Man kann
meine Ausgabe zum Studium von Tosefta sehr
gut verwenden, was ohne sie schwer geht. Die
Ausstattung ist eine sehr gute.
Ich habe noch zum Schluß hinzuzufügen,
welche Ansiebten über Tosefta seit dem Erschei-
nen meiner Ausgabe sich geltend machten. Mein
Freund und literarischer Gegner Hr. Dr. Schwarz
hat 1879 eine Schrift herausgegeben „die To-
sefta zum Traktate Sabbattt. Er hat meine
Ausgabe zur Grundlage genommen und er
schließt sein Buch mit folgenden Worten : „Man
wird mit Klarheit erkennen, daß es dem Tosefta-
redacteur hauptsächlich darum zu thun gewesen,
die durch E. Jehuda Hannasi eliminierten und
umgestalteten Mischnajoth B. Meirs in ihrer ur-
sprünglichen Fassung der Nachwelt zu tiber-
liefern". Ich habe meine Meinung über dieses
Buch in Babmer's Literaturblatt 1879 ausge-
sprochen. Hier will ich nur darauf hinweisen,
daß Schwarz also auch das höhere Alter von
47
738 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
Tosefta im Verhältnisse zur Mißchna anzner-
kennen gezwungen ist, was Dr. Dünner von ein-
zelnen Tfaeilen nachwies, ich auf ganz Tosefta
ausdehnte, da ich außerdem nachwies, daß
Mischna nicht in Palästina redigiert sein kann,
sondern in Babylonien. — Nach Erscheinen
meiner „Erf. Handschrift11 hat sich Dr. Bloch in
Rahmer's Literaturblatt zustimmend ausgespro-
chen. Er hat Beispiele gegeben, daß sich Je-
ruschalmi auf Tosefta beziehen muß. Nach Er-
scheinen der zweiten Lieferung meiner Tosefta-
Ausgabe hat er aus Anlaß derselben mehrere
Artikel in Rahmer's Literatenblatt 1877 geschrie-
ben „Ueber die Stellung von Tosefta", wo er
gleichfalls durch Oonfrontierung von Tosefta und
Mischnasteilen nachwies, daß Tosefta älter sei
als Mischna, daß Mischna interpoliert sei, aber
an der Integrität von Tosefta, wie ich sie be-
haupte, müsse er zweifeln, weil Stellen in To-
sefta vorkommen, die in der Gemara im Namen
eines Amora gegeben sind. Aber das beweist
gar Nichts gegen mich. Wenn in Tosefta kein
einziger Amora genannt ist, immer nur Tanaim
die Tradenten sind, können wir es uns denken,
daß Sätze der Amoräer allgemein in Tosefta
aufgenommen wurden? da hätte doch ebenso-
gut der amoräische Tradent stehen müssen!
Umgekehrt hat ein Amora eine unbekannte To-
sefta-Stelle tradiert und sein Name wurde in
der Gemara ihr vorgesetzt. Darum ist der
Amora kein Plagiator, wie Dr. Bloch meint. —
Nach dem Erscheinen der dritten Lieferung
setzte er im Literatenblatt 1878 seine Artikel
„die Stellung von Tosefta" fort. Offenbar stellt
er dort das Problem der Tosefta unter dem
Eindruck des Dttnner'scben Buches „die Theo-
rieen" dar und kommt schließlich, weil er meine
Zuckermandel, Tosefta. 739
Ansicht radical findet — von Fälschung Sei-
tens der Amoräer kann bei mir nicht die Rede
sein — zur Erklärung des oben S. 10 ange-
führten Satzes . . . tano. Es habe sich unter
den Schülern R. Akibas die Mischna mündlich
verbreitet Mischna und Tosefta seien verschie-
dene Recensionen der Mischna R. Akibas. —
Und solche diametral entgegengesetzte Entschei-
dungen sollen blos verschiedene Recensionen
sein? Daß natürlich dann dem Pilpul, gegen
welchen Dr. Bloch sich so feindlich ausspricht,
Thür und Thor geöffnet ist, ist klar. Meine
These macht die Amoräer, sagt er, zu Falsifi-
catoren ! Warum denn ? Wenn man einen Grund-
riß aus einem größeren Werke macht und die-
sen bona fide nach seiner Auffassung giebt,
wenn auch nicht in dem des Verfassers, ist man
ein Falsificator? Die mala fides muß erst er-
wiesen werden. Warum nennt er die nach mir
in Babylonien redigierte Mischna ein Falsificat?
Ist sie es nicht mehr nach seiner Annahme, die,
wie er sagt, auch von Krochmal, dessen Buch
ich nicht kenne, ausgesprochen ist, wenn die
Amoräer in die Mischna R. Jehuda Hannasis
Interpolationen sich zu machen erlaubten?
Durch die Annahme des Dr. Bloch wird der
Knäuel des Talmudstudiums noch verworrener.
Welche Recension ist die richtige, die in Tosefta,
die in Mischna, die in den Gitaten des Babli
oder Jeruschalmi? Der Pilpul würde dadurch
nur verewigt. Frankel hat schon die Unmög-
lichkeit einer mündlichen Ueberlieferung der
Mischna behauptet.
Nach meiner These ist Tosefta authentisch,
leb weise dann nach, welche Verhältnisse es
waren, welche zur Aenderung in Babylonien
nöthigten, zeige, wie die Mischna entstanden.
47*
740 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 28. 24.
loh verfolge die Variationen Schritt auf Schritt*
Ich zeige, wie aas Tosefta erst die Boraita durch
Emendation entstanden, und wie dann, die
Mischna in Kürze das neue Resultat zusammen-
gefaßt enthält. Ich habe in diesem Jahrgange
der Monatsschrift diese meine Methode in den
früheren Artikeln fortgesetzt und bin in meiner
These nur befestigt worden. Freilich gehört
dazu ganze Hingabe, die beim Leser nicht so
leicht zu finden ist.
Vielleicht gelingt es mir, anstatt schriftlich,
mündlich vor einem Schülerkreis Tosefta zu
commentieren , dann dürfte es leichter sein, mei-
ner Methode Eingang zu verschaffen. Jeden-
falls hoffe ich, daß meine Tosefta - Ausgabe
das Tosefta-Studium beleben und manchen Fern-
stehenden anregen wird, sich über das To-
seftaproblem Klarheit zu verschaffen. Dieser
Aufsatz ist ja schon die Frucht des Interesses,
welches der oft genannte Lagarde für Tosefta
hat, weil es für die Wissenschaft von höchster
Wichtigkeit ist, ob Tosefta älter ist als Mischna
oder jünger, ob, wenn auch in halachischer Be-
ziehung Mischna ihre Autorität bewahrt, doch in
sprachlicher, lexikalischer, historischer Hinsicht
mehr Tosefta oder Mischna zu trauen ist?
Zu meiner Freude kann ich noch mittheilen,
daß in einer Recension von Dr. Eroner, Land-
rabbiner in Stadt Lengsfeld, in Rahmer's Literatur«
blatt 1880, Nr. 47, 48 die hohe Bedeutung meiner
Tosefta-Ausgabe anerkannt wird, sowohl für
Wissenschaft als Religion. Er hebt, dort eine
große Zahl von LA. hervor, die nach den Aus
gaben unverständlich waren, und durch die LA.
der Hschr. Verständniß erlangen, was jeder Le-
ser auf jeder Seite finden wird. Möge sein
Appell an die Reichen betreffs der Verbreitung
Zuckermandel , Tosefta. 741
des Werkes Anklang finden, damit ich mit Got-
tes Hülfe bald an die Heransgabe des Supple-
mentheftes nnd dann an einen Gommentar
gehen kann
Nachtrag: Bezüglich meiner These über
das Verhältniß von Tosefta zu Mischna macht
mich ein junger Gelehrter Herr Ch. Horowitz
in München auf die Stelle in Midrasch Schir.
Haschirim anf merksam, f. 22 der Frankfurter
Ausgabe. Zum Vers 7 C. 6 heißt es dort: R.
Izchak sagte : „Sechzig Königinnen, das sind die
60 Halachatraktate, 80 Kebsweiber, das sind die
80 Abschnitte in Torath Kobanim, Mädchen ohne
Zahl, das sind die endlosen Zusätze". Nun
zählt unsere Tosefta 60 Traktate, während die
Mischna deren 63 hat. Wollte man die drei
Babas für einen Traktat annehmen, so blieben
61. Daß Aboth in Babylonien entstanden, habe
ich schon früher behauptet und wahrscheinlich
ist es mit den andern Traktaten, die in Tosefta
sich nicht finden.
Pasewalk, 1. December 1880.
Dr. Zuckermandel.
Untersuchungen über das Sehorgan der Ar-
thropoden, insbesondere der Spinnen, Insecten und
Orustaceen. Von H. Gren a eher. Göttingen, Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1879. VIH u. 188 S. 4°. 11
Tafeln.
Nachdem im Jahre 1826 Johannes Mül-
ler in seinen berühmten Beiträgen -Zur ver-
gleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des
Menschen und der Thiere" S. 307 ff. zum ersten
Male den Versuch gemacht hat, eine wissen-
schaftliche Erklärung des Sehvorganges in dem
sog. zusammengesetzten Auge der Insecten und
Krebse zu geben, hat dieser Gegenstand längere
742 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
Zeit hindurch eine Reihe der besten Forscher auf
dem Gebiete der thierischen Morphologie lebhaft
beschäftigt und zu einer Anzahl sehr werth-
voller Publicationen Anlaß gegeben. Die von
Müller aufgestellte Theorie traf das seltsame
Geschick, daß sie durch ein für die vorliegende
Frage werthloses Experiment in ihrer Grundlage
so tief erschüttert zu sein schien, daß ihre Un-
haltbarkeit bis in die neueste Zeit als unzwei-
felhaft erscheinen konnte. Wie in so vielen an-
deren Fällen ist auch hier das Verständniß der
physiologischen Leistung eines Organes nicht
nur in erster Linie abhängig von der genauen
Erkenntniß des morphologischen Aufbaues des-
selben, sondern nahezu allein durch Vermittlung
dieser zu gewinnen. Die Fortschritte in der
Erkenntniß der Bedeutung der eigentümlichen
Unterschiede im Baue des zusammengesetzten
Auges von dem des Wirbelthierauges folgen da-
her den Fortschritten der morphologischen For-
schung, welche besonders auf den Untersuchun-
gen von Leydig, Clapar&de und Max
Schultze beruhen, in so unverkennbarer
Weise, daß Boll auf Grund der Beobachtungen
von M. Schultze sich wieder für die Mttller-
sche Theorie entscheiden konnte, obwohl
Schultze selbst dieselbe zurückweisen zu müs-
sen geglaubt hatte. Unter solchen Umständen
war eine umfassende vergleichend-morphologi-
sche Untersuchung der verschiedenen Formen
des Arthropodenauges mit den Hülfsmitteln der
modernen Forschung dringendes Bedürfniß und
versprach lohnenden Erfolg. Grenacher hat
in dem Werke, dessen Titel oben angeführt ist,
diese Aufgabe zu lösen unternommen und hat
dabei gleichzeitig die Fragen, welche die heu-
tige Morphologie hiusichtlich des morphologischen
Grenadier, Sehorgan der Arthropoden. 743
Wertbes der zusammengesetzten Augen stellt und
welchen vor ihm namentlich Ley dig näherge-
treten war, zu beantworten gesucht. Schon
zweimal hat der Verf. über die wichtigsten Er-
gebnisse seiner Untersuchungen vorläufigen Be*
rieht erstattet, zuerst in den „Göttinger Nach-
richten tt von 1874, dann in einem Beilageheft
zu den „Klinischen Monatsblättern für Augen-
heilkunde", 1877. In allerjüng8ter Zeit hat
Grenacher einen Aufsatz „über die Augen
einiger Myriapoden" (Archiv für mikrosk. Anat.
Bd. 18. S. 415 ff.) folgen lassen, dessen Ergeb-
nisse wir unserm Referat über das umfassendere
Werk einverleiben wollen.
Die Augen der Gliederthiere sind nach zwei
wesentlich verschiedenen Typen gebaut und kön-
nen als das „einfache Auge" oder „Stenima"
und als das „zusammengesetzte" oder „Facetten-
auge" bezeichnet werden. Ausschließlich Stem-
raata kommen den Spinnen, Scorpionen, den
meisten Myriapoden, den Flöhen unter den In-
secten und, in einer zum Theil allerdings sehr
abweichenden Form, niederen Grustaceen (Cope-
poden) zu; ferner besitzen die Larven mancher
Schwimmkäfer Stemmata, und bei der Mehrzahl
der ausgebildeten Insecten mit Ausnahme der
Käfer finden sich solche als sog. Scheitel- oder
Nebenaugen neben zusammengesetzten Augen.
Nach Ausschluß der Gopepoden schließen sich
die Stemmata der genannten Arthropoden in
einer Anzahl fundamentaler Charaktere nahe an
einander an. Ueberall ist ein durch eine stark
lichtbrechende, von mehr oder minder regel-
mäßig gewölbten Flächen begrenzte durchsich-
tige Verdickung des Ghitinskelets hergestellter
refractorischer Apparat, die Linse und hinter
dieser eine in vielen Fällen als Glaskörper fun-
744 Gott. gel. Ans. 1881. Stück 28. 24.
gierende, gleichzeitig die Matrix der Linse bil-
dende Hypodermisschicht vorhanden , während
eine an Pigment reiche einfache Schicht von
Zellen, an deren Vorderende Stäbchen eingelagert
sind und deren Hinterende sich mit je einer Fa-
ser des Sehnerven verbindet, als Retina in
einem größern oder kleinern Engelabschnitt den
Augenhintergrund umgreift. Hinsichtlich des
morphologischen Verhältnisses der beiden Schich-
ten der Weichtheile des Auges besteht ein Un-
terschied zwischen den Augen der Schwimm-
käfer und denen der Arachniden und wahr-
scheinlich auch einiger Myriapoden insofern, als
bei jenen Retina und Glaskörper sich deutlich als
Abschnitte einer und derselben Schiebt, der Hy-
podermis, darstellen, während bei den Arach-
niden etc. zwar die Retina entwicklungsge-
schichtlich sich gleichfalls von der Hypodermis
ableiten dürfte, im ausgebildeten Auge aber eine
selbständige Schicht bildet, während der Glas-
körper als Fortsetzung der Hypodermis erscheint.
Innerhalb der so umschriebenen Grenzen aber
variiert nicht blos die Form der Elemente, son-
dern es kommen gewichtige Unterschiede im
Bau der Retina hinzu, die namentlich die Lage
der Stäbchen in derselben betreffen. Die Stäb-
chen sind mehr oder minder stark lichtbrechende,
bald sehr vergängliche, bald resistentem Pro-
duete der Retinazellen, welche entweder ganz
an der Oberfläche derselben wie gewöhnliche
Guticulargebilde, bald theilweise oder ganz im
Innern derselben entstehen. Da das Verhalten
der Guticularproducte zur zelligen Matrix im
Grunde überhaupt noch dunkel ist und kaum in
irgend einem Falle entschieden ist, ob die Cuti-
cula eine Ausscheidung der Zelle oder das Er-
zeugniß einer Metamorphose des Zellkörpers
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 745
selbst ist, so ist wohl nichts dagegen einzuwen-
den, daß Grenacher auch die Stäbchen als
Cuticulargebilde bezeichnet; allein man wird
doch wohl sicher hier einen organischen, leben-
den Zusammenhang derselben mit dem Proto-
plasma der Betinazelle voraussetzen müssen, mag
man nun, wie Claus („Der Organismus der
Phronimiden", in Arb. a. d. zool. Inst. Wien.
Bd. II, S. 69) es thut, annehmen, daß das Stäb-
chen bestimmt sei, eine Form der Bewegung in
eine andere umzusetzen, oder mit Grenacher
das percipierende Element selbst darin erblicken.
Diese Stäbchen, welche Grenacher nur im
Stemma von Phrygmea grandis vermißt hat,
liegen nun im Stemma der Insecten und der
Seorpione stets vor dem dem Hinterende der
Betinazelle mehr oder weniger genäherten Kerne.
Bei den Spinnen aber hat Grenacher einen
merkwürdigen Dimorphismus der Augen ent-
deckt, der sich namentlich darin ausprägt, daß
die Kerne der Betinazellen in einem Falle vor,
im andern hinter den Stäbchen liegen, ein
Verhalten, das Grenacher in seiner neuesten
Veröffentlichung nach dem Vorgange von Gra-
ber mit den Ausdrücken „präbacillär" und
„postbacillär" bezeichnet. Gegen den letztge-
nannten Autor aber, welcher in einer Abhand-
lung über das unicorneale Tracheaten- und spe-
ciell das Arachnoideen- und Hyriapoden-Augetf
(in: Arch. f. mikr. Anat Bd. XVII. S. 58 ff.)
dem Betinaelemente der Arachniden 3 Kerne
zugeschrieben hatte, weist Grenacher die
Einkernigkeit desselben nach, indem er darthut,
daß Grab er Dinge als Kerne beschrieben hat,
die theils keine solchen sind, theils überhaupt
nicht existieren, den wirklichen Kern aber über-
sehen hat. Mit dieser Differenz in der Lage-
746 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23.24.
rung des Kernes zum Stäbeben geben nun an-
dere Unterschiede einher, namentlich die Exi-
stenz von eigenthümlichen Muskeln bei den
Augen mit postbacillären Kernen, die bedeuten-
dere Größe, aber entsprechende Spärlichkeit der
Retinazellen bei den Augen mit präbaciüären
Kernen. Da bei letzteren Augen die Retina
einen größeren Kugelabschnitt darstellt, so kann
man aus den morphologischen Eigenschaften
derselben auf ein größeres Gesichtsfeld schlie-
ßen, während der zweiten Augenform ein schär-
feres Perceptionsvermögen eigen ist. Diesen
Dimorphismus der Augen hat Grenacher bei
allen ächten Spinnen, die er untersucht hat, ge-
funden; er fehlt dagegen den Phalangiden. In
vielen Fällen ist es dem Verf. gelungen, den
Eintritt je einer Nervenfaser in das Hinterende
einer Retinazelle zu beobachten. Für die Func-
tion dieser Stemmata ist die Vertheilung des
Pigments von großer Bedeutung. Es ist im All-
gemeinen so angeordnet, daß einerseits die Cu-
ticula und die Hypodermis in der Umgebung
der Linse, andrerseits die Retinazellen intensiv
pigmentiert sind, während Linse und Glaskör-
per, sowie namentlich die Stäbchen die voll-
kommenste Durchsichtigkeit bewahren. Nur das
Stemma von Phryganea hat eine pigmentlose
Retina. Als ein Schema von abweichender Bil-
dung ist ferner dasjenige einer Semblislarve zu
erwähnen, in dessen Glaskörper ein aus 8 un-
regelmäßig gestalteten Segmenten bestehender
Krystallkörper von starkem Lichtbrechungsver-
mögen eingeschaltet ist.
Daß die Wirkungsweise dieses Auges im
Wesentlichen dieselbe sein muß wie die des
Wirbelthier- oder des Cephalopodenauges, ist
einleuchtend, wenn auch über die Bedeutung
Gren&cher, Sehorgan der Arthropoden. 747
der Eigentümlichkeiten, in denen sich die
Augen der verschiedenen Arten oder auch die
beiden Angenformen der Spinnen unterscheiden,
noch fast vollständige Dunkelheit herrscht und
dem Apparate unverkennbar manche Unvoll-
kommenheiten anhaften, wie namentlich der
Mangel von Accommodationseinrichtungen und
veränderlichen Diaphragmen. Allein darüber
kann kein Zweifel besteben, daß durch die in
allen Fällen regelmäßig und stark gewölbte Cu-
ticularlinse ein umgekehrtes Bild erzeugt wird,
dessen Einzeltheile von den isolierten Stäbchen
aufgenommen und zum Sensorium geleitet wer-
den. Trotzdem scheint es mir nicht zweck-
mäßig, in der Bezeichnung dieser Augenform,
wie es Graber und mit ihm Claus (Grund-
zöge der Zoologie. 4. Aufl. S. 693) thut, als
„unicorneale" Augen das Hauptgewicht auf
diese Ausbildung der Linse zu legen. Vollends
aber auf jegliches Verständniß verzichten heißt
es, wenn man mit Claus (Grundzüge der Zoo-
logie, 4. Aufl. Bd. I, S. 693) diese „unicornea-
lena Augen als „zusammengesetzte Au-
gen mit gemeinsamer Cornealinse"
charakterisiert. Das Stemma ist weder ein zu*
8ammenge8etztes Auge, denn es hat nur eine
Betina, noch wird durch diesen Ausdruck das
Verhältniß desselben zum wirklichen zusammen-
gesetzten oder Facettenauge auch nur entfernt
richtig bezeichnet; ja ein zusammengesetztes
Auge mit einer gemeinsamen Linse — nicht
Cornea! — dürfte wohl geradezu als undenkbar
zu bezeichnen sein.
Was über die Function des Insecten- und
Arachnidenstemmas gesagt wurde, findet da-
gegen keine Anwendung auf dasjenige der My-
riapoden, obwohl dasselbe in den meisten Fäl-
748 Gott. gel. Ariz. 1881. Stück 23. 24.
len aus den gleichen Bestandteilen zusammen-
gesetzt ist wie jenes, nämlich ans Linse, Glas-
körper und Retinabecher. Daß die Glaskörper-
gellen bei LUhobius einen Hohlraum umgeben,
in den von ihrer Oberfläche aus Wimper-
haare hineinragen, ist zwar ungewöhnlich und
auffallend, ebenso wie die Zugehörigkeit zahl-
reicher ungemein feiner Stäbchen zu je einer
Betinazelle bei Julus, allein die Leistung des
ganzen Apparats braucht dadurch nicht wesent-
lich beeinflußt zu werden. Wohl aber geschieht
dies dadurch, daß die Stäbchen einerseits nicht
durch Pigment isoliert sind, andrerseits ent-
weder sämmtlich oder zum weitaus größten Theil
senkrecht zur Axe der Linse stehen, so
daß das eintretende Licht nicht die einzelnen
Stäbchen von ihrer Spitze bis zur Basis durch-
strahlen kann, sondern durch die sämmtlichen
vor einander liegenden Stäbchen hindurchgehen
muß. Daß auf solche Weise ein Bild, das die
Linse' immerhin erzeugen mag, wahrgenommen
werden sollte, ist wohl kaum denkbar. In er-
höhtem Maße hat dies Geltung für die Augen
von Scutigera, die eine eigene Form von zu-
sammengesetztem Auge repräsentieren.
Aber daß die Stäbchen zur Augenaxe pa-
rallel gestellt sind, ist nicht die einzige Be-
dingung für die deutliche Wahrnehmung eines
auf die Netzhaut geworfenen Bildes, sondern
außer einer möglichst vollkommenen Isolierung
dieser Stäbchen ist die Existenz einer erbebli-
chen Zahl von nervösen Endapparaten oder Be-
tinazellen erforderlich. Sinkt diese Zahl unter
eine gewisse Grenze herab und ist gleichzeitig
die Isolierung der Stäbchen mangelhaft, so daß
die Beizung durch einen eintretenden Lichtstrahl
sich nicht auf ein Stäbchen beschränkt, sondern
Grenadier, Sehorgan der Arthropoden. 749
auf eine oder mehrere benachbarte verbreitet,
so kann ein solches Auge kein Bild mehr wahr-
nehmen, sondern nur noch einen Lichteindruck.
Als derartig reducierte Stemmata aber erschei-
nen die Einzelaugen einer Form des Facetten-
auges, die wir zum ersten Male durch Grena-
cher kennen lernen, Augen, die zusammenge-
setzt sind aus einer Corneaünse, einem hypo*
dermalen Glaskörper und einer Retina, die nur
noch aus 7 Zellen nebst ebenso vielen Stäbchen
besteht. Grenacher kennzeichnet den bedeut-
samsten Charakter dieses Auges trefflich, indem
er für die reducierte Retina den Namen „Reti-
nala" einführt. Dem durch die Entdeckung die-
ser Augenform ermöglichten Vergleiche der ein-
zelnen Strahlen des Facettenauges mit den ein-
fachen Augen hatte bisher einerseits die irrige
Ansicht entgegengestanden, daß allen zusammen-
gesetzten Augen sog. Krystallkegel zukämen,
andrerseits die falsche Vorstellung, die man sich
von dem Verhältniß des sog. Seh- oder Nerven-
stabes zu den andern Weichtheilen des Auges
namentlich anf Grund der Untersuchungen von:
Leydig und Max Schultze gebildet hatte-
Grenacher zeigt jetzt, daß viele langfühlerige*
Dipteren, ferner die Hemipteren und endlich
eine ansehnliche Schaar von Käfern krystall-
kegellose oder „acone" Augen besitzen. Hinter
der Linse, die als Corneafacette erseheint, liegt
ein kegelförmiger Körper, der aus 4 hellen, mit
je einem Kerne versehenen „Krystallzellen" zu-
sammengesetzt und von zwei großen Haupt*
pigmentzellen umhüllt ist, an welche sich peri-
pherisch noch kleinere secundäre Pigmentzellen
anschließen. Auf diese äußere wie der Glas-
körper des Stemmas zur Hypodermis gehörige
Schicht folgt dann nach innen die Retinula.
750 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
Diese besteht aus 7 Zellen, von denen 6 sehma-
lere eine dickere, die Axe der Retinula ein-
nehmende umgeben. Die 7 von je einer der
Zellen erzeugten Stäbchen sind noch vollständig
von einander getrennt, aber nicht mehr durch
Pigment isoliert und berühren sich mit ihren
äußern Enden, ja zuweilen (Notonecta) in grö-
ßerer Ausdehnung, so daß sie wie ein einheit-
liches Gebilde erscheinen können. Das „acone"
Einzelauge entbehrt mithin sowohl eines „Kry-
stallkegels" wie eines „Sehstabes", und gleicht
in seinem Bau durchaus einem Stemma mit sehr
reducierter Retina.
Nahe verwandt mit der aconen Augenform
ist die „pseudocone" der kurzfühlerigen Dipte-
ren oder Fliegen. Auch diese besitzen keinen
Kry stallkegel ; wohl aber findet sich zwischen
der Linse und der Retinula in einem trichter-
förmigen Hohlräume, dessen Grund 4 Krystall-
zellen mit ihren Kernen einnehmen, während
Haupt- und Nebenpigmentzellen ihn seitlich um-
schließen, eine im Leben wahrscheinlich flüssige
Substanz, die Grenacher mit dem Namen
„Pseudoconus" belegt. 7 Stäbchen, die am äu-
ßern Ende in innige Berührung mit einander
treten, ragen als Ausscheidungen ebenso vieler
Zellen der Retinula in das Lumen einer von
dieser gebildeten Röhre hinein. Auch diesen
Augen fehlen also Krystallkegel und Sehstab;
doch ist in dem Pseudoconus ein Gebilde von
gleicher optischer Wirksamkeit wie ein Krystall-
kegel gegeben.
Auch die Augen der Insecten, die nach Aus-
schluß derjenigen mit aconen und pseudoconen
Augen übrig bleiben, entsprechen dem land-
läufigen Bilde vom Bau des zusammengesetzten
Auges noch nicht sämmtlich; sondern Gre-
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 751
na eher führt uns in Corethra plumicornis eine
Form vor, bei der die Zellen der Retinula 7
getrennte Stäbchen erzeugen. Für die übrigen
Insecten aber und die mit zusammengesetzten
Augen ausgestatteten Grustaceen kann als Ke-
gel gelten, daß mit dem Besitze eines echten
Krystallkegels („eueone Augen") die Verschmel-
zung der Stäbchen zu einem einheitlichen Kör-
!»er, dem „Rhabdom", verbanden ist. Die Ein-
ührung dieses letztern Namens verdient gewiß
Zustimmung, da einerseits diese eigenartige Aus*
bildung des pereipierenden Apparates eine be-
sondere Bezeichnung erheischt, andererseits die
Namen „Nervenstab" (Ley dig) und „Sehstab"
(Max Schnitze) nicht wohl verwendet wer-
den können, weil sie nicht als Theile einer Re-
tinula, sondern die zu ihnen gehörigen Retinula-
zellen als einfache Scheide derselben gedacht
sind. Claus richtet daher Verwirrung an,
wenn er (Grundztige, 4. Aufl. S. 693) „Nerven-
stabu und „Retinula" als synonym hinstellt*).
Die Unterschiede innerhalb des eueonen
Augentypus beschränken sich fast auf Schwan-
kungen in der Form und der Zahl der Bestand-
theile des Einzelauges. Die Erystallkegel sind
structurlose Ausscheidungen im Innern von we-
nigen mit je einem sog. Semper'schen Kerne
*) Schlimmer ist es allerdings noch, wenn Claus
ebenda S. 39 „selbst die vordem Abschnitte der eigen-
tümlichen stäbchenartigen Nervenenden (Krystallkegel)"
zu den lichtbrechenden Apparaten des Auges rechnet.
• Uebrigens liefert dieser Satz, der aus der 3. Aufl. S. 41
herübergenommen ist, obwohl auf der nächsten Seite eine
im Wesentlichen correcte Darstellung nach Grenacher
neu eingeschaltet ist, welche mit der in diesem Satze
ausgesprochenen Auffassung völlig unvereinbar ist, ein
charakteristisches Beispiel für die Art und Weise, wie
die neuen Auflagen dieses Buches gemacht werden.
752 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 28. 24.
versehenen Zellen, die den KryBtallzellen des
aconen Auges entsprechen. Die Zahl dieser
Zellen beträgt meist 4; doch sind es bei lso-
poden und Arnphipoden nur 2, bei den Cladoce-
ren dagegen 5, denen ebensoviel Segmente des
Krystallkegels entsprechen. Das Auge von
Necrophorus zeigt eine merkwürdige Annäherang
an die pseudoconen Augen, in dem hier 4 große
Erystallzellen vorhanden sind, deren jeder ein
kleiner heller Zapfen vor dem Kerne einge-
lagert ist, während in allen übrigen Fällen die
Semper'schen Kerne vor dem Krystallkegel lie-
gen. Die Kry stallzellen selbst sind meistens
sehr reduciert und bilden nur eine unscheinbare
Hülle um den Krystallkegel, erhalten sich jedoch
bei den Hyperidm in größerer Ausdehnung,
während sie bei Branchipus sehr ansehnlich
sind und in ihrem hintern Abschnitte eine Um-
wandlung ihrer Substanz zu einem die Wirkung
der Krystallkegel ergänzenden refractorischen
Körper erleiden, wie dies in noch höherem
Maße bei den Decapoden der Fall ist, wo so-
wohl vor wie hinter den Krystallkegeln die
Substanz der Erystallzellen in gewisser Aus-
dehnung ein erhöhtes Brechungsvermögen be-
sitzt. Das Hinterende der Krystallzellen steckt
immer zwischen ein paar Hauptpigmentzellen)
während secundäre Pigmentzellen die Einzel-
augen von einander trennen.
Die Retinula ist überall aus wenigen Zellen
zusammengesetzt, deren Zahl eine beachtens-
werthe Gonstanz zeigt. Als typische Zahl kehrt
auch hier wie beim aconen und pseudoconen
Auge die Zahl 7 wieder (Necrophorus, Lamdli-
cornia, Nacht- und Dämmerungsfalter, Isopoden,
Decapoden) ; doch kommen daneben 8 (Hymeno-
pteren und Orthopteren) oder nur 4 (Dytiseus,
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 753
Cardbus) oder 5 {Hypevidm> Phylhpoderi) vor.
Uebrigens ist es dem Verf. nicht gelungen, für
alle untersuchten Augen die Zahl der Retinula-
elemente zu ermitteln. Diese scheiden nun ge-
meinschaftlich das Rhabdom ab, und zwar läßt
sich dabei in vielen Fällen der Antheil jeder
einzelnen Zelle an einer entsprechenden Zusam-
mensetzung des Rhabdoms erkennen. Um so
auffallender ist es, daß bei den Decapoden die
7 Retinulazellen ein nur 4theiliges Rhabdom er-
zeugen, und auch bei Mysis scheint die Zahl
der Zellen größer zu sein als die der Rhabdom-
segmente. Im einfachsten Falle, welcher unter
den Insecten durch Hymenopteren , Homopteren
und Orthopteren, unter den Crustaceen durch
Phyllopoden und Arthrostraken vertreten ist, stellt
das Rhabdom einen dünnen cylindrischen Stab
dar, (durch dessen Axe bei Cicada grossa ein
Längscanal verläuft), während es bei den übri-
gen Insecten und bei den decapoden Crustaceen
eine durch einen breiten Hinterabschnitt und
eine feinen vordem Hals charakterisierte Ge-
stalt annimmt An dem hintern Abschnitte nimmt
man die von Max Schul tze so nachdrücklich
betonte Plättchenstructur wahr, wie sie auch den
Stäbchen der Wirbelthierretina eigen ist.
Das eucone Auge in seiner höchst entwickel-
ten Form ist mithin durch eine gewisse Reduc-
tion seiner Bestandtheile gegenüber dem aconen
und pseudoconen charakterisiert: die Krystall-
zellen bilden nur noch eine unscheinbare und
functionell wohl sehr untergeordnete Hülle um
eine Anzahl structurloser Guticularsproducte der-
selben, und die Stäbchen haben ihre Selbstän-
digkeit aufgegeben und sind zu einem einheit-
lichen Rhabdom verschmolzen. Diese morpho-
logische Reduction erweist sich aber als eine
48
754 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
bedeutsame Vervollkommnung in physiologischer
Hinsicht: in allen Veränderungen innerhalb des
Typus der zusammengesetzten Augen bekundet
sich aufs Evidenteste die Tendenz einer Gen-
tralisierung, einerseits die Zahl der percipieren-
den Elemente auf die Einheit zu beschränken
und andrerseits das eintretende Licht auf dieses
Element zu concentrieren. Die Veränderungen,
welche die Erreichung dieses Zieles bezwecken,
gehen, wie wir gesehen haben, nicht ganz pa-
rallel, sondern die Ausbildung des lichtbrechen-
den Apparates, des Krystallkegels, schreitet der
Verschmelzung der Stäbchen voran: wir finden
Erystallkegel bei Augen, deren Betinulazellen
noch isolierte Stäbchen erzeugen ; dagegen haben
wir kein Auge kennen gelernt, das ein Rhab-
dom, aber noch keine Erystallkegel besäße,
während die aconen und pseudoconen Augen
sämmtlich durch den Mangel eines Bhabdoms
ausgezeichnet scheinen. Dies Verhalten deutet
in unverkennbarer Weise die Richtung an, in
welcher wir die Entstehung des zusammengesetz-
ten Auges zu suchen haben; es bezeichnet die
aconen Augen als die primitivsten, und diese
stimmen, wie oben hervorgehoben wurde, in
vollkommenster Weise nach ihrem typischen
Aufbau mit dem Stemma überein. Wollen wir
daher zwischen dem zusammengesetzten Auge
und dem Stemma Beziehungen im Sinne einer
gemeinsamen Descendenz feststellen, so sind wir
auf eine Augenform hingewiesen, welche dem
Elemente des aconen Auges im Wesentlichen
geglichen haben dürfte, d. h. auf ein Stemma
mit beschränkter Zahl von Retinazellen sammt
zugehörigen Stäbchen, einen als Glaskörper fun-
gierenden Complex von durchsichtigen Hypo-
dermiszellen, in dessen Umkreise Pigment abge-
Grenadier, Sehorgan der Arthropoden. 755
lagert ist, und einer hellen linsenförmigen Ver-
dickung der Cuticula. „Vermehrung der Einzel-
elemente dieses Uranges führt uns zum Stemma ;
Vermehrung der Zahl der Einzelaugen, nähere
Aggregierung desselben unter leichter Umformung
der Elemente dagegen leitet uns zum Facetten-
auge hinüber". Im Einzelnen stößt allerdings
die Durchführung dieser phylogenetischen Ab-
leitung, wie Grenacher zeigt, auf manche
Schwierigkeiten. Ich möchte allerdings glau-
ben, daß wir der Annahme einer polypbyleti-
schen Entstehung der Erystallkegel uns nicht
werden entziehen können. Es spricht zu Gun-
sten derselben nicht nur die Inconstanz dieses
Gebildes innerhalb enger verwandtschaftlicher
Kreise wie der Coleopteren, bei denen acone
und eucone Augen vorkommen, sondern, wie
mir scheint, noch bestimmter die Thatsache, daß
die Krystallkegel augenscheinlich bei Insecten
und bei Crustaceen unabhängig von einander
entstanden sind, indem sie allen Insecten, die
eines Ehabdoms entbehren, noch fehlen. In
diesem Zusammenhange scheint mir auch die
Existenz eines krystallkegelartigen Gebildes im
Stemma der Semblislarven von Bedeutung. End-
lich zeigt uns Grenacher, daß es auch inner-
halb des abweichenden Typus des Myriapoden-
auges zur Ausbildung zusammengesetzter Augen
kommen kann, in denen gleichfalls ein großer
lichtbrechender Körper vorhanden sein kann,
dessen morphologische Beziehungen zum Krystall-
kegel, beziehungsweise den Krystallzellen zwar
nicht völlig aufgeklärt sind, der aber durch die
Benennung -Krystallkörper" gewiß mit Becht
als in die Kategorie dieser Bildungen gehörig
bezeichnet ist. Dies interessante Auge findet
sich bei Scuiigera. Hier sind an jeder Seite
des Kopfes zahlreiche, zu einem Facettenauge
48*
756 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
zusammengedrängte Einzelaugen vorhanden, de-
ren jedes hinter einer vorn mäßig convexen,
hinten fast planen Gornealinse einen Weichkör-
per besitzt, welcher einen tiefen trichterförmigen
Hohlraum umschließt. Etwa die vordem zwei
Drittel dieses Hohlraumes sind von einem durch-
sichtigen Kegel eingenommen, der unregel-
mäßige Zerklüftungen erkennen läßt, nach Ein-
wirkung von Säuren aber sein vorher starkes
Lichtbrechungsvermögen verliert und von un-
regelmäßig verlaufenden und vielfach gefalteten
Membranen durchzogen erscheint; der Nachweis
von Kernen gelang nicht, doch bleibt es auch
unwahrscheinlich, das es sich um ein Cuticular-
gebilde handle, und Grenacher ist vielmehr
geneigt, modificierte, des Kernes verlustig ge-
gangene Zellen darin zu erblicken. Functionen
entsprechen diese „Krystallkörper" jedenfalls
dem Krystallkegel der Insecten- und Crustaceen-
augen. Die Wandung des Trichters wird vorn
von einem einfachen Kranze von Hauptpigment-
zellen, hinten von der Retinula gebildet. Letz-
tere ist aus einem vordem und einem hintern
Zellenkranze zusammengesetzt, von denen jede
Zelle ein gegen das Lumen des Trichters vorsprin-
gendes Stäbchen erzeugt. Die an diesen er-
kennbare Querstreifung läßt an eine Zusam-
mensetzung aus zahlreichen feinsten Stäbchen
ähnlich denen von Jülus denken. Zu den vor-
deren Retinulazellen verfolgte Grenacher
Nervenfasern.
Mit Spannung darf man Untersuchungen über
die Stemmata von Limulus entgegensehen, da
dieselben voraussichtlich analoge Beziehungen
zum Bau der Einzelaugen der beiden großen
Facettenaugen dieses Thieres erkennen lassen
werden, den uns Grenacher zum ersten Male
in seinen Grundzügen vorgeführt hat. Will
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 757
man dasselbe nach seiner Aehulichkeit mit an-
deren Augenformen charakterisieren, so kann
man es vielleicht am besten als ein Myriapoden-
auge mit einem Bhabdom bezeichnen, denn die
Weichtheile setzen sich zusammen aus einem
hypodermalen Glaskörper und einer gleichfalls
in Continuität mit der Hypodermis erscheinen-
den, aus etwa 14—16 Zellen bestehenden Reti-
nula, die ein Rhabdom von vielstrahligem Quer-
schnitte umschließt. Der lichtbrechende Appa-
rat wird auschließlich von der in 3 Hauptschich-
ten zerfallenden Cuticula gebildet. Während
die äußere Fläche der oberflächlichsten Schicht
derselben ganz glatt ist, bildet die innere Fläche
der mittleren und besonders die der mächtigsten
tiefsten Schicht über jedem Auge eine kegel-
förmige Verdickung, ähnlich wie es auch bei
Julus unter den Myriapoden der Fall ist.
Bilden diese Forschungen über die Morpho-
logie des Arthropoden-Auges den Schwerpunkt
der Grenacher'schen Arbeit, so sind andrerseits
die Ergebnisse für die Physiologie des zusam-
mengesetzten Auges nicht minder wichtig, in-
dem durch die morphologische Untersuchung der
Streit um den Sehvorgang im Facettenauge wohl
endgültig zu Gunsten der Theorie des musivi-
schen Sehens entschieden sein dürfte. Grena-
cher erörtert diese Frage in knapper und prä-
ciser Weise im zweiten Abschnitte der „Folge-
rungen", welche er der Darlegung der Beob-
achtungsergebnisse anschließt. Die der Müller'-
schen Theorie vom musivischen Sehen gegen-
überstehende Ansicht, wonach in jedem Einzel-
auge ein Bildchen erzeugt und wahrgenommen
wird und welcher namentlich durch ein Experi-
ment von Gottsche, in welchem dieses Bild-
chen objectiv hinter dem Krystallkegel des Flie-
genauges dargestellt wird, weitgehende Aner-
758 Gott. gel. Anz. 1881. Stuck 23. 24.
kennung gefunden hat, wird kurz als „ Bild che n-
theoriea bezeichnet. Die letztere setzt eine Viel-
heit von percipierenden Elementen an der Stelle,
wo das Bild projiciert wird, voraus, während
die Mttller'sche Theorie im Gegentheil die Exi-
stenz nur eines einzigen percipierenden Ele-
mentes hinter jeder Corneafacette fordert. Als
Perceptionselemente können aber nach den Un-
tersuchungen Gren a eher 's nur die Stäbchen
angesehen werden; diese müssen mithin auch
den Ort bestimmen, an welchen wir die Recep-
tion zu verlegen haben. Das Sehfeld der
Einzelfacette ist sowohl durch den geringen
Durchmesser der Facette als auch durch die
große Tiefe des Auges und die damit zusam-
menhängende Entfernung des Stäbchens von der
Oberfläche auf ein sehr geringes Maß beschränkt,
das um so geringer ist, je typischer und voll-
kommner die Charaktere des Facettenauges aus-
gebildet sind. Es kommt ferner in Betracht,
daß die Beobachtung der Thiere in der Natur
auf Unterschiede in der Sehschärfe hinweist,
denen Unterschiede in der Zahl der Betinula-
zellen nicht entsprechen. Aus einer genauen
Prüfung des Gottsche' sehen Experimentes
geht nun hervor, daß in demselben das Bildchen
in dem angewandten Fliegenauge unmöglich
durch den Erystallkegel erzeugt sein kann, da
hier ein solcher gar nicht vorbanden, sondern
durch den flüssigen Pseudoconus vertreten ist.
Aber auch bei den Nachtschmetterlingen, an de-
nen Grenacher das Gottsche'sche Expe-
riment wiederholt hat, tritt das sehr leicht und
in vollendeter Klarheit darstellbare Bild nicht
im Gebiete des Stäbchens hinter dem Erystall-
kegel auf, sondern im Innern des Letztern, also
an einem Orte, wo pereipierende Elemente gar
nicht vorhanden sind. Das Bild kann mithin
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 759
nur von der Cornealinse erzengt sein. Daß das
Zustandekommen desselben, wie Exner in einer
Abhandlung „über das Sehen von Bewegungen
und die Theorie des zusammengesetzten Auges"
(Wiener Akad. Sitzungsber. Math. nat. Gl. Bd.
72, Abth. III. 1875. S. 156) auf Grund von Mes-
sungen und Berechnungen der Brechungsmittel
nachzuweisen sucht, durch die Krystallkegel,
wenigstens nicht in allen Fällen verhindert
werde, ergiebt sich aus dem oben erwähnten
Versuch Grenacher' s. Beide Beobachter aber
stimmen darin überein, daß das Bild viel zu
groß ist, um auf dem Querschnitte des Bhab-
doms oder gar der fadenförmigen Verlängerung
desselben Platz zu finden. Es ist vielleicht hin-
zuzufügen, daß ein sternförmiger Querschnitt des
Bhabdoms, wie er uns z. B. im Maikäferauge
entgegentritt, gewiß zur Perception eines Bildes
wenig geeignet erscheint. Dazu kommt, daß in
manchen Augen, unter denen Grenacher na-
mentlich das der Hyperidm mit völlig glatter
Cornea und planer Vorderfläche des Erystall-
kegels namhaft macht, ein Linsenapparat zur
Erzeugung eines derartigen Bildchens gar nicht
vorbanden ist. Erwägt man endlich noch, daß
eine Betina, die aus nur 7 oder noch weniger
Elementen besteht, von vornherein zur Wahr-
nehmung auch des einfachsten Bildes untauglich
erscheint, und daß in keiner Weise die iso-
lierte Reizung der Stäbchen gesichert ist, des
Bhabdoms gar nicht zu gedenken, so kann wohl
von einer Annahme der „ Bildchentheorie" fiir-
der nicht mehr die Bede sein.
Andrerseits ist allerdings auch die Forde-
rung der Müller 'sehen Theorie, daß hinter jeder
Facette sich nur ein pereipierendes Element
befinden solle, durch Grenacher's Untersu-
chungen Bricht als vollkommen erfüllt darge-
760 Gott gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
than, insofern auch im Falle extremer Redaction
die Zahl der Retinazellen mindestens 4, meistens
aber 7 beträgt. Dagegen sind gerade diejenigen
Elemente, in welche wir die Umwandlang der
Lichtbewegung in Nervenerregung verlegen müs-
sen, die Stäbchen mindestens an ihrem dem
Licht zugewandten Ende einander bis zur Be-
rührung genähert, und es ist in diesem Zu-
sammenhange von der allergrößten Bedeutung,
daß gerade in denjenigen Augen, welche die
vollkommenste, höchst differenzierte Form des
Facettenauges repräsentieren, ausnahmslos die
Stäbchen zum Rbabdom verschmolzen sind. Wo
ein solches die Reizung der Retinazellen vermittelt,
kann der Eindruck unmöglich anders als ein-
heitlich gedacht werden. Auf dem Nachweise
aber, daß das Rhabdom die verschmolzenen
Stäbchen einer Retina repräsentiert, ruht sowohl
die Erkenntniß vom morphologischen, beziehungs-
weise phylogenetischen Zusammenhange des
Stemmas und des Facettenauges als auch die
Einsicht in den Sehvorgang im Letztern. Darin
liegt der eminente Fortschritt, den wir Gre-
nac h er ' s trefflichen Untersuchungen verdanken.
Den Schluß des Buches bildet ein anregen-
des Gapitel über das Retinaelement im tbieri-
schen Auge, aus dem wir als für die allge-
meine Auffassung besonders wichtig hervor-
heben möchten, daß die Retina sich in den mei-
sten Fällen als ein Product des Integuments
nachweisen läßt, dem sich zwar, wie namentlich
bei Wirbelthieren und Cephalopoden, Ganglien-
massen innig anschließen können, das aber
selbst nicht aus Ganglienzellen besteht. Na-
mentlich betont Grenacher mit Recht den
Fortschritt, den die neuere Zeit in der morpho-
logischen Auffassung der Wirbelthierretina auf-
zuweisen hat, indem sie die Stäbchen- und
Grenacher, Sehorgan der Arthropoden. 761
Zapfenschiebt und die äußere Körnerschicht
nebst Membrana limitans externa als Neuroepi-
thelschicht den übrigen als Gehinischicht be-
zeichneten Lagen entgegensetzt: die Retina der
meisten wirbellosen Thiere entspricht nur der
Nenroepithelschicht.
Alles in Allem haben wir in Grenachers
„Untersuchungen über das Sehorgan der Arthro-
poden" nicht nnr ein Werk vor uns, das reich
ist an den Ergebnissen sorgfältigster, mit ebenso
viel Geduld wie Geschick angestellter Stadien
über den feinern Bau eines der compliciertesten
Organe, reich an Detailbeobachtungen, die uns
der Verfasser mit Ktinstlerband in ebenso sau-
beren wie klaren, vom Lithographen trefflich
reproducierten Abbildungen, vorführt, sondern es
ist in hohem Maße ausgezeichnet durch einen
in seltener Weise geschärften Blick für die Be-
deutung, welche die Beobachtungen für die
physiologische und namentlich auch für die
morphologische Auffassung des Gegenstandes
haben. Es bezeichnet einen Fortschritt in der
vergleichenden Anatomie eines der wichtigsten
Organe, wie ihrer die letzten Decennien nicht
viele aufzuweisen haben. Möge die reiche
Saat desselben auf einen fruchtbaren Boden
fallen! Stengel.
Allgemeine philosophische Ethik von Dr.
Tuiskon Ziller, Professor an der Universität
Leipzig. Langensalza 1880. 508 S. Gr. 8°.
Diese Neubearbeitung der Ethik in Her-
bart'8 Sinne durch H. Ziller, den eifrigen
Vertreter besonders Herbartischer Pädagogik,
kann man freudig bewillkommnen. Sie hat alle
vorteilhaften Züge Herbartischer Schulung an
sich, vor allem logische Klarheit der Begriffs-
bildung und Darstellung und eingehende Be-
762 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
rttcksichtigung des realen Lebens und seiner
Bestrebungen« Sie ist dabei eine selbständige
Nacherzeugung der Gedanken des Meisters; selbst
von diesem abzuweichen, wo es ihm wissen-
schaftlich geboten erscheint, scheut sich der Ver-
fasser nicht; so giebt er der Idee der inneren
Freiheit eine andere Stellung, als Herbart ge-
than, und ersetzt dessen relative Straftheorie
durch die absolute. So sehr man dies alles an-
erkennen und hochschätzen kann, so sehr kann
man daneben der Ansicht sein, daß auch in die-
ser Neubearbeitung die Her bartische Ethik for-
malen und materialen Einwendungen unterliegt,
welche sie keineswegs als das abschließende
wissenschaftliche Werk erscheinen lassen, wel-
ches die Anhänger Herbart's darin sehen.
Ich formuliere meinen Widerspruch, ihn auf prin-
cipielle Punkte einschränkend, kurz dahin:
Erstens. Nach dem Verf. ist der wirkliche
Gegenstand der Ethik eine auf objektiven Grün-
den ruhende, wissenschaftliche, allgemeingültige
Werthschätzung (S. 11). Diese Werthschätznng
ist die innere Stimme, welche niemals völlig ver-
stummt (S. 96); in ihr wird unmittelbar Gewisses
und Eviaentes erkannt (S. 113). Es kommt dazu
nur auf die ruhige klare Auffassung des Ver-
hältnisses «an (S. 154). Diese Unmittelbarkeit
des sittlichen Urtheils ist dasselbe wie die bei
ruhiger Klarheit des Inneren und im freien Er-
zeugen des Urtheils unbestochene und unbestech-
liche unmittelbare Stimme des Gewissens (S. 154).
Ich meine, danach müßte man wohl erwarten,
daß das moralische Urtheil zu allen Zeiten sich
Bahn gemacht habe, mindestens als Urtheil, aber
so ist es nach dem Verf. nicht. Selbst durch die
Geschichte der Philosophie zieht sich nach ihm
„ein sehr schmaler Streifen der ethischen Wahr-
heit" (Vorrede) und in der Wissenschaft, wie im
Ziller, Allgemeine philosophische Ethik. 763
Leben, ist Eudämonismus, blos theoretische Gei-
stesentwicklung u. s. w. das Ueberwiegende ge-
wesen (§§. 2, 5, 6). Der Verf. erklärt sich diese
Erscheinung so, daß es ja eine subjective Will-
kür gebe, die auch dem objectiv Notwendigen
gegenüber an ihren Meinungen festhalte (S. 17).
Für einen Herbartianer ist diese Erklärung un-
zulässig, denn nach H e r b a r t steht auch das
geistige Leben unter strengen Gesetzen. Der
Fehler liegt darin, daß H. bei seiner Moral
zwei stillschweigende Voransssetzungen gemacht
hat, daß nämlich alle Menschen zu seiner mora-
lischen Werthschätzung gleichsam in potentia
proxima seien, und daß jeder Mensch den andern
von vornherein als sich gleich ansehe. Nach der
Geschichte ist weder das Eine noch das Andere
zutreffend, und es gilt daher, sowohl diesen ge-
schichtlichen Thatsachen als der Hoffnung auf
eine allgemeingültige Moral wissenschaftlich ge-
recht zu werden. Das ist weder bei Herb art
geschehen noch durch den Verf. nachgeholt.
Zweitens. Was den Inhalt von Her-
bart's moralischer Werthschätzung betrifft, so
kann man sich mit derselben im Ganzen be-
freunden; nur tritt auch aus der neuen Darstel-
lung des Verf. klar hervor, daß das sog. höhere
geistige Leben (s. die Ausführungen über die
Culturgesellschaft) mit Wohlwollen und Gerech-
tigkeit die kurze Summe derselben ist ; die sinn-
lichen Seiten des Lebens (vegetatives und Muskel-
System) werden nur geschätzt als Grundlage für
die genannten Bethätigungen. Es hat das immer
die Gefahr bei sich, daß gerade die meisten
Menschen und ihre Art oft unterethisch erschei-
nen oder noch nicht ethisch. Ich gestehe, daß
ein Vorwalten sinnlichen und körperlichen Le-
bens (Bauer, Arbeiter) getragen von Wohlwollen
und Gerechtigkeit, aber mit geringer Befähigung
764 Gott. gel. Anz. 1881. Sttict 23. 24.
und Neigung für das sog. höhere geistige Leben
mir eine gleiche moralische Wertschätzung zu
verdienen scheint.
Drittens. Daß noch eine ganz andere Be-
handlung der Moral möglich ist, als die, daß die
moralischen Ideen als Musterbegriffe auftauchen
und der Wille die Auflage erhält sich nach ihnen
zu richten, tritt bei dem Verf. am meisten S. 184 f.
hervor. Dort erkennt der Verf. dem Mitgefühl
zwar an sich keinen ethischen Werth zu, aber
es ist nach ihm nicht nur „eine Naturbedingung
fttr die Stärke des Wohlwollens, sondern sogar
eine Naturbedingung, ein psychischer Grund für
das Wohlwollen selbst. In den engeren Kreisen
des Lebens (Familie, Nationalität), in denen die
Menschen in natürlicher Liebe verschmelzen, muß
man auch das Wohlwollen lernen, und nur von
da kann es sich dann in weitere Kreise verbrei-
ten. Denn das Wohlwollen entsteht nur auf dem
Boden des Mitgefühls, es entsteht nur aus Mit-
gefühl". Danach würde sich wohl behaupten
lassen, daß die sittliche Idee des Wohlwollens
gar nicht etwas ist, was als überraschender Mu-
sterbegriff in dem seelischen Leben hervortritt,
sondern daß sie eine Herausarbeitung und Heraus-
bildung elementarer Erscheinungen des seelischen
Lebens ist, allerdings so, daß sich daran der
Nebengedanke anschließen kann, es sei das Beste,
was der Mensch habe. Und ähnlich darf es dann
mit anderen sittlichen Ideen gedacht werden.
Dann ist aber nicht die Zeichnung des Ideals
die Hauptaufgabe der Moral, sondern die Auf-
deckung der elementaren Erscheinungen, aus wel-
chen sich das Ideal entwickelt, und letzteres ist
vor blos poetischen und leicht phantastischen Aus-
malungen eher zu bewahren. Bei dieser Auf-
fassung ergiebt sich auch eine andere Stellung
zur moralischen Praxis, d. h. zu der Frage : wie
Ziller, Allgemeine philosophische Ethik. 765
werden die moralischen Ideen effectives Wollen?
Bei der Auffassung des Verf. stehen die mora-
lischen Ideen gleichsam hoch über dem ge-
wöhnlichen psychischen Leben , obwohl sie sich
als Urtbeile beständig daraus erzeugen, und der
Wille erhält dann den Auftrag ihnen zu folgen,
thut es aber gewöhnlich nicht. Nach der Art,
wie oben der Verf. das Wohlwollen genetisch
entstehen läßt, zeigt sich ein ganz anderer Weg,
nämlich daß aus dem Mitgefühl und seinen un-
willkürlichen Bethätigungen das Wohlwollen als
Thun und als Gesinnung herauswächst, und das
zeigt zugleich, wie zu helfen ist, wenn kein mo-
ralischer Wille vorliegt. Man muß dann die ele-
mentare Grundlage des Wohlwollens anregen, so
kann man hoffen, daß auch ein effectives Wohl-
wollen allmählich erzeugt werde. Ueberhaupt
lassen sich ans der Psychologie, wenn auch viel-
leicht nicht gerade aus der Herbartischen, doch
einer von Herb art angeregten, ganz andere,
d. b. viel concretere Regeln der angewandten Ethik
ableiten, als der Verf. in seinem letzten Ab-
schnitt bringt.
Viertens. Was die Ftinfzahl der Ideen
betrifft, so würde ich leugnen, daß die einzelnen
gleichwertig sind, und behaupten, daß auch bei
Herbart die Idee des Wohlwollens die centrale
Idee ist, daß somit diejenigen Recht haben,
welche behaupten, Ethik fange erst an, wo auf
Andere Rücksicht genommen wird. Denn die Idee
der Vollkommenheit ist in sich neutral, starkes
geistiges Leben kann gut und böse sein ; welches
von beiden es ist, entscheidet sich erst durch
seine Beziehung auf Andere. Diese Beziehung
auf Andere wurzelt aber sowohl als Wohlwollen,
wie als Recht, wie als Vergeltung in dem Mit-
gefühl, es sind dies nur drei besondere Ausge-
staltungen des Mitgefühls. Speciell die Vergel-
766 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 23. 24.
tuog ist das Erregtwerden durch Wohl- oder
Wehethun Anderer gegen uns zu gleichem Thun
oder zur Idee desselben.
Fünftens. Endlich mag noch angedeutet
werden, daß Herbart und die Herbartianer in
einer Selbsttäuschung befangen sind, wenn sie
behaupten, ihre Moral sei unabhängig von ihrer
theoretischen Metaphysik. Nach Herb art sel-
ber — bei Z i 1 1 e r habe ich den Ausdruck nicht
gefunden — heißt es bei der Construction der
flinften Idee: „Die That [gemeint ist die ab-
sichtliche Wohl- oder Wehethat] als Störerin
mißfällt" (WW. v. Hartenstein Bd. VIII S.
57) und zwar als bloße Aenderung des früheren
Zustandes (S. 56—7) und ruft die Vergeltung
gleichsam als Aufhebung der Störung hervor (S.
57). Was heißt das anders als: jedes Wesen
will möglichst in dem Zustand bleiben, den es
gerade hat, gemäß der metaphysischen Vorstel-
lung von dem Sein als absoluter Position, dem
jedes Zusammen mit anderen Wesen an sich zu-
fällig ist und das in solchem Zusammen auch
nur sich selbst erhält gegen drohende Störungen.
Ist man einmal hierauf achtsam geworden, so
sieht man sofort, warum die Vollkommenheit,
d. h. starkes Wollen, bei Herb art schlechthin
gefällt, es spiegelt sich darin eine starke Selbst-
behauptung der einfachen Wesen ab. Aber auch
Wohlwollen und Becht vermeiden die Störung;
denn das Mißfallen am Streit erzeugt nach Her-
bart das Becht, und das Wohlwollen begleitet
nach ihm den vorgestellten fremden Willen har-
monisch, d. h. erkennt ihn als absolute Position
praktisch an, wie ja seine Metaphysik theoretisch
gegen eine Mehrheit einfacher Wesen nichts hat.
Die innere Freiheit endlich als Folgsamkeit des
Willens gegen die Einsicht vermeidet den Con-
flict, d. b. die Störung im Einzelwesen selber.
Ziller, Allgemeine philosophische Ethik. 767
Herbart hat selbst gesagt: „das eigene Ge-
biet der Sittenlehre erreicht man nicht auf dem
Wege falscher Psychologie" (WW. IX, 366) ; fer-
ner: „für die Psychologie ist das sittliche Be-
wußtsein allerdings Eine aus der Reihe der vie-
len Thatsachen, die sie zu erklären hat" (WW.
VIII, 211), und unter Psychologie versteht er
ausdrücklich „die von Metaphysik und Mathe-
matik zugleich ausgehende Lehre von den vor-
stellenden Wesen" (ibid.). Es ist demnach sehr
begreiflich, daß seine theoretischen metaphysi-
schen Lehren in der moralischen Werthschätzung
durchbrechen. Ich habe diese letztere Betrach-
tung blos gegeben, um eine Thatsache zu con-
statieren, die vielleicht auch manche Besonderheit
der Herbartischen Moral erklärt. Für meine
Person gründe ich die Moral nicht auf Meta-
physik. Baumann.
La philosophie seien tifique. Science, Art et
Philosophie. Matkematiques, sciences physiques et na-
turelles, sciences sociales, art de la guerre par H.
G i r a r d , capitaine en premier du gdnie, ancien pro-
fesseur de mathe'matiques supe'rieures, professeur d'art
militaire et de fortification. Paris, Bruxelles, 1880.
406 SS. Gr. 8°.
Dies Buch kann allen denen empfohlen wer-
den, welche Freude daran haben, wenn in einer
wissenschaftlichen Arbeit zugleich die Persönlich-
keit des Verfassers und die besonderen Umstände,
unter denen und durch die er zu seiner Arbeit
kam, lebhaft und doch den Ernst der Sache
nicht störend hervortreten. Der Verfasser ist als
belgischer Militärlehrer von mathematischen Fra-
gen zuerst zu seinen Untersuchungen geführt
worden, und kriegswissenschaftliche Betrachtun-
gen mischen sich in dieselben oft ein. Seine
philosophische Bildung beruht überwiegend auf
französischem und belgischem Einfluß, aber auch
768 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 23. 24.
deutsche Untersuchungen, besonders über die
Grandlagen der Mathematik, kennt er. Das, was
Verf. für die Philosophie erstrebt, ist eine „re-
constitution scientifique sur le fondement exclasif
des realites et d'aprta nne vue syuthetique qui
ramine toutes les sciences, sans exception, a
l'unita d'ane conception fondamentale commune".
Er beansprucht nicht mehr, als eine Anregung
zur Lösung dieser Aufgabe durch seine Unter-
suchungen gegeben zu haben. Seine allgemein-
sten Ueberzeugungen sind : erst die letzten Jahr-
hunderte haben die wahren Fundamente der wis-
senschaftlichen Forschung gelegt; die positive
Philosophie (Comte's) ist zu achten, aber ihre
Ausschließlichkeit zu verwerfen ; denn das Stre-
ben des Menschen nach dem Idealen ist ebenso
gewiß als die materiellen Facta selbst. Er ver-
bietet daher transcendente Untersuchungen nicht,
nur will er zur eigentlichen Wissenschaft blos ge-
rechnet haben, was „verifiable par Fexp6riencea
sei. Die Wissenschaft selbst setzt sich aus einem
subjectiven und objectiven Element zusammen;
den Materialismus verwirft er, in den wissen-
schaftlichen, künstlerischen, socialen Bestrebun-
gen sieht er „une faculty cicatrice, une sponta-
nea transcendantetf. Auf die einzelnen Unter-
suchungen und ihre Resultate einzugehen, würde
heißen den Zweck des Buches verkennen, es will
anregen, nicht direct docieren. Diese anregende
Wirkung erreicht es ; selbst wer der gesammten
Tendenz des Verf. nicht zustimmt oder wer in
einzelnen Punkten weit von ihm abweicht, wird
mit Interesse seine Bemühungen begleiten und
auch die gelegentliche Breite ihm gerne nach-
sehen. Baumann.
Fflr die Redaction rerantwortlich : F. BechM, Director d. Gott. gel. Am.
Verlag der DiiUrick'schm Vmfaffs-BuchJumdhmff,
Druck der Dietaich* sehen Univ.- Buchdruck*« (W. &r. Kmstner),
769
G ö t ting is che
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König]. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 25. 26. 22. u. 29. Juni 1881.
Inhalt : H. Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi. Vom
Verfasser. — 0. K e 1 1 e r , Epilegomena zu Horaz. Von Dr. Häussner.
— £. Berner, Zur Verf assongsgeschichte der Stadt Augsburg. Von
X. Zeumer. — Eugene Revillout, Chrestomathie demotiqne.
Derselbe, Nouvelle Chrestomathie demotique. Von Ä. Ermann. —
P. Devaux, Stades politiques snr les principaux e'venements de l'hi-
stoire Romaine. Von J. Plac. — Berichtigung. Yon 0. Köhler.
rs Eigenmächtiger Abdruck *on Artikeln der Gott. gel. Ans. verboten a
Die Lehre von der Gottheit Christi. Communi-
catio idiomatum. Dargestellt von Dr. Hermann
Schultz in Göttingen. Gotha. Friedrich Andreas
Perthes. 1881. XII und 731 S. 8°.
Der Unterzeichnete will in diesem Buche
den wissenschaftlichen Ausdruck für die reli-
giöse Werthschätzung geben, welche die christ-
liche Gemeine ihrem Stifter von jeher gewid-
met hat, — also den christlichen Glauben, daß
Christus für die an ihn Glaubenden vermöge
der Wirkungen, welche von ihm ausgehen, gött-
lichen Werth beansprucht, dogmatisch entfalten.
Es handelt sich nicht um eine Kritik dieses
Glaubens vom Standpunkte der außerchristlichen
Weltanschauung. Derselbe wird vielmehr vom
christlichen Standpunkte aus beurtheilt und in
seiner Unentbehrlichkeit für die christliche Ge-
meine erwiesen. Aber die theologischen Schul-
formen, in welchen sich dieser Glaube seinen
dogmatischen Ausdruck gesucht hat, werden
49
770 Gott. gel. Anz. 1881. Stuck 25. 26.
einer dogmatischen Prüfung unterzogen. Und
das Augenmerk der Untersuchung ist vorzugs-
weise auf diejenige christologische Schulform
gerichtet, in welcher die lutherische Kirche den
Glauben an die Gottheit Christi ausgedrückt
hat, — auf die Lehre von der Gommunicatio
idiomatum, d. h. von der Durchdringung des
menschlichen Lebens in Christus durch die
Kräfte und Eigenschaften der sich in ihm offen-
barenden Gottheit.
Das Buch giebt zuerst (bis S. 318) eine kri-
tische Geschichte der Lehre von der Gottheit
Christi. Dabei ergiebt sich, daß der Glaube an
diese Gottheit selbst überall die feste Voraus-
setzung ist, wo das Christenthum als Weltreli-
gion sich über die Schranken der jüdischen
Sekte oder der philosophischen Schule erhebt.
Für die eigentliche religiöse Entwicklung in
der Kirche kommen diejenigen Richtungen nicht
in Betracht, welche Christus nur als den ver-
klärten Religionsstifter ansehen, oder die Christus-
idee von ihrem geschichtlichen Träger ablösend
den historischen Charakter des Christentums
verflüchtigen. Aber ein fester dogmatischer
Ausdruck für diesen Glauben findet sich in den
ersten Jahrhunderten der Kirche nicht. Erst die
Kämpfe des vierten Jahrhunderts schaffen ihn
in der Form der Lehre von zwei Naturen in
Christus und ihrer persönlichen Einheit, sowie
von der Durchdringung des menschlichen Le
bens Christi durch Kräfte der Gottheit, durch
welche das menschliche Leben dann überhaupt
einen überweltlichen Charakter . empfängt. In
dieser Form wird das Dogma kirchliches Lehr-
gesetz. Aber seine Ausprägung ruht auf einer
Ansicht vom Werke Christi, welche eng mit der
aus der Naturreligion übernommenen physischen
Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi. 771
Schätzung der Heilsvorgänge zusammenhängt.
Und die Lehre von zwei Naturen in Christus
einerseits, die Lehre von der lebendigen Durch-
dringung beider andrerseits sind ihrem tiefsten
Grunde nach auseinanderlaufende Richtungen.
Die erste, zu einem mit dem Heilsleben nicht
mehr eng zusammenhängenden Geheimnisse ge-
worden, wird von der mittelalterlichen Schola-
stik und in moderner Weise in der reformierten
Kirche weitergebildet. Die andre, aus lebendi-
gem Glaubensinteresse geboren, wird in der lu-
therischen Kirche neu gestaltet und in den Weg
geleitet, welcher folgerichtig zum Aufgeben der
Formel von den zwei Naturen führen mußte.
In dieser Richtung haben alle christologischen
Versuche seit dem Zerfallen der altkirchlichen
Orthodoxie sich bewegt, und es prägt sich im-
mer mehr ein Consensus in Bezug auf das
Dogma von Christus aus, welcher auf neuen
Grundlagen ruht, d. h. die Gottheit Christi so
auffaßt, daß in der geschichtlichen menschlichen
Persönlichkeit und ihrem Werke die sich offen-
barende Gottheit sich vollkommnen Ausdruck
für uns geschaffen hat.
Von S. 318 — 469 werden dann zum Zwecke
der Begründung der positiven dogmatischen
Darstellung die biblischen Grundlagen des Glau«
bens an die Gottheit Christi entfaltet. Zuerst
die alttestamentlichen Voraussetzungen dieses
Glaubens und ihr Zusammenbang mit der bibli-
schen Auffassung des Gottesbegriffes. Sodann
seine geschichtliche Vollendung durch Jesu Le-
ben und Selbstoffenbarung. Endlich das Ver-
ständnis dieses Glaubens in der Apostelgemeine,
— wie es, mit der escbatologischen Auffassung
der Gottheit des Verklärten beginnend, durch
Paulus vertieft und in einen theologischen Zu-
49*
772 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
sammenhang gebracht, — bei Johannes seine
ausgeprägte Gestalt empfängt. Es wird dabei
der Grundsatz ausgesprochen, daß eine evange-
lische, d. h. schriftgemäße, Darstellung der Lehre
von der Gottheit Christi sich innerhalb dieser
biblischen Grenzen bewegen, d.h. den ursprüng-
lichen Glauben an den verklärten Herrn als
Ausgangspunkt, die theologischen Gedanken-
kreise bei Paulus und Johannes als terminus ad
quem ansehen muß. *
Auf diesen Grundlagen wird die dogmati-
sche Darstellung des Glaubens an die Gottheit
Christi versucht. Zuerst, bis S. 548, wird die
dogmatische Gewißheit dieses Glaubens darge-
legt. Sie ergiebt sich weder aus einer Speku-
lation über das Wesen Gottes, noch aus einer
Betrachtung der Persönlichkeit Jesu abgesehen
von seinem Werke, — sondern aus den Erfah-
rungen der Gemeine von den Wirkungen die-
ser Persönlichkeit. Denn diese Erfahrungen
zwingen den Glaubenden, Jesus und seine Le-
bensarbeit nicht bloß historisch und ethisch,
sondern vor Allem religiös in Betracht zu zie-
hen, — wobei aber die religiöse Beurtheilung
der Wahrheit der ethischen Auffassung nicht im
Wege stehen darf. Solange man das Wirken
Jesu als bloße Mittheilung einer Lehre auffaßt,
oder seine Lebensarbeit nur als auf Gott ge-
richtete beurtheilt, kann man der Gottheit
Christi nicht gewiß sein. Wohl aber wenn man
diese Lebensarbeit als die vollkommne Offen-
barung des göttlichen auf das höchste Ziel ge-
richteten Liebeswillens auffaßt. Dann erscheint
das Werk Jesu ethisch als das Opfer seines
Lebens an Gottes höchsten Zweck, als Stiftung
des vollkommnen Bundes und als Befreiung der
Gemeine aus der Herrschaft des Weltfürsten
Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi. 773
durch siegreichen Kampf und durch stellvertre-
tendes Leiden. Religiös aber erscheint es
als die schöpferische Offenbarung des göttlichen
Willens, an welche die Gemeine sich innerlich
gebunden weiß, als die gnädige Offenbarung
der Liebe und Treue Gottes, in welcher die Ge-
meine den Grund ihrer religiösen Seligkeit hat,
— und als die königliche Offenbarung der
Herrschaft Gottes über die Welt, durch welche
die Gemeine der Herrschaft über die Welt ge-
wiß ist. Da sich diese Wirkungen von der Per-
son Jesu nicht ablösen lassen, sondern nur in
ihr wirksam und uns zugänglich sind, so muß
uns die Person Jesu im Zusammenhange ihres
Wirkens der Gegenstand vollkommner religiöser
Abhängigkeit, Liebe und Zuversicht sein, d. h.
wir müssen ihm das Prädikat der Gottheit bei-
legen. Diese Gottheit ist dem in der Gemeine
als einer Einheit wirkenden religiösen Principe
(dem heiligen Geiste) gleichartig,, unterscheidet
aber Jesus schlechthin von jedem einzelnen
Gliede der Gemeine. Sie ist nicht mit der re-
ligiösen und sittlichen Vollkommenheit seines
menschlichen Lebens identisch, — aber sie ist
nur möglich unter Voraussetzung derselben. Sie
muß mit der Gottheit des einen persönlichen
Gottes wesenseins sein, — aber sie ist nur ver-
ständlich auf dem Grunde eines wahren persön-
lichen menschlichen Lebens. Sie kann keinem
NichtChristen erwiesen werden, sondern setzt die
Ueberzeugung voraus, daß das im Christen-
thume offenbarte Reich Gottes der ganze und
vollkommne Weltzweck Gottes sei.
Was nun diese Gottheit Christi näher bedeu-
tet, wird bis S. 628 zunächst an der christlichen
Lehre von Gott untersucht. Christus kann nicht
Gott neben dem einen Gott sein, sondern nur
774 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25.26.
in ihm and aas ihm, also Offenbarung
Gottes, — des Gottes, welcher im Reiche Got-
tes als die persönliche Liebe erkannt wird, die
ohne einen Rest unbegriffner Substanz als die
freie und tiberweltliche allmächtig-allweise Ur-
sache der Dinge, und als sich selbst vollkom-
men offenbar, d. h. als Licht und Wahrheit,
sich kund giebt. Dieser persönliche Gott kann
in der menschlichen Persönlichkeit Christi nur
so sein, wie eine Persönlichkeit in einer an-
dern ist, d. h. durch Zeugung. Christus ist der
Sohn Gottes. Und nicht dadurch sind wir
berechtigt, Christus Gott zu nennen, daß in ihm
menschliche Eigenschaften, welche den göttlichen
ähnlich sind, in hoher Vollkommenheit vorhan-
den gedacht werden, — sondern nur dadurch,
daß die göttlichen Eigenschaften, so wie sie in
Gott sind, also weltschaffend und -regierend,
und schlechthin überweltlich, auch in Christas
sich uns offenbaren. Wenn das der Fall ist, so
ist Gott vollkommen und wesenhaft persönlich
in Christus offenbar. Denn Gott ist nicht eine
geheimnißvolle naturartige Substanz , sondern
Geist, — und Christus ist dann als der geistige
Mensch, der Herr des Geistes, gleich-
werthig mit der Weltidee Gottes. Dann ist also
in Christus allerdings nicht der eine persönliche
Gott (der Vater) Mensch geworden, aber das
vollkommne Offenbarungs-Wesen dieses Gottes,
wie es ewig in ihm and ihm wesensgleich ist,
— d. b. das göttliche „Wort", — welches die
Welt schafft und zu ihrem Ziele führt, — und
in Gott wie in Christus persönlich, aber nicht
eine Persönlichkeit neben beiden ist. Dieses in
Christus menschlich verwirklichte Gotteswort ist
an sich selbst ewig real in Gott und für Gott.
Christas aber als der „Gottmensch" ist nur als
Schultz, Die Lehre ron der Gottheit Christi. 775
Zweckgedanke, der die Welt bedingt, in Gott
ewig, d. h. präexistent.
Wie nun diese Gottheit einem wahren Men-
schen eignen könne, wird bis S. 669 an der
christlichen Anthropologie aufgezeigt. Die not-
wendigen Bedingungen des fleischlich-irdischen
Lebens hindern die Gottheit Christi nicht. Denn
er soll nicht als Natur wesen Gottes „Natur",
sondern als Persönlichkeit Gottes persönliches
Leben zum Ausdrucke bringen, und die reli-
giöse Anschauung von der Idee des Menschen
gestattet, anzunehmen, daß ein Mensch den vol-
len Inhalt des göttlichen Lebens zum Ausdrucke
bringe, — natürlich als Offenbarung Gottes,
und so daß dieses Leben religiös empfangen
und sittlich entfaltet wird. Indem so die
menschliche Persönlichkeit Ausdruck Gottes, sein
vollkommnes Ebenbild, wird, verliert sie
nicht den Charakter einer menschlichen Per-
sönlichkeit, sondern bringt denselben erst
zur vollen Entfaltung. Und für den Werth
einer solchen Persönlichkeit muß die irdische
Weise des Daseins nothwendig als eine unan-
gemessene erscheinen. Erst in verklärtem gei-
stigen Sein kommt sie zu einer ihrem wahren
Wesen entsprechenden Erscheinung.
Auf diesen Voraussetzungen wird dann 670
— 712 die eigentlich dogmatische Ausprägung
der Lehre versucht. Sie lehnt sich an das
lutherische Schema von der Communicatio idio-
matum und ihren drei genera an. 1) Das
Werk Christi ist uns ebensowohl Werk Gottes
als Menschen werk , und nur deshalb kann es
die Grundlage unsrer Seligkeit sein. Also sind
im Heilswerke, — nicht in Gottes Wirken über-
haupt, oder in den Bethätigungen Jesu, welche
nicht mit dem Heilswerke zusammenhängen, —
776 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
göttliches und menschliches Wirken schlechthin
verbunden, aber jedes von beiden wirkt auf die
ihm eigentümliche Weise (genus apotelesma-
ticum). 2) Darum ist uns die menschliche Per-
sönlichkeit des Erlösers, als Trägerin der gött-
lichen Offenbarung, mit den Eigenschaften Gottes
ausgestattet, welche, indem sie sich als menschliche
Eigenschaften offenbaren, ihren göttlichen Cha-
rakter unverändert bewahren. Von Gottes Seite
sind diese Eigenschaften Christus von Ewigkeit,
durch einen ewigen Willensentschluß, gegeben.
Aber sie werden nicht in einem geheimnißvollen
Naturzustande, sondern in dem sittlichen Er-
löserwerke wirksam. Auf Grund dieser Com-
municatio ist uns Christus Licht, Liebe,
Leben und Wahrheit. Und die göttlichen
Eigenschaften entfalten sich in der menschlichen
Form des Daseins auf Erden, d. h. in einem
zeitlich-räumlich bedingten, abhängigen und lei-
densfähigen Dasein. Erst der Verklärte besitzt
sie in einer ihnen entsprechenden menschlichen
Seinsform. Mit den göttlichen Eigenschaften
empfängt die menschliche Persönlichkeit Christi
als Trägerin der Offenbarung auch die gött-
liche Asettät, als vollkommne Freiheit, —
und die Unendlichkeit als ewige Präexistenz
in Gott, (genus majestaticum der lutherischen
Lehre). 3) Wegen dieses göttlichen Inhalts sei-
ner menschlichen Persönlichkeit ist Christus für
unsern Glauben ebensowohl Gott wie Mensch,
je nachdem wir an seine religiöse Bedeutung
für uns oder an seine geschichtlich-sittliche Stel-
lung denken. Er ist Gegenstand der Anbetung,
als die einzige Persönlichkeit, in welcher sich
Gott seiner Gemeine persönlich, wesenhaft und
vollkommen naht. So ist die Doxologie der
Gemeine die normale Art der Anbetung Christi.
Schultz, Die Lehre von der Gottheit Christi. 777
Die Gemeine hat in dieser Persönlichkeit voll-
kommen Gott, und hat ihn nur in ihr.
Aber Gott hat seine Offenbarung in aller Welt
nicht auf diese menschliche Persönlichkeit be-
schränkt, (genus idiomaticum).
An diese dogmatische Ausführung schließt
sich als Anhang eine kurze Darstellung der
Lehre von Jesus als dem Christus, d. h. von
der Beurtheilung der menschlichen Aus-
rüstung und Entwicklung Jesu im
Lichte des Glaubens an die Gottheit
Christi. (Lehre von den Ständen). Die
menschliche Persönlichkeit Jesu als die von
Gott zum Organ seiner Selbstdarstellung von
Ewigkeit bestimmte, kann von dem Glauben
nur als ein Wunder, aus dem Geheimnisse
der Kräfte des Geistes Gottes verstanden
werden. Aber dieser Glaube hat an sich mit
der Frage nach der Art der natürlichen Ent-
stehung Jesu Nichts zu thun, und es darf nicht so
gedacht werden, als ob eine Verstümmlung des
natürlichen Lebens, welche eine „Unmöglichkeit
der Sünde" hervorriefe, Jesu Einzigkeit ver-
ständlich machte. Vielmehr ist an eine ein*
zigartige geistige Kraft zu denken, welche
Sündlosigkeit ermöglicht, aber wahre Versuchung
nicht ausschließt. Sie allein entspricht dem Ein-
drucke, welchen die Gemeine von Jesus em-
pfangt. Für Gott ist schon das werdende Jesus-
kind der Ort seiner Selbstoffenbarung. Aber
geschichtlich ist erst der Heiland, welcher durch
Kampf und Versuchung hindurch sein Werk
vollendet bat, wirklich Offenbarung Gottes ge-
worden. Bis dahin wird Jesus erst das, was
er in Gottes Rathschlusse von Ewigkeit ist, —
und es ist immer noch eine Scheidung zwischen
diesem Menschen und dem was er sein soll, an
778 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
sieb möglich Bis dabin also ist ein Stand des
Werdens, die Niedrigkeit — und das Leben Jesu
entfaltet sich, ohne durch die Universalität sei-
ner Aufgabe die Bedingungen menschlicher In-
dividualität zu verlieren, und ohne durch die
einzigartige Herrlichkeit seiner Anlagen und
Kräfte und die Göttlichkeit dessen, was er offen-
bart, den Grenzen menschlich-irdischer Entwick-
lung enthoben zu sein. In der Verklärung aber
ist Jesus mit seiner Aufgabe völlig eins und zu
dem völlig angemessenen Ausdrucke des gött-
lichen Lebens geworden, welches er in sich
trägt. Er ist Geist und Gott, und ist Stamm-
vater der neuen göttlichen Menschheit. Aber er
ist bei dem einen persönlichen Gott als der
verklärte Gottessohn, der zu seinem und unserm
Gott, zu seinem und unserm Vater gegangen ist.
Göttingen. H. Schultz.
Epilegomena zu Horaz. Von Otto Keller.
3 Theile. Leipzig, Teubner 1879—80, X u. 889 S. 8°.
Als in den Jahren 1864/69 die kritische Aus-
gabe des Horaz von Keller-Holder erschien,
begegnete sie manchfachen Ausstellungen. Man
war nach dem Vorgange Bentley's gewohnt,
den Blandinischen Codices in der Textgestal-
tung den ersten Rang einzuräumen, und so
konnte es nicht fehlen, daß ein principielles
Preisgeben dieser Hss. zu heftiger, schließlich
geradezu gereizter Polemik führte. Außer die-
sem grundsätzlich verschiedenen Standpunkt der
K e 1 1 e r - H o 1 d e r ' seh en Becension veranlaßte
aber auch die Kritik im Einzelnen um so mehr
zu Controversen, als die kritischen Vorbemer-
kungen im Ganzen etwas knapp waren. Die
1878 erschienene editio minor hatte, ihrem
Zwecke entsprechend, von jeder kritischen Ein-
Keller, Epilegomena zu Horaz. 779
leitung Umgang genommen. Die Erwartung
der Fachkreise von einer eingehenden Darle-
gung des krit. Verfahrens ist nun erfüllt in den
jetzt abgeschlossenen Epilegomena. Das um-
fangreiche Werk (889 SS.) soll ein „fortlau-
fender Commentar zu allen irgend
kritisch interessanten Stellen desHo-
raz, eine Erläuterung des in den bei-
den Ausgaben gegebenen kritischen
Apparats" sein (Vorwort p. V.)
Dieser Bestimmung entsprechend besteht der
Haupttheil des Buches (S. 1—776) aus einer
durch sämmtliche Carmina, Epoden u. s. w.
durchgebenden Untersuchung und Feststellung
des Textes, einer adnotatio critica in extenso.
An diesen kritisch commentierenden Theil schließt
sich unter „Schlußbetrachtungen" ein
allgemeiner Theil an (S. 777—835), in welchem
gehandelt wird 1) vom „Archetyp", 2) von
den „Handschriften", 3) von den „Scho-
llen und Grammatikern", 4) von den
„Principien und Leistungen der Her-
ausgeber". Als 5ter Abschnitt tritt dazu
eine „Classificierungstabelle", durch
welche K. sein eigenes kritisches Princip illu-
strieren will. Den Schluß des Buches bildet
ein von R. Kukula verfaßtes „Register"
(S. 837-889).
Es kann hier nicht unsere Absicht sein, in
die Fülle von Details des Keller' sehen Wer-
kes einzugehen. Wenn es die Natur des Gegen-
standes bei den hundert und tausend Horaz-
controversen mit sich brachte, daß fast auf je-
der Seite Ansichten Anderer zu bekämpfen wa-
ren, so darf daneben constatiert werden, daß der
Verf. auch eigene, früher verfochtene Ansichten
ebenso schonungslos opferte, wo eine erneute
780 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
Prüfung ihn unterdeß zu andern Resultaten ge-
führt. Zweck dieser Zeilen ist auf den Gang
der Untersuchung hinzuweisen und die Haupt-
resnltate, welche der um Horaz hochverdiente
Verf. nach fast 20jähriger Beschäftigung mit dem
Dichter hier niedergelegt hat, zusammen zu fassen.
Der ganze krit. Commentar ist eine Recht-
fertigung des in den krit. Ausgaben, besonders
in der edit, minor gegebenen Textes. Nur an
wenigen Stellen finden wir eine Abweichung
von dem Texte der letzteren. E. hatte, wie
Hirschfelder (Bursian's Jahresber. XVII,
p. 91 ff., vgl. auch M e w e s Philol. Jahresb. 1879
p. 80 ff.) aufzählt, gegenüber der ersten Aus-
gabe an 21 Stellen statt der hs. LA. Conjectu-
ren Anderer in die ed. minor aufgenommen.
Von diesen recipierten Conjecturen retractiert
er nun in den Epileg. a. p. 253 das momen Rib-
beck's und setzt mit ausführlicher Begründung
und wofür auch Hirsch felder (aaO. p. 96)
sich ausspricht, wieder das handschriftliche no-
men. Epist. I, 18. 15 wird die Stelle auch nach
der früher aufgenommenen Conjectur Muret's
(rixator) für ebenso bedenklich gehalten, wie
nach dem gewaltsamen Interpunktionsversuche
von Haupt und Döderlein. K. empfiehlt
dafür jetzt die ganz verschollene Conjectur
Withofs pro pugno für propugnat. Serm. I,
10, 27 wird das hs. oblitus gegen Bent ley 's
oblitos wieder bevorzugt. Serm. I, 2, 86 wird
die Conjectur K i e ß 1 i n g ' s Thraectbus fallen ge-
lassen gegen das hs. regibus. C. II, 14, 27 ist K.
für superbis ; c. III, 21, 5 für nomine. Ferner kehrt
K. serm. II, 3, 1 wieder zur LA. der edit I sic
zurück (die ed. minor hatte si); a. p. 29 wird
die in der ed. min. aufgenommene Interpunk-
tion Jeep's als zu gekünstelt verworfen and
Keller, Epilegomena zulHoraz. 781
zur LA. des Archetyps zurückgekehrt; ebenso
zieht E. a. p. 32 das allerdings nur schwach
bezeugte (dafür ist blos cod. Graevianus d) und
„wahrscheinlich gar nicht im Archetyp stehende"
unus, das auch Bentley hat, dem imus der
ed. I u. II vor, „weil es dem Sinn mehr ent-
spricht"; c. I, 28, 17 u. 18 schlägt K. vor, die
beiden VV. nach V. 19 u. 20 zu setzen, „weil
dadurch der Anschluß compacter werde". —
Die in der ed. min. und zum Theile auch in
den „kritischen Beiträgen" aus Zweckmäßig-
keitsgründen weggefallenen Codices im Hsver-
zeichniß (ß ß' ß" ö* ? E' Z M a' & p q e f h m n p q
r s t) sind wieder aufgenommen. Dazu tritt noch
ein cod. ä = Augiensis, jetzt Caroliruhensis
ganz neu hinzu.
Zu jedem Gedichte, jeder Strophe, fast jeder
Zeile des Dichters wird die hs. Ueberlieferung
untersucht, von der Kritik erhobene Einwände
besprochen und schließlich die richtige LA. fest-
gestellt. Ist der Text des Archetyps eruiert, so
wird die Entstehung falscher LAA. nachgewie-
sen (vgl. c. I, 1, 7; 2, 18; 3, 37; c. III, 4, 10;
IV, 6, 14, 25; 7, 15 u. s. w.).
Zur Stütze der recipierten LA. werden die
testimonia immer ganz angeführt (vgl. I, 1 ff.,
I, 3, 25 — 36 etc.), Nachahmungen und Parallelen
alter und neuer Autoren (I, 3, 19; 4, 16; 15, 5
etc.) beigezogen. Dabei lag es in der Natur
der Sache, daß nicht selten auch auf die eigent-
liche Exegese einzugehen war (vgl. c. I, 3, 18;
4, 8; 16 ff. c. I, 12; 13; c. IV, 8, 17 etc.). Fast
auf jeder Seite des Buches ist auf die Oommen-
tare älterer wie neuerer Gelehrten Bezug ge-
nommen. In frischer Sprache wird gegenüber
einer nörgelnden Interpretation, die wenig Liebe
zum Dichter verräth, bisweilen auf die schelmi-
782 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
sehe Natur des Dichters hingewiesen (vgl. c. I,
4, 16; I, 22; I, 38; I, 28 etc.) und die Eigen-
art desselben in sprachlicher und sachlicher Be-
ziehung eingehend beleuchtet. Der Conjectural-
kritik ist überall Rechnung getragen und damit
einem berechtigten Wunsche, den besonders die
in Angabe von Gonjecturen sehr karge edit,
min. laut werden ließ (vgl. Hirsch felder aaO.
92), genUgt. Während z. B. im krit. Apparat
der ed. min., wie Mewes (phil. Jahresb. 1879)
anführt, in den ersten 10 Gedichten nur 5 Mal
Conjecturen erwähnt werden, zählten wir auf
die gleiche Zahl von Gedichten 9 Stellen. Zu
c. II, 20, 6 werden nicht weniger als 13 Gon-
jecturen angeführt. Auch von den neuem und
neuesten Erscheinungen auf dem üppigen Boden
der Horazliteratur ist in den Epileg. Notiz ge-
nommen. Vollständigkeit freilich wird in die-
sem Punkte kein Sterblicher verlangen; denn
die Zahl der Horatiana ist Legion. Doch hät-
ten wir gerne noch auf Einiges aufmerksam
gemacht :
Carm. 1, 1,35 hat K. bei „fast gleicher" Ver-
theilung der Tradition sich für das Fut. inseres
entschieden, das „correcter und bescheidener
ist, während die präsentische Wendung sich et-
was aufdringlich ausnimmt". Wir halten um-
gekehrt mit Schütz (2. Aufl.) und And. das in-
seris für besser, da gerade im Futurum eine
gewisse, wenn auch leise Aufforderung an Mäcen
liegt, ihn unter die lyr. Dichter erst einzureihen.
Das Präsens constatiert, daß ihn Mäcen bereits
unter die lyr. Dichter versetzt, schließt also den
Schein der Anmaßung mehr aus; Schütz ver-
weist überdies noch auf die Concinnität mit cohi-
bet und refugit. — C. I, 3 hält K. für eines der
frühesten Gedichte, das also nicht auf die letzte
Keller, Epilegomena zu Horaz. 783
Reise Vergil's sich beziehen könne* Uns scheint
das Argument, das lediglich aus der starken
Nachahmung griechischer Originale genommen
ist, zu schwach, namentlich gegenüber dem
Hinweis des Scholiasten auf die letzte Reise des
Dichters. Christ (Fast. Horat. epicr. p. 8 ff.)
hat mit Recht daraui aufmerksam gemacht und
mit Zurückweisung aller andern Annahmen das
Gedicht in's Jahr 734/20 gesetzt. Wir wollen
noch beifügen, daß nach Schütz1 (2. Aufl.)
Vermnthung, daß dies Gedicht „wirklich ins
Jahr 19 oder 20 gehörig, erst später durch Ver-
sehen in die erste Sammlung hineingerathen ist"
auch jede chronol. Schwierigkeit, durch welche
übrigens E. nicht zur früheren Datierung be-
stimmt wurde, weggeräumt ist. — Zu c. I, 12,
29—32 hätte K. seine ausführliche Darlegung
in den Gott. gel. Anz. 1875, p. 40 ff. über die
Entstehung der Variante quia etc. auch in die
Epileg. aufnehmen sollen. — Zu c. I, 38, 6 hat
K. einst zur Stütze der Construction euro mit
dem Conjunctly den Sabinus citiert, ist aber in
den Epil. davon zurückgekommen, da S. ein
Neulateiner ist. Wir wollen aber nur erinnern an
Lachmann z. Lucr., wo p. 362 eine Reihe von
Stellen für jene Construction angeführt wird. —
Zu den 14 Conjecturen, die K. c. III, 4, 10
(Urnen Apuliae) anführt, sei hier auch noch die
fünfzehnte von Bährens vorgeschlagene: per-
gulae, was nun auch Luc. Müller aufgenom-
men hat, und eine sechszehnte von Herbst:
cellulae aufgeführt. — Epod. 5, 87 fügen wir zu
K/s Conjectur humana invicem noch Madvig's
Vorschlag (advers. crit. II. Bd.) hnmand vice. —
Zu serm II, 3, 57 möchten wir sehr empfehlen
Horkel's (Anal. Hör. 1852, p. 40 ff.) Vermu-
thung anicla mater (st. arnica mater).
784 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
Von den sebr treffenden Conjecturen dessel-
ben Gelehrten hätte vielleicht auch c. IV, 6,
15 tacta depulsum (st. lacte depulsum) sowie
die Interpunction zu ep. I, 16, 31 „die sodesu
Beachtung verdient. — Zu ep. I, 12, 1 ist H o r-
keTs Conjectur Acrillae zurückgewiesen, weil
dieses Wort ein plurale sei. Aber Horkei
verweist (aaO. p. 89) auf Stephan. Byzant,
wonach auch der Singular vorkommt. Uns
scheint die Conjectur Horkel'g trotz
Campe's Vertheidigung des hs. Agrippae
(Fleck. Jahrb. 1877, p. 129 f.) recht wohl ge-
lungen. — Ep. I, 20, 24 hat K. solibus aptum
gegen die Angriffe und gegenüber den Vor-
schlägen, unter denen jedoch weder Roscher's
(Neue Jahrb. 1875, p. 643 f.) vortreffliches sofö-
bus atrum noch 0. Müller 's „praeconum sor-
dibus aptumu (Progr. des Luisenstädt. Gymn. z.
Berl. 1876) sich befindet, in Schutz genommen.
Er sieht für die Bedeutung von aptus „für die
Sonnenstrahlen empfänglich, geschickt um
sie aufzunehmen" ein vollständiges Analogon
bei Lucr. VI, 961. Wir müssen das be-
streiten. In der Lucrezstelle (accedit uti non
omnia corpora . . . eodem praedita sensu atgue
eodem paäo rebus sint omnibus aptau , .) ist,
wie die weiterhin angeführten Beispiele zeigen,
gesagt, daß ein und dasselbe Ding (sol, ignis,
umör . .) auf verschiedene Gegenstände ver-
schieden wirkt, also nicht für alle gleich an-
gepaßt, eingerichtet, entsprechend,
oder von gleicher Wirkung begleitet
ist. Dieser Gebrauch des aptus von der Fähig-
keit, Wirkungen auszuüben, kann auf das
solibus aptum hier gewiß keine Anwendung fin-
den, da aptus hier die Fähigkeit, Wirkungen zu
empfangen bedeuten soll. Fleckeisen hat
Keller, Epilegomena zu Horaz. 785
(Jahrb. 1875 S. 643 f. und 1874 S. 814) neben
der sprachlichen Härte noch darauf hingewiesen,
daß am Ende jeder Mensch „für die Sonnen-
strahlen geeignet" sei. Offenbar brauchen wir
hier irgend einen weitern Zag zu dem von H.
gegebenen Signalement. Wenn nun zu dem
corporis exigui und praecmum durch ein solibus
ustum (Herbst) oder atrum (Röscher) noch
ein „gebräuntes Gesicht" hinzutritt, so ist, wie
Fleckeisen richtig sagt, das Bild des Dich-
ters mit einem wesentlichen Zuge bereichert.
E. meint nun, dem Bleichsein epist I, 19, 17,
das Horaz von sich negiert, möchte eher eine
röthliche oder braune Gesichtsfarbe gegenüber-
stehen, und zur Eigenschaft des Jähzorns stimme
die rothe Gesichtsfarbe am besten. Aber, wenn
nicht EL gegen die natürliche Wirkung der Son-
nenstrahlen gefeit ist, kann denn die Folge des
Sichsonnens auch bei einem jähzornigen Men-
schen eine andre sein, als daß die Haut ge-
bräunt wird? Aptum muß nach unserer Mei-
nung ein Verderbniß sein und wir zweifeln
nicht, daß Bosch er mit seinem diplomatisch
überdies so leichten atrum das Bichtige getrof-
fen hat.
Gehen wir nach diesen wenigen Bemerkun-
gen über den commentierenden Theil des Buches
jetzt zum allgemeinen über:
1) Der Archetyp. K. schließt aus der
Eigentümlichkeit der Fehler der II. und III.
Hs.classe auf ein Original in Gapitalschrift, wäh-
rend der Urcodex der I. Gl. offenbar wenigstens
in Uncialen geschrieben sei. Der diesen Classea-
archetypi wiederum zu Grunde liegende „Origi-
nalcodex" wird von ihm in das erste oder
zweite Jahrh. gesetzt; einige Varianten sollen
„möglicherweise" geradezu auf die Zeit des
50
766 Gott. gel. Anz. 1681. Stück 25; 26.
Nero hinweisen. Daraus nämlich, daß k den
Ueberschriften von c. III, 17 und c. 1, 26 neben
Äelius Lamia mit großer Consequent in man-
chen Hss. die Variante Helius Lamia vorkommt,
"was nicht auf einer Verwechslung von A and H
beruhen könne, schließt E. auf die Zeit, wo He-
lios, der berüchtigte Günstling Nero's, seine Rolle
spielte. Uns scheinen die beiden Varianten
zu wenig beweiskräftig. Denn das Auf-
treten der Variante in den Ueb^rschriften
(in V. 1 von c. III, 17 bieten alle Hss. Adius,
in der Ueberschrift überdies auch ABiFy i;
für die Var. Hdius ist keine Hs. angegeben,
auch zu c. I, 26 blos y) ist ganz irrelevant,
wenn diese wie Keller (anders Eießling,
der sie in die Zeit des Augustus setzt) will,
erst n a eh Porphyrio fallen (s. Epileg. z. c. III,
1 p. 187). Außerdem werden im Register 64
Fälle aufgezählt, wo die Hss. die Aspiration bie-
ten, unter diesen 24 Wörter, die an 48 Stellen
dem anlautenden Vokal h vorsetzen. Zur Ver-
wechslung übrigens von A und H vgl. hetna
c. III, 4, 76; a. p. 465. — Die andere Variante
ist a. p. 387, wo neben Maecii, tnecü auch tnb-
tii (u) und metij (C) vorkommt. K. meint, wer
Metii erfand, erinnerte sich wohl an den be-
rüchtigten Delator Melius Garns, den Freige-
lassenen des Nero. Aber die Verwechslung voft
t Und c ist so außerordentlich geläufig, daß wir
daraus keinen Schluß ziehen mögen ; gerade it
scheint dafür eine Neigung zu haben, cf. c I,
'25, 11; 36, 14 (Tliratw, Mieitia). Auch sagt
K. (p. 790) selbst, daß die Sonderlesarten von
u als „mittelalterliche willkürliche Abweichun-
gen vom Archetyp anzusehen und abzuweisen"
Wien. — Schon der „Originalcodex" muß falsche
LAA. gehabt haben, freilich nach K. lauter
Keiler, Epilegomena zu Horaz. 787
Kacblässigkeitsfehler : laborein st. labore, peregre
aut, das übrigens Lang (Fleck. Jahrb. 1874 S.
391) gegen DuRieu's Conjectur (rus peregreve)
vertbeidigt hat, bibuli st. bibule, simul st semd,
puhres st. putris, auxüii st. auxiti; auch jeden*
falls honorem st. honore (e. I, 7, 8) und peccare
st pacare (a. p. 197) etc. Nur durch solche
Naeblässigkeitsfehler unterscheide sich der Ar-
chetyp von der echten Publication durch Horaz
selbst.
Interpolationen finden sich, abgesehen
von serm. I, 10, 1 — 8, nicht; nur an 2 Stellen,
germ. I, 2, 13 (== a. p. 421) und epist. I, 1,56
(= serm. I, 6, 74) sei anzunehmen, daß ein
auch sonst wiederkehrender Vers, der ursprüng-
lich als Parallele beigeschrieben war, in den
Text gedrungen sei. Vielleicht hätte K. noch
serm. II, 3, 163 (= epist. I, 6, 28) dazu neh-
men können; uns wenigstens hat Teuffel's
Verteidigung keineswegs überzeugt, daß es da-
mit anders stehe, wie mit ep. 1, 1, 56. Wir neh-
men dazu gleich die weitere Athetese epist. I,
18, 91 (die einzige in der edit, min.), für deren
Unechtheit freilich schon die ganz ungenügende
Tradition spricht.
Eine systematische Verschlechte-
rung gegenüber dem Manuscripte des H. bat
nur in orthographischer Hinsicht stattgefunden,
hindern der Schreiber des Archetyps und wohl
schon sein unmittelbarer Vorgänger außerordent-
lich häufig die Wortformen seiner eigenen Zeit
an die Stelle der veralteten augusteischen For-
men gesetzt hat".
2) Die Handschriftenfrage ist am ein-
gehendsten behandelt (S. 780-796). K. hat
über diesen Punkt schon an andern Orten, zu»
letzt im Rhein. Mus. 1878 gesprochen. Die
50*
788 Gott. gel. Am. 1881. Stück 25. 26.
Dreielasseneintheilung tritt klar hervor durch
die Nebeneinanderstellung der Ueberlieferang
der I, II und III (einschließlich der u' Familie)
zu c. III, 12 S. 229 und im Einzelnen durch
die Classificierungstabelle S. 813 ff. Das Resul-
tat ist in kurzen Worten dies: die I. und IL
Gla8se gehen wenigstens in großen Partien auf
eine gemeinsame Specialquelle zurück, welche
der III. Glasse fremd war. Diese letztere, wel-
che die meisten groben Fehler hat, weicht von
I. und IL Glasse bedeutend ab; doch sind die
meisten der vielen Sonderlesarten dieser III. Gl.
entschieden falsch. Im Allgemeinen sind die L
und IL Gl. besser als die III. , die auf ein
Horazexemplar zurückgehe, das sehr schlecht
und ungenau geschrieben gewesen und zu Be-
ginn des Mittelalters von einem Mönche mit
allerlei Schlimmbesserungen ausgestattet worden
sei. Doch finde sich in dieser III. Cl. manch-
mal ein treffliches Korn. — Die Recension
des Mavortius, die sich nach E. auf den gan-
zen Horaz erstreckte, stimme fast überall mit
der IL Gl. Obgleich seine LAA. immer beach-
tenswerth und theilweise sogar wirkliehe Besse-
rungen des Textes seien, so ist doch von den
Mavortischen LAA. außer prorogat (carm. saec.
68) keine von K. aufgenommen worden. Da
nun ein systematisches Ineinandercorrigieren der
verschiedenen Hss. stattgefunden hat, wodurch
manche Hs. zwischen der I. und IL und selbst
III. CL hin und her oscilliert und bei allen 3
Classen anzuführen ist, so kann weder einer
einzelnen Hs., noch einer Hs.classe als regel-
mäßiger Repräsentantin der echten LA. des Ar-
chetyps gefolgt werden. Das Verhältniß gestal-
tet sich nach der S. 834 aufgestellten Berech-
nung so, daß auf 60 LAA. der I. Cl. 9 falsche,
■'-. Keller , Epilegomena »u Boras. " 769
a«f ebensoviel der II. Cl. 11 falsche, der III.
Cl. 36 falsche kommen. Daher könne weder
die I., noch IL, oder gar III. Gl. zur Basis der
Textkritik genommen werden. E. stellt daher den
Grandsatz auf, daß in der Ueberein Stim-
mung zweier Hs.elassen die richtige
LA. zu erblicken sei. Im Einzelnen freilich
kann auch manchmal eine Glasse gegen die
beiden andern aus innern Gründen den Vorzug
verdienen, wie z. B. unter den 676 Beispielen
der Classificierungstabelle die LA. der III. Gl.
an etwa 20 Stellen gegen die der I. und II.
zusammen recipiert wurde. Daß aber im Gan-
zen das Keller' sehe Princip vollkommen ge-
rechtfertigt ist, zeigt die Thatsache, daß — obi-
ges Verhältniß beibehalten — bei Ueberein-
Stimmung der I. und II. Gl. auf 60 LAA. nur
etwa 2 Vi falsche kommen. Im Allgemei-
nen ist durch die Uebereinstimmung der 2 sehr
alten Hss. BR (B = Bernensis IX. J. repräs.
d. II. Cl.; R = Vaticanus IX— X. J. repräs.
d. I. od. III. Gl. d. h. die zwischen der I. und
III. Gl. schwankende RnFamilie) die Richtig*
keit einer LA. verbürgt.
3) Die Scholien und Grammatiker
geben nur geringe Ausbeute, daher ist z. B.
der Tractatus Vindobonensis, ein Excerpt aus
sehol. T (außer den schol. A bezeichnet K. nun
nach dem Vorgange Holder's auch die im
cod. v vorliegenden langem schol. F ebenfalls
als acronisch), welcher in den beiden Ausgg.
angeführt wird, aus dem den Epileg. vorgesetz-
ten Hss.- und Scholienverzeichniß verschwunden ;
ebenso auch die mittelalt. Florilegien. Außer
dem Citat bei Fronto (aus serm. II, 3, 255),
der mit Porphyrio das aus dem Archetyp ver-
schwundene richtige cubital bietet, werden auch
TtO Oött gel. An». 1881. Stück 26. «6.
die antiken Horazcitate, deren Varianten oft weni-
ger auf Rechnung der citierenden antiken Ge-
lehrten als vielmehr ihrer Abschreiber kämen,
als nicht maßgebend für die Kritik bezeichnet.
4) Im Capitel über die „Principien und
Leistungen der Herausgeber" (S. 800 —
812) rechtfertigt E. sein bekanntes Urtbeil über
den Blandinius vetustissimua und Cruquius. Seine
abfällige Ansicht hat sich im Laufe der viel-
jährigen Beschäftigung mit Horaz noch mehr
befestigt. Nur eine einzige LA. des Bland, vet.
ist aufgenommen worden: ep. I, 16, 43 quo res
Sponsore. Sie ist entweder eine blos im Bland,
erhaltene Sonderlesart der II. Cl. oder, wie K.
trotz oder vielmehr gerade wegen der Wich-
tigthuerei, mit der Cruquius diese LA. einführt
(„sie habet Blandinius vetustissimus et verissima
lectio est, hactenus ignorata doctis"), annimmt,
eine Conjectnr von Cruquius selbst, für die er
einen handschriftlichen Beleg fingiert. Da je-
doch E. selbst (Epil. S. 293) die Bergk'sche
These von den „Fälschungen" des Cruquius
„zu stark" hält und dafür den Ausdruck „Un-
zuverlässigkeit", die übrigens auch
Bitschi nicht bestritten habe (Epil. S. 483),
substituiert, — ein Vorwurf, den Cruquius nach
den Belegen K.'s (S. 800 f.) mit vollstem Rechte
verdient und der es als sehr bedenklich erschei-
nen läßt, auf seine Angaben die Textkritik zu ba-
sieren,— so wollen wir der so bestimmten Aeuße-
rung des Cruquius glauben und wie wohl auch e.
IV, 15, 17 (derepta) eine richtige Verschreibung
des Bland, vet annehmen. Aus der ziemlich gro-
ßen Zahl der schlechten LA A. des Bland. (S. 801)
heben wir gleich die berühmteste heraus, „das
Feldgeschrei der richtigen Horazianer" : catnpum
lusumque trigonem (Serm. I, 6, 126). Holder
Ktikr , fipilegomen& *« Hora*. 7Ä*
bat im Hermes XII, & 501 f. diese LA. ans der
Vorlage eines in angelsächsischer Schrift ge-
schriebenen Codex hergeleitet Aber die ganz
außerordentliche Geschicklichkeit, mit der er für
die „verkehrte Buchstabiererei" des Abschrei-
bers plädiert, scheint mehr Bewunderung als
Glauben gefunden zu baben, und es ist kein
Zweifel, daß K.'s Erklärung weit plausibler ist
Er siebt in. der LA. des Cruquius einen durch
eine unleserliche Stelle, sowie durch Mißver-
ständniß der im Original (das in Minuskel ge-
schrieben gewesen sein muß) gebrauchten Abbre-
viaturen hervorgerufenen mittelalterlichen Einen*
dationsversucb, der schon aus sprachlichen Grün-
den mißglitokt sei. Das von der Gesammt*
tradition gebotene fugia rabio&i tempora signi^
von welchem K. einen Nachklang bei Avien
Arat. 1069 siebt, entspreche d^r Horazischen,
Bedeweise, der gerade solche uns freilich wenig
genießbare astrologisch-astronomischen Phrasen
eigentümlich seien; dagegen müsse von den
Anhängern des Cod. Cruq. und seines Trabanten
g (der aber an dieser Stelle erst noch zn emen-
dieren ist) der Nachweis geführt werden, daß,
die Phrase ludere aliquant rem =? „mit etwas
spielen" oder das exegetisch neben einander ge-
setzte lusus trigo = „Ballspiel" überhaupt ho-
razisch sei. Die singulare LA. des Cruquius sei
durch Verbesserung der „merkwürdigen", durch
Unleserlicbkeit der Vorlage entstandenen Va-
riante der LA. vong (campum lusüque trigonem)
entstanden, sei also tertiärer Art. — Man mag
über K.'s Erklärung der Entstehung dieser Stich-
lesart denken, wie man will: das wird aber
ausgesprochen werden können, daß gegenüber
einer so einhelligen, sachlich wie formell unan-
fechtbaren Ueberlieferung, wie hier, die singu-
792 Gott. gel. An*. 1881. Stück 25. 26.
läre, formell mindestens sehr eigentümliche LA.
des Grnqnianisehen Codex das Präjudiz gegen
sich hat. Und wie verhält sich denn nnn der
Bland, vet. überhaupt zn den übrigen Hss.? K.
zeigt, daß, abgesehen von den Sonderlesarten,
welche aber selbst von den Verehrern des Co-
dex meist mißbilligt werden, die LAA. des Bland,
im Allgemeinen zwischen der IL und III nndl.
Classe hin- nnd herschwanken, so daß man also,
wenn man anf ihn die Textkritik basiert, fac-
tisch nichts anderem als dem vielbeschrieenen
Eklekticismns huldigt, der aber nicht entfernt
jenes günstige Verbältniß zwischen den richtigen
nnd falschen LAA. bietet, das wir oben angeführt
Denn unter 60 Fällen sind nach E. 19, nach
Haupt immerhin noch 121/* unrichtige LAA.
(vgl. S. 835). Wie . mit dem Bland, des Oru-
quius verhält es sich auch mit g. Von den
Sonderlesarten desselben kommt nur serm. II, 3,
208 veris sceleris (in ed. min. noch veri sceleris)
in Betracht; an der andern Stelle serm. II, 3,
129 hält K. an dem tuos der übrigen Hss. fest.
-Es bleibt — schließt K. — eine wahre Ironie
des Schicksals, daß die ursprüngliche Verehrung
des 'Vetustissimus' auf eine Papierhandschrift
des 15. J. übergegangen ist: also auf die jüngste
überhaupt noch in Betracht kommende Horaz-
handschrift«. (S. 804).
Weiterhin spricht K. von den Leistungen der
Conjecturalkritik. Die lebenden Kritiker sind
grundsätzlich übergangen. So sehr K. einer
wilden und mit verfebmenden Machtsprüchen —
man denke nur an Gruppe und das, was
Lehrs in der Vorrede seiner Ausgabe von den
^Kleinbürgern der Ueberlieferung" sagt, sowie
an die hübsche Blüthenlese von Urbanitäten,
welche teuf fei (d. Horaz. Lyrik S. 12) ge-
Keller, EpiFegomema za Horaz. 7fcfr
sammelt — auftretenden Hyperkritik gegen-
über einen entschieden conservativen Standpunkt
einnimmt, so weit ist er von einer byperconser-
vativen Pergamen Verehrung entfernt, die der
Emendation jede Berechtigung abspricht. So
sind von Bentley's Vorschlägen 66 reci-
piert (11 Conjecturen, das andere richtig bevor-
zugte LAA.); auch seine Umstellung a. p. 45 f.
ist aufgenommen, ebenso die Interpolationsver-
muthung epist. I, 18, 91, und die Interpunction
serm. I, 6, 38. Unumwunden werden von K.
die außerordentlichen Verdienste B e n 1 1 e y ' s
gewürdigt; daneben muß K. aber auch consta-
tieren, daß B. durch sein kritisches Ingenium
oft auch da zu emendieren sich veranlaßt sab,
wo an der Echtheit und Correctheit der Ueber-
liefertmg kein Zweifel ist — Von Peerlkamp's
über 200 Conjecturen hat K. 2 aufgenommen:
c. III, 20, 8 illa und IV, 2, 2 üle, zu welch
letzterem er sich in den „krit. Beiträgen u noch
nicht verstehen konnte. An vielen Stellen sind
seine krit. Ausführungen verwerthet, sonst aber
die ganze Manier des Interpolationswitterns, de-
ren Vater P. ist, mit Recht als verkehrt bezeich-
net Teuffei hat treffend diese „Emendatio-
nentf bezeichnet als verspätete Anfragen bei
dem Dichter, ob er nicht lieber s o hätte schrei-
ben mögen, und K. stellt zu Nutz und Frommen
derer, die sich in dieser „Kritik" um Horaz
verdient machen wollen, ein Recept zusammen
von 13 Punkten (S. 809 f.). Wir heben nur 2
heraus: N. 2: „Jede Parallelstelle ist ein Be*
weis von Entlehnung", und N. 3: „Wo sich
keine Parallelstelle findet, verräth sich der Inter-
polator" : zwei hermeneutische Sätze, nach denen
der ganze Horaz eine große Interpolation ist —
Von Laehmann ist eine Umstellung ep. II, 1,
7tt Göti «ek Aax. 18SL Stück 2& 2ft.
101 angenommen; alle andern Aendeumgeö,
auch das in der ersten Ausg. recipier te terrenum
(c. 111, 24, 4) zurückgewiesen. Ebenso ist von
Meineke's Vorschlägen nur einer (ep. II, 2,
87) aufgenommen. Von Haupt hätte nur die
Gonjectur epod. 5, 87 (maga tum) in Betracht
kommen können; diese aber glaubt K. durch
seine eigene Conjectur hutnana itwicem ersetzt
zu haben.
Als 5. Abschnitt folgt dann eine Classi-
ficieru ngstabelle, an derE. sein kritisches
Prineip illustrieren will. An 676 besondere
significanten Beispielen wird gezeigt, wie sich
die Hss. des H. deutlich in 3 Olassen absondern.
Die richtige LA., die, wie oben erwähnt, in dear
Kegel durch die Uebereinstimmung zweier Clas-
sen sich ergiebt, ist durch durchschossenen Druck
hervorgehoben.
Was wir in diesem allgemeinen Theile ver-
missen, ist: Erstens ein Capitel über die Ueber-
scbriften, auf deren Wichtigkeit A. Kieft-
ling neuerdings hingewiesen und über die in
dem commentierenden Theile der Epil. nur da
und dort eine Bemerkung gemacht wird, wie
zu c III, 1. 17. 24. IV, 15 u. s. w. Wir er-
fahren 8. 777 nur, daß „die einzelnen Lieder,
Sermonen, Episteln natürlich in der Urtand-
scbrift noch keine Ueberschriften hatten"; die
interessanten Folgerungen, welche Kießling
aus den Ueberschriften, besonders auch für die
Bestimmung der Hs.familien, zieht, werden nicht
berücksichtigt. Zweitens hätte ein besonderes,
zusammenfassendes Capitel über die Orthogra-
phie dem Leser eher ein Gesammtbild über die
Tradition gegeben, als die zerstreut stehenden
Bemerkungen. Es wäre dadurch manche Wie-
derholung unnöthig geworden. So redet IL yon
Ketter , Epilegomena *a Efor&i. 79S
der Elision des e in est c. I, 3, 37; II, 18, 10;
III, 16, 43 ; IV, 3, 21 u. 8. w., u. s. w. — Zu
<5. I, 1, 22 ist bemerkt: „capud statt gopul in
Mu, die gleiche Variante auch sonst. Es ist
eine späte schlechte Schreibweise ; insebriftlieh
datiert findet sie sieh im J. 562 n. Gh. s. Sc bu-
lbar dt, Vulgärlat. III, 62u. Zu c. II, 13, 12
heißt es dann wieder: „capud n; caput der Ar-
chetyp hier und überall beiHoraz. InscbriftHck
ist capud nachgewiesen für das Jahr 562,
Schuchardt Vulg. III, 62a. — Was die Na-
«alformen thensaurus, formonsus angeht, so
scheint K. auf die letztere, die noch ed. min.
serm. I, 6, 31 steht, in den Epileg. zu verzich-
ten. Vielleicht auch auf das thensaurus, wenn
wir ihn serm. II, 6, 11 recht verstehen; da-
gegen bebarrt er auf dem iricensvma (serm. I,
9, 69) als „echt Horazischer Form". Was die
Schreibung von pas für post angebt, so ist
-c III, 21, 19 „nichts weniger als ausgemacht, daft
die Tradition der III. Cl., die hier für pos ist,
;auch die wirklich Horazische Orthographie in
diesem Falle darbietet", Serm. I, 6, 40 und a.
p. 141 scheinen die einzigen Fälle, an denen
das pos seinen Platz behaupten soll. In diesem
zusammenfassenden Abschnitt über die Ortho-
graphie, für den auch das Tollständigste Regi-
ster keinen Ersatz bietet, hätte denn auch die
Regel für den Accnsativ auf is (zu eil, 20, 11)
ihren Platz gefunden (dagegen übrigens Bti~
e heier, lat. Decl. p. 29 ed. 1, p. 57 ed. Win-
de kil de).
Das von R. Kuknla angefertigte Regi-
ster leidet an dem großen Mißstande, daß der
sprachliche und sachliche Tbeil nicht getrennt
sind. Es müssen bei diesem bunten Zusammen-
laufen gewisse Ungereimtheiten zu Tage treten.
796 Gott gfJ. Ant. 1881 . Stück 26. 26.
So steht z. B. unter V (das für U, V} W gilt)
„Weinen im Alterthum e. I, 3, 18" zwischen
nveu and yfid*, ohne daß aber weder nsiccis
ocüli$u noch „rectis oculisa im Register vor-
kommen. „Vierzeilengesetz" , „Unhorazische
Wendungen", „Unterschriften" . . . stehen alle
nach „Wiederholung". Unter „Interpolatio-
nen" (nicht einmal „Interpolationshypothesen
Zurückgewiesen") ist angegeben c. III, 3,
49—52. Aber es heißt dort nur: „eine viel
angefochtene Strophe, vergl. dagegen Obba-
aius in Jahns Jahrb.", ist also nach K. mit
Unrecht athetiert Daneben steht aber auch das
Ton K. für wirklich interpoliert gehaltene sertn.
I, 2, 13; serm. I, 10, 1-8; epist. I, 16, 52;
18, 91. Unter „Stellung" sind sowohl reci-
pierte als nur notierte Umstellungen registriert,
'während getrennt sein sollten c. I, 28, 17—20,
epist. II, 1, 101 und a. p. 45 f. von den Übrigen
Stellen. Wir glauben, daß ein Iudex der ver-
dächtigten und der emendierten Stellen, soweit
sie in den Epileg. behandelt werden, vielleicht
auch ein Verzeicbniß von den Stellen, an denen
ed. I und II von einander abweichen, sehr er-
wünscht wäre.
Fassen wir unser Urtheil kurz zusammen,
so liegt in den Epilegomena ein mit der größ-
ten Sorgfalt gesammeltes, außerordentlich reich-
haltiges kritisches Repertoir für Horaz vor.
Keine einzige Stelle von Wichtigkeit ist tiber-
gangen. Das ungeheuere handschriftliche Ma-
terial wird mit einer bis in's Einzelste gehenden
Akribie erschöpft und in dieser Hinsicht ein ge-
wisser Abschluß der Horazischen Textkritik er-
reicht. Durch seine vieljährige Beschäftigung
mit Horaz wie kaum ein anderer dazu berufen,
hat der Verf. über die Horazfrage — oder Pra-
Keller, Epilegomena zu Horaz. 797
gen Revision gehalten. Hag auch manche
Frage offen bleiben, manche vielleicht nie eine
befriedigende Lösung finden, so ist doch durch
die Epilegomena eine kritisch sichere Interpre-
tationsbasis gegeben, von der namentlich Schul-*
ausgaben ausgehen müssen. Diese letzteren ge-
rade will K. durch die erschöpfende Behand-
lung des kritischen Theils der Mühe kritischer
Anmerkungen überheben und so eine größere
Concentration derselben auf die eigentliche Exe«
gese, wo noch so viel zu thun sei, ermöglichen.
Aber nicht nur für die Schule leisten die Epi-
legomena einen ganz wesentlichen Dienst, son*
dern ftir jeden, der sich mit Horaz beschäftigt,
wird Kelier'8 Buch geradezu unentbehrlich sein*
Heidelberg, Sept. 1 880. Dr. H ä u s s n e r.
Zur Verfassungsgeschichte der Stadt
Augsburg vom Ende der römischen Herrschaft bis
zur Kodifikation des zweiten Stadtrechts im Jahre 127$.
Von Dr. E. ß e r n e r. Breslau, W. Köbner. 1879. X
u. 168 S. 8°. [Untersuchungen zur Deutschen Staats- und
Hechtsgeschichte herausgegeben von 0. Gierke, V.]
Der Verfasser theilt den angegebenen Zeit-
raum in zwei durch das erste Stadtrecbt ge-
trennte Perioden und die erstere derselben wie-
der in zwei Abschnitte, deren einer die Ent-
wickelung bis zum ersten Stadtrechte bebandelt,
während der andere dieses selbst zum Gegen-
stände hat. Jeder Periode ist ein sehr ein-
gehender Abschnitt über die äußere Stadtge-
schichte vorangestellt, was sehr dankenswerth
ist, wenngleich hier mehr geboten wird, als in
den Rahmen der Arbeit zu gehören scheint, und
manche Einzelheit, welche weder die Verfassung
der Stadt berührt, noch auch für die Beurthei-
lung der Größe und Bedeutung Augsburgs irgend
798 Gott. gel. Adz. 1881. Stück 35.26.
yon Nutzen ist — wie die Nachricht von dem
Transport einer Kaiserleiche durch die Stadt,
S. 84 — ohne Schaden hätte fortbleiben können.
Die Besprechung der Stadtverfassung in der
ersten Periode wird wieder eingetheilt in die
der vorottoni8chen, der ottonischen und der
fränkischen Zeit, eine Dreitbeilung, welche nicht
vortbeilbaft ist, da sie den Verf. oft zwingt nur
festzustellen, worüber wir gar nichts oder doch
nichts irgend wie ver wert h bares erfahren. So
wird für den ersten Zeitraum constatiert, daß
kein Burggraf vorkommt und dasselbe wieder-
holt sich beim zweiten. Nicht viel besser steht
es mit dem Vogt Daß die Augsburger Kirche
einen solchen hatte, wäre für den ersten wie
für den zweiten Zeitraum selbstverständlich,
auch ohne die ausdrücklichen Zeugnisse. Was
aber die in den Urkunden genannten Vögte für
die Stadt bedeuteten, erfahren wir auch aus
ihnen nicht. Ueberhaupt sind die Nachrichten
zu dürftig, als daß sich auch nur für die ältere
Zeit im Ganzen, geschweige denn für die ein-
zelnen Abschnitte, ein einigermaßen deutliches
Bild von dem Zustande der Stadt geben ließe.
Fast nur das Verbältniß zum Bischof, der durch*
weg als Herr der Stadt erscheint, tritt in den
Quellen hervor. Welche Kolle die auch von
Bern er als vorhanden anerkannte königliche
Pfalz spielte, bleibt ganz im Dunkel. Wenig
mehr erfahren wir aus der Zeit der salischen
Kaiser; die Zustände sind wohl im wesentlichen
dieselben geblieben. Doch kommen jetzt wie*
deruolt Burggrafen und zwar unter den bischöf-
lichen Ministerialen vor (S. öl); ja sogar meh-
rere gleichzeitig, wobei B. mit Recht bemerkt,
daß dies nach dem ersten Stadtrecht als Miß«,
brauch empfunden wurde. Ueber die Vogtei
Berner, Zur V^rfastsangsgeschichteii. Stadt Augsburg. 799
eifailfrefc wir Auch jetzt, soweit sie die Stadt be-
trifft, triebt viel mehr als früher. Denn wenn
hervorgehoben wird, daß die dem ersten Stadt-
rechte inserierte Urkunde von 1104 über die
Vögtei sich nicht auf den Stadtvogt beziehe, so
können wir dem insofern beistimmen, als die
Vorschriften des Statuts sieh lediglich auf die
Leistungen der auf den Gütern des Domcapitels
Eingesessenen an die Vögte beziehen. In letz-
teren aber mit dem Verfasser besondere „Vögte
des Domcapitels" zu erblicken, ist uns unmög-
lich. Auch auf den Gütern des Capitels übt
natürlich der Bischof die Immunitätsrechte. Des-
halb sind die Klagen der Ganoniker nicht allein
gegen die Vögte gerichtet, sondern gegen den
B i 8 c h o f und die Vögte der Augsburger Kirche,
von denen allerdings dereine „in Augusta" der
spätere Stadtvogt zu sein scheint Die S. 51
angeführte Urkunde Ottos IV., in welcher die-
ser dem Capitel gewisse Concessionen in Bezug
auf die Vogteirechte in Eitingen macht, beweist
nichts gegen diese einfache Erklärung. Der
bischöfliche Consens hierzu aber, dem Berner
hier lediglich die Bedeutung einer „formellen
Genehmigung des geistlichen Ob er hirten*
zuweisen will, enthält vielmehr die Genehmigung
des Bischofs als Lehnsherren des Königs in
Bezug auf die Vogtei, wie der Verf. an anderer
Stelle (S. 144) selbst erklärt. Diese Urkunden
würden also sogar ein direktes Zeugniß dafür
liefern, daß es sich im Statut von 1104 wirk-
lich um Vögte des Bischofs bandelte und nicht
um „Vögte des Domcapitels".
'Einen sehr ausführlichen Abschnitt (S. 64 ff)
widmet der Verf. den Bevölkerungsklassen, in-
dem er die zahlreichen Personennamen der Ur-
kunden und des Codex Traditionum von S. Ul-
800 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
rieb and Afra in sorgfältigster Weise ausnutzt.
Leider stehen die Resultate in keinem Verhält-
nisse zu der aufgewandten Mühe. Es ist eben,
wie der Verf. selbst klagt, für die Bevölkerungs-
verhältnisse Augsburgs im 12. Jahrh. nur „ein
scheinbar reiches Material" vorhanden. Van
Bedeutung ist allein, daß Freie in dieser Zeit
nicht mit Sicherheit nachzuweisen und wie B.
mit Becht meint, in erheblicher Anzahl audi
nicht zu vermuthen sind. Ministerialen werden
oft genannt, doch sind diese Erwähnungen
von zweifelhaftem Werthe, da sie nicht einmal
immer erkennen lassen, ob die genannten Per-
sonen wirklich in Augsburg wohnten, ob sie
Königs-, Bischofs- oder Klosterministerialen wa-
ren, am wenigsten aber über ihre Stellung der
Stadtverfassuug gegenüber Auskunft geben.
Auch über Gensualen und Hörige bringt der
Verf. nichts wesentlich neues. Der Begriff „civesa
ist, wie nachgewiesen wird, keineswegs schon
ein fest geschlossener, da die Ministerialen bald
zu ihnen gerechnet, bald ihnen entgegengesetzt
werden. In Betreff der Frage nach dem Bathe
kommt es, wie das in Anbetracht des Materials
nicht anders möglich ist, zu keinem Resultate,
Festeren Boden fühlen wir erst im folgenden,
das erste Stadtrecht behandelnden Abschnitte
(S. 72 ff.) unter den Füßen. Zunächst wird in
unzweifelhaft zutreffender Weise dargethan, daft
die Stadtrechtsurkunde selbst erst in die Zeit
Friedrichs I. gehört, aber als Art. 2 die oben
besprochene Urkunde über die Vögte aus dem
Jahre 1104, die auch selbständig Überliefert ist,
enthält. Die ganze Stadtrechtsurkunde wird
charakterisiert als ein von E. Friedrich I. ge-
nehmigtes und Gesetz gewordenes Weisthum.
Vom materiellen Inhalte wird, zunächst die
Berner, Zur Verfassungsgeschichte d. Stadt Augsburg. 801
Stellung des Bischofs erörtert und mit Recht
dessen große Gewalt hervorgehoben. Doch geht
der Verfasser wohl zu weit, wenn er behauptet,
der Bischof sei „oberster Gericbtsherr". Wenn
ihm das Gericht über temeritas, iniusticia, mono-
macbia und Alles, was an Leib und Leben
geht — also nicht nur die Blutgerichtsbarkeit
— ab und dem Echteding des Vogtes zugespro-
chen wird, so wird dieses damit in einen sol-
chen Gegensatz zu dem Gerichte des Bischofs
gesetzt, daß der öffentliche Charakter der Vogtei-
gerichtsbarkeit scharf hervortritt. Mochte immer
der Vogt sein Amt vom Bischof erhalten, der
Bann, den er übt, sein Gericht sind des Königs.
Der Bischof ist, wie weiter ausgeführt wird,
Wahrer des Stadt und Marktfriedens. Er hat
das Geleitsrecht. Kaum würde man aber mit
B. hieraus allein schließen dürfen, daß er auch
die Thore der Stadt in seiner Gewalt gehabt
habe, weil sonst das Geleitsrecht illusorisch ge-
worden wäre, denn im 2. Stadtrecht, wo die
Bürger «Mauern und Thore in ihrer unbestritte-
nen Gewalt haben, wird u. a. dem Bischof ein
gewisses Geleitsrecht vorbehalten. Ebenso we-
nig vermögen wir die weitere Folgerung daran
zu knüpfen, daß der Bischof der höchste Kriegs-
herr der Stadt gewesen sei. — Den Vogt, über
den hier zuerst eingebend gesprochen wird, hält
der Verf. für einen rein bischöflichen Beamten.
Wir können das nur unter der Einschränkung,
daß die Vogtei ihren öffentlichen Charakter,
ihren Zusammenhang mit der Reichsgewalt nie
ganz einbüßte, gelten lassen. Neu belebt und
dauernd gekräftigt wurde dieser Zusammenhang,
als Friedrich I. 1168 die Augsburger Vogtei,
nachdem GrafAclalgoz v. Schwabek ohne Erben
gestorben war, mit dessen übrigen Gütern ein-
51
802 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25.26.
zog. Bisher wurde nun meist angenommen, daß
die Vogtei im Hanse Scbwabeck erblich gewe-
sen sei, ohne daß man für nötbig gebalten
hätte, es besonders zu begründen. Es ist daher
dankbar anzuerkennen, daß der Verf. die Gründe,
welche für uns vollständig überzeugend sind
S. 93 f. zusammengestellt hat. Wenn der Kaiser
die Vogtei einzog, weil der Vogt Adalgoz
v. Schw. ohne Erben starb — und das geht
aus den Worten des Ursperger Chronisten ohne
jeden Zweifel hervor, — wenn schon 1152 und
1154 ein Vogt Adalgoz (derselbe?) genannt
wird, etwas früher aber (1130 — 1145) ein Vogt
Werner von Schwabeck in Augsburg vorkommt
und ferner die Namen Adalgoz und Werner
schon im 11. Jahrh. (seit 1064) für Vögte der
Augsburger Kirche nachgewiesen werden, so ist
damit unseres Erachtens die Erblichkeit des
Amtes in jenem Grafenhause so gut wie irgend
möglich erwiesen. Berner selbst aber erkennt
das nicht an und zwar hauptsächlich, weil er
1074 einen Schwigker „comitem de Baltzbaosen,
residenten in Scbwabegk" nachweist , der
wahrscheinlich nich Vogt gewesen, und
weil er aus dem ersten Stadtrechte, welches be-
kanntlich nur von der Absetzung eines Vogtes
durch den Bischof, nicht von der Einsetzung
spricht, praesumiert der Bischof habe auch das
Ernennangsrecht des Vogtes gehabt. Ist der
erste Grund offenbar ganz irrelevant, so wüßten
wir in Betreff des zweiten wirklich nicht, was
das auffallende Schweigen des Stadtrechts von
der Vogternennung einfacher erklären könnte,
als die Annahme der Erblichkeit des Amtes,
womit sich die Befugniß des Bischofs, einen
Vogt, der sich etwas bat zu Schulden kommen
lassen und nach Verlauf der gesetzlichen Frist
Berner, Zur Verfassungsgeschichte d. Stadt Augsburg. 803
Genugthuang verweigert, zu eassieren, sehr wohl
verträgt Jedenfalls sollte dann der nächstbe-
rechtigte Erbe in das Amt einrücken. Damit
ist aber die Möglichkeit, daß die Grafen von
Sehwebeck die Vogtei vom Bisehof zu Lehen
trugen, und zwar nicht von Anfang an als Erb-
lehen, nicht ausgeschlossen. Vo» Friedrich I.
wenigstens und seinen Nachfolgern ist es sehr
wahrscheinlich, daß ßie das Amt vom Bischof
zu Lehen nahmen. Dafür spricht die Darstel-
lung des Ursperger Chronisten und der von B.
S. 95 Anm. 41 citierten Quelle, ferner der Um-
stand, daß Otto IV. die Vogtei zu Ehingen,
welche wir nur als Tbeil der advocatia eccle-
siae Augustanae anzusehen haben, nachweislich
vom Bischof zu Lehen trug und endlich , daß
der Bischof während des Interregnums über
die Vogtei als Lehen verfügte.
In Bezug auf die Befugnisse des Vogtes
scheint uns B. ganz zutreffend zu praesumieren,
daß seine Gerichtsbarkeit, gleichwie die des
Burggrafen, sich über die gesammte städtische
Laienbevölkerung gleichmäßig erstreckte. Ebenso
richtig bemerkt derselbe, daß für die cives, da
sie mehrfach gemeinschaftlich handelnd, bittend,
bewilligend auftreten eine gewisse Organisation
— etwa ein sich aus dem Schöffencolleg rekru-
tierender Ausschuß — vorauszusetzen sei. Eine
wenn auch nicht alle dunkeln Punkte aufhellende,
so doch sehr beachtenswerthe Erklärung der
vielbesprochenen Stelle: si censualis talem ha-
bet uxorem, quod filio eius ecclesiae sunt etc.
giebt der Verf., indem er dieselbe auf den Fall
bezieht, daß ein Censuale eine Hörige heirathete.
Aus dem die letzte Periode bis 1276 umfas-
senden Abschnitte heben wir nur noch ein paar
wichtige Punkte hervor,
51*
804 Gott. gel. Aüz. 1881. Stück 26. 26.
Vor allem können wir hier dem Verf. nicht
beistimmen, wenn er meint, dieVogtei sei schon
in der ersten Hälfte des 13. Jahrh. wieder ein
bischöfliches Amt geworden (S. 131 ff.). Er fin-
det es in so hohem Grade auffällig, 1237 und
1246 einen bischöflichen Ministerialen, Heinrich
v. Gula, als advocatus Aug. anzutreffen, daß er
sich zu der Annahme genöthigt sieht: das Amt
habe seinen Charakter geändert und die Vogtei
sei wieder bischöflich geworden. 1269 habe
dann auch die Bürgerschaft, deren wachsender
Einfluß auf die Vogtei vom Verf. gut dargelegt
wird, sich eidlich verpflichtet, den „bischöflichen
Charakter" des Amtes aufrecht . zu erhalten.
Demnach hätte also in wenig mehr als 100 Jah-
ren das Amt nicht weniger als dreimal seinen
Charakter geändert! Das ist gewiß an sich un-
wahrscheinlich genug. Es zwingt aber auch
nichts zu dieser Annahme. Ein bischöfliches
Amt ist die Vogtei insofern von 1168 bis auf
Rudolf v. Habsburg stets geblieben, als es vom
Bischof an den König zu Lehen gegeben war,
ein königliches Amt aber andrerseits, so lange
es einen anerkannten König in Deutschland gab,
in dem Sinne, daß die Könige als Lehnsträger
die Einkünfte und die Besetzung des Amtes
hatten. Denn seit die Vogtei in die Hände von
Königen gelegt war, konnte natürlich der Be-
sitzer nicht mehr zugleich Verwalter des Amtes
sein. Der König übertrug wieder seinerseits
die Funktionen desselben an einen Anderen,
der dann aber wirklich Vogt hieß und war.
Solche Vögte — wenn der Ausdruck nicht zu
Mißverständnissen Veranlassung gäbe, könnte
man sie Untervögte nennen — waren die in
dieser Zeit als advocati genannten Ministerialen
und Bürger. Bischöfliche Ministerialen aber in
Berner, Zur Verfasstmgsges chicftte d. Stadt Augsburg. 8#05
dieser Stellung anzutreffen kann uns durchaus
nicht befremden, wenn wir bedenken, daß auch
Konradin sich verpflichtete, nur einem königli-
chen oder bischöflichen Ministerialen oder
einem Bürger der Stadt die Verwaltung zu tiber-
geben. Es wird herkömmlich und vielleicht
früher schon vertragsmäßig festgesetzt gewesen
sein, daß der Inhaber der Vogtei seinen Beamten
aus diesen Kreisen wählte. Nach dem Unter-
gange des staufischen Königthums wird sieb na-
ttirlich praktisch die Sache so gestellt haben,
daß der Bischof, der die Vogtei als zurückge-
fallen betrachtete, auch bei etwaigen Vacanzen
den Beamten selbst ernannte. Es war das je-
doch nur ein provisorischer Zustand, den man
durch Verleihung der Vogtei an Konradin , in
welchem man den einstigen Erben des stanfi-
schen Thrones erblickte *), ein Ende zu machen
strebte. Als dann aber Herzog Ludwig von
Baiern die Vogtei beanspruchte, einigten sich
Bischof and Bürger dahin, daß ersterer die va-
kante Vogtei, advocatiam ' — nobis (sc. epis-
copo) et ecclesiae nostrae vacantem, keinem
anderen als einem wirklichen, vom Pabste an-
erkannten Könige oder Kaiser (nisi forte im-
peratori vel regi Romano potenti, Sedis apo-
stolicae gratiam habenti) vergeben, verpfän-
den oder zu Lehen übertragen solle. Das ist
doch wohl etwas anderes als „Aufrechterhaltung
des bischöflichen Charakters der Vogtei"? Es
ist im Gegentheil ein deutlicher Ausdruck des
Gefühles, daß dieselbe dem Reichsoberhaupte
gebühre und nur bis ein solches wieder vorhan-
den sei, dem Bischof. Es ist bekannt, daß in
der That Rudolf von Habsburg die Vogtei wie-
der an sich genommen hat.
*) Vgl. Ficker, S. B. d. W. Ak. LXXVII S. 819.
806 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25.26.
Mit des Verfassers, unseres Erachtens irriger
Ansicht von der Vogtei hängt auch eng zusam-
men, was derselbe gegen die vom Referenten
(deutsche Städtesteuern S. 30 f. 13$ f.) aufge-
stellte und hoffentlich mit guten Gründen unter-
stütze Annahme vorbringt, daß die Reichs-
steuer von Augsburg aus der Vogtsteuer ent-
standen sei.
Ist schon an sich, wie wir meinen, keiner-
lei Grund vorhanden, mit B. daran zu zwei-
feln, daß auch Heinrich (VII.) die Vogtei von
Augsburg besessen habe, so wird man die
Urkunde, worin er gleich seinen Vorgängern
über die Vogtei zu Eitingen verfügt, als positi-
ves Zeugniß dafür ansehen dürfen. Nach Be-
seitigung dieses Zweifels scheint mir aber der
vogteiliche Charakter der Augsburger Stadt-
steuer so gut beglaubigt, wie man in Bezug auf
derartige Verhältnisse irgend verlangen kann.
Die Urkunde, in welcher Konradin mit der
Vogtei belehnt wird, von der B. S. 157 Note 100
mit Recht bemerkt, es könnte gerade sie am
meisten zum Beweis meiner Behauptung heran-
gezogen werden und die ich, was dem Verf.
entgangen zu sein scheint, auch zweimal aus-
drücklich in diesem Sinne verwerthet habe, ist
schlechterdings nicht anders zu erklären, als
daß die Steuer, deren Erhebung dem Eonradin
nicht erst zugestanden, sondern als selbstver-
ständlich vorausgesetzt und nur mit Garantieen für
das Recht des Bischofs auf die Hälfte der Er-
träge, wie es schon unter Heinrich (VII.) be-
stand, umgeben wird, von Konradin eben als
Vogt erhoben wurde. Die ausdrückliche Er-
klärung des Bischofs, er verleihe dem jungen
Könige die Vogtei nur persönlich, nicht auf
Grund der königlichen oder einer anderen
Berner, Zur Verfassungsgeschichte d. Stadt Augsburg. 807
Würde, wird hier von Bern er seiner Vermu-
thung, die Steuer sei von jeher Reichssteuer ge-
wesen, zu Gefallen mit der Bemerkung bei Seite
geschoben, daß trotzdem hier die Kompetenzen
des Königthums und der Vogtei, wie ja auch
durchaus natürlich sei, verwischt seien, eine An-
nahme, die um so auffälliger erscheint, als
S. 135, wo es darauf ankam, den bischöflichen
Charakter der Vogtei zu beweisen, so großes
Gewicht auf jenen Vorbehalt gelegt wurde. Ob
wir annehmen dürfen, daß schon die vogteilich-
bischöflicbe Steuer sich in ungefähr gleichen
Sätzen wiederholte, müssen wir, da leider das
Augsburger Urkundenbucb, wie von so manchem
anderen wichtigen Stücke, so auch von der be-
treffenden Urkunde Mon. Boica 30 a, 337, nach
welcher die Bürger sich zur Zahlung von jähr-
lich 300 (oder nach den Abdrücken bei Hugo
nnd Gen gier 100 Pfund) an Konradin ver-
pflichten, keinen neuen Abdruck gebracht hat,
vorläufig dahin gestellt sein lassen. Daß aber
die, nachdem Konrad IV. Deutschland verlassen
hatte, dem Bischof zugestandene Leistung der
100 Pfund nur ein Surrogat für die demselben
zustehende Hälfte der Vogteisteuer war, muß
ich nach wie vor aus den Worten des Bischofs
(Urk. v. 1254) schließen, nach welchen die Zah-
lung dauern sollte, quoadusque dominus rex per-
sonaliter veniat, et tunc non teneantur (sc. ci-
ves) summam solvere pretaxatam, sed utrique
videlicet tarn nos quam d. rex in perceptione
collecte utetur iure suo. Unerklärlich ist mir,
wie B. aus diesen Worten schließen kann:
„Darnach erhoben also der Bischof wie der Kö-
nig selbständig Steuern". In Bezug auf Rudolfs
Zeit habe ich nur wahrscheinlich machen wol-
808 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
len, daß die Jahressätze von nicht allzu ver-
schiedener Höhe waren.
Ganz unberechtigt ist auch der aus der Ver-
teidigung des Exemtionsrechtes der Kleriker
durch den Bischof gegenüber der Bürgerschaft
gezogene Schluß, daß die Stadt auch selbstän-
dig Steuern auferlegte, d. h. daß die consules
neben der Stadtsteuer für Vogtei oder Reich noch
besondere Communalsteuern umlegten, da
bekanntlich der Klerus Reichs- oder Vogtsteuern
nicht weniger ungern zahlte als Commtraalab-
gaben. (Vgl. Städtesteuern S» 95 ff.). Wenn
dann der Verf. S. 162 fortfährt: „Welcher Art
diese Steuern sind, wird zwar nicht gesagt, zu
ihnen geborte aber jedenfalls das tbeloneum und
das Ungelt", so kann ich in dieser Vermischung
von Zoll und Steuer dem Verf. ebensowenig bei-
stimmen, als wenn derselbe S. 164 auch den
Michaeliszins, quod vulgariter dicitur burchrecht,
der in einem der angeführten Fälle in zwei
Gänsen besteht, eine Steuer nennt und ohne
jeglichen Anhalt für eine nicht einfach censua-
liscbe, sondern eine im Öffentlichen Interesse zu
leistende Abgabe erklärt. Auch die Ansicht des
Verf. über den Zoll, den er nicht für bischöflich,
sondern städtisch hält, scheint mir im hohen
Grade bedenklich zu sein. Interessant ist die
S. 165 gegebene Zusammenstellung der städti-
schen Ausgaben in den letzten 20 Jahren die-
ser Periode, soweit sie uns bekannt sind.
Was der Verf. S. 149 ff. über den Rath sagt,
indem er namentlich die Unmöglichkeit betont,
dessen Entstehung in Augsburg aus einem bi-
schöflichen Laienrathe abzuleiten, dagegen die-
jenigen Punkte, welche auf einen engen Zu-
sammenhang mit dem Vogteigerichte und dem
Schöffencolleg weisen, hervorhebt, müssen wir
Berner, Zur Verfassungsgeschichte d. Stadt Augsburg. 809
durchaus billigen; ja, wir glauben, daß sieb in
dieser Richtung noch bestimmtere Resultate hät-
ten erreichen lassen.
Fassen wir unser Urtheil über das Buch zu-
sammen, so müssen wir zunächst nochmals die
fleißige Zusammenstellung des Quellenmaterials,
die Heranziehung auch des unbedeutendsten ur-
kundlichen Details dankbar anerkennen. Um
so mehr aber ist zu bedauern, daß die Kritik
des Verfassers vorzugsweise in negativer Rich-
tung thätig gewesen ist, und, wie wir glauben
gezeigt zu haben, mehrfach in wichtigen Fragen
auf ungenügende Gründe hin ältere Ansichten
bezweifelt, ohne überhaupt etwas neues oder
doch ohne etwas besser begründetes dafür zu
bieten. Die Gründe für diesen Mangel an po-
sitiven Resultaten glauben wir zum großen
Theile dem Plane der Arbeit zuschreiben zu
müssen. Es ist da — abgesehen von der über-
all hindernden Zersplitterung des Stoffes in zu
kleine Zeitabschnitte — zunächst der im Vor-
worte als Princip proclamierte Ausschluß jeder
Analogie mit anderen Städten zu erwähnen. Er-
laubt die Reichhaltigkeit des Materials einen
solchen Ausschluß, so ist das freilich am besten,
meist aber, und so auch hier, sind die Quellen
für die ältere Zeit so dürftig, daß wir ohne
analoge Verhältnisse anderer Städte vorsichtig
zur Erklärung heranzuziehen zu einer klaren
Einsicht nicht gelangen können. Der Weg,
welchen der Verf. für die deutsche Städtege-
schichte vorschreibt, wonach jede bedeutendere
Stadt erst für sich allein betrachtet und bear-
beitet werden soll, bevor eine umfassendere
Städtegeschichte in Angriff zu nehmen sei, er-
scheint auch uns, wie B. wohl mit Recht von
Vielen voraussetzt, als ein Umweg, und An-
310 Gott gel. Ant. 1881. Stück 25. 26,
gesichta der Resultate der vorliegenden Arbeit
müssen wir zweifeln, ob derselbe sichrer als der
bisher übliche, ja ob er überhaupt nur zum
Ziele führt.
Eine fruchtbarere Behandlung der Augsbur-
ger Verfassungsgeschichte müßte außerdem un-
serer Ansicht nach ausgeben von dem ersten
Stadtrechte, dessen Bestimmungen mit Hülfe der
Urkunden und des 2. Stadtrechtes zu interpre-
tieren eventuell zu ergänzen wären, und dann
die Veränderungen bis zum 2. Stadtrechte und
die in diesem selbst hervortretende Verfassung
darstellen. Unmöglich aber ist es, wie B. thut,
die Verfassungsgeschichte bis 1276 zu führen,
ohne die damals begonnene Aufzeichnung des
Rechts selbst zu berücksichtigen. Giebt doch
das zweite Stadtrecht vorzugsweise nicht neues,
sondern, wie B. selbst sagt, nur eine „Kodifi-
kation" des bestehenden Rechtes. In Bezug auf
das ältere Statut hat er S. 79 die ganz richtige
Gonsequenz aus dieser Sachlage gezogen, warum
nicht auch hier? Es macht doch beispielsweise
einen eigentümlichen Eindruck, wenn es bei
der Besprechung des Burggrafenamtes in der
letzten Periode, nachdem eben die Verpfändun-
gen an Heinrich Schongauer (1262 und 1264)
behandelt sind, p. 147 heißt: „der Burggraf er-
scheint also noch als der Inhaber einer richter-
lichen und exekutiven Gewalt, ohne daß wir
jedoch außer den Bestimmungen im erste a
Stadtrecht näher sagen könnten, worauf sich
dieselben erstrecken". Warum, fragt man, greift
der Verf. nicht nach den reichen Bestimmungen,
welche wenige Jahre später aufgezeichnet sind?
Kur ein paar Beispiele, welche recht deutlich
zeigen, zu wie gewagten Erklärungsversuchen
den Verf. sein absichtliches Ignorieren des 2*
Berner, Zur Verfassungsgeschichte d. Stadt Augsburg. 811
Stadtrechtes treibt, will ich anführen. Daß „teme-
ritas" die Uebersetzung von „fraefel" ist, scheint
mir unzweifelhaft, und was in Augsburg als
„fraefel" galt, sagt das 2. Stadtrecht (§ 55).
Statt dieser einfachen Erklärung räth B. zu-
nächst auf Hochverrath oder „Aehnliches", indem
er nicht sehr glücklich an den Ausdruck „teme-
rarie" in den Poenalbestimmungen der Urkunden
anknüpft, fragt dann aber: „Oder ob temeritas
was sehr nahe liegt(?), wofür ich aber
keine Beweise beibringen kann, vielleicht Noth-
zucht ist?" S. 98. Ferner, statt die Erklärung
der vielbesprochenen „panes probaticiiu des er-
sten Stadtrechtes aus dem „kusprot" des zwei-
ten zu versuchen, fügt er den zum Tbeil wun-
derlichen älteren Erklärungsversuchen ein paar
neue hinzu, deren erster sehr auffällig ist: Viel-
leicht seien Hostien „d. h. Brot, welches die Un-
schuld vor Gott oder die Versöhnung mit Gott
beweisen soll u zu verstehen. Von anderen Ein-
zelheiten, die der Berichtigung bedürfen, sei
noch folgende erwähnt. Die S. 23 Anm. 50
angeführte Stelle der vita Oudalrici sagt nicht,
daß auf der neuen Lechbrücke ein Zoll erhoben
wurde, der zum Almosengeben dienen sollte,
sondern daß kein Zoll erhoben wurde: ut nul-
lum — teloneum — acciperet praecepit (sc.
episcopus), sed in elemosinam eins quicunque
voluissent, sine contradictione et occupatione
pergerent. Beiläufig sei ein auf derselben Seite
befindlicher lapsus calami berichtigt: die in
Augsburg beigesetzten „interiora" Ottos III.
sind nicht „Gebeine".
Vor der Benutzung von Gassars Annalen,
welche in der Einleitung ausführlich besprochen
werden, als Quelle für die ältere Zeit warnt der
Verf. mit Recht.
Berlin. Karl Zeumer.
812 ■ Gott. gel. Adz. 1881. Stück 25. 26.
Chrestomathie dlmotique par Eugene R e-
villout. Paris, F. Vieweg 1880. CLXVUI und
504 pp. 4°.
Nouvelle Chrestomathie d£motique. (Mis-
sion de 1878; contrats de Berlin, Vienne, Leyde etc.).
Par Eugene Revillout. Paris, E. Leroux 1878.
XH und 160 pp. 4°.
Die jüngste Klasse der vorchristlichen Denk-
mäler Aegyptens, die in demotischer Schrift ge-
schriebenen Texte, hatten bisher bei den Aegyp-
tologen wenig Beachtung gefanden. Zwar hatte
Brugsch im Anfang der fünfziger Jahre, auf
früheren Versuchen von Y o u n g u.a. fußend, sie
völlig entziffert, aber leider blieb er fast der
einzige Arbeiter auf diesem Felde. Einerseits
schreckten die in der That sehr großen Schwie-
rigkeiten der Schrift von ihm ab, andererseits
— und das gab wohl bei den meisten den Aus-
schlag — schien es "als sei in diesen Urkunden
und Gontracten aus griechischer Zeit nicht viel
interessantes zu finden, am wenigsten etwas das
weitere Kreise interessieren könnte. Jetzt, wo
Brugsch und Revillout das Mähreben von
Setna, die demotische Chronik und die Ge-
spräche des Schakals mit der Katze gefunden
haben, fehlt es selbst im Demotischen nicht an
Texten, die auch für Nichtägyptologen genieß-
bar sind — aber, wie wichtig diese auch sein
mögen, wir wissen jetzt, daß wir an den Hun-
derten von demotischen Urkunden geschäftlichen
und gerichtlichen Inhalts Schätze von minde-
stens gleichem Werthe besitzen.
Daß wir uns dieser Schätze endlich bewußt
geworden sind, das ist das Verdienst von
Eugene Revillout, der wie wenige die Gabe
besitzt, auch in dem was anderen geringfügig
und werthlos scheint, den werthvollen Kern zu
erkennen. Durch langjähriges Studium des Kop-
Eugene Revillout, Chrestomathie d^motique. 813
tischen mit der Sprache und den Verhältnissen
des späteren Aegyptens vertraut wie schwerlich
«in anderer, ging er vor einem halben Jahrzehnt
an das Demotische, sammelte mit rastloser Ener-
gie das massenhafte in den Museen zerstreute
.Material und drang in genialer Weise trotz al-
ler Schwierigkeiten zum vollsten Verständuiß
dieser Urkunden hindurch. Wer heute seine
große Chrestomathie, in der er einen Theil
der wichtigsten demotischen Texte erläutert hat,
durcharbeitet, wird sich bald überzeugen, daß
die dort gegebenen Uebertragungen den Sinn
dieser verwickelten Schriftstücke richtig treffen,
wenn auch natürlich die Lesung des einen und
des andern demotischen Wortes noch unsicher
bleibt.
Ueber das Demotische sind meist etwas
irrige Ansichten verbreitet. Gewiß wird jeder,
der mit dem Koptischen vertraut ist, beim Le-
sen demotischer Texte das Gefühl haben, hier
auf bekanntem Gebiete zu sein, aber nichts-
destoweniger darf man nicht, wie dies gewöhn-
lich geschieht, im Demotischen ohne weiteres
die Sprache der griechischen Zeit sehen. Die
wirkliche Sprache jener Epoche kennen wir
jetzt aus den von Goodwin und Revillout
publicierten magischen Texten, die mit griechi-
schen Buchstaben geschrieben sind: es ist ein
gewöhnliches Koptisch, das nur durch eine noch
wirr umbertastende Orthographie etwas fremd-
artig aussiebt*). Anders das Demotische.
Bekanntlich haben die ägyptischen Schreiber
es auch in späteren Zeiten nie zu einer der
Sprachentwicklung angemessenen Umgestaltung
*) Sie sind publiciert Aeg. Zeitschr. 1868 p. 18 und
Mel d'archäol. eg. et ass. Ill (1876) p. 36 ff.
814 Gott. gel. Abz. 1881. Stück 25. 26.
ihrer Orthographie gebracht, das Neuägyptische
wird in Formen gesehrieben, wie sie für das
Altägyptische passend waren. Schon in cursiven
neuägyptischen Handschriften beginnt man nun
häufige Worte, deren Schreibung ja doch zum
großen Theil nicht mehr den lebenden Formen
entsprach, in einen oder mehrere Schnörkel zu-
sammenzuziehen. Diese Zusammenziehung der
Gruppen in wenige abgekürzte Zeichen, hat
man dann später fortgesetzt und als schließ-
liches Resultat das Demotische erhalten, eine
Schrift, die niemand lesen kann, der sich nicht
für drei Viertel aller Worte die gebräuchlichen
Siglen gemerkt hat, denn die diesen zu Grunde
liegenden Zeichen zu erkennen, ist absolut un-
möglich. So ist das Zeichen für und, etwa
w || , entstanden aus dem Worte , welches im
Neuägyptischen dir-mä-u geschrieben wird;
den beiden Zeichen, durch welche a dort aus-
gedrückt ist, entspricht hier || , die übrigen sechs
Zeichen sind in u enthalten! Doch darf man
darum nicht jedes demotische für ein älteres
d halten ; in anderen Fällen ist aus du, aus ?,
aus der Endsylbe nu (z. B. in dem Worte für
„Maus" pnu u. o.) u. a. m. entstanden. So ist
ferner aus dem altägyptischen Worte r6 „Mensch a,
das schon in neuägyptischen Cursivtexten stark
verkürzt wird, etwa r geworden; in diesem
einen Zeichen stecken ein r, ein 0, ein Mann,
eine Frau und die drei Pluralstricbe! Daß man
dann diesem f, in dem doch schon die drei al-
ten Determinative enthalten sind, gelegentlich
auch noch ein neues Determinativ hinzufügt, ist
bei einer derartigen Schrift begreiflich genug.
Um die Verwirrung voll zu machen kommt noch
hinzu, daß einerseits ursprünglich verschiedene
Eugene Bevillout, Chrestomathie demotique. 815
Zeichen im Demotischen zusammengefallen sind
— z. B. gleicht das alte Determinativ der 1.
Pers. sing, jetzt völlig einem i, auch in den
Fällen, wo dies Suffix nie i gelautet hat; ande-
rerseits aber sind manche Worte (z. B. da „ge-
ben") in verschiedenen Formen und /verschiede-
ner Anwendung auch zu durchaus verschiedenen
Zeichen geworden.
Es fragt sich nun, in wie weit das in die-
ser wunderlichen Schrift geschriebene Idiom der
Sprache der griechischen Zeit entspricht. Es
geht zunächst in vielen Punkten entschieden
über das Neuägyptische hinaus und steht in
diesen auf koptischem Standpunkt; so im Satz-
bau, im Mangel des Passivums, in der etwas
erweiterten Verwendung des Artikels, im Ge-
brauche der Präposition %n. Daneben hat es
jedoch manches beibehalten, was im Näg. ganz
gebräuchlich, im E. aber unerhört ist; es drückt
den Genetiv oft ohne Exponenten aus, es setzt
du (= c), wo nothwendig epe stehen muß
u. a. m. Ja es hat sogar altägyptische Formen
wieder hervorgesucbt und consequent durch diese
die im Näg. üblichen ersetzt! Wo es k. ^rciuttaä.
heißen müßte schreibt man nicht etwa eine
aus ark stm entstandene Gruppe, sondern
man setzt dafür stets aäg. stmk. Aehnlich ver-
fährt man beim Optativ. Und nun vollends der
Wortschatz — wie vieles hat er anscheinend
bewahrt, was dem K. völlig fremd ist. Das De-
motische besitzt, natürlich in der Form von
Siglen, die alten Worte t'dt „Wort" äa „groß"
rO „Mannu u. s. w.
So hat es denn bei flüchtigem Hinsehen den
Anschein, als sei das Demotische im Grunde
nichts als ein Neuägyptisch, in das jüngere For-
men und Constructionen eingedrungen, dem
816 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
aber auch ältere aus archaistischer Spielerei
künstlich aufgepropft sind ; es wäre also eigent-
lich eine todte Sprache gewesen.
Und doch war ja das Demotische gerade die
Schrift des Volkes, zu deren Verständniß es
keiner gelehrten Kenntnisse bedurfte. Wir kön-
nen doch unmöglich annehmen, daß die Todten-
bestatter und kleinen Wucherer, für die unsere
demotischen Urkunden geschrieben sind, ein
solches Flickwerk aus alter und moderner Spra-
che verstanden haben. Wir werden daher zu
der Annahme geführt, daß es für all diese
neu- und altägyptischen Worte und Formen
eine der Volkssprache angemessene Lesung ge-
geben hat. Man wird f dt ujä^e gesprochen ha-
ben haben, äa no<^, r& je nach dem Zusammen-
hang A^f, peq-, pe**-, purne*). Wo das n
des Genetivs in der Schrift fehlte, wird man es
beim Sprechen ergänzt haben, wo au vor no-
minalem Subject stand, wird man es epe gele-
sen haben und nicht e. Wo stmk steht oder
mäi-stmf hat man gewiß ^kchttjui und ju^peq-
ciuTjut gesprochen. U. a. m.
Es ist selbst für uns noch leicht (Revillout's
Umschreibung des Setnamäbrchens beweist es),
die demotischen Texte in dieser Weise koptisch
zu lesen ; für die Aegypter der griechischen Zeit
bot es vollends keine Schwierigkeit. Ohnehin
mußten sie ja rein mechanisch die Schreibung
fast jedes einzelnen Wortes erlernen ; sie wer-
den es auch ohne Verwunderung hingenommen
*) All diese Formen gehen auf aägt. rl „Mann" zu-
rück ; peq- ist rd duf-, peju- ist r*n ; pom e ist, worauf
mich Herr stud, von Lemm aufmerksam gemacht hat,
als absolute Form zu peut gebildet, in welchem man
irrig einen stat. constr. sah.
Eugene Revillout, Chrestomathie de'motique. 817
haben, daß man, nm *K«m-ju, juuvpeqcun-jm etc.
auszudrücken, h und f hinter den Verbalstamm
schreiben müsse.
Ich bin auf diese Theorie, die sich mir beim
Lesen des Setna und der Chrestomathie ergeben
hat, näher eingegangen, weil durch sie sich das
Verfahren rechtfertigt, welches Revillout in
seinen neuen Werken eingeschlagen hat. Er
giebt die demotischen Texte ohne jede Trans-
scription und ich habe von verschiedenen Seiten
gehört, dies sei eine unnötbige Erschwerung des
Verständnisses. Nach dem oben bemerkten wird
jedoch einleuchten, daß eine wirkliche Um-
schreibung des Demotischen der Natur der Sache
nach unmöglich ist. Zweierlei nur läßt sich hier
erreichen. Man kann entweder eine koptische
Uebersetzung des demotischen Textes geben,
oder man kann den einzelnen demotischen Grup-
pen die hieroglyphischen Worte gegenüberstellen,
aus denen sie verkürzt sind. Das erstere Ver-
fahren erleichtert das Verständniß des syntacti-
schen Baues, das letztere das der Schrift. Aber
für beide wären erst eingehendere Untersuchun-
gen nöthig; insbesondere ist ein methodisches
Zurückführen der demoüschen Gruppen auf ihre
hieratischen Quellen erst einmal*) versucht wor-
den. Gegen die hieroglyphische Transscription
ist ferner einzuwenden, daß sie erfahrungsmäßig
verleitet, die Texte, denen man ein altägypti-
sches Gewand angezogen hat, nun auch nach
altägyptischer Syntax zu übertragen; giebt es
doch eine derartige Uebersetzung, in welcher
*) Von Maspero in der Aeg. Ztschr. 1877 u. 1878.
Den Grundgedanken dieser Arbeit billige ich; aber, wie
es bei einem ersten Anfang nicht anders möglich ist, im
Einzelnen ist vieles irrig. Gleich der Name Satni,
Setna ist Stnu (s-tn-nu) zu lesen.
52
818 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
die Präposition e*r&e, weil ihr aäg. räb ent-
spricht, mit „um zu bezahlen" wiedergegeben
ist! Unter diesen Umständen wird man, wie
ich glaube, es nur billigen können, daß Re-
villout dem demotischen Texte nur seine
Interlinearübersetzung beigefügt hat.
Fast unsere sämmtlichen demotischen und
griechischen Urkunden entstammen zwei Funden,
deren einer im Serapeum von Memphis, der an-
dere auf dem Boden der thebanischen Memno-
nien zu Tage trat. An beide schließen sich
ähnliche Funde koptischer Akten; die thebani-
schen beziehen sich auf das Dorf ähaic, das
Gastrum der alten Memnonien, die memphiti-
schen auf das Jeremiaskloster von Memphis.
Wir haben durch diese vier Funde Urkunden-
reihen, die durch mehr als anderthalb Jahr-
tausende dieselben Ortschaften behandeln.
Die thebanischen Documente bilden zusam-
men das Archiv einer Familie der ägyptischen
Choachyten, jener niederen Priester, welche die
zahlreichen Geschäfte des Todtencultus gegen
Entgelt übernahmen. Für sie repräsentierte je-
der Todte, dessen Besorgung ihnen anvertraut
war, eine bestimmte Rente; sie verkaufen sich
daher diese Leichen, cedieren sich gelegentlich
auch Drittel derselben und selbst das Vermögen
ihrer Frauen besteht theilweise in Todten.
Außerdem verkaufen sie sich Aecker, Grab-
grundstücke und Todtenbticher ; als Nebenge-
schäft verborgen sie Getreide zu Wucherzinsen
und leihen auf Pfänder.
Die wichtigeren Aktenstücke wurden von
einem Notar, dem „Monographen" aufgenommen,
der in Theben im Namen des fünften Priester-
eollegiums, auf dem Lande im Namen des Dorf-
priesters fungierte. Für jeden der Zeugen, deren
Eug&ne Revillout, Chrestomathie ctemotique. 819
Zahl zuerst 5—7 betrug, wurde ursprünglich ein
besonderer Auszug des Documentes redigiert;
erst unter Euergetes führte man 16 Zeugen ein,
welche ihre Namen nun auf die Rückseite des
Aktenstückes schrieben. Eine weitere Garantie
für die Gültigkeit von Documenten bot die Ein-
tragung in die Register des yqdq)kov\ jedoch
wurde diese erst im 36ten Jahre des Philometor
obligatorisch , wir haben noch einen Brief des
Beamten, der mit ihrer Einführung ita der Tbe-
bais betraut war.
Rein finanzielle Bedeutung dagegen hatte
die Registrierung der Akten in der königlichen
Bank, der Trapeza, wie sie zuerst im 20sten
Jahre des Epiphanes vorkommt. Es mußte da-
bei vom Käufer eine Gebühr entrichtet werden,
die in späterer Zeit nicht weniger als 10 Proc.
betrug. Die Erhebung dieser Steuer wurde all-
jährlich verpachtet; als Controlmaßregel gegen
den Pächter ist es wohl anzusehen, daß diesem
seit Philometor noch ein „Antigrapheus" contra-
signiert. Es ist nun merkwürdig, daß bei den
Kaufcontracten von Memphis anstatt 10 Proc.
nur 1 bis 2 Proc. Registrierungsgebühr erhoben
werden, ja daß bei den im Serapeumsstadtviertel
aufgenommenen dieselbe ganz fehlt Sehr an-
sprechend ist die Erklärung, die Re vi 11 out
für diese so auffallende Begünstigung der unter-
ägyptischen Metropole vorschlägt. Als nach
Philopators Tode in Aegypten eine allgemeine
Empörung ausbrach, erhoben sich zahlreiche,
kleine Dynasten. Die meisten derselben wurden
im 8ten Jahre des Epiphanes unterworfen, nur
die wichtige Thebais behielt noch ihre eigenen
Herrscher. Wir kennen jetzt diese thebanischen
Könige aus den demotischen Akten, sie heißen
Angtu (?) und Harmachis und regierten
52*
820 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
mindesten» 18 Jahre. Um nun diesen nationalen
Pharaonen von Theben, die sich bis zum 19ten
oder 20sten Jahre hielten, einen ebenso legiti-
men Herrscher entgegensetzen zu können, ließen
die Vormünder des Epiphanes den jungen König
in Memphis nach altem ägyptischen Ritas krö-
nen. Sie begünstigten dabei, wie dies Letronne
schon aus dem bei dieser Gelegenheit erlassenen
Decret von Rosette erkannt hat, die Priester-
schaft der alten heiligen Hauptstadt in der ein-
seitigsten Weise. Gewiß ist auch die fragliche
Steuerbefreiung damals erfolgt.
Auf das genaueste sind wir aus unseren Ur-
kunden natürlich über die Formalitäten des Kau-
fes im griechischen Aegypten unterrichtet, die
fest geregelt waren. Zuerst wird die „Schrift
wegen des Geldes" aufgesetzt, d. h. ein Docu-
ment, in dem der Verkäufer erklärt, die völlige
Bezahlung erhalten zu haben und verspricht dem
Käufer den Besitz des Verkauften zu schützen.
Darauf erfolgt die owQicooig, ein feierlicher
Schwur des Verkäufers vor Gericht; er wird,
wie stets erwähnt wird, schriftlich aufgenommen,
findet sich jedoch nicht in unseren Akten vor
— vielleicht weil das betreffende Aktenstück im
Tempel verblieb. Dann erst setzt man das
eigentliche Cessionsdocument auf; durch dieses
wird der verkaufte Gegenstand, der hier schon
als £igenthum des Käufers bezeichnet wird, die-
sem auch formell übergeben.
Die Münzen, in denen gewöhnlich die Geld-
summen der demoti8cben Urkunden angegeben
werden, sind die Drachme „Sekel" genannt, das
„Silberstück", das fünf Drachmen entspricht und
das Talent, das abweichend vom griechischen
nur 1500 Drachmen oder 300 „Silberstücke«
enthält In den griechischen Papyrus Aegyp-
Devaux, Etudes politiques sur lliistoire Romaine. 821
tens hingegen wird auch bei Summen, die in
die Tausende gehen, nach xaXnoXg, nach Kupfer-
drachmen gerechnet.
Gern theilte ich noch mehr von den inter-
essanten Funden Revil lout's mit, seine Ent-
deckung der in Aegypten noch in christlicher
Zeit gebräuchlichen Ehe auf Probe, seine Unter-
suchungen über die Dekrete von Canopus und
Rosette — müßte ich nicht beftichten, die Gren-
zen dieser Anzeige damit zu weit auszudehnen.
Aber schon das Gegebene wird gezeigt haben,
wie viel Werth volles Revil lout's Werk bie-
tet; hoffentlich findet es auch bei Nichtägypto-
logen die gebührende Beachtung.
Berlin, Nov. 1880. AdolfErman.
tätudes politiques sur les principaux £v£ne-
ments de l'histoire Romaine. Par Paul De-
vaux. 2 vol. Bruxelles 1880. 1030 S. 8°.
Der Verf. hat bereits vor 5 Jahren ein ähn-
liches Werk veröffentlicht (6tudes politiques sur
Thistoire ancienne et moderne et sur l'influence
de l'6tat de guerre et de Pitat de paix), wel-
ches bisher in Deutschland gar nicht beachtet
zu sein scheint, wenigstens habe ich mich ver-
geblich bemüht, eine Anzeige desselben aufzu-
finden. Devaux ist am Anfange dieses Jahres
gestorben und ein sehr warmer Nachruf der
Herausgeber erklärt das obige Werk, von des-
sen Aufnahme in der gelehrten Welt der Ver-
fasser leider nicht mehr hätte Zeuge sein kön-
nen „für das politische Testament dieses großen
Geistes, der durch seine Handlungen ebenso wie
durch seine Schriften unter die ersten Staats-
männer unserer Epoche gehöre". Gegen dieses
etwas Uberschwängliche Lob muß, soweit das-
selbe sich wenigstens auf das obige Werk stützt,
822 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
Einspruch erhoben werden. Eine streng sach-
liche Prüfung muß den wissenschaftlichen Werth
des Werkes sogar auf ein sehr bescheidenes
Maaß herabdrücken. Denn es kann dem Werke
ein doppelter Vorwurf nicht erspart werden,
einmal daß es den in der Einleitung entworfe-
nen Plan nicht durchführe, sodann daß die Kri-
tik und die Beherrschung der einschlägigen
deutschen Literatur unzureichend sei. Schon
der Titel muß Verwunderung erwecken. Poli-
tische Studien über die hervorragendsten Er-
eignisse der römischen Geschichte? Sind die
Ereignisse alle so zweifellos gesichert, daß ohne
weiteres politische Studien daran geknüpft wer-
den könnten? Und welches sind die hervor-
ragendsten Ereignisse? Der Verfasser ver-
wahrt sich in der Vorrede dagegen, daß sein
Werk eine römische Geschichte sei. Nicht auf
die Details der Thatsachen und Einrichtungen
gehe er ein, sondern sein Hauptziel sei die Dar-
legung des allgemeinen Ganges der röm. Ge-
schichte, die schrittweise Entwicklung des klei-
nen palatiniscljen Rom zu seiner kolossalen Be-
stimmung. Zu diesem Zwecke, erklärt er wei-
ter, habe er, so oft es ihm möglich ge-
wesen sei, die Ursache und Tragweite der
Ereignisse, die verbindenden Fäden, kurz die
Logik der Thatsachen zu entwickeln gesucht.
Freilich habe die Kritik über viele Thatsachen
noch keineswegs das letzte Wort gesprochen. —
Dieser Plan ist durch seine Unklarheit und in-
neren Widersprüche für das ganze Werk cha-
rakteristisch. Gehören jene Aufgaben, die D.
unter politischen Studien versteht, etwa nicht
zur Gompetenz des Historikers? Wie kann D.
hoffen, sein Ziel ohne kritische Untersuchungen
Devaux , Etudes politiques sur Phistoire Romaine. 823
zu erreichen, die er vorher von der Hand weist,
obgleich er hier zugesteht, daß die Thatsachen
keineswegs alle sicher ständen? Am stärksten
aber widerspricht er sich darin, daß er die im
Titel allein versprochenen etudes pol. nur geben
will, so oft es ihm möglich ist Also ist der
Titel unbegründet gewählt. Denn was giebt
das Buch in Wirklichkeit? Eine Erzählung der
Hauptereignisse von Romulus bis zur Schlacht
von Zama nach den bekannten Quellenschrift-
stellern, wobei sich der Verf. in den ausge-
tretensten Bahnen bewegt; nur selten erinnert
er sich an den Titel seines Buches, ganz treu
bleibt er ihm nur im 1. Chap., während die
Etudes politiques hernach ganz in den Hinter-
grund treten. — Dies I. Chap., considerations
generates überschrieben, bietet im ganzen auch
das beste und interessanteste des ganzen Buches.
D. entwickelt darin, daß die Geschichte Grie-
chenlands und Roms trotz zahlreicher Analogien
(Abneigung gegen die Monarchie, politische Be-
deutungslosigkeit der Priesterschaft, politischer
Einfluß des Eigentbums, d. h. Eintheilung nach
Vermögensgraden) doch einen tiefen Unterschied
des politischen Charakters der beiden Völker
anfweise. In Griechenland herrscht Zer-
splitterung. Die Natur begünstigt die Entwick-
lung kleiner Centralgewalten. Am verhängnis-
vollsten ißt für die Griechen der Mangel an
praktischem Verwaltungsgeschick und die Maaß-
losigkeit in der Politik, welche sehr merkwür-
dig ist bei dem feinen Sinn für Maaß, den die
Griechen in der Kunst bethätigen. Die sparta-
nische Aristokratie ist ebenso maaßlos wie die
athenische Demokratie. Daher rührt auch die
sehr geringe Widerstandskraft gegen Mißerfolge
824 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
(die sicilische Expedition and Aegospotamoi
stürzt die athen. Macht ebenso definitiv, wie
die beiden Feldzüge des Epaminondas die spar-
tanische). In Italien herrscht anfangs gleiche
Zerstückelung, es sind lauter Cantone, fast
Atome; doch eins dieser Atome vereinigt die
andern Schritt für Schritt um sich und richtet
schließlich die größte Einheit auf, welche die
Welt bisher gesehen hat. Der wesentlichste
Differenzpunkt liegt im Verwaltungsgeschick.
Rom vereinigt die spartanischen und atheni-
schen Vorzüge, indem es die einen durch die
andern begrenzt und ergänzt. Roms Grund-
lage ist eine scharf ausgeprägte Aristokratie;
in dieser beruht die Dauerhaftigkeit, der Weit-
blick und die Würde der römischen Politik.
Aber Rom hat sich von der spartanischen Ein-
seitigkeit und Beschränktheit fern zu halten ge-
wußt, und wenn die Aristokratie der Demokra-
tie auch hartnäckig widersteht, so weiß sie
doch auch zu erkennen, wann es noth thut, der
Demokratie ihren politischen Antheil zu geben.
Die Demokratie wiederum ist nicht ungeduldig
und läßt sich nur ungern zum äußersten hin-
reißen; lange begnügt sie sich mit kleinen Fort-
schritten und Erfolgen. Dies ändert sich erst
mit dem Eindringen fremder Elemente, welche
Rom seinen rein römischen Charakter nehmen.
— - Der Kraft seiner inneren Verfassung ent-
spricht die Macht nach außen, und aus dieser
Vereinigung entspringt die größte Gewalt, wel-
che jemals eine Staatsregierung besessen hat.
Als schließlich die Kriegs und Eroberungs-
politik das Maaß tiberschritt, da wurde die Grund-
lage des Reichs gestürzt und jene Aristokratie
und Demokratie giengen unter durch den Despo-
Devaux, Etudes politiques sur Phistoire Romaine. 825
tismus, welcher aus jener unaufhörlichen Erobe-
rungspolitik entsprang. Die Aristokratie hat,
nicht dem eignen Triebe, sondern der Noth ge-
horchend, jene Eroberungspolitik gewählt. Sie
hat naturgemäß am Frieden Interesse, weil der
Krieg sie allmächtigen Heerführern unterordnet.
Die innere Lage aber war es, welche sie zu
jener kriegerischen Politik zwang; in dieser
allein fand sie Widerstandskraft gegen die inne-
ren Gegner. Durch das unaufhörliche Fort-
dauern der Kriege concentrierte sich die Aristo-
kratie mehr und mehr zur Oligarchie, bis schließ-
lich zwei oder drei die Regierung in der Hand
haben und endlich einer davon den republica-
nischen Koloß unter die Militärdespotie beugt.
— D. stellt sich hier nun eine zweite Aufgabe,
den aufsteigenden Ast der röm. Gesch., die Ge-
schichte seiner Erhebung, zu geben. Das thut
er aber auch nicht, sondern, wie schon oben
bemerkt, er liefert eine gewöhnliche Darstellung,
welche nach Seite der Kritik wie Beherrschung
der Literatur durchaus nicht auf der Höhe steht,
mitunter sogar einen starken Beigeschmack von
Dilettantismus hat, so z. B. seine Bemerkung
über die lateinische Sprache (I, p. 26): „le la-
tin est consid6r6 comme une langue indo-euro-
p£enne ayant des rapports avec le grec, comme
avec le Sanscrit, le lithuanien et d'autres langues
de cette grande famille", so ferner die kelti-
schen Etymologien im Anhange zum ersten
Bande, so seine Auseinandersetzung über die
Etrusker I p. 27, wobei ihm die neusten Arbeiten
auf dem Gebiete der Etruskologie ganz unbe-
kannt geblieben sind. Oberflächlich und rein
äußerlich ist seine Kritik. Wir wollen dieses
an zwei größeren Beispielen nachweisen, an
826 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25. 26.
seiner Kritik der Königszeit und an der des
Hanni balischen Krieges. — Chap. Ill hat die
Ueber8chrift Traditions tegendaires et r^alite
historique. Der Prüfstein für die Zuverlässig-
keit der Tradition ist nach Devaux die Wahr-
scheinlichkeit. Es kommt darauf an, ob das
von der Tradition überlieferte Ereigniß zu den
dasselbe umgebenden, zu den vorhergehenden
und zu den folgenden stimmt. Wenn die Tra-
dition einer Reihe von Thatsacben eine andere
hinzufügt, welche offenbar die Ursache, und wie-
der eine andere, welche offenbar die Folge je-
ner ersten sind, ohne daß die Tradition dabei die
zwischen allen bestehende Verbindung erkennt,
so gewinnen dieselben Wahrscheinlichkeit. Wenn
eine Erzählung, die offenbar erdichtet ist, um
einem bestimmten Manne, einem Geschlecht oder
der ganzen Nation zu schmeicheln, gewisse Zu-
thaten enthält, welche jener Absicht zuwider-
laufen, so verdienen diese Theile der Erzählung
Glauben; dasselbe gilt von denjenigen That-
sachen, welche nicht direct bezeugt werden,
sondern sich aus andern ergeben. Die Tradition
verdient hier nach D. denselben Glauben, wie
die rein dichterischen Werke; die an Odysseus
gerichtete Frage, ob er Seeräuber sei, enthält
ein unbestreitbares Zeugniß für die Ausdehnung
der Seeräuberei in jenen Zeiten, ebenso geht
aus der Ilias die untergeordnete politische Be-
deutung des Priesterthums, das völlige Zurück-
treten desselben den Königen gegenüber hervor.
— Dieses sind die positiven kritischen Grund-
sätze Devaux'. Zunächst ist wieder auf den
starken Widerspruch hinzuweisen, in den sich
D. verwickelt. Er will nachweisen, wie aus der
Tradition die redlite historique zu gewinnen
Devaux , Etudes politiques sur l'histoire Romaine. 82 T
sei, kommt aber in dem Nachweise bis auf den
letzten Punkt nur zur probabilite und diese
beiden Begriffe decken sich doch wahrlich
nicht. Was den letzten Punkt mit den Beispie-
len aus Homer betrifft, so hilft derselbe nur zur
Erkenntniß kulturgeschichtlicher Zustände, aber
nicbt geschichtlicher Thatsacben. Sodann ist
zu bemerken, daß diese (übrigens längst be-
kannten und angewandten) Kriterien allein
nicht genügen, um eine feste historische Grund-
lage zu schaffen. Sie sind doch nur in ganz
bestimmten Fällen anwendbar und geben höch-
stens Wahrscheinlichkeit. Ueber die Stellung
der modernen Forschung zur ältesten römischen
Geschichte und über die von dieser befolgten
kritischen Methoden gehtD. einfach mit der Be-
merkung hinweg, daß er das Mißtrauen gegen
die Königszeit nicht theile, (preface p. IV), daß
er dieselbe vielmehr keineswegs kritischer Stu-
dien unwerth erachte (als ob vor D. keine ge-
macht wären!). Nur die beiden Hauptgründe,
aus denen man die Continqität der Tradition
mit der schriftlichen Fixierung derselben für
unmöglich erklärt hat, sucht er als solche zu
entkräften, nämlich das Fehlen, der Schrift und
den gallischen Brand. Bezüglich der Schrift
beruft sich D. auf Mom m sen, nach dem die
Schrift in Latium uralt sei. Mo nam sen spricht
aber nur von der zu urkundlichen Aufzeichnun-
gen gebrauchten Schrift; von einer Verwendung
zu literarischen Zwecken kann nicht die Bede
sein. Es ist D. auch ganz gleichgiltig, ob wir
etwas bestimmtes über eine solche Aufzeichnung
wissen oder anzunehmen berechtigt sind, ja hier
fragt er nicht einmal nach der Wahrscheinlich-
keit, hier genügt ihm die bloße Möglichkeit
828 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25.26.
Nehmen wir an, sagt* er, daß die Tradition un-
ter Serv. Tüll, schriftlich fixiert sei, so hat die
mündliche Tradition nach der gewöhnlichen
Chronologie bis dahin einen Zeitraum von 138
Jahren durchlaufen. Ein 80jähriger, der bis
zur Regierung des Serv. Tüll, gelebt hat, kann
also noch jemand gekannt haben, der in den
ältesten Tagen Roms geboren ist. — Aehnlich
überbrückt Devaux die durch den gallischen
Brand geschaffene Kluft. Ein im Jahre 410
a. u. geborner könne Zeitgenosse jener Kata-
strophe gewesen sein und könne dann in vorge-
rückten Jahren wieder jnnge Leute kennen ge-
lernt haben, welche bis zur Zeit des Fabius
Pictor gelebt hätten; so daß die Zeit des galli-
schen Brandes mit der des Pictor durch einen
Vermittler verbunden gedacht werden könne.
— Er verneint ferner die Notwendigkeit der
Annahme, daß alle historischen Urkunden durch
den Brand vernichtet seien, indem er sich auf
das pleraeque in der bekannten Stelle des Liv.
6, 1 stützt. Die vom Senat befohlene Wieder-
herstellung der annates maximi kann nach D.
in zuverlässiger Weise ausgeführt sein, weil
erstlich Urkunden geflüchtet oder auf dem Ca-
pitol geborgen sein können, sodann weil die
Städte Latiums urkundliches Material zur Wie-
derherstellung boten. Ferner werden die Fami-
lienarchive angeführt, deren Besitzer nicht in
Rom geblieben seien. Daß sie ihre Archive
mitgenommen haben, scheint D. als selbstver-
ständlich vorauszusetzen. Da D. Nitzsch'
Annalistik und Clason's Fortsetzung von
Schwegler's römischer Geschichte nicht kennt,
so sind deren unabweisbare Gründe gegen die
Magistratsverzeichnisse und Familienchroniken
Devaux, Etudes politiques sur Phistoire Romaine. 829
als Urquellen der römischen Geschichte für ihn
einfach nicht vorhanden. Das Resultat dieser
völlig in der Luft schwebenden Kritik ist nunr
daß die Tradition, nach Abzug poetischer und
rhetorischer Ausschmückungen im wesentlichen
jene r6alitä historique besitzt. Ueberall findet
D. einen Kern, den er für historisch nimmt,,
weil derselbe Wahrscheinlichkeit besitze. Selbst*
mit der Chronologie unter Romulus und Numa,
beschäftigt sich D.
Ebenso unhaltbar ist seine Kritik desHanni-
balischen Krieges. Seine Ansicht über densel-
ben bezeichnet er in der Vorrede als völlig neu
und ganz abweichend von allen antiken Quel-
len und modernen Forschungen. Man fragt
sich staunend, worauf denn D. seine bessere
Kenntniß stützen wolle, da er der gesammteit
Ueberlieferung entgegentritt. Doch D. thut dies
ohne Belege; er giebt seine Ansicht als Politi-
ker (cf. pref. p. II vues d'un homme politique,
wie er sein Buch auch hätte nennen können),
woraus hervorgeht, daß nach D. dem Politiker
in der Geschichtsforschung die Dictatur ge-
bührt. Worin besteht nun Devaux* Abwei-
chung? Darin, daß der Werth der Leistungen
Hannibals bisher maaßlos überschätzt sei. Nach
D. ist Hannibal die Geißel seines Vaterlandes
gewesen; denn er hat es ohne Grund in je-
nen furchtbaren Krieg verwickelt, welcher die
Macht desselben für immer brach. Und zwar
ist Hannibal allein dafür verantwortlich. D.
bestreitet, der einstimmigen Ueberlieferung zum
Trotz, daß schon Hamilcar den Plan zum Kriege
gefaßt habe. Hamilcars Eroberungen in Spa-
nien hätten nur den Zweck gehabt, die Macht
seines Vaterlandes überhaupt zu stärken, der
830 Gott. gel. Anz. 1881. Stück 25.26.
Armee ergiebige Rekrutieningsquellen zu eröff-
nen and so den Einfluß seiner Partei im Senat
von Carthago zum ausschlagenden zu machen.
Ueberhaupt ist nach D. ein unauslöschlicher
Haß und Rachedurst Hamilcars gegen die Rö-
mer nirgend erkennbar, da er ja selbst im er-
sten punischen Kriege die Friedensunterhand-
lungen übernommen habe. Die ausdrücklichen
Angaben, aus welchen Gründen und mit welchen
Nebengedanken er das that, beachtet Devaux
einfach nicht. Das einzige Zeugniß ist nach
ihm die nichtige Anekdote von dem Eide, den
Hamilcar den neunjährigen Hannibal schwören
läßt. Hier zeigt sich nun die Kritiklosigkeit
Devaux' im schärfsten Licht. Nachdem er
eben (II, p. 170) für Livius an der betreffenden
Stelle XXI, 1 als Quelle Polybius angegeben
hat, stellt er gleich darauf in derselben Sache
die Autorität des Livius (und Appian) über die
des Polybius, weil jene beiden die Erzählung
von dem Eide als ein on du einführen, also der
vorgefaßten Meinung Devaux1 allenfalls als
Stütze dienen können. D. hält die Erzählung
für eine Erfindung Hannibals, gemacht zu dem
Zwecke, um das tollkühne Unternehmen durch
das populäre Andenken an seinen Vater, zu
legitimieren. Auch mit einem inneren Grunde
glaubt D. die Unwahrheit belegen zu können:
der Eid sei sinnlos, denn Hamilcar habe doch
yon Hannibal zur Zeit der Eidesleistung noch
nicht wissen können, daß derselbe Bö große mi-
litärische Talente besitze. — Die ganze Argu-
mentation widerlegt sich durch die bloße An-'
führung. In dem ersten Argument wird die
nicht bewiesene Behauptung, Hamilcar habe an
einen neuen Krieg gegen Rom nicht gedacht,
Devaux, Etudes politique^ sur l'histoire Romaine. 831
als Voraussetzung genommen. Das zweite ist
nichtig, weil D. in seiner Verblendung gar nicht
beachtet, was der Hauptzeuge Polybius (111,11)
als Inhalt des Eides angiebt und unter welchen
Umständen Hannibal von dem Eide erzählt.
Hamilcar läßt den neunjährigen Knaben schwö-
ren [Atid¬s %Pwfjtaioig svvo^ühv, was von et-
waigen militärischen Talenten durchaus unab-
hängig ist. — Die ganze Nachricht stammt al-
lerdings offenbar aus den Memoiren des Hanni-
bal und es wäre zu fragen, ob Hannibal irgend
einen Grund hatte, diese Erinnerung aus der
Kindheit zu erdichten. Alles spricht dagegen.
Von Sorge um seinen Nachruhm kann keine
Rede sein. Er hat den Eid bis in seine letzte
Lebenszeit offenbar als theures Geheimniß, ge-
wissermaßen als Vermächtuiß seines Vaters, ge-
hütet und würde ihn auch da nicht preisgegeben
haben, wenn nicht seine ganze Stellung beiAn-
tiochus auf dem Spiel gestanden hätte; er thut
es in der festen Zuversicht, den Argwohn des
Antiochus zu zerstreuen und ihn für seine Ab-
sichten zu gewinnen. Die Annahme, daß er als
letzten Trumpf eine Lüge, und noch dazu eine
so seltsam erfundene, ausgespielt habe, wäre
widersinnig, und nimmermehr hätte eine Lüge
einen so entscheidenden Eindruck hervorge-
bracht, wie ihn Polybius so einfach und schön
ausdrückt *Avtto%o$ äxoifaag xal dö£a$ aviona-
\}<jü<; dpa dl d Xy &irw <; eiQJja&a » nd<rtj$ xrfi
ngovnagxoi^fjg imoiplaq dntoiTj. — So unhalt-
bar diese neue Auffassung, so zwecklos ist die
Untersuchung der Möglichkeiten, was hätte ge-
schehen können, wenn H. den Krieg nicht un-
ternommen hätte, ob nicht in der Folge eine
Allianz zwischen der See- und Handelsmacht