Skip to main content

Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  preserved  for  general ions  on  library  shelves  before  il  was  carefully  scanned  by  Google  as  part  of  a  project 

to  make  the  world's  books  discoverable  online. 

Il  has  survived  long  enough  for  the  copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  copyright  or  whose  legal  copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  culture  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  marginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  file  -  a  reminder  of  this  book's  long  journey  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  steps  to 
prevent  abuse  by  commercial  parlies,  including  placing  technical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  of  the  plus  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  from  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  system:  If  you  are  conducting  research  on  machine 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  large  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encourage  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attribution  The  Google  "watermark"  you  see  on  each  file  is  essential  for  informing  people  about  this  project  and  helping  them  find 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  responsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  b<x>k  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 

countries.  Whether  a  book  is  still  in  copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can't  offer  guidance  on  whether  any  specific  use  of 
any  specific  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  means  il  can  be  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liability  can  be  quite  severe. 

About  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organize  the  world's  information  and  to  make  it  universally  accessible  and  useful.  Google  Book  Search  helps  readers 
discover  the  world's  hooks  while  helping  authors  ami  publishers  reach  new  audiences.  You  can  search  through  the  lull  text  of  this  book  on  I  he  web 
at|http  :  //books  .  qooqle  .  com/| 


Google 


Über  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  JisziULk-s  Exemplar  eines  Buches.  (.Ills  seil  Generalionen  in  den  Regalen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Biieher  dieser  Well  online  verlligbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfällig  geseannt  wurde. 

Das  Buch  hat  das  Urheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schulzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  isi.  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  B Lieher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheil  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren.  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Original  band  einhalten  sind,  linden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tm  ng  s  r  ichtl  i  nien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.      Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.      Nichlsdeslolrolz  ist  diese 
Arbeil  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  verhindern.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  für  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sic  diese 
Dateien  nur  fur  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist.  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  für  diese  Zwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-Markenelemcntcn  Das  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  linden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  linden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus.  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  isi.  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus.  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.   Eine  Urheberrechlsverlelzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.    Google 

Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unlcrslülzl  Aulurcii  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppen  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchlexl  können  Sie  im  Internet  untcr|http  :  //boos.::  .  j -;.-;.  j_^  .  ~:~\ durchsuchen. 


t  *  feä  *  tea  *  feil  *  test  ♦  feil  »JSä.  *  teä  ♦  > 


»:-»>»:#:■»» 


**:♦:♦: 

""•:*:*:♦: 

■:#:#:#:#: 
&:#:#:«4 

:*:♦:♦:#:■* 


w** 


AS 

IfSL 

at 


•  • 

Getting  is  che 

gelehrte  Anzeigen. 


Unter  der  Aufsicht 


der 


Köugl.  Gesellgehaft  4er  Wissenschaften. 


1881. 


Erster   Band. 


Göttingen. 

Dieterich'sche  Verlags-Buchhandlirog. 

1881. 


Verzeichniss 

der 

Mitarbeiter  an  dem  Jahrgange  1881 

der 

Göttingischen  gelehrten  Anzeigen. 


Die  Zahlen  verweisen  auf  die  Seiten. 


Dr.  E.  Alberti,  Custos  in  Kiel.     1032. 

Professor  Dr.  von  Amira  in  Freiburg  i.  Br.     1345. 

Privatdocent  Dr.  F.  Baethgen  in  Kiel.    915.  1178. 
Director  Dr.  A.  von  Bamberg  in  Eberswalde.     1244. 
Geh.  Hofrath  Professor  Dr.  E.  Bartsch  in  Heidelberg. 

140.  403.  874.  1234.  1305.  1337. 
Professor  Dr.  J.  J.  Baumann  in  Göttingen.    347.  761. 

767. 
Professor  Dr.  F.  Bech  in  Zeitz.    490. 
Privatdocent  Dr.  Ernst  Bernheim  in  Göttingen.   408. 

1086.  1520. 
Professor  Dr.  A.  Bezzenberger   in  Königsberg.    93. 
Professor  Dr.  H.  J.  Bidermann  in  Graz.    338. 
Professor  Dr.  F.  Blass  in  Kiel.    252. 
Oberforstrath  E.  Braun  in  Darmstadt.    461. 
Professor  Dr.  S.  Brie  in  Breslau.    182. 

Director  Dr.  W.  De  ecke  in  Straßburg  i.  Eis.     1112. 
Professor  Dr.  B.  Delbrück  in  Jena.    394. 
Oberlehrer  Dr.  Dohle  in  Straßburg  i.  Eis.    1464. 
Professor  Dr.  von  Druffel  in  München.    1203. 

a* 


IV  Verzeichniß  der  Mitarbeiter. 

Professor  Dr.  E.  Dum  ml  er  in  Halle.    54.  126. 
Oberconsistorialrath  Dr.  Fr.  Düsterdieck  in  Hanno- 
ver.   32. 

Professor  Dr.  A.  Er  man  in  Berlin.    812. 

Professor  Dr.  A.  Pick  in  Göttingen.    422.  1418. 

Bibliothekar  Dr.  0.  von  Gebhardt  in  Göttingen.  445. 
Professor  Dr.  Georg  Ger  land  in  Straßburg  i.  Eis.  518. 

1062. 
Professor  Dr.  J.  Günther  in  Ansbach.    1387. 

Professor  Dr.  Häussner  in  Heidelberg.    778. 
Gymnasiallehrer  R.  Hansen  in  Sondershansen.    694. 
Geheime  Justizrath    Professor    Dr.    G.  Hart  mann    in 

Göttingen.    417. 
Professor  Dr.  P.  Hasse  in  Eiel.    1153. 
Professor  Dr.  W.  Herrmann  in  Marburg.     193. 
Oberstudienrath  Dr.  W.  Heyd  in  Stuttgart.    132. 
Dr.  G.  Heylbut,  Custos  in  Göttingen.     1370. 
Professor  Dr.  0.  Hirschfeld  in  Wien.     126. 
Professor  Dr.  E.  Holder  in  Erlangen.    243. 
Oberlehrer  Dr.  Johannes  Hollenberg  in  Mors.     1277. 
Professor  Dr.  F.  Hommel  in  München.     1537. 
Professor  Dr.  Th.  Husemann  in  Göttingen.    507.  924. 

981.  1121.  1358. 

Professor  Dr.  D.  J.  L.  Jacobi  in  Halle.    1135. 

Oberlehrer  Dr.  G.  Kaufmann  in  Straßburg  i.  Eis.  221. 
Professor  Dr.  D.  Kaufmann  in  Budapest.    964.   1640. 
Professor  Dr.  A.  Klostermann  in  Kiel.    1089. 
Generalmajor  G.  Köhler  in  Breslau.    609. 
Professor  Dr.  W.  Krause  in  Göttingen.    543.  1488. 

Privatdocent  Dr.  K.  Lamprecht  in  Bonn.    1010. 

Gymnasiallehrer  Dr.  K.  Lasswitz  in  Gotha.    1877. 

GeheimeKirchenrath  Prof.  Dr.  Lipsius  in  Jena.   353. 

Professor  Dr.  von  Liszt  in  Gießen.     85. 

Dr.  S.  Löwenfeld  in  Berlin  668. 

Professor  Dr.  P.  de  La  garde  in  Göttingen.    38.  128. 

Professor  Dr.  Mangold  in  Bonn.    40. 

GeheimeRegierungsrath  Prof.  Dr.  A.  Meitzen  in  Ber- 
lin.   545. 

Kaiserlich  Russischer  Wirklicher  Staatsrath  Professor 
Dr.  Leo  Meyer  in  Dorpat.     1281. 

Professor  Dr.  A.  Michaelis  in  Straßburg  i.  Eis.    595. 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter.  V 

GeheimeRegierungsrath    Professor    Dr.   E.    Nasse    in 

Bonn.    257. 
Professor  Dr.  Nehring  in  Breslau.    993. 
Professor  Dr.  B.  Niese  in  Breslau.     1505. 
Professor  Dr.  Th.  Nöldeke  in  Straßburg  i.  Eis.    308. 

587.  1078.  1222. 
Professor  Dr.  Jules  Oppert  in  Paris.    97.  897.  1249. 

Professor  Dr.  J.  Parts  ch  in  Breslau.    321.  449. 
Professor  Dr.  B.  Pauli  in  Göttingen.    7.  533. 
Professor  Dr.  R.  Pischel  in  Kiel.     319.  1313.  1528. 
Oberlehrer  Dr.  Plew  in  Straß  bürg  i.  Eis.    821. 

Professor  Dr.  J.  B  e  h  m  k  e  in  S.  Gallen.    284.  1295.  1409. 
Professor  Dr.  W.  Boscher  in  Meißen.    654. 
Professor  Dr.  H.  Rosenbusch  in  Heidelberg.     1601. 
Privatdocent  Lie.  Dr.  V.  Ryssel  in  Leipzig.    851. 

Oberschulrath  Dr.  E.  von  Sallwürk  in  Karlsruhe  i.  B. 
1534. 

GeheimeRegierungsrath  Prof.  Dr.  H.  Sauppe  in  Göt- 
tingen.    1473.  1626.  1633. 

Professor  Dr.  C.  Schirren  in  Kiel.     1. 

Professor  Dr.  Fr.  Schirr  mac  her  in  Rostock.    647. 

Professor  G.  Schmidt  in  Halberstadt.    954. 

Consistorialrath  Professor  Dr.  H.  Schultz  in  Göttin- 
gen.   769. 

Professor  Dr.  H.  Schweizer- Sidler  in  Zürich.    1157. 

Professor  Dr.  C.  Siegfried  in  Jena.    372.  701. 

Professor  Dr.  C.  von  Sigwart  in  Tübingen.    25. 

Dr.  Spengel,  Director  der  naturwissenschaftlichen 
Sammlungen  in  Bremen.     741. 

Professor  Dr.  A.  Stern  in  Bern.    921.  1102. 

Professor  Dr.  J.  Storm  in  Christiania.    885. 

Henry  Sweet  in  London.     1398. 

Professor  Dr.  M.  Thomas  in  München.     17. 
Professor  Dr.  Trumpp  in  München.    673. 

Professor  Dr.  A.  Val  de  Lie vre  in  Innsbruck.    961. 
Professor  Dr.  A.  von  Velsen  in  Hanau.     501. 
Dr.  F.  Vogel  in  Rom.    218. 

Staatsarchivar  Dr.  R.  Wackernagel  in  Basel.    1270. 
GeheimeRegierungsrath   Professor    Dr.    G.   Waitz    in 

Berlin.    225.  705.  929. 
Professor  Dr.  N.  Weck  lein  in  Bamberg.     1141. 


VI  Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 

Professor  Dr.  L.  Weiland  in  Göttingen.    1551. 

Professor  Dr.  C.  von  Weizsäcker  in  Tübingen.    838. 

Professor  Dr.  J.  Wellhausen  in  Greifswald.  317. 
1375. 

Contre- Admiral  R.  Werner  in  Wiesbaden.    65. 

Professor  Dr.  F.  Wieseler  in  Göttingen.     1181. 

Reallehrer  Dr.  G.  Willenberg  in  Spremberg.     1591. 

Privatdocent  Dr.  E.  Wilken  in  Göttingen.  1119.  1151. 

Hofrath  Professor  Dr.  E.  Winkelmann  in  Heidel- 
berg.   1057. 

Dr.  K.  Zeumer,  Mitarbeiter  an  den  Monumenta  Ger- 
man iae  in  Berlin.    797. 
Dr.  Zucker,  Bibliothekar  in  Erlangen.    938. 
Rabbiner  Dr.  M.  S.  Zucke rmandel  in  Trier.     717. 


Verzeichniss 

der 

besprochenen   Schriften. 


Die  Zahlen  verweisen  auf  die  Seiten. 


Ezra  Abbot,  The  Authorship  of  the  Fourth 
Gospel:  External  Evidences.  40 

JE.  Abeniacar,  s.  Pompei. 

Acta  imperii  inedita  sec.  XIII,  herausgeg.  von 
B.  Winkelmann.  1057 

Aus  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.  I.  Jahrg.     65 

Aristophanes  ed.  F.  Blaydes 

—  Band   I:  Thesmophoriazusae.  501 

—  Band  II:  Lysistrata.  1244 
G.  J.  A s coli,  Iscrizioni  inedite  o  mal  note,  greche, 

latine,   ebraiche,  di  antichi  sepolcri  giudaici  di 
Napolitano.  964 

Australien,  Drei  ethnologische  Fublioationen, 
aus  und  über  — 

1)  The  Native  Tribes  of  South  Australia.  513 

2)  The  Folklore,  manners,  customs  and  langua- 
ges of  the  South  Australian  Aborigines.         521 

3)  The  Aborigines  of  Victoria.  524 

J.  J.  Baumann,  Handbuch  der  Moral.  347 

A.  Baumstark,  Ausführliche  Erläuterung  des  be- 
sonderen völkerschaftlichen  Theiles  der  Germania 
des  Tacitus,  1157 

&.  Benfey,  Erinnerungen  an  Friedrich  Froebel.    1534 
K.  Benrath,  s.  Summa  der  Heil.  Schrift. 


VIII       Verzeich niß  der  besprochenen  Schriften. 

W.  Berblinger,  Gerhard  der  Große  und  seine 
Residenz  Rendsburg.  1153 

0.  Berg,  Pharmaceutische  Waarenkunde;  5.  Aufl., 
neu  bearbeitet  von  A.  Garcke.  981 

E.  Bern  er,  Zur  Verfassungsgeschichte  der  Stadt 
Augsburg  ( A.  u.  d.  Tit. :  Untersuchungen  zur  Deut- 
schen Staats-  und  Rechtsgeschichte  herausgegeben 

von  O.  Gierke,  Band  V).  797 

Berthold  von  Regensburg.  Von  F.  Pfeiffer, 
II.  Band  von  /.  Strobl.  140 

F.  B lay  des,  s.  Aristophanes. 
J.  F.  Böhmer,  s.  Regesten. 

H.  Boos,  sieh  Urkundenbuch  der  Landschaft 
Basel. 

Leibnizen'8  und  Huyghens'  Briefwechsel  mit 
Papin,  herausgegeben  von  E.  Gerland.  1387 

K.  Brugman,  s.  H.  Ost  ho  ff. 

Jordani   Bruni    Nolani    Opera  latine  conscripta 

K.  Bücher,  s.  de  Lav  el  eye. 

recens.  F.  Fiorentino.    Vol.  I,  Pars  I.  25 

E.  H.  Bunbury,  History  of  Ancient  Geography.    321 

R.  Burkart,  Die  chronische  Morphiumvergif- 
tung. 1358 

L.  Campbell,  s.  Sophocles. 

H.  Cardauns,  Eonrad  von  Hostaden.  1010 

W.  H.  Carpenter,  Grundriß  der  neu  isländisch  en 

Grammatik.  1151 

A.  de  Ceuleneer,  Essai  sur  la  vie  et  le  regne 

de  Septime  Severe.  126 

al-Chdlidt,  s.  Diwan  des  Lebld. 
A.  H.  Charte ri8,  Canonicity.  445 

J.  Coaz,  Die  Lauinen  der  Schweizeralpen.  449 

M.    Cohn,    Beiträge   zur   Gesch.    des  römischen 

Rechts.     Band  I.  243 

E.  Gurtius  und  J.  A.  Kau  pert,  Karten  von 
Attika.    I.  Heft.  1473 

F.  Dahn,  s.  E.  von  Wietersheim. 

H.  F.  Delaborde,  I^tude  sur  la  chronique  en 
prose  de  Guillaume  le  Breton.  929 

F.  Delitzsch,  8.  Weber. 

P.  Devaux,  Etudes  politiques  sur  les  principaux 
evenements  de  l'bistoire  Romaine.  821 

L.  Diefenbach,  Völkerkunde  Osteuropas.  1.  Bd.  1062 


Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften.         IX 

Der  Diwan  des  Lebid,  herausgegeben  von  <7ä- 
suf  Dijd-ad-IHn  al-Chdlidt.  1537 

E.  IMlmmler,  s.  Monument a. 

M.  Erdmann,  De  Pseudolysiae epitaph ii codicibus." 

—  —  Pseudolysiae  oratio  funebris.  1633 

F.  Fiorentino,  s.  Bruno. 

Th.  Fischer,  Die  Dattelpalme.  1222 

V.  Floigl,  Die  Chronologie  der  Bibel  etc.  97 

—  —  Cyrus  und  Herodot  nach  den  neuge- 
fundenen Keilinschriften.  1249 

UpsalaLäkareförenings  För  hand  Ungar.  Bd.XV.  1121 

F.  Franciß,  Der  deutsche  Episkopat  in  seinem 
VerhältniB  zu  Kaiser  und  Reich  unter  Hein- 
rich HL,  1039-1056.    Theil  I.  II.  408.  1086 

C.  Frey,  Schicksale  des  königlichen  Gutes  in 
Deutschland  unter  den  letzten  Staufern  seit  König 
Philipp.  1551 

F.  Froebel,  8.  R.  Benfey. 

A.  Oarcke,  s.  Berg. 

O.  von  Gebhardt  und  A.  Harnack,  Evange- 
liorum  codex  graecus  purpureus  Rossanensis.         938 

E.  Gerland,  sieh  Briefwechsel.  1387 

Geschichte  der  Europäischen  Staaten.  Lief.  XLII, 
Abth.  2:  Geschichte  von  Spanien  von  F.  W. 
Schirrmacher,  Band  IV.  647 

0.  Gierke,  Johannes  Althusius  und  die  Entwick- 
lung der  naturrechtlichen  Staatstheorien.  182 

O.   Gierke,  a.  Bern  er,  Rosin. 

H.  Girard,  La  philosophic  seien tifique.  787 

E.  Götzinger,  sieh  Joachim  von  Watt.  921 

C.  Graux,  De  Plutarchi  codice  manuscripto  Ma- 
tritensi  injuria  neglecto.  1370 

H.  Grenacher,  Untersuchungen  über  das  Seh- 
organ der  Arthropoden.  741 

M.  Güdemann,  Geschichte  des  Erziehungswesens 
und  der  Cultur  der  abendländischen  Juden  wäh- 
rend des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeit.  — 
Geschichte  d.  E.  u.  d.  C.  der  Juden  in  Frank- 
reich und  Deutschland  etc.  1640 

Guülaume  le  Breton,  s.  Delaborde. 

Hadamars  von  Lab  er  Jagd.  Herausgeg.  von 
K.  Stejskal.  1305 


X  Verzeichniß  der  besprochenen  Schriften. 

Ad.  Hansen,  Die  Quebracho-Rinde.  924 

Hanse reces8e,  Band  V  (Recesse  und  andere 
Akten  der  Hansetage  von  1256—1480.   BandV).        7 

Harnack,  s.  von  Gebhardt. 

B.  Heisterbergk,  Ueber  den  Namen  Italien.      1112 

Die  poetischen  Erzählungen  des  H errand  von 
Wildonie  und  die  kleinen  innerösterreichi- 
schen Minnesinger,  herausg.  von  K.  F.  Kummer.  1234 

G.  Hertel,  Der  Anfall  der  Stadt  und  des  Erz- 
stifts Magdeburg  an  Brandenburg.  957 

M.  H  ey  n  e ,  Uebungsstücke  zur  Laut-  und  Flexions- 
lehre. 111 

G.  Hoffmann,  Opuscula  Nestoriana  syriace.  915 

F.  Hommel,  Abriß   der  Babylonisch- Assyrischen 

und  Israelitischen  Geschichte.  102 

Horatius,  s.  0.  Keller. 
Hosen,  8.  Nowack. 
Huyghem,  s.  Briefwechsel. 

M.  Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    609 
Jelaleddin  Mirza,  Buch  der  Könige.  673 

Isaios,  s.  W.  Boeder. 
Itinera  Hierosolymitana  etc.  ed.  T.  Tobler  et  Aug. 

Molinier.  218 

Der    Junker    und    der    treue   Heinrich. 

Herausgeg.  von  K.  Kinzel.  1337 

G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl 

den  Großen.    Band  I.  545 

J.  A.  Kaupert,  s.  Gurtius. 

0.  Keller,  Epilegomena  zu  Horaz.  778 

K.   Kinzel,    s.   Der   Junker   und    der  treue 

Heinrich. 
A.  Klostermann,   Korrekturen  zur   bisherigen 

Erklärung  des  Römerbriefes.  1089 

A.  Krichenbauer,  Theogonie  und  Astronomie.     654 
K.  F.  Kummer,  8.  Herrand  von  Wildonie. 

E.  La  as,  Kants  Analogien  der  Erfahrung.  1295 

—     —       Idealismus  und  Positivismus,  1.  Theil.      1300 
P.  de  Lagarde,  Aus  dem  deutschen  Gelehrten- 
leben. 128 
Lamprecht    von    Regensburg,    herausgeg.    von 

K    Weinhold.  490 

A.  von  Lasaulx ,  s.  Sartorius  v.  W alter s- 
haiiKen. 


Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften.        XI 

£.    de    Laveleye,   Das   Ureigen thum;   deutsche 

Ausgabe  von  K.  Bücher,  257 

J.  D.  Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  Captivity.  533 
A.  von  L  eel  air,    Der  Realismus   der  modernen 

Naturwissenschaft  etc.  1409 

Leibniz,  s.  Briefwechsel. 

M.  Lexer»  Mittelhochdeutsches  Handwörterbuch.  403 
—  —  Mittelhochdeutsches  Taschenwörterbuch.  407 
R.  Löning,   Der  Reinigungseid   bei   Ungerichts- 

klagen  im  deutschen  Mittelalter.  85 

A.  Loiseau,  Histoire  de  langue  francaise,  see 
origines  et  son  däveloppement  jusqu'  a  la  fin 
du  XVIe  siecle.  1591 

W.  Lotz,  Die  Inschriften  Tiglatpileser  I.  897 

£.  Lucius,  Der  Essenismus  in  seinem  Verhältniß 

zum  Judenthum.  1375 

A.  Ludwig,  Commentar  zur  Rigveda-Ueber- 
setzung.  L  Theil  (Der  Rigveda  oder  die  heiligen 
Hymnen  der  Brahmana,  Band  IV).  1528 

Lysias,  s.  Erdmann. 

W.  Maurenbrecher,  Geschichte  der  katholi- 
schen Reformation.  833 

S.  May  bäum,  Die  Entwicklung  des  altisraeliti- 
schen Priesterthum8.  38 

H.  Meisner,  s.  Pilger  reisen. 

A.  Mele,  s.  Pompei. 

0.  Meltzer,  Geschichte  der  Karthager,   Band  I.   1505 

Th.  Mettauer,  de  Piatonis  scholiorum  fontibus.    1626 

G.  Meyer,  Griechische  Grammatik  (Bibliothek 
indogermanischer  Grammatiken,  Band  III).  1281 

P.  Meyer,  Die  Fortsetzer  Hermanns  von  Reichenau.    712 

G.  Mihalkovics,  A'ltalanos  Boncztan.  543 

A.  Molinier,  s.  Itinera  hierosolym. 

P.  G.  Molmenti.  La  Storia  di  Venezia  nella 
vita  privata  etc.  17 

Monumenta  Germaniae  historica.  Poetarum  la- 
tinorum  medii  aevi  Tom.  I  pars  prior:  Poetae 
latini  aevi  Garolini  rec.  E.  Dümmler.  I.  1.  54 

Monumenta  Germaniae  historica.  Scriptorum 
tomus  XXV.  225 

JE.  Mühlbacher,  s.  R  e  g  e  s  t  e  n. 

E.  Nestle,  Veteris  Testamen ti  Graeci  codices  Va- 

ticanus  et  Sinaiticus  cum  textu  reeepto  collati.  1277 
C.  Nohle,  Die  Staatsrechtslehre  Piatos.  1032 

W.  Nowack,  Der  Prophet  Hosea.  851 


XII        Verzeichniß  der  besprocheneu  Schriften. 

J.  Opel,  Die  Vereinigung  des  Herzogthums  Mag- 
deburg mit  Eurbrandenburg.  954 

H.  Osthoff  und  K.  Brugnaan,  Morphologische 
Untersuchungen.     Theil  III.  1418 

F.  Overbeck,  zur  Geschichte  des  Kanons.  353 

K.  Panzer,  Wido  vonFerraraDe  seism  ate  Hilde- 
brandi.  1520 

Papin,  s.  Briefwechsel. 

Pariser  Tagezeiten,  herausgegeb.  von  St. 
Waetzoldt.  874 

L.  Pastor,  Die  Correspondenz  des  Cardinais  Con- 
tarini.  1203 

T.  Pech,  s.  Pypin. 

F.  Pfeiffer,  s.  Berthold. 

F.  Philippi,  Zur  Reconstruction  der  Weltkarte 
des  Agrippa.  694 

M.  Philippson,  Geschichte  des  Preußischen 
Staatswesens  vom  Tode  Friedrichs  des  Großen 
bis  zu  den  Freiheitskriegen.    I.  Band.  1102 

J.  L.  Pic,  Die  Abstammung  der  Rumänen.  338 

Deutsche  Pilgerreisen  nach  dem  heiligen 
Lande,  herausg.  und  erläut.  von  11.  Röhricht 
und  H.  Meisner.  132 

Plato,  8.  Mettau  er,  Nohle. 

Plutarch,  s.  Graux. 

R.  Pohl  mann,  Die  Anfänge  Roms.  1115 

Poetae  latinü  8-  Monumenta. 

Pomp  ei,  Rivista  illustrata  di  Archeologia  po- 
polare  e  iodustriale  e  d'  Arte,  herausgeg.  von 
A.  Mele  und  £.  Abeniacar.    Ann. I.  Num.  I    1181 

Svenska  Riksradets  Protokoll  (Handlingar  rö- 
rande  Sveriges  Historia.    Tredje  Serien).  1 

A.  N.  Pypin  und  V.  D.  Spasovic,  Geschichte 
der  slavischen  Litteraturen.  Uebersetzt  von 
T.  Pech.    I.  Band.  993 

A.  Raabe,  Die  Klagelieder  desJeremias  und  der 

Prediger  des  Salomon.  317 
Regesten  des  Kaiserreichs  unter  den  Karolingern 
von  J.  F.  Böhmer,  neubearbeitet  von  E.  Mühl- 
bacher. m  1.  Lief.  129 
P.  Regnaud,  La  Me'triqne  de  Bharata.  319 
E.  Revillout,  Chrestomathie  ddmotique.  812 
—  —  Nouvelle  Chrestomathie  deraotique.  812 
Revue  des  otudes  juives.     No.  1.  (,68 


Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften.      XIII 

K  von  Bichthofen,  Untersuchungen  über  frie- 
sische Rechtsgeschichte.   Abth.  I,  Theil  f.  1845 

Ch.  Rieu,  Catalogue  of  the  Persian  Manuscripts 
in  the  British  Museum.  1078 

Rigveda,  s.  A.  Ludwig. 

A.  Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.    Band  I.     193 

W.  Boeder,  Beiträge  zur  Erklärung  und  Kritik 
des  lsaios.  252 

Römerbrief,  a.  El  oster  mann. 

K.  Röhricht,  s.  Pilger  reisen. 

H.  Rosin,  Die  Formvorschriften  für  die  Ver- 
äufierungsgeschäfte  der  Frauen  nach  lombardi- 
schem Recht  (Auch  unter  dem  Titel :  O.Gierke, 
Untersuchungen  zur  deutschen  Staats-  und  Rechts- 
geschichte, Vm.  Band).  961 

D.  Ro  s  s ,  Studies  in  the  early  history  of  institutions.    276 

E.  Both,   Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens 

in  Deutschland.  461 

A.  Samt  er,  Das  lEigenthum  in  seiner  sozialen 
Bedeutung.  417 

W.  Sartorius  von  Waltershausen,  Der 
Aetna.    Herausgeg.  von  A.  von  Lasaulx.    2.  Bd.  1601 

A.   H.   Sayce,   Introduction    to    the  Science  of      #a 
Language.  422 

F.  W.  Schirrmacher,  sieh  Geschichte  der  Euro- 
päischen Staaten. 

0.  Schmitz-Dumont,  Die  Einheit  der  Natur- 
kräfte und  die  Deutung  ihrer  gemeinsamen 
Formel.  1377 

O.  Schnedermann,  s.  F.  Weber. 

F.  C.  Schneider  und  A.  Yogi,  Commentar  zur 
österreichischen  Pharmacopoe;  I.  Band,  bearb. 
von  A.  Vogl.  988 

Th.  Schreiber,  Die  antiken  Bildwerke  der  Villa 
Ludovisi  in  Rom.  595 

—  —  Apollon  Pythoktonos.  660 
H.  Schultz,  Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.  769 
F.  Selmi,  Ricerca  del  fosforo  delle  urine.  507 

—  —        E8ame  dell'  urina  di  un  itterico  grave.    510 

—  —        Sulla  fallacia  del  reattivo  di  Van  Deen.    510 

—  —         Sopra  due  arsine  etc.  511 
E.  San  art,  Les  Inscriptions  de  Piyadasi,  Tome  I.  1313 
E.  Sie  vers,  Grundzüge  der  Phonetik.  885 
W.  Soltau,  Ueber  Entstehung   und  Zusammen- 
setzung der  altrömischen  Volksversammlungen.  1464 


XIV       Verzeichniß  der  besprochenen  Schriften. 

Sophocles  ed.  L.  Campbell.  IL  Band.  1141 

W.    Spitta-Bey,    Grammatik    des   arabischen 

Vulg&rdialectes  von  Aegypten.  303 

K.  Steijskal,  s.  Hadamar  von  Lab  er. 
H.  Steinthal,  Gesammelte  kleine  Schriften.   I.      93 
J.  Storm,  Englische  Philologie.    Bd.  I.  1398 

Strasburger,  Zellbildung  und  Zelltheilung.         1488 
J.  Stroblf  s.  Berthold. 
Die  Summa  der  Heiligen  Schrift,  herausgegeben 

von  K.  Benrath.  32 

H.  B.  Stcete,  s.  The  od  or  us. 

Tacitus,  s.  Baumstark. 

Theodori    episcopi   Mopsuesteni  in   epp. 

Pauli  commentarii.    Vol.  I.    Ed.  H.  B.  Swete.    1185 
T.  Tobler,  s.  Itinera  hierosolym. 
Tosefta,  ed.  M.  S.  Zuckermandel  717 

Urkundenbuch  der  Landschaft  Basel,  herausg. 
von  .ff.  Boos.  1270 

A.   Vogl,  s.  Schneider. 

St.  Waetzoldt,  sieh  Pariser  Tage  Zeiten. 

Joachim  von  Watt,  Deutsche  historische  Schrif- 
ten, herausgegeben  von  E.  Götzinger,  Band  III.    921 

F.  Weber,  System  der  altsynagogalen  palästini- 
schen Theologie,  herausgegeben  von  Franz  De- 
litzsch und  O.  Schnedermann.  372 

K.  Weinhold,  s.  Lamprecht. 

A.  Wetzel,  Die  Translatio  S.  Alexandri.  705 

W.  D.  Whitney,  Indische  Grammatik.  Aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  H.  Zimmer»  394 

Wido  von  Ferrara,  s.  K.  Panzer. 

E.  v.  Wietersheim,  Geschichte  der  Völkerwan- 
derung.   2.  Aufl.    redigiert  von  F.  Dahn.  221 

E.  Winkelmann,  sieh  Acta. 

Ch.  H.  H.  Wright,  sieh  Zechariah. 

W.  Wundt,  Logik.   I.  Band.  284 

Zechariah  and  his  Prophecies  by  Ch.  H.  H.  Wright.  701 
Zeitschrift    für    alttestamentliche   Wissenschaft 

herausgegeben  von  B.  Stade.  1178 

T.  Ziller,  Allgemeine  philosophische  Ethik.  761 

H.  Zimmer,  s.    Whitney. 
M.  H.  Zotenberg,  La  chronique  de  Jean  e>eque 

de  Nikiou.  587 

M.  S.  Zuckermandel,  s.  Tosefta. 


I 

Gttttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  1.2.  5.u.  12.  Jan,  1881. 


Inhalt:  Srenska  Rikeradeta  Protokoll.  Bd.  II.  (1480— 
82).  Ton  a  Sclurrm.  —  Hanserecease  (erste  Abth.:  1266-1430). 
Bd.  Y.  Von  Ä  ttodL  -  P.  G.  Molmenti,  La  Storia  di  VenetU 
nella  Tita  priYata.  Von  (ho.  M.  Thomas,  —  Jordan!  Bruni  Oper» 
latine  conseripta,  rec.  F.  Fiorentino.  I.  1.  Von  C.  v.  Sigwart  —  1>  i  e 
Summa  der  Heiligen  Schrift,  herausgeg.  ron  E.  Benrath. 
Von  Fr.  DüsUrdieck,  —  S.  May  bau  m,  Die  Entwicklung  des  alt- 
israetitieehen  Priesterthume.  Yon  P.  de  Lagard*.  —  Ezra  Abbot, 
The  Autorahip  of  the  Fourth  Gospel.  Von  W.  Mangold.  —  Poetae 
latini  aevi  Oarolini,  ree.  E.  Dümmler.  I.  1  (Monumenta  Ger- 
maniae  hietoriea:  Pottavum  latia.  medii  aeri  T.  I.    P.  1).    Yon  Ernst 


ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 

Handlingar  rörande  Sverigea  Historia.  Tredje  Serien. 
8 v e n s k a  Rikarädets  Protokoll  otgifvet 
af  Kongl.  Riks-Archivet  genom  N.  A.  Kai lb erg. 
II:  1680-1632.  Stockholm,  P.  A.  Norstedt  6  Söner. 
XI  and  876  (2)  SS.    8°. 

Der  erste  Band,  welcher  1878  (XL VI  und 
291  SS.)  erschienen  ist  und  in  der  Jenaer  Lite- 
ratur-Zeitung 1879.  No.  9  besprochen  wurde, 
enthält  die  Protocolle  des  schwedischen  Reichs- 
raths  von  der  ersten  auf  uns  gekommenen  Auf- 
zeichnung (1621)  bis  zum  10.  Nov.  1629  und 
schließt  mit  den  großen  Ratssitzungen,  welche 
dem  Aufbruch  des  Königs  nach  Deutschland 
vorausgingen.  Eben  da  knüpft  der  zweite  Band 
wieder  an  und  führt  die  Reihe  der  Aufzeichnun- 
gen vom  4.  Mai  1630  bis  zum  15.  December 
1632,  eine  Woche  nach  dem  Eintreffen  der  To* 
desbotschaft  von  Lützen,  herab. 

1 


2  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Auch  cßeqer  zweite  Band  briqgt  keine  will- 
kürliche Auswahl,  sondern  giebt  die  Aufzeich- 
nungen vollstäpdig  und  genau  so  W^ef,  ww 
sie  der  Zeit  nach  auf  einander  folgten,  mit  Aq&* 
nähme  der  Protocolle  in  Rechtssachen,  welche 
zur  Revision  an  den  R.  R.  gebracht  waren  und 
in  den  zugänglichen  Handschriften  ^e^  vor- 
lagen. Außer  der  Reihe  sind  ferner  auf  S.  257 
— 309  zu  einer  besonderen  Gruppe  mit  37  Bein 
lagen  zusammengestellt  die  Verhandlungen  im 
Proceß  des  Prinzen  Christian  von  Dänemark  ge- 
gen den  Wild-  und  Rheingrafen  Qttp  Ludwig, 
welcher,  als  Obrist  aus  dänischen  in  schwedi- 
sche Dienste  getreten,  den  Prinzen  eines  Ver- 
giftungsversuchs bezichtigt  hatte  und  n$ch  lau- 
gen Verhandlungen  wegen  Diffamation  in  cqn- 
tumacia  zu  40  Mark  Strafe  verurtheilt  wurde, 
ohne  daß  es  damit  zur  Ausführung  kam ,  weil 
der  Prinz,  nachdem  er  sich  ein  Jahr  lang  vox 
dem  schwedischen  Reicbsrath  in  den  Handel 
eingelassen,  schließlich,  vom  kläglichen  Ausgang 
wenig  erbaut,  gegen  die  Competenz  des  Forums 
protestierte,  Worauf  der  R.R.  seinen  Spruch  wie- 
der aufhob. 

Auf  S.  1—256  bandeln  die  zusammenhän- 
genden Protocolle  auch  in  diesen  Jahren  wieder 
von  Fragen  der  verschiedensten  Bedeutung.  Die 
vier  ersten  Sitzungen,  Mai  1630,  sind  noch  vov 
des  Königs  Abreise,  zum  Theil  in  dessen  Bei- 
sein, gehalten  und  bringen  die  Berathungen  über 
den  Eintritt  in  den  deutschen  Krieg  zum  Ab- 
schluß. Mit  dem  15.  Juni  heben  dann  die  Ver- 
handlungen unter  veränderten  Bedingungen  an. 
Gemäß  der  kön.  Instruction  vom  30.  Mai  (I, 
XLI — XLVI)  nimmt  der  R.R.  «*-  bis  zum  Ein- 
tritt der  Vormünder  der  Königin  Christina 
(1633)  —  die  oberste  Regierung  in  die  Handy 


Svenika  Riksrldets  Protokoll.   II.  3 

Ihrigen*  durchweg  an  des  Königs  Intentionen 
gebunden  und  von  ihnen  beherrscht,  wie  denn 
gleich  in  4er  ersten  Sitzung  für  den  unter  Se- 
gel gegangenen,  indeß  durch  Unwetter  in  die 
Skären  zurückgetriebenen  König  neuer  Proviant 
beschafft  werden  muß,  wobei  sich  mancher  Ein- 
blick in  die  ökonomischen,  ständischen  und 
Rechtsverhältnisse  des  Reichs  ergiebt  Bis  in 
den  Herbst  bedrängen  den  RR.  ähnliche  Sor- 
gen; dann  stehen  die  kleineren,  einheimischen 
Angelegenheiten  im  Vordergründe.  Ende  Ja- 
nuar, vollends  im  März  1631,  steigen  wieder 
die  großen  Fragen  auswärtiger  Politik,  vor  Al- 
lem die  schwedisch-dänische  Constellation,  über 
den  Horizont;  der  Krieg  fordert  neue  Opfer  an 
Menschen,  Geld,  Proviant;  der  R.R.  verhandelt 
mit  den  Ständen ,  nicht  immer  gleich  mit  Er- 
folg; die  Leistungsfähigkeit  des  Reichs  steht  in 
Frage;  bei  allem  Streit  für  das  Evangelium 
kommt  es  die  Priester  hart  an,  auch  von  sich 
ans  Streiter  zu  stellen,  denn,  wenn  der  Knecht 
beim  Priester  keine  größere  Freiheit  hat  als 
beim  Bauer,  wer  wird  dann  noch  Knecht  beim 
Priester  sein  wollen?  Am  Ende  aber  fügen 
sich  Priesterschaft,  Adel,  Bürger;  gelegentlich 
giebt  es  wohl  einen  Tumult:  in  Dalarne  im 
April,  einen  Aufstand  in  Dal  im  Herbst;  aber 
der  Bauer  stellt  zuletzt  seinen  Mann  und  der 
König  hat,  was  er  fordert.  Und  als  am  2.  Nov. 
ein  allgemeiner  Dank-  und  Bettag  für  den  bei 
Leipzig  erfochtenen  Sieg  ausgerufen  worden  ist, 
darf  Schweden  wieder  in  sich  selbst  einkehren, 
bis,  der  Windrichtung  draußen  und  dem  Rhyth- 
mus der  Jahreszeiten  folgend,  im  Februar  1632 
von  Neuem  die  große  Woge  der  Weltgeschichte 
herüber  brand  et;  da  debattiert  man  im  März, 
worüber  zu  consultieren  sei :  an  de  pase  facienda, 

1* 


4  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

vel  quibus  conditionibus  pax  sit  ineunda;  von 
der  Religion;  de  bono  publico;  de  bono  pri- 
vate; im  April  vom  spanischen  Wesen,  mit 
Gründen  für  und  wider:  pro  pace  cumHispano; 
pro  bello  cum  Hispano.  Eine  Besendung  des 
Königs,  ihm  Glück  zu  wünschen,  kommt  aufs 
Tapet;  mit  leeren  Händen  läßt  sich  dort  nicht 
erscheinen  und  die  Erwägungen  beginnen  sich 
in  die  Länge  zu  ziehen,  als  mit  dem  Sommer 
abermals  relatives  Stillleben  einkehrt 

Mitunter  sind  Abgesandte  des  Königs  oder 
Angereiste  in  der  Versammlung  erschienen  und 
erzählen  von  den  Dingen  draußen;  eine  De- 
batte schließt  sich  nicht  an,  aber  das  Protocoll 
verzeichnet  in  Kürze,  was  so  verlautet:  welche 
Städte  sich  jüngst  ergeben  haben;  wessen  der 
König  sich  zu  Chur-Sacbsen  versiebt;  wie  viel 
an  Subsidien  von  Frankreich,  Venedig,  England 
in  Aussicht  steht.  Ausführlich  berichtet  in  der 
Sitzung  am  23.  Oct  1632  Erich  Rynning,  der 
Admiral,  von  den  Verrichtungen  des  Kanzlers 
in  Niedersachsen;  von  den  Desertionen  im  kö- 
niglichen Heere  bei  Nürnberg;  wie  dagegen 
Wallenstein  sein  Heer  in  Zucht  hält  und  tag 
lieh  für  Zufuhr  zu  sorgen  weiß  u.  a.  m. 

Während  so  in  auswärtigen  Dingen  in  Süd 
und  West  dem  RR.  nur  eine  untergeordnete 
Aufgabe  zufällt,  sieht  er  sich  in  Angelegenheiten 
des  Ostens  mehr  als  einmal  wider  Willen  ge- 
zwungen, eine  Art  freilich  nur  kümmerlicher 
Initiative  zu  ergreifen,  wenn  etwa  Gesandte  aus 
Bußland  kommen;  Gefahren  von  der  russischen 
und  polnischen  Grenze  drohen ;  die  livländischen 
Grenzhäuser  zu  sichern  sind  oder  der  Chan  der 
Krim  nach  Ablauf  gewisser  Conjuncture^  welche 
den  Sultan  mit  Persien  verwickeln,  30,000  Ta- 
taren gegen  Kaiser  und  Liga  zu  Diensten  stellt, 


Svenska  Riksrädets  Protokoll.   II.  6 

» 

sofern  ihnen  freier  Durchzug  durch  Siebenbür- 
gen erwirkt  wird  und  schwedische  Gesandte 
entgegenkommen. 

Der  unmittelbarsten  Fürsorge  des  R.K.  blei- 
ben die  einheimischen  Angelegenheiten  tiber- 
lassen und  bringen  Arbeit  und  Sorge  vollauf, 
von  der  Königin  an,  so  lange  sie  im  Lande 
weilt;  mit  ihrer  Küche,  der  es  zu  Zeiten  am 
Notwendigen  gebricht;  mit  ihren  Schwächen 
und  Launen.  Die  Protocolle  sind  reich  an  Bei- 
trägen zur  Charakteristik  der  wunderlichen 
Frau,  die  bald  ihrer  Wäscherin  ein  Erbgut  ver- 
schreibt, bald  ihren  Namen  unter  Stöße  von 
Donationsbriefen  setzt;  in  ihrer  Sehnsucht  nicht 
rasch  genug  zum  König  gelangen  kann;  voll 
Aengsten,  auf  seine  heimliche  Ordre  hin-  oder 
gar  zurückgehalten  zu  werden,  in  Drohungen 
ausbricht,  so  wie  sie  da  stehe,  in  ihren  Altags- 
kleidern,  hinüberflüchten  zu  wollen,  worüber 
der  R.R.  in  ärztlichen  Kummer  verfällt,  bis  sie 
endlieh  glücklich  befördert  ist  und  der  König 
nun  zusehen  mag,  wie  er  sich  ihrer  erfreue. 
Oder  der  RR.  hat  es  mit  Jesuiten,  Galvinistep, 
Spionen,  mit  Abenteurern,  mit  fahrenden  Stu- 
denten, wie  mit  jenem  Lars  Yivallius,  zu  thun, 
welchem,  als  einem  schwedisch  gearteten  Vor- 
läufer von  Gazanova  und  Gagliostro,  in  Silfver- 
stolpes  Hist.  Bibl.  jüngst  eine  eigene  Studie  ge- 
widmet wurde.  Handel  und  Wandel  wollen  be- 
rathen,  Kaufherrnhändel  geschlichtet;  geistlicher 
Hader  niedergehalten;  Ruhe  und  Ordnung  wol- 
len im  Lande  behauptet;  bei  dem  Getrenntsein 
von  Seichskanzler  und  Reichsrath  will  dem  Ein- 
reißen einer  ambulatoria  administrate,  S.  181, 
gewehrt  sein  und  nicht  selten  muß  sich  der  R.R. 
glücklich  schätzen,  wenn  er  nur  ein  Schlimme* 


6  Gott.  gel.  Anz.  1681.  Sttiok  1.2. 

res  abzuwenden  vermag,  auch  ohne  das  Bessere 
an  die  Stelle  setzen  zu  können. 

So  haben  von  1630  bis  gegen  Ende  1632 
die  Sitzungen  vielbeschäftigt  ihren  Gang  ge- 
nommen, als  beim  Eintritt  des  Winters  die  Be- 
sendüng  des  Königs  abermals  in  Berathang 
kommt  und  die  Nachricht  von  einem  neuen 
Siege  über  Wallenstein  eintrifft.  Am  6.  und  7. 
December  discutiert  sich  die  spanische  Frage; 
am  8.  bringt  die  Grenzpost  die  ordinären  Avi- 
sen und  die  höchstbeklagenswerthe  Zeitung  vom 
tödt liehen  Hingang  des  seligen  Königs,  Gott 
bessere  es!  In  Thränen  und  Klagen  verbringt 
der  Senat  den  Tag;  man  beschließt,  den  Grafen 
Per  Brabe  zum  Reichskanzler  zu  senden.  Am 
9.  kein  Protocoll.  Am  10.  heimliche  Beredung, 
zwei  Stunden  lang,  ohne  Protocoll;  dann  setzt 
die  Feder  wieder  an.  Am  15.  werden  die  con- 
cipierten  Schreiben  an  die  Königin-Wittwe  ver- 
lesen. Item  an  den  Herrn  Beichskanzler,  sowie 
des  Grafen  Brahes  Memorial  sammt  Vollmacht 
für  den  Kanzler  und  Alles  wird  unterschrieben. 

Damit  schließt  das  letzte  Protocoll  dieses 
Bandes. 

Daß  die  Edition  vortrefflich  ist,  bedarf  kaum 
der  Erwähnung.  Die  Texte  sind  durchweg, 
unter  Bezeichnung  des  Schreibers,  nach  den 
Concepten  und  nur,  wo  diese  fehlen,  nach  dem 
Mundum  gedruckt.  Alle  Vorzüge  des  ersten 
Bandes  treten  wieder  hervor:  dieselbe  wohler- 
wogene Beschränkung  auf  das,  was  einem 
Herausgeber  obliegt;  lehrreiche  Anmerkungen; 
ein  musterhafter  Index;  die  größte  Correctheit 
und  zwar  gilt  letzteres  im  Ganzen  auch  von 
den  mitunterlaufenden  deutschen  Texten;  S. 290 
ist  in   gevbeicbt  statt  des  zweiten  e  ein  r  zu 


Svenska  Riksradota  Protokoll.  IL  7 

lesen.  Der  einzige  Einwand  richtet  sieb  auch 
jetet  wieder  gegen  einige  entbehrliche  Anmer- 
kungen* Welche  den  Sinn  des  Textes  sprachlich 
und  logisch  erläutern  sollen  und  mehr  präcisie- 
ren,  als  got  ist,  z.  B.  3,  1 ;  oder  Schwierigkei- 
teil erblidktfn,  die  nicht  vorhanden  sind,  wie 
4,  2.  62,  \j  oder  syntaotische  Besonderheiten 
wie  Fehler  bebandeln,  wie  13,  2.  23,  1.  Bei 
solchen  Obffäfeturen  stampft  sich  der  Sinn  für 
feinere  NÜanoen  allmählich  ab  and  der  leben- 
dige Ausdruck  wird  unter  rationellem  Schema- 
tismus zuletzt  ertödtet  Uebrigens  ist  die  Zahl 
der  hiermit  beanstandeten  Anmerkungen  nicht 
groß. 

Zum  Schliß  bleibt  nur  der  Wunsch,  um  aber- 
mals zwei  Jahte,  wo  nicht  früher,  dem  dritten 
Band  ans  der  Hand  desselben  Herausgebers 
entgegensehen  zu  dürfen. 

Kiel,  Nov.  C.  Schirren. 


Hanöeföce8B6.  Band  V.  Auf  Veranlassung  Seiner 
Majestät  des  Königs  von  Bayern  herausgegeben  durch 
die  Historische  Commission  bei  der  Eönigl.  Akademie 
der  Wissenschaften.  A.  m.  d. T.:  Die  Becesse  und 
andere  Akten  der  Hansetage  von  1256—1430. 
Bd.  V.  Auf  Veranlassung  etc.  Leipzig,  Verlag  von 
Dancker  &  Humblot.    1880.    (IX.  619).    4°. 

Die  Publikation  der  ersten  Abtheilnng  der 
Hanserecesse,  bekanntlich  eine  der  großen  von 
der  Historischen  Commission  in  München  in  die 
Hand  genommenen  Aufgaben,  begann  im  Jahre 
1870.  Sie  ist  nunmehr  in  fast  regelmäßigen 
Schritten  bis  zum  fünften  Bande  gediehen,  wel- 
cher die  Jahre  1401  bis  1410  umfaßt,  so  daß 
zu  erwarten  ist,  daß  die  noch  übrigen  zwei 
Jahrzehnte  während  etwa  rier  Jahren  in  weite- 


8  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1. 2. 

ren  zwei  Bänden  bearbeitet  und  damit  der  An- 
schluß an  die  zweite,  vom  Hansischen  Ge- 
8chicbtsverein  besorgte  Abtheilung  (1431  bis 
1476),  von  welcher  ebenfalls  bereits  zwei  Bände 
vorliegen,  erreicht  sein  wird.  Da  unter  dersel- 
ben Obhut  demnächst  auch  der  Anfang  der 
dritten' Abtheilung  erscheint,  die  Herren  Kopp- 
mann, von  der  Ropp  und  Schäfer  die  ihnen  an- 
vertrauten Abschnitte  in  allen  Stücken  nach 
derselben  Methode  äußerlich  wie  innerlich  gleich- 
mäßig bearbeiten  und  die  Ausgaben  von  einem 
und  demselben  Verlag  mustergiltig  hergestellt 
werden,  so  wird  mit  vereinten  Kräften  in  nicht 
gar  zu  langer  Zeit  ein  großartiges  Urkunden- 
werk zugänglich  gemacht  sein,  mit  dem  sich 
wenige  andere  werden  messen  können.  Wenn 
dann  auch,  wie  zu  hoffen  ist,  das  Hansische 
Urkundenbuch  gleichzeitig  in  mehreren  Bänden 
vorrückt,  so  wird  die  systematische  Durchfor- 
schung der  in  halb  Europa  zusammengelesenen 
Quellen  zur  Geschichte  des  großen  Bundes  so 
bedeutend  angewachsen  sein,  daß  eine  dem  Ge- 
genstande würdige  umfassende  Darstellung  kaum 
noch  ausbleiben  kann. 

Der  fünfte  Band  Koppmanns,  der  uns  als 
neuster  Beitrag  vorliegt,  weist,  obgleich  er  nur 
die  zehn  Jahre  1401  bis  1410  behandelt,  wäh- 
rend dieses  Zeitraums  in  729  Nummern  die  er 
staunliche  Anzahl  von  151  Versammlungen  auf, 
die,  partikular  oder  allgemein,  als  Hansetage 
bezeichnet  werden  müssen.  Auf  der  ganzen 
Küstenlinie  von  Esthland  bis  Flandern,  an  man- 
chen Stellen  auch  tief  in  das  Binnenland  ein 
dringend,  äußerte  sich  gegenüber  den  vorschrei- 
tenden politischen  Gestaltungen  in  der  Staaten- 
welt  Nord-  und  Mitteleuropas  und  einigen  bei- 


HaoBereceue  von  1256— U30.     Bd.  V.  9 

Data  allgemeinen  Nöthen  der  Zeit  eine  groß- 
artige bündnerische  Thätigkeit,  deren  anend- 
liche Verzweigung  nicht  allein  nach  der  com- 
merciellen  Seite  in  einer  so  gediegenen  Zusam- 
menstellung wie  der  Koppmanns  nunmehr  vol* 
lends  in  die  Augen  tritt,  während  doch  auch 
gleichzeitig  gerade  in  diesem  Jahrzehnt,  das 
noch  dem  Höbepunkt  der  großen  Vereinigung 
angehört,  eine  centrale  Strömung  des  in  sieh 
vielgestaltigen  Hansischen  Städtebundes  oft  mehr, 
als  gewöhnlich  zugegeben  wird,  erkennbar  ist 
Der  Herausgeber  hat  wie  bisher  die  Recesse 
nach  den  einzelnen  Hansetagen  je  mit  den  zu- 
gehörigen Vorakten,  Verträgen,  Correspondenzen, 
Berichten  der  Gesandtschaften,  nachträglichen 
Verhandlungen,  werthvollen  Auszügen  aus  Rech- 
nungsbüchern übersichtlich  geordnet,  die  mei- 
sten Nummern  in  vollständigem,  viele  in  erstem 
Abdruck  wiedergegeben  und  sich  nur  bei  einer 
Minderzahl  mit  einem  genauen  Regest  begnügt. 
Enrz  und  bequem  wird  gleich  zu  Anfang  die 
Herkunft  des  Materials,  der  Recesse  wie  der  sie 
begleitenden  Urkunden,  verzeichnet,  so  daß  man 
sich  in  Beziehung  auf  jedes  einzelne  Stück 
rasch  zurecht  findet.  Die  Kritik  der  Texte 
stützt  sich,  so  weit  nur  irgend  erreichbar,  auf 
eine  systematische  Vergleichung  der  gesammten 
handschriftlichen  Ueberlieferung,  wenn  auch  oft 
genug  bei  Ermangelung  von  Originalien  oder 
Copien  ein  Abdruck  aushelfen  muß.  Zur  Er- 
klärung dienen  dem  Benutzer  außer  den  Rege* 
sten  in  den  Ueberschriften  und  den  beigegebe- 
nen Orts-  und  Personenverzeichnissen  von  scru- 
puloser  Genauigkeit  viele  dankenswerthe  Winke 
in  den  Noten,  die  sich  vorwiegend  auf  Zeitbe- 
stimmung, sprachliche  Erläuterung,  Münzverhält- 
risse  u.  dgl.  m.  beziehen. 


10  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Allzu  knapp  aber  für  den  überaas  reichen 
Inhalt  des  Bands  erscheint  doch  die  Einleitung 
von  nur  einer  Seite  Umfang.  Der  Verfasser  be- 
gnügt sich  damit  das  Material  in  der  Haupt- 
sache in  vier  große  Gruppen  auseinander  zu 
falten,  die  er  ja  im  Einzelnen  mit  unendlicher 
Sorgfalt  erläutert  und  so  sicher  durchforscht 
hat,  daß  von  keinem  anderen  so  wie  von  ihm 
selber  ein  maßgebender  Ueberblick  über  diesel- 
ben wird  gegeben  werden  können.  Die  dritte 
dieser  Gruppen,  das  Unwesen  der  Vitalianer- 
brüder  auf  dem  Meere,  das  aus  dem  Kampfe 
um  Gothland  zwischen  Dänemark  und  dem 
Deutschen  Orden  und  aus  dem  Zerwürfniß  zwi- 
schen den  Hansestädten,  insbesondere  den  preu- 
ßischen Städten  und  den  Engländern,  so  wie 
au»  den  inneren  und  äußeren  Kämpfen  Fries- 
lands Nahrung  zog,  bat  Koppmann  allerdings 
bereits  durch  eine  besondere  Abhandlung,  die 
er  dem  vierten  Bande  voraus  schickte,  und 
einen  Aufsatz  über  den  Seeräuber  Klaus  Störte- 
becker  in  Geschichte  und  Sage  in  den  Hansi- 
schen Geschichtsblättern  1877  beleuchtet,  dem 
bereits  ein  Aktenstück  des  fünften  Bands  N.  56, 
das  Schreiben  Hamburgs  an  Kampen  wegen 
eines  von  Ghodeke  Michels  geraubten  Bier- 
schiffs, als  Beleg  dienen  konnte.  Aebnlich  steht 
es  mit  der  zweiten  Gruppe,  den  englisch-preußi- 
schen Beziehungen,  über  welche  von  Koppmann 
ein  großartiges  Quellenmaterial  zusammenge- 
tragen und  auf  der  letztjährigen  Versammlung 
des  Hansischen  Geschichtsvereins  in  Hildesbeim 
ein  dankenswerter  Ueberblick  gegeben  wor- 
den ist,  den  wir  hoffentlich  recht  bald  in  den 
Geschichtsblättern  zu  lesen  bekommen.  Da 
regt  sich  denn  gleich  sehr  der  Wunsch  von 
ihm   in   ähnlicher  Weise   aus   den  Aktes  auch 


HansereceBse  von  1266—1480.     Bd.  V.  11 

über  Gang  und  Zusammenhang  des  Kampfe  be- 
lehrt zu  werden,  der  zwischen  der  Königin  Mar* 
garetha  und  dem  Deutschen  Orden  um  den  Be* 
sitz  Gotblands  geführt  wurde,  die  erste  Gruppe, 
die  doch  deshalb  so  bedeutend  erscheint,  weil 
dabei  die  Bathssendeboten  der  Hansestädte  als 
Friedensvermittler  auftreten,  zumal  seitdem  der 
Krieg  zu  Ungunsten  des  Hochmeisters  ausfiel. 

Was  endlich  den  vierten  Punkt,  den  Verfaß* 
sungskampf  in  Lübeck,  die  Austreibung  des  al* 
ten  Baths  durch  einen  neuen,  den  Antheil  der 
übrigen  Städte  an  dieser  Spaltung  in  ihrem  Vor* 
ort,  die  von  beiden  Seiten  am  Hofe  Euprechts 
von  der  Pfalz  betriebenen  Verhandlungen  be* 
trifft,  so  thut  der  Herausgeber  sehr  recht  diesen 
Gegenstand  von  allgemein  hansischer  Bedeutung, 
der  in  den  Verkehr  der  Städte  tiberall  hinein- 
spielte, mit  dem  trefflichen  Herausgeber  defe 
Ltibecker  Urkundenbuchs  um  die  Wette  auch  in 
den  Kreis  seiner  Aktenstücke  hineinzuziehn.  Die 
im  Lübecker  Urkundenbuch  abgedruckte  Cor* 
respondenz  des  neuen  Baths  mit  den  Hambur- 
ger Kirchspielen  N.  514 ff.  (nicht  414ff.,  wie  es 
in  der  Einleitung  heißt)  konnte  schon  deshalb 
nicht  ausgelassen  werden,  weil  sie  mit  einem 
Wismarer  Beceß  in  Verbindung  steht  und  aus 
derselben  Handschrift  in  Wismar  noch  vervoll- 
ständigt wird.  Aehnlich  stehen  die  Akten  zur 
Lübecker  Versammlung  vom  9.  Februar  1409 
mit  dieser  Angelegenheit  in  Berührung  N.  556 
—570  (nicht  464-471  wie  in  der  Einleitung), 
und  ferner  die  Verhandlungen  zu  Heidelberg  am 
10.  Juni  1409  N.  582—612,  die  zu  Lübeck  am 
5.  November  1409  N.  626,  zu  Stralsund  am  23. 
März  1410  N.  675  ff.,  zu  Elbing  am  23.  März 
N.  698  ff.  Uebrigen8  ist  es  erfreulich,  daß  Kopp- 
mann auch  hierüber  durch  Mittbeilung  an  den 


12  Gott.  gel.  Adz.  1661.  Stück  1.  2. 

Verein  für  Hamburgische  Geschichte  noch  be- 
sonders zu  handeln  verspricht.  Endlich  aber 
kann  es  dem  Herausgeber  der  Reichstagsakten, 
der  schon  längst  der  Regierung  König  Ruprechts 
seine  energische  Tbätigkeit  zuwendet,  nur  in 
hohem  Grade  erwünscht  sein,  wenn  das  Lü- 
becker Urkundenbuch  und  die  Hanserecesse  Al- 
les, was  in  ihren  Bereich  kommt,  zu  Tage  för- 
dern in  einer  Sache,  in  welcher  die  beiden  um 
die  Herrschaft  in  Lübeck  streitenden  Parteien 
die  Entscheidung  des  römischen  Königs  an- 
riefen. 

Daß  manche  Aktenstücke  des  Bandes  in  die 
vier  großen  Kategorien  kaum  einzureihen  sind, 
wird  auch  der  Herausgeber  nicht  bestreiten. 
Fordert  er  doch  selbst  „eine  berufene  Handa 
auf  um  dasjenige,  was  er  über  die  friesischen 
Verhältnisse  gesammelt  hat,  nunmehr  in  geeig- 
neter Weise  zu  verwenden.  Aber  auch  noch 
für  andere  Hergänge  und  Zustände  bietet  sich 
dieser  Receß  als  Quellen  werk.  Im  Jahre  1407 
herrschten  in  dem  westphälischen  Minden  gleich- 
falls Verfassungsstreitigkeiten,  die  auf  einem 
Hansetage  zu  Lübeck  von  den  zu  Schiedsrich- 
tern bestellten  Städten  Lübeck,  Hamburg  und 
Lüneburg  ausgetragen  wurden  N.  464—471. 
Ferner  gehören  hierher  auch  die  Mttnzrecesse 
der  wendischen  Städte  und  Lübecks  N.726  und 
729  und  eine  Reihe  von  Stücken,  welche  Kla- 
gen und  Gewaltthaten  der  Russen  im  hansischen 
Handelsverkehr  zu  Nowgorod  betreffen.  Nach 
N.  61.64.  238.240.477  sieht  es  doch  fast  so  aus, 
als  ob  damals  schon  was  die  Vermessung  von 
Honig  und  Salz  und  die  Reinhaltung  der  aus 
Südeuropa  stammenden  süßen  Weine  betrifft  die 
belobte  Redlichkeit  und  Treue  der  Deutschen 
allerlei  zu  wünschen  übrig  gelassen  hätte.  Aach 


Hanserecesra  von  1256—1480.    Bd.  V.  18 

sonst  noch  kommen  eine  Anzahl  von  Akten- 
stücken über  die  Beziehungen  zu  Boßland  nnd 
Polen,  namentlich  die  Verhandlungen  mit  Now- 
gorod N.  613—619,  um  so  mehr  in  Betracht, 
als  ja  die  große  Katastrophe  des  Ordens,  der 
bis  dahin  gegen  die  Slawen  wie  gegen  Scandi« 
naven  und  Engländer  eine  mächtige  Stütze  des 
Städtebunds  gewesen,  nicht  mehr  lange  auf  sich 
warten  ließ.  Sehr  bezeichnend  fttr  die  doch 
wesentlich  längs  den  Küsten  des  nördlichen  und 
mittleren  Europas  haftende  Einigung  erscheint 
in  N.  263  eine  Aeußerung  der  preußischen  Städte 
an  Lübeck,  mit  welcher  sie  das  Anliegen  des 
Bischofs  von  Münster  ihm  Geld  zu  leihen,  um 
ein  Schloß  des  Grafen  von  Delmenhorst  zu 
brechen  und  die  Zwistigkeiten  unter  den  Frie- 
sen beizulegen,  ablehnen:  dat  de  saken  unses 
doendes  nicht  en  sin  ...  wente  de  zaken  nicht 
tor  zeewart,  sunder  allene  to  lande  wart  sint 
gelegen. 

Indem  ich  schließlich  noch  einmal  an  den 
englisch-preußischen  Conflict  anknüpfe,  der  durch 
eine  Fülle  bisher  unbenutzter  Aktenstücke  aller 
Art  in  seinen  Ursachen,  seinem  Verlauf  und 
Abschluß  nicht  nur  anschaulich,  sondern  durch 
das  Auftreten  und  Mitbandeln  hervorragender 
und  charaktervoller  Persönlichkeiten  fast  dra- 
matisch lebendig  wird,  muß  zunächst  ein  kleines 
Versehen  des  Herausgebers  gerügt  werden.  In 
den  Regesten  zu  149  und  457  übersetzt  er 
Vicecomes  Kant',  Devon1  u.  a.  m.  mit  Viscount, 
während  doch  seit  Wilhelm  dem  Eroberer  das 
in  lateinischer  Ausfertigung  gebräuchliche  Vice- 
comes mit  einem  Gomitat  verbunden  englisch 
und  daher  auch  deutseh  nur  Sheriff  bedeutet 
Der  Adelstitel  eines  Viscount  dagegen  erscheint 
erst  gegen   die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhan- 


14  Gott.  gel.  Ans.  ljtf  1.  8tück  1.  2. 

derts  als  die  nächste  Stufe  über  dem  Baron, 
vgl.  Stubbs,  Const.  Hist.  III.  472  Ed,  2,  So- 
dann begegnen  in  einem  Anschreiben  Hein* 
richs  IV.  von  England  an  den  Hochmeister  Con- 
rad von  Jangingen  nach  einer  Danzinger  Hand- 
schrift in  N.  130  zwei  Wörter:  post  longntq 
hinc  inde  conflictum  repamäcionemque  interpu^ 
lam,  die  unmöglich  in  dieser  Form  ans  der  eng- 
lischen Kanzlei  herrühren  können.  Vor  allen 
aber  muß  ich,  wie  der  Band  von  englischer 
Seite  eine  Anzahl  im  Gapitelsarchiv  zu  Ganter* 
bnry  wieder  aufgefundener  Schriftstücke  zu  der 
Auseinandersetzung  mit  den  Hansestädten  ver- 
öffentlicht, einige  Berichte  der  anderen  Seite 
hervorheben,  welche  höchst  willkommen  auf  die 
Persönlichkeit  des  ersten  Königs-  aas  dem  Hause 
Lancaster,  dessen  für  die  Verfassungs-  und  Han« 
delsgeaehichte  Englands  wie  für  die  der  letzten 
Kreuzfahrten  höchst  bedeutsame  Regierung  in 
einheimischer  und  auswärtiger  Berichterstattung 
nur  stiefmütterlich  bedacht  ist,  neues  Licht  wer- 
fen. Ein  namhafter  Danziger  Rathsberr  Arnd 
von  Dassel,  der  doch  wohl  mit  Arnd  Hekel 
identisch  zu  sein  scheint,  erschien,  nachdem 
endlich  directe  Friedensverhandlungen  in  Fluß 
gekommen,  zu  Ende  des  Jahrs  1407  in  London* 
als  eben  das  Parlament  vertagt  worden.  Doch 
erhielt  er  Zutritt  beim  Könige  in  seinem  Land- 
sitz, und  Heinrich  verhieß  nach  Weihnachten 
zur  Stadt  zu  kommen  und  ihm  guten  Bescheid 
pu  geben.  Die  bei  den  Preußen  und  den  nie- 
derländischen Städten  bevollmächtigt  gewesenen 
Engländer  waren  noch  rechtzeitig  zum  Parla- 
ment eingetroffen  und  der  eine,  Meister  Johann 
Kington,  hatte  dem  ihm  von  seiner  Sendung  her 
bekannten  Arnd  mitgetheilt,  daß  die  Abgeord- 
neten keiner  Stadt  dem  deutschen  Kaufmann  so 


Hanseracefiße  von  1256—1490.    Bd.  V.  15 

feindselig  wären,  wie  die  von  Newcastle.  Im 
Vertrauen  indeß  hatte  der  König  selber  ihm  ge- 
sagt, daß  er  mit  dem  Orden  und  den  Städten 
Frieden  haben  und  sein  Parlament  ibm  dem* 
nächst  aneh  die  Mittel  gewähren  würde,  die 
imputierten  Entschädigungen  zu  zahlen,  N.  484 
Allein  die  Feststellung  d<?r  Zahlungsfristen  and 
die  Ausfertigung  der  Obligationen  machten  noch 
längere  Zeit  zu  schaffen.  Darüber  schreibt  der« 
selbe  Arnd  noch  einmal  am  25.  Januar  1409 
N.  548,  als  Heinrich  IV.  an  seiner  Krankheit  so 
schwer  darnieder  lag,  daß  an  seinem  Aufkom- 
men gezweifelt  wurde.  Das  Parlament,  der 
königliche  Bath  sollten  eben  zusammentreten. 
Schon  erwartete  der  Bote  von  beiden  guten  Bei 
scheid,  als  er  nun  ausrufen  mußte:  „Gott  im 
Himmel  sei's  geklagt,  ich  besorge,  daß  er  von 
der  Seuche  nicht  genesen  könne.  Und  solltq 
Gott  seinen  Willen  an  ibm  thun,  so  weiß  iQb 
nichts  anderes,  als  daß  der  Prinz  König  wird; 
und  das  wird  ohne  Säumen  geschebn".  Ala  olj 
von  dem  Prinzen,  dem  nachmaligen  Heinrich  V., 
weniger  Gerechtigkeit  zu  erwarten  wäre.  IndeA 
haben  ihn  Brampton,  John  Brown  und  andere 
Bürger  von  Lynn  (Linden)  ermuntert,  er  sollq 
nur  gutes  Muths  sein.  Bei  der  großen  in  Nord-» 
england  herrschenden  Theuerung  würde  der 
Bath  wegen  des  Friedens  gewiß  ein  Einsehn 
haben  und  den  Vertrag  genehmigen,  denn  siq 
wüßten  von  keinem  Lande,  aus  dem  sie  Kon} 
haben  könnten,  als  aus  Preußen.  Die  Sachen 
wurden  dann  freilich  nicht  eher  erledigt,  als  bis 
der  Bitter  Dietrich  von  Logendorf  als  Abge- 
sandter des  Hochmeisters  Ulrich  von  Jungin- 
gen, dessen  Anschreiben  im  Januar  1410  Kör 
nig  Heinrich  an  seinem  Hofe  zu  Eltham  über* 
leichte   K   639.   640.     Der  König    erwiderte: 


16  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

„der  Meister  schreibt  mir  auch  und  bittet,  daß 
ich  meinen  Fürsten,  Herren,  Rittern  und  Knech- 
ten erlauben  möge  ihm  zu  Hilfe  und  der  Christen- 
heit zu  Trost  zu  reiten.  Ich  möchte  es  niemand 
lieber  gönnen  als  mir  selber,  denn  ich  bin  ein 
Kind  derer  von  Preußen  (womit  er  auf  seine 
beiden  in  den  Jahren  1390  und  1392  nach  Preu- 
ßen unternommenen  Kreuzfahrten  anspielt), 
könnte  ich  nur  Frieden  von  den  Franzosen  ha- 
ben" u.  s.  w.  Da  gleichzeitig  der  Herold  des 
Königs  von  Polen,  der  auch  an  den  römischen 
König  und  an  den  König  von  Frankreich  Auf- 
träge hatte,  eintraf  und  der  preußischen  Wer- 
bung bei  Heinrich  den  Weg  zu  verlegen  suchte, 
so  erklärte  dieser  doch  ausdrücklich:  „Wie 
kann  ich  das  zulassen,  denn  ich  bin  immer  ein 
Kind  von  Preußen".  Auch  ließ  er  die  Ordens- 
regierung dringend  ersuchen,  doch  seinen  Eng- 
ländern zu  gestatten  wieder  Korn  zu  laden,  da- 
mit sie  wüßten,  er  und  der  Hochmeister  seien 
gute  Freunde.  Der  Botschafter  aber  bittet  sei- 
nen Herrn  den  Hochmeister  um  den  bösen  von 
den  Polen  ausgestreuten  Verleumdungen  zu  be- 
gegnen dem  Könige  und  dem  Prinzen  ausführ- 
liche Mittheilung  zu  machen  über  die  Erobe- 
rung Samogitiens  durch  den  Polenkönig  und 
Herzog  Witold.  Daß  dies  geschehen  sei,  weil 
ein  Ordensbruder  bei  dem  Weibe  eines  samogi- 
tischen  Bojaren  betroffen  worden,  wollte  auch 
Heinrich  IV.  dem  Herolde  nicht  glauben.  Er 
sagte  ihm  im  Gegentheil:  „Ich  habe  auch  an- 
derswo Land;  sollte  ich  es  darum  verlieren, 
wenn  ein  Ritter  oder  Knecht  bei  eines  anderen 
Mannes  Weib  gefunden  wird".  Endlich  mag 
noch  erwähnt  werden,  daß  in  einem  Elbinger 
Receß  vom  9.  Juni  1409  N.581  cf.  N.  440  §  15 
außer  den  beträchtlichen  Entschädigungssummen, 


Hanserecewre  von  1256—1480.    Bd.  V.  17 

die  den  Städte»  zugesprochen  wurden,  von  Eng- 
land gefordert  wurde,  die  einst  an  Heinrich 
Percy,  offenbar  während  des  Aufstands,  von 
Danaiger  Bürgern  verkauften,  aber  von  den 
Siegern  confiscirten  Güter  nachträglich  zu  be- 
zahlen, ÄSeeIgerätbett  im  Werth  von  150  Nobel 
dir  den  einzelnen  Todten  zu  stiften,  nämlich  für 
28  Schiffherren  und  Kaufleute  aus  Preußen  und 
Liefland,,  die  während  des  Kriegs  von  den  Eng- 
ländern über  Bord  geworfen  worden,  auf  Beob- 
achtung der  dem  Kaufmanne  in  England  von 
Alters  her  gewährten  Privilegien  zu  dringen,  den 
Engländern  selber  aber  ähnliche  Vorrechte  in 
den  preußischen  Städten  auch  fernerhin  unnach- 
8ichtUch  zu  verweigern. 

GStttogen.  R.  Pauli. 


P.  Ö.  Molmentü  La  Storia  di  Yenezia Delia  vita  pri- 
Tata  dalle  origpei  alia  caduta  della  Repubbliea.  Torino, 
Row  e  Favale.    1880.    XII  u.  703  S.    8°. 

Das  Buch,  für  dessen  Beurtheilung  hierorts 
schickliche  Gelegenheit  geboten  ward,  ist  die 
Frucht  einer  vom  Istituto  Veneto  di  scienze, 
lettere  ed  arti  im  Jahre  1877  aufgestellten  Preis- 
aufgabe ;  der  Vorwurf  derselben  ist  zweifelsohne 
ebenso  anziehend  als  schwierig  zur  Lösung, 
mochte  man  den  Begriff  der  vita  privata  in  der 
engeren  oder  weiteren  Fassung  nehmen,  welchen 
er  zuläßt;  für  letztere  sprach  die  angefügte 
Clansei  des  Thema  „con  ispeciale  riguardo  all' 
influenza  scambievole  del  Governo  e  del  popolo". 
Anziehend  ist  diese  Aufgabe,  weil  die  ganze 
Geschichte  von  Venedig,  im  allgemeinen  wie  im 
besonderen,  zu  den  merkwürdigsten  und  reich- 
sten Entwicklungen  gehört,  welche  ein  großes 
Gemeinwesen    im   Laufe    der  Zeiten   darstellt; 

2 


18  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

schwierig,  weil  sich  nirgendwo  Staat  und  Stadt, 
Gemeinde  und  Familie,  Politik  und  Bürgerthum, 
Oertlichkeit  und  Geschäft,  Sitten  und  Künste 
so  innig  berühren,  so  vielfach  durchziehen,  so 
wechselweise  und  wirksam  fördern,  als  in  der 
Handelsrepublik  von  S.  Marco,  der  Trägerin 
und  Vermittlerin  abendländischer  und  morgen- 
ländischer Cultur. 

War  es  schon  an  der  Zeit  —  könnte  man 
fragen  —  diese  Aufgabe  fertig  zu  lösen  und 
eine  Geschichte  des  Privatlebens  der  Venezianer 
zu  geben  in  der  ganzen  Ausdehnung  vom  An- 
fang des  Freistaates  bis  zu  seinem  Sturze?  lie- 
gen die  Quellen  von  ältester  Zeit  an  offen  vor? 
ist  der  Stoff  zur  Ausarbeitung  bereit?  haben 
wir  schon  als  unentbehrliche  Vorläuferinnen 
eine  Geschichte  des  venezianischen  Adels,  des 
venezianischen  Bürgert  bums?  eine  Darstellung 
der  Gewerbe  und  Handwerke?  hat  das  venezia- 
nische Stadtrecht  in  seinen  Ursprüngen  und  man- 
nigfachen Gliederungen  schon  seinen  Savigny 
gefunden?  ist  selbst  nur  das  so  wichtige  San 
delsrecht  mit  seinem  anderen  Zubehör  sachkun- 
dig zu  Diensten  gestellt?  Wenn  man  auf  diese 
Fragen  mit  Nein  antworten  muß,  wenn  dieses 
und  anderes  noch  urkundlicher  Durchforschung 
bedarf,  so  war  die  gestellte  Aufgabe  nur  zu  lö- 
sen von  einem  Manne,  welcher,  wie  ein  Em- 
manuele Gicogna,  ergraut  im  Sammeln, 
Sichten  und  Forschen,  sich  des  gewaltigen  Stof- 
fes bemeistern  und  in  durchgreifender  lichtvoller 
Ordnung  zu  einem  schönen  Ganzen  verarbeiten 
konnte,  es  wäre  dieses  gleichsam  das  hohe  Ziel 
eines  langen,  ganz  der  Muse  venezianischer  Ge 
schichte  gewidmeten  Lebens  und  fürwahr  des 
Kranzes  werth.  Für  dieses  hohe  Ziel  der  Wis- 
senschaft  konnte   sachgemäß   keine  auf  kurzen 


Molmenti,  La  Storia  di  Venezia  nella  vita  privata.     19 

Zeitraum  berechnete  Preisangabe  gestellt  wer- 
den; es  galt  wohl  vielmehr,  wie  auch  sonst  in 
ähnlichen  Fällen,  der  Anspornung  auch  jugend- 
licher Kräfte  zu  edlem  und  nützlichem  Bemühen, 
and  diese  Absicht  glaubte  die  wissenschaftliche 
Gesellschaft  erreicht,  indem  sie  der  Bearbeitung 
im  vorliegenden  Buche  unter  gewissenhafter  Ab- 
wägung den  Preis  zuerkannt  hat. 

Der  jugendliche  Verfasser  hat  eine  ent- 
schiedene Begabung  zum  Schriftsteller  und  seine 
Arbeit  zeigt  im  ganzen  eine  geschickte  Durch- 
führung des  ausgedachten  Planes:  eine  eigent- 
liche Geschichte  Venedigs  in  seinem  Privatleben 
ist  es  aber  nicht,  es  sind  mehr  Bilder  oder  Ge- 
mälde aus  demselben,  es  ist  wie  er  selbst  im 
Vorwort  sich  ausdrückt  eine  „pittura  della  vita 
privata  di  un  popolo".  Dabei  hat  er  es  wohl 
verstanden,  theils  aus  den  bisherigen  Schriften 
—  von  Sansovino  an  bis  auf  unsere  Tage  — 
auszuziehen,  was  zu  einer  geordneten  Reihe 
solch  historischer  Gonceptionen  'gehört,  theils 
auch  das  handschriftliche  Material  zu  benutzen, 
welches  in  Venedig  sowohl  in  öffentlichen  als 
in  Privatsammlungen  in  Hülle  und  Fülle  vor- 
handen ist.  Er  giebt  auch  am  Schluß  zum 
Zeugniß  dessen  eine  Anzahl  von  Documenten, 
insbesondere  aus  der  Bibliothek  des  Herrn  Fe- 
derigo  Stefani,  von  welchem  wir  wohl  eine 
Geschichte  der  venezianischen  Aristokratie  er- 
warten dürfen. 

Gleichwohl  galt  es  vieles,  was  Herr  Molmenti 
in  Händen  hatte,  schärfer  und  emsiger  auszu- 
nützen, und  noch  viel  anderes  in  den  Bereich 
der  Studien  zu  ziehen;  man  vermißt  die  prü- 
fende Durchsicht  der  gedruckten  und  unge- 
druckten Chroniken  und  anderer  Handschriften 


20  Gott.  gel.  Abs.  1881.  Stück  1.2. 

der  Mareiana;  was  z.  B.  nur  in  den  Diarien 
Marino  Sanuto's  an  merkwürdigen  Einzelnheiten 
für  den  Zweck  einer  selchen  Arbeit  enthalten 
ist,  das  beweist  schon  was  bis  heute  in  21  Hef- 
ten —  Dank  der  Bemühung  der  'Depntazione 
Yeneta  di  storia  patria'  —  im  Drucke  vorliegt. 

Um  nicht  vom  großen  Archiv  ai  prari  zu 
sprechen,  welche  Nachforschung  heiseht  nicht 
die  Sammlung  des  Museo  Civieo  nnd  die  Rac- 
colta  Oorrer,  wie  das  Ganze  jetzt  heißt  nach 
Ueberftlhrung  der  geeinten  Schätze  in  das  statt- 
liche Fondaco  dei  Turchi? 

So  fand  ich  selbst  gerade  für  diese  Seite 
des  venezianischen  Lebens  vor  ein  paar  Jahren 
in  der  jüngst  dahin  geschenkten  Bibliothek  vo« 
Pietro  Gradenigo  —  auf  welche  mich  Herr 
Abbate  Nicoletti  in  collegialer Freundlichkeit 
hingewiesen  hatte  —  eine  Reihe  sehr  reichhal- 
tiger Aufzeichnungen.  Was  ich  nur  passando 
ansehen  konnte,  darüber  hat  zum  Theil  Herr 
Prof.  R.  F  n  1  i  n  vor  kurzem  im  Archivio  Veneto 
torn.  XIX  parte  II  p.  365  ff.  sachkundig  be- 
riohtet. 

Unerläßlich  —  meines  Erachtens  —  war  dem 
Werke  zn  Anfang  eine  mehr  topographische 
Unterlage  zu  geben  und  nicht  bloß  die  spätere 
Eintheilung  in  die  Sestieri  ziemlieh  nackt  ein- 
zufügen ;  so  karg  naturgemäß  die  Nachrichten 
über  die  Origines  der  Insel-Republik  auch  sind, 
so  läßt  sich  gerade  aus  der  weiteren  Oertlieh- 
keit  dieser  Bfiseh-Ansiedlungen  das  Eigentüm- 
liche des  Lebens  herleiten,  welches  sich  eben 
wegen  jener  gleichsam  zwingenden  Verhältnisse 
in  gar  vielen  Beziehungen,  in  Sitte,  Art  und 
Gebräuchen,  auch  in  Sprache  and  Verkehr,  we- 
nig verändert   bis  ans   Ende  der  Republik  er- 


Molmenti,  La  Storia  di  Veuezia  uella  vita  private.    21 

halten  hat,  and  auch  noch  in  der  Gegenwart 
sichtlich  zu  erkennen  ist.  Glücklicher  Weise 
bewahrt  ein  Volk,  was  es  einmal  als  gute  Sitte 
and  zweckmäßige  Gewohnheit  angenommen  hat, 
lange,  selbst  im  Anfluthen  einer  alles  gleich 
machenden ,  sinnlos  zerstörenden  Zeit  Der 
Ghiozzote  von  heute  ist  sieber  wenig  verschie- 
den von  seinen  Ahnen,  als  vor  fünfhundert  Jah- 
ren um  seine  Vaterstadt  der  Krieg  auf  Leben 
und  Tod  zwischen  Venedig  and  Genoa  gekämpft 
wurde  —  es  sind  diese  Inselbewohner  noch  die 

wie  Nieetas  Acominatus  die  Venezianer  über- 
haupt bezeichnet  —  und  wenn  man  die  Bewoh- 
ner des  Sestier  von  Dorsoduro  mit  jenen  von 
Castello  vergleicht,  tritt  noch  heute  r  selbst  im 
Dialect  und  in  anderem  eine  Eigentümlichkeit 
hervor. 

Eben  deshalb  mußte  auf  diese  vom  Ursprung 
an  mächtigen  und  nachhaltig  einwirkenden  Um- 
stände ein  größeres  Gewicht  gelegt  und  damit 
der  erste  Tbeil  des  Werkes  den  folgenden  Ab- 
schnitten mehr  gleich  ausgearbeitet  werden, 
worauf  auch  sowohl  der  Bericht  der  Commis- 
sion als  de*  des  Secretärs  des  Istituto  Veneto 
hinweist* 

Herr  Molmenti  hat  sonst  ziemlich  alles  be- 
sprochen, was  zum  Werke  gehörte,  aber  nicht 
immer  in  vollständiger  Weise.  So  durfte,  wo 
er  von  der  Ertheilung  des  Bürgerrechte  an  Aus- 
wärtige bandelt,  der  Beschluß  von  1407  nicht 
fehlen:  quod  omnes  Uli  forenses  qui  habitant 
vel  tenient  de  coetero  habitatum  ein  täte»  no- 
stram  Venetiarum,  et  acceperint  in  uxorem  ali* 
quam  Venetam  habitatricem  Venetiarum,  ipso 
facto  Venetiis  cum  sua  familia  habitsindo,  sint 
cives  civitatis  Vetiettartom?  de  intus  etc.;    vgl. 


22  Gott,  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.  2. 

Archivio  Veneto  VIII,  1, 154 — 156.  Ueberhaupt 
hätten  diese  und  ähnliche  gesetzgeberischen  Mo- 
mente in  ihrer  historischen  Folge  und  mit  ge- 
naueren Daten  eingefügt  werden  sollen. 

Es  wäre  so  recht  im  Sinne  der  Preisaufgabe 
gewesen,  gerade  die  merkwürdigen  und  innigen 
Wechselbeziehungen  zwischen  Staat  und  Volk 
in  Betreff  zum  Ausland  und  zu  den  fremden 
Nationen  innerhalb  der  Stadt  in  einem  eigenen 
Abschnitt  vor  Augen  zu  legen:  wenn  in  den 
Staatsverträgen,  mit  den  Moslims  insbesondere, 
schon  im  13.  Seculum  Grundsätze  des  Völker- 
rechts aufgenommen  sind,  welche  kaum  die 
Tractate  der  neuesten  Zeit  erreichen,  so  zeigt 
auch  das  ganze  städtische  und  bürgerliche  Le- 
ben eine  Freiheit  des  Verkehrs  und  eine  Werth- 
schätzung  im  Umgang  mit  Andersredenden,  An- 
dersgläubigen, wie  sie  nur  aus  einem  Gemein- 
wesen sich  herausbilden  konnte,  dessen  Seele 
der  Handel  war. 

Dann  halten  auch  die,  man  könnte  sagen 
familiären  Beziehungen  zum  deutschen  Kauf- 
mann, und  der  hochbedeutsame  Stand  des  deut- 
schen Hauses  eine  nicht  bloß  vorübergehende 
Erwähnung  gefunden;  eben  für  dieses  sind  in 
jüngster  Zeit  werthvolle  literarische  Veröffent- 
lichungen gemacht  worden ;  das  Capitular  des  deut- 
schen Hauses,  welches  bis  auf  Rudolph  von  Habs- 
burg zurückgeht,  mußte  schon  als  sprachliches 
Denkmal  an  gehörigem  Orte  aufgeführt  werden. 

Bei  näherem  Eingehen  auf  die  angedeuteten 
Verhältnisse  wäre  auch  das  wichtige  Innungs- 
wesen noch  tiefer  erfaßt  worden  —  das  'Capi- 
tolare  della  Giustizia  vecchia'  z.  B.  bietet  noch 
manches  außer  demjenigen,  was  der  Verfasser 
sachgemäß  verwendet  bat  —  und  eine  heutzu- 
tage viel  angeregte  und  im  Volksleben  jederzeit 


Molmenti,  La  Storia  di  VeDesia  nella  vita  private.    28 

dringliche  Angelegenheit,  die  Art  der  Besteue- 
rung, der  Auflagen,  der  Zölle  hätte  im  Capitel 
'Considerazioni  sugli  istituti  economici'  ihren 
Platz  gefanden. 

Wenn  es  richtig  ist,  was  ich  nach  nicht  ober- 
flächlichen Stadien  über  das  Zollwesen,  die  Ab- 
gaben und  die  Besteuerung  in  Venedig  anderswo 
dargelegt  habe  —  „Zur  Quellenkunde  des  ve- 
nezianischen Handels  und  Verkehres.  Abhandl. 
der  bayer.  Akademie  I,  15,  7  —  München  1879u 
—  wenn  „alle  dahin  zielenden  Maßnahmen  nur 
auf  Zeit,  gleichsam  auf  Probe  des  Erfolges"  ge- 
troffen wurden  —  „mit  der  vorschauenden  Ab- 
sicht, entweder  zu  bestätigen  was  frommte,  oder 
abzuändern  was  nöthig  schien,  so  daß  dem 
Staatsschatze  die  ausreichende  Fülle  von  Geld 
zuströmte,  der  Bürger  und  gemeine  Mann  seine 
Nahrung  hatte,  und  dabei  zugleich  Käufer  und 
Verkäufer  aus  aller  Welt  gereizt  und  angelockt 
wurden,  ihren  Markt  in  Venedig  zu  halten 
u.  8.  w.u,  so  leuchtet  ein,  wie  wesentlich  diese 
Art  von  Volkswirtschaft  und  Finanzverwaltung 
mit  dem  ganzen  Staatskörper  und  dessen  Glie- 
derungen zusammenhing,  wie  gerade  in  diesem 
Verfahren  der  Regierung  das  volksläufige  Sprich- 
wort: „pane  in  piazza,  giustizia  in  palazzoa 
seinen  Untergrund  hatte.  Was  alles  in  dieses 
Feld  der  Untersuchung  zu  ziehen  wäre,  ist  in 
der  erwähnten  Abhandlung  angeführt. 

Wenn  der  Abschnitt  über  die  venezianische 
Mundart  sehr  mager  erscheint,  so  liegt  die 
Schuld  allerdings  nicht  an  dem  Verfasser;  es 
fehlt  hier  noch  an  den  Anfängen  einer  histori- 
schen Grammatik  dieses  merkwürdigen  und  so 
wohllautenden  italienischen  Sprachzweiges  — 
lexicographische  Arbeiten  sind  bekanntlich  und 
in  wackerer  Zusammensetzung  vorbanden  —  als 


24  (iött.  gel.  Anz.  1881.  Stack  1.2. 

auch  an  einer  auf  die  Ursprünge  des  veneziani- 
schen Wortschatzes  gerichteten  wohlgeführten 
Untersuchung,  welche  selbst  wieder  mit  der  oben 
berührten  Frage  der  Origines  der  Bevölkerung 
verkettet  ist.  Sicher  liegen  in  der  veneziani- 
schen Mundart,  in  Wort  and  Fügung,  manche 
gnte  Reste  altlateinischer  Sprachweise  geborgen, 
wie  in  den  Staatsnrkunden  hie  und  da  eine  lir- 
alte Form  zu  Tage  kommt,  während  anderseits 
z.  B.  in  den  Satzungen  der  Kunstgenossenschaf- 
ten und  Innungen,  der  sogenannten  scolae  (seuole) 
germanische  (langobardische)  Einflüsse  kaum  au 
verkennen  sind;  schon  der  Name  'gastaldiones' 
neben  den  'suprastantes'  und  'judices'  als  Vor- 
stände und  Ordner  derselben  weist  darauf  hin. 
Nach  beiden  Seiten  bedarf  es  noch  eindringen- 
der und  ernsthafter  Studien,  und  zwar  nach 
dem  Vorbild  von  Meister  Fr.  Diez,  welcher 
übrigens  bereits  vielfach  in  Italien  bekannt  ist 
und  erfolgreich  —  in  Schule  und  gelehrten  Ar- 
beiten —  benutzt  wird.  Deshalb  durfte  das 
venezianische  ruga  nicht  mehr  vom  französi- 
schen rue  abgeleitet  werden  (pag.  143),  sondern 
umgekehrt  dieses  von  jenem  —  im  Sinne  von 
'Gasse'  —  mittellateinischen,  mittelitalienischen 
Worte. 

Nicht  unschätzbar  für  die  Geschichte  der 
venezianischen  Sprache  ist  ein  'Vocabolario  Ve- 
neziano-Tedesco' ,  welches  handschriftlich  auf 
der  Münchener  Staatsbibliothek  bewahrt  ist,  wo- 
hin es  aus  der  Palatina  kam.  Ich  habe  über 
diesen  sauber  geschriebenen  Pergament-Codex 
vom  J.  1424  —  im  'Catalogue  codd.  bibl.  reg. 
monaoensis'  —  in  dem  von  mir  bereits  1858 
hergestellten  Theil  —  torn.  VII,  codd.  gall, 
hisp.  italieos  etc.  complectens,  p.  296  No.  1050 
näheres  mitgetheilt.    Darauf  hin  hat  meines  Er- 


Molmenti,  La  Storia  di  Venezia  nella  vita  privata.    95 

inneres  Herr  Mnssafia  in  Wien  vom  Beiben 
Gebrauch  gemacht.  — 

Die  Sprache  des  Buches  selbst  ist  anziehend, 
klar  und  lebendig;  es  wird  sicher  gerne  geleseft 
werden,  namentlich  wegen  der  mit  besonderer 
Liebe  ausgeführten  Beschreibungen  gewisser  ge- 
sellschaftlicher Vorgänge  und  Festlichkeiten ; 
eben  damit  war  aber  das  Abgleiten  auf  eine 
mehr  novellistische  Behandlung  gar  leicht  mög- 
lich, wie  ja  dieselbe  in  der  Gegenwart,  nicht 
zum  frommen  der  eigentlichen  geschichtlichen 
Darstellung,  allenthalben  Mode  ist. 

Diese  allgemeinen  Bemerkungen  sollen  be- 
weisen, mit  welcher  Theilnahme  wir  den  Lei- 
stungen des  Verfassers  gefolgt  sind,  zugleich 
aber  dahin  zielen,  demselben  für  eine  spätere 
und  gleichmäßigere  Durcharbeitung  des  schönen 
Vorwurfes  wohlgemeinte  Rathschläge   zu  geben. 

Er  hat  ja  in  der  Nähe  ein  herrliches  Muster 
vor  Augen,  an  dem  hochsinnigen  Geschichte- 
Schreiber  Karl's  V.,  Herrn  Giuseppe  De  Leva 
in  Padua;  selbst  nur  eine  einzige  Abhandlung 
dieses  unverfänglichen  Zeugen  der  Wahrheit, 
wie  jüngst  jene  'Del  movimento  intellettuale 
d'Italia  ne'  primi  secoli  del  medioevo'  genügt, 
um  darzulegen,  wie  man  die  menschlichen  Dinge 
durchforschen  und  erfassen,  wie  man  Geschichte 
schreiben  soll  und  kann. 

München.  Georg  M.  Thomas. 


Jordani  Bruni  Nolani  Opera  latine  con- 
script a  recensebat  F.  F  i  o  r  e  n  tin  o.  Vol.I.  ParsI 
eontinenB:  1.  Oratio  valedictoria.  2.  Oratio  cons olatom. 
8.  Acrotismos  Camoeraeensis.  4.  De  Immenso  et  Innu- 
merabilibu«  (Lib.  1.  2.  8),  Neapoli  apud  Dom.  Mo- 
rano  1879.    XLVIII  und  398  8.     Hoch  4°. 

4 

Eine  neue  Ausgabe  der  lateinischen  Schrif- 


26  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

ten  Giordano  Brnno's  war  längst  von  Allen,  die 
sich  mit  ihm  beschäftigen,  lebhaft  gewünscht 
worden ;  denn  die  Originalausgaben  seiner  Werke 
sind  so  selten,  die  Bibliotheken,  in  denen  sie 
sich  finden,  so  wenig  bekannt,  daß  es  die  größte 
Mühe  kostet,  auch  nur  den  größeren  Th,eil  der- 
selben zusammenzubringen.  Gfrörer  hatte  aller- 
dings, nachdem  Wagner  1830  die  italienischen 
Schriften  publiciert  hatte,  1834  eine  Ausgabe 
der  lateinischen  Werke  begonnen,  aber  sie 
blieb  unvollendet,  und  enthält  gerade  die  wich- 
tigsten Schriften  nicht,  und  auch  Gfrörers  Aus- 
gabe ist  vergriffen.  Der  bekannte  italienische 
Gelehrte  Francesco  de  Sanctis  hat  sich  also  ein 
großes  Verdienst  dadurch  erworben,  daß  er  als 
Unterrichtsminister  den  Anstoß  zu  einer  durch 
Staatsmittel  unterstützten  neuen  Ausgabe  der 
lateinischen  Schriften  Brunos  gab.  Der  Profes- 
sor der  Philosophie  F.  Fiorentino  in  Pisa  über- 
nahm die  Arbeit  und  der  erste  Band  liegt  in 
schöner  Ausstattung  vor  uns. 

Eine  an  de  Sanctis  gerichtete  Einleitung  er- 
öffnet das  Buch,  dann  folgen  die  zwei  academi- 
schen  Reden,  die  in  Gfrörers  Ausgabe  fehlen, 
die  Abschiedsrede,  die  am  8.  März  1588  in  Witten- 
berg, und  die  Gedächtnißrede  auf  den  Herzog 
Julius  von  Braunschweig,  die  am  1.  Juli  1589 
in  Helmstädt  gehalten  wurde.  An  sie  schließt 
sich  der  Acrotismus,  die  Thesen  der  Pariser 
Disputation  von  Pfingsten  1586  mit  ihren  Er- 
läuterungen ;  den  Rest  des  Bandes  füllen  die 
drei  ersten  Bücher  des  lateinischen  Lehrgedich- 
tes De  Innumerabilibus,  Immenso  et  Infigurabili. 

Diese  Reihenfolge  verräth  gleich  von  vorn 
herein  einen  Mangel  des  neuen  Unternehmens, 
den  wir  nur  auf  das  lebhafteste  bedauern  kön- 
nen,  den  Mangel    einer    durchgeführten    plan- 


Jocdani  Bruni  Op.  lat.,  rec.  Florentine  27 

mäßigen  Anordnung.  Die  nächstliegende  and 
fttr  eine  monumentale  Ausgabe  wie  diese  gewiß 
zweckmäßigste  Ordnung  wäre  die  chronologische 
gewesen;  nach  dieser  gehören  die  genannten 
Schriften  zu  den  späteren.  Wollte  man  eine 
sachliche  Ordnung  bevorzugen,  so  sind  aller- 
dings zwei  Gruppen  von  Schriften  leicht  zu 
unterscheiden:  einmal  die  logischen  und  rhe- 
torischen, die  sich  mit  der  Lullischen  Kunst  be- 
fassen, und  dann  die  metaphysischen,  zu  denen 
außer  den  drei  in  Frankfurt  erschienenen  Lehr- 
gedichten noch  die  Figuratio  Aristotelici  physici 
auditus,  der  Acrotismus  und  die  Summa  termi- 
norum  metaphysicorum  gehört;  neben  diesen 
beiden  Hauptgruppen  wären  nur  wenige  Schrif- 
ten vermischten  Inhalts  übrig  geblieben.  Der 
Herausgeber  gieng  nun  davon  aus,  daß  die 
Gfrörersche  Ausgabe  tiberwiegend  logische  Schrif- 
ten enthält  und  zog  darum  vor,  die  noch  wenig 
zugänglichen  und  wichtigeren  metaphysischen 
Lehrgedichte  voranzustellen  —  ein  Grund,  der 
doch  zu  vorübergehender  Natnr  ist,  um  zu  ent- 
scheiden. 

Leider  versäumt  der  Herausgeber  dabei,  uns 
ein  Wort  über  den  Plan  seiner  Ausgabe  im  Gan- 
zen zu  sagen.  Er  beschränkt  seine  Bemerkun- 
gen auf  den  ersten  Band ;  und  hier  motiviert  er 
die  Voranstellung  der  beiden  Reden  damit,  daß 
Bruno  selbst  sie  vorangestellt  haben  würde,  um 
seinen  Dank  an  die  deutsche  Nation  auszu- 
drücken, die  ihn  gastlich  aufgenommen;  die 
Voranstellung  des  Acrotismus  vor  den  Lehrge- 
dichten aber  wird  damit  begründet,  daß  er  eine 
kurze  Uebersicht  über  die  Physik  Brunos  enthalte. 

Wollten  wir  nun  auch  diese  Gründe  gelten 
lassen,   obgleich   sie    einen  übersichtlichen  und 


28  Gott  gel.  Am.  18dl.  Stück  1.2* 

einheitlichen  Plan  nicht  ersetzen  können,  so  ist  j 
geradezu  unbegreiflich,  wie  der  Heraasgeber 
dazu  kam,  von  der  Trias  der  Frankfurter  Schrif- 
ten De  Minimo,  De  Monade,  De  Immenso  die 
letzte  zuerst  zu  stellen,  was  schon  ganz  äußer- 
lich die  Unbequemlichkeit  mit  sich  bringt,  daß 
sie  in  zwei  ,6 an  de  vertheilt  werden  muß.  Der 
Herausgeber  weiß  selbst,  daß  Bruno  jene  Schrif- 
ten ausdrücklich  in  die  angegebene  Ordnung 
gestellt  hat;  er  sagt  ja  in  der  Dedication,  die 
sich  auf  alle  drei  bezieht:  Adsunt  primo  De 
Minimo  etc.  libri,  secundo  de  Monade  über,  tertio 
de  Immenso  etc.,  und  auf  dem  Titel  des  Ban- 
des, der  De  Monade  und  De  Immenso  mit  fort- 
laufender Paginierung  enthält,  steht:  De  Mo- 
nade etc.  über,  consequens  quinque  de  Minimo. 
Deutlicher  kann  nicht  ausgedrückt  sein,  welche 
Ordnung  Bruno  selbst  diesen  Schriften  ange- 
wiesen hat.  Was  würde  man  von  einem  Heraus- 
geber Schillers  sagen,  der  Wallensteins  Tod  vor 
das  Lager  stellte?  Denn  das  subjective  Ur- 
theil,  daß  De  Immenso  bedeutender  sei  als  De 
Monade,  konnte  doch  die  vom  Verfasser  selbst 
gewollte  und  sachlich  begründete  Reihenfolge 
nicht  umstoßen. 

Der  Herausgeber  scheint  aber  auch  sonst 
über  das  Verhältniß  dieser  drei  Schriften  be- 
ziehungsweise ihrer  Originalausgaben  im  Un- 
klaren zu  sein.  Er  sagt  S.  193  Note:  die  Epi- 
stola  dedicatoria  an  den  Herzog  Heinrich  Julius 
von  Braunschweig  sei  „premessa  a  tutto  il  vo- 
lume, che  contiene  i  tre  poemi  De  Monade,  De 
Immenso  e  De  Minimo".  Diese  drei  Gedichte 
sind  nicht  in  einem  Band  erschienen ;  De  Minimo 
erschien  zuerst  besonders,  mit  besonderer  Dedi- 
cation; die  beiden  andern  nur  sind  zusammen- 


Jordarn  Bfroni  Op.  lat,,  rec.  Fioreotino.  29 

gedruckt  und  tragen  allerdings  die  Dedication 
an  der  Spitze,  die  sich  auf  alle  drei  bezog,  die 
aber  ausdrücklich  zuerst  stellt,  was  Fioreotino 
znletzt  aufführt  Die  Erklärung,  warum  die  Ge- 
sammtdedication  erst  vor  dem  zweiten  Werke 
der  Bei  he  steht,  liegt,  wie  kh  anderswo  ausge- 
führt, darin,  daß  die  Nötbigung,  Frankfurt  plötz- 
lich zu  verlassen,  Bruno  bestimmte,  das  zuerst 
gedruckte  Werk  dem  Herzog  gesondert  über- 
reichen zu  lassen,  die  Dedication  zum  Ganzen 
erst  später  nachzuholen. 

Der  Herausgeber  scheint  dabei  allerdings 
durch  einen  Irrthum  Berti's  (in  dessen  Vita  dt 
Giordano  Bruno)  mit  verfährt  worden  zu  sein, 
der  annahm,  De  Minimo  sei  erst  nach  De  Mo- 
nade gedruckt  worden.  Er  glaubt  nun  seiner- 
seits (S.  XXXVII),  der  Druck  des  Bandes,  der 
De  Monade  etc.  enthält,  sei  im  November  1590 
beendet  gewesen,  als  Bruno  den  Druck  des  De 
Minimo  begann;  und  das  letztere  schließt  er 
daraus,  daß  Bruno  De  Min.  I,  1  sage,  Herzog 
Heinrich  Julius  von  Bräunschweig  sei  zur  Hoch*. 
zeit  König  Jacobs  von  Schottland  mit  Anna  von 
Dänemark  gegangen,  die  gerade  in  jenem  Mo» 
nat  stattgefunden  habe.  Allein  er  fällt  dabei  i* 
eine  zweifache  Verwechslung.  Zuerst  fand  die 
Hochzeit  Jacobs  nicht  im  Nov.  1590,  sondern 
am  23.  Nov.  1589  statt,  und  zum  zweiten  redet 
Bruno  in  der  angezogenen  Stelle  nicht  von  der 
Vermählung  Jacobs,  bei  der  Herzog  Heinrich 
Julius,  sondern  von  der  Vermählung  des  Her- 
zogs mit  Elisabeth  von  Dänemark,  bei  der  Ja* 
cob  anwesend  war;  und  diese  fand  am  19.  April 
1590  statt.  Damals  also  wurde  das  erste  Capi- 
tel  De  Minimo  geschrieben;  im  Februar  1591 
war  der  Druck  vollendet.     Wäre  das  erste  Ca- 


30  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  1.2. 

pitel  de  Minimo  erst  Ende  November  geschrie- 
ben worden,  so  mttßte  der  Herausgeber  für  wahr- 
scheinlich halten,  daß  der  ganze  Band  mit  zahl- 
reichen Figuren  in  kaum  zwei  Monaten  fertig 
gestellt  gewesen  wäre.  De  Minimo  wurde  dann 
zur  Ostermesse  1591  ausgegeben;  die  beiden 
andern  Schriften  aber,  wie  aus  des  Frank- 
furter Buchhändlers  Bassaeus  Collectio  in  unum 
Corpus  etc.  1592  hervorgeht,  erst  zur  Herbst- 
messe. 

Es  wäre  auch  sonst  zu  wünschen  gewesen, 
daß  der  Herausgeber  der  bibliographischen  Seite 
seiner  Aufgabe  mehr  Sorgfalt  gewidmet  hätte. 
Er  fahrt  S.  XXV  an,  daß  er  von  De  Monade 
zwei  Ausgaben,  von  1591  und  1614,  vor  sich  ge- 
habt habe.  Sie  scheinen  ihm  dieselbe  zu 
sein,  nur  das  Titelblatt  neu  gedruckt.  War  denn 
darüber  nicht  leicht  Gewißheit  zu  erlangen  ?  Er 
unterläßt  jede  Beschreibung  der  Originalausga- 
ben, die  bei  ihrer  Seltenheit  doch  nicht  über- 
flüssig war;  wir  erfahren  nicht  einmal  den  ur- 
sprünglichen Titel  des  Buches,  dessen  zweiten 
Theil  die  von  ihm  abgedruckte  Schrift  De  Im- 
menso  bildet.  Damit  hängt  eine  weitere  Unbe- 
quemlichkeit seiner  Anordnung  zusammen.  Die 
Notizen,  welche  zur  Einleitung  in  die  einzelnen 
Werke  dienen,  stünden  doch  am  besten  vor  je- 
dem einzelnen  Werk;  so  muß  man  sie  in  der 
ohne  sichtbare  Abschnitte  geschriebenen  Ein- 
leitung suchen,  und  über  die  Veranlassung  der 
zweiten  Bede  fehlt  jedes  Wort,  obgleich  der  Le- 
ser aus  ihrem  Titel  und  ihrem  Inhalt  unmöglich 
alles  erfahren  kann,  was  ihm  zu  wissen  wün- 
schenswerth  ist. 

Noch  eine  weitere  Bemerkung  kann  ich 
nicht  unterdrücken.  Für  den  Gebrauch  der 
neuen  Ausgabe  wäre  es  gewiß  mit  großem  Danke 


Jordani  Rrrnii  Op.  lat.,  reo.  Fiorentino.  31 

empfunden  worden,  wenn  der  Heransgeber  die 
Seitenzahlen  der  Originaldrncke  und  die  der 
Gfrörer'schen  Anggabe  in  seinem  Texte  ange- 
geben hätte;  die  bisherigen  Citate  sind  meist 
nach  ihnen  gemacht;  wie  soll  man  in  der  neuen 
Ausgabe  etwas  finden?  Und  wenn  man  etwa 
ein  nach  Büchern  und  Gapiteln  gegebenes  Citat 
aufsuchen  wollte,  so  vermißt  man  die  entspre- 
chenden Golumnenttberschriften ;  nichts  als  die 
Seitenzahl  steht  Ober  den  Seiten,  so  daß,  wer 
das  Buch  aufschlägt,  nicht  einmal  weiß,  welche 
Schrift  er  vor  sich  hat.  Dergleichen  gehört 
doch  zu  den  ersten  Erfordernissen  der  wirkli- 
chen Brauchbarkeit  einer  Ausgabe.  Sogar  die 
Zählung  der  Verse,  Welche  die  Originalausgabe 
bat,  ist  weggelassen. 

Nach  diesen  Ausstellungen,  die  ich  nicht  ver- 
mehren will,  gereicht  es  mir  nun  zur  Befriedi- 
gung, die  Sorgfalt,  welche  der  Correctheit  des 
Textes  gewidmet  ist,  im  Ganzen  anerkennen  zu 
dürfen.  Der  Herausgeber  bemüht  sich,  nicht 
bloß  einen  genauen  Abdruck  herzustellen,  son- 
dern auch  die  Druckfehler  —  zuweilen  auch 
Sprachfehler  —  des  Originals  zu  berichtigen, 
und  er  giebt  meist  mit  peinlicher  Genauigkeit 
die  so  entstandenen  Differenzen  vom  Originale 
selbst  in  der  Interpunction,  wo  diese  irgend  von 
Bedeutung  ist,  unter  dem  Texte  an;  ebenso  no- 
tiert er  seine  Abweichungen  von  Gfrörer.  Kleine 
Inconsequenzen  dabei,  welche  sich  kaum  ver- 
meiden lassen,  wäre  ungerecht  zu  tadeln.  Aber 
seine  Sorgfalt  ist  sich  nicht  tiberall  gleich  ge- 
blieben. Auf  der  Einen  Seite  381  z.  B.  steht 
Z.  6  istigante  statt  instigante,  Z.  10  ist  ein  Se- 
micolon eingefügt,  wo  höchstens  ein  Komma  am 
Platze  ist,  Z.  16  steht  Nicoetse  Pithägoraeque,  wo 
das  Original  Nicsetae  Pythagoroque  hat  (sieber- 


89  Oött.  gel.  Adz.  1881.  Stück  1.2. 

lieb  kerne  Verbesserung;  daneben  wird  zwarTi- 
raei  in  Timsei  corrigiert,  aber  Aegesi«  und  Sta- 
gyrita  stehen  gelassen);  Z.  18  potueresatis  als 
Ein  Wort,  Z,  20  reliqni  haec  Septem  statt  reli- 
qua,  Z.  24  compertae  statt  comperta.  Wer  sich 
in  einer  Einleitung,  in  die  das  gar  nicht  herein* 
gehört,  sechs  Seiten  lang  aber  die  Fehler  der 
Wagner'scben  Ausgabe  der  italienischen  Werke 
verbreitet,  und  so  scharf  die  Nachlässigkeit  eines 
Mannes  rügt,  der  jedenfalls  das  Verdienst  bat, 
ans  eigenen  Mitteln  unternommen  zuhaben,  was 
Italien  in  erster  Linie  oblag,  durfte  nicht  in  19 
Zeilen  sieben  Fehler  stehen  lassen. 

Ansprechend,  wenngleich  nicht  überzeugend, 
ist  der  Versuch  des  Herausgebers,  Data  für  die 
erste  Entstehung  des  Gedichtes  De  Immenso  zu 
gewiiaea;  es  würde  nach  derselben  Methode 
folgen,  daß  De  Minimo  und  De  Monade,  die  ja 
darin  oitiert  werden,  noch  früher  geschrieben 
sind.  Daß  einzelne  Theile  schon  längere  Zeit 
vhw  der  Herausgabe  entworfen  worden  sind,  ist 
laicht  möglich,  die  jetzige  Gestalt  hat  das  Werk 
ohne  Zweifel  erst  in  Helmstedt  oder  gar  in 
Frankfurt  erhalten. 
Tübingen,  Nov.  1 880.  C.  S  i  g  w  a  r  t. 

Die  Summa  der  Heiligen  Schrift.  Ein  Zeug- 
niß  aus  dem  Zeitalter  der  Reformation  für  die  Recht- 
fertigung aus  dem  Glauben.  Herausgegeben  von 
E.  Benrath,  Prof.  an  der  Universität  Bonn.  Leipzig, 
L.  Fernau.     1860.    XL  and  175  Seiten  in  Ootav. 

Dem  gelehrten  Herausgeber  des  vorliegenden, 
äußerst  interessanten  Werkes  war  von  verschie- 
denen Seiten,  auch  von  mir  in  meiner  Anzeige 
dear  von  Comba  besorgten  neuen  Ausgabe  des 
Sommario  della  Sacra  Scrittura  (1878.  S.  705  f.), 
die  Bitte  ausgesprochen,  er  möge,  wie  er  zuerst 


Die  Summa  der  Heiligen  Schrift,  heransg.  «v.  Benrath.    88 

in  iDfcuJ&chiifcöd  $ie  Wiederauffindang  jenes  her 
^braten  Bloches  aap  dem  Zeitalter  der  Refor- 
mation apgeMpdigjt  hatte,  so  auch  über  de? 
JJreprpng  desselben,  Ober  die  sehr  zweifelhaft 
#sc|hqinende  Originalität  des  italienischen  Tex- 
tes  aqd  über  jjnaaqherlei  andere  literarisch- kriti- 
sche Fragen,  zu  deren  Beantwortung  eiae  ge- 
j#up  E^emtfnis  des  historischen  ppd  literarischen 
Retails  der  Reforawtipnazeit  gehört,  insbesondere 
so  weit  Italien  ki  Betracht  kommt,  sieb  vernahmen 
lassen.  Diese  Erörterungen  durfte  man  getane 
von  Bßprath  ,erhoffen,  weil  er,  ein  bewährter 
Forseber  a^f  dem  be&eicbnetejo  Gebiete,  einp 
deutsche  Bearbeitung  $es  Sommario  versprochen 
hatte.  Benrath  hat  nun  in  danjkqnswerthester 
Weise  nic^it  pur  eine  Uebersetzung  des  italieni- 
schen Werkes  .gegeben  (S.  1  — 173  des  anzu- 
zeigepden  Baches)  —  and  um  dieser  Arbeit  wil- 
len nennt  er  sich  besoheiden  „Herausgeher"  — 
sondern  er  hat  auch  die  sich  ( darbietenden  kri- 
tischen Fragen  .eingebend  erörtert.  \n  ange- 
messener KOrze,  aber  ausreichend,  ist  dies  in 
der  Einleitung  zum  vorliegenden  Buche  ge- 
schoben (S.  III^-XXXVIU),  ajisftthrliQher  aber 
and  mehr  auf  dfts  Detail  der  Untersuchung  ein- 
gebend in  einer  Abhandlung  über  „die  Summa 
der  Heiligen  .Schrift",  deren  erster  Theil  in  den 
Jahrbüchern  für  .protestantische  Theologie  (VII, 
S.  127  f.)  schon  erschienen  ist 

Das  zur  Verarbeitung  erforderliche  Material 
hat  Benrath  in  fleißiger  Nachforschung  und  mit 
glücklicher  Hand  zusammengebracht  und  dem 
wesentlichsten  Theile  nach  mit  eigenen  Augen 
gesehen.  Er  weist,  wenn  wir  zuerst  auf  die 
italienischen  Ausgaben  hinblicken  dürfen,  auß^r 
zwei  in  jüngster  Zeit  erschienenen  Ausgaben 
vier  verschiedene  italienische  Drucke  aus  der 


34  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Beformationszeit  nach.  Der  älteste  derselben 
fällt  etwa  in  das  Jahr  1534  Dazu  kommen 
mehrere  französische  Ausgaben.  Die  älteste 
vom  Jahre  1523  ist  durch  ein  Exemplar  im 
Britischen  Museum  vertreten.  Benrath  hat  diese 
Ausgabe  sorgsam  geprüft.  Zu  meiner  Freude 
hat  er  manches  bestätigt,  was  ich  nur  auf 
Grund  von  Notizen,  die  mir  auf  meine  Bitte 
von  einem  der  Herren  Gustoden  der  Bibliothek 
des  Britischen  Museums  gegeben  waren,  und 
unter  kritischer  Vergleichung  des  italienischen 
Neudrucks  urtheilen  konnte.  Ferner  kommen  in 
Betracht  fünf  englische  Ausgaben,  von  denen 
vier  in  Cambridge  vorhanden  sind,  eine  im  Bri- 
tischen Museum  sich  findet.  Die  älteste  ist  aus 
dem  Jahre  1529.  Von  entscheidender  Wichtigkeit 
sind  aber  endlich  die  niederländischen 
Ausgaben,  von  denen  Benrath  verschiedene 
nachweist.  Die  älteste,  welche  er  aufgefunden 
hat,  ist  aus  dem  Jahre  1526,  eine  Ausgabe, 
welche  aber  sich  selbst  als  eine  neue,  sorgsam 
verbesserte  Auflage  ankündigt.  Wahrscheinlich 
ist  diese  Ausgabe  von  1526  die  dritte,  während 
die  zweite  in  das  Jahr  1525,  und  die  erste  in 
das  Jahr  1523  fällt.  Facsimilirte  Titel  der 
niederländischen  Ausgabe  von  1526,  der  fran- 
zösischen von  1523,  der  italienischen  ohne  Jahrs- 
zahl  (etwa  von  1534)  und  der  englischen  von 
1529  giebt  uns  Benrath  vor  der  Uebersetzung 
des  Werkes. 

Das  somit  vorliegende  Material  hat  Benrath 
mit  eingehender  Sorgfalt  verarbeitet  und  wenig- 
stens die  hauptsächlichsten  kritischen  Fragen 
zur  Erledigung  gebracht.  Nur  in  Betreff  der 
Person  des  Verfassers  ist  bislang  nichts  weiter 
als  eine,  allerdings  nicht  unwahrscheinliche, 
Vermuthung  zu  gewinnen  gewesen. 


Die  Summa  der  Heiligen  Schrift,  herausg.  v.  Benrath.    85 

Durch   Vergleichung   der    in   vier  Sprachen 
vor  uns  liegenden  Schrift  —  eine  Vergleichtmg, 
deren  Detail  vorzugsweise  in  der  oben  bezeich- 
neten Abhandlung  gegeben  wird  —   stellt  Ben- 
rath zuvörderst  fest,  daß  die  italienische  Recen- 
sion  nicht   ursprünglich,   sondern   eine    Ueber- 
setzung, und  zwar  aus  dem  französischen  Texte, 
ist    Sodann  muß,  wenn   es  sich  um  die  Origi- 
nalität handelt,  der  englische  Text  zurücktreten. 
Das  uns  vorgelegte  ausdrückliche  Zeugnis,  daß 
die  englische  Form  eine  Uebersetzung  from  the 
Dutch  sei,   findet  in   der  Textgestaltung  selbst 
seine  Bestätigung.    Auf  dem  Plane  bleiben  so- 
nach die  französische   und  die  holländische  Re 
cension,  von  denen  eine  den  Ruhm  der  Origina- 
lität   haben   muß.    Theils  sind  es  nun  Zusätze 
und  sonstige  Eigentümlichkeiten    der   Redac- 
tion, welche  bei  der  kritischen  Vergleichung  der 
beiden   Recensionen  uns   entgegentreten,  theils 
sind  es  anderweite  historische  Momente,  welche 
Benrath   aus   seiner  gründlichen  Kenntnis    des 
Reformationszeitalters  beibringt;  alle  diese  An- 
zeichen weisen  aber  darauf  hin,  daß  die  Summa 
der  Heiligen  Schrift  aus  niederdeutschem  Boden 
entsprungen   sei.    Wahrscheinlich   ist   die  erste 
niederdeutsche  Ausgabe  im  Jahre  1523  gedruckt. 
Die  französische  Ausgabe,  welche  das  Jahr  1523 
trägt,  muß  sofort  veranstaltet  und  wird  vermuth- 
lieh  von  Basel  aus  verbreitet  sein.    Die  zweite, 
oder  wahrscheinlicher  schon  die  dritte,    nieder* 
deutsche  Ausgabe  von  1526  liegt  uns  vor.    Die 
englischen  Ausgaben,    welche   (S.  137)   einiges 
Eigentümliche  haben,  indem  namentlich  die  Aus- 
gabe  im   Britischen   Museum   die  Kapitel  über 
das  Mönchswesen  ausläßt,   sind  gleichfalls  noch 
in  den  zwanziger  Jahren  besorgt.     Die  italieni- 
sche Uebersetzung   dagegen   ist  am  spätesten, 

3* 


36  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stack  1.2. 

irertmithlich   erst  in  dea  dreißiger  Jahtfefe   er- 
schienen. 

Alles  Vorstehende  darf  nach  den  fcberfceragen- 
den  Erörterungen,  welche  Benrath  mit  ebebso 
großer  Besonnenheit  wie  mit  Scharfsinn  ufcd 
Sachkenntnis  gegeben  bat,  für  zuverlässig  gel- 
len. -Etwas  weiter  reichen  noeh  woMbegrüfcdfcte 
Vermuthungen  und  bei  einem  untergeordneten 
Punkte  bleibt  mir  ein  Zweifel.  Fflt  sehr  wahr- 
sebeinikb  halte  ich  d*e  Venmitflmög  Benraths, 
flaß  die  erste  holl&ndi&he  Aufgabe  *u  Leiden 
Von  detti  wegen  seines  Verlags  fceteerisfcher  Btt- 
öher  angefochtenen  Buchdrucker  Jan  Zevers 
(Siverts)  veranstaltet  sei.  Daß  eine  folgende, 
die  zweite  oder  dritte,  Aufgabe  atedafen  von 
Cornelius  Henrikzon  zu  Delft  besorgt  worden 
Bei,  ist  wiederum  ausdrücklich  bezeugt. 

Aber  Benrath  giebt  uns  auch  eine  Venmi- 
thung  über  die  Person  des  Verfassers,  eine  bloße 
Vermuthung  allerdings,  aber  eine  in  hohem 
Grade  ansprechende.  Er  weist  auf  Heinrich 
fiömmelius  'bin  —  so  genannt  von  seiner  Vater- 
stadt Bommel  an  der  Maas  —  «inen  reformato- 
frtechen  Prediger,  der  am  Niederrbein,  nament- 
lich in  Mors  und  in  Wesel,  in  den  zwanziger 
nnd  dreißiger  Jahren  bis  zur  Mitte  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  hin  uns  begegnet,  ein 
Mann,  welcher  für  die  Sache  der  Reformation 
viel  gethan  und  gelitten  hat.  Mehr  als  eftne 
Spur  leitet  darauf  bin,  diesem  Heinrich  Bomme- 
Hus  die  Abfassung  unserer  Summa  beizulegen. 
Das  frappanteste  Anzeichen  ist  folgendes.  Als 
Bommelius  im  Jahre  1557  m  Wesel  seiner  'Lehre 
wegen  zur  Verantwortung  gezogen  wurde,  be- 
rief er  sich  darauf,  daß  er  schon  vor  ungefähr 
dreißig  Jahren  in  einem  Büchlein,  genannt 
„Summa  der  deutschen  Theologie11,  seinen  GWau- 


Die  Summa  ti&r  Heiligen  Schrift,  heraußg.  v.  Benrath.    87 

ben  dargelegt  habe.  In  dieser  „Stimme  der 
deutschen  Theologie"  unsere  „Summa  der  Heili- 
gen Schrift"  wiederzuerkennen ,  liegt  um  so 
näher,  weil  sich  auf  dem  Titel  der  holländischen 
Ausgabe  von  1526  neben  der  Hauptangabe 
Summa  der  godliker  Scrifturen  die  weitere  An- 
gabe oft  ee»  dnytsche  Theologie  findet. 

Nur  in  einem  Punkte  bleibt  mir  ein  Zweifel 
an  dem  von  Benrath  Ausgeführtem.  Wenn  näm- 
lich die  bei  der  Darstellung  der  Lehre  von  den 
Sacramenten  immer  wiederkehrenden  Ausdrücke 
segno  und  pegno,  segnale,  significare,  rappre- 
Bentare  mich  bei  meiner  Anzeige  des  Sommario 
veranlassen,  Einflüsse  von  Seiten  der  schweize- 
rischen Reformation  anzunehmen,  so  will  Ben- 
rath (S.  486 f.)  das  nicht  anerkennen:  er  hält 
dafür,  daß  die  Anschauungen,  wie  sie  in  den 
Kreisen  der  Brüder  vom  gemeinsamen  Leben 
längst  vorbereitet  waren,  zur  Erklärung  jener 
Aussagen  und  anderer,  z.  B.  über  die  Leetüre 
der  heiligen  Schrift,  ausreichen.  In  Betreff  des 
letzteren  Moments  gewiß;  aber  in  den  Anschau- 
ungen von  der  Bedeutung  der  Sacramente  scheint 
mir  noch  immer  der  schweizerische  Einfluß  er- 
kennbar zu  sein.  Ich  wüßte  nicht,  wie  jene 
Aussagen  von  „Zeichen"  und  „Unterpfand" 
vielnaehr  auf  die  Heimath  der  Brüder  vom  ge- 
meinsamen Leben  zurückweisen  sollten. 

Aus  allem  Vorstehenden  ergiebt  sich  die 
dankbarste  Anerkennung  der  Benrathschen  Ar- 
beit. Das  edle  Zeugnis  aus  der  Reformations- 
zeit) welches  jetzt  dem  deutschen  Volke  ver- 
ständlieh gemacht  ist,  wird  hoffentlich  in  weiten 
Kreisen  Eingang  finden  und  seine  heilsame  Kraft 
bewähren. 

Hannover.  D.  Fr.  Düsterdieck. 


88  Gott  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Die   Entwicklung    des    altisraelitischen 
Priesterthums.  Ein  Beitrag  zur  Kritik  der  mitt- 
leren Bucher  des  Pentateuchs  von  Dr.  S.  May  bäum. 
Breslau.    Verlag  von  Wilhelm  Eoebner.     1880.    VIII. 
128  S.   8°. 

Die  Vorrede  zu  einem  neuen  Buche  des  Herrn 
Rabbiner  Maybaum  nöthigt  mir  eine  Bitte  ab, 
welche  ich  alle  Leser  meiner  Schriften  zu  be- 
herzigen ersuche:  ich  wünsche  nicht  eher  kriti- 
siert zu  werden,  als  bis  man  mich  in  Buhe  ge- 
lesen hat:  es  wird  Niemandem  etwas  schaden 
anzunehmen,  daß  ich  für  gewöhnlich  etwas  lie- 
fere, was  zweimal  anzusehen  lohnt,  wenn  man 
es  beim  ersten  Ansehen  nicht  verstanden  haben 
sollte. 

In  meinen  Orientalia  II  20—22  habe  ich 
folgendes  auseinandergesetzt: 

1.  Der  Name  Levi  ist  kein  Name,  wie  die 
Namen  der  übrigen  Patriarchen,  sondern  ein 
Adjectiv. 

2.  Es  ist  von  vorne  herein  unerlaubt  zu 
meinen,  daß  die  Bedeutung,  welche  der  Name 
Priester  und  der  Name  Levit  in  den  Tagen  des 
Esdras  gehabt,  auch  die  unter  Salomon  und  gar 
am  Sinai  gültige  gewesen  sei:  ich  füge  hier 
hinzu,  daß  jede  Nation,  welche  sich  in  andert- 
halb Jahrtausenden  nicht  ändert,  ein  werthloses 
Fossil  ist. 

3.  Man  kann  die  Leviten  sprachlich  als  die 
sich  anschließenden  deuten :  sie  wären  dann  die 
sich  den  aus  dem  Delta  zurückwandernden  Se- 
miten anschließenden,  also  Aegypter  gewesen: 
auch  Moses  war  ja  nach  den  ägyptischen  Quel« 
len  ein  Aegypter,  und  —  dies  ftige  ich  jetet 
hinzu  —  die  Aussage  dieser  Quellen  kann 
nicht  dadurch  beseitigt  werden,  daß  ein  neun 
hundert  Jahre  nach  Moses  geschriebenes,  nicht 


Maybanm,  Entwickelang  des  altisrael.  PriesterUranu.    89 

israelitisches,  sondern  jüdisches  Buch  die  Sache 
anders  darstellt 

4.  Man  kann  aber  sprachlich  die  Leviten 
auch  als  die  der  Bandeslade  das  Geleit  geben- 
den ansehen. 

5.  Mag  das  eine  oder  das  andere  richtig 
sein,  zur  Zeit  des  Esdras  waren  die  Leviten, 
von  den  Priestern  verschieden,  beim  Gottes- 
dienste die  Vertreter  der  Gemeinde. 

Ich  habe  also  zwei  Ansichten  über  die  ur- 
sprüngliche Bedentang  der  Leviten  zar  Wahl 
gestellt,  and  mich  für  keine  der  beiden  ent- 
schieden: ich  habe  angegeben,  was  zar  Zeit  des 
Esdras  meiner  Ueberzeugung  nach  die  Leviten 
gewesen  sind.  Jeder  Leser  meiner  Orientalia  II 
mag  erwägen,  ob  ich  mich  deutlich  aasgedrückt 
habe:  ich  stehe  wohl  überhaupt  nicht  in  dem 
Rufe,  nicht  deutsch  reden  und  schreiben  zu 
können. 

Mein  Wunsch  ist  —  ich  wiederhole  es  —  der, 
daß  (vergleiche  auch  die  Monatsschrift  für  die 
Geschichte  und  Wissenschaft  des  Judenthums 
XXIX  384)  Herr  S.  Maybaum  und  alle,  wel- 
che sich  sonst  mit  mir  beschäftigen  wollen,  in 
Zukunft  was  sie  über  mich  sagen,  erst  nach 
Erwägung  alles  dessen  sagen,  was  ich  wirklich 
vorgetragen  habe.  Mir  ist  in  den  Orientalia  II 20 
nicht  eingefallen  zu  behaupten,  die  Leviten 
seien  die  Aegypter  gewesen,  welche  mit  Moses 
gezogen:  ich  habe  über  die  ursprüngliche  Be- 
deutung des  Namens  Levit  eine  Vermuthung 
ausgesprochen,  neben  der  eine  andere  Vermu- 
thung steht:  ich  habe  ganz  genau  —  wenn  es 
gleich  zu  meinem  Bedauern  Herrn  Maybaum 
„nicht  völlig  klar  geworden"  —  angegeben, 
warum  Levi  nicht  ein  Stamm  wie  die  andern 
Stämme   gewesen,  nämlich   darum   nicht,   weil 


40  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.  2. 

Let!  ganz   Bieter  kein  Yiir(fityihktim ,  sondern 
ein  Adjectiv  ist. 

Ich  babe  besseres  tu  thtm,  ate  mich  mit 
Solchem!  Mia+erstehn  der  Hast  hefrutfriu&blägetf, 
muß  aber  gelegentlich  einmal  g6getf  solares 
Misverstehn  Verwahrung  eintegdn,  damit  die 
Hast  nicht  zu  arg  die  Gewissenhaftigkeit  über- 
wuchere, welche  eiti  Landsmann  der  Mässoreten 
gut  thun  wird  als  natioüale  Tugend  tu  pflegen. 

Herr  Maybäum,  dem  ich  ftlr  seifle  freund- 
liche Gesinnung  gegen  mich  zu  Danke  verpflich- 
tet bin,  bekennt  sich  zu  der  Ansicht,  daß  die 
Leviten  die  geistige  Blüthe  der  israelitischen 
Nation  gebildet  haben.  Ich  muß  ändern  fiber- 
lassen zu  untersuchen,  ob  er  diesen  etwas  un- 
bestimmten und  mit  dem  Canon  siehe?  nicht 
in  Einklang  stehenden  Satz  erweist.  Mit  ist 
ton  Blüthe  der  israelitischen  Nation  überhaupt 
nicht  zu  viel  bekannt:  was  dort  etwa  blüht, 
stammt  nicht  von  Israel  her.  Semiten,  Hebräer, 
Israeliten,  Juden  —  auch  Herr  Maybaüto  Wird 
nicht  bedauern,  diese  absteigende  Scala  eitimal 
in  G  danken  durchgespielt  zu  haben. 

P.  de  Lagarde. 

The  Authorship  of  the  Fourth  Gospel: 
External  Evidence 9.  By  Ezra  Abbot, 
D.D.,  LL.  D.,  Bnssey  Professor  of  New  Testament 
Criticism  and  Interpretation  in  the  Divinity  School 
of  Harvard  University.  Boston:  Geo.  H.  Ellis,  1880. 
104  S.    8°. 

Abbot's  Essay  über  die  äußeren  Zeugnisse 
für  die  Echtheit  des  4.  Evangeliums  Ist  nach 
der  Vorrede  des  Verfassers  &tift  einen*  Vortrag 
erwachsen,  den  dieser  Vertrötfer  der  Äedtesta- 
mentlichen  Exegese  und  Kritik  aü  tier  tinter 
Leitung   der   Unitariä»  steifende*  HWvätö-Uni- 


Ezra  Abbot,  Authorship  of  the  Fourth  Gospel.     41 

versität  in  Cambridge  bei  Boston  im  October 
1879  in  der  öffentlichen  Versammlung  der  Prd- 
digergesellschaft  (the  Ministers'  Institute)  seiner 
Kirchengemeinschaft  gehalten  hat.  In  revidier- 
ter Gestalt  ist  dieser  Vortrag  zuerst  in  der  Uni- 
tarian Review  (Februar,  März,  Juni  1880)  zum 
Abdruck  gebracht;  dann  hat  ihn  der  Verfasser 
noch  einmal  für  ein  dem  Referenten  nicht  zu« 
gängliches  Sammelwerk,  Institute  Essay's,  be- 
richtigend und  erweiternd  überarbeitet  und  hl 
dieser  Form  auch  in  dem  vorliegenden  Separat* 
druck  ausgeben  lassen.  Die  Erweiterungen.,  be- 
treffen namentlich  die  Untersuchungen  über  das 
Verhältniß  Justin's  zum  4.  Evangelium,  welche 
auch  die  Hinzufögung  eines  Anhanges  von  län- 
geren Noten  veranlaßt  haben,  in  denen  der  Ver- 
fasser eigene  Forschungen  niedergelegt  hat.  Da- 
gegen beklagt  es  Abbot,  daß  die  Umstände,  ttü* 
ter  denen  sein  Essay  entstanden  und  gedruckt 
sei,  ihn  gezwungen  hätten,  sich  in  Betreff  ande- 
rer Punkte  mit  bloßen  Verweisungen  zu  begntt* 
gen,  auch  manche  Citate  nicht  im  Urtext,  son* 
dem  in  einer  möglichst  wörtlichen  englischen 
Uebersetzung  zu  geben  und  aus  der  reichen 
Fülle  des  Materials  nur  einige  wichtige  Erörte- 
rungen herauszugreifen. 

Die  Frage  nach  der  Johanneischen  Abkunft 
und  dem  geschichtlichen  Werth  des  4.  Evange* 
Hums  —  das  fahrt  der  mit  der  einschlagenden 
amerikanischen,  englischen  und  deutschen  Lite» 
ratur  wohl  vertraute  Verfasser  S.  7—12  cinlei* 
tend  aus  —  kann  nicht  gelöst  werden,  wenn 
nicht  vorher  einige  Nebenfragen  auf's  Reine  ge* 
bracht  sind,  die,  bis  jetzt  noch  streitig,  die  Ent* 
Scheidung  der  Hauptfrage  mitbedingen.  Der 
Streit  übet  diese  ist  freilich  noch  nicht  geschlich- 
tet und  in  Deutschland  bertiseht  noch  die  Ten- 


42  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  1.2. 

denz,  die  Echtheit  des  4.  Evangeliums  in  Ab- 
rede zu  stellen.  Aber  die  Gegner  desselben  ha- 
ben seit  Baur's  epochemachender  Abhandlung 
in  den  »theologischen  Jahrbüchern  (1844)  doch 
Vieles  nachgegeben  und  bei  dem  conservativen 
Zug,  der  im  Augenblick  durch  die  kritische 
Arbeit  geht,  sind  manche  der  einschlagenden 
Nebenfragen  einer  Lösung  entgegengeflihrt,  wel- 
che der  schließlichen  Anerkennung  des  viel  um- 
strittenen 4.  Evangeliums  als  einer  Schrift  des 
Apostels  Johannes  günstig  zu  sein  scheint.  So 
haben  selbst  deutsche  Kritiker,  wie  Keim,  Schen- 
kel, Holtzmann  u.  A. ,  die  Niemand  zu  den  in 
ihrem  Vaterland  verrufenen  Apologeten  zählen 
wird,  den  von  Baur  offenbar  überspannten  Ge- 
gensatz zwischen  den  Uraposteln  und  Paulus  so 
weit  ermäßigt,  daß  man  aus  der  Zugehörigkeit 
des  Johannes  zu  den  Zwölfen  kaum  noch  die 
Möglichkeit  der  Abfassung  eines  so  antijudai- 
stischen  Evangeliums,  wie  des  vierten,  durch 
denselben  wird  bestreiten  dürfen ,  wenigstens 
nicht  für  die  letzten  Zeiten  seines  Lebens,  etwa 
20  Jahre  nach  der  Zerstörung  Jerusalems;  da- 
mit ist  aber  eine  grundlegende  Position  der 
Tübinger  Schule  hinfällig  geworden.  Hinfällig 
geworden  ist  auch  eine  andere  Position  dieser 
Schule,  seit  E.  Schürer  in  einer  neuen  und 
sehr  gründlichen  Untersuchung  des  Quellenmate- 
rials zur  Geschichte  der  Passahstreitigkeiten  des 
2.  Jahrhunderts  festgestellt  hat,  daß  der  An- 
schluß des  Apostels  Johannes  an  die  Gepflogen- 
heit der  Kleinasiaten,  am  14.  Nisan,  dem  jüdi- 
schen Passahtage,  in  christlicher  Weise  die  Abend- 
mahlsfeier zu  begehen,  ganz  unverfänglich  sei 
and  mit  den  Motiven  der  quartodecimanischen 
Praxis  nicht  zusammenhänge.  Dadurch  ist  aber 
die   ältere  Würdigung   der  Passahstreitigkeiten 


Ezra  Abbot,  Authorship  of  the  Fourth  Gospel.     43 

im  Sinne  von  Lücke.  Gieseler,  Bleek,  de  Wette, 
Hase,  Riggenbach  aufs  Neue  bestätigt,  daß  sieh 
aus  den  Daten  dieser  Streitigkeiten  keine 
Gründe  weder  für  noch  gegen  die  Johanneiscbe 
Abfassung  des  4.  Evangeliums  gewinnen  las- 
sen.  Auch  darin  ist  allgemeine  Ueberein- 
stimmung  erzielt,  daß  das  späte  Datum  für  die 
Abfassung  des  4.  Evangeliums,  welche  die  Tü- 
binger Schule  ursprünglich  zwischen  den  Jahren 
160  und  170  angesetzt  hatte,  jetzt  widerspruchs- 
los aufgegeben  ist;  man  hat  die  Entstehung 
des  Evangeliums  allmählich  auf  130,  auf  120, 
ja  auf  ein  noch  früheres  Datum  hinaufgerückt. 
Selbstverständlich  wird  damit  die  Annahme  sei- 
ner Unechtheit  fast  unmöglich  gemacht.  Es  ist 
deshalb  auch  nur  eine  Auskunft  der  Verlegen- 
heit, daß  einige  Gegner  des  Evangeliums  auf 
Lützelbergers  längst  vergessene  Meinung  zurück- 
gegriffen haben,  der  Apostel  Johannes  sei  nie- 
mals in  Kleinasien  gewesen,  eine  Behauptung, 
die  Hilgenfeld,  ein  Kritiker  derselben  Schule, 
vollständig  widerlegt  hat. 

In  der  optimistischen  Stimmung  dieser  Ein- 
leitung, welche  der  Referent  freilich  nicht  zu 
theilen  vermag,  geht  Abbot  dann  S.  13  daran, 
sein  Thema  näher  zu  präcisieren.  Er  will  seine 
Erörterung  der  äußeren  Zeugnisse  für  die  Echt- 
heit des  4.  Evangeliums,  die  in  voller  Ausführ- 
lichkeit mitgetbeilt  einen  ganzen  Band  füllen 
müßte,  auf  nur  vier  Hauptpunkte  beschränken : 
1.  auf  die  allgemeine  Annahme  unserer  vier 
Evangelien  als  echter  Schriften  im  letzten  Vier- 
tel des  2.  Jahrhunderts;  2.  auf  den  Nachweis, 
daß  das  4,  Evangelium  in  den  apostolischen 
Denkwürdigkeiten,  aus  denen  Justin  seine  evan- 
gelischen Gitate   schöpft,   mitenthalten    war;   3. 


44  Gott.  gel.  Änz.  1881.  Stück  1. 2. 

auf  den  Gebranch  des  4.  Evangeliums  bei  den 
verschiedenen  gnostischen  Sekten;  4  auf  das 
Zeugniß  für  dieses  Evangelium,  welches  dem 
Buche  selbst  angefügt  (21,  25)  auf  uns  gekom- 
men ist 

Die  erste  Erörterung  erledigt  der  Verfasser 
S.  13 — 19  in  wohlthuender  Kürze ;  behandelt  er 
doeh  eine  These,  gegen  die  von  Seiten  einer 
maßvollen  Kritik  kein  Widerspruch  erhoben  wird. 
Auch  spricht  er  sich  mit  voller  Sachkenntnis 
über  die  Art  aus,  wie  die  älteren  christlichen 
Schriftsteller  vor  dem  letzten  Viertel  des  2.  Jahr- 
hunderts die  Evangelien,  besonders  Herrnworte 
aus  denselben,  in  Citaten,  Anklängen  und  Ver- 
quickung der  Entlehnungen  mit  ihren  eignen 
Gedanken  benutzen,  und  dringt  mit  Recht  dar« 
auf,  daß  aus  diesem  im  Ganzen  sparsamen  Ge- 
brauch der  Evangelien  mit  freier  Behandlung 
ihres  Textes  nicht  gegen  die  Echtheit  unserer 
vier  Evangelien  argumentiert  werden  darf; 
ebenso  richtig  legt  er  dem  Widerspruch  der 
Aloger  gegen  das  4.  Evangelium  und  der  An- 
erkennung allein  des  Lukasevangeliums  als  des 
Paulinischen  bei  Marcion  weiter  keine  Bedeu- 
tung bei.  Aber,  abgesehen  von  einer  allenfalls 
dahin  zielenden  Bemerkung  über  den  Schriftge- 
brauch des  Märtyrers  Justin  (S.  15)  hebt  er  es 
gar  nicht  hervor,  daß  sich  erst  im  letzten  Drit- 
tel des  2.  Jahrhunderts  mit  der  Entstehung  der 
altkatholischen  Kirche  der  Kanon  des  N.  T.'s 
bildet,  daß  also  erst  seit  dieser  Zeit,  in  welcher 
der  Begriff  der  Schrift  wi  1£o;h/V,  der  heiligen 
Schrift,  auch  auf  die  Schriften  der  Apostel  und  der 
unter  deren  Leitung  schreibenden  Apostelschüler 
übertragen  wird,  das  Citat  aus  den  vier  als  ka- 
nonisch anerkannten  Evangelien  in  die  ihm  ge- 


ßzrft  Abbot ,  Authorship  of  the  Fourth  Gospel.     46 

bübrende  Steltang  Pttckft.  Den  Umstand  indeß, 
daß  gerade  unsere  vier  Evangelien  und  keine 
widern  im  letzten  Viertel  des  2.  Jahrhunderts, 
also  in  der  Zeit,  in  welcher  der  Kanon  des 
&  T,s  eben  angefangen  hatte  sich  zu  bilden, 
nach  dem  Urtheil  der  Kirche  für  echt  gelten, 
darf  nun  Abbott  —  nnd  das  ist  ihm  ein  ernstes 
Anliegen  —  mit  vollem  Nachdruck  gegen  den 
übertriebenen  Skepticismns  in  der  Evangelien- 
frage anf  Seiten  des  stammverwandten  englischen 
Verfassers  von  Supernatural  Religion  (7.  Ausg. 
1879)  geltend  machen;  aber  darum  ist  er  nook 
lange  nicht  berechtigt,  mit  seinem  Landsmann 
Norton  (Genuineness  of  the  Gospels  1.  Ausg. 
1837)  zu  behaupten,  daß  sich  die  allgemeine 
Anerkennung  der  Echtheit  unserer  vier  Evange- 
lien, bzw.  ihre  Aufnahme  in  den  Kanon,  im 
letzten  Viertel  des  2.  Jahrhunderts  nur  unter 
der  Voraussetzung  erklären  ließe,  daß  diese  wich- 
tigen Schriften  in  Wahrheit  von  ihren  angebli- 
chen Verfassern  herrührten;  da  sich  für  die 
voransgesetste  Thatsache  kein  lückenloser  Zeu- 
genbeweis herstellen  läßt,  so  handelt  es  sich  bei 
dieser  Voraussetzung  doch  nur  um  ein  Urtheil 
der  Kirche,  das  zwar  auf  unbefangene  Prüfung 
Anspruch  erheben  darf,  von  dem  aber  an  sich 
die  Möglichkeit  eines  Irrthums  nicht  ausge- 
schlossen ist. 

Wie  dem  aber  auch  sei,  Abbot  ist  von  der 
Richtigkeit  der  Nortonschen  Schlußfolgerung 
überzeugt.  Aus  diesem  Grunde  tritt  er  S.  19 
an  den  Nachweis  des  Gebrauchs  des  4.  Evange- 
liums bei  Justin,  das  zweite  Hauptstück  seiner 
Erörterungen,  mit  der  guten  Zuversicht  heran, 
daß  die  Thatsache  der  allgemeinen  Anerkennung 
unserer  vier  Evangelien  im  letzten  Viertel  des 
2.  Jahrhunderts   zu   ihrer  Erklärung  auch   den 


46  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Rückschluß  erlaube,  daß  schon  Justin  mit  dem 
Titel  „apostolische  Denkwürdigkeiten"  unsere 
vier  Evangelien  und  nur  diese  bezeichne  und 
aus  ihnen  und  nur  aus  ihnen  seine  Mittheilungen 
von  Zügen  aus  der  evangelischen  Geschichte 
und  von  Herrnworten  schöpfe.  Freilich  expres- 
sis  verbis  spricht  Abbot  diese  Zuversicht  S.  20 
noch  nicht  aus,  erst  S.  79  am  Schlüsse  seiner 
Erörterungen  über  Justin;  aber  wie  er  sie  deut- 
lich genug  in  den  Worten:  „This  fact  —  die 
allgemeine  Anerkennung  unserer  vier  Evange- 
lien im  letzten  Viertel  des  2.  Jahrhunderts 
—  has  a  most  important  bearing  of  the  next 
question"  durchscheinen  läßt,  so  sind  auch  seine 
Ausführungen  auf  die  Sicherstellung  dieses  Rück- 
schlusses gerichtet.  Zu  dem  Ende  weist  er  S. 
20—26  (vgl.  auch  Anm.  B  S.  97  f.)  nach,  daß 
die  Angaben  Justins  über  die  „apostolischen 
Denkwürdigkeiten"  sich  nur  auf  die  kirchlich 
anerkannten  Evangelien  beziehen  können;  er- 
klärt sodann  S.  26—28,  daß  das  lange  Schwan- 
ken des  kirchlichen  Urtheils  über  die  Kanonici- 
tät  von  Schriften,  wie  die  Briefe  des  Clemens 
und  des  Soter  an  die  Korinther,  der  Pastor  Her- 
mae,  der  Brief  des  Barnabas  und  die  Apoka- 
lypse des  Petrus,  die  immer  nur  in  einzelnen 
Gemeinden  anerkannt  gewesen  seien,  nicht  ge- 
gen die  schon  zu  Justins  Zeiten  feststehende  all- 
gemeine Anerkennung  solcher  grundlegenden 
Schriften,  wie  es  die  Evangelien  sind,  geltend 
gemacht  werden  dürfe ;  endlich  stellt  er  S.  28 — 
52  in  eingehender  Erörterung  die  Thatsache 
fest,  daß  das  4.  Evangelium  von  Justin  benutzt 
sei,  freilich  nicht  in  wörtlichem  Anschluß  seiner 
Gitate  an  den  Text  des  Evangeliums,  den  der 
Autor  der  Supernatural  Religion  wider  den  all- 
gemeinen Gebrauch  der  Väter,  ja  der  Literatur 


Ezra  Abbot,  Authorship  of  the  Fourth  Gospel.-     47 

Oberhaupt  als  unerläßliches  Kriterium  der  nach- 
weisbaren Benutzung  wenigstens  für  Citate  aus 
den  Evangelien  unberechtigter  Weise  verlange; 
der  Gebrauch  des  4.  Evangeliums  bei  Justin, 
der  kaum  noch  in  Abrede  gestellt  werde  und 
ftlr  den  unterstützend  auch  die  Dialog,  c.  123 
vorliegende  Anspielung  auf  I.  Joh.  3,  1  in  Be- 
tracht komme,  schließe  aber  den  Beweis  ab, 
daß  als  „Denkwürdigkeiten  der  Apostel"  alle 
unsere  vier  von  Aposteln  und  deren  Schülern 
verfaßten  Evangelien  freilich  mit  freier  Behand- 
lang ihres  Textes  von  Justin  benutzt  seien,  wie 
man  denn  schon  früher  den  Gebrauch  der  sy- 
noptischen Evangelien  in  dessen  Schriften  fast 
allseitig  nachgewiesen  oder  zugegeben  hat.  Um 
dieses  Resultat  sicher  zu  stellen,  weist  Abbot 
dann  S.  52—61  nach,  daß  auch  die  Schriftstel- 
ler von  Justin  abwärts  bis  auf  Irenäus,  bei  dem 
der  Gebrauch  unserer  Evangelien  ganz  fest  stehe, 
diese,  bzw.  das  4.  Evangelium  benutzt  haben, 
was  ebenfalls  den  Bückschluß  nahlege,  daß 
Justin  mit  den  Titel  „apostolische  Denkwürdig- 
keiten" die  kanonischen  Evangelien  bezeichne, 
und  schließt  seine  Ausführungen  über  das  Ver- 
hältniß  Justins  zum  4.  Evangelium  damit,  daß 
er  S.  61 — 80  in  polemischer  Erörterung  nament- 
lich gegen  den  Autor  der  Supernatural  Beligion, 
gegen  A.  Thoma  (Hilgenfelds  Ztschr.  f.  wis- 
sensch.  Theol.  1875,  S.  383  ff.),  gegen  Davidson 
Introduct.  to  the  Study  of  the  N.  T.  1868)  die 
rründe  widerlegt,  welche  dafür  geltend  ge- 
macht sind,  daß  das  4.  Evangelium  kein  Be- 
stand theil  der  apostolischen  Denkwürdigkeiten 
gewesen  sein  könne.  In  dieser  polemischen 
Ausführung  lehnt  nun  Abbot  zugleich  (S.  77 — 79; 
vgl.  S.  15)  die  Meinung  ab,  daß  Justin  als 
eine  Quelle  oder  die  Hauptquelle  für  seine  evan- 


4$  Gott,  gel  Anz.  1681.  Stück  h  2. 

gelischen  Citate  ein  apokiyphisches  E  va^geflituo, 
das  Hebräerevangelium  oder  das  Evangelium 
des  Petrus,  benutzt  habe ;  er  kann  also  den  Be: 
weis  auch  dafür  als  erbraeht  ansehen,  daß  Ju- 
stin nur  unsere  vier  kanonischen  Evangelien  als 
Bestandteile  der  apostolischen  Denkwürdigkei- 
ten in  Gebrauch  genommen  habe. 

Damit  hat  Abbot  die  Hauptaufgabe  seiner 
zweiten  Untersuchung  auch  nach  des  Referenten 
Meinung  gelöst;  daß  Justin  das  4.  Evangelium 
gekannt  und  benutzt  habe,  steht  fest,  auch  wohl, 
daß  er  es  als  eine  seiner  Ansicht  nach  echte 
Schrift  des  Apostels  Johannes  in  Gebrauch  ge- 
nommen hat.  Außerdem  soll  über  Einzelnheiten 
hier  nicht  mit  dem  Verfasser  gerechtet  werden; 
nicht  über  seine  Würdigung  von  Tatian's  Evan- 
gelienharmonie, die  vor  dem  Urtheile  Theodo- 
jret's  über  dieselbe  (Haeret.  fab.  I,  20)  nicht  be- 
stehen kann  (S.  52  ff.) ;  auch  nicht  darüber,  daß 
er  das  Wort  Sacharja  12,  10  in  der  charakteri- 
stischen Umformung  des  Septuagintatextes  nach 
dem  Grundtext,  in  der  wir  es  Job.  19,  37  und 
Apok.  1, 7  finden,  in  den  beiden  Stellen  Dial.  14 
und  Apol.  I,  52  als  Gitat  aus  dem  Evangelium 
ansieht,  während  es  aus  der  Apokalypse  aufge- 
nommen zu  sein  scheint;  denn  Justin,  der  Chi- 
liast und  beflissene  Verkünder  des  apostolischen 
Ursprungs  der  Apokalypse  (Dial.  81)  bezieht  es, 
wie  diese  auf  die  Wiederkunft  des  Gekreuzig- 
ten, nicht  wie  das  Evangelium  auf  den  Lanzen- 
stich bei  der  Kreuzigung  (S.  66) ;  man  wird  so- 
_gar  an  manchen  Einzelnheiten  ein  besonderes 
.Gefallen  finden  können,  wie  an  der  geschick- 
,ten  Verwendung  der  argumentatio  ad  hominem 
.S.  68  und  S.  70,  und  manches  treffende  Wort 
wider  unbegründete  Behauptungen  des  Verfas- 
sers der  Supernatural  Religion  begegnet  uns. 


Ezra  Abbot,  Authorship  of  the  Fourth  Gospel.     49 

Aber  im  Ganzen,  will  es  dem  Referenten  be- 
danken, ist  doch  die  Erkenntniß  des  Verhält- 
nisses Justins  znm  4.  Evangelium  durch  Abbots 
Essay  nicht  weiter  gefördert.  Auf  den  Nach- 
weis, daß  Justin  das  4  Evangelium  gebraucht 
hat,  kommt  es  kaum  noch  an,  die  Schwierigkeit 
liegt  in  der  Würdigung  der  Art,  wie  er  das 
Evangelium  gebraucht  hat,  und  in  der  Klarstel- 
lung der  Folgerungen,  die  sich  möglicher  Weise 
aas  der  besondern  spröden,  zögernden  und  spar- 
samen Art  dieses  Gebrauchs  für  die  jobannei- 
sehe  Frage  ergeben.  Ein  Herrnwort«,  ein 
Wort  des  Täufers,  eine  Beziehung  auf  eine 
Geschichtserzählung  (vom  Blindgeborenen)  aus 
dem  4.  Evangelium  neben  offenbarer  Anlehnung 
an  die  Gedankenwelt  desselben  in  Beziehung 
auf  die  Logologie  und  einer  Reihe  von  Anklän- 
gen an  seinen  Sprachgebrauch  gegenüber  den 
mehr  als  100  Gitaten  von  Herrnworten  und  ge- 
schichtlichen Mittheilungen  synoptischen  Geprä- 
ges in  den  Schriften  Justins:  das  ist  ein  Pro- 
blem, das  die  Erörterungen  Abbots  wohl  hier 
und  da  gestreift,  aber  nirgends  in  befriedigen- 
der Weise  erledigt  haben. 

Selbstverständlich  ist  hier  nicht  der  Ort,  der 
Lösung  dieses  Problems  nachzugehen;  nur  eine 
orientierende  Bemerkung  soll  nicht  unausgespro- 
chen bleiben.  Justin,  von  der  Logologie  des 
von  ihm  schon  vorgefundenen  jüngsten  unserer 
Evangelien  auf  das  Höchste  befriedigt,  mag  sich 
dem  Selbstzeugniß  des  Evangeliums  gegenüber 
die  Frage  nach  der  Echtheit  desselben,  auf 
welche  ihn  die  Neuheit  der  johanneischen  Ge- 
schichtserzählung und  ihrer  christologischen  Aus- 
sagen eigentlich  hätte  führen  müssen,  gar  nicht 
aufgeworfen  und  sich  unbefangen  dem  Einfluß 
des   von    ihm   als  Lehrschrift   gewürdigten 


50  Gott.  gel.  Änz.  1881.  Stück  1.2. 

Evangeliums  hingegeben  haben;  abet,  ate  Chi- 
liast in  der  alten  synoptischen  Uefterliefferung 
festge wachsen,  greift  er  fast  ausnahmslos  zu 
dieser,  wo  es  sich  um  Mittheilungen  aus  dem 
Evangelium  handelt,  und  vergißt  es  fast  ganz, 
daß  die  von  ihm  hochgeschätzte  Lehrschrift  auefe 
die  evangelische  Geschichte  erzählt.  Bestimmt 
man  das  Verhältniß  Justins  zum  4.  Evangelium 
in  dieser  Weise,  so  bleibt  der  unleugbare  Ein- 
fluß desselben  auf  Justin  gewährt;  indeß  Jastttis 
Bekanntschaft  mit  demselben,  bezW.  sdinö  Ati- 
erkennung desselben  ist  einer  unbefangenen 
Untersuchung  seiner  Echtheit  aus  innern  Grün- 
den in  keiner  Weise  präjudieirlich. 

Auch  mit  Abbots  Untersuchungen  fiber  die 
apostolischen  Denkwürdigkeiten  kann  sich  Re- 
ferent nicht  einverstanden  erklären.  Nicht,  daß 
er  etwa  hinter  diesem  Titel  ein  Sammelwerk, 
eine  Art  von  Evangelienharmonie  aus  nns&fe 
drei  Synoptikern,  oder  nur  ein  apokryphes,  oder 
gar  lauter  apokryphe  Evangelien  suchte;  der 
Ausdruck  soll  vielmehr  literarisch  gebildeten 
NichtChristen  gegenüber,  anklingend  an  klassi- 
sches Scbriftthum  und  vielleicht  mit  Beibehal- 
tung der  älteren  Bezeichnung  der  einzelnen 
schriftlichen  Niedersetzungen  des  Evangeliums 
im  Gegensatz  zu  dem  Evangelium,  der  Geschichte 
von  Jesus  und  seinem  Wort  und  Werk,  wie  sie 
in  der  Kirche  lebendig  ist,  dieselben  Schriften 
bezeichnen,  welche  der  kirchliche  Sprachgebrauch 
wohl  seit  den  Zeiten  Justins  (Apol.  I,  66) 
svayyiha  nennt;  aber  zu  diesen  Denkwürdig- 
keiten rechnet  Justin  nicht  bloß  unsere  vier  ka- 
nonischen, sondern  alle  Evangelien,  welche  er 
für  Schriften  von  Aposteln  oder  deren  Schülern 
glaubt  halten  zu  dürfen.  Daß  rieb  aber  unter 
diesen  Evangelien  Justins  eins  befand,   welches 


Ezra  Abbot,  Anthorriiip  of  the  Fourth  Gospel.     51 

spSter  km  dem  öffentlichen  kirchlichen  Gebrauch 
ata  apokryph   ausgeschieden   wurde,    das  läßt 
sieh  mrtridefrleglich  feststellen.    Denn  Dialog.  35 
»teilt  Justin   zwei  Herrnworte   neben   einander, 
▼on  denen  das  erste  eine  Mischung  von  Matth. 
7,  15  änd  24,  5,  das  andere  eine  wörtliche  Re- 
production  tob   Mattfc.  7,   15  ist ;    sie   werden 
als  verschiedene  Citette  eingeführt   und  können 
deshalb  nur  atts  zwei  verschiedenen  Quellen  ge- 
schöpft sein ;  das  erste  führt  also  auf  ein  unka- 
tionfeches  Evangelium,  dem  auch  alle  die  Evan- 
gelitncitate  zuzuweisen  sind,  welche  sieb  in  un- 
gern  Synoptikern   nicht  wieder  finden    lassen, 
auch  bei  der  Annahme  freister  Behandlung  des 
Textes  unserer  Evangelien   von   Seiten  Justins, 
wie  sie  sieb  durch  Reproduktion   aus  dem  Ge- 
dächtaiß,  die  Verwandtes  combiniert,  durch  Ver- 
wendung  des   Inhaltes  in    Predigt  und  Unter- 
richt,  durch  Einfiechtung   von   Zügen  aus  der 
Ueberlieferung,   durch  Verquickung   des  Textes 
öiit  auslegenden  Zusätzen ,  aueb  durch  andere 
Lesarten    mit   Notwendigkeit    ergeben    mußte. 
DieseB  Evangelium   von  synoptischem  Gepräge, 
fttr  das  man  freilich  den  Titel:  „Evangelium  des 
Petrus"  $    der    auf    einem   MißVerstävidniß    von 
Dialog.  106  beruht,  zurückweisen  muß,  mag  eine 
griechische  Recension  des   Hebräerevangeliums 
gewesen  sein,  desselben  Evangeliums,  in  dessen 
Gebrauch  sich  die  Clementinisehen  Homilien  mit 
Justin  berühren,  ein  weiterer  Beweis  dafür,  daß 
es  sich  um  ein  neben  unseren  Synoptikern  her» 
gebendes  Apokryphnm   handelt.     In  dieser  An- 
sicht kann  auch  Abbot's  Anm.  C  (S.  98—104) 
den  Referenten  nicht  beirren;  so  solide  Studien 
in  derselben   auch   niedergelegt  sind ,   die  oben 
angezogene  Stelle    hat  sie  nicht  berührt.    Auch 

4« 


52  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2« 

hat,  um  von  andern  Sparen  des  Gebrauches  die- 
ses unkanonischen  Evangeliums  bei  Justin  zu 
schweigen,  z.  B.  den  wiederholten  Citaten  aus 
der  Bergpredigt  mit  constanten  Abweichungen 
von  dem  recipierten  Text,  die  eben  dahin  ein- 
schlagende Anm.  A  (S.  91—96)  den  Beweis 
nicht  erbracht,  daß  die  Umstellung  der  Satz- 
glieder in  einem  Citat,  das  nur  eine  Umbildung 
von  M at th.  11,27  sein  kann,  nicht  auf  den  Text 
dieses  später  vom  Kanon  ausgeschlossen  blei- 
benden Evangeliums  zurückgeht.  Giebt  doch 
Justin  das  Citat  mit  der  so  bezeichnenden  Um- 
stellung gleichmäßig  in  zwei  Schriften  (Apol.  1, 63; 
Dialog,  c.  100),  deren  Abfassung  durch  Jahre 
von  einander  getrennt  ist,  und  außerdem  kein* 
mal  etwa  in  der  Anordnung  der  Satzglieder  wie 
bei  Matthäus  und  Lukas;  zudem  citieren  die 
Clementinischen  Homiliep  dasselbe  Herrnwort 
fünfmal,  und  jedesmal  mit  der  gleichen  Umstel- 
lung der  Satzglieder. 

Einer  der  Gründe ,  aus  denen  sich  Abbot 
nicht  entschließen  kann,  den  Gebrauch  eines  un- 
kanonischen Evangeliums  bei  Justin  anzuerken- 
nen, liegt  gewiß  darin,  daß  er  die  Bedeutung 
des  Umstandes  übersieht,  daß  in  der  Zeit  zwi- 
schen Justin  und  Irenäus  sich  die  Bildung  der 
altkatholischen  Kirche  und  der  Anfänge  des 
neutestamentlichen  Kanons  vollzieht.  Man  darf 
also  nicht  einfach,  wie  Abbot  zu  thun  liebt, 
vom  Schriftgebrauch  des  Irenäus  auf  den  des 
Justin  zurückscbließen,  und  muß  anerkennen, 
was  Abbot  nicht  thut,  daß  Justin  dem,  was  ihm 
als  Evangelium  in  seiner  Zeit  entgegentrat, 
noch  mit  einer  ganz  andern  Freiheit  gegenüber- 
stand, als  die  späteren  Väter. 

Ueber   den   dritten  Punkt  der  Abbot'schen 


Ezra  Abbot,  Authorßhip  of  the  Fourth  Gospel.     68 

Untersuchungen,  den  Gebrauch  des  4.  Evange- 
liums bei  den  Gnostikern  (S.  80 — 89)  darf  Re- 
ferent sich  kürzer  fassen.  Nach  richtigen  Be- 
merkungen über  die  Stellang  Marcions  zum  4. 
Evangelium,  die  aber  den  Ursprang  desselben 
nieht  über  die  Zeit  am  130  hinaufrücken  würde, 
und  nach  vorsichtiger  Würdigung  der  Möglich- 
keit  einer  Bekanntschaft  Valentins  mit  demsel- 
ben, die  er  für  nicht  sicher  erweisbar  hält,  kann 
Abbot  es  sich  nicht  versagen,  wenigstens  für  Basi- 
lides,  für  die  Ophiten  und  Peraten,  also  für  Trä- 
ger des  Gnosticismus  der  ersten  Generation,  den 
Gebrauch  des  4.  Evangeliums  als  sicher  anzu- 
nehmen. Dadurch  rückt  er  aber  die  ältesten 
Spuren  der  Benutzung  desselben  in  solche  Zeit- 
nähe zu  dem  Leben  des  Autors,  auf  den  das 
Selbstzeugniß  des  Evangeliums  weist,  daß  sich 
die  Annahme  der  Unterschiebung  einer  unechten 
Schrift  unter  dem  gefeierten  Namen  des  Johan- 
nes von  selbst  verbieten  würde.  Indeß  es  ist 
verlorenes  Liebesmühen,  sichere  Gitate  aus  dem 
4.  Evangelium  früher  als  bei  den  Gnostikern  der 
zweiten  Generation  aufsuchen  zu  wollen-  (Vgl. 
des  Referenten  Bemerkungen  in  Bleek,  Ein- 
leitung in's  N.  T.  [3]  1875.  S.  264  ff.). 

Auch  das  letzte  ßeugniß,  das  Abbot  im  vier- 
ten Abschnitt  seines  Essay's  für  die  Echtheit 
des  4.  Evangeliums  zur  Geltung  bringen  will, 
der  Schluß  des  Anhangs  zum  Evangelium  (21,24 
hzw.  25),  ist  nicht  beweiskräftig.  Haben  wir 
es  bei  dem  Evangelium  nach  Johannes  mit  einem 
Stücke  der  Pseudonymen  Literatur  der  alten 
Kirche  zu  thun  —  und  diese  Möglichkeit  ist 
wenigstens  durch  die  bisher  gewürdigten  äuße- 
ren Zeugnisse  nicht  ausgeschlossen  —  was  Wun- 
der, daß  ein  späterer  Anhang  zu  einem  Buche, 
das  in  der  Zeit  seiner  Entstehung  so  sehr  dem 


56  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

Zweck  und  Plan  des  ganzen  Unternehmens  ist 
dort  entwickelt:  der  erste  Band  desselben  soll 
alles  umfassen,  was  auf  die  Regierung  Karls 
des  .Großen  sich  bezieht  bis  in  die  Anfänge 
seines  Nachfolgers  hinein.  Da  im  achten  Jahrh. 
jedoch  Merovinger  und  Carolinger  gleichsam 
ohne  feste  Grenze  in  einander  verfließen,  so  er- 
schien es  nicht  unerlaubt,  etwas  weiter  zurück- 
zugreifen und  in  dem  heil.  Bonifatius,  der  Pip- 
pin zum  Könige  salbte,  einen  ehrwürdigen  Füh- 
rer an  die  Spitze  des  Ganzen  zu  stellen,  dem 
ungefähr  der  Zeitfolge  entsprechend  die  übrigen 
Genossen  sich  anschließen  sollen. 

Für  das  schon  zweimal  gedruckte,  steife  und 
gekünstelte,  Lehrgedicht  Wynfriths  über  die 
Tugenden  und  Laster  wurden  hier  zum  ersten 
Male  eine  ziemlich  alte  Petersburger  Handschrift 
(aus  Corbie),  deren  rechtzeitige  Auffindung  durch 
Hr.  Dr.  Gillert  ihre  Benutzung  unmittelbar  vor 
Thoresscbluß  noch  möglich  machte,  und  eine  Ein* 
Siedler  verglichen.  Trotz  der  verhältnismäßig 
sehr  guten  Ueberlieferung  aber  bleiben  doch, 
zumal  den  stärkeren  Abweichungen  der  Cam- 
bridger Hs.  gegenüber,  manche  Stellen  dunkel 
und  von  zweifelhafter  Lesung.  Das  nämliche 
gilt  von  dem  noch  wunderlicheren  Gedichte  an 
Dud,  das  Hr.  Oberbibliothekar  Laubmann  in 
Wtirzburg  entdeckte  und  mit  trefflicher  Erläute- 
rung herausgab.  Die  Grabschrift  eines  Prie- 
Bters  Dombercht,  der  ein  Genosse  des  Heiligen 
war,  von  Wilmanns  hervorgezogen,  und  12  Rät h- 
sel  aus  derselben  vormals  Pfälzischen  Hand- 
schrift verdienten  hier  einen  Platz,  weil  sie 
angelsächsischen  Ursprunges  sind  und  wohl  der 
gleichen  Zeit  angehören.  Um  die  letzteren  hat 
sich  Hr.  Professor  Ebert  verdient  gemacht,  dem 


Poetae  latini  aovi  Carol» ni,  roc.  Dümraler.  I.  1.    57 

ich  auch  sonst  manchen  schätzbaren  Wink  aas 
der  Fülle  seines  Wissens  zn  verdanken  habe. 

Nach  Italien  nnd  in  die  Zeit  des  Königs 
Lindpränd  versetzt  ans  ein  alphabetischer  Rhyth- 
mus auf  die  Stadt  Mailand,  den  ich  nach  der 
ersten  Ausgabe  Mnratoris  mit  der  recht  fehler* 
haften  Veroneser  Handschr.  nochmals  verglichen 
habe.  Er  bildet  den  Uebergang  zn  Paulus 
Diaconue,  von  dem  sein  Landsmann  nnd  Ge- 
fährte Petras  nicht  getrennt  werden  durfte.  Ein 
großes  Verdienst  hatte  sich  für  diese  beiden 
Lehrer  Karls  des  Or.  einst  Bethmann  durch 
eine  gründliche  literarhistorische  Uebersicht  er- 
worben, aber  erst  nach  ihm  war  eine  Sanot- 
galler,  eine  Leipziger,  Berliner  nnd  endlich  eine 
Londoner  Hs.  aufgetaucht,  die  unser  Material 
ansehnlich  vermehrten:  wenn  die  letztere  ans 
der  Zeit  nnd  dem  Besitze  Conrad  Pentingers 
von  Fehlern  wimmelt,  so  ist  dies  minder  be- 
fremdlich, als  daß  die  wahrscheinlich  unter  Karl 
dem  Gr.  selbst  geschriebene  Berliner  grobe  Ver- 
stöße aufweist,  die  dem  Unverstände  des  Schrei- 
bers zur  Last  fallen.  Gegenüber  der  in  man* 
eben  Puncten  sicherlich  über  das  Ziel  hinaus- 
schießenden Kritik  Felix  Dahns  schien  es  ge- 
boten, nicht  bloß  die  von  ihm  mit  Unrecht  an- 
gezweifelten Gedichte,  wie  das  Lob  des  Comer- 
sees  nnd  die  Grabschrift  der  Königin  Ansa  an 
rechter  Stelle  einzureihen,  sondern  auch  manche 
andre,  wie  die  auf  die  guten  und  schlechten 
Bischöfe  (bisher  ungedruckt),  deren  Paulinischen 
Ursprung  ich  keineswegs  zu  behaupten  wage, 
die  aber,  weil  sie  in  Handschriften  seiner  Werke 
vorkommen,  doch  hier  am  schicklichsten  ihren 
Platz  finden  konnten.  Die  Grabschrift  Chlodars 
möchte  ich  eher  Petrus  zuschreiben,  weil  Pau- 
lus, wenn  er  ihr  Verfasser  wäre,  sie  wohl  sicher 


08  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1. 2. 

in  seiner  Geschichte  der  Metzer  Bischöfe  er- 
wähnt haben  würde.  Sehr  zweifelhaft  bleiben 
die  auf  diese  bezüglichen  Verse  (in  derep  19. 
p.  60  mit  Waitz  Isti  zu  verbessern  wäre)  und 
noch  mehr  die  beiden  von  späteren  Paulus  bei- 
gelegten Hymnen.  Da  sie  doch  immerhin  der 
Carolingischen  Zeit  entstammen,  habe  ich  sie 
nicht  ausschließen  wollen,  während  die  Elegie 
auf  die  heil.  Scbolastica  als  ein  Erzeugnis  des 
11.  Jahrhunderts  mir  unzulässig  schien. 

Auf  Paulus  folgen  von  den  allein  stehenden 
Stücken  diejenigen,  welche  sicher  oder  wahr- 
scheinlich noch  vor  800  fallen.  Zuerst  10  poe- 
tische Widmungen  von  Has.,  die  theils  vpn  den 
Verfassern,  theils  von  den  Schreibern  ausgehen, 
die  ältesten  noch  aus  vorkarlischer  Zeit.  Sie 
gehören  zu  den  Incunabeln  gleichsam  der  durch 
Karl  neu  geschaffenen  gelehrten  Bildung  und  es 
ist  bemerkenswert!*,  daß  am  robesten  und  un- 
verständlichsten sich  die  Zueignung  des  Pap- 
stes Hadrian  an  Karl  aus  dem  J.  774  erweist. 
Die  Verse,  mit  denen  Wigbod  dem  großen  Kö- 
nige seinen  Gommentar  zum  Octoteuch  über- 
reichte, brauchten  nur  z.  Th.  aufgenommen  zu 
werden,  da  sie  sehr  viel  wörtlich  aus  Eu genius 
von  Toledo  entlehnt  hatten.  Auf  das  letzte 
Stttck  führte  der  Nouveau  traite  de  diplomatique. 

An  der  Spitze  der  nun  folgenden  Inschriften 
stehen  die  zuerst  von  Gruter  aus  dem  cod.  Pa~ 
latin.  833  herausgegebenen,  die  bis  auf  Liud- 
pvand  zurückreichend,  doch  der  Mehrzahl  nach 
catiolingisch,  bisher  wenig  Beachtung  gefunden 
habep.  An  die  jüngst  mehrfach  erörterte  Grab- 
sehrift  Aggiards  von  778  gedachte  ich  der  An- 
sicht von  Gaston  Paris  zufolge  die  vermeintliche 
Grabschrift  Rolands  aus  Pseudo  Turpin  auzu- 
fiijKM,   allein   nähere  Betrachtung  bat  ergeben, 


Poetae  latini  aevi  Carolini,  reo.  Dümroler.  I.  1.    69 

daß  diese  ganz  uud  gar  aus  Versen  des  Veuau* 
tiuö  Fortunatus  zusammengestöppelt  ist  und  des- 
halb schwerlich  geschichtlichen  Wertb  beaih- 
sprachen  kann.  Für  die  des  Consuls  Caesarius 
von  Neapel  ist  wegen  ihrer  nahen  Verwandt* 
schaft  mit  der  Romualds,  des  Sohnes  des  Her« 
zogs  Aricbis,  gleichfalls  Bischof  David  von  B*r 
nevent  als  Verfasser  wahrscheinlich.  Verse  auf 
die  Bauten  des  sonst  unbekannten  Abtes  Gauto 
verdanken  wir  wiederum  dem  Nouveau  traitö. 

Der  rhythmischen  Poesie  gehört  das  volks- 
tümliche Gedicht  auf  Pippins  Sieg  über  die 
Avaren  im  J.  796  an,  welches  G.  H.  Pertz  ent- 
deckte, und  die  Lobpreisung  der  Stadt  Verona, 
in  der  derselbe  König  Pippin  als  Herrscher  vor- 
kommt. Von  der  letzteren,  einem  jüngeren  Seiten* 
stücke  zu  dem  ganz  ähnlichen  Gedichte  auf 
Mailand,  ist  die  zuerst  von  Mabilion  benutzte 
Hs.  leider  längst  verschollen. 

Paulinus,  der  Patriarch  von  Friaul  oder  Aqui* 
leia,  eröffnet  die  dicht  gedrängte  Schaar  der 
Dichter  des  9.  Jahrhunderts,  auch  er,  wie  es 
scheint,  eine  Zeitlang  gleich  seinen  Landsleuteu 
Paulus  und  Petrus  an  der  Hofschule  thätig* 
Von  seiner  metrischen  Glaubensregel  gelang  es 
mir  außer  der  schon  von  Duchesne  benutzten 
Pariser  Hs.  noch  eine  zweite  gleich  alte  unten 
den  Harleiani  in  London  ausfindig  zu  maehen. 
Unter  dem  Namen  des  Paulinus  gehen  außer-, 
dem  nur  noch  die  bekannte  schöne  Todtenklagfc 
um  Herich  von  Friaul  (|799)  und  ein  andres 
(bisher  ungedrucktes)  rhythmisches  Gedicht  auf 
die  Auferweckung  des  Lazarus,  die  sechs  Hymn 
nen  aber  und  der  Rhythmus,  welche  Madrist, 
z.  Th.  auf  das  höchst  unsichere  Zeugniß  G.  Cas-i 
winders  gestützt,  ihm  beilegte,  durften  doch  hier 
auch    nicht   fehlen   und   nur  einer   von    jmc* 


60  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1.2. 

konnte  lediglich  nach  dem  Drucke  wiederholt 
werden.  Angefügt  wurden  ferner  2  rhythmische 
und  alphabetische  Gedichte,  die  Madrisi  nach 
nur  unvollständiger  Kenntniß  nicht  minder  Pau- 
linus  zuschreiben  wollte,  die  Verse  auf  die  Zer- 
störung Aquilegias,  hier  nicht  bloß  nach  der 
Wiener,  sondern  auch  nach  einer  Haager  Hs. 
mitgetheilt,  und  ein  sehr  inbrünstiges  Bußlied, 
über  dessen  Verfasser  man  zwischen  Hilarius 
von  Poitiers  und  dem  Ketzer  Godschalk  ge- 
schwankt hat. 

Zwar  ein  Jünger  Alcuins,  aber  vor  ihm  ver- 
storben, ist  der  irische  Abt  Joseph,  durch  Verse 
an  den  h.  Liudger  und  einen  aus  Hieronymus 
verkürzten  Commentar  zum  Propheten  Jesaias 
schon  früher  bekannt.  Dazu  kamen  durch  Ha- 
gen 4  sehr  gekünstelte  akrostichische  Gedichte 
einer  Berner  Hs.,  die  wir  gleich  denen  Alcuins 
mit  einigen  Verbesserungen  aus  seinen  verdienst- 
lichen Carmina  medii  aevi  entnehmen. 

Daß  wir  für  Alcuins  Ueberlieferung  beson- 
ders mangelhaft  bestellt  sind  durch  den  Verlust 
der  beiden  wichtigsten  Hss.  ist  schon  an  anderm 
Orte  ausgeführt  worden.  Die  Ausgabe  Duches- 
nes  (Quercetanus)  und  für  einige  Stücke  auch 
die  des  Abtes  Frobenius  bilden  daher  zum  gro- 
ßen Theile  die  einzige  Grundlage  des  Textes 
der  kleineren  Gedichte.  Ihre  Unsicherheit  liegt 
auf  der  Hand,  doch  scheint  Duchesne  wenig- 
stens nie  ohne  ausdrückliche  Angabe  den  Text 
seiner  Abschrift  geändert  zu  haben.  Das  um- 
fangreichste Gedicht  Alcuins  auf  die  Väter,  Kö- 
nige und  Heiligen  von  York  konnte  ebenfalls 
nur  nach  Mabillon  und  Gale  mit  den  Verbesse- 
rungen neuerer  Herausgeber  wiederholt  werden 
und  erhält  eine  Ergänzung  durch  die  bis  jetzt 
unbekannte  Grabschrift  des  Erzbischofs  Aelberht. 


Poetae  latini  aevi  Carolini,  rec.  Dümmler.  I.  1.    61 

Um  so  werthvoller  ist  es,  daß  für  das  metrische 
Leben  des  b.  Wilbrord  außer  der  von  Jaffe  ver- 
glichenen Stuttgarter  Hs.  2  andre  von  St.  Gallen 
und  Alen$on  herangezogen  werden  durften,  die 
übrigen  enthalten  sämmtlich  meines  Wissens  nur 
die  prosaische  Vita  Wilbrordi.  Große  Schwie- 
rigkeiten bot  die  Anordnung  der  kleineren  Ge- 
dichte, weil  sehr  viele  von  ihnen  aller  zeitlichen 
Merkmale  entbehren,  bei  andern  dieselben  doch 
nur  eine  annähernde  Zeitbestimmung  möglich 
machen  —  eine  Ausnahme  bildet  die  Elegie 
auf  die  Plünderung  von  Lindisfarne  793  — ,  die 
meisten  fallen  vermutblich  in  den  letzten  dauern« 
den  Aufenthalt  Alcuins  im  Frankenreiche,  d.  h. 
sie  liegen  zeitlich  nicht  sehr  weit  aus  einander. 
Voran  gehen  in  der  neuen  Ausgabe  die  an  ein- 
zelne Personen  gerichteten,  unter  denen  ein  sehr 
interessantes  Gedicht,  kurz  nach  780,  die  Freunde 
auf  dem  Festlande  begrüßt,  ein  anderes  an  den 
Erzbischof  Beornrad  von  Sens,  das  Frobenius 
übersehen  hatte,  durch  seinen  scherzhaften  Ton 
ebenfalls  in  eine  frühe  Zeit  zurückweist.  Hier 
haben  auch  schließlich,  entsprechend  den  durch 
Ebert  gepflogenen  oder  hervorgerufenen  Erörte- 
rungen, die  Versus  de  Cuculo  und  der  Conflictus 
veris  et  hiemis  ein  Unterkommen  gefunden.  Die 
von  Frobenius  verworfenen  Praecepta  vivendi 
glaubte  ich  unbedenklich  als  echt  ansprechen 
zu  können,  während  dies  für  die  daran  sich 
schließenden  Räthsel  sehr  zweifelhaft  bleibt. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Gedichten  Alcuins 
bilden  die  metrischen  Prologe  und  Widmungen 
von  Büchern,  mit  denen  auch  die  einzelnen 
Briefen  angehängten  Verse  verbunden  worden 
sind.  Eine  dritte  endlich  die  Inschriften,  welche 
Alcuin  für  Kirchen   und  andre  Bauten,  zumal 


62  Gdtt.  gel.  Anz.  1881.  Stock  1.2. 

for  eitiaelne  Altäre!  verfaßte,  bald  für  solche, 
deren  Stiftung  er  selbst  veranlaßt  hatte,  bald 
auf  den  Wünsch  von  Freunden,  wie  z.  B.  für 
St.  Amand,  St.  Vaast,  Salzburg  u.  e.  w.  Konnte 
namentlich  mit  Hülfe  einer  Salzburger  Hs.,  de- 
ren Benutzung  ich  Hr.  Professor  Hauthaler  ver- 
dankte, einiges  sicherer  bestimmt  werden,  so 
blieb  vieles  von  diesen  etwas  einförmigen  und 
schablonenhaften  Inschriften  unbestimmbar.  Bei 
manchen  ist  es  auch  fraglich,  ob  sie  überhaupt 
faieher  zu  zählen  sind  und  jedenfalls  läßt  sich 
ihre  wirkliche  monumentale  Verwendung  fast 
nirgend  nachweisen.  Einiges  vermischte,  na- 
mentlich 2  Alcuin  zugescbtiebene  Hymnen  bil- 
den den  Beschluß.  Im  Ganzen  wird  man  sagen 
dürfen,  daß  nach  Ausscheidung  einiger  fremde 
artiger  Stücke  das  allermeiste  von  den*,  wag 
Sich  hier  unter  seinem  Namen  vereinigt  findet, 
ihm  in  der  That  eigen  ist  und  daß  wir  daraus 
Allerdings  von  der  poetischen  Begabung  dieses 
carolingisehen  Horaz  keine  allzuhohe  Vorstel- 
lung gewinnen  Die  von  Frobenius  hinzugefügten 
Überschriften  habe  ich  mit  Absicht  weggelassen. 
Die  wenigen  Gedichte  des  Abtes  Farduif  von 
St.  Denis,  eines  Langobarden,  sind  uns  nur 
dutfch  Abdrücke  Duchesnes  gerettet  worden. 
Zum  Theil  gilt  dies  auch  von  An  gilbert,  für 
dessen  vordem  unter  Alcuins  Dichtungen  ge- 
rathene  Ecloge  an  Karl  den  Gr.  allein  noch 
eine  handschriftliche  Grundlage  vorhanden  ist. 
Hier  reiht  sich  nun  auch  das  räthselhafte  Frag- 
ment über  die  Zusammenkunft  Karls  und  des 
Papstes  Leo  in  Paderborn  an,  über  dessen  Ver- 
fhsstr  ich  nicht  zu  einer  festen  Ueberzeugung 
gelangt  bin  —  abgesehen  davon,  daß  es  Theo- 
dulf  sicher  abzusprechen  ist.  Die  zahlreichen 
Entlehnungen  aus  den  alten  Dichtern,  für  welche 


Poetae  latini  «evi  Carolin! ,  rec.  Dflmmler.  I.  1.    63 

Hr.  Prof»  Simeon  bereits  so  Dankenswertes  ge- 
leistet hatte,  konnten  hie  and  da  vervollständigt 
werden,  aber  auch  jetzt  Wird  noch  eine  Nach- 
lese übrig  bleiben  *).  Ebenso  unklar  ist  der  Ur- 
sprung eines  andern  Fragmentes  über  die  Be- 
kehrung der  Sachsen,  das  fälschlich  unter  den 
Gedichten  Aleuins  abgedruckt  war. 

Als  letztes  Stück  unserer  Abtheilung  folgt 
die  Eeloge  des  sogen,  Naso,  aus  einer  Londoner 
H».  früher  zum  ersten  Mate  von  mir  veröffent- 
licht, jetzt  aber,  wie  ich  glaube ,  mit  überzeu- 
genden Gründen,  dem  Bisobof  Meduin  von  Au« 
tun  zuerkannt.  In  der  bereits  unter  der  Presse 
befindlichen  zweiten  Abtbeilung  dieses  Bandes 
stehen  tranäcbst  ein  irischer  Dichter  (Hiberni-J 
cue  e&ul),  vielleicht  Dingal,  und  Bischof  Ber- 
nowin  in  Aussiebt,  dann  Amalarius  von  Trier 
nebet  zerstreuten  Stücken,  Theodulf  von  Orleans, 
der  begabteste  dieses  ganzen  Kreises,  endlieh 
der  Mönch  Aedilvulf  und ,  wofern  der  Raum  es 
noch  gestatten  sollte,  der  Abt  Smaragdus.  Wen» 
ich  es  als  ein  gewisses  Verdienst  betrachte,  alle* 
diese  so  weit  versprengten  Perlen  gesammelt 
und  durch  ihre  Vereinigung  wissenschaftlicher 
Verwerthung  erst  recht  zugänglich  gemacht  zfl 
haben,  so  zweifle  ich  doch  nicht,  daß  an  dieser, 
wiewohl  mühsamen  und  ermüdenden,  Arbeit  vie- 

*)  Vgl.  z.  B.  p.  370  v.  167  mit  Georg.  III,  412,  p. 
376  v.  401  mit  Aen.  VII,  473,  p.  377  v.  429  mit  Aen« 
XI,  598,  p.  379  v.  623  mit  Aen.  VII,  342.  Auch  an  an- 
dern Orten  habe»  steh  ähnliche  Nachtrage  ergeben,  so 
hat  ii.  a.  Paulus  p.  61  XIV,  9  Ovids  Epist.  XV1III,  85 
zu  Grunde  gelegt,  Alcuin  dagegen  p.  203  v.  i 540 flg. 
Venantii  Fortunati  Carm.  VIII,  1,  54—59.  Das  p.  65  zu 
t.  14  mitgetheilte  Distichon  stammt  aus  Ovid.  Art.  Amat. 
II,  203—204.  Das  darauf  folgende  kleine  Gedicht,  wel- 
ches an  Venantins  erinnert,  habe  ich  noch  nicht  ausfindig 
machen  können. 


64  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  1.2. 

les  mangelhaft  befanden  werden  wird,  zumal  in 
den  ersten  27  Bogen,  die  ich  allein  corrigiert 
habe,  während  vom  28.  Bogen  an  die  Beihülfe 
Wattenbachs  eine  stärkere  Bürgschaft  des  Ge- 
lingens darbot.  Mein  Bestreben,  überall  einen 
lesbaren  Text  herzustellen,  wurde  durch  die  so 
überaus  ungleichmäßige  Ueberlieferung  sehr  er- 
schwert und  auch  der  Nachweis  der  Anklänge 
an  die  antiken  Dichter  dürfte  manches  zu  wttn- 
chen  übrig  lassen,  so  nothwendig  er  für  unsre 
Aufgabe  ist,  denn  das  Fortleben  der  Alten  im 
Mittelalter  zu  verfolgen,  ist  ja  gerade  einer  der 
wichtigsten  Zwecke  dieser  Sammlung.  Philolo- 
gen werden  ohne  Zweifel  mehr  noch  als  Histo- 
riker berufen  sein,  diese  Ausgabe  zu  meistern: 
möchten  sie  ihr  Mißfallen  an  deren  Mängeln  je- 
doch lieber  nicht  bloß  in  unfruchtbarem  Tadel, 
sondern  in  fruchtbaren  Bath-  und  Verbesserungs- 
yorschlägen  äußern,  die  für  die  Fortsetzung  zu- 
gleich nützliche  Fingerzeige  gäben.  In  Bezug 
auf  Einleitungen  und  erläuternde  Anmerkungen 
ist  ein  knappes,  vielleicht  bisweilen  zu  knappes 
Maaß  eingehalten  worden41).  Der  Druck  wird, 
wie  ich  hoffe,  im  Ganzen  correct  befunden 
werden**). 

*)  Daß  Pauli  (Forsch,  zur  Deutschen  Gesch.  XII,  165) 
den  Einsiedler  Echa  oder  Etna  zum  J.  767  nachgewiesen 
hat,  habe  ich  p.  ä00  n.  2  unverzeihlicher  Weise  übersehen. 

**)  Ein  unliebsamer  Druckfehler  ist  p.  89  in  der 
Ueberschrifb  von  II  verriculos  für  versiculos. 

Halle.  Ernst  Dttmmler. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  &  Sehniwh,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Verlag  der  DisUrich'tchm  Ymiags-  Buchhandlung. 

Druck  der  DieUrich sehen  Univ.-  Buchdrvckerei  ( W.  JV.  JumtmrnU 


65 

ift  ött,ingische 

gel  ehrte    A  n  z  e igen 

unter  der  Aufsicht 
,  der  KönigL  Q^eUsphftft  der  Wissenschaften. 

Stück  3.  19.  Januar  1881. 


Inhalt*  Aii's  dem  Archly  der  Deutschen  Seewarte.    I.  Jahrgang. 
Jon  R  Werner.  —    B.  Löning,  Der  Reinigungseid  bei  Ungerichte- 
'klagen  im' deutschen  Hittelalter.     Von  F.  &  «.  Liest  —    H.  Steia- 
th  a  1 ,  Gesammelte  kleine  Schriften.    I.  Bd.    Von  A.  Beumbtrg*. 

sr  Eigenmächtiger  Abdruok  ron  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anx.Terboten  as 

Ans  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte. 
I.  Jahrgang:  1878.  Herausgegeben  von  der  Direction 
der  Seewarte.  Hamburg  Qj.  Friederichsen  &  Comp:). 
380.  .SS.    4°. 

DJe  Meteorologie  ist  eine  der  jüngeren  und 
in  Bezug  ihrer  Nutzbarmachung  ftir  practische 
Zwecke  die  jüngste  Wissenschaft  Sie  hat  1880 
ihren  hundertjährigen  Geburtstag  gefeiert  und 
Deutschland  kommt  die  Ehre  zu,  sie  in  die 
Welt  eingeführt  zu  haben. 

Ein' den  Künsten  und  Wissenschaften  huldi- 
gender deutscher  Fürst,  Karl  Theodor  von  der 
Pfalz,  rief  ihre  Anfänge  in  das  Leben.  Er  or- 
ganisierte die  ersten  festen  meteorologischen  Be- 
obachtungstationen mit  Mannheim  als  Central- 
punkt,  wo  die  Beobachtungen  von  14  deutschen 
und  16  auswärtigen  Stationen  von  1780  an  zu 
den  Ephemerides  Societatis  meteorologicae  Pala- 
tinae  zusammengestellt  wurden. 

Diese  Ephemeriden  erschienen  13  Jahrelang; 
dann  fanden  sie  in  den  der  französischen  Revo- 
lution, folgenden  Kriegswirren  ihr  Ende,  gingen 


66  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

jedoch  glücklicher  Weise  für  die  Wissenschaft 
nicht  verloren.  Alexander  von  Humboldt  ver- 
wertete sie  in  seinem  berühmten  Werke  „Theo- 
rie der  Vertheilung  der  Wärme  auf  der  Erd- 
oberfläche", mit  dem  die  Meteorologie  den  Kin- 
derschuhen entwuchs  und  in  die  Reihe  der  selb- 
ständigen Wissenschaften  mit  bewußtem  Ziel  trat. 

Humboldt  fand  einen  würdigen  Schüler  und 
Nachfolger  in  Dove,  dem  durch  sein  Wirken, 
namentlich  aber  durch  seine  Entdeckung  des 
Gesetzes  der  Stürme,  so  wie  durch  Einrichtung 
des  jetzt  über  Deutschland  gespannten  Netzes 
meteorologischer  Stationen  der  Ruhm  einer  er- 
sten Autorität  auf  diesem  Gebiete  auch  in  Zu- 
kunft gesichert  bleiben  wird. 

So  hervorragendes  Verdienst  aber  auch 
Deutschland  um  die  Begründung  und  wissen- 
schaftliche Weiterentwickelung  der  neuen  Wis- 
senschaft besitzt,  so  bewegten  sich  die  Bestrebun- 
gen ihrer  deutschen  Vertreter  bis  vor  15  Jahren 
doch  fast  ausschließlich  auf  theoretischem  Gebiete. 

Die  auf  diesem  errungenen  Resultate  für  die 
Praxis  und  namentlich  für  einen  der  wichtigsten 
Factoren  des  Volkslebens,  für  die  Seeschifffahrt 
zuerst  nutzbar  zu  machen,  war  einem  andern 
Lande  und  zwar  den  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerika  vorbehalten.  Alle  übrigen  mariti- 
men Nationen  folgten  dem  gegebenen  Beispiele 
trotz  dessen  bald  sich  zeigenden  außerordent- 
lichen Nutzens  erst  später,  und  Deutschland  war 
eine  der  letzten.  Nordamerika  begann  damit 
1843;  dann  kamen  Holland  und  England  An- 
fang der  fünfziger  Jahre,  aber  Deutschland  erst 
1868,  was  allerdings  in  seinen  früheren  politi- 
schen Zuständen  Erklärung  und  Entschuldigung 
findet. 

Die   Arbeiten    des  National  -  Observatoriums 


Ans  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.  I.      67 

von  Washington  auf  diesem  Felde  hatten  in  er- 
ster Reihe  eine  Reformierung  des  interoceani- 
schen  Weltverkehrs,  Auffindung  neuer  Seewege 
und  die  Herausgabe  von  Wind-  und  Wetter- 
karten im  Auge,  deren  zweckmäßige  Benutzung 
die  Seelente  in  den  Stand  setzen  sollte,  ihre 
Reisen  gegen  früher  ganz  wesentlich  zu  kürzen. 
An  der  Spitze  dieses  Obervatoriums  stand  der 
bekannte  Marinelieutenant  Maury  und  seine 
Leistungen,  welchen  die  Liberalität  der  Verei- 
nigten-Staaten-Regierung  zu  Hülfe  kam,  müssen 
ganz  außerordentliche  genannt  werden. 

Um  das  begonnene  Werk  schnell  zu  fördern 
und  der  Seeschifffahrt  den  größten  Nutzen  zu 
gewähren,  handelte  es  sich  darum,  bald  eine 
genügende  Zahl  von  Wind-  und  Wetterbeobach- 
tungen für  die  Meereswege  zu  besitzen,  um  auf 
Grund  derselben  den  Seeleuten  sagen  zu  kön- 
nen :  Wenn  Ihr  in  den  oder  den  Monaten  diese 
oder  jene  Reise  machen  wollt,  so  müßt  Ihr  den 
oder  den  Weg  nehmen,  weil  Ihr  auf  ihm  die 
günstigsten  Wind-  und  Wetterverhältnisse  findet. 

Zu  diesem  Zwecke  mußte  eine  möglichst 
große  Zahl  von  Mitarbeitern  gewonnen  werden, 
und  zwar  konnten  dies  nur  Seeleute  sein,  welche 
im  eigenen  Interesse,  mit  Verständniß  und  frei- 
willig es  übernahmen,  die  Beobachtungen  sorgsam 
und  nach  einem  bestimmten  Modus  anzustellen. 
Maury  erließ  infolge  dessen  eine  bezügliche  Auf- 
forderung an  Schiffsrheder  und  Kapitäne  der  eige- 
nen und  fremden  Handelsmarinen,  und  gleichzeitig 
erbot  sich  die  Washingtoner  Regierung ,  für  je- 
des an  das  Observatorium  eingesandte  und  nach 
Maury's  Vorschriften  geführte  Wetterbuch  unent- 
geltlich die  auf  Grund  der  Beobachtungen  con- 
Btruierten  Wind-  und  Wetterkarten,  sowie  die 
dazu  gehörigen  Segelanweisungen  auszutauschen. 

5* 


rj 


08  Gott. 'gel.  Ädz.  1881.  Stü<&  '3. 

i)4r  ftMblg  äds  Äufittfe  w&r  efa  'gittz  'faateti- 
~fcehdfer;?n  wenigen  Jahrern  Wählten  die  Mitarbei- 
ter nach  Tausenden  und  die  einlaufenden  Be- 
obachtungen nach  Millionen.  Dadurch  wurde 
-es  möglich,  das  Kartenwerk  nach  jeder  Richtung 
ischnell  zu  vervollständigen,  es  von  Jahr  tu 
{ Jähr  zu  einem  zuverlässigeren  Wegweiser  txt  ttia- 
chen,  und  10  Jahre  nach  der  Begründung  zählte 
jenes  schon  einige  achtzig  Blätter  und  umfaßte 
sämfotliche  befahrene  Meerestheile,  während  dfer 
Inhalt  der  Segelanweisungen  in  analoger  Wewe 
bereichert  war. 

Seeleute  sind  sonst  außerordentlich  konser- 
vativ und  halten  sehr  zäh  an  traditionellen  Ge- 
wohnheiten fest;  bei  dieser  Gelegenheit  lenkten 
ßie  jedoch  schneller  als  gewöhnlich  in  die  neuen 
Bahnen.  Die  intelligenteren  Kapitaine  sahen 
'kehr  bald  selbst  den  erwachsenden  Nützen  und 
"die  Übrigen  wurden  von  ihr^n  Rhedern  <zur  Be- 
theiliguüg  veranlaßt,  weil  sich  in  den  Büchern 
der  letzteren  der  erzielte  Gewinn  an  Reisetajgfen 
sehr  deutlich  in  Geld  übersetzte. 

Man  kann  die  Betriebskosten  eines  Segel- 
schifTes  pro  Tag  und  Tonne  (1000  kg)  deines 
Gehalts  auf  ungefähr  40—50  Pfennige  veran- 
schlagen. Wenn  also  vorher  eine  Durchschnitte- 
reise z.  B.  vom  englicben  Kanal  bis  zur  Sunda- 
straße  oder  zurück  100  Tage  dauerte  und  die 
sich  auf  den  neuen  von  Maury  empfohlenen 
Routen  um  wenigstens  10  Procent  abkürzen 
ließ,  so  handelte  es  sich  Air  tin  Schiff  von 
1000  Tonnen  Inhalt  auf  einet  ostindischen  Reise, 
aus  und  heim,  um  einen  directed  Gewinn  von 
8 — 10,000  Mark,  wobei  die  Ersparnisse  an  Zin- 
sen, Assecuranz,  höhere  Frachtsätze  etc.  noch 
gar  nicht  einmal  berücksichtigt  sind.  Solche 
Zahlen    sprachen    aber    zu    klar,    um    nicht 


Aus  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.   I.       69 

tttatqeugfticl  zty»  wirkqfy.  Um  hier  nur  eins  der 
viejjon  und)  gläuzenaen  Resultate  yon  Maury's 
Forschuggep  anzuführen,  sei  erwähnt,  daß  es  in 
früher^  Zeiten  ejpß  seemännisch  allgemein  be- 
folgte Tradition  w4fr  südlich  gehend  den  Aequa- 
tor  z^iechqo,  17—19.  Grad  westl.  Länge  von 
freen^cb.  $u  sqhpeiden.  Bei  einem  westliche- 
re Sclplpittpun^ß  fürchj#e  man  mit  dem  Südost- 
P^ssatwinjde  un4  der  Gegenströmung  an  der 
Brasilianischen  KtUte  das  Cap  St.  Boqne  nicht - 
abwettere  zu,  können  und  dann  noch  einmal  zur 
Umkehr  gezwungen,  zu  werden. 

Manrj  wie$  jedoch  sehr  bald  auf  Grund  der 
Beobachtungen  nacj^,  daß  am  Aequator  durch 
Aufeinanderstoßen  des  Hordost-  und  Südost- 
Pasfttf  ein  keilförmiger  Stillgürtel  entsteht,  des* 
sen  breife  ßasjs  an  der  afrikanischen  Küste 
liegt;,  während  seiuQ  Spitze  sich  auf  ungefähr 
29-30°  Westlänge  befindet.  Schneidet  man 
deshalb,  wie  es  sehr  bald  nach  dieser  Ent- 
deckung geseiht,  dep  Aequator  an  dieser  schmäl- 
sten Stelle,  §o  wird  man  nur  wenige  Tage  durch 
Stillen  aufgehalten,  während  10 — 12°  weiter 
östlich  diejenige  durchschnittlich  12— 14 Tage, 
ja  bisweilen  3—4  Wochen  in  Stille  treiben. 

Solche  evidente  Thatsachen  waren  nicht 
nur  dazu  $agethan,  dem  liberalen  amerikani- 
schen Institute  Mitarbeiter  von  nah  und  fern 
zuzuführen,  sondern  auch  andere  Nationen  zur 
Gründung  ähnlicher  Gentralstellen  aufzufordern. 
Wie  bereits  bemerkt,  folgten  damit  zuerst  Hol- 
land, dann  England  und  Frankreich,  und  der 
yon  Maury  1853  inaugurirte  Meteorologen-Con- 
gr#9  in  BrUssel  suchte  gleichmäßige  Normen  für 
die  zu  machenden  Beobachtungen  aufzustellen 
und  dadurch  der  Sache  einen  internationalen 
Charakter  zu  verleihen.    Deutschland  nahm  je- 


70  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

doch  an  dieser  Zusammenkunft  nicht  Theil. 
Die  Idee,  eine  deutsche  Seewarte  zu  errichten, 
wurde  vielmehr  öffentlich  erst  12  Jahre  später 
auf  dem  von  Dr.  Petermann  nach  Frankfurt  a./M. 
berufenen  geographischen  Congresse  von  Dr.  Neu- 
mayer, bis  dahin  Director  des  Observatoriums 
in  Melbourne,  angeregt.  Dieselbe  fand  zwar  in 
der  Versammlung  großen  Anklang,  allein  Neu- 
mayers Bemühungen,  die  Seewarte  schon  im 
folgenden  Jahre  (1866)  in  das  Leben  zu  rufen, 
scheiterten,  wie  so  viele  andere  wichtige  Dinge, 
an  der  politischen  Zerrissenheit  unseres  Vater- 
landes und  ersterer  begab  sich  in  Folge  dessen 
wieder  nach  Australien  zurück. 

Mit  dem  Jahre  1866  erfuhren  jedoch  glück- 
licher Weise  die  Verhältnisse  eine  Wande- 
lung zum  Bessern.  Ein  neuer  Geist  beseelte 
Völker  und  Regierungen  Norddeutschlands ;  lang 
unterdrückte  gemeinnützige  Bestrebungen  konn- 
ten sich  frei  entfalten,  und  unter  solchen  gün- 
stigen Auspicien  wurde  die  Idee  Neumayers 
wieder  aufgenommen.  W.  von  Freeden,  frühe- 
rer Director  der  Navigationsschule  in  Elsfleth, 
griff  die  Sache  mit  eben  so  viel  Energie,  wie 
Geschick  und  Uneigennützigkeit  an,  und  es  ge- 
lang ihm,  durch  werkthätige  Unterstützung  der 
Handelskammern  von  Bremen  und  Hamburg 
das  erstrebte  Ziel  zu  erreichen.  Am  1.  Jannar 
1868  begann  am  letzteren  Orte  die  neugegrün- 
dete „norddeutsche  Seewarte"  ihre  Wirksamkeit. 

Von  Freeden  hatte  unentgeltlich  die  Einrich- 
tung und  Leitung  des  Institutes  übernommen, 
für  welches  die  genannten  Handelskammern  die 
erforderlichen  Räumlichkeiten  in  dem  dafür  treff- 
lich gelegenen  Hamburger  Seemannshause  zur 
Verfügung  stellten,  während  sie  gleichzeitig  die 


Ans  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.   I.       71 

Deckung  der  Geschäftsunkosten  auf  die  Dauer 
von  vorläufig  zwei  Jahren  zusicherten. 

In  einer  öffentlichen  Bekanntmachung  er- 
ließen die  beiden  Körperschaften  eine  Aufforde- 
rung zur  Betheiligung  an  der  erforderlichen  Mit- 
arbeiterschaft und  gaben  gleichzeitig  über  Zweck 
und  Ziel  der  Anstalt  Aufschluß.  Der  Erfolg 
war,  daß  sich  sofort  30  der  größten  Rhederei- 
F innen  von  Hamburg  und  Bremen  mit  einigen 
Hundert  Schiffen  zu  der  gewünschten  Unter- 
stützung bereit  erklärten  und  die  Sache  gleich 
vom  Beginn  an  sich  günstig  gestaltete. 

Für  die  innere  Organisation  der  Seewarte 
waren  zwei  Abtheilungen  in  Aussicht  genom- 
men, für  Seefahrt  und  Meteorologie.  Von  ihnen 
nahm  jedoch  zunächst  die  erstere,  als  die  für 
die  Praxis  wichtigere  eine  feste  Gestalt  an, 
während  die  andere  sich  ganz  allmählich  ent- 
wickeln sollte.  Die  Hauptaufgabe  der  I.  Ab- 
theilung war  Sicherung  und  Kürzung  der  See- 
wege und  faßte  sich  in  nachstehende  Punkte 
zusammen. 

1.  Die  Beschaffung  tadelloser  Normal-Instru- 
mente für  die  Hauptschifffahrtsplätze  der  deut- 
schen Küsten,  um  mit  ihnen  die  Schiffs-Instru- 
mente zu  vergleichen,  da  ohne  eine  solche  Ver- 
gleichung  die  Beobachtungen  werthlos  sind. 

2.  Vertheilung  der  von  der  Seewarte  einge- 
richteten Beobachtungsbücher  an  die  sich  zur 
Mitarbeit  meldenden  Seeleute  nebst  Anweisungen 
für  die  nach  dem  bisherigen  Standpunkte  der 
Oceanographie  am  zweckmäßigsten  einzuschla- 
genden Seewege. 

3.  Die  alsbaldige  Verwerthung  des  Inhalts 
der  zurückgelieferten  Wetterbücher  und  die  auf 
sie  so  wie  auf  anderweitige  verläßliche  Beob- 
achtungen gestützte   Bearbeitung   und  Heraus- 


72  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

gäbe  voii  Segelanweisungen  für  die  verschieden 
nen  Monate. 

4.  Der  Austausch  der  gewonnenen'  Ergeb- 
nisse mit  denen  der  ausländischen  nautisch-mö- 
teorologiscben  Institute. 

Bereits  der  erste  Jahresbericht  der  Seewarte 
pro  1868  wies  eine  erfreuliche  Betheiligüng  auf . 
Es  waren  262  Wetterbücher  vertheift,  eine  be- 
deutende Zahl  neuer  geprüfter  Instrumente  gei- 
gen Selbstkostenpreis  an  die  Schiffe  abgegeben, 
so  wie  eine  Reihe  älterer  Schiffs-Instrümente 
verglichen. 

Die  Mitarbeit  wuchs  dann  ton  Jähr  zu  Jahr, 
die  Segelanweisungen  wurden  immer  zuverläs- 
siger und  nach  fünf  Jahren  konnte  nach  airieri- 
kanischem  Vorbilde  auf  Grund  der  eingegange- 
nen Beobachtungen  schon  mit  der  Herausgabe 
von  48  sehr  übersichtlich  und  practisch  einge- 
richteten Windkarten  vorgegangen  werden.  Ebenso 
begann  sich  der  augenfällige  Nutzen  zu  zeigen, 
den  die  Verbindung  der  Schiffe  mit  der  See- 
warte gewährte. 

Der  fünfte  Jahresbericht  (1872)  wies  iiach, 
daß  die  393  Schiffe,  welche  bis  dahin  ihre  Wege 
nach  Anleitung  der  Seewarte  nahmen,  gegen- 
über ebenso  vielen  dieselbe  Reise  machenden, 
aber  die  herkömmlichen  Routen  verfolgenden 
Schiffen  nicht  weniger  als  6,3  Tage  oder  8,3 
Procent  der  durchschnittlich  75  Tage  dauernden 
Reisen  gewonnen  hatten.  Die  Durchschnitts- 
große  dieser  Schiffe  betrug  580  Tonnen  und 
der  durch  den  Zeitgewinnst  repräsentierte  di- 
recte  Geldgewinn  eines  jeden  Schiffes  für  2 7* 
Monat  Reisedauer  1650  Mark.  Solche  Zählen 
sprachen  deutlich. 

Wenn  aber  auch  die  Gründung  der  Seewarte 
und  ihre  erste  Entwickelung   aus  Her  Initiative 


Aus  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.   L       73 

patriotisch  gesinnter  Männer  und  Corporationen 
hervorgehen  konnte,  so  lag  es  anf  der  Hand, 
daß  das  mit  der  sich  von  selbst  ergebenden 
notwendigen  Erweiterung  des  Instituts  beträcht- 
lich wachsende  Budget  auf  die  Dauer  aus  pri- 
vaten Mitteln  nicht  bestreitbar  war  und  letzte- 
ren auch  nicht  zugemuthet  werden  konnte. 

Die  Seewarte  leistete  nicht  Privaten,  son- 
dern der  Gesammtheit  des  Volkes  bedeutende 
Dienste  und  deshalb  war  es  nur  in  der  Ord- 
nung, daß  auch  der  Staat  flttr  die  erwachsenden 
Kosten  eintrat.  Ein  dahin  gehendes  Gesuch  von 
Freeden's  wurde  vom  Norddeutschen  Bunde  auch 
als  berechtigt  anerkannt  und  von  1870  an  eine 
Subvention  bewilligt,  welche  die  Zukunft  und 
allmähliche  Weiterentwickelung  der  Anstalt 
sicherte. 

Letztere  bestand  in  ihrer  bisherigen  Form 
und  Leitung  bis  zum  Januar  1875,  mithin  sie- 
ben volle  Jahre,  und  ihre  Erfolge  konnten  nach 
jeder  Richtung  hin  nur  als  höchst  erfreuliche 
bezeichnet  werden.  Sie  hatte  es  verstanden,  in 
der  kurzen  Zeit  sich  die  Achtung  und  das  Ver- 
trauen der  seefahrenden  Kreise  in  vollem  Maße 
zu  erwerben  und  trotz  beschränkter  Mittel  und 
Kräfte  hervorragendes  für  das  Gemeinwohl  zu 
leisten.  Dann  trat  eine  Aenderung  ein.  Die 
Reichsregierung  erachtete  es  für  zweckdienlich, 
das  Institut  zu  einer  Reichsanstalt  zu  erheben 
aus  der  norddeutschen  eine  deutsche 
Seewarte  zu  machen,  sie  in  Beachtung  verschie- 
dener auf  den  Meteorologen-Congressen  zu  Leip- 
zig, Wien  und  London  (1871—74)  gefaßter  Be- 
schlüsse theilweise  zu  reorganisieren,  nament- 
lich aber  ihren  Wirkungskreis  nach  verschiede- 
nen Richtungen  hin  zu  erweitern.  Zum  Zwecke 
eines  einheitlichen   Zusammenwirkens   mit  dem 


74  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

verwandten  Hydrographischen  Amte  der  Kaiser- 
lichen Admiralität  wurde  die  Seewarte  dieser 
höchsten  maritimen  Behörde  des  Reiches  unter- 
stellt und  sie  begann  1875  in  der  neuen  Gestalt 
ihre  Thätigkeit. 

Leider  gelang  es  nicht  den  Schöpfer  und 
Leiter  der  Anstalt,  unter  dessen  Aegide  diese 
sich  so  schnell  und  auf  gesunder  Basis  ent- 
wickelt hatte,  für  den  Reichsdienst  zu  gewinnen. 
Man  konnte  sich  mit  ihm  nicht  über  die  An- 
stellungsbedingungen einigen  und  hauptsächlich 
scheiterten  die  Verhandlungen  daran,  daß  fortan 
der  seit  einigen  Jahren  als  Hydrograph  der 
Kaiserlichen  Admiralität  berufene  Dr.  Neumayer 
zum  Director  der  Seewarte  bestimmt  war  und 
von  Freeden  sich  diesem  unterordnen  sollte. 
Letzterer  zog  sich  in  das  Privatleben  zurück 
und  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  diese  Kraft 
dem  Reiche  verloren  gegangen  ist. 

Mit  dem  Eingangs  erwähnten  Werke  „Aus 
dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte"  ist  nun 
vor  einiger  Zeit  der  erste  Bericht  über  die  neue 
Reichsanstalt  erschienen  und  der  Oeffentlichkeit 
übergeben  worden.  Derselbe  umfaßt  einen  Zeit- 
raum von  4  Jahren  (bis  Ende  1878)  und  giebt 
in  eingehender  Weise  über  die  Organisation, 
Wirksamkeit  und  die  Bestrebungen  des  Insti- 
tutes Aufschluß. 

Das  verspätete  Erscheinen  dieses  Berichtes 
erklärt  die  Direction  in  dem  Vorworte  mit  der 
Absicht,  daß  sie  zunächst  den  Abschluß  der  Or- 
ganisation habe  herbeiführen  und  die  Arbeiten 
auf  allen  der  Seewarte  zugetheilten  Gebieten  in 
feste  Bahnen  lenken  wollen,  was  nunmehr  ge- 
schehen sei.  Fernere  Berichte  sollen  jedoch  in 
kürzeren  Zwischenräumen    folgen   und  das  Er- 


Aus  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.  L      75 

scheinen  desjenigen  für  1879  ist  schon  für  die 
nächste  Zeit  in  Aassicht  gestellt. 

Das  ziemlich  umfangreiche  Werk  zerfällt  in 
zwei  Hauptabschnitte,  in  den  eigentlichen  Be- 
richt nnd  in  mehrere  von  dem  Personale  der 
Anstalt  bearbeitete  Monographien,  deren  Gegen- 
stände dem  Forschungsgebiete  der  Seewarte  an- 
gehören. 

Der  Bericht  beschäftigt  sich  zunächst  mit 
der  Organisation  der  letztern,  die  sich  in  vier 
Abtheilungen  gliedert.  Abtheilung  I  hat  die 
Aufgabe,  die  meteorologischen  Beobachtungen 
der  deutschen  Handelsmarine  sowohl  für  die 
Wissenschaft  überhaupt,  als  besonders  zum 
Nutzen  der  deutschen  Schifffahrt  zu  verwerthen. 
Die  folgende  Abtheilung  befaßt  sich  mit  der 
Beschaffung  und  Prüfung  aller  für  das  Institut 
und  seine  Mitarbeiter  erforderlichen  physikali- 
schen Instrumente,  so  wie  mit  der  Pflege  der 
Wissenschaft  der  Deviation  der  Gompasse  an 
Bord  eiserner  Schiffe. 

Mit  Ausnahme  des  letzten  Punktes  decken 
sich  deshalb  beide  Abtheilungen  mit  den  Auf- 
gaben der  ersten  Abtheilung  der  früheren  Nord- 
deutschen Seewarte. 

Die  Deviation  oder  örtliche  Ablenkung  der 
Magnetnadel  durch  das  im  Schiffe  befindliche 
Eisen  ist  erst  in  neuerer  Zeit  zu  einem  wesent- 
lichen Factor  für  die  Navigation  geworden.  Bei 
den  früheren  Holzschiffen  wurden  nur  gering- 
fügige Quantitäten  Eisen  zum  Bau  benutzt  und 
in  Folge  dessen  war  auch  die  dadurch  hervor- 
gerufene Ablenkung  der  Nadel  so  unbedeutend, 
daß  sie  nur  in  seltenen  Fällen  schädlichen  Ein- 
floß übte  und  im  allgemeinen  unbeachtet  bleiben 
konnte.  Seitdem  jedoch  die  Verwendung  des 
Eisens  als  Schiffsbaumaterial  in  so  bedeutendem 


76  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

Maße  zugenommen  hat  und  nicht  nur  der  Rumpf, 
sondern  auch  Masten,  Raaen,  das  stehende  Tau- 
werk etc.  aus  ihm  hergestellt  werden,  ist  die 
Deviation  für  die  Schifffahrt  so  wichtig  gewor- 
den, daß  sich  ihre  Vernachlässigung  auf  das 
empfindlichste  rächen  würde.  Die  Gesetze  die- 
ser Deviation  sind  sehr  compliciert  und  auch 
noch  nicht  vollkommen  erforscht.  Letztere  bleibt 
nicht  beständig  dieselbe,  auch  wenn  sich  in  dem 
Eisen  des  Schiffes  nichts  ändert,  sondern  wech- 
selt bei  größeren  Ortsveränderungen  nach  Süden 
oder  Norden  und  auch  bei  verschiedenen  Zu- 
ständen des  Schiffes,  ob  dasselbe  z.  B.  schief 
liegt,  Dampf  auf  hat  etc.  Die  Pflege  und  wei- 
tere Entwickelung  dieser  Wissenschaft  und  ihre 
practische  Nutzanwendung  auf  die  Schifffahrt 
ist  deshalb  wohl  mit  Becht  in  den  Arbeitsbe- 
reich einer  Behörde  aufgenommen,  welche  sich 
die  Sicherung  der  Navigation  zur  Hauptaufgabe 
gestellt  hat. 

Die  dritte,  der  zweiten  der  norddeutschen 
Seewarte  entsprechende  Abtheilung  beschäftigt 
sich  mit  der  Wettertelegraphie,  der  Ktisten- 
meteorologie  und  dem  deutschen  Sturmwarnungs- 
wesen, während  sie  gleichzeitig  bestimmt  ist, 
sich  allmählich  zur  Centralstelle  für  die  aus- 
übende Witterungskunde  in  Deutschland  auszu- 
bilden. 

Die  vierte  Abtheilung  endlich  ist  das  Chro- 
nometer-Prüfungs-Institut ,  welches  sowohl  die 
an  Bord  der  Handelsschiffe  befindlichen  Chrono- 
meter auf  ihre  Brauchbarkeit  untersucht,  als 
auch  jährliche  Concurrenzprüfungen  von  Deut- 
schen und  Schweizer  Schiffsuhren  abhält. 

Auch  diese  Aufgabe  ist  als  eine  für  unsere 
Navigirung  sehr  wesentliche  von  der  Seewarte 
«neu   in   den   Bereich   ihrer  Thätigkeit  gezogen 


Ans  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.   I.       77 

und  *mrd  weiter   unten  noch  näher  besprochen 
werden. 

Der  Bericht  verbreitet  sich  dann  in  seinem 
allgemeinen  Theile  über  Personalien,  Einrichtun- 
gen der  Anstalt  und  ihrer  Agenturen,  nebst  ein- 
gehender Beschreibung  der  vorhandenen,  durch 
Zeichnungen  erläuterten  Instrumente,  über  die 
Verwaltung,  die  Bibliothek  und  die  Karten- 
sammlungen. 

Aus  den  Specialberichten  über  das  Arbeits- 
feld der  einzelnen  Abtheilungen  sei  folgendes 
hervorgehoben.  Die  mitarbeitenden  Schiffsführer 
genießen  die  Vortheile  unentgeltlicher  Prüfung 
ihrer  sämmtlichen  Instrumente,  so  wie  der  Be- 
nutzung der  Bibliothek  und  Kartensammlung. 
Ebenso  wird  ihnen  schriftlich  und  mündlich 
Rath  über  die  von  ihnen  zu  unternehmenden 
Reisen  ertheilt.  Nach  dem  Berichte  soll  sich 
in  Folge  dieser  Einrichtung  die  Zahl  der.  Mit- 
arbeiter von  Jahr  zu  Jahr  steigern. 

Die  angegebenen  Ziffern  für  die  einzelnen 
Jahre  zeigen  dies  auch;  im  Ganzen  ist  der  Zu- 
wachs gegen  die  Mitarbeiter  der  norddeut- 
schen Seewarte  jedoch  nicht  sichtbar  und 
dieser  Umstand  wohl  dadurch  erklärlich,  daß 
bei  dem  Aufgehen  der  letzteren  in  die  deutsche 
Seewarte  eine  größere  Zahl  Seeleute  ihre  Be- 
theiligung aufgegeben  hat. 

Die  deutsche  Seewarte  hat  in  den  4  Jahren 
ihres  Bestehens  676  Wetterbücher,  also  im  Mit- 
tel jährlich  169,  die  norddeutsche  dagegen  in 
7  Jahren  1193,  im  jährlichen  Mittel  mithin  170, 
ausgegeben. 

Bei  der  Zurticklieferung  der  gefüllten  Bücher 
fand  dasselbe  Verhältniß  statt,  116  jährlich  bei 
der  deutschen  und  115  bei  der  norddeutschen 
Seewarte. 


78  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

Die  Einrichtung  der  Bücher  entspricht  den 
auf  dem  Londoner  Meteorologencongresse  (1874) 
gefaßten  Beschlüssen  und  die  einzutragenden 
Beobachtungen  umfassen  die  Angaben  der  Zeit 
und  des  Ortes,  die  Kurse  nebst  der  gesegelten 
Distanz,  Richtung  und  Stärke  des  Windes 
(Scala  Beaufort),  Barometer  und  Thermometer 
(letzterer  auch  mit  trockner  und  nasser  Kugel), 
Wolkenbildung  und  Himmelsansicht ,  Wetter, 
Seegang,  Temperatur  und  specifisches  Gewicht 
des  Wassers,  so  wie  endlich  Bemerkungen,  na- 
mentlich über  beobachtete  Strömungen. 

Diese  Beobachtungen  werden  6  Mal,  für  den 
Wind  12  Mal  in  24  Stunden  angestellt.  Die 
170  mitarbeitenden  Schiffe  liefern  also  jährlich 
372,300,  resp.  bezüglich  des  Windes  die  doppelte 
Zahl  von  Beobachtungen,  und  wenn  sich  diesel- 
ben auch  über  einen  großen  Theil  der  Erde  er- 
strecken, so  bieten  sie  doch  ein  so  bedeutendes 
Material,  daß  die  Witterungskunde  des  Meeres, 
auf  welchem  überdem  die  meteorologischen 
Verhältnisse  viel  einfacher  liegen,  als  auf  den 
Gontinenten,  mit  schnellen  Schritten  sich  vervoll- 
kommnen und  der  Schifffahrt  zu  Gute  kom- 
men muß. 

Auf  der  andern  Seite  geben  jene  Zahlen  aber 
auch  einen  Begriff  von  der  Arbeit,  die  dem  Per- 
sonal der  Seewarte  in  Registrierung,  Bearbei- 
tung und  practischer  Verwerthung  der  eingelie- 
ferten Daten  erwächst.  Die  zur  Erzielung  gleich- 
werthiger  Beobachtungen  bereits  durch  von  Free- 
den  angestrebte  zweckmäßige  Maßregel,  den 
Handelsschiffen  geprüfte  Instrumente  leihweise 
zu  verabfolgen,  ist  auch  von  der  deutschen  See- 
warte adoptiert  und  wird  bald  allgemein  durch- 
geführt sein,  während  man  außerdem  die  best- 
geführten  Wetterbücher  durch  Prämien  aus- 
zeichnet. 


Aus  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.  I.       79 

Ans  den  während  eines  Monats  eingegange- 
nen Wetterbttchern  werden  zunächst  kurze  Reise- 
berichte zusammengestellt  und  durch  die  „An* 
nalen  der  Hydrographie  und  maritimen  Meteo- 
rologie" veröffentlicht.  Diese  in  monatlichen 
Heften  erscheinende  Zeitschrift  ist  das  Organ 
für  die  Seewarte  und  zugleich  für  das  hydro- 
graphische Amt  der  kaiserlichen  Admiralität. 
Letzteres  bildet  die  Gentralstelle  für  theoretische 
und  ausübende  Navigation  der  deutschen  Reichs- 
marine, für  Kttstenverme8sung,  Seezeichen  und 
alle  solche  Verhältnisse,  welche  für  die  Navi- 
gierung der  Schiffe  in  den  eigenen  wie  fremden 
Meeren  von  Wichtigkeit  sind.  Es  cooperirt  und 
ergänzt  sich  deshalb  in  manchen  Beziehungen 
mit  der  Seewarte,  was  die  Wahl  desselben  Or- 
gans für  beide  Behörden  erklärt.  Die  endgül- 
tige Verwerthung  der  Beobachtungen  für  die 
practische  Schifffahrt  geschieht  in  tabellarischer 
Form  gegenüber  den  von  Maury  gewählten  und 
auch  durch  von  Freeden  adoptierten  graphischen 
Darstellungen  (Wind-  und  Wetterkarten).  Die 
Seewarte  motiviert  ihre  Wahl  mit  der  Bemer- 
kung, daß  Karten  stets  den  Character  eines 
Abschlusses  tragen,  in  dem  man  zu  endgültigen 
Resultaten  gelangt  zu  sein  glaubt,  während  spä- 
tere und  in  größerer  Zahl  angestellte  Beobach- 
tungen diese  Resultate  wesentlich  ändern  können 
und  dann  die  mühsame  Arbeit  eine  verlorne  ist. 

Diese  Begründung  ist  nicht  ohne  Berechti- 
gung, aber  jedenfalls  haben  jene  Karten  für  die 
gewöhnlichen  Seeleute  den  Vorzug  der  größeren 
Ueberrsichtlichkeit  vor  den  tabellarischen  Uebei> 
sichten  voraus  und  sie  haben  stets  vollen  Bei- 
fall gefunden. 

Eine  weitere  Aufgabe  der  I.  Abthellung  ist 
die  Bearbeitung  von  Segelhandbttchern  für  die 


80  Gott.  gel.  Anz.  1881,  Stück  3. 

verschiedenen  Meere,  welche  unsere  Marinelite- 
ratur in  deutscher  Sprache  bis  jetzt  nicht  be- 
sitzt Das  Erscheinen  des  ersten  derartigen 
Werkes  über  den  nordatlantischen  Ocean  ist  in 
nahe  Aussicht  gestellt.  Ein  Materialaustausch, 
der  mit  den  maritim-meteorologischen  Instituten 
in  Utrecht,  London  und  Kopenhagen  stattfindet, 
kann  den  Werth  dieser  Werke  nur  erhöhen. 

Aus  dem  Specialberichte  über  die  Thätigkeit 
der  II.  Abtheilung  sind  besonders  zwei  Punkte 
hervorzuheben:  die  günstige  Einwirkung  der 
Seewarte  auf  die  Hebung  der  deutschen  Fabri- 
cation von  nautischen  und  meteorologischen  In- 
strumenten und  die  wachsende  Inanspruchnahme 
der  Anstalt  seitens  der  Handelsmarine  zur  Be- 
stimmung der  Deviation,  Regulierung  und  Com- 
pensation der  Oompasse  (Verringerung  der  De- 
viation durch  zweckmäßige  Anbringung  von 
Magneten  in  der  Nähe  des  Compasses). 

Bis  vor  wenigen  Jahren  stammte  der  größte 
Theil  der  Reflexions-Instrumente  unserer  Han- 
delsmarine aus  englischen  Werkstätten,  ohne  in- 
dessen die  Garantie  verläßlicher  Güte  zu  bieten. 
Schon  das  hydrographische  Amt  wandte  seit 
1872  diesem  Gegenstande  seine  Aufmerksamkeit 
zu.  Es  stellte  für  die  Kriegsmarine  strengere 
Anforderungen  in  dieser  Beziehung  und  die 
Folge  war,  daß  eine  Reihe  mechanischer  Werk- 
stätten in  Berlin  die  Fabrication  von  Spiegel- 
Instrumenten  aufnahm  und  sehr  bald  darin 
tüchtiges  leistete.  Ganz  besonders  trugen  aber 
zur  Hebung  dieser  Industrie  die  Prüfungsein- 
richtungen der  Seewarte  bei.  Die  Mechaniker 
erhielten  von  letzterer  ein  Certificat  über  die 
Leistungen  ihrer  Instrumente,  so  wie  Rath  und 
Anleitung  zu  Verbesserungen.  Diese  benutzten 
sie  in  so  erfreulicher  Weise,   daß  sie  jetzt  be- 


Aas  dem  Archiv  der  Deutschen  Seewarte.   I.      81 

reite  die  Concurrenz  mit  dem  Auslände  voll  be- 
stehen können  und  Deutschland  sich  von  letzte- 
rem nach  dieser  Richtung  unabhängig  gemacht 
hat  Ein  gleichgünstiges  Resultat  ist  auf  dem 
Gebiete  der  Compaßfabrikation  zu  verzeichnen, 
die  bis  vor  kurzem  in  Deutschland  gänzlich 
darniederlag,  jetzt  aber  kaum  etwas  zu  wün- 
schen übrig  läßt.  Bezüglich  der  Deviation  be- 
ginnen die  Schiffsführer  die  große  Wichtigkeit 
dieses  Punktes  immer  mehr  einzusehen  und  in 
den  4  Jahren  hatten  nicht  weniger  als  135  deut- 
sche Schiffe  sich  durch  die  Angestellten  der 
Seewarte  auf  ihre  Deviationsverhältnisse  unter- 
suchen lassen. 

Einer  der  nächsten  Specialberichte  behandelt 
die  Witterungskunde  und  das  Sturmwarnungs- 
wesen in  Deutschland.  Da  die  Witterungszu- 
stände  in  England  mit  den  unsern  in  nahem 
Zusammenhange  stehen  und  die  Eenntniß  jener 
für  deutsche  gleiche  Verhältnisse  sehr  wesent- 
lich ist,  so  hatte  bereits  die  Norddeutsche  See- 
warte einen  Austausch  von  Wetter-  und  Sturm- 
telegrammen mit  Erfolg  angebahnt.  Dieser  Aus- 
tausch ist  seitdem  erweitert  und  auf  verschiedene 
andere  Länder  ausgedehnt  worden.  Als  Restim6 
dieser  Telegramme  erscheinen  die  täglichen  von 
der  Seewarte  ausgehenden  und  in  den  Zeitun- 
gen veröffentlichten  Wetterberichte,  die  theil- 
weise  von  Wetterkarten  begleitet  sind. 

Von  den  Sturmwarnungen  haben  sich  etwa 
60 — 70  Procent  bestätigt,  was  als  ein  gutes  Re- 
sultat verzeichnet  werden  muß  und  für  den  Nu- 
tzen dieser  Einrichtung  spricht. 

Weniger  werthvoll  ist  jedoch  bis  jetzt  die 
Wetterprognose,  der  noch  Zuverlässigkeit  man- 
gelt. Die  von  den  Zeitungen  gebrachten  Wet- 
terberichte haben  für  die  Allgemeinheit  noch 
wenig  practische  Bedeutung,  sondern  nur  mehr 

6 


82  Gott.  gel.  An».  18&L  Stück  & 

ein  retrospectives  Interesse*  Liefte  sieh  ei« 
Modus  finde»,  um  sie  bedeutend  schneller  im 
Lande  zu  verbreiten,  als  jetzt  geschieht,  so 
würde  ihr  Werth  steigen;  aber  es  kann  nicht 
viel  nützen,  wenn  man  erst  24  Stunden  oder 
noeb  später  erfährt,  was  anderwärts  für  Wetter 
gewesen  ist  Anwendern  fehlt  es  auch  noch  an 
fester  Grundlage  für  eine  vertrauenswerthe 
Wetterprognose,  von  der  namentlich  die  Land* 
wirthschaft  Vortheil  haben  soUL 

Dieser  Schwierigkeiten  scheint  sioh  die  Di- 
rection der  Seewarte  auch  voll  bewußt  s»  saust 
und  sie  spricht  ans,  daß  sie  nur  mit  gtöftter 
Vorsicht  auf  dem  Wege  der  Prognose  wrgettiit 
werde.  Das  Volk  drängt  nach  eiaer  soloh&n,  in 
Leipzig  ist  1878  zu  diesem  Zwecks,  ein.  meteo- 
rologi8cber  Dienst  eingerichtet  worden ,  im  preu» 
ßischen  Abgeordnetenbausa:  ist:  tqu  einigen  Wer* 
chen  die  Sache  ebenfalls  vH&dec  in  AaregMfi 
gebracht ;  aber  man  wird  siek  mit  <tor  KealisKh 
rung  dieser  Wünsche  noch  gwluldßa  mflsfö*  lifo 
dafür  eine  bessere  wtssemiohafrti&he  Baris  ge* 
schaffen  ist,  als  bisher. 

Aus  dem  Thätigkeitsbereich  der  IV«  Abthfti-. 
lung  verdienen  die  OoncurreinzrPcüfongen  dar 
Chronometer  Erwähnung.  Die  Anregung  zu  di#r 
ser  Einrichtung  ging  vom  Hamburger  Sfenata 
aus,  um  sowohl  der  einheimiaohen  gegen  andi)% 
Länder  zurückstehenden  Chron*tteterfabrik&ki<w 
einen  Aufschwung  zu  verleihen,  als.  auch  dem 
nautischen  Publicum  Gelegenheit  zä  bieten  gufa 
und  durch  eine  competent^  Bsfcitofo  geprüfte 
Schiffsuhren  zu  erwerben.  Diesa  Prüfungen»  hafc 
ten  bis  1878  zweimal  stattgefunden  rodi  4i^  Re- 
sultate den  gehegten  Erwartungen  wtt  ontepror 
eben.  Zugelassen  wurde  nur.  Dentsobeß  uod 
Schweizer  Fabrikat.  Im  ersten  Jahre  hetheiüg- 
ten  sich  9  Deutsche  und  3  Sek  weiser  llbirmMber 


Aus  dem  Arckif  der  Deuttfchen  Seewarte.    I.      8S 

ndt  34,  im  zweiten  12  Deutecke  und  3  Schwei- 
zer mit  51  Ghronometeiro.  Jene  ergab  62,  diese 
Wf0  brauchbare  Uhren.  Aue  der  ersten  Liefe* 
mng  wurden  durch  Vermittehtng  der  Seewarte 
19,  ans  der  zweiten  16  Chronometer  big  1878 
verkauft. 

Bei  den  Prtfifttngen  werden  die  letztern  bis 
zur  Dauer  von  180  Tagen  einer  verschiedenen 
Temperatur  von  +  5  bis  +  30  Centigraden  aus- 
gesetzt «nd  in  Bezug  auf  ihre  Compensation  so- 
wie auf  gleichmäßige  Schwingungszeiten  der 
Unruhe  eingehend  untersucht.  Lassen  einzelne 
Fabrikanten  ihre  Instrumente  prüfen,  so  dauert 
dies  4  Monate,  und  für  Chronometer  von  Han- 
dßlötetttffen  ist  diese  Zeit  noeh  kürzer  und  rich- 
tet sieh  nach  dea  Umständen. 

Ueker  die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  der 
erste*  Comonereaaprflfung  enthält  der  zweite 
Abschnitt  des  Baehes  eine  Abhahdlung  von  Dr. 
Bflmker,.  Votstand  der  IV.  Abtheilung  und  zu- 
gleich Director  der  Hamburger  Sternwarte.  Eine 
tabellarische  Grappenanordnung  läßt  ersehen, 
wie  riefe  die  eingelieferten  Chronometer  hinsicht- 
lich ihres  Gange»  bei  den  verschiedenen  Tem- 
peraturen zu  einander  verhalten  haben.  Die 
wissenschaftlichem  Erörterungen  beschäftigen  sich 
hauptsächlich  mit  den  aus  der  Compensation 
entstehenden  Fehlerquellen  und  stützen  sich  auf 
(he  betreff eoden  Untersuchungen  des  Astronomen 
der  Pariser  Sternwarte  Villarceau,  einer  Autori- 
tät auf  diesem  Gebiete  und  Verfasser  der  „Re- 
cherche» sar  le  mouvement  et  la  compensation 
des  chronom&tres". 

Als  Verfertiger  der  besten  und  von  der  See- 
warte mit  dem  Prädicat  „vorzüglich"  ausgezeich- 
neten Chronometer  hat  sich  Bröcking  in  Ham- 
burg gezeigt.  Ihm  am  nächsten  stehen  Ehrlich 
in  Bremerhaven  und  Kritter  in  Stuttgart. 

6* 


84  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

Die  andere  Monographie  des  zweiten  Ab- 
schnittes rührt  von  Capitain  Fellberg  her  und 
behandelt  die  „Außerperiodischen  monatlichen 
Schwankungen  des  Barometers".  Sie  enthält  in 
tabellarischer  Form  and  von  zwei  Karten  glei- 
cher Barometerschwankungen  begleitet  die  be- 
züglichen Beobachtungen  von  330  über  den  gan- 
zen Erdkreis  verbreiteten  Orten.  Die  Arbeit  ist 
das  Resultat  mühevoller  und  sorgsamer  Studien, 
hat  für  Meteorologen  von  Fach  anch  gewiß 
Werth,  ist  jedoch  für  das  Laienpublicum  von 
geringerem  Interesse. 

Die  obige  kurze  Skizzierung  des  umfang- 
reichen Werkes  zeigt,  wie  ausgebreitet  das  For- 
schungs-  und  Arbeitsfeld  der  deutschen  Seewarte 
ist,  wie  viel  sie  trotz  der  kurzen  Zeit  ihres  Be- 
stehens zum  Nutzen  der  Wissenschaft  und  der 
Volkswirtschaft  geleistet  hat  und  wie  sich  diese 
Leistungen  dufch  zweckmäßige  Organisation 
und  unter  Leitung  eines  so  hervorragenden  Man- 
nes wie  Dr.  Neumayer  stetig  steigern. 

Die  Seeschifffahrt  genießt  durch  sie  bereits 
sehr  große  Yortheile.  Gelingt  es  in  absehbarer 
Zeit,  auch  die  allgemeine  Wetterprognose  zu 
vervollkommnen,  so  daß  die  Landwirtschaft  ähn- 
lichen Nutzen  daraus  ziehen  kann,  wie  sie  die 
Sturmwarnungen  und  der  Standpunkt  der  mari- 
timen Meteorologie  der  Schifffahrt  schon  jetzt 
gewähren,  so  wird  das  Wirken  der  Seewarte 
für  ganz  Deutschland  ein  höchst  segensreiches 
werden. 

Wiesbaden.  R.  Werner. 


Löning,  Reinigungseid  bei  Ungerichtsklagen.        85 

Der  Reinigungseid  bei  Ungerichtskla- 
gen im  deutschen  Mittelalter.  Festgabe 
zu  Bluntschli's  ÖOjährigem  Doktorjubiläum.  Von  Ri- 
chard Löning.  Heidelberg,  Winter  1880.  XV 
u.  316  SS.    8°. 

Im  diametralen  Gegensatze  zur  herrschenden 
Ansicht  stellt  der  Verf.  als  Prinzip  des 
detitschen  Beweisrechtes  bei  Unge- 
richtsklagen folgende  Sätze  auf  (vgl.  S. 
12  f.): 

„Leugnet  der  Beklagte  die  ihm  zur  Last  ge- 
legte Strafthat,  so  ist  es  in  erster  Linie  Sache 
des  Klägers,  den  thatsäehlichen  Grund  seiner 
Klage,  d.  h.  die  Begehung  des  Ungerichts  oder 
des  Frevels  seitens  des  Beklagten,  durch  rechts- 
genügende  objektive  Gründe  zu  bewahrheiten ; 
unterläßt  es  aber  der  Kläger,  gleichviel  aus 
welcher  Ursache,  in  dieser  Weise  den  Klagebe- 
weis zu  führen,  so  ist  es  an  dem  Beklagten, 
durch  alleinigen  oder  mit  Eidhelfern  verstärkten 
Eid,  also  durch  subjektive  Bekräftigung, 
die  Beschuldigung  zurückzuweisen,  m.  a.  W. 
sich  eidlich  zu  reinigen.  —  Der  Reini- 
gungseid bei  Ungerichtsklagen  findet  hiernach 
Anwendung  bei  sog.  negativer  Litiskontestation 
des  Beklagten ;  es  kommt  ihm  aber  dabei  grund- 
sätzlich kein  prinzipaler,  sondern  ein  sub- 
sidiärer Charakter  zu;  sein  Anwendungs- 
gebiet ist  beschränkt  auf  die  Fälle 
des  mangelnden  Klagebeweises". 

Nachdem  die  These  gestellt  und  ihr  Gegen- 
satz zu  der  bisherigen  Auffassung  —  die  zuletzt 
in  den  Arbeiten  von  Planck  und  v.  Kries 
Ausdruck  gefunden  hat  —  in  das  gehörige  Licht 
gesetzt  worden,  widmet  der  Verf.  einen  beson- 
deren Abschnitt  (S.  15 — 75)  der  näheren  Be- 
sprechung derjenigen  Voraussetzungen, 
durch  deren  Gegebensein    das   klage- 


86  Gott.  gel.  Anz.  1881.  ßtdck  3. 

rische  Beweisrecbt  bedingt  ist:  recht- 
zeitige Klagerhebang ;  rechtzeitiges  Erbieten 
znm  Beweis;  Berufung  auf  im  Gesetze  als  be- 
weistüchtig anerkannte  Beweismittel;  eventuell 
Bescheinigung  der  für  die  Beweiskraft  der  be- 
treffenden Beweismittel  gesetalich  maßgebenden 
Umstände. 

Damit  ist  der  Boden  geebnet;  der  Verf. 
kann  daran  gehen ,  den  quellenmäßigen  Nach- 
weis für  die  Richtigkeit  seiner  These  zu  führe*. 
Abschnitt  III  (S.  98—237)  des  Buches  enthält 
die  positiven  Belege  für  die  subsidiäre  Natur 
des  Reinigungseides;  in  Abschnitt  IV  (8.  241— 
269)  werden  die  dieser  Auffassung  „scheinbar 
entgegenstehenden a  Quellenstellen  besprochen 
und  mit  der  Ansicht  des  Verf.  in  Einklang  gebracht. 

Durch  die  beiden  letzten  Abschnitte  (Wirkung 
und  Beweiskraft  des  Reinigungseides ;  Recht 
und  Pflicht  zum  Beinigungseid)  soll  die  von  dem 
Verf.  auf  Grund  des  Quellenmateriales  versuchte 
Konstruktion  in  sich  gefestigt  und  der  herrschen- 
den Ansicht  gegenüber  gerechtfertigt  werden.  — 

Das  Gesammturtbeil  über  das  Buch  sei 
vorangeschickt:  Der  Verfasser  hat  sich  auch 
diesmal  wieder  als  Rechtshistoriker  ersten  Ran- 
ges bekundet.  Musterhafter  Fleiß  in  der  Samm- 
lung und  Sichtung  des  Materiales  und  seltenes 
Geschick  in  der  Verwerthung  desselben;  schar- 
fer Blick  für  die  Erkenntnis  der  großen,  die 
Rechtsbildung  als  treibende  Kräfte  bestimmenden 
Prinzipien,  verbunden  mit  dem  liebevollsten  Ein- 
gehen auf  die  Details  der  Entwicklung;  Klar- 
heit und  Eleganz  der  Darstellung  —  das  sind 
Eigenschaften,  die  Löning  nicht  erst  zu  beweisen 
brauchte,  die  er  aber  in  seinem  „Reinigimgseide" 
neuerdings  auf  das  glänzendste   bewiesen  hat. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Resultaten  des  Bu- 


Löning,  Bfetoigungseid  bei  Ungerichtsklagen.       87 

•tefe,  frb  «obfcint  mir  «of  Grund  der  schlagenden 
NMhwefeiliigm  des  Verf.  festzustehen : 

1.  Ss  ifct  ««rifcbtigt  wenn  die  herrsehende 
Ansicht  in  dem  klägerieehen  Beweisrechte  einte 
fiingbl&rität  gfegettiber  ded  Grundgedanken 
ikte  dmtsöhen  Beweftrechtes,  eine  Abweichung 
▼on  dmselbet  Erblickt.  Diese  Ansicht  kanh 
gegefctber  den  zahlreich  vom  Verf.  beigebrachten 
Qüellenstellen,  WeUhe  das  Beweisrecht  des  Klä- 
gerb  anerkennen,  nicht  länger  gehalten  werden. 

2.  Es  ist  ifasbebondere  falsch,  wenn  die 
htorneftfendfc  Ansteht  jene  Bestimmungen,  in  wel- 
chen der  Kläger  zum  Beweise  zugelassen  und 
datait  das  Gebiet  deb  Reinigungseides  beschränkt 
wird,  als  die  Keime  einer  neuen,  auf  fremde 
Anschauungen  zurückzuführenden,  Beweistheorie 
beseichiiet ;  wenn  sitt  z.  B.  in  dtem  Wegfalle  der 
im  tistsädbsischen  Bechte  verlangten  Voraus* 
Setzungen  des  Zeugenbeweises  (handhafte  That 
u.  s.  w.)  eifefe  Umgestaltung  des  altdeutschen 
Beweisprinzipes,  eine  Vorbereitung  für  die  Re- 
ception der  fremden  Bechte  erblickt.  Auch  nach 
dieser  Richtung  hin  scheinen  mir  die  Ausführun- 
gen des  Verfi  (vgl.  ifasbes.  S.  243  ff.)  abschlie- 
ßend zu  seim 

3.  Und  dafäus  folgt  die  Unmöglichkeit,  den 
Rehrigüngsekl  des  Beklagten  auch  fernerhin 
prinzipiell  als  das  fiauptbeweismittel ,  als 
den  Kern,  dta  Ausgangspunkt  und  die  Grund- 
lage des  deutschen  Beweissystems  aufzufassen. 

Soweit  tatisse*  wir  den  Ausführungen  Lö- 
ning's  fltibediügt  beistimmen.  Ist  damit  diä 
These  von  dem  prinzipalen  Charakter  des  klage* 
tischen  Beweises,  von  der  subsidiären  Natur 
des  Beinigdngseides  bewiesen?  Ich  glaube 
nicht  Löniag  begeht  vielmehr  m.  E.  genau 
denselben  Fehler,  den  die  herrschende  Ansicht 
higher  begangen!  freilich  nach  entgegengesetz- 


88  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

ter  Richtung.  Wenn  diese  von  der  schlichten 
Klage  und  dem  damit  verbundenen  Reinigungs- 
rechte  des  Beklagten  ausgeht  und  die  verstärkte 
Klage  mit  dem  klägerischen  Beweisrechte  erst 
in  zweiter  Linie  berücksichtigt,  so  ist  fürLöning 
die  verstärkte  Klage  das  Prinzipale,  die  schlichte 
das  Sekundäre.  Freilich  drückt  L.  sich  vor- 
sichtiger aus  als  seine  Gegner:  er  spricht  von 
der  subsidiären  Natur  des  Reinigungseides, 
während  diese  den  exzeptionellen  Charakter 
des  klägerischen  Beweisrechtes  betonen.  Aber  — 
ich  komme  darauf  noch  zurück  —  die  Vorsicht 
liegt  mehr  im  Ausdrucke  als  in  der  Auffassung. 
Die  Quellen  geben  der  herrschenden  An- 
sicht ebensoviel  und  ebensowenig  Recht  wie 
dem  Verf.;  sie  beweisen  weder  für  noch  gegen 
die  subsidiäre  Natur  des  Reinigungseides,  son- 
dern sprechen  sich  über  die  prinzipiellen  Grund- 
lagen des  deutschen  Beweisrechtes  überhaupt 
nicht  aus.  Man  vgl.  z.  B.,  was  Löning  gegen 
die  Schlußfolgerungen  sagt,  die  man  bisher  aus 
der  Wendung  der  lex  Ribuaria  „aut  si  negave- 
rit,  juret"  gezogen  hat:  „In  den  betreffenden 
Stellen  soll  überhaupt  nicht  das  Beweisrecht  in 
umfassender  Weise  und  ex  professo  geregelt,  es 
soll  kein  Prinzip  über  Beweismittel  und  Beweis- 
vertheilung  darin  aufgestellt  werden;  dieselben 
wollen  vielmehr  .  .  .  nur  diejenigen  rechtlichen 
Folgen  aufführen,  welche  aus  der  Begehung 
eines  Verbrechens  ...  für  den  angeblichen  Thä- 
ter,  den  Beklagten  hervorgehen"  (S.  107  ff.). 
Passen  diese  Bemerkungen  nicht  wörtlich  auf 
jene  Schlußfolgerungen,  die  der  Verf.  (S.  99) 
aus  der  abweichenden  Fassung  der  lex  Salica: 
„si  ei  adprobatum  fuerit"  zu  ziehen  sich  be- 
rechtigt glaubt?  Und  was  Löning  S.  263  an- 
führt, um  die  „scheinbar"  gegen  seine  Ansicht 
sprechenden   Quellenstellen  zu  entkräften,  daß 


Löning,  Reinigungseid  bei  üngerichtsklagen.       89 

sie  eben  keine  prinzipielle  Entscheidung  d4r 
Frage  enthalten,  gilt,  gerade  weil  es  so  durch- 
aus richtig  ist,  ganz  ebenso  für  diejenigen  Stel- 
len, anf  welche  L.  seine  Ansicht  stützt.  Bei 
„res  probata,  vera  probatio,  certa  Veritas"  n.  s.  w. 
klägerischer  Beweis;  bei  „suspectio,  dubie- 
tastt  (wenn  „ad  praesens  probari  non  potest**), 
bei  „Leumund,  Inzichttf  n.  s.  w.  Reinigungseid 
des  Beklagten  (wenigstens  nach  Wegfall  des 
Zweikampfes):  das  und  nicht  mehr  sagen  die 
Quellen.  Und  daraus  folgt  weder  die  prinzipale 
Stellung  des  Reinigungseides  noch  auch  seine 
Subsidiarität. 

Daß  auch  ein  faktisches  Ueberwiegen 
des  klägerischen  Beweises  nicht  behauptet  wer- 
den kann,  giebt  L.  selbst  wiederholt  zu.  Man 
vgl.  SS.  53,  251,  278;  insbes.  S.  295:  das  klä- 
gerische Beweisrecht  ist  „thatsächlich  sehr  ein- 
geschränkt, und  seine  praktische  Verwerthung 
durch  zufallige  äußere  Hindernisse  gar  leicht 
ausgeschlossen a.  „Es  ist  klar,  daß  durch  ein 
solches  Beweissystem  dem  Kläger  die  Verfolgung 
seiner  Rechte  sehr  erschwert  ist  u.  s.  w.u. 

Aber  haben  wir  denn  überhaupt  Veranlas- 
sung, nach  einem  solchen,  sei  es  prinzipiellen, 
sei  es  faktischen  Ueberwiegen  des  Klagebewei- 
ses über  den  Reinigungseid  oder  umgekehrt  zn 
suchen?  Legt  es  denn  die  immerwiederkehrende 
Duplizität  von  schlichter  und  verstärkter  Klage 
nicht  nahe,  diese  Duplizität  als  solche 
zu  nehmen,  beide  Klagen  als  gleichbe- 
rechtigte Glieder  im  Systeme  des  deutschen 
Prozesses  und  die  ihnen  entsprechenden  Gestal- 
tungen des  Beweisrechtes  als  gleichwertige, 
einander  parallellaufende  Erscheinungen 
zu  betrachten? 

Diese  Auffassung  steht  nicht  nur  mit  den 
Quellen  im  Einklänge,  sie  hat  noch  ein  weiteres 


90  Gott.  geL  Adz.  1681,  Stüek  3. 

Argument  für  sich.  LSning  selbst  betont  den 
Gegensatz  zwischen  offenen  and  nicht- 
offenen  Verbrechen,  zwischen  der  kundlt- 
chfcn,  handhaften  That  und  den  Inzichts*  ode* 
Lenmundsfällen  (vgl.  insbee.  Abschnitt  III  Note 
140  mit  der  Polemik  gegen  das  Mißverständnis 
bei  Zöpfl  and  Brtinnenmeister).  In  diesem  Ge- 
gensatze liegt  m.  £.  der  Schlüssel  zur  Lösung 
des  Problems.  Er  durchsieht  nicht  nur  das 
ganze  deutsche  Strafrecht;  er  gehört  vielmehr 
sogar  der  kleinen  Gruppe  von  nachweisbaren 
indogermanischen  Rechtsanschauungen  an.  Er 
äußert  seine  Wirkung  im  materiellen  Strafrechte 
(man  denke  an  das  Tötungsrecht,  das  Recht 
zur  Festnahme  u.  s.  w.),  und  bestimmt  die  pro- 
aeßuale  Stellung  des  Beklagten.  Verstärkte  und 
sehlichte  Klage  sind  der  Ausdruck  dieses  Grund- 
satzes; und  das  Gleiche  gilt  von  der  in  beiden 
Klagen  verschiedenen  Stellung  der  Parteien  zum 
Beweise.  So  wenig  es  nun  angienge,  wollte 
jemand  die  offenen  Verbrechen  als  prinzipale, 
die  nichtoffenen  als  subsidiäre  hinstellen,  gerade 
so  wenig  geht  es  an,  die  verstärkte  Klage  gegen- 
über der  schlichten,  oder  das  klägerische  Beweis- 
recht gegenüber  dem  Bechte  des  Beklagten  auf 
den  Reinigungseid  als  das  prinzipale  zu  bezeich- 
nen oder  umgekehrt.  Offenes  Verbrechen,  ver- 
stärkte Klage,  Nähersein  des  Klägers  einerseits ; 
nichtoffenes  Verbrechen,  schlichte  Klage,  Näher- 
sein des  Beklagten  zum  Beweise  andrerseits  lau- 
fen gleichberechtigt  und  gleichwertig  neben- 
einander her.  Daß  der  Begriff  der  offenen  That 
und  ihr  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Prozesses 
im  Einzelnen  wechselt  nach  Volk  oder  Stamm 
mnd  sieh  entwickelt  im  Laufe  der  Jahrhunderte, 
ist  ein  Beweis  nicht  gegen,  sondern  für  die  hi- 
storische Richtigkeit  dieser  Auffassung. 

Wie  sehr  selbst  Löning's  Schartblick  durch 


Löning,  Beimgiutgseid  bei  Ungeriektsklagen.       91 

die  einmal  gefaßte  Ansicht  getrübt  werden 
konnte,  scheint  mir  am  schlagendsten  ans  fol- 
gendem hervorzugehen.  Zn  den  schönsten  Par- 
tien des  Baches  gehören  die  feinsinnigen  Be- 
merkungen über  die  Natur  des  Zweikamp  fee 
(S.  47  ff.,  76  ff.)  mit  dem  wie  ich  glaube  durch- 
aus gelungenen  Nachweise,  daft  sein  Zweck  „die 
Erkenntnis  der  materiellen  historischen  Wahr- 
heit der  behaupteten  Klagthatsaehen"  gewesen, 
daß  er  Beweismittel  im  eigentlichen  Sinne,  dal 
er  objektiver  Natur  sei.  Und  von  dem  Par- 
teieneide soll  das  Gegentheil  gelten;  er  soll 
nur  Bekräftigung  der  Parteibehauptungen,  sub» 
jektive  parteiliche  Willensäußerung  sein!  Und 
warum  nicht  wie  der  Zweikampf  Beweismittel 
von  „objektiver"  Natur?  Die  „mehr  naturali- 
stische Idee  von  der  Einheit  der  physischen  und 
moralischen  Kräfte  im  Menschen" ,  die  nach  Lö- 
ning's  geistvoller  Bemerkung  (S.  54)  die  Stel- 
lung des  Zweikampfes  im  deutschen  Prosesse 
bestimmt,  ist  für  die  Auffassung  und  Bedeutung 
des  Parteieneides  im  mittelalterlich  deutsehen 
Rechte  ebenso  maßgebend  gewesen;  oder  steht 
vielleicht  die  Annahme  im  Widerspruche  mit 
den  Anschauungen  jener  Zeit,  daß  der  Lügner, 
der  die  Hand  zum  Schwüre  hebt,  sie  sinken 
lassen  werde,  ehe  die  frevelnden  Worte  gespro- 
chen, wie  die  Hand  desjenigen  erlahmt,  der  ge- 
gen die  Wahrheit  in  die  Schranken  tritt;  daß 
dort  das  Vollbringen  wie  beim  Zweikampf  den 
Sieg  „nicht  das  Wollen,  sondern  das  Können 
verschafft"  ?  Mit  der  schroffen  Betonung  dieses 
angeblichen  Gegensatzes  zwischen  dem  Parteien- 
eid und  den  „objektiven"  Beweismitteln  hat  aber 
Löning  gleichzeitig  den  Fehler  begangen,  den 
er  der  herrschenden  Ansicht  vorwirft:  wie  diese 
den  Klagebeweis,  so  hat  er  den  Reinigungseid 
„ad  separatum  verwiesen"  (S.  7),  er  hat  ihm 


92  •   Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

nicht  subsidiäre,  sondern  singulare  Stellung  ge- 
geben. Und  damit  ist  eine  richtige  und  ein- 
heitliche Auffassung  des  Reinigungseides  geradezu 
unmöglich  geworden.  Der  Reinignngseid  ist  bei 
Löning : 

1.  Negation  der  Klagthatisachen,  also  „sub- 
jektive parteiliche  Willensäußerung";  daß  die 
Negation  in  feierlicher  Weise  bekräftigt  wird, 
.verändert  diesen  ihren  Charakter  „nicht  wesent- 
lich« (S.  273). 

2.  Er  ist  ferner  „psychologischer  Zwang  zur 
Ablegung  eines  der  Wahrheit  entsprechenden 
Geständnisses",  ein  medium  eruendi  veritatem 
(S.  297,  298),  „er  hat  insofern  einen  inquisitori- 
schen Charakter"  (!). 

3.  Er  erfüllt  gleichzeitig  die  Funktionen  des 
römischen  juram.  voluntarium  (S.  275),  „doch 
hat  diese  Auffassung  im  deutschen  Rechte  keine 
weitere  Ausbildung  erfahren". 

4.  Nicht  genug  damit.  Der  Reinigungseid 
entspricht  außerdem  noch  dem  römischen  juram. 
necessarium  (S.  280),  er  „vereinigt  in  sich  .  .  . 
die  beiden  Funktionen  des  römisch-rechtlichen 
Beweiseides"  (S.  282). 

Und  all'  das,  um  die  subsidiäre  Natur  des 
Reinigungseides  zu  retten!  Ist  das  Resultat  um 
den  Preis  einer  solchen  Vermengung  der  Begriffe 
nicht  zu  theuer  erkauft?  Da  scheint  es  mir  doch 
—  relativ  —  geringere  Willkür,  wenn  die  herr- 
schende Ansicht,  davon  ausgehend,  daß  trotz 
mangelnden  Elagebeweises  der  Angeschuldigte 
verurtheilt  werden  kann,  gerade  in  diesem  Um- 
stände das  charakteristische  Merkmal  des  deut- 
schen Beweisrechtes  erblickt ;  wenn  sie  den  Reini- 
gungseid nicht  nur  mit  Löning  (S.  278)  als  „Grund- 
pfeiler der  deutschen  Freiheit",  als  „ein  Grundrecht 
der  Deutschen",  sondern  auch  als  Grundpfeiler 
des    Beweisrechtes  auffaßt,    dessen  Gestaltung 


Löning,  Reinigungseid  bei  Uligerichtsklagen.       93 

immer  bedingt  ist  durch  die  allgemeine  Stel- 
lung des  Individuums  zur  Gesammtheit.  — 

Diesen  Bemerkungen  gegenüber  erinnere  ich 
nochmals  an  das  schon  oben  ausgesprochene  Ur- 
theil  über  Werth  und  Bedeutung  des  Löning'- 
schen  Buches.  Daß  der  richtige  Grundgedanke 
tiberspannt  worden,  schmälert  das  bleibende 
Verdienst  desjenigen  nicht,  der  ihn  gedacht  und 
nutzbar  gemacht.  Löning's  Schrift  bleibt  eine 
Festgabe  nicht  nur  für  Bluntschü,  sondern  für 
die  deutsche  Wissenschaft,  auch  ohne  die  „sub- 
sidiäre" Natur  des  Reinigungseides.  Sie  hat 
einen  großen  Irrthum  berichtigt,  und  daß  sie 
dabei  einen  kleinen  begangen,  wird  schon  durch 
die  Fülle  der  werthvollsten  Detailausführungen, 
durch  den  Reichthum  an  geistvollen  Einzelbe- 
merkungen mehr  als  aufgewogen.  Somit  bleibt 
das  Verdienst,  jene  Wahrheit  gefunden  zu  haben, 
als  reiner  Ueberschuß.  Und  das  sei  nochmals 
ausdrücklich  betont. 

Gießen  Ende  Oktob.  80.  v.  Liszt 


Gesammelte  kleine  Schriften  von  H.  Stein« 
thai.  I.  Sprachwissenschaftliche  Abhandlungen  und 
Becensionen.  Berlin,  Ferd.  Dümmlers  Verlagsbuch- 
handlung.   1880.    VI  und  450  S.    8°. 

Die  neunundzwanzig  Arbeiten,  welche  Herr 
Steinthal  in  diesem  Bande  vereinigt  hat  und  als 
„Arbeiten  der  früheren  Jahrzehnte"  bezeichnet, 
stammen  zum  größeren  Theil  aus  der  von  ihm 
und  Herrn  Lazarus  herausgegebenen  Zeitschrift 
fllr  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft, 
welche  im  J.  1860  begründet  und,  soviel  ich 
weiß,  nicht  vergriffen  ist;  nur  sechs  jener  Ar- 
beiten —  Heyses  Lehrbuch  der  deutschen 
Sprache  (Hallische  allgemeine  Litteratur-Zeitung), 
üeber  die  Sprache  der  Taubstummen  (Deut- 
sches Museum   von  Prutz   und  Wolfsohn),  Zur 


94  Gott,  get.  Ans.  1881.  Stock  3. 

Spracbpbilosophie  (Zeitschrift  für  Philosophie 
und  philosophische  Kriti^  von  Ulrici),  Von  de* 
liebe  zur  Muttersprache  (Berthold  Auerbachs 
Kalender),  Die  Lehre  you  den  Redetheilen  bei 
den  Alten  (Zeitschrift  für  die  östeir.  Gymnasien), 
Die  Geneva  des  Keinen  (Kahns  Beiträge)  — 
sind  anderswo  erschienen.  Eine  Andeutung 
über  den  Zweck  dieser  Sammlung  vermissen 
wir,  obgleich  eine  solche  mit  Rücksicht  auf  den 
eben  vorgelegten  Thatbesfand  und  darauf,  daß 
das.  in  den  vorliegenden  Band  aufgenommene 
im  wesentlichen  unverändert  geblieben  ist,  nicht 
ahne  Interesse  gewesen  wäre.  Vielleicht  erbat 
ten  wir  darüber  in  dem  in  Aussicht  gestellten 
^weitem  Bande  Aufschloß,  in  dem  „die  Artikel, 
wekhe  zur  Mythologie,  wir  Litteratur-Geschichte 
und  zuv  allgemeinen  Philosophie  gehören,  fol- 
gen sollen". 

loh  bin  nicht  in  der  Lage,  mich  mit  den  in 
diesem  Bande  enthaltenen,  zum  Theil  bedeutsa- 
men und  interessanten  Arbeiten  hier  eingehend 
beschäftigen  zu  können;  ich  muß  mich  vielmehr 
darauf  beschränken ,  zu  einer  derselben  einiges 
zu  bemerken,  spreche  aber  vorher  noch  mein 
Bedauern  darüber  aus,  daft  mehrere  der  Ab- 
handlungen, mit  denen  wir  es  hier  zu  thun  ha- 
ben, vor  ihrem  Neudruck  nicht  mit  Bücksicht 
auf  neuere  sprachwissenschaftliche  Untersuchun- 
gen und  Ergebnisse  durchgearbeitet  sind.  Sa 
wie  sie  in  diesem  Bande  stehen,  halte  ich  sie 
fllr  etwas  antiquiert. 

„Doppelung  ist  so  wenig  Wiederholung  wie 
Zusammensetzung",  „die  Doppelung  seheint  mir 
durchaus  onomatopoetischer  oder  pathognomic 
seher  Natnr,  als  aus  der  Subjectivität  hervor- 
gehend" sagt  Herr  Steinthal  SS.  352,  353.  Ich 
vermisse  einen  Beweis  für  diese  Sätze,  welche 
ich  einstweilen    für  mindestens  unsicher  halle* 


Steinthal ,  Gesammelte  kleine  Schriften.   I.        96 

Yetgfokfo  ich  Ik.  degie  Aiga  „es  bremit  hell 
auf  oder  die  hiervon  nur  syntaktisch  verschie* 
denen  grieoh.  Wendungen  pctviag  pottvee&m 
„graviter  insaniretf,  }$qw  fy&tv  „meras  nugan 
loqui"  mit  z.  &  ved.  namnemtti  „sie  neigt  sich 
tief",  so  scheint  mir  der  einzige  wesentliche 
Unterschied  zwischen  dieser  und  jenen  Bildun- 
gen ein  seitlicher  ea  «ein  and  »war  wähl  der*)*, 
daft  die  letzteren  in  ftexivisob  ausgebildetem 
Sprachen  entstanden  sind,  ndmnamtÜ  aber  sei* 
nem  Ursprünge  nach  einer  Zeit  angehört,  in 
welcher  die  Flexioa  noch  nickt  ausgebildet  war, 
und  in  der  die  Stimme  —  welche  dapnafe 
gleichzeitig  nominale  und  verbale  Gültigkeit, 
hatten  ~  noch  eine*  selbständige  Stellung  ein* 
nahmen.  Ist  diese  Auffassung,  nach  welcher 
nam*  in  närnnarmti  auf  einer  Stufe  mit  d*gtiY 
Ifao*  i°  ä*g&  ^9<h  tffy  IfjQet*  steht,  richtig 
oder  aueh  nur  möglieh,  so  ist  zunächst  der 
zweite  der  oben  angeführten  Sätze  zu  beanstasb» 
den  —  man  mußte  sonst  auch  in  degte  dagar 
IfjQou  IqQtfv  etwas  onomatopoetisches  oder'  pa»- 
thognomisches  sehen. 

Wendungen  wie  degte  dega  u.  s.  w.  drücken 
nicht  nur  Intensivität  der  Handlung  aus,  son* 
dem  haben  auch  andere  Bedeutungen ;  ich 
hebe  beispielsweise  hervor  lit.  läpai  hriste  krifa 
nü  rneddiu  „die  Blätter  fielen  in  einem  zu  von 
den  Bäumen",  jls  verkte  rods  neverke  cde  didei 
dusdvo  „er  weinte  zwar  nicht,  aber  er  seufzte 
8ehrtf  (vgl.  Kurschat  Gram.  §.  1490),  russ. 
rugatb-to  my  ego  rugaemb,  a  tohko  ego  mnSnietm 
i  dorozirm  (Turgenjeff)  „wir  schimpfen  freilich, 
auf  ihn,  aber  wir  schätzen  doch  seine  Meinung". 

*)  Mit  Bestimmtheit  läßt  sich  dies  nicht  behaupten^ 
denn  die  Möglichkeit  ist  zuzugeben,  daß  die  Reduplica* 
tionsailben  der  Intensiv*  auf  volleren,  mit  Flexionsendun- 
gen versehenen  Formen  beruhen. 


96  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  3. 

Demnach  ist  es  nichts  weniger  als  undenkbar, 
daß  solche  Verbindungen  oder  ältere,  ihnen 
gleichartige  den  Ausgangspunkt  auch  anderer 
Reduplicationen,  speciell  der  der  Perfecta,  Fre- 
quentativa  und  Desiderativa  gebildet  haben. 
Doch  sind  dabei  die  schon  öfters  betonten  Be- 
rührungen zwischen  Intensiv-  und  Perfectbil- 
dung  zu  berücksichtigen*)  (vgl.  A.  Ludwig,  Der 
Infinitiv  im  Yeda  S.  120),  und  ferne^  ist  zu  be- 
achten, daß  den  reduplicierten  Frequentativen 
Verbindungen  wie  skr.  päcatipacati  „er  kocht 
in  einem  fort",  russ.  dolbih-dolbih  „er  pickte 
und  pickte"  zur  Seite  stehen.  Ihnen  gegenüber 
kann  man  skr.  carcartti  „er  bewegt  sich  wie* 
derholt"  auf  eine  Stufe  mit  gr.  xaloxdya&dg, 
dtaQtfjQotg  inieaaw,  Göthes  „in  der  klein-  und 
großen  Welt"  (K.  Zs.  9.  42)  stellen,  in  welchen 
das  Flexionssuffix  des  ersten  von  zwei  eng  zu- 
sammengehörigen Wörtern  verstümmelt  oder 
weggefallen  ist,  weil  seine  Erhaltung  mit  Bück* 
sieht  auf  sein  Hervortreten  in  dem  zweiten  die- 
ser Wörter  überflüssig,  ja  unschön  erschien**). 
So  lange  solche  Möglichkeiten  nicht  wider- 
legt sind,  können  die  angeführten  Sätze  Stein- 
thals nicht  für  sicher  gelten* 

*)  £8  fragt  sich,  ob  nicht  auch  in  altind.  änrdhe, 
dnrgd,  änrhus  intensiv ische  Bildungen  zu  erkennen  sind, 
▼gl.  cahcüryate ,  pamphuliti,  Formen  die  »zum  Theil 
sicher  schon  proethnisch  waren c  (Brogman  Gart.  Stud. 
VH.  867). 

**)  Unter  diesem  Gesichtspunkt  ist  es  auch  zu  beur- 
theilen,  daß  Reduplicationssilben  nur  selten  die  vollen 
Formen  der  zu  Grunde  liegenden  Verbalthemen  zeigen 
und  meist  nur  eine  Andeutung  derselben  sind.  Dasselbe 
gilt  von  dem  umgekehrten  Fall. 

A.  Bezzenberger. 

Für  die  Redaction  rerantwortlich :  S.  Ethnisch,  Director  d.  GÖtt.  gel.  Ans. 

Verlag  der  Dieterich' schtn  Verlags-  Buchhandlung. 

Druck  der  Dieieiich'schen  Univ.-  Buckdruckerei  (W.  Fr.  Kaut**). 


r 


97 


G  öttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  4.  26.  Januar   1880. 


Auf  mehrfache  Anfrage. 

Es  wird  bei  den  Gott.  gel.  Anz.  als  selbst- 
verständlich betrachtet,  daß  wer  eine  Schrift 
dahier  bespricht,  dieselbe  nicht  auch  anderwärts, 
auch  nicht  'in  kürzerer  Form',  anzeigt. 

Inhalt :  V.  F 1  o  i  g  1 ,  Die  Chronologie  der  Bibel,  des  Manetho  nod 
Beroe.  F.  Bommel,  Abries  der  Babylon-Asayr.  und  Israelit.  Ge- 
schichte in  Tabellenform.  Ton  J.  Oppert  —  A.  de  Cenleneer, 
Essai  rar  la  vie  et  le  regne  de  Septime  Severe.  Ton  0.  J&rscItfeUL  — 
P.  deLagarde,  Ans  dem  deutschen  Gelehrtenleben.    Vom  Verf. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 

Die  Chronologie  der  Bibel,  des  Manetho 
und  Beros  von  Dr.  Victor  Floigl.  Leipzig. 
W.  Friedrich,  1880.    X,  286  S.    8°. 

Abriß  der  Babylonisch-Assyrischen  und 
Israelitischen  Geschichte  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  zur  Zerstörung  Babels  in  Tabellenform.  Zu- 
sammengestellt von  Fritz  Hommel.  Leipzig. 
Hinrichs,  1880.    20  S.    8°. 

Die  Schwierigkeiten,  mit  welchen  die  Er- 
grtmdung  der  altorientalischen  Zeitrechnung  zu 
kämpfen  hat,  erklären  zur  Genüge  die  große 
Zahl  der  Versuche,  die  zur  Lösung  dieser  Auf- 
gabe in  jüngster  Zeit  gemacht  worden  sind. 
Eine  räthselhafte  Frage  zu  beantworten,  und 
den  Schleier  der  ein  Geheimnis  deckt  zu  lüften, 
ist  geeignet  Manchen  anzuziehen :  wie  verführe- 


96  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

riscb  ist  nicht  der  Gedanke,  zuerst  dort  das 
Wahre  gefunden  zu  haben,  wo  alle  andern  Vor- 
gänger in  des  Irrthnms  Fhastenriß  umhertapp- 
ten? Verzeihlich  ist  es  daher,  daß  man  sich  in 
seinen  schwelgerischen  Vorspiegelungen  Täu- 
schungen bingiebt,  und  sich  ängstlich  folgender 
doch  gewiß  naheliegender  Fragen  entschlägt: 
Sind  wir  weiter  gekommen,  als  hundert  andere 
vor  uns,  oder  stehn  wir  nicht  vielmehr  Printer 
vielen  zurück  ?  Ist  es  wahrscheinlich,  daß  außer 
uns  noch  Andere  unsere  Ansicht  theilen  werden? 
Sind  wir  genugsam  durch  besondere  Studien 
vorbereitet,  um  über  gewisse  «Tbatsachen  zu 
entscheiden,  und  machen  wir  uns  von  der  wirk- 
lichen wissenschaftlichen  Sachlage  einen  Begriff? 

Es  thut  uns  leid,  es  ist  uns  im  zweiten 
Falle  sogar  peinlich,  diese  Fragen,  im  Namen 
der  Autoren,  verneinen  zu  müssen.  Wir  haben 
schon  in  St.  47  der  Gott.  gel.  Anz.  1880  manche 
hier  einschlägige  Fragen  behandelt,  und  verwei- 
sen daher  auf  diesen  Artikel,  den  wir  hier  im 
Einzelnen  noch  weiter  auszuführen  haben.  Die 
allgemeinen  Principien  über  das  Wesen  jener 
„nachgemachten"  Chronologie  braucht  Ref.  hier 
nicht  zu  wiederholen,  obgleich  gewisse  Dinge 
nicht  zu  oft  gesagt  werden  können. 

Es  ist  dasselbe  Gaukelspiel  mit  zurecht  ge- 
machten und  immer  stimmenden  Additions-  und 
Subtraktionsexempeln,  das  den  Hrn.  Dr.  Victor 
Floigl  zu  seiner  Arbeit  verleitet  hat.  Der  Au- 
tor ist  ein  klassisch  gebildeter  Mann,  der  mit 
Gelehrsamkeit  viele  Quellen  citiert,  auch  chro- 
nologische Werke  benutzt  hat.  In  unendlich 
langen  Absätzen,  von  denen  einige  acht  bis  zehn 
Seiten  einnehmen,  in  athemlosen  Phrasen  ent- 
wickelt der  Autor  seine  historisch-politischen 
Ansichten  über  Juda,  Israel,  Assyrien,  Babylon, 


Floigl,  Chronologie  der  Bibel,  dee  Manetho  u.  Beros.    99 

Medien,  Persien  und  Aegypten.  In  letzteren  ist 
manches  Wahre,  und  wir  hätten  auch  bei  sol- 
chen geschichtlichen  Auseinandersetzungen  wenig 
zu  beanstanden,  wenn  sie  nicht  alle  in  Rechen» 
exempeln  gipfelten.  Mit  Hülfe  derselben  enthu- 
siastisch vorgetragenen  Additionsaufgaben,  wo 
ganze  Seiten  hindurch  sich  viele  an  den  Leser 
und  an  den  Autor  gerichtete  Fragen,  Ausrufun- 
gen, Unterbrechungen,  Parenthesen,  Selbstan- 
griffe und  Selbstverteidigungen  finden,  aber 
wo  kein  einziger  Punkt  den  abgejagten  Leser 
erquiekt,  entwickelt  der  Verfasser  die  genauen 
Daten  auf  Monat  und  Tag,  die  Anfänge  jedes 
Jahres  (z.  B.  22.  Jahr  Uzia  jul.  20.  März  749, 
und  so  fort).  Er  weiß  sehr  genau,  was  für 
einen  Calender  die  Assyrer,  Juden  und  Aegyp- 
ter  benutzt  haben,  und  diese  begeistert  vor- 
getragene Berechnung  fußt  auf  dem  materiellen 
Irrthum,  daß  der  Anfang  der  Nabonassariscben 
Aera  am  Mittwoch,  dem  26,  Februar  747  v.  Chr. 
(9.  254)  mit  dem  Jsten  Nisan,  einem  Neumonde 
zusammengefallen  sei*).  Mit  Hülfe  solcher  Spie- 
gelfechtereien kommt  nun  schließlich  der  Autor 
zu  der  Ueberzeugung,  daß  Adam  3187  geschaf- 
fen wurde,  der  Exodus  aber  1137  vor  Chr. 
stattfand. 

So  errechnet  auch  der  Autor  das  Ergebniß, 
daß  die  beiden  ersten  Bücher  des  Manetho  je 
1000  Jahre  umfaßten,  und  daß  das  erste  mit 
dem  29.  October  3188  v.  Chr.  begann.  Die 
Rechnung  beruht  namentlich  darauf,  daß  Sothis 
und  Sethos  (Seti  I)  dasselbe  sein  sollen  (p.  234). 

Das  Stärkste,  was  der  Verfasser  leistet,  ist 
die  Berechnung  des  Alters  von  Königen,  von 
denen  man  nur  den  Namen  und  die  Länge  der 

*)  Es  war  Neumond  sechs  Tage  vorher  gewesen. 


100  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

Regierung  in  Jahren  hat.  Von  Samas-Ben,  den 
er  Samsi-Ramman  nennt,  und  Ben-nirar  (Ramman- 
nirar)  hat  man  Texte:  Hr.  Floigl  versichert,  sie 
seien  45  und  52  Jahr  alt  geworden.  Aber  Sal- 
manassar III.,  Assur- edil-il  und  Assurnirar,  von 
denen  man  sonst  nichts  weiß,  haben  nur  40,  36 
und  22  Jahre  gelebt!  Die  Höhe  des  Mastes 
und  die  Länge  des  Steinkohlenschiffes  sind  ge- 
geben :  das  Alter  des  Capitäns  ist  zu  berechnen. 

Das  Buch  nennt  das  mathematisch  begrün- 
dete löte  Capitel  des  zweiten  Königsbuches 
„das  Capitel  der  Verwirrung".  Könnte  man  es 
dem  Capitel  15.  verargen,  wenn  es  die  Schrift 
des  Herrn  Floigl  als  „Buch  der  Verwirrung" 
bezeichnete?  Und  dieser  Ausdruck  ist  noch  sehr 
milde,  wenn  man  zu  Hunderten  Sätze  wie  die- 
sen liest: 

„Asurnirar  tritt  an  mit  (36 — 22)  14  Jahren 
„  —  eben  volljährig  geworden!  Da  ist  das  ent- 
scheidende Zeugniß:  Asurnirar,  selbstverständ- 
lich nicht  der  Feldherr,  der  Ptaul  von  754, 
„vielmehr  bis  zur  Thronbesteigung  minorenn  — 
„oder  besser  umgekehrt  gesagt,  —  auf  den 
„Thron  gelangt,  sobald  er  das  14.  Jahr  vollen- 
det, mit  dem  Schwerte  umgürtet  werden  konnte, 
„man  wartete  also  auf  ihn,  sein  Vater  war  todt 
„oder  regierungsunfähig,  eine  Regentschaft  bis 
„zu  seiner  Volljährigkeit  nothwendig  geworden 
„  —  und  dieser  Regent  bis  753  ist  eben  Phul! 
„—es  ist  nun  ebenso  selbstverständlich,  daß  in 
„Assur,  dem  kriegerischesten  Staate ,  den  es  je 
„gegeben,  die  „ungeschriebene  Verfassung14  je- 
„den  nicht  Schwertfäbigen ,  jeden  Minderjähri- 
gen vom  Throne  ausschloß,  daß  in  Assur,  wie 
„in  Israel  Sauls  dem  sterbenden  Könige  nicht 
„ein  noch  minorenner  Sohn,  sondern  der  nächste 
„volljährige  Agnat  folgen  sollte  (stets  auch  gefolgt 


Floigl,  Chronologie  der  ^Bibel,  des  Manetho  u.  Beros.     101 

„war,  so  dem  Sohn  Tiglath  Pilesers  I.  sein  Bra- 
ider) :  so  sprach  das  Staatsrecht  auch  bei  Assur 
„Dan,  das  natürliche  Recht  aber,  was  sicher 
„werth  war,  Recht  zu  werden,  und  gleichzeitig 
„in  allen  kulturell  ja  zusammenhängenden  semi- 
„tischen  Staaten,  in  Israel  wie  in  Assur,  dar- 
„nach  rang  für  den  Sohn,  den  Königsknaben 
„Assurnirar  —  dessen  Fahne  pflanzte  nun  ein 
„Prinz  auf,  der  wie  sein  Name  zeigt,  dem  Thron 
„nicht  zunächst  geboren  war,  dem  darum  Klug- 
heit, Ehrgeiz  rieth,  dem  Kinde  zu  helfen,  nicht 
„zu  schaden  —  und  zu  ihm  traten  des  Königs 
„treue  Diener,  von  allen  Samsiil,  dem  Tartan 
Ja  dreier  Könige,  ja  dreimal  Eponymus  am 
„Ehrenplatze  nach  dem  Könige  nebst  drei  Gene- 
rationen: Salmanassar  III.,  Asurdän  und  Asur- 
nirar  (780,  770,  752),  vor  wie  nach  der  Regent- 
schaft als  auch  durch  sie  Tartan  —  Phuls 
„Freund  und  beste  Stütze*);  damit  u.  s.  w. 

Wir  erlassen  dem  Leser  die  dreiundzwanzig 
letzten  Zeilen  des  Satzes,  bitten  ihn  aber  als 
Gegenleistung  uns  die  Frage  zu  beantworten, 
ob  Ref.  so  unrecht  hatte  (Gott.  gel.  Anz.  1880 
S.  1479)  vor  den  Leuten  zu  warnen,  die  sich 
eine  eigene  Privatgeschichte  zu  ihrer  Privat- 
chronologie  fabricieren  ?  Um  durch  ein  flagrantes 
Beispiel  zu  zeigen,  wohin  diese  rabies  chrono- 
logica  fuhrt,  hielt  ich  es  für  meine  Pflicht,  einen 
großen  Theil  dieses  phantasiereichen  Satzes 
dem  Autor  ohne  weitere  Kritik  zu  entlehnen. 

Herr  Floigl  behauptet,  Samsiil,  von  dem  wir 
wissen,  daß  er  lange  Tartan,  erster  Minister 
war,  aber  dessen  Familien-  und  Personalbeziehun- 

*)  Das  ganze  Buch  ist  in  dieser  Weise  geschrieben. 
Bei  mußte  eine  Seite  wählen,  die  von  (Jer  alles  verhee- 
renden, ohne  Einhalt  um  sich  greifenden  Arithmetik  ver- 
schont geblieben  war, 


102  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

gen  uns  leider  völlig  unbekannt  sind,  sei 
Phuls  intimster  Freund  gewesen,  Hiegegen  er- 
hebt sieb  die  Privatgeschichte  des  Hrn.  Fritz 
Hommel,  der  dem  Hrn.  Floigl  zuruft :  „Pirol  hat 
nie  existiert  !u 

Freilich  sind  die  Königsbücher,  die  Chronik, 
Josephns  und  Berosus,  in  Betreff  von  Samsiü's 
„bestem  Freunde",  nicht  der  Ansicht  unseres  jun- 
gen Fachgenossen.  Ernster,  aber  auch  strenger, 
müssen  wir  seine  Schrift  beurtbeilen»  Die  ge- 
mttthliche  Heiterkeit,  die  durch  des  Grazer  Ge- 
lehrten Buch  entlockt  wird,  muß  der  wissen- 
schaftlichen Schärfe  Platz  machen.  Hr.  Dr.  Fritz 
Hommel  hat  die  assyrische  Geschichte  im  Abriß 
gegeben..  Dieses  Compendium,  an  und  für  sich, 
verdient  unsere  Anerkennung,  sobald  wir  für 
die  älteren  Epochen  seine  Zahlen  als  ungeschrie- 
ben betrachten. 

Es  genügt  nicht,  wie  wir  es  schon  ausge- 
sprochen haben,  die  von  Andern  entzifferten 
Keilschriften  zu  erklären,  um  den  Beruf  zu  haben, 
in  chronologischen  Dingen  eine  so  apodiktische 
Sprache  zu  führen,  die  man  als  vollständig  un- 
gerechtfertigt bezeichnen  darf.  In  der  Vorrede 
sagt  Hr.  FH  (der  sich  als  den  Verfasser  fh  der 
Artikel  der  Allgemeinen  Zeitung  zu  erkennen 
giebt,  von  welchem  wir  schon  gehandelt  haben, 
s.  Gött.  gel.  Anz.  1880.  St.  47),  er  mache  den 
„ultraconservativen  Kreisen"  beiderlei  Confessio- 
nen  (!)  keinerlei  Zugeständnißa.  Dieser  etwas 
unpassenden  Bemerkung  wird  hiermit  entgegnet, 
daß  die  Frage  keine  rationalistische  und  keine 
ultraconservative,  äberhaupt  keine  religiöse  ist, 
sondern  eine  ultramathematische.  Und  was  die- 
ses anbelangt,  zeigt  unser  junger  Freund  leider 
nur  zu  sehr,  daß  er  wohl  daran  gethan  haben 
würde,  sich  bei  Joseph  Scaligers  Buch  de  emen- 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    108 

datieae  tempoium,  welches  die  moderne  Chro- 
Bologie  geschaffen  hat,  bei  Petavius  opus  de 
doetrina  temporum,  der  Art  de  verifier  les  dates 
und  anderen  bis  Ideler  herab,  zu  erkundigen,  wie 
man  eigentlich  Chronologie  zu  treiben  hat. 
Außerdem  kommt  bei  dieser  Frage  das  histori- 
sche Gewissen  zur  Sprache,  sowie  auch  die 
Ueberzengung  not  big  ist,  daß  ohne  Geschichts- 
quellen keinerlei  derartige  Forschung  gemacht 
werden  kann.  Man  muß  als  ein  dem  Archime- 
dischen ähnliches  Princip  anerkennen,  daß  wer 
diese  Grundlagen  verachtet,  von  dem  Gewicht 
seiner  eigenen  Autorität  gerade  so  viel  ein- 
büßt,  als  er  jenen  entreißen  will. 

Es  giebt  nur  zwei  Möglichkeiten,  biblische 
Zeitrechnung  zu  treiben.  Entweder  achtet  man 
die  Bücher  der  Könige,  als  das  was  sie  in 
Wirklichkeit  sind,  als  ein  historisches  Do- 
cument von  höchster  Bedeutung,  die  sich  nach* 
weisen  läßt,  und  würdigt  dieselben  einer  kriti- 
schen Benutzung.  Oder  aber,  man  erklärt  diese 
Quellen  für  unzuverlässig :  dann  habe  man  aber 
den  Muth  seiner  Unwissenheit,  und  entschuldige 
diese  durch  den  Mangel  an  Hülfsmitteln.  Hier- 
gegen läßt  sich  nichts  sagen:  ultra  posse  nemo 
obligator. 

Ein  drittes  Verfahren  giebt  es  nicht  Hr. 
Hommel  glaubte  aber  eine  Zwitterstellung  an- 
nehmen zu  können,  und  hat  so  einen  ungemein 
gefahrlichen  Weg  betreten.  In  einer  willkürli- 
ehen Weise,  die  nur  der  Darlegung  bedarf,  um 
sich  selbst  zu  vernichten,  hat  er  die  Zahlen  ver- 
ändert, nnd  aus  diesen  Zahlen  historische 
Fakten  erstehen  lassen,  mit  derselben  Autorität, 
mit  der  Hr.  Floigl  den  Boman  von  „dem  as- 
syrischen Königssohn"  geschaffen;  grade  so  wie 
Hr.  Bosanquet  einen  zweiten  Gyrus  nach  Kam- 
byses  und  noch  andere   Gestalten  ins  Dasein 


104  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

rief,  um  zu  zeigen,  daß  sich  Daniel  nieht  ge- 
irrt, als  er  mit  seinem  prophetischen  Blick  die  Er- 
oberung Babylons  durch  die  Perser  siebenzig 
Wochen,  oder  490  Jahre  vor  der  Geburt  Christi 
angesetzt  hatte.  Damit  die  Sonnenfinsternis  der 
assyrischen  Eponymentafeln  die  von  763  v.  Chr. 
sei,  mußte  die  Bibel  in  einer  neuen  Weise  ver- 
renkt werden,  von  der  wir  sogleich  reden 
werden. 

Doch  ist  die  Wissenschaft  unserm  jungen 
Freunde  zu  Dank  '  verpflichtet.  Das  gänzliche 
Mißlingen  seines  Versuches  zeigt  eben  auch  die 
Unbaltbarkeit  der  von  uns  bekämpften  Hypo- 
thesen. Es  wird  so  wenig  wie  Hrn.  Hommel 
auch  Tausenden  andern  verwehrt  werden  kön- 
nen, anderlei  Systeme  in  tausenderlei  Nüancie- 
rungen,  auf  ganz  andere  ebenfalls  erfundene  un- 
historische Fakten  zu  begründen,  und  ganz  die- 
selbe Autorität  in  Anspruch  zu  nehmen.  Hier, 
bei  der  Fixierung  der  verschiedenen  Königs- 
zeiten, erwartete  ich  meine  Fachgenossen :  durch 
diese  hoble  Gasse  mußten  sie  kommen.  Hier 
hinein  hat  sich  Hr.  Fritz  Hommel  gewagt,  „von 
hier  herab  kann  ihn  mein  Pfeil  ereilen". 

Das  Problem,  das  sich  der  gelehrte  Verfas- 
ser stellte,  war:  „Wie  kann  man  166  Jahre 
zwischen  Jehu-Athalia  bis  zum  Falle  Samaria's 
auf  120  Jahre  reducieren?"  Von  letzterem  Fak- 
tum abwärts  stimmen  ja  Alle  zusammen,  möge 
man  es  722  oder  721  v.  Chr.  setzen.  Vor  der 
Entdeckung  der  Sargoninschriften  und  ihrer  Er- 
klärung durch  Hincks,  Rawlinson  und  den  Ref. 
konnten  noch  Movers  und  andere  durch  absolut 
unwissenschaftliche  Ankntlfung  an  die 
Gründung    Karthago's*)    den    Tempelbau    auf 

*)  Man  kennt  dieses  Datum   eben   nicht:   es   ist  ein 


Hommel,  Babyl.-aseyr.  a.  israel.  Geschichte  in  Tabell.     106 

969  v.  Chr.  ansetzen.  Damals  aber  schnitt 
man  auch  willkürlich  ans  den  55  Jahren  Ma- 
nasses,  10,  20  oder  30  Jahre  heraus,  je  nach 
Bestellung  und  Bedarf.  Hente  hat  man  wenig- 
stens eingesehen,  daß  man  diese  biblischen  An- 
gaben in  Rahe  lassen  maß:  die  Keilschriften 
haben  gezeigt,  daß  an  dem  ganzen  Zwischen- 
raum zwischen  dem  Falle  Samarias  nnd  dem 
Antritt  Evilmerodach's  nicht  gerüttelt  werden 
darf.  Diese  hundert  und  sechzig  Jahre 
(von  721  bis  561)  stehen  unantastbar  da; 
ftir  diese  Periode  haben  wir  nicht  die  Gontrole 
der  judäiscb-israelitischen  Synchronismen,  die 
gerade  für  den  streitigen  Zeitraum  doch  eine 
Gewißheit  geben,  die  eben  auch  durch  das  ri  ch- 
tige  Verständniß  der  assyrischen  Texte  befe- 
stigt wird. 

Die  Bibel  wird,  wie  bekannt,  glänzend  be- 
stätigt durch  die  Angabe  der  Keilschriften,  daß 
in  einem  Jahre,  das  78  Jahre  nach  Jehu's  Er- 
hebung fiel,  im  Sivan,  d.  i.  Ende  Sivan's,  eine 
Sonnenfinsterniß  stattfand.  Nun  sind  im  Laufe 
von  400  Jahren,  von  1000  bis  600  nur  zwei 
passende  Phänomene  aufzuweisen:  diejenigen 
vom  15.  Juni  763  und  vom  13.  Juni  809.  Nach 
den  berühmten  Chronologen  des  16ten  und  17ten 
Jahrhunderts,  die  auf  andern  astronomischen  That- 
sachen  beruhen,  fiel  die  Thronbesteigung  Jehu's  in 
die  Jahre  um  888  v.  Chr.  Unsere  Entdeckung 
beschränkt  sich  also  lediglich  auf  eine  Präci- 
8ierung  der  von  unseren  großen  Altvordern  fast 
genau  bestimmten  Zeitrechnung. 

x,  das  erst  bestimmt  werden  muß.  Verfahre  man  doch 
correct !  Es  liegen  bekanntlich  zwanzig  verschiedene  An- 
gaben über  die  Gründung  Karthago's  vor.  Welche  soll 
man  annehmen?  Man  kann  mittels  der  tyrischen  Annalen 
wohl  diesen  Zeitpunkt  aus  dem  Datum  des  Tempclbaues, 
aber  nicht  umgekehrt  dieses  aus  jenem  feststellen. 


106  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

Das  bedeutsame  Faktum,  daß  sieh  ge- 
rade nur  eine  Finsterniß  findet,  und  daß  diese 
eine  die  Bibel  ebenso  glänzend  bestätigt,  wie  sie 
durch  die  späteren  Keilschriften  für  die  160 
Jabre  von  Hoseas  bis  Nebuchadnezars  Ende 
bekräftigt  wird,  muß  einen  sonderlichen  Ein- 
druck auf  diejenigen  gemacht  haben,  die  ihrem 
eigensinnigen  Festhalten  an  der  keineswegs  ge- 
botenen, aber  nach  ihnen  unbestreitbaren  Nicht- 
unterbrechung  der  Eponymenlisten  gemäß,  die 
biblische  Zeitrechnung  mißhandeln.  Hr.  Dr. 
Hommel  wundert  sich,  daß  ich  an  eine  Sonnen- 
finsternis anknüpfe,  und  zeigt  hiermit  seine  gänz- 
liche Unerfahrenheit  in  chronologischen  Dingen. 

Hr.  H.  nennt  die  Sonnenfinsternisse  von  809 
und  930  „vermeintliche".  Ich  muß  vielmals  um 
Entschuldigung  bitten.  Diese  Sonnenfinsternisse 
haben  wirklich  stattgefunden,  und  sind 
für   Ninive   sichtbar*)  gewesen:  die  letz- 

*)  Siehe  meine  Chronologie  biblique  p.  9.  Die 
Stelle,  welche  von  der  Finsterniß  zur  Zeit  der  Thronbe- 
steigung Assurnasirhabals  handelt,  ist  sehr  klar.  Kein 
Mensch  würde  die  Stelle  anders  übersetzen,  wenn  sie 
nicht  sehr  unbequem  für  die  „Nichtunterbrecher"  wäre. 
Die  Worte  sind:  ina  surr  at  sarrutiya  ina  mahre  paliya 
sa  Somas  day  an  kibraü  salulsu  tabu  eliya  ishun.  „Im 
Anfang  meines  Königthumes,  in  der  Archontie  meiner 
Thronbesteigung  war  es,  daß  die  Sonne,  der  Richter  der 
Weltgegenden,  eine  für  mich  günstige  Finsterniß  machte". 
So  ist  zu  übersetzen:  tabu  eliya  ist  ein  Begriff,  nach  der 
Formel:  sa  eliva  tabu,  q.  b.  f.  f.  q.  s.  Ueber  derartige 
portenta,  in  glücklichem  oder  unglücklichem  Sinne,  haben 
wir  viel  zu  viel  Texte:  ein  paar  gute  astronomische  An- 
gaben gäben  uns  mehr  Aufschluß.  Das  Zeichen,  welches 
salul  gelesen  wird,  ist  das  specifisch  für  Finsterniß  ge- 
brauchte. Es  wird  durch  anah  erklärt  und  auch  dieses 
Verbum,  ixkeinny,  ist  für  diese  Phänomene  angewandt. 
(W.  A.  I.  III,  32).  Vergleiche  noch  ib.  49,  42,  wo  das 
Zeichen  äquivalent  von  mi  saline  schwarz  48,  5.)  Hr. 
E.  Schrader   hat  noch  vor  wenigen  Jahren   keinen   An- 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israeL  Geschichte  in  Tabell.    107 

tere  von  geringerer  Ausdehnung  als  die  entere, 
auf  die  es  namentlich  ankommt  Aber  eine 
„vermeintliche"  Sonnenfinsternis  findet  sieh  in 
dem  Schriftchen  Hrn.  Hommels:  es  ist  die,  die 
er  in  den  Propheten  Arnos  (8,  9)  hineincorri- 
giert  Was  er  für  die  Chronologie  damit  ge- 
winnen will,  weiß  ich  nicht,  denn  zu  Arnos,  wie 
zu  unser  aller  Lebzeiten,  haben  ja  doch  derartige 
Erscheinungen ,  stattgefunden.  Triumphirend 
schreibt  er  zum  Datum  763,  „Arnos,  8,  9!tf,  mit 
einem  Ausrufungszeichen.  Und  was  sagt  der 
Prophet  in  jener  Stelle,  die  Trauer,  Hunger, 
Ueberschwemmung  und  gänzliche  Vernichtung 
voraussagt? 

„Und  es  wird  geschehen  an  diesem  Tage, 
„spricht  Gott  der  Ewige,  daß  ich  untergehn 
„lasse  die  Sonne  am  Mittag,  und  Finsterniß 
„verbreite  über  die  Erde  am  lichten  Tageu. 

Eine  Sonneniinsterniß  ist  kein  Unglück,  höch- 
stens ist  sie  als  ein  Wahrzeichen  betrachtet 
worden:  außerdem  geht  bei  einer  solchen  die 
Sonne  nicht  unter,  sondern  nach  einigen  Minu- 
ten leuchtet  sie  wieder  in  früherem  Glänze. 
Das  wußte  Arnos  von  Thekoah  auch,  als  er 
„zwei  Jahre  vor  dem  Erdbeben"  prophezeite.  Hier 
Btoften  wir  also  auf  eine  „vermeintliche"  Sonnen- 
finsternis". 

Was  nun  den  Vorwurf  anbelangt ,  ich  habe 
meine    Rechnung    nach    einer   Sonneniinsterniß 

stand  genommen,  diese  Interpretation  anzunehmen  (Z.  M. 
G.  t  XXVill  p.  138).  Wenn  irgend  eine  Auslegung 
eines  Passus  sicher  ist,  so  ist  es  diese ,  und  es  gehört 
schon  ein  der  mala  fides  sehr  nahekommender  Grad  von 
Unglauben  dazu,  dieses  zu  leugnen.  (Vergleiche  auch 
meine  Uebersetzung  der  Sargonstelle  Dour-Sarkayan  p.  96.) 
Ist  es  vielleicht  auch  ein  Zufall,  daß  nach  meiner  Rech- 
nung sich  hier  gerade  eine  totale  Sonnenfinsternis  findet? 


106  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

bestimmt,  und  so  auf  900,  anstatt  auf  902,  den 
Tod  Ahabs  angesetzt,  so  ist  derselbe  mindestens 
gesagt,  naiv.  Hr.  Hommel  vergißt  zu  sagen, 
von  welcher  Basis  aus  er  zu  902  kommt.  Er 
scheint  nicht  zu  wissen,  daß  die  Zahlen,  die  er 
für  die  griechische  Geschichte  gelernt  hat,  von 
Scaliger  und  namentlich  von  Petavius  herrühren, 
und  ausschließlich  auf  der  Berechnung  von 
Finsternissen  beruhen.  Die  Perserkriege  sind 
durch  die  Sonnenfinsterniß  des  Xerxes  (Herodot 
IX,  2),  der  peloponnesische  Krieg  ist  durch  die 
von  Thucydides  und  Aristophanes  erwähnten, 
die  Geschichte  Alexanders  durch  die  Mondfin- 
stemiß vor  der  Schlacht  Gaugamela  zeitlich  fest- 
gestellt. Müssen  wir  bei  der  römischen  Ge- 
schichte an  die  durch  die  Entdeckung  der  Re- 
publik des  Cicero  bekannt  gewordene,  an  die 
des  Agathokles,  an  die  von  Pydna  und  alle  die 
spätem  erinnern  ?  Der  ptolemäische  Canon,  den 
Hr.  Hommel  citiert,  schwebt  auch  nicht  in  der 
Luft,  alle  seine  Zahlen  beruhen  auf  den  Mond- 
finsternissen des  Almagest;  die  Reductionen 
auf  die  vorchristliche  Zeit  sind  daher  nicht  vom 
Himmel  gefallen.  In  dieser  kleinen  Bemerkung 
blickt  also,  wie  in  seinem  Artikel  der  Allgemei- 
nen Zeitung,  die  vollständigste  Sachunkenntniß 
durch. 

Noch  klarer  erscheint  diese  Unbeholfenheit 
in  folgendem  Satze  (p.  28): 

„Die  Zahlen  von  Behabeam  bis  Jotbam  wie 
„von  Jerobeam  L  bis  Pekah  wären  nach  meiner 
„genauen  Berechnung  (sie!)*)  der  bibl.  Syn- 
chronismen,  (wobei  ich  mir  für  jedes  einzelne 

*)  Wer  eine  genaue  Berechnung  macht,  der  theilt 
sie  auch  seinem  Leser  mit.  Letzterer  weiß,  daß  es 
auch  genaue  Berechnungen  giebt,  die  sehr  ungenau  sind. 
Diese  Präsumption  liegt  gegen  den  Hrn.  Verf.  vor. 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    109 

„Jahr  von  Salomos  Tode  an  eine  besondere  Li- 
„nie  zog  (eine  große  Garantie!)  and  dann  in 
„die  bo  entstandenen  Jahresrollen  eintrug) 
„sämmtlich  um  2  Jahre  zu  erhöhen"  u.  s.  w. 
0  si  tacuisses! 

Es  ist  Schade,  daß  Hr.  Hommel  seine  „ge- 
naue Berechnung"  nicht  mitzutheilen  für  werth  er- 
achtet hat,  aber  dieses  hat  seinen  sehr  triftigen 
Grund:  es  läßt  sich  eben  mit  diesem  ganz  fal- 
schen Princip  zu  keinem  gesunden  Resultate 
kommen.  Mit  dem  „Ziehen  von  Linien"  und 
dem  „Eintragen  in  Jahresrollen"  ist  es  nicht  ge- 
schehen. Hr.  Hommel  urtheilt  über  meine  Fest- 
stellung, hat  aber  meinen  „Salomon"  „nicht  ein- 
ßehn  können"  *).  Wir  bedauern  dieses  im  Inter- 
esse seines  Schriftchens,  denn  er  hätte  doch 
Manches  daraus  lernen  können. 

Erstens  hat  Hr.  H.  keine  Basis.  Zweitens 
geht  aus  den  Ausdrücken  der  Bibel,  wie  sie  in 
150  Stellen  uns  vorliegen,  mit  mathematischer 
Sicherheit  hervor,  daß  die  Jahre  der  Könige, 
wie  überall,  vom  Tage  des  Antrittes  zu 
zählen  sind**).  Wenn  Asa  in  seinem  41sten 
Jahre  stirbt,  so  heißt  dies,  daß  von  seiner  Thron- 
besteigung bis  zu  seinem  Tode  mehr  als  40, 
und  weniger  als  41  Jahre  verstrichen  sind.  Er 
regierte  41  Jahre,  in  seinem  38ten  Jahre  kam 
Ahab  auf  den  Thron,  in  dessen  4ten  Jahre 
Asa  starb.  Und  er  regierte  wirklich  nicht  ganz 
41  Jahre,  denn: 

*)  Ziemlich  unverantwortlich  ist  denn  doch  das  Ge- 
standniß  oh  des  Nichteinsehens,  wobei  er  von  einem  be- 
richtigten Druckfehler  der  Gott.  gel.  Anz.  spricht.  Han- 
delte Hr.  H.  so  gewissenhaft,  wie  er  vorgiebt,  so  würde 
fcr  mein  Buch  „eingesehn"  haben,  und  dort  für  die  Re- 
gierung Uzias  die  Zeit  811—758  gefunden  haben. 
**)  Gott.  gel.  Anz.  1880,  S.  H97. 


110  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

Asa  regierte  vor  Ahab  37  -f"  £ 
Asa  regierte  mit  Ahab    3  +  Ö 


Asa  regierte  40  +  (f  +  0), 

wo  £  +  6  beinahe  eins  sind. 

Der  Bruchtheil  t  muß  nämlich  groß  sein, 
denn  dieser  Werth  muß  größer  sein,  als  die  an- 
dern Bruchtheile,  die  in  den  Angaben  über  Je- 
robeam,  Nadab,  Baesa,  Ela  und  Omri  vor- 
kommen*). 

König  Wilhelm  I.  ist  den  2.  Januar  1861 
auf  den  preußischen  Thron  gekommen:  er  ist 
also  am  31.  December  1880  in  seinem  20ten 
Jahre.  Nach  gewissen  Chronologen  wäre  er 
zwei  Tage  vor  seinem  21sten  erst  im  19ten, 
weil  das  erste  Jahr  729  Tage  gedauert  hätte! 

In  der  ganzen  Welt  hat  man  nie  anders  ge- 
rechnet, als  von  Ereignißtagen  an.  Sogar  die 
Assyrischen  Könige,  die  doch  Eponymen  hatten, 
zählten  dennoch  nach  ihren  eigenen  Jahren,  und 
unterschieden  sie  durch  einen  ganz  andern  Aus- 
druck palu  von  der  Zahl  der  Jahre,  während 
welcher  sie  das  Recht  gehabt  hatten,  Archonten 
zu  ernennen.  Die  Päpste,  die  auch  nach  ihren 
Jahren  rechnen,  beginnen  ihr  Jahr  von  der  Krö- 
nung) und  gleich  dem  assyrischen  Gebrauch, 
wird  eine  Verordnung  vom  December  1880  in 
Leos  XIII.  drittes  Jahr  fallen,  und  nicht  in  sein 
zweites. 

Künstliche  oder  astronomische  Aeren  da- 
gegen, wie  der  Ptolemäische  Kanon,  zählen  na- 
türlich vom  Neujahrstag  an,  da  sie  ja  die  Zahl 
des  einzigen  Zeitmessers,  die  Zahl  der  Tage, 
zu  berechnen  haben.  Solche  Aeren  hat  es  im- 
mer gegeben,  selbst  lange  bevor  sie  in  den 
Volksgebrauch  eingedrungen  waren:   wir  haben 

*)  Siehe  Salomon  p.  20  iL 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  Israel.  Geschichte  in  Tabell.    Ill 

in  grauer  Vorzeit  das  ägyptische  Jahr  400,  trad 
das  Jahr  480  (nach  der  Septuaginta  440)  des 
Tempel  banes.  Ohne  eine  solche  Aera  war  jeg- 
liche Rechnung  unmöglich;  ohne  sie  hätte  man 
nicht  die  keilschriftlichen  Daten  von  Begeben- 
heiten, die  1635,  641  und  418  Jahre  vor  be- 
stimmten Facten  stattgefunden,  zu  fixieren  ver- 
mocht. Der  Volksgeist  bequemt  sich  sehr  schwer 
zu  großen  abstracten  Zahlen :  erst  seit  dem  vier- 
ten Jahrhundert  vor  Christo  finden  wir  die  von 
Timäos  eingeführten  Olympiaden,  die  Seleu- 
cidenära  und  später  die  römische  Stadtrechnung. 
Zählten  die  Orientalen  doch  wenigstens  ihre 
Monatstage  von  1  bis  30,  so  schienen  den 
Griechen  diese  Zahlen  schon  zu  groß,  die  sie 
in  drei  Theile,  von  denen  der  letzte  in  abstei- 
gender Zahl  rechnete,  zerbrechen.  Die  Römer 
zerstückelten  ihre  30  oder  31  Monatstage  in  höchst 
unpraktischer  Weise.  Die  christliche  Rechnung 
fand  erst  sehr  spät  ihre  Anwendung,  und  man 
begann  früher  das  Jahr  am  25.  März.  Erst 
die  Reformation  setzte  an  die  Stelle  der  Heili- 
gentage die  heutige  Bezeichnung  nach  Tagen 
des  Monats,  wenigstens  im  Volksgebrauch:  auch 
dieses  war  ein  alljährlich  wiederkehrender  Epo- 
nymenkanon,  zu  dessen  Erläuterung  man  einer 
besonderen  Unterweisung  bedurfte. 

Wir  wollen  hier  nicht  wiederholen,  daß  die 
Rechnung  von  Antrittsjahren  an  sich  mit  mathe- 
matischer Strenge  erweisen  läßt,  wir  haben  ge- 
zeigt, wie  die  Verfasser  der  Königsbücher  und 
der  andern  Schriften  dieselben  herstellten*). 
Wir  bemerken  noch,  daß  auch  alle  griechischen 
Klassiker  dieselbe  Zählungsweise,  die  die  ein- 
zige rationelle,  und  die  einzig  mögliche  ist,  be- 
obachtet haben. 

*)  Gott.  gel.  Anz.  1880,  p.  1498. 


112  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  4. 

Wir  gehen  nun  zum  Einzelnen  über,  von 
Saloino  an.  Bis  Ahab  gebt  die  Sache  ziemlich 
gut ;  man  sieht  aber  gar  nicht  ein,  warum  denn 
Hr.  Hommel  hier  der  Bibel  folgt.  Denn  warum 
ist  sie  hier  ohne  Gontrole  glaubwürdig,  warum 
fehlt  ihr  für  die  nächsten  Epochen  jegliche  Auto- 
rität, und  warum  wird  ihr  dann  ganz  zuletzt 
ihre  Zuverlässigkeit  in  integrum  restituiert? 

Nun  meint  Hr.  H.,  Salomo  habe  nur  30  Jahre 
regiert,  anstatt  der  traditionellen  vierzig.  Ich 
kann  hier  dem  bedeutenden  Kritiker,  Hrn.  Well- 
hausen,  keineswegs  folgen;  die  Annahme  eines 
Datums  der  Gründung  Karthagos  ist  willkür- 
lich, weil  unbestimmt:  dasselbe  kann  nur  durch 
den  Tempelbau  festgestellt  werden,  sobald  wir 
diesen  einmal  haben:  Nicht  umgekehrt*). 
Nach  den  tyrischen  Annalen  kann  Salomon  höch- 
stens 44,  und  muß  mindestens  12  Jahre  ge- 
herrscht haben.  Das  ist  alles»  was  eine  wissen- 
schaftliche Kritik  zugeben  kann.  Es  zwingt 
absolut  nichts,  Salomon  30  Jahre  zu  geben. 
Die  Annahme  ist  also  rein  willkürlich  und  die 
Wiederholung  derselben  nicht  zu  empfehlen. 

Darf  man  denn  nicht  40  Jahr  regieren?  Muß 
man  immer  39  oder  41  Jahr  leben,  weil  40  vier 
mal  zehn  ist  ?  Ftolemäos  Soter,  Amadeus  II.  von 
Savoyen  (1108—1148),  Amadeus  VI.  (1343— 
1383),  Ludwig  von  Ungarn  (1342—1382),  Karl  V. 
haben  40  Jahre  regiert:  dem  dritten  Nachfolger 
Salomos,  Asa,  giebt  Hr.  H.  selbst  40  Jahr,  an- 
statt der  41,  die  er  doch  haben  sollte.  Was 
dem  Einen  recht  ist,  ist  dem  Andern  billig. 

Aber  Josaphat  hat  nur  22  Jahre  geherrscht, 
denn  das  traditionelle  25  ist  eine  runde  Zahl! 
Fünf  und   zwanzig  ist  niemals  eine  solche  ge- 

*)  Salomon  p.  91. 


Hommel,  Babyl.-aseyr.  u.  isnael.  Gescbichfce  in  Tabell.   113 

wesen.  Die  22  Jahre  stammen  wohl  aus 
Kto.  II,  3,  1 ;  es  herrschte  Joram  von  Israel  im 
18 ten  Jahre  Josaphats,  und  nach  Kön.  ib.  8,  16 
im  5ten  Jahre  des  israelitischen  Königs  regierte 
Joram,  Josaphats  Sohn.     Also  hätten  wir*) 

Josaphat  vor  Joram  17  +  * 

„      bis  Jorams  Thronbesteigung  4  -f-  f 

Total  bis  Jorams  Antritt **)  21  +  (•+£). 

Aber  Josaphats  .Regierung,  die  das  schwie- 
rigste Problem  der  ganzen  Königs* 
geschieht^  bildet,  bietet  uns  auch  das  ein- 
zige Beispiel  einer  Mitregierung  dar,  wie  die 
Stelle  in  den  Königen  II,  8,  16  ausdrücklich 
bezeugt.  Ferner  wird  dasselbe  Faktum,  die 
Thronbesteigung  Jorams  in  .einer  dritten  Stelle 
Köd.  II,  l  17,  nicht  in  das  18te  Jahr  Josaphats, 
sondern  in  das  2te  Jahr  seines  Sohns  Jorams 
gesetzt.  Wir  haben  in  unserm  „Salomon"  alle 
diese  Stellen  genau  besprochen,  auch  auf  die  in 
dem  Codex  Vatkanus  der  LXX  befindliche  Va- 
riante Bezug  genommen,  und  sind  zum  Schlüsse 
gekommen,  daß  Josaphat  allerdings  25  Jahre, 
das  heißt  23  Jahre  allein  und  2  Jahre  mit  sei- 
nen Sohn  Joram  zusammen  regiert  hat. 

Das  einzige  Mal,  wo  eine  Mitregierung  statt- 
gefunden haben  kann,  wird  dies  auch  von  der 
Bibel  bezeugt 

Glücklicherweise  ist  nun  hier  ein  Anhalts- 
punkt durch  die  Keilschriften  selbst  gegeben; 
denn  vom  Tode  Ahabs  bis  zur  Erhebung  Jehus 
müssen    121/s  Jahre   höchstens   verflossen    sein: 

*)  Salomon  p.  40. 

**)  „Und  im  fünften  Jahre  Jorams,  des  Sohns  Ahabs, 
Königs  von  Israel,  als  Josaphat  König  von  Juda  war, 
herrschte  Joram,  Sohn  Josaphats,  Königs  von  Juda". 

8 


114  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

jener  fällt  in  die  sechste,  dieser  in  die  18te 
Eponymie*)  nach  dem  Antritt  Salmanassars  III. 
Also  hier  haben  wir  ein  Beispiel,  wo  die 
biblischen  Angaben  sich  unter  einander  zu  wi- 
dersprechen scheinen,  wo  sie  aber  selbst  eine 
Mitregierung  constat] er en  und  wo  ihrerseits  die 
Keilschriften  die  14  Jahre  der  Könige  auf  1272 
reducieren. 

Nun  aber  kommen  wir  zu  dem  Problem: 
Wie  bringt  man  166  Jahre,  die  ja  durch  die 
Königsbttcber  und  durch  die  Keilschrif- 
ten gegeben  sind,  auf  120  herunter? 

Um  unsern  Verfasser  auf  diesem  schwierigen 
Wege  zu  begleiten,  betrachten  wir  erst  seine 
Könige  von  Juda. 

An  den  sechs  Jahren  Athalias  ist  nichts  zu 
ändern.  Die  40  Jahre  des  Joas  von  Juda  wer- 
den auf  38  reduciert,  denn  40  ist  eine  runde 
Zahl!  Allerdings  steht  (Kön.  II,  13,  11),  daß 
Joas  von  Israel,  im  37ten  Jahre  seines  judäi- 
schen  Namensvetters,  seinem  Vater  Joahaz  ge- 
folgt sei.  Aber  letzterer  hatte  17  Jahre  regiert, 
nachdem  er  im  23ten  Jahre  des  Joas  von  Juda 
auf  den  Thron  gekommen  war.  Also  um  diese 
Zahl  37  zu  erhalten,  müßte  man  40  in  38,  und 
17  in  15  ändern.  Alle  unsere  Vorgänger  haben 
daher  in  37  einen  „Schreibfehler a  für  39  erkannt, 
wie  sie  sich  denn  auch  in  den  Keilschriften  fin- 
den :  es  ist  einer  der  acht  Fehler,  die  Ref. 
(Salomon"  p.  95)  unter  den  171  verzeichneten 
Angaben  hat  auffinden  können. 

Nun  aber  geht  es  über  die  Arithmetik  her! 
Nach  Hrn.  Hommels  „genauer  Berechnung"  re- 
giert Joas  von  836—797.  Daher  ist  schon  799 
das  38te  Jahr  des  Joas.    Gut,    aber   wie   kann 

*)  Siehe  meine  Chronologie  biblique  p.  30.  ZDMG. 
Bd.  XXTIT,  p.  145.  Salomon  p.  40. 


Hommel,  Babyl.-aesyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    115 

es  zugleich  das  lte  Jahr  des  Amazia  sein  (S.  6), 
da  doch  Joas  bis  797  regiert  hat?  Aach  wäre 
die  Gleichstellung  unmöglich :  Das  38te  Jahr  des 
Joas  finge  an  mit  Anfang  799,  nach  dem  be- 
kannten falschen  Princip  vor  den  Jahresanfän- 
gen: dann  mußte  aber  796  schon  das  dritte 
Jahr  des  Amazia  sein  t  Nach  der  „  strengen  Be- 
rechnung11 mußte  aber  Joas  am  Ende  des  38ten 
Jahres  gestorben  sein:  und  der  Anfang  796,  von 
dem  ab  (immer  nach  der  unrichtigen  Rechnung) 
das  erste  Jahr  des  Amazia  zählt,  (denn  797 
ist  ja  das  „Antrittsjahr"!)  wäre  das  dritte!! 

Nachdem  nun  Joas  von  836  bis  797*)  re- 
giert hat,  folgt  ihm  799  (!)  sein  Sohn  Amazia 
und  regiert  bis  787  allein  (!?)  Also  12  Jahr; 
mit  Azaria,  seinem  Sohn,  noch  bis  773:  im 
ganzen  23  Jahre.  Warum  aber  23,  und 
nicht  79  oder  16?  An  zwei  Stellen  (Kön.  II, 
14,  2.  Chr.  II,  25,  1)  werden  dem  Amazia  29 
Jahre  zugesprochen:  er  herrschte  im  zweiten 
Jahre  des  Joas  von  Israel,  der  in  seinem  löten 
nach  16jähriger  Regierung  starb  (Kön.  II,  13, 10. 
14,  28):  15  Jahre  überlebte  Amazia  seinen  Feind 
(ib.  14,  17.  Chron.  II,  25,  25).  Hier  haben  wir 
sieben  Stellen,  die  mit  der  Zahl  29  überein- 
stimmen. Amazia,  glücklich  im  Kampfe  gegen 
andere  Stämme,  wurde  bei  Bet-Schemes  von 
Joas  geschlagen,  der  Jerusalem  nahm;  später 
erlag  er,  54  Jahr  alt,  Verschwörern,  die  seinen 
Sohn  Azaria  oder  Uzia  zum  König  nahmen. 
Die  Mitherrschaft  des  unmündigen  Sohns  ist 
eine  Erfindung:  niemals  haben  Amazia 
und  Uzia  zusammen  regiert! 

Diese  Unwahrheit  hat  aber  den  Vortheil,  aus 

*)  Also  doch  40  Jahre  1   Hindert  das  „Lineal"  Hrn. 
H.  am  Rechnen?  für  ihn  zählen  ja  alle  Jahre  ganz  mit. 

3* 


116  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  4. 

der  Zahl  76  (Athalia  6,  Joas  40,  Amaraa  29)  57 
zu  machen:  so  sind  schon  19  Jahre  erspart. 
Amazia  hatte  bis  787  a  1  Lei  n  (! !)  regiert,  786 
(warum  denn  nicht  787?)  folgt  ihm  sein  Sohn 
Üzia  und  regiert  52  Jahr,  d.  i.  nach  Hrn.  H. 
bis  735.  Nach  den  biblischen  Angaben  muß 
Azaria  nicht  51 ,  sondern  länger  als  52  Jahne 
regiert  haben  (s.  Gott.  gel.  Anz.  1880,  p.  1497): 
doch  ist  dieses  eine  Kleinigkeit  Die  90  Jahre, 
welche  von  Uzias  Antritt  bis  zu  »Samarias  Fall 
verflossen  sind,  werden  zu  66  rednciert,  indem 
der  Verf.  in  die  Regierung  Uzia'a,  wie  in  einen 
verschiebbaren  Operngucker,  die  Regierungen 
von  Jotham  (nicht  ganz  16  Jahre)  und  von 
Ahae  (16  Jahre)  hineindrttckt.  A  za  r  ia  =  U  zia , 
Jotham  und  Ahaz,  Vater,  Sohn  und 
Enkel  sollen  alle  drei  zu  gleicher  Zei  t 
regiert,  der  Vater  soll  den  Sohn  tiberlebt, 
und  Ahae  einige  Zeit  noch  allein  geherrscht 
haben :  so  öconomtsiert  man  noch  27  Jahre,  .und 
diese  zu  den  erwähnten  19  Jahnen  geben  46! 
Quod  erat  demonstrandum. 

Denkt  denn  Hr.  Hommel  seiner  Leser  zu  spot- 
tten?  Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen*), 
daß  achtzehn  unter  sich  consistente  Angaben 
die  Zeit  der  drei  Könige  vollständig  auseinander 
halten.  Es  wird  dazu  noch  ausdrücklich  er- 
zählt, daß  Jothan  während  seines  Vaters  Krank- 
heit „das  Volk  richtete"  und  nach  dessen 
Tode  und  Begräbnisse  in  der  Stadt  Davids  an 
seiner  Statt  den  Thron  bestieg.  Uzia  starb,  nach- 
dem er  etwas  über  52  Jahre  geherrscht,  in  Pe- 
kahs  2tem  Jahre:  von  diesem  2ten  bis  zum  17ten 
regierte  Jotham.  Pekah  war  in  Uzias  52sten 
Jahre  König  geworden.    Wie  wir  schon  gesagt 

*)  Gott.  gel.  Anz.  1879,  p.  790. 


Hommel,  Babji-auyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.   117 

(Gott.  gel.  Am.  1880,  p.  1497.  Salomon  p.  17) 
herrschte  Uzia: 

51  +  *  +  1  +  f  =  52  +  (*  +  *) 
Jotham  aber: 

(16+*)— (1  +  *),  d.  i.  15  + (v  —  t). 

Der  Bruchtheit  %  muß  klein  sein,  da  überein- 
stimmend er  mit  a  zusammen  weniger  als  die 
Hfttfte  ist,  und  von  v  abgezogen,  eine  Differenz 
giebt,  die  größer  ist  als  ein  Halb.  Also  hat 
Jotbam  nach  seines  Vaters  Tode  nicht  ganz  16 
Jahre  allein  geherrscht.    (Eon.  15,  31.  16,  1). 

Ahaz  hat  16  Jahre  über  Juda  regiert:  in 
seinem  12 ten  Jahre  kommt  Hosea  auf  Israels 
Thron,  und  er  lebt  bis  zum  6ten  Jahre  des 
Letzteren.  Er  bat  also  länger  als  16  Jahre,  und 
zwar  auch  allein  geherrscht.  Nirgends  ist 
von  Mitregentschaft  die  Rede:  durch 
niehts  eine  solche  zu  vertheidigen.  Die  Zeit  der 
Verwaltung  Jothams  bei  Lebzeiten  seines  Vaters  ist 
ausdrücklich  von  den  16  Jahre  ausgeschlos- 
sen: die  des  Ahaz  ist  rein  erfundenl  Was 
bleibt  nun  ron  Hrn.  Hommels  angeblicher  Chro- 
nologie von  Juda?    Gar  nichts. 

Nun  gen  Israeli  Wie  bekannt,  bietet  die 
biblisehe  Aufzählung  der  israelitischen  Könige 
scheinbar  nur  143  Jahre  7  Monate  für  den  Zeit- 
raum, für  den  die  judäische  Zeitrechnung  166 
zählt.  t)ie  Bibel  und  die  Keilschriften  zeigen 
uns  aber,  daß  Jerobeam  und  Pekah  mit  einer 
Unterbrechung  zweimal  geherrscht  haben,  und 
daß  eben  nur  die  Zeit  der  effektiven  Herrschaft, 
in  den  bezüglichen  Fällen  41  und  20  Jahre,  be- 
rechnet worden  ist*).    Aber  221/*  (166-1431/*) 

*)  Und  dieses  mit  Recht.  Demetrius  Nikator  herrschte 
nur  11  Jahre,  und  zwar  dreimal,  nicht  24  Jahre,  149— 
125,  sondern  149—143,  140—139,  180—125. 


116  Gott.  gel.  Ann.  1881.  Stück  4. 

ist  noch  lange  nicht  46;  also  mußte  man  noch 
23  V«  Jahre  hinauswerfen. 

Hr.  Hommel  bewerkstelligt  dieses,  indem 
Jehu  28  Jahre  allein  regiert  (842—815),  dann 
Joahaz  15  (814—800),  anstatt  17  (!),  Joas  16 
800-785),  wo  800  zweimal  zur  Verwendung 
kommt ;  27  Jahre  kommen  nun  auf  Jerobeam 
(785—759,  dann  9  Jahre  Interregnum.  Woher 
dieses?  Dann  folgen  Pekahs  19  Jahre  (warum 
19?),  der  731  stirbt,  aber  erst  730  ermordet 
wird ;  dann  folgen  9  Jahre  Hoseas  bis  zum  Ende 
Israels.  So  bekommt  man  die  120  Jahre  heraus, 
die  man  brauchte. 

Pekah  regiert  —  gleichzeitig  mit  vier  an- 
dern Leuten,  Zacharia,  Sallum,  Menahem  und 
Pekahia,  und  er  ist  gutartig  genug,  nur  den  vierten 
zu  morden.  Er  läßt  es  geschehen,  daß  neben 
ihm  No.  2  den  No.  1,  No.  3  den  No.  2  todt- 
schlägt:  über  No.  3  Tode  schweigt  die  Ge- 
schichte. Endlich  reißt  ihm  die  Geduld,  und  er 
beseitigt  den  vierten. 

Difficile  est  satiram  non  scribere.  Neben 
dieser  ganz  überraschenden  Historie  besteht 
denn  doch  immer  noch  die  überlieferte  Ge- 
schichte, deren  Autor  nachgerade  ebensoviel 
Quellen  zur  Verfügung  hatte  als  der  Verfasser 
der  „Tabelle".  Nach  biblischen  Angaben  regierte 
Jehu  28,  Joahaz  17,  Jerobeam  II.  41  Jahre. 
Da  letzterer  aber  noch  15  Jahre  mit  Amazia, 
herrschte,  und  erst  in  Uzias  38ten  Jahre  starb, 
so  haben  wir: 

Jerobeam  vor  Uzia  15  +  J 
Jerobeam  mit  Uzia  37  +  if 

Total  52  +  (9  +  J),  wo  J  von 

0  bis  +  V»  sein  kann.    Da  38  durch  11  andere 
Angaben,   und    15    durch   5    andere  bekräftigt 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    119 

wird,  ist  an  dieser  Zahl  52  bis  53  gar  nicht  zu 
rütteln:  und  da  y,  der  Brnchtheil,  wie  wir  sehn 
werden,  der  Einheit  sehr  nahe  kommen  muß, 
würden  die  Herrscherjahre  Jerobeams  IL  nur 
zwischen  52  V*  and  53 V*  schwanken.  Darf  man 
nun  dieser  Zahl  die  in  der  hebräischen  Urschrift 
und  in  allen  Uebersetznngen  erhaltene  Angabe 
41  opfern?  Keineswegs!  Zwischen  Jerobeams  IL 
Thronbesteigung  and  Tod  liegen  53  Jahre:  nur 
41  Jahre  bat  er  geherrscht.  Wir  haben  die 
erste  Regierang  auf  27  Jahre  bestimmt,  der  ein 
Interregnum  von  12  Jahren  folgte,  endlich  nach- 
dem er  die  Herrschaft  wieder  erlangt,  herrscht 
er  noch  14  Jahre.  Alles  nach  bestimm- 
ten Textanssagen*). 

Vom  Tode  Jerobeams  IL  ab  sind  die  bibli- 
schen Angaben  derart  präcis,  daß  sie  die  glän- 
zendste Bestätigung  in  sich  selbst  finden.  Schon 
nach  6  Monaten  wird  Zachariae,  in  Uzias  39ten 
Jahre,  von  Sallnm  beseitigt,  der  nach  einem 
Monat  von  Menahem  1.  ermordet  wird,  ebenfalls 
in  Uzias  39ten  Jahre.  Nach  lOjähriger  Re- 
gierung stirbt  Menahem,  in  Uzias  öOsten  Jahre ; 
ihm  folgt  sein  Sohn  Pekahia,  der  nach  2  Jah- 
ren, in  Uzias  52sten  Jahre  von  Pekah  ermordet 
wird,  während  Uzia  nach  52jähriger  Herr- 
schaft, in  Pekahs  2tem  Jahre  stirbt. 

Diese  e  i  1  f  Zahlen  nun  geben  uns  alle  nötbi- 
gen  Elemente  der  Frage.  Menahem  herrscht 
nach  Uzias  Antritt: 

*)  Siehe  die  Discussion  hierüber  Salomon  p.  32  83. 
Zahlen  ohne  Basen  kennen  wir  nicht:  wollten  wir  sie 
erfinden,  so  könnten  wir  dieses  so  gut,  und  vielleicht 
noch  besser  als  Andere.  Dort  findet  man  auch  die  Be- 
leuchtung des  27ten  Jahres  Jerobeams  II.  für  Uzias  Re- 
gierungsanfang, wofür  Josephus  (J.  A.  IX,  10,  3)  das 
14te  giebt,  so  wie  die  Besprechung  von  Jes.  7,  8,  wo 
sich  die  Zahl  65  findet. 


120  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  4. 

von  37 7/i»  +  <p  bis  49  +  x,  «1*6: 

n5/i»-(y-z). 

Da  aber  dem  Menahem  nftr  10  Jahre  gegeben 
werden,  und  die  Differenz  q>  —  %  doch  immer 
kleiner  sein  muß  als  die  Einheit,  so  muß  der 
Gegner  Phuls  nahe  an  101/»  Jahre  regiert  ha- 
ben, tf  der  Einheit  und  %  der  Null  nahe  kom- 
men. Das  ist  aber  im  Einklang  mit  der  Ab- 
gabe, daß  Zacharia  im  38ten  Jahre  Uzias  dei- 
nem Vater  folgte,  and  daß  man  nach  seehö  Mo- 
naten schon  das  39te  zählte.  Daß  %  aber  klein 
sein  muß,  geht  aus  der  Angabe  hervor,  daß 
Pekahia  von  Uzias  49  +  X  bis  51  +  a  regierte, 
also  2  +  (<r  —  x)'  Das  heißt  also,  Pekahia  hat 
ungefähr  volle  zwei  Jahre  regiert.  Ob  etwas 
mehr,  ob  etwas  weniger,  wissen  wir  nicht:  da 
wir  nicht  mit  Gewißheit  sagen  dürfen,  daßff — % 
positiv  ist ;  auf  jeden  Fall  ist  a  sehr  klein :  denn 
die  Zahl  Uzias  ist  (51  +  a)  +  (1  +  t)  =  52  + 
0  +  r,  und  a  -f-  %  ist  auch  kleiner  als  ein  halb. 
Eine  solche  Uebereinstimmung  erfindet 
kein  Fälscher  *),  der  daran  auch  gar  kein  Inter- 
esse hat:  im  Gegen theil,  wir  stehn  hier  vor  eilf 
Angaben,  die  nothwendig  aus  direkter  Quelle 
fließen.  Unter  Menahem  I.  erscheint  Phol;  un- 
ter Pekah,  und  zwar  erst  nach  Jothams  Tode, 
das  ist  unter  dessen  Sohn  Ahaz,  nach  dem  17ten 
Jahre  Pekabs,  kommen  wir  miiTeglatbphalasar, 
seinem  Menahem  und  seinem  Asria  zusammen. 
Also  mindestens  #0  Jahre  nach  Pbul's  Einfall 
in  Palästina  sprechen  die  Keilschriften  von 
einem  Menahem,  einem  Ioahaz  (Jauhaz)  und 
einem  Asria:  dieses  ist  also  ein  anderer  Mena- 
hem,  und    ein    anderer   Asria.     Den  Menahem 

*)  In   einer   anmuthigen  Frohsinn   erregenden  Seite 
vcrmuthet  Hr.  Floigl  Fälschung.    Dolus  non  praesumitar. 


Hommel,  Babyl.-ftstyr.  u.  iarael.  Geschichte  in  Tabell.    121 

habe  ich  nicht  „fingiert"*)  denn  er  steht  in 
den  Keilinschriften,  die  noch  dreißig  Jahre 
später  von  einem  drittem  Menahem  reden.  Von 
diesem  Menahem  sagen  die  Königsbttcber  nichts, 
aber  sie  schweigen  auch  über  den  mächtigen 
Prätendenten,  den  gegen  Ahaz  aufgestellten 
Usurpator,  der  den  Lesern  des  Jesaias  (7,  6)  so 
bekannt  war,  daß  der  Prophet  ihn  nur  als 
„Sohn  Tabeelstf  bezeichnen,  wie  er  auch  Pekah 
einfach  „Remalia's  Sohn"  nennen  durfte.  Tabeels 
Sobn  ist  Asria  oder  Azaria. 

Wir  haben  in  den  Keilinschriften  also  die- 
selben Personen,  denselben  Ahaz  und  denselben 
Rezin  von  Damaskus,  den  der  biblische  Tiglat» 
pileser  tödtet,  und  der  auch  dem  keilschriftlicben 
erliegt,  denselben  Hader,  und  denselben  Pekah, 
denselben  Hosea.  Nur  der  NichtUnterbrechung 
der  Eponymenliste  willen,  muß  man  sich,  im 
Widerspruch  mit  allen  historischen  Texten,  zur 
ungeheuerlichen  Hypothese  bequemen,  die  Phul 
und  Teglathphalasar  zusammen  knetet,  und  aus 
zweien  eine  Person  macht,  die  zuerst  Phul  gehei- 
ßen haben  soll,  dann  Teglathphalasar,  und  dann 
wiederum  Phul.  Ueber  Porus  des  Kanons  ha- 
ben wir  uns  schon  ausgesprochen.  Sollten  wir 
dieses,  wie  im  apagogischen  Beweise,  einmal 
annehmen  wollen,  so  änderte  es  doch  gar  nichts 
weiter,  als  daß  dieselbe  Persönlichkeit  als  Phul 
gegen  770  Menahem  I.  bekriegt,  später  als 
Teglathphalasar  738  den  Menahem  II.  zum  Va- 
sallen hat,  732  Ahaz  gegen  Pekah  und  Rezin 
hilft,  728  als  Porus  Babylon  beherrscht,  und 
726  als  Teglathphalasar  das  Zeitliche  segnet. 
An*  der  biblischen  Geschichte  würde  dieses  Nichts 
modificieren. 

*)  s.  b.  201 


122  Gott.  gel.  Aoz.  1861.  Stück  4. 

Pekab  hat  nun  allerdings  zwanzig  Jahre  re- 
giert, obgleich  zwischen  seinem  Antritt  und  sei- 
nem Ende  29  Jahre  verflossen  sind.  Denn  in 
Pekahs  17 ten  Jahre  herrscht  Ahaz,  in  dessen 
12tem  Jahre  (so  sagt  der  Text  Kön.  II,  16, 1  *) 
Pekah  ermordet  wird.  Ahaz  regiert  16  Jahre, 
Hosea,  Pekahs  Nachfolger  9,  in  Hoseas  6ten 
stirbt  Ahaz.  So  sind  die  Zahlen**).  Alle  stim- 
men aber  für  eine  längere  Herrschaft  als  20 
Jahre :  und  doch  dürfen  wir  letztere  Zahl  nicht 
ändern,  denn  es  verwehrt  dies  die  Erwähnung 
des  inschriftlichen  Menahem,  der  eben  während  9 
Jahre  das  Königthum  Pekahs  unterbrach.  Die- 
ser Menahem  war,  wie  Ahaz,  ein  Freund  des 
Assyrers,  und  von  diesem  gegen  den  Feind 
Pekah  aufgestellt.  Letzterer  herrschte  zuerst  17 
Jahre,  wurde  von  Menahem  IL  während  9  Jahre 
verdrängt,  und  nach  ihm  gelangte  Pekah  noch 
zur  Herrschaft  während  dreier  Jahre,  nach  wel- 
chen er  von  Hosea,  auf  Teglathphalasars  Antrieb, 
getödtet  wurde.  Dieses  ist  die  Geschichte,  wie 
sie  aus  den  biblischen  Texten  erhellt,  und  durch 
die  Keilinschriften  vervollständigt  wird. 

Um  nun  zu  Hrn.  Hommel  zurückzukehren, 
so  mag  das  Bild  seiner  willkürlichen  vermeint- 
lichen Chronologie  hiermit  genug  gezeichnet 
sein,  daß  nach  ihm  Pekah  nicht  29,  oder  20, 
sondern  nur  drei  Jahre  regiert.  Der  Verfasser 
hätte  nur  vorerst  für  seine  Zeitrechnung  eine 
Geschichte  schreiben  sollen. 

Jeder  Andere  kann,  wie  gesagt,  jedes  andere 
Mittelchen  zu  Markte  tragen.  Eilf  Könige  Israels 
sind  in  der  Bibel  von  Jehu  bis  Hosea  genannt: 
Jedermann   kann   andere  beliebige   eilf  Posten 

*)  Im  Widerspruche  mit  der  eorrupten  15,  30:  im 
20ten  Jahre  Jothams. 

**)  Ueber  die  Schwierigkeiten  s.  Salomon  26. 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    123 

vorschlagen,  die  zusammen  120  ausmachen.  Hr. 
Hommel  setzt  vier  davon  gleich  Null :  da  aber 
seine  Zahlen  zusammen  nur  111  Jahre  geben, 
so  verausgabt  er  das  Reliquat  9  für  ein  Inter- 
regnum :  der  Ueberschuß  in  seiner  Gomptabilität 
erlaubt  es  ihm.  Dieses  ist  das  Facit  dieses  jam- 
mervollen Fiasco,  welches  beweist,  daß  man 
keine  biblische  Chronologie  ohne  die  Bibel  ma- 
chen kann. 

Was  nun  die  eigentlich  assyrische  Chronolo- 
gie anbelangt,  so  kennt  Hr. Hommel  die  wirk- 
lichen Daten  nicht  Er  hat  keine  Ahnung 
von  der  Sonnenfinsterniß  des  Teumman  (Gott, 
gel.  Anz.  1880  p.  1489),  vom  27.  Juni  661,  so 
wichtig  für  die  Zeitrechnung  Assurbanhabals. 
Daß  Belsunu's  Eponymie  auf  660  fallen  muß,  ist 
ihm  unbekannt,  ebenso  daß  der  30  Tebet  Bel- 
kas-sadua  auf  den  22.  Januar  644  v.  Chr.  zu 
setzen  ist. 

Der  speciell  assyrische  Tbeil  enthält  manches 
Brauchbare.  Oannes,  „Ea  (Kin)  als  Fisch u  ist 
möglich.  Aber  wenn  der  Verf.  aus  der  Partikel 
adi  „bis",  den  Adorns  macht,  weil  Alorus,  von 
wegen  des  Lambda,  auch  Adorns  gelesen  wer- 
den kann,  so  leistet  er  doch  in  der  Unkritik 
alles  Mögliche.  Die  Phrase  ist*):  ultu  yume 
ruquti  adi  I  Sini,  „von  den  ältesten  Zeiten  bis 
auf  die  Mondperiode".  Hr.  Hommel  behauptet 
in  der  Larnakainschrift  in  Berlin  fehle  das 
adi:  aber  auch  ultu  fehlt,  denn  sie  sind  ab- 
gesägt. Man  hat  den  Stein  durchgeschnitten, 
am  ihn  besser  zu  transportieren.  Noch  sieht 
man  das  Ende  des  Zeichen  an:  und  es  stand 
dort: 

*)  S.  meine  Uebersetzung  der  Khorsabadinschrift. 
Dour-Sarkayan  p.  35.  Im  Jahre  1874  schien  dieses 
Herrn  Schrader  noch  unantastbar. 


j  -> 


124  Gott.  gel.  Aiiz.  1881.  Stück  L 

[Ultu  yu\me  ruquti  qibit  Assur 
Jadi    mujanna *). 
nVon  den  ältesten  Zeiten,  dem  Anfang  Assyriens, 
bis  auf  heute"  (das  heißt  712  v.  Chr.). 

Durch  des  Hrn.  Verf.'s  Jugend  entschuldigt 
sich  wohl  die  etwas  anmaßende  Aeußerung, 
„trotz  Oppert  eine  für  immer  (!)  gesicherte 
Gleichstellung".  Exegi  monumentum  aere  pe- 
rennius.  Es  handelt  sich  darum,  ob  Sumir  gleich 
Sennaar  ist,  und  Südbabylonien.  Es  existiert 
überhaupt  kein  Südbabylonien.  Daß  Sumir  Süd- 
cbaldäa  ist,  ist  nur  eine  Entlehnung  meiner  ersten 
vielleicht  richtigen  Ansicht  (1858)  (E.  M.  t.  II  335). 

In  dieselbe  Kategorie  der  Ueberhebung  ge- 
hört die  Lesung  Raman  für  den  Gott,  für  den 
durch  eine  hebräische  Lesung  die  Aussprache 
Ben  anempfohlen  werden  kann.  Warum  ist  die 
Lesung  „falsch"?  Der  Gott  wird  durch  ein  Zei- 
chen U  ausgedrückt,  welches  beni  umschrieben 
wird,  in  tausend  Stellen:  beni  wird  auf  assy- 
risch belu,  beli,  bela  gelesen,  je  nach  Bedarf. 
Der  syrische  König  wird  in  dem  hebr.  Texte 
Benhadad  genannt,  für  den  dieLXX  vi<)<;  *^4dt,Q 
schreiben.  Wenn  also  die  gleichzeitige  Bibel  den 
Laut  Ben  für  den  aramäischen  Gottesnamen 
brauchte,  denn  Ben  heißt  nicht  Sohn  auf  ara- 
mäisch, so  liegt  bierin  wenigstens  schon  der 
Anfang  eines  Beweises,  während  für  das  Raman 
absolut  nichts  spricht. 

Es  wäre  vielleicht  hier  am  Platz,  etwas  über 
die  assyrischen  Götternamen,  die  sich  in  der 
Bibel  finden,  zu  sagen.  Wir  zählen  deren  acht: 
von  diesen  ist  die  Lesung  Bei,  Nebo,  Assur, 
durch  die  Keilschriften  bestätigt.  Die  Aussprache 
von  vieren,  Sin,  Merodach,  Nergal  und  Salman 

*)  S.  meine  Uebersetzung  Records  of  the  past,  t.  VII, 
p.  23. 


Hommel,  Babyl.-assyr.  u.  israel.  Geschichte  in  Tabell.    125 

faßen  lediglieh  auf  der  Bibel.  Sin  entwickelte 
Hincks  (1849)  aus  dem  Namen  des  Sanherib, 
die  Aussprache  des  Gottesnamens  Merodach  be- 
ruht gleichfalls  auf  der  Bibel  (Rawlinson  1851); 
das  Amar-uduk,  welches  erst  darnach  gemacht 
ist,  ist  eine  Spielerei.  FtirNergal  (Oppert  1853) 
haben  wir  bis  jetzt  absolut  keinen  andern  Be- 
weis als  Jeremias  Nergalsarezer.  Salman  ist  nur 
wegen  des  biblischen  Salmanassar  so  gelesen.  *) 
Was  meine  Lesung  Adar  (1868  Chronologie 
biblique  p.  14)  anbelangt,  so  ist  sie  nie  etwas 
anders  gewesen,  als  ein  Vorschlag;  auch  die 
Aussprache  Samdannu  (E.  M.  II)  1868,  erhalte  ich 
„trotz"  Delitzsch,  Hommel  und  Meyer,  als  min- 
destens ebenso  möglich  wie  Baman,  aufrecht. 

Unser  junger  Freund  hat  sich  ernstlich  mit 
den  assyrischen  Inschriften  beschäftigt,  daher 
auch  der  ausschließlich  auf  Texte  basierte  Theil 
wegen  des  darauf  verwandten  Fleißes  aner- 
kennenswert!) ist.  Wir  bedauern  dagegen  die  ab- 
solute Unbrauchbarkeit  seiner  Chronologie.  Er 
möge  sich  mit  den  auf  diese  Wissenschaft  be- 
ziehenden Fragen  genauer  bekanntmachen:  bis 
er  dieses  gethan,  darf  er  sich  nicht  wundern, 
daß  vorzügliche  für  einen  größern  Kreis  von 
Lesern  berechnete  Sammelwerke,  wie  die  von 
Biehm,  Schenkel  und  andere,  von  seinen  will- 
kürlichen Aufstellungen  nichts  wissen  wollen. 
Sie  than  Recht.  Für  „gebildete  Laien"**)  passen 
dieselben  nicht.    Und  dieses  ist  der  Beweggrund, 

*)  Meine  1853  gegebene  Aussprache  Salman-asir  hat 
rieh  jetzt  bestätigt  durch  ein  babylonisches  Täfelchen, 
wo  der  Name  (Izku)  d.  i.  Tuklat-habal-asir  steht.  Esara 
ist  „falsch".  Hr.  Hommels  ussur  beruht  auf  einem  Miß- 
verständnis der  sumerischen  Exorcismusinschrift. 

**)  Der  Gegensatz  zu  diesem  sonderlichen  Aus- 
drucke wäre  „ungebildete  As syrio logen". 


126  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  4. 

weshalb  wir  mit  gewissenhaftem  Ernste  solche 
Versuche  bekämpfen.  Handelte  es  sich  bloß  um 
rein  wissenschaftliche  Fragen,  so  würden  wir 
dieselben  gleichgültiger  beurtheilen.  Aber  Hr. 
Hommel  trägt  den  Wunsch  zur  Schau,  seine 
unrichtigen  Rechenexempel  zu  popularisieren. 
Seinen  pädagogischen  Prätensionen  gegenüber 
müssen  wir  unsere  Ansicht  viel  schärfer  beto- 
nen als  wir  es  sonst  gethan  hätten,  indem  wir  vor 
der  Verbreitung  solcher  nicht  allein  unbewiese- 
nen, sondern  nachweisbar  irrigen  Annahmen,  im 
Interesse  der  Wissenschaft,  und  namentlich  des 
Unterrichts,  entschieden  warnen. 

Paris,  November  1880.  J.  Oppert. 

Essai  sur  la  vie  et  le  regne  de  Septime  Se- 
vere. Memoire  couronne'  par  l'Acade'mie  royale  de 
Belgiqne.  Par  Adolphe  de  Ceuleneer,  Sous-Bi- 
bliothe'caire  ä  PUniversite*  de  Liege.  Bruxelles  1880. 
314  p.  4°.  (Extrait  du  tome  XLIII  des  M^moires  de 
PAcademie  de  Belgique). 

Das  so  lange  vernachlässigte  Studium  der 
römischen  Kaisergeschichte  ist  in  neuerer  Zeit, 
dem  mächtigen  von  Borghesi  und  Mommsen  ge- 
gebenen Impulse  folgend,  in  erfreulicher  Weise 
in  den  Vordergrund  getreten.  Mit  Vorliebe  ha- 
ben sich  Deutsche  und  Franzosen  der  Darstel- 
lung fest  abgegränzter  Epochen  der  Kaiserzeit 
zugewandt  und  brauchbare  Vorarbeiten  für  eine 
noch  zu  erhoffende  Gesammtgeschichte  des  rö- 
mischen Kaiserreiches  geliefert.  In  den  Kreis 
dieser  Forscher  ist  mit  vorliegender  Schrift  ein 
belgischer  Gelehrter  getreten,  der  sich  die  Schil- 
derung der  markanten  Persönlichkeit  des  Septi- 
mius  Severus  zur  Aufgabe  gestellt  hat.  Abge- 
sehen von  dem  breiten  und  inhaltsleeren  Buche 
von  Hoefner,   auf  dessen  Fortsetzung   der  Ver- 


A.  de  Ceuleneer,  Septime  Se>ere.  127 

fasser  wohl  in  richtiger  Selbsterkenntniß  ver- 
zichtet haben  dürfte  und  dem  ausführlichen,  je« 
doch  in  die  inneren  Verhältnisse  nicht  tief  ge- 
nug eindringenden  Essai  von  Duruy  (Revue 
historique  VII,  1878  und  Histoire  des  Romains 
t  VI,  1879),  war  dieser  merkwürdige  Kaiser  in 
neuerer  Zeit  nicht  zum  Gegenstande  einer  selb« 
ständigen  Darstellung  gemacht  worden,  so  sehr 
er  und  mehr  noch  die  bedeutungsvolle  Periode, 
der  er  seine  Signatur  aufgedrückt  hat,  eine 
solche  zu  verdienen  scheint.  Ceuleneer  hat  sich 
dieser  Aufgabe  mit  Fleiß  und  Geschick  unter- 
zogen, die  antiken  Quellen  und  die  moderne 
Literatur  gewissenhaft  benutzt,  den  reichen  Stoff 
verständig  disponiert  und  in  gefälliger  Darstel- 
lung verarbeitet  Fast  die  erste  Hälfte  des  Bu- 
ches (S.  11  —  144)  ist  der  äußeren  Geschichte 
gewidmet,  während  die  letzten  fünf  Kapitel  (S. 
145—290)  die  innere  Politik  des  Severus,  sei- 
nen gewaltigen  Gardepräfecten  Plautianus,  die 
Lage  der  Christen,  die  Reichsverwaltung  und 
die  das  Recht  betreffenden  Reformen  schildern. 
Den  Schluß  (S.  291-304)  bildet  eine  zusam- 
menfassende Würdigung  dessen,  was  Severus 
gewollt  und  was  er  erreicht  hat.  — 

Ist  das  Buch  auch  nicht  gerade  reich  an 
selbständigen  Resultaten  und  fruchtbaren  neuen 
Gesichtspunkten,  so  erhält  man  doch  überall  den 
Eindruck  einer  gewissenhaften  und  soliden  Ar- 
beit, die  freilich  in  Betreff  der  inneren  Refor- 
men des  Kaisers,  speciell  auf  militärischem  Ge- 
biet, keineswegs  als  eine  abschließende  bezeich- 
net werden  kann.  —  Im  Einzelnen  ist  dem  Ref. 
aufgefallen,  daß  Ceuleneer  (S.  22)  der  von  Re- 
nier  vorgeschlagenen,  ganz  willkürlichen  Re- 
stitution   der  Lyoner   Inschrift  (Orelli  912)   auf 


128  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  4. 

den  Namen  des  Severus  gefolgt  ist;  mehr  noch, 
daß  er  (S.  104)  die  unverständige  Deutung 
Montfaucon's  einer  Gemmeninschrift,  ohne  einen 
Zweifel  daran  zu  äußern,  aufgenommen  hat. 
Die  von  Bormann  (bullett.deirinstit.1867  p.218) 
gegebene  richtige  Datierung  des  Todesjahres  des 
Plautianus  auf  205  hätte  wohl  eine  Erwähnung 
verdient,  wenn  auch  Ref.  in  seinen  Untersuchun- 
gen (S.  230)  sich  derselben  Unterlassung  schul- 
dig gemacht  zu  haben  bekennt.  Nicht  ohne 
Verwunderung  wird  Mancher  die  doch  von  einer 
gar  zu  idealen  Auffassung  des  Urchristenthnms  zeu- 
genden Worte  des  Verfassers  lesen  (S.  207  A.  7) : 
il  nous  semble  que,  si  meine  Marcia  (die  Mai- 
tresse des  Gommodus)  eüt  jamais  Sie  chretienne, 
cequin'est  pas  prouve,  VEglise  Vaurait  rejetee 
de  son  sein  du  jour,  oü  eile  eommenga  ä  mener 
tme  vie  deregUe! 

Wien.  0.  Hirschfeld. 


P.  de  La  gar  de:  Aus  dem  deutschen  Gelehrtenleben. 
Aktenstücke  und  Glossen.  Göttingen  1880,  Dieterich- 
sche  Verlagsbuchhandlung. 

Ich  werde  von  Herrn  Professor  E.  Boehmer 
darauf  .aufmerksam  gemacht,  daß  ein  auf  Seite  5 
dieser  Schrift  stehender  Satz  so  verstanden  wer- 
den könne,  als  ob  für  Herrn  Professor  Boehmer 
aus  Wien  nach  Straßburg  unter  Einschrän- 
kungen gelangte  Manuscripte  dort  nicht  in  der 
von  Wien  aus  gewünschten  Weise  behandelt 
worden  seien.  Nichts  hat  mir  —  wie  Herr  Pro- 
fessor Boehmer  weiß  —  ferner  gelegen  als  dies 
andeuten  zu  wollen. 

P.  de  Lagarde. 

Für  die  Redaction  verantwortlich:  E.  Behnüch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Verlag  der  Dieter  ick' sehen  Verlags -Buchhandlung. 

Druck  der  Dieierich' sehen  Un»v.-  Bachdruckerei  ( W.  F)r.  Kaesiner). 


.1 


129 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  5. 6.  2.  u.  9.  Febr.  1881. 


Inhalt:  J.  F.  Böhmer,  Die  Begasten  des  Kaiserreiches  unter  dea 
Karolingern,  neu  hearb.  t.  E.  Mühlbacher.  1.  Lief.  Ton  £  Dümmltr. 
—  Deutsche  Pilgerreisen  nach  dem  heil.  Lande,  heransgeg. 
i.  erlitt.  Ten  B.  Böhricht  u.  H.  Meiner.  Yon  W.  Etyd.  —  Berthold 
v.  Regensburg,  Deutsehe  Predigten,  herausgeg.  t.  Fr.  Pfeiffer. 
1  Bd.,  toh  Jos.  StrobL  Yen  K.  Bartack,  —  0.  Gierke,  Johannes 
Attlmsius.    Von  Ä  Brie. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  An*,  verboten  s 

Die  Regesten  des  Kaiserreiches  unter  den 
Karolingern  752—918.  Nach  Joh.  Friedr.  Böh- 
mer neu  bearbeitet  von  Engelbert  Mühlbacher. 
1.  Lieferung.  Innsbruck,  Verlag  der  Wagnerischen 
Universitäts-Buchhandlung.    1880.    160  S.    4°. 

An  die  ans  Böhmers  Nachlaß  schon  früher 
von  Huber,  Will  und  Ficker  neu  bearbeiteten 
Regesten  schließt  sich  die  vorliegende  Abthei- 
lang,  die  wir  dem  durch  seine  bisherigen  Lei- 
stungen bereits  rühmlich  bekannten  Privatdocen- 
ten  Mühlbächer  in  Innsbruck  verdanken,  auf 
das  würdigste  an.  Eine  neue  vervollständigte 
Ausgabe  der  im  J.  1833  zuerst  erschienenen 
und  deshalb  sehr  veralteten  Regesten  der  Karo- 
linger mußte  um  so  mehr  in  diesem  Augenblicke 
als  ein  Bedürfnis  erscheinen,  da  Stumpf  diesel- 
ben in  seine  Reichskanzler  nicht  mit  aufgenom- 
men hat  und  da  andrerseits  die  Diplomata  der 
Mon.  Germ,  leider  nicht  mit  dieser  grundlegen- 
den Zeit  beginnen,  sondern  willkürlich  mit  der 

9 


130  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

Regierung  Konrads  I.  Das  vorliegende  erste 
Heft,  welches  unvollendet  mitten  im  J.  803  ab- 
bricht, hat  seine  Aufgabe  in  zweckmäßiger 
Weise  dadurch  erweitert,  daß  vom  h.  Arnulf  an 
alles  zusammengestellt  ist,  was  über  die  Karo- 
linger vor  ihrer  Thronbesteigung  in  diesen  Rah- 
men paßte.  Der  Umfang  und  die  Behandlung 
des  aufzunehmenden  Stoffes  bestimmte  sich  durch 
das  Vorbild,  welches  Böhmer  selbst  in  seinen 
späteren  Regesten  seit  1198  gegeben  hatte.  Mit 
der  größten  Vollständigkeit  sind  also  alle  Zeug- 
nisse der  erzählenden  Quellen  herangezogen 
worden,  aus  denen  sich  irgend  ein  Aufschluß 
über  den  jeweiligen  Aufenthaltsort  des  Herr- 
schers gewinnen  läßt.  Neben  der  viel  größeren 
Ausführlichkeit,  welche  die  Regesten  nach  bei- 
den Seiten  hin  gegen  die  erste  Ausgabe  erhal- 
ten haben,  ist  namentlich  noch  hervorzuheben, 
daß  der  Herausgeber,  soweit  er  vermochte,  der 
handschriftlichen  Ueberlieferung  der  Urkunden 
überall  nachgegangen  ist,  d.  h.  sowohl  den  Ori- 
ginalen als  den  etwaigen  Abschriften,  ferner, 
daß  die  Namen  der  Schreiber  vollständige  Auf- 
nahme gefunden  haben.  Dagegen  ist  nicht,  wie 
in  jenen  Kegesten  der  Staufer,  eine  zusammen- 
fassende Charakteristik  der  einzelnen  Regierun* 
gen  vorangestellt.  Sickels  Regesten  der  Karo- 
linger,, nach  einem  ganz  andern  Plane  freilieb 
bearbeitet,  gewährten  die  wichtigste  Unter- 
stützung, daneben  bis  788  die  Jahrbücher  des 
Deutschen  Reiches;  ebenfalls  durch  Vermittlung 
Sickels  konnte  der  Verfasser  manches  aus  den 
Sammlungen  der  Mon.  Germ,  benutzen.  Die 
Fälschungen,  welche  Sickel  in  seinem  Werke 
am  Schlüsse  zusammengestellt  hatte,  sind  hier 
unter  die  echten  Urkunden  eingereiht,  aber 
schon  durch  die  Art  des  Druckes  in  sehr  kennt- 


Begesten  des  Kaiserreichs  unter  den  Karolingern.    131 

lieher  Weise  hervorgehoben.  Die  Capitularien 
haben  gleichfalls  eine  angemessene  und  ein« 
gehende  Berücksichtigung  gefunden,  ihre  Ein- 
reihung machte  in  Ermangelung  der  unmittelbar 
bevorstehenden  neuen  Ausgabe  von  Boretius 
viele  Schwierigkeiten  und  mußte  oft  eine  un- 
sichere bleiben.  Besonders  dankenswerth  und 
in  dem  Vorbilde  Böhmers  minder  begründet  ist 
die  überaus  fleißige  Verwerthung  der  neueren 
Literatur,  die  vielfachen  Hindeutungen  auf  kri- 
tische Zweifel  über  diesen  oder  jenen  Punkt 
u.  s.  w.,  alles  aber  in  knappster  Form  und  nicht 
mit  der  allzugroßen  Ausführlichkeit,  durch  welche 
die  Mainzer  Regesten  angeschwellt  sind.  Gegen* 
über  dem  außerordentlichen  Fleiße  und  der 
Sorgfalt,  welche  dieses  Werk  auf  jeder  Seite 
auszeichnen,  wird  es  'sehr  schwer  sein,  Nach- 
träge oder  Berichtigungen  hinzuzufügen.  Nur 
zum  Zeugnis  meines  guten  Willens  bemerke  ich, 
daß  S.  36  die  Transl.  S.  Germani  nach  dem 
von  Wattenbach  (GQ.  I,  121  A.  2)  darüber  ge- 
fällten ungünstigen  Urtheile  wohl  kaum  die  ihr 
geschenkte  Beachtung  verdient  hätte»  Der  Name 
der  Tochter  des  Königs  Desiderius  (S.  57)  ist 
auch  durch  Andreas  von  Bergamo  überliefert, 
leider  mit  unsicherer  Lesart.  Ueber  Himiltrud 
hätte  vielleicht  auch  auf  den  Brief  Stephans  IV« 
(lion.  Carol,  p.  159)  verwiesen  werden  können. 
Für  das  bekannte  Bundschreiben  Karls,  in  wel- 
chem Paulus  erwähnt  wird  (S.  101),  ist  die  auf 
der  vormals  Beichenauer  Hs.  beruhende  Aus- 
gabe Rankes  wegen  der  hinzugefügten  Erläute- 
rungen nicht  unwichtig:  sie  wurde  schon  von 
Waitz  für  seine  Einleitung  zum  Paulus  heran- 
gezogen. Ob  der  in  Nr.  289  (S.  110)  erwähnte 
Doddo  in  der  That  ein  Grieche  war,  muß  dahin- 
gestellt  bleiben,  s.   SS.  XI,  6  n.  22.     Ebenso 

9* 


132  Gott.  gel.  An«.  1881.  Stück  5.  6. 

wie  der  Todestag  Angiltamns  und  Wiomads 
hätte  S,  119  auch  der  Sintberts  aus  Regensbur- 
ger Todtenbüchern  festgestellt  werden  können 
—  es  ist  der  29.  September  — ,  um  dadurch  der 
Begrenzung  der  52  Tage  näher  zu  kommen,  die 
dieser  Feldzug  in  Anspruch  nahm  u.  s.  w.  Wün- 
schen wir  dem  Verf.  so  wie  uns  einen  rüstigen 
Fortgang  und  baldigen  Abschluß  des  mühsamen 
Werkes,  das  zum  unentbehrlichsten  Handwerks- 
zeuge aller  Forscher  auf  diesem  Gebiete  fortan 
gehören  wird. 

Halte.  E.  Dttmmler. 


Deutsche  Pilgerreisen  nach  dem  heili- 
gen Lande  herausgegeben  und  erläutert  von  Rein- 
hold Röhricht  und  Heinrich  Meisner. 
Berlin,  Weidmann  1880.    VlI  u.  712  SS.    8Ö. 

Seit  das  alte  „Reyßbuch  des  heiligen  Landes" 
eine  Reihe  deutscher  Pilgerberichte  zusammen- 
faßte, ist  meines  Wissens  kein  Versuch  nlfehr 
gemacht  worden,  mehrere  Stücke  dieser  Litera- 
tutgättung  in  eine  Sammlung  zu  vereinigen.  Die 
Übersicht  über  das,  was  auf  diesem  Gebiet  ge- 
druckt ist,  wird  wesentlich  dadurch  erschwert, 
daß,  während  die  ausführlicheren  Delationen  be- 
sonders publiciert  wurden,  die  kürzeren  sich  in 
die  Mittheilungen  der  verschiedensten  Localge- 
schichtsvereine  durch  ganz  Deutschland  hin  ab- 
lagerten. Nun  erwerben  sich  die  Herausgeber 
dies  obigen  Buches  das  Verdienst,  auf  Grund 
aasgedehnter  Nachforschungen  in  Bibliotheken 
und  Archiven  „dreiundzwanzig  fast  ausschließ- 
lich ünedierte,  oft  sogar  dem  Namen  nach  un- 
bekannte Reisebeschreibungen"  vereinigt  dem 
Publikutti  vorzulegen.  Das  von  ihnön  selbst  ge- 
förderte und  durch  Material  unterstützte  (S.  469. 
611. 577)  Vorhaben  der  Pariser  Soci&6  de  TOrient 


Böhricht  u.  Meisner,  Dtech.  Pilgerreise**  n.  d.  hl.  Lande.  183 

latin,  sämmtliche  Pilgerschriften  des  Hittelalters 
aus  ganz  Europa  zusammenzubringen,  ist  doch 
allzuweit  aussehend,  als  daß  wir  Deutsehe  uns 
gerne  auf  das  Erscheinen  dieses  großartigen 
internationalen  Sammelwerkes  vertrösten  lassen 
möchten,  wenn  wir  auch  der  Energie  und  der 
Sachkunde  des  Grafen  Riant  alles  Zutrauen 
schenken.  Wollen  wir  ein  volles  Bild  de«  Ge- 
sammtlebens  unseres  deutschen  Volks  im  Mittel- 
alter gewinnen,  so  dürfen  wir  nicht  verfehlen, 
seine  Vorliebe  für  Pilgerreisen  ins  Auge  zu 
fassen.  Dieser  Seite  der  deutschen  Kulturge- 
schichte haben  die  Herausgeber  in  der  histori- 
schen Einleitung  eine  aus  allen  erreichbaren 
Quellen  geschöpfte  und  sehr  anziehend  geschrie- 
bene Schilderung  gewidmet,  in  welcher  sie  den 
Pilger  durch  alle  Stadien  von  deu  ersten  Vor- 
bereitungen zur  {leise  bis  zur  Rückkehr  in  die 
Heimat  begleiten.  Wie  Viele  sich  den  Be- 
schwerden und  Gefahren  einer  solchen  Pilger 
fahrt  aussetzten,  wird  sich  niemals  genau  in 
Zahlen  ausdrucken  lassen.  Wir  finden  aber  auf 
S.  463—546  ein  mit  großem  Fleiß  zusammen? 
gestelltes  Verzeichpiß  der  Deutschen,  von  denen, 
irgendwie  bekannt  geworden,  daß  sie  zwischen 
1300  und  1600  die  heiligen  Stätten  besuchten, 
und  da  werden  ungefähr  1400  Pilgernamen  an 
uns  vortibergeftjbrt  Hätten  wir  ähnliche  Listen 
von  andern  Nationen,  so  würden  wir  annähen^ 
erfahren,  tqit  wie  großen  Contingenten  die  ein- 
zelnen abendländischen,  Völker  sich  an  den  Pil- 
gerfahrten beteiligten.  Oh  dies  nun  freilich 
einen  Gradmesser  fyr  die  Religiosität  derselben 
abgeben  wt^rde,  fragt  sich  immerhin,  da  neben, 
den  religiösen  Motiven,  der  R,eisetrjeb  uwd  die 

Neugierde   eine   ziemliche  Rolle   spielten.    Den 
Niederländern  wird  vorgeworfen,  daß  ihrq  fil- 


184  Gott,  gel.  Auz.  1881.  Stück  5.6. 

gerreisen  vorwiegend  dem  Ritterschlag  am  hl. 
Grab  galten,  auf  dessen  Erlangung  sie  beson- 
deren Werth  legten,  und  daß  sie  durch  Völlerei 
und  Kartenspiel  anderen  Pilgern  Anstoß  gaben. 
Aber  auch  unter  den  Deutschen  glänzten  nicht 
Alle  durch  frommes  Gebahren  und  Einzelne 
nahmen  sogar  galante  Abenteuer  gerne  mit 
(S.  504). 

Den  Kern  des  Buches  bilden  die  23  Reise- 
beschreibungen. Von  den  Handschriften,  aus 
welchen  sie  geschöpft,  soll  hier  nicht  weiter  die 
Rede  sein;  nur  die  Eine  Bemerkung  sei  gestat- 
tet, daß  die  Handschrift,  welche  Prof.  Haßler  in 
Ulm  von  Felix  Fabri's  geistlicher  Pilgerfahrt 
oder,  wie  er  das  Buch  betitelt,  von  den  „Sions- 
pilgerinnen"  besaß,  vollständiger  gewesen  zu 
sein  scheint  als  das  von  den  Herausgebern  be- 
nutzte Berliner  Manuscript;  in  jener  nämlich 
kommt  Pabri  unter  Anderem  auf  die  Stadt  Bo- 
logna zu  reden  und  berührt  das  Grab  des  Bru- 
ders Jakob  Griesinger  von  Ulm  in  der  dortigen 
Dominikanerkirche  *) ;  dieser  Abschnitt  fehlt  bei 
Röhricht  und  Meisner  und  sie  hätten  ihn  si- 
cher nicht  weggelassen,  wenn  sie  ihn  in  ihrem 
Manuscript  vorgefunden  hätten.  Denn  das  ist 
gerade  das  Verdienstliche  an  ihrer  Behandlung 
der  Texte,  daß  sie  das,  was  die  Pilger  auf  dem 
Hin  und  Herweg  sehen,  hören  und  erleben, 
nicht  etwa  kürzen  oder  gar  wegstreichen,  wo- 
fern es  irgend  Interesse  gewährt.  Dadurch  be- 
kommt nicht  nur  das  Ganze  mehr  Mannigfaltig- 
keit, sondern  es  erwächst  dadurch  reicher  Ge- 
winn fttr  die  Landes-  und  Volkskunde  des  gan- 
zen südöstlichen  Europa,  Vorderasiens  und  Ae 
gyptens;   unsere  Kenntniß   des   mittelalterlichen 

*)  Haßler,  Ulms  Kunstgeschichte  im  Mittelalter  (1864) 
8.  121. 


Röhricht  u.  Meisner,  Dtsch.  Pilgerreisen  n.  d.  hl.  Lande.  186 

Verkehrswesens  wird  durch  die  Boatiers  der 
Pilger  bereichert  und  einer  der  letzteren,  Sebald 
Rieter,  läßt  sich  sogar  durch  einen  Juden  in 
Jerusalem  die  Ueberlandroute  beschreiben,  wel- 
che deutsche  Juden  einzuschlagen  pflegten,  wenn 
sie  des  Handels  wegen  Syrien  besuchten  (S. 
112  f.).  Auf  der  andern  Seite  streichen  die 
Herausgeber  mit  anerkennenswerther  Energie 
die  eintönig  sich  wiederholenden  Beschreibungen 
der  heiligen  Stätten  sammt  ihrem  Legenden- 
und  Ablaßkram/  Auszüge  treten  manchmal  an 
die  Stelle  der  Texte,  aber  wo  die  letzteren 
wörtlich  mitgetheilt  werden,  wird  durch  philo- 
logische Akribie  ihrer  Bedeutung  als  Sprach- 
und  Dialectproben  gebührend  Rechnung  ge- 
tragen. 

An  den  Commentator  machen  diese  Texte 
ziemlich  starke  Anforderungen.  Ich  finde,  daß 
die  Herausgeber  Manches  nicht  scharf  genug 
aufgefaßt,  mißverstanden ,  unrichtig  gedeutet 
oder  unerklärt  gelassen  haben.  Hätten  sie  z.  B. 
gleich  bei  dem  ersten  Pilgerbericht,  den  sie 
herausgeben,  darauf  geachtet,  daß  der  Verfasser 
desselben  am  dritten  Tag  nach  seinem  Abgang 
aus  der  Heimat  schon  Venedig  erreicht,  so  hät- 
ten sie  selber  finden  können,  daß  er  nicht  vom 
schweizerischen,  sondern  vom  wälschen  Bern 
d.  h.  von  Verona  ausgieng,  somit  als  italieni- 
scher Pilger  aus  der  Sammlung  wegzulassen  ge- 
wesen wäre,  wie  sie  zu  spät  von  anderer  Seite 
erfuhren  (s.  S.  712).  —  Mißverstanden  ist  S.  127 
die  Stelle,  wo  es  heißt,  die  Pilger,  die  vom  Am- 
pezzanischen  heraus  auf  Venedig  zureiten,  müs- 
sen, um  an  letzterem  Ort  sicher  Quartier  zu  be- 
kommen, einen  Mann  „for  Heyne  vonn  Tarfis 
aber  Maysters  geynn  Venedigenn  schickenna, 
um  Herberge   zu   bestellen;    hier    wollen    die 


136  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stuck  5. 6, 

Herausgeber  statt  „for  heyne"  gelesen  wissen: 
von  Heyden,  d.  h.  von  Cortina  diAmpezzo,  nua 
sind  aber  al»  die  Orte,  von  welchen  aus  der 
Bote  abzusenden,  Treviso  oder  Mestre  bezeich- 
net, in  den  Worten  „for  heyne"  steckt  kein  wei- 
terer Ortsname,  sie  bedeuten  einfach:  vor  hin 
(für  „hin"  hat  der  Verfasser  sonst  die  Form 
„hyne",  hier  durch  Schreibfehler  „heyne"),  zum 
vorhinein,  zuvor,  zuvörderst.  —  S.  374.  Die 
„Falcke  und  Socker",  welche  die  Rhodiser  Rit- 
ter an  christliche  Fürsten  zu  verschenken  pfleg- 
ten, sind  nicht  „Johanniter",  wie  das  Register 
deutet,  sondern  Jagdvögel;  Socker,  sonst  Sacker, 
ist  falco  sacer,  Belege  z.  B.  bei  Schultz,  höfi- 
sches Leben  1,  368.  —  Nikia  (S.  314  und  454) 
hätte  leicht  als  die  Insel  Naxos  erkannt  werden 
können;  es  ist  ja  als  Sitz  von  Herzogen  cha- 
rakterisiert und  erzählt,  daß  einmal  ein  spani- 
scher Jude  den  Herzogssitz  eingenommen  habe 
—  der  bekannte  Don  Joseph  Nasi.  —  Das  Ca- 
put angeli  S.  394  würde  ich  nicht  durch  ein 
Fragezeichen  als  zweifelhaft  bezeichnen;  das 
Vorgebirge  Malea  führte  ja  schon  im  Mittelalter 
wie  in  neueren  Atlanten  den  zweiten  Namen 
Cap  S.  Angelo  (Anciollo  im  Atl.  Luxoro,  Malea 
Santo  Angnolo  bei  Uzzano  p.  220,  Cau  Saint 
Ange  bei  Anglure  p.  95  f.  u.  s.  w.).  —  Wenn 
ein  Pilger  an  der  Ostküste  Italiens  hinabsegelnd 
erst  die  anconitanische  Mark,  dann  die  Terra 
di  Abruzzo  („das  ertrich  Abrusin")  und  den 
Monte  Gargano  („Berg  des  heiligen  Engels"  — 
Michael)  berührt  bat  und  nun  „am  Ende  des 
apulischen  Landes"  „Adulteratum"  erreicht,  so 
kann  dies  nicht  Loretto  sein,  wie  die  Heraus- 
geber S.  47  erklären,  sondern  blos  Otranto,  wie 
auch  die  Worte  auf  der  folgenden  Seite  „in 
derselben  Stat  Alltwnti"   ganz   unzweideutig 


Röhricht  u.  Meisner,  DtscU.  Pilgerreisea  n.  d.  hl.  Lande.  137 

darthun.  —  Castel  Tornese  ist  eine  der  vielen 
Bargen  mit  romanischen  Namen,  die  ans  "im 
mittelalterlichen  Morea  begegnen;  die  Heraus- 
geber gehen  also  fehl,  wenn  sie  in  dem  großen 
Schloß  Tames  (S.  366)  das  alte  Thryum  vermu- 
tben.  Ebendort  bedeutet  Sonico,  wie  Zonte  S. 
135  nichts  Anderes  als  Juneh  (auch  Zonchio) 
oder  Alt-Navarin.  —  In  der  Reiseinstruction  des 
Bernhard  von  Breitenbach  heißt  es  S.  134*): 
achtzehn  Meilen,  ehe  man  nach  Korfa  komme, 
berühre  man  eine  Marienkirche  als  einzigen  Best 
einer  abgegangenen  Stadt,  die  Türken  nennen 
den  Ort  Cassopoli.  Hier  corrigieren  die  Heraus- 
geber ihren  Autor,  S.  Maria  de  Cassapoli  sei 
vielmehr  auf  der  Insel  Korfu  selbst.  Eigen- 
tümlicher Weise  stieß  aber  auch  der  Herr  von 
Anglure,  ehe  er  nach  Korfu  gelangte,  auf  ein,e 
öde  Insel  Namens  Gazopoly  mit  einer  Marien- 
kirche, zu  welcher  gewallfahrtet  werde  (§.  24). 
Ebenso  findet  sich  bei  Uzzano  (p.  217)  Santa 
Maria  de  Gozipal  im  Norden  von  Korfu.  Auch 
die  catalanische  Karte  des  14.  Jahrh.  (ed.  Bu> 
chon  et  Tastu  p.  88)  kennt  Casopoli  als  eine 
von  Korfu  verschiedene  Oertlichkeit  und  Geia- 
heim,  auf  welchen  sich  B.  und  M.  berufen,  wi- 
derspricht dem  nicht  direct.  So  scheint  mir 
Breitenbach  im  Becht  zu  sein  gegen  seine  Her- 
ausgeber. —  Caramia,  auf  dessen  Deutung  die 
Herausgeber  S.  452  verzichten,  ist  die  Provin? 
Caraman  im  südöstlichen  Kleinasien,  die  Insel 
Arcebelyen  S.  247.  275  ohne  Zweifel  Astypaläa 
(Stampalia). 

Ich  habe  bis  jetzt  lauter  Punkte  besprochen, 
welche  die  Pilger  auf  ihrer  Meerfahrt  streiften 
oder  besuchten.  Aber  die  Continentalrouten  bie- 
ten gleichfalls  Anlaß   zu   berichtigenden  Betner- 

*)  Cathedra  wenige  Linien  weiter  oben  ist  Cattaro. 


186  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

kungen.  Pilgern,  die  vom  Rhein  heraufkamen, 
empfiehlt  Bernhard  von  Breitenbach  S.  125  einen 
Weg,  der  sie  über  Bruchsal  ins  Württembergi- 
sche  führte;  als  eine  der  nächsten  Stationen  nach 
Bruchsal  nennt  er  „Smerre  ist  des  aptes  von 
Mulbronn".  R.  und  M.  finden  höchst  wahrschein- 
lich, daß  damit  Serres  gemeint  sei.  Dies  ist 
ganz  unmöglich,  denn  Serres  wurde  als  Wal- 
densercolonie  erst  im  Jahr  1699  gegründet. 
Hier  leitet  Arnold  von  Harff  auf  die  richtige 
Fährte;  denn  er  durchreiste  auf  seiner  Pilger- 
fahrt (herausg.  von  Groote  S.  5)  nach  einander 
Breyten,  Smeen  und  Feyingen.  Smeen  in  der 
Mitte  zwischen  Bretten  und  Vaihingen  liegend 
ist  das  Dorf  Schmie,  zu  jener  Zeit  dem  Kloster 
Maulbronn  gehörig.  Breitenbach  verketzert  den 
Namen  in  Smerre.  —  Auf  tirolischem  Gebiet 
vermissen  wir  S.  279  eine  Erklärung  für  Unders 
=  Nauders,  S.  428  eine  solche  ffir  Burg  = 
Borgo  di  Val  sugana,  für  Cofell,  die  Bergfeste 
Kofel  zwischen  Borgo  und  Bassano.  —  Endlich 
wird  eine  Station,  welche  die  deutschen  Juden 
auf  ihren  Handelsfahrten  nach  Syrien  zu  be- 
rühren pflegten,  falsch  bestimmt;  Schotz,  unge- 
fähr mitten  inne  zwischen  Lemberg  und  Akjer- 
man  (S.  113)  ist  nicht  Chotin,  sondern  Suczawa, 
wovon  sich  die  Herausgeber  durch  Vergleichung 
des  Artikels  „Osteuropäischer  Handel  im  15. 
Jahrh."  von  Stefan  Koczynski  (Jahrbücher  für 
Nationalökonomie  und  Statistik  Bd.  34.  S.  498) 
leicht  überzeugen  werden. 

Als  Anhang  ihres  Werks  geben  die  Heraus- 
geber eine  sehr  verdienstliche  Fortsetzung  und 
Ergänzung  der  Tobler'schen  Bibliographie  Palä- 
stina^. Ich  habe  hiezu  nur  Weniges  nachzu- 
tragen. Was  Schemseddin  Dimaschki  (S.  562) 
über  Syrien   und  Palästina  sagt,   findet   sich  in 


Röhricht  u.  Meisner,  Dtsch.  Pilgerreuen  n.  d.  hl.  Lande.  189 

seinem  Handbuch  der  Eosmographie ,  welches 
Mehren  jetzt  ganz  in  französischer  Uebersetzung 
mit  Anmerkungen  herausgegeben  hat  (Kopen- 
hagen 1874).  Von  Odoricus  (S.  562)  gehört 
bieber  blos  sein  liber  de  terra  sancta;  wollten 
aber  die  Herausgeber  nach  Toblers  Vorgang 
doch  auch  seinen  Bericht  über  die  Missionsreise 
nach  Indien  und  China  erwähnen,  in  welchem 
kein  Wort  über  Palästina  sich  findet,  so  hätten 
sie  die  einzig  brauchbare  Ausgabe  von  Yule 
(Cathay  and  the  way  thither  Vol.  2.  Append. 
Lond.  1866)  vor  allen  andern  erwähnen  sollen. 
Die  unter  dem  Namen  des  Simon  deSarebruche 
(S.  567)  erwähnte  Pilgerrelation  ist  jetzt  treff- 
lich ediert  in  dem  Buche:  Le  saint  voyage  de 
Jherusalera  du  seigneur  d'Anglure  publ.  par  F. 
Bonnardot  et  A.  Longnon  (Paris  1878).  Der 
Brief  des  Hieronymo  da  Santo  Stefano  (S.  578) 
berichtet  über  Indien;  daß  er  Palästina  zum 
Gegenstand  habe,  müssen  die  Herausgeber  aus 
dem  Ausstellungsort  Tripolis  in  Syrien  geschlos- 
sen haben.  Wenn  dieselben  endlich  russische 
Literatur  reichlich  verzeichnen,  so  mag  ihnen 
da8  Mancher  danken,  aber  russische  Schulbücher, 
wie  Jachontow,  kurze  Beschreibung  des  hl.  Lan- 
des zum  Nutzen  der  Jugend  (46  Seiten)  aufzu- 
nehmen und  Deutsche,  wie  Dürr  und  Streich, 
geographische  Beschreibung  des  hl.  Landes  für 
Latein-,  Bürger-  und  höhere  Töchterschulen 
(Eßlingen  1876)  weglassen  heißt  mit  zweierlei 
Maß  messen.  Ref.  würde  beide  principiell  aus- 
schließen. 

Stuttgart.  W.  Heyd. 


UQ  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5. 6. 

Berthold  von  Regensburg.  Vollständige  Aus- 
gabe seiner  deutschen  Predigten  mit  Einleitungen  und 
Anmerkungen  von  Dr.  Franz  Pfeiffer.  2.  Band. 
Enth.  Predigten  XXXVII- LXXI  nebst  Einleitung,  Les- 
arten und  Anmerkungen  von  Dr.  Joseph  Strobl. 
Wien  1880.    Braumüller.  XXXII,  696  S.    8°. 

Achtzehn  Jahre  sind  seit  dem  Erscheinen  des 
ersten  Bandes,  zwölf  Jahre  seit  dem  Tode  seines 
Herausgebers  verflossen;  endlich  erscheint,  noch 
beträchtlich  umfangreicher  als  jener  und  ebenso 
schön  ausgestattet,  von  Strobl  herausgegeben, 
der  zweite  Band.  Man  wünschte  wohl,  daß  der 
alte  Spruch  'Was  lange  währt  wird  gut*  in  die- 
sem Falle  sich  bewährte.  Leider  ist  dem  nicht 
so;  dem  Herausgeber  fehlen  wesentliche  Eigen- 
schaften, die  zu  solcher  Arbeit  befähigen:  Ver- 
trautheit mit  kritischer  Methode,  Gonsequenz  in 
der  Behandlung  der  Texte,  Zuverlässigkeit  und 
Gewissenhaftigkeit  in  der  Benutzung  des  Ma- 
terials. 

Für  die  Lesarten  zum  ersten  Bande  ist  die 
Brüsseler  Handschrift,  die  Pfeiffer  leider  nicht 
benutzte,  verwerthet;  sie  hat,  wiewohl  sie  im 
Ganzen  einen  viele  ältere  Ausdrücke  beseitigen- 
den Text  bietet,  an  manchen  Stellen  doch  das 
echte  erhalten,  und  zeigt,  daß  die  Handschrift  A 
(Heidelberg.  24)  mehrfach  Auslassungen  sich  zu 
schulden  kommen  ließ.  Daß  Pfeiffer  hier  nicht 
überall  das  richtige  durch  Gonjectur  getroffen 
ist  wohl  erklärlich;  namentlich  wo  A  durch 
Ueberspringen  von  einem  Worte  auf  ein  glei- 
ches späteres  einen  ganzen  Satz  oder  Satztheil 
ausgelassen,  wie  I,  345,  15.  360,  6. 

Dieser  Fall  ist  wohl  auch  I,  63,13  anzuneh- 
men, wo  offenbar  gelesen  werden  muß  er  kumet 
in  drisic  jären;  nach  jär  ist  eine  Lücke,  die 
freilich  auszufüllen  unmöglich  ist.     Vermuthlich 


Berthold  v.  Regensburg:,  herausgeg.  v.  Strobl.    141 

«prang  der  Schreiber  von  jär  auf  jär.  —  I, 
458,27  ist  zu  schreiben  und  eteliche  messe  läjtet 
ir  under  wegen ,  da  %¥  rnit  drlzic  schriten  eine 
messe  erreichen  fnöhtent.  —  I,  494, 17  ist  zu 
schreiben  oder  stis  unruoche.  Das  Verbum  tw- 
hwchen  wurde  von  den  Schreibern  mißver- 
standen. 

Dagegen  kommt  I,  359, 33  das  Ueberspringen 
auf  Rechnung  Pfeiffers,  dessen  Auge  von  einen! 
semdlchez  auf  das  zweite  abirrte.  Im  Ganzen 
jedoch  zeigt  sich  Pfeiffers  Arbeit  am  ersten 
Bande  als  eine  zuverlässige  und  auch  von  Druck- 
fehlern ist  sie  fast  durchaus  frei. 

Beides  kann  vom  zweiten  Bande  nicht  ge- 
rühmt werden.  Die  ersten  beiden  Predigten 
desselben  sind  nur  in  der  Brüsseler  Handschrift 
(a)  erhalten :  gleich  hier  tritt  die  Ungleichmäftig- 
keit  und  Willkür  der  Behandlung  uns  entgegen. 
So  wird  wanne  1,  4  etc.  im  Sinne  von  'denn7 
aus  a  beibehalten,  während  es  in  den  aus  H 
6tc.  entnommenen  Predigten  in  das  mhd.  rich- 
tige wan  verändert  wird,  wiewohl  auch  H  wann 
hat,  was  auf  wanne  führen  würde.  Freilich 
56, 10  wird  das  wann  von  H  auf  einmal  auch 
in  wanne  Verändert,  ebefaso  57, 3.  58, 1. 2.  59, 23. 
Und  124, 10  ist  das  wann  aus  H  unverändert 
beibehalten.  —  1,  13  alle  tiufel,  in  den  späteren 
Predigten  wird  tiufele  geschrieben,  während  der 
Herausgeber  doch  wissen  konnte,  daß  in  de* 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  in  Ober- 
deutschland  das  Schluß-e  der  Regel  nach  längst 
verstummt  war.  Das  gleiche  gilt  von  engel,  wie 
2,9  steht,  während  später  engele  geschrieben 
wird.  Freilich  auch  dies  wieder  ohne  alle  Con- 
sequenz,  eine  Art  Regel  scheint  der  Herausg. 
anzustreben,  indem  er  vor  folgendem  Vocal  das 
e  wegläßt,  aber  auch  dieser  von  ihm  geschaffte- 


142  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.6. 

nen  Regel  folgt  er  nicht.  So  steht  tiuvel  (hier 
zur  Abwechslung  mit  v  im  Inlaut  geschrieben) 
58,6;  engel  51,25.  98,19,  vor  Vocalen  dagegen 
engele  106,  21.  22.  Und  wenige  Zeilen  nach 
einander  bunt  wechselnd  engel,  aber  tiuvele 
126, 24. 36.  127, 1.  6,  und  dann  im  Dativ  wieder 
tiuvel  127,31.  Umgekehrt  engeley  —  aber  tiu- 
vel 112,  28.  31.  Und  ganz  regellos  in  wenig 
Zeilen  vier  mal  wechselnd  der  Dativ  tiuvel 
130, 12,  tiuvele  14,  tiuvel  16,  tiuvele  19.  Das  e 
nach  Liquiden  wird  auch  sonst  ganz  ungleich- 
mäßig behandelt.  So  steht  nime  (1.  präs.)  statt 
nim  der  Hs.  35,35,  dagegen  wird  92,  24  nim 
beibehalten.  War  denn  etwa  nime  in  der  Zeit 
Bertholds  in  Oberdeutschland  die  übliche  Form? 
Der  Plur.  von  zäher  lautet  mit  der  Hs.  zeher 
116,22;  dagegen  wider  die  Hs.  zehere  132,  13. 
(vgl.  negel  180,38).  schare  wechselt  willkürlich 
mit  schar  96,  6.  13.  98, 20. 28. 29.  schale  wird 
geschrieben  statt  schal  97, 37. 38,  dagegen  mere 
von  H  112,  16  in  mer  verwandelt;  159,  6  suie 
statt  sul  in  H  (richtiger  sül)  gesetzt.  36,  34 
steht  eintwederez,  dagegen  37,  13  eintwedern, 
nicht  eintwederen,  die  Hs.  bat  beidemal  das  e 
nach  r  nicht.  Vgl.  dazu  dewedere  39,  11.  ge* 
segen  (nicht  gesegene?)  40,7.  tmserem  wird  ge- 
schrieben 34, 33.  37,  23.  61, 13 ;  dagegen  26, 18  ff. 
34, 35  steht  unserrn.  unseres  27, 1.  47,  33.  lü- 
terem  35,6.  anderez  101,11.  115,4.117,25. 
marteren  1%,  1.  wandele  85,37.  In  allen  diesen 
Fällen  ist  dieHs.  consequent,  sie  hat  diejenigen 
Formen,  welche  der  Zeit  und  Heimat  Bertholds 
entsprechen.  Die  Willkür  kommt  also,  ganz  auf 
Rechnung  des  Herausgebers. 

1,  26  steht  ein  sünde  acc.  sing.,  dagegen 
19,  24  eine  gruntveste.  Die  Hs.  hat  auch  hier 
nicht    die  Inconsequenz    verschuldet.     Dieselbe 


Berthold  v.  Regensburg,  kerausgeg.  v.  Strobl.     143 

Willkür  in  den  späteren  Predigten.  27, 10  eine 
messe,  dagegen  24,  22.  25,  3  ein  leccien;  ein 
sünde  51,3;  einstat  55,29;  einfrouwen  38,14; 
eine  pläter  48, 3.  So  wechseln  kein  and  keine 
39,9.  47,3.  48,18.  51,29.  din  and  dine  31,18, 
20.  42,  38.  sin  38,  1.  50,  35,  während  meist 
sine  geschrieben  wird,  min  38,  39.  Vgl.  noch 
57,  4.  11.  58,  36.  37.  65,  14.  66,  26.  69,  4.  34. 
71, 37.  74, 4.  75, 15.  83, 28. 29.  84,  34.  36.  85,  21. 
86,24.33.  97,3.19.20.  106,38.  118,19  (auf 
derselben  Zeile  zweimal).  131, 3. 15. 20.  145, 14. 
15  etc. 

4,  34  darunter  in  doppelter  Hinsicht  falsch. 
Denn  aas  Lachmanns  Aasgaben,  die  der  Heraus- 
geber ja  wiederholt  citiert,  hätte  er  wohl  wissen 
können,  daß  in  Uebereinstimmang  mit  dem  Ge- 
brauch der  Handschriften  des  13.  Jahrhunderts 
in  diesem  Falle  dar  getrennt  zu  schreiben  ist. 
Aach  in  den  späteren  Predigten  (aus  H)  der* 
selbe  Fehler,  nur  vereinzelt  (wie  74, 18)  das 
richtige.  Aber  auch  unter  in  dieser  Schreibung 
aas  der  jungen  Hs.  a  beizubehalten  (vgl.  3, 22. 
4, 30.  7,8  etc.)  war  falsch,  da  under  die  im  13. 
Jahrb.  durchaus  herrschende  Form  ist.  In  den 
Predigten  aus  H  ist  unter  der  Hs.  meist  in  un- 
der verwandelt,  zuweilen  auch  beibehalten  (32, 
26.  46,12.19.  49,18.  76,33.  100,38). 

5,6  nihtsnit,  ebenso  6,  16;  warum  ist  hier 
nit  aus  der  ganz  jungen  Hs.  beibehalten,  wäh- 
rend es  doch  sonst  (vgl.  zu  8,  13)  in  niht  ver- 
wandelt ward?  Auch  bezüglich  der  Trennung 
schwankt  S.  ganz  willkürlich  zwischen  nihtes 
niht  und  nihtesniht,  vgl.  30,5.  62, 11  mit  36,18. 
85,28.  91,20.  102,17.  114,  10  etc. 

6,  13  dar  nach,  die  Hs.  da  nach.  Der  Her- 
ansgeber hat  wohl  einmal  davon  gehört,  daß 
dar   außer    vor   Vocalen   auch   yor  nach   stehe, 


144  Gott.  gel.  Anz.  11*81.  Stück  5.6. 

und  nan  glaubt  er  dies  müsse  immet*  der 
Fall  sein. 

6,  16  die  Hs.  hat  dein,  der  Herausg.  setzt 
hier  und  20,  71  deine,  in  andern  Fällen  behält 
er  dein  bei.  Setzte  er  hier  der  Adv.  Form  we- 
gen deine,  dann  innßte  er  auch  grosse  schreiben. 
30, 7  wird  geschrieben  dein  noch  grbz,  dagegen 
34,  14.  36,  19  Meine  nodi  gross,  hier  außerdem 
zur  Abwechslung  Heine  mit  k,  die  Hs.  hat  durch- 
aus e.  60,32  steht  wieder  Mein,  und  94,  18. 
20  innerhalb  weniger  Zeilen  einmal  kleine,  ein- 
mal klein. 

6, 28  gehungerte  prät.  statt  des  hs.  gehungert, 
aber  in  der  ganz  gleichen  Stelle  7,  3  wird  ge- 
hungert beibehalten. 

6,  30.  Von  wem  hat  der  Herausg.  wohl  ge- 
lernt, daß  trake  zu  schreiben  sei?  Das  Wort 
Wird,  wo  es  gereimt  wird,  sei  es  sAstrache  oder 
ttacke,  nur  mit  kurz  a  gebraucht. 

9,  2  vor  gote,  von  gote,  wo  die  Hs.  beidemal 
§ot  hat,  dagegen  7,  23  etc.  zwischen  got  beibe- 
halten. In  nach  reht  21, 15.  31  wird  kein  e  bei- 
gefügt, ebenso  in  dinem  tot  1,  26  nicht.  Und 
fco  gebt  durch  die  Behandlung  des  Dativs  auch 
in  den  späteren  Predigten  die  größte  Willkür. 
24,  9. 10  hie  ze  lande,  in  dem  lande,  die  Hs.  hat 
beidemal  lant.  Dagegen  wird  de*  verkürzt« 
Dat.  pfunt  beibehalten  31,  12.  nach  reht  29,  3, 
dagegen  nach  rehte  39,  29.  41,  29.  35,  8  von 
marmelstein,  von  holz,  dagegen  35,  15  von  öl- 
bourne,  lebene  110,  24  dagegen  leben  124,  5. 
ampt  27,  22,  aber  ampte  28, 24,  amte  36,  6,  wo 
die  Hs.  in  allen  Fällen  ampt  hat.  grünt  111,36, 
sonst  gründe.  Vgl.  Up  26,  14.  mist  96, 30.  oven 
41,  10.  12 ;  aber  gewande  (Hs.  geward)  45,  9. 
Une  36, 16.  dienest  104,  21,  sonst  dienste  (z.  B. 
107, 12),  einmal  auch  dieneste  183,  17.    Bei  got 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  t.  Strobl.    145. 

die  größte  Willkür:  gate  31, 10.  33,  14.  15.  17. 
18.  21.  38,37.  42,10.  11.  15.  16.  17  etc.,  dage- 
gen got  31,  21.  24.  39,23.  42,3.  72,  37  etc. 

13, 16  angrtfen,  bier  nach  nfad.  Weise  in  6in 
Wort  zusammengeschrieben,  in   andern  Fällen 
getrennt   (an  grifen  17,  26),  wie  es  dem  mhd. 
Gebrauche  entspricht,    numigerleie  10, 13  als  6in 
Wort;  während   maniger  hont   2,  7     getrennt 
Diese  Inconsequenz  gebt  dnrch  das  ganze  Buch 
and  tritt    bei  Verben  als   crasse  Unwissenheit 
hervor.    Denn  wiewohl  der  Heransg.  Lachmanna 
Abhandlung  über  ahd.  Betonung  citiert  (S.  566) 
und  grade  mit  Bezug  auf  den  fraglichen  Punkt, 
so  zeigt   seine  Ausgabe  doch,   daft  er  aus  ihr 
nichts  gelernt  bat.     Er  schreibt  unrichtig  ge- 
trennt über  eeaen  und  über  trinken  171, 27  (hat 
er  niemals  Walthers    Spruch    vom  übertrinken 
gelesen  ?),   über  hüebe  52,  28  (überheben  richtig 
53,  5),  under  winde  46,  8,  wider  vorn  65,  24. 
73,7.  113,10.  123,13  (richtig  widervar  153,33), 
nnd  unrichtig  zusammen  widergeben  40,  13.  16. 
43,13.  49,  1.4.8.  52,32.  70,6.  112,31.  123,5 
(während  richtig  wider  geben  40,  24.  102,  11. 
112,33.  123,  1.  2  und  gebest  wider  123,  14  ihn 
belehren  kennte),  anbeten  61, 20  (während  rich- 
tig an  beten  61,  21.  109,  27),  anhaften  148,  14, 
anräeren  51, 18  etc.    So  wird  nach  nhd.  Weise 
anch  denselben,  demselben  12,27.  22,  10  zusam- 
mengenschrieben,  an  andern  Stellen  richtig  ge- 
trennt. 

14,  24.  Daß  der  conj.  präs.  von  soln  im 
13.  Jahrh.  in  Oberdeutschland  sül  oder  meinet- 
wegen schon  sülle  lautete ,  sollte  ein  Heraus- 
geber doch  wissen.  So  steht  auch  süle  17,  31, 
wo  die  Hs.  sulle  hat,  aber  an  den  meisten  Stel- 
len wird  diese  Form  ohne  Umlaut  beibehalten 
(?gl.  15,  1.  5.  17    17,  9.  38  etc.).    In  den  aus 

10 


146  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

H  entnommenen  Predigten  steht  ebenfalls  meist 
sulle,  wiewohl  die  Hs.  den  Umlant  hier  sogar 
bezeichnet  Vgl.  54,  24.  66,9  etc.  Ebenso  un- 
richtig ist  die  Nichtbezeichnung  des  Umlauts  in 
gehören  21,  9.  11.  23,  8,  denn  Berthold  hat  un- 
zweifelhaft gehoeren  gesprochen. 

22,  9  da  iwer  nimmer  mere  rät  wirt.  Hierzu 
macht  der  Herausgeber  (S.  561)  die,  wie  es 
scheinen  soll,  sehr  überlegte  Anmerkung ,  er  habe 
in  diesem  Falle  meist  mere  geschrieben,  'da  eine 
Verbindung  mer  rät  bei  Hartmann  und  Wolfram 
unerhört1  sei.  Diese  Bemerkung  zeigt  recht 
deutlich,  daß  derHerausg.  von  dem  Unterschiede 
des  poetischen  und  prosaischen  Vortrags  keine 
Ahnung  bat,  und  daher  auch  nicht  weiß,  warum 
jene  Verbindung  im  Verse  anstößig,  in  der 
Prosa  aber  ganz  zulässig  ist.  Und  wie  befolgt 
er  selbst  denn  seine  Kegel  ?  67,  38  steht  nie- 
tner  mer  rät  wirt,  68, 14  mere9  69,25  mer,  77, 19 
mir,  ebenso  83, 33.  91,23.  94,3.  110,7.  112,35. 
127,  15.  148,  37.  Von  etwa  S.  180  an  scheint 
ihm  Wolfram  und  Hartmann  wieder  eingefallen 
zu  sein,  denn  nun  häufen  sich  die  mere,  180, 28. 
35.  181,9.  182,17.  183,11.  186,  14.  187,  1. 
188,5  etc.  Aber  noch  eine  zweite  Inconsequenz 
ist  hier  zu  bemerken:  in  den  beiden  Predigten 
aus  a  wird  nimmer  beibehalten ,  in  denen  aus 
H,  wiewohl  auch  H  so  schreibt,  niemer  gesetzt 
Und  doch  ist  nimmer  eine  in  Hss.  des  13.  Jabrh. 
schon  ganz  geläufige  Form.  Dasselbe  gilt  von 
niendert,  wie  S.  statt  nindert  in  H  durchgängig 
schreibt.  Hier  könnte  man  eher  Bedenken  tra- 
gen, ob  das  angehängte  t  schon  von  Berthold 
gesprochen  wurde. 

Stärker  als  solche  durch  das  ganze  Buch 
gehende  Inconsequenz  ist  es,  wenn  der  Herausg. 
statt  des  correl.  swenne  das  wenne  der  jungen 


Berthold  v.  Regensburg,  herauigeg.  v.  Strobl.    147 

Hg.  beibehalten  hat  So  2, 13.  7, 29.  8, 26,  10, 19. 
27. 12,1.  15,17.  17,21.  18,3.  19,8.  20,  19.  33. 
22,6.  23, 11.  18.  Und  dieselbe  gröbliche  Un- 
kenntnis der  Grammatik  zeigt  sich  in  den  aus 
H  etc.  entnommenen  Predigten.  So  steht  wer 
statt  swer  25,  17.  26,  1.  75,2.  wanne  statt 
manne  36,  7.  88,  17.  146,  20.  149, 4.  wenne 
statt  swenne  46,6.  58,39.  149,13.35.  151,  2.  8. 
was  statt  swae  127,  39.  wie  statt  swie  106,  28. 
Und  umgekehrt  swae  für  wae  75,  8.  Ein  gro- 
ber Fehler  ist  auch  das  Komma  12,  25  nach 
susty  weil  man  daraus  sieht,  daß  der  Heraus- 
geber aufgefaßt  hat  wie  das  denne  =  nhd.  'wie 
das  denn'  (!),  während  sust  wie,  dae  denne  zu 
lesen  ist.  Man  rihtet  nicht  über  einem,  sondern 
einen,  daher  19, 10  über  inch.  Nicht  füerent  vor 
diu  äugen  20, 11  sagt  man  wie  im  Nhd,,  son- 
dern für.  21,  b  in  dri  teil,  es  muß  doch  ent- 
weder heißen  in  dri  teile,  oder,  dem  Gebrauch 
des  Mhd.  entsprechender,  in  driu  teil.  —  21, 
32  so  vil  man  in  guotez  tuot,  natürlich  guotes. 
Daft  wir  es  hier  nicht  mit  einem  der  zahlreichen 
Druckfehler*)  zu  thun  haben,  zeigt  die  öftere 
Wiederholung  des  gleichen  Fehlers.  Vgl.  223. 
24.   233,  1.   237,  6.    240,  45.    260,  14. 

*)  Ich  notiere  in  der  Anmerkung  so  statt  s6  2,  31. 
6,  38.  8,  17.  12,  3.  23,  3.  26,  9.  114,  26.  also  4,  19. 
16,  4.  57,  37.  226,  12.  tugendhafter  4, 15.  nach  6,  28. 
17, 1.  die  statt  diu  7,  7.  ewig  17,  8.  auch  20,  36.  das 
22,  25.  116,  26.  Jedoch  39,  26.  41,  80.  108,  34.  121,  3. 
127,  27.  129,  7.  131,  27.  Jedoch  91,  7.  ndsen  46,  30. 
gewuchs  51,  13.  sprehent  55,  7.  sprach  71,  26.  hat  79, 
20.  Mriche  94,  4.  sprachen  97,  29.  välat  106,  5.  vilr 
tate  158,  39.  uz  117,  36.  höchvdrt  141,  26.  252,  39. 
»eh  179,  8.  jede  219,  80.  wertlich  230,  30.  warre  235, 
10.  11.  male  241,  1.  Zweifelhaft  ist  mir,  ob  in  nater 
1, 9.  51,  21.  got  223,  16.  vigilie  141,  35.  Maurtcien  33, 
1  einfache  Druckfehler  zu  suchen  sind. 

10* 


148  Gott.  gel.  Afaz.  1881.  Stück  5.  6. 

Unnöthige  Aenderungen  der  Ueberliefernng  fin- 
den sich  mehrfach  in  den  beiden  ersten  Predigten. 
So  ist  5,  39  sie  ganz  überflüssig  zugesetzt. 
Ebenso  ist  die  Ergänzung  ir  marter  7,  1  un- 
nöthig.  8,  32  ist  der  ergänzt,  ebenfalls  un- 
nftthig,  vgl.  18,  25.  Auch  11,  4  ist  sele  zu  er* 
ganzen  durchaus  nicht  nöthig.  16,  4  ist  bediet 
statt  bezti  überflüssige  Conjectur  und  schon  we- 
gen der  Trennung  von  part,  und  Hülfsverbum 
nicht  wahrscheinlich. 

16,  6  wanne  daß  statt  wanne  zu  schreiben 
ist  nicht  richtig,  sondern  wanne  steht  für  danne 
tthd  dieses  wie  öfter  für  danne  das. 

16,  12  nach  stner  marter  schreibt  der  Hrsg. 
ftir  nach  sin  marter  der  Hs.  Aber  nach  steht 
wie  oft  in  jungen  Hss.  für  noch,  und  noch  sin 
marter  ist  zu  schreiben.  17,  4  ist  ganz  ohne 
Noth  von  der  hs.  Lesart  abgewichen.  22,  17 
ist  alle  weit  ganz  ohne  Grund  in  alle  die  weit 
verwandelt,  vgl.  22,  4.  —  Anderseits  sind  Aen- 
derungen der  Ueberliefernng  unterlassen  oder 
falsch  geändert.  6, 35  ist  sie  statt  die  zu  schrei- 
ben. 8,  7  ist,  wie  es  überliefert  ist,  sicherlich 
nicht  richtig,  sondern  eine  Lücke  nach  bräht 
anzunehmen.  9,3  ist  wahrscheinlich  üf  und  suo 
getuon  zu  schreiben.  9,  4  lies  sich  in  immer 
ewiclichen  an  an  underlay.  9, 39  1.  unmügelichm 
herte  statt  müglichen  herte}  vgl.  36,  23.  11,  15 
L  büezent.  11,  24  fehlt  ein  von  Uden  abhängi- 
ges Object,  auf  welches  sich  die  bezieht.  12,37 
ein  ablaeee  fem.  anzunehmen  scheint  bedenklich 
(Hs.  ablaz)\  es  ist  dinem  abläz  zu  schreiben, 
offenbar  wurde  der  Schreiber  zu  diner  durch 
die  vorhergehende  Zeile  veranlaßt.  19,  6  1. 
des  mac  kein  rät  gesin.    19, 32  1.  denne  statt  den. 

Falsche  Interpunktion  8, 18,  wo  der  Punkt 
nach  behüetey  nicht  nach  ist  zu  setzen  ist. 


Berthold  ▼.  Regensburg,  heratisgeg.  t.  Strobl.     140 

Aber  viel  schlimmere  Sünden  hat  sich  der 
Herausgeber  in  den  Predigten  zu  schulden  kom- 
men lassen,  die  in  H  und  den  ihr  verwandten 
flss.  überliefert  sind.  Hier  konnte  ich  wenig- 
stens an  einer  mir  zu  Gebote  stehenden  Hs.  den 
Text  controlieren,  und  es  war  ein  glücklicher 
Umstand,  daß  dies  grade  die  wichtigste  und  von 
Strobl  zu  Grunde  gelegte  war:  H.  Von  dieser 
Hs.  lag  Strobl,  wie  er  selbst  angiebt,  eine  Ab- 
schrift Pfeiffers  vor.  Ich  kenne  viele  Abschrif- 
ten von  Pfeiffers  Hand  und  habe  dieselbep 
durchweg  als  höchst  genau  und  zuverlässig  er- 
probt. Sollte  in  diesem  Falle  Pfeiffer  eine  so 
nachlässige  und  an  Fehlern  und  Auslassungen 
überreiche  Copie  geliefert  haben?  Ich  glaube 
es  nicht.  Aber  selbst  wenn  es  wäre,  so  spricht 
das  den  Herausgeber  nicht  von  Verantwortung 
frei.  Denn  wie  er  uns  selbst  berichtet,  wurde 
ihm  mit  gewohnter  Liberalität  die  "Heidelberger 
Handschrift  zugeschickt :  er  hatte  also  reichlich 
Maße,  die  etwaigen  Fehler  der  Abschrift  durch 
genaue  Collation  zu  beseitigen.  Die  Art  und 
Weise,  wie  ©r  in  den  beiden  allein  von  der 
Brüsseler  Hs.  gebotenen  Predigten  sich  mehr- 
fache NacbjlMssigkeiten  zu  schulden  kommen 
ließ,  die  er  bei  den  Lesarten  erst  corrigier^e 
(vgl  6,14.  6,36.  11,11.  16,29.  18,19)  macht 
sehr  wahrscheinlich,  daß  mindestens  ein  Theil 
der  Fehler  nicht  durch  Pfeiffers  Abschrift,  son- 
dern erst  durch  den  Bearbeiter  derselben  ver- 
schuldet worden  ist. 

Die  völlige  Inconsequenz  in  der  Behandlung 
des  Sprachlichen  zeigt  sich  hier  ebenso  wie  bei 
den  beiden  Predigten  aus  a.  Gleich  in  der  er- 
sten aus  H  (24,  5)  steht  hob  danc,  dagegen 
25, 26.  32, 21  habe  dam.  H  hat  Überall  die  ge- 
kürzte Form*  — r  24,  JL4  wns  hat  unser  )wpe  gar 


160  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5. 6. 

vil  buoch  gegeben.    Allerdings  hat  H  buch,  aber 
sie  hat  auch  24, 19  gar  vil  nutzer  ding,  wo  der 
Herausg.  dinge  setzt.     Oder  sollte  er  nicht  ge- 
wußt   haben,  daß  buoch  in  diesem  Falle  gen. 
ist   und  hielt   er   es  für    den    acc?    vielleicht 
fährte  ihn  bei  der  zweiten  Stelle  erst  das  Adj. 
nutzer  auf  das  Richtige.     Es   ist  freilich  stark, 
wenn  man   einem  Ordinarius  des   Faches   der- 
gleichen zutrauen  soll,  aber  nach  dem  zu  21, 32 
(oben   S.  147)    bemerkten   hat    man    wohl    ein 
Recht   dazu.  —  24,  18  so  lange:   eine  häufige 
Ausdrucksweise  (auch  als  lange) ,   für  welche  H 
meist  so  lang,  zuweilen  so  lanck  setzt,  behan- 
delt der  Hrg.  ganz  willkürlich,  weder  der  Schrei- 
bung der  Hs.  noch  einer  grammatischen  Regel 
folgend,   die    natürlich   das   adv.   verlangt;     er 
setzt  meist  lanc,  mitunter  lang,  oder  lange.   Vgl. 
39,  26.  62,  15.  109,  3.  7.  123,  6.  125,21.  126, 2. 
134,13.   146,23.  155,26.  156,28.  157,14.  163, 
4.  165,21.  169,36.  185,14  etc.  vgl.  noch  49,1. 
50,6.  52,5.10.   104,26.  105,3.9.13.    Auch  in 
den  beiden  Predigten  aus  a   fehlerhaft  als  lanc 
9,  2.    11, 15.  —  24,27  an  vu  selben,  H  hat  sel- 
ber.   Gewiß  ist  hier,  der  Sprache  des  13.  Jahrb. 
gemäß,  selben  zu  schreiben,  nur  mußte  es  conse- 
quent geschehen.    So  ist  107,33  über  sich   sei- 
ber  stehn  gelassen,  wo  auch  selben  zu  schreiben 
war;   ebenso   üz  iu   selber  (1.  selben)    142,13; 
über  in  selber  162,  19    (1.  selben);   er   selber   (1. 
selbe)  167,29;    im  selber   (1.  selben)   169,  3,    ze 
gote  selber  (1.  selben)  171,4.    Umgekehrt  ist  an 
mehreren  Stellen  das  richtige  selber  derHs.  ent- 
fernt worden,    schonet  ouch  iutcer  selber  57,  6, 
wo  S.  selbe  schreibt;  an  ir  selber   (S.  selbe)  ge- 
nesche  189,  2;   während  71,  31   hüetent  iuwer 
selber  das  richtige  bewahrt  ist. 

25,  13  viech:  diese  Form  der  jüngeren  Hs.  ist 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  ▼.  Strobl.    161 

hier  beibehalten ,  späterbin  in  das  der  Zeit 
Bertholds  entsprechendere  vihe  verwandelt  wor- 
den, vgl.  48,  22.  92, 35  etc. 

25,  2  ich  lerte  iuch,  24,21  nü  Mrtich,  H  hat 
beidemal  lert.    25, 12  machet  statt  machete,  145, 

I  prediget  statt  predigde,  dagegen  27, 3  weinete, 
wo  H  ebenfalls  wainet  hat.  Vgl.  38, 16.  41, 24 
etc.  geriht  wird  25,  31  geschrieben  mit  der  Hs., 
während  in  den  Predigten  aus  a  es  in  gerihte 
verändert  ward  (zu  20,  36);  dagegen  wieder 
gerihte  29,  14.  mach  als  imp.  ist  geschrieben, 
wo  man  mache  erwartet,  34, 38.  272, 22 ;  ebenso 
strick  67, 14,  nicht  stricke  ?  Das  adv.  reht  wird 
bald  so  mit  der  Hs.,  bald  rehte  geschrieben,  vgl. 
25,39.  30,25.  31,31.  35,6.19.  36,15.18.42, 
35.  46,  30.  übel  steht  45,  3  als  adv.,  dagegen 
übek  50,  34.  hoch  soll  adv.  sein  62, 37.  82, 39. 
83, 5.  162, 27.  179,  3,  wo  hohe  zu  schreiben.  — 
26,4  wird  sehet  statt  secht  der  Hs.  geschrieben, 
dagegen  für  das  gleiche  secht  steht  seht  26,  24. 
32  etc.  gelobet  27,  16,  H.  gelobt,  dagegen  gebt 
38, 38. 39  wird  beibehalten  ;  39,  6  wird  obz  bei- 
behalten,  an  andern  Stellen  in  dbez  verändert. 
77,21  steht  seht,  wo  H  sechet  hat,  also  sehet  zu 
schreiben  war.    148,6  vergebet^  7  ersieht,  9  sieht, 

II  seht.  157,20.21.35  wechseln  willkürlich  habt 
und  habet  etc. 

27,  13  hat  H  gen  ze  kirchen,  zu  antlassen, 
macht  also  einen  Unterschied  vor  dem  vocalisch 
anlautenden  Worte.  Es  wird  zuo  antläzen  zu 
schreiben  sein.  Nun  bemerkt  der  Heransg.  S. 
281  'ich  kann  mir  nicht  denken,  daß  Berthold 
ze  eilen  guoten  dingen  oder  ze  unsern  saelden 
mit  dem  häßlichen  Hiatus  sollte  gesprochen  ha- 
ben. Die  mhd.  Zunge  verlangte  hier  offenbar 
zaMen  zunsern,  aber  auch  zuo  allen  zuo  unsern 
ist  erträglicher1.    Hat  er  denn  aber  dem  ent- 


162  Gott,  gel  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

sprechend  in  der  Ausgabe  geschrieben?  Er  ver- 
stößt oft  ganz  muthwillig  gegen  seine  Regel 
und  scheint  überhaupt  von  dem  syntaktischen 
Unterschiede  von  ze  und  zuo  eine  sehr  unklare 
Vorstellung  zu  haben.  Er  setzt  wie  hier  sehr 
oft  ze  vor  Vocalen,  wo  er  z  schreiben  müßte, 
vgl  27, 14.  34, 34.  37,  2.  44, 15  etc.  oft  auch 
unnöthig  ze,  wo  zuo  jenen  Hiatus  vermeiden 
würde:  45,14.39.  64,26.  72,8.  132,17.  159,14. 
173,14.  185,4.  199,29  und  wo  *wo  sprachlich 
richtiger  ist,  wie  64, 23  ze  ollen  den  noeten,  wo 
zuo  im  Sinne  von  'außer'  zu  schreiben;  ebenso 
ze  (1.  zuo)  aller  der  marter  190,  1.  Umgekehrt 
setzt  er  zuo,  wo  ze  richtig  war:  so  94,25,  wo 
ze  den  freuden  bedeutet  'in  den  Freuden' ;  ebenso 
ist  falsch  142, 32.  176,  13  zuo  der  marter  'in 
der  Marter'  (1.  ze).  117,  38  schreibt  er  machte 
ze,  dagegen  118,  22  machte  zuo,  die  Hs.  hat 
beidemal  zu.  133,  22  get  im  ze  einem  oren  in, 
zuo  dem  andern  w^,  wo  H  ebenfalls  beidemal 
zu  hat.  Dazwischen  fällt  ihm  einmal  seine  Re- 
gel ein  und  er  schreibt  zezzen  199, 19  (H  zu 
essen). 

28,  3  wird  mit  H  zimmern  geschrieben,  da- 
gegen 63, 12. 13  in  zimbern  verändert,  krümmen 
und  krumbe  stehen  friedlich  beisammen  29,  1, 
wo  H  beidemal  mm  hat ;  krumbez  28,  31.  alt- 
stumben  steht  49, 22,  aber  stummen  208, 26,  wo- 
neben wieder  krumben  208,  27.  Und  endlich 
erscheint,  um  noch  etwas  Abwechslung  hinein- 
zubringen, stimele  mit  einfachem  m  229,  21.  — 
28»  16  wird  die  ganz  richtige  Dativform  werlt 
der  Hs.  in  werlte  verändert;  ebenso  36,15  snuor 
in  snüere\  50,18  misdsuht  in  miseUühte;  58,  1 
jugent  (so  mit  t  in  H)  in  fugende ;  58, 25  hoff  art 
der  Hs.  in  höchverte,  statt  hochvart  zu  lassen; 
62,34.  64, 9»  179,33  tugent  in  tugende;  dagegen 


Berthold  v.  Regeuaburg,  heratugeg.  ▼.  Strobl.    163 

68, 18  wird  höchvart  gelassen.  132, 30.  132, 12 
wät  in  wade.  Umgekehrt  wird  snür  der  Hs. 
154,21,  das  also  auf  snüere  deutet,  in  snuor 
verändert  —  28,  32  wird  mit  der  Hs.  waent 
geschrieben,  dagegen  waenet  60, 35.  72, 4  gegen 
die  Hs.  beUret  105,22.29,  betört  81,5.  149,  15. 
spricht  50,8.  52,30.  sprichet  55,4.  60,  1.  inert 
92,20.  teilt  95.16.  169,1.  hoeret  110,28,  hoert 
110,  31,  hoeret  111,  28.  bringt  92,  12.  Sogar 
eine  so  unnatürliche  Kürzung  wie  fleischs  60, 9. 
28,39  wird  f Hunde  geschrieben  im  Flur.,  wo 
die  Hs.  freunt  hat,  also  auf  den  ganz  richtigen 
Plur.  friunt  führt.  Das  gleiche  101,33.  117,37. 
159,3:  während  friunt  beibehalten  wird  129,32. 
150,  34.  Und  182,  9,  wo  die  Hs.  friund  hat, 
also  auf  friunde  führt ,  wird  friunt  geschrieben. 
—  29, 16  wird  unnützelichen  gesetzt,  während 
in  derselben  Zeile  nützlichen  stand:  H  bat 
beidemal  kein  e.  —  29,38  wird  der  ganz  rich- 
tige und  im  13.  Jahrh.  übliche  Dativ  nieman 
beibehalten,  meist  aber  in  niemanne  verändert 
(so  83,  23.  116, 11)  und  ebenso  iemanne  (101, 
12),  während  116,  34  ieman  beibehalten  ist. 
niemannes  statt  niemans  199,  34.  Sogar  da,  wo 
H  die  Form  niemen  doch  sieher  aus  seiner  Vor- 
lage herübernahm  (gewöhnlieh  setzt  H  niemant), 
wie  182,  7.  211,  27,  ist  jenes  niemanne  einge- 
führt. —  29, 39.  37, 1  steht  anderstunt  als  ein 
Wort  geschrieben,  was  auch  dem  Gebrauehe 
unserer  Ausgaben  entspricht;  dagegen  184,  35 
steht  hundert  stunt,  wiewohl  H  zusammenschreibt, 
und  ebenso  hundert  stunt,  fünf  stunt,  zehen  stunt 
166, 12. 13,  gleichfalls  gegen  die  Hs.  —  30,  18 
iezund,  33,25.  77,  24  iezunt,  wird  hier  aus  H 
beibehalten,  während  in  den  Predigten  aus  a  es 
in  iezuo  verändert  wurde.  —  30,  19  etwan  mit 
der  Hs.,  dagegen  etewenne  30,36  etc.,  und  im- 


164  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

mer  etelich.  wo  H  etwenn,  etlich.  —  32,  23  wis 
fro  statt  bis  fro  der  Hb.,  in  der  gleichen  Stelle 
24,  6  wird  bis  beibehalten,  ebenso  130,6.  — 
32, 27  al  umbe  und  umb  in,  warum  einmal  umbe, 
während  H  beidemal  umb  bat?  umbe  setzt  der 
Herausg.  gewöhnlieh,  aber  umb  steht  111,  22. 
142,  25.  —  33,  13  das  adv.  mite,  wofttr  H  im- 
mer mit  setzt,  wird  bald  in  der  einen,  bald  in 
der  andern  Form  geschrieben,  mit  beibehalten 
41,22.  42,37.  46,33.  65,11.  66,6.  69,6.  106,6. 
109,30,  dagegen  mite  33,13.22.  35,24.  54,21. 
57,  24.  59, 21.  69,  4  etc.  —  33,  14. 15  wir  hän 
hat  H  beidemal,  der  Herausgeber,  den  variatio 
delectat,  schreibt  einmal  hän,  das  andremal 
haben.  —  34,  36  ze  sagenne  gegen  alle  Hand- 
schriften für  das  auch  im  Reime  des  13.  Jabrh. 
belegte  ze  sagen.  Dagegen  mit  den  Hss.  ze 
geben  78, 29.  ze  reden  99, 10.  149,  27.  ze  sagen 
188,  18.  —  34,  36  zekte  und  im  part  erzeict. 
H  hat  durchaus  zaigt,  erzaigt,  was  vielmehr  anf 
zeigte  oder  zeigete,  erzeiget  hinweist,  und  na- 
mentlich erzeict  im  partic.  war  sicherlich  nicht 
die  im  13.  Jahrh.  übliche  Aussprache.  Zur  Ab- 
wechslung steht  nun  auch  erzeiget  45,  11.  96,2. 
168,  6.  213,  26,  an  erster  und  letzterer  Stelle 
hat  auch  H  erzaiget,  ein  Beweis,  daß  so  und 
nicht  erzeict  die  Vorlage  hatte.  Auch  im  prät. 
setzt  der  Herausg.  einmal  erzeigete  229,  37.  — 
35, 30  Uoster  plnr.,  dagegen  drei  Zeilen  nachher 
Moestern.  H  bezeichnet  beidemal  den  Umlaut. 
Nach  der  Bemerkung  zu  1,7  sollte  man  auch 
hier  Gonsequenz  erwarten.  —  38,2  an  toetüche 
sünde,  die  gekürzte  Form  der  Präp.  aus  H  bei- 
behalten, ebenso  38, 30.  57, 12. 20.  62, 17.  66, 12. 
20.  115,  24,  dagegen  meist  in  one  verändert, 
vgl.  42,6.  53,1.  55,33.34.  66,19.  74,24.  133, 
25  etc.  —  38, 20  cUsamt   hier    geschrieben   wie 


Berthold  v.  Regensburg,  herauageg.  v.  Strobl.    155 

die  Hs.  bat,  dagegen  allesamt  45,  16.   46,  2.  3. 

68. 9.  81, 9.  83, 16,  und  wiederum  getrennt  edle 
samt  69,17.  71,  31.  72, 16.  81,15  etc.  —  38,24 
dm  statt  dann  der  Hs.  Man  könnte  nach  die* 
ser  und  andern  Stellen  denken,  der  Heransg. 
setze  dan  vor  folgendem  Vocal e,  wiewohl  diese 
Unterscheidung  ganz  willkürlich  wäre.  Aber  er 
setzt  dan  anch  vor  Gonsonanten  (vgl.  39,  1.  4. 
35.41,12.  42,4.  47,22.36.  67,2.  84,22.  91,6), 
häufig  jedoch  danne  40, 6.  46, 5. 25.  50, 39.  55, 
9  etc.  —  41,  30  hande  in  aller  hande,  maniger 
hande  schreibt  H  meist  hand,  seltener  hant.  Der 
Herausg.  wechselt  zwischen  hant  und  hande, 
während  letzteres  der  Sprache  des  13.  Jahrh. 
entspricht.  Aach  in  den  Predigten  ans  a  hant 
(2,7),  in  denen  ausHÄatwfe  41,30.  49,1.  60,4. 

65.10.  70,12  etc.,  dagegen  hant  45.32.  110,  8. 
9.12.  127,12.13,  und  nicht  etwa  in  Ueberein- 
stimmung  mit  der  Hs.,  sondern  ganz  willkürlich. 
—  42,  25  magätuam,  ebenso  42, 39.  43, 1.  100, 
20.21;  dagegen  magetuom  69,9.  141,8.  Die 
Hs.  hat  zn  dieser  Ungleichheit  nicht  veranlaßt, 
sie  hat  überall  magtum.  —  43,  7  lüterre  Hhte, 
H  hat  lauter ;  ebenso  53, 12.  72,  34.  Dagegen 
mit  lüter  bikte  65,  5.  unserre  frouwen  48,  36. 
39,  wo  H  unser,  dem  Sprachgebrauche  des  13. 
Jahrh.  ganz  entsprechend;  dagegen  unser  frou- 
wen 79,37.  39.  cmderre  wise  199,  35,  H  ander 
ganz  richtig.  —  46,2  ist  lernen  von  H  in  Uren 
verwandelt,  ebenso  58, 28.  59, 12.  70, 24.  74, 22. 
77,28.31.  195,12.13;  dagegen  25,3  ist  es  bei- 
behalten.  —  46, 36.  48, 3  ist  in  pläter  das  p  ans 
H  beibehalten,  das  in  allen  andern  Fällen  be- 
seitigt wurde.  —  49, 38  wird  hohesten  geschrie- 
ben, ebenso  50,1.  76,26.  197,1.  212,39,  da- 
gegen hoehesten  139,29,  nnd  endlich  anch  hoeh- 
ste  Üb,  10.   150,25.   165,31.  213,38,  —  52,6 


166  Gott.  gel.  Ana.  1881.  Stück  5.  6. 

ab  in  gekürzter  Form  aus  H  beibehalten,  ebenso 
110,27.  179,39,  dagegen  in  abe  verwandelt  62, 
22.  77, 10.  81,  20.  120, 1  etc.  —  54,  10  raetet 
gesehrieben,  wo  H  ratet  hat,  ebenso  54,  14.  18* 
57,  2.  18.  37.  59,  25,  dagegen  56, 37  wird  ratet 
beibehalten.  —  56, 18  ieclich  wird  in  dreifacher 
Weise  geschrieben,  während  H  nur  eine  Form 
hat:  ieclich  56,18.  63,29.  79,8.  ieglkh  am  häu- 
figsten, so  66,17.  76,11.  78,17.  83,18.  84,9. 
102,25.  117,6.  151,  14.  Endlich  tegeUch  99,  9. 
100,  33.  —  60,  12  manic  säe  im  acc,  ebenso 
60, 26.  61, 30.  110, 6. 16.  182, 17.  183, 4,  dagegen 
manige60,3.  72,  12.  129,  19  etc.  H  hat  in  beiden 
Fällen  manig.  Auch  im  nom.  wird  Wechsel  be- 
liebt :  manigiu  sele  133, 9,  dagegen  manic  sele  auf 
derselben  Seite  34-  —  60, 30  wird  statt  slayr  der 
Hs.  sieiger  geschrieben,  119, 14  steht  mit  derHs. 
slew.  —  69,  30  steht  bedahter,  wo  H  bedachter 
hat,  ebenso  77,  lb-bedaht;  dagegen  wird  168,  20 
bedacten,  186,4  bedact  in  Uebereinstimmung  mit 
H  geschrieben.  —  72,  31  wird  unde  gegen  H 
gesetzt,  sonst  und,  vgl.  die  Bemerkung  auf  S. 
282  über  Pfeiffer!  —  81,3  wird  Pauls  in  Patt- 
lus  verändert,  ebenso  81,  8.  139,18.  140,6.  185, 
2;  in  den  Predigten  aus  a  war  es  beibehalten 
(1, 2);  und  auch  ein  paarmal  in  denen  aus  H 
{154,  1.  18.  188,  31).  —  85, 32  wird  zouberae- 
rinne  geschrieben,  dagegen  90,  16  zoubrerinne\ 
99,32  marteraere,  103,17  bthtigaere,  aber  sonst 
marterer  159, 18,  trügener  etc.  —  85, 15  würze- 
lin,  86,  20  umraelin,  89,  29.  91,27  wurzdin,  H 
-bat  ü.  —  88,  19  naktegaln,  wo  H  nahtegaüen, 
während  88,  21  nahtegale  geschrieben  wird.  — 
90, 10  fürhtestü,  wird  ü  gegen  die  Hs.  hinzuge- 
fügt; in  den  gleichen  Fällen  91,3.  110,30.  133, 
9.  188, 20  geschieht  es  nicht.  -  -  90, 35. 38  wird 
sust  der  Hs.  in  sus  verwandelt,  das  sonst  (auch 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  v.  Strobl.     157 

in  den  Predigten  ans  a)  beibehalten  wird.  — 
99,9  wird  ambetes  geschrieben,  dagegen  ampt 
27,  22,  und  atnte  36,  6,  die  Hs.  bat  nur  eine 
Form  ampt.  —  100,  21  witwe  bier  beibehalten, 
sonst  immer  in  ivüewe  geändert.  —  101,38  gel- 
ben, hier  das  jüngere  b  bewahrt,  in  gelwem  119, 
14,  gelwen  158, 3  mit  Recht  in  w  verändert.  — 
104, 6  drier  leie  richtig  in  zwei  Worten,  104,  7 
drierleie  geschrieben.  —  104,  12  fröer,  ebenso 
107, 16.  146, 20,  dagegen  froeer  147,  39.  149,  34 
etc.  —  108,  28  sibener  leie  gegen  siben  l.  der 
Hs.,  dagegen  vier  leie  157,  17.  218,  3,  vieriexe 
157,  19  (hier  zur  Abwechslung  zusammen  ge- 
schrieben), vier  hande  218,  2.  4,  fünf  leie  199» 
43  ohne  Flexion,  des  Zahlworts.  —  109, 1  wird 
als  der  Hs*  in  alse  verändert,  ebenso  109,  2« 
119,  10.  121, 22.  141,  3,  in  den  meisten  Fällen 
aber  als  gelassen  (vgl.  109,  6.  21.  110,  5  etc»)  -*-* 
117,8  steht  künste,  117,5  kunst,  H  hat  beidemal 
letztere  Form.  Vgl.  117,32.  —  122,18  heimlieh 
=  H,  dagegen  121,  36  etc.  heimdieh.  —  139, 36 
hin  ze  einer  frowwen,  H  hat  hintz  ainer;  der 
Herausg.  schafft  hier,  im  Widersprach  zu  dem 
auf  S.  281  bemerkten,  einen  Hiatus.  —  Das 
gleiche  that  er  142, 22.  —  In  andern  Fällen  be- 
hält er  hintz  bei:  145,5.  146,22.  161,28.-  147, 
11  ungewerlichestiu,  dagegen  in  der  folgenden 
Zeile  scheddichstiu.  ~-  150, 17  das  unreht  guot, 
ebenso  150,29,  dagegen  daz  unrehte  guot  150, 31. 
■—  152,  33  da  mite  tuostü  gote  Hep>  dagegen 
153,6.11  liebe.  H  hat  überall  lieb.  —  160,10 
in  aller  fture  wirste,  dagegen  152,  5  vor  aüer 
Sünden  unreinester,  H  bat  beidemal  gleichmäßig 
unrainsti  wirst.  —  216,  28  im  selben  zwelften 
(H.  selb  zwdften),  dagegen  217, 11,  wo  H  ebenso 
hat,  selpzwelften.     Vgl.  218,26.  220, 14. 

Was  wollen   gegenüber    solcher    Grundsatz- 


158  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  5.6. 

losigkeit  die  nach  einem  festen  Princip  aus- 
sehenden Phrasen  auf  S.  281  besagen?  Aber 
wären  damit  nur  die  Mängel  von  Strobls  Text- 
behandlung erschöpft!  Was  ich  bis  jetzt  ange- 
führt, ist  gering  und  unbedeutend  in  Vergleich 
mit  dem  was  ich  weiter  zu  erwähnen  habe.  Gar 
nicht  erkannt  hat  der  Herausg.  eine  fehlerhafte 
Eigenthümlichkeit  der  Hs.  H,  die  D  in  den 
meisten  Fällen  meidet.  Der  Schreiber  von  H 
sprang,  was  den  mittelalterlichen  Schreibern  wie 
den  modernen  so  leicht  passiert*),  von  einem 
Worte  auf  das  gleiche  etwas  später  folgende, 
und  ließ  die  dazwischen  liegenden  Worte  in 
Folge  davon  aus,  ein  Fehler  also,  den,  freilich 
viel  seltener,  auch  A  begeht.  Mitunter  hat  der 
Schreiber  von  H  den  begangenen  Fehler  noch 
bemerkt  und  durch  Ausstreichen  corrigiert.  So 
schrieb  er  28,27  zuerst  an  deine  kauff  (=  28), 
durchstrich  dann  deine  kauff  und  fuhr  richtig 
fort  deinem  hantwerck.  39,39  folgt  in  H  auf 
muost :  gentdichen  gelten  vnd  wider  geben  (40, 3), 
welchen  Worten  auch  ein  muost  vorhergeht,  die 
er  dann  also  ausstrich  und  mit  41,  1  fortfuhr. 
40,33  steht  sele  die  am  Bande  nachgetragen, 
war  also  ursprünglich  ausgelassen,  indem  der 
Schreiber  von  die  auf  die  sprang.  41, 20  nach 
wege  folgt  (ausgestrichen)  in  die  heiligen  puß 
(41,21),  welchen  Worten  auch  wege  vorangeht. 
42, 19  nach  vier  dmc  folgt  (durchstrichen)  Das 
ain  ist  (42,21),  welchen  auch  vier  dinc  vorher- 
geht. 43,  12  nach  huoze  folgt  (durchstrichen) 
der  wildu  (43,  13),  auch  hier  geht  buoze  voraus. 
44, 8  nach  neven  folgt  (durchstrichen)  nach  geist- 

*)  Ein  charakteristisches  Beispiel  liefert  der  Herausg. 
selbst  S.  203,  2,  wo  er  einen  ganzen  Satztheil,  von  be- 
hüteten auf  behiieten  springend,  ausließ,  den  die  Anm. 
nachträgt. 


Berthold  v.  Regensburg ,  herausgeg.  v.  Strobl.     159 

lieher  bedeutunge  (44,  9),  wo  neven  ebenfalls 
vorher  gebt.  51,  37  nach  Harnstein  steht  (durch- 
strichen) von  dir  bringen  (52,  2),  weil  beidemal 
hamstern  vorhergeht  55,25  nach  in  der  selben 
folgt  (durchstrichen)  lag  ainer\  hier  sprang  der 
Schreiber  zuerst  fehlerhaft  zurück,  auf  55,22, 
wo  auch  in  der  selben  vorausgeht.  76,  32  nach 
diu  steht  (durchstrichen)  schonst  ist  (33,  auch  nach 
diu).  91,  4  da  von,  was  S.  in  den  Text  auf- 
nimmt, ist  durchstrichen,  offenbar  war  der 
Schreiber  auf  91,5  gesprungen,  wo  auf  brinnen 
da  von  folgt.  Ob  D  wirklich  da  von  91, 4  hat, 
ist  mir  fraglich.  94,  14  steht  nach  geben,  aus- 
gestrichen, mit  allen  seinen  liaüigen  94, 15;  hier 
ißt  der  Fehler  nicht  durch  ein  gleiches  Wort 
veranlaßt.  95,  15  folgt  auf  geben  toil,  durch* 
strichen,  und  das-sel  (95, 14  f.),  was  auch  auf 
geben  wü  folgt;  hier  sprang  der  Schreiber  zu* 
rück.  An  allen  diesen  Stellen  schweigen  die 
Lesarten  bei  Strobl,  während  doch  für  die  Be* 
nrtheilung  der  Hs.  dergleichen  wichtig  genug 
ist.  An  mehreren  Stellen  hat  nun  auch  S.  nicht 
umhin  gekonnt,  Lücken  in  H  anzuerkennen,  wo 
die  Sache  eben  zu  augenfällig  war.  So  28,  13, 
wo  H  von  namen  auf  namen  sprang;  30, 16,  von 
Ithet  auf  liket;  35,  13,  von  heüikeit  auf  heiWeeit; 
37, 1  von  alten  e  auf  alten  e,  wo  sogar  eine 
zweite  Hs.  (E)  denselben  Fehler  theilt,  ohne  daft 
man  anzunehmen  nöthig  hätte,  daß  ihre  Vorlage 
ihn  schon  gehabt.  Der  gleiche  Fall  83, 26  Ueber- 
springen  von  als  auf  als,  wo  D  den  Fehler  mit 
H  theilt.  93,2  von  ist  auf  ist.  97,16  von 
Her  Josue  auf  Her  Jörne.  128, 2  von  unschtddic 
auf  sehüldic.  153,  7  von  tuon  auf  tuon.  In  den 
weitaus  meisten  Fällen  aber  ist  der  Herausg. 
mechanisch  und  gedankenlos  H  gefolgt,  ohne 
jene  Eigentümlichkeit    der    Hs.    zu    beachten, 


160  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

und  an  einer  Anzahl  von  Stellen  ist  wahrschein- 
lich erat  ihm  beim  Herrichten  des  Druck-Ms. 
der  gleiche  Fehler  begegnet,  und  er  bürdet  ihn 
ganz  irrig  H  auf.  Weites  sich  hier  nm  wesent- 
liche Ergänzungen  und  Berichtigungen  der  Aus- 
gabe handelt,  müssen  wir  diese  Stellen  der  Reibe 
nach  besprechen. 

24,  14  liest  S.  uns  hat  unser  herre  gar  vü 
buoch  (1.  buoclie)  gegeben.  D  hat  darauf  die  in 
H  fehlenden  Worte:  die  wir  nutzen  und  gute 
dinch  lern  und  er  hat  uns  sunderleich  zwey 
groze  puch  geben.  Es  ist  ersichtlich,  daß  H  hier 
ebenso  wie  an  den  oben  besprochenen  Stellen 
von  buoche  gegeben  auf  das  folgende  buoch  ge- 
geben übersprang.  S.  folgt  gleichwohl  nicht  D, 
sondern  KM,  die  statt  der  Worte  in  D  nur 
haben  und  sunderlichen  zwei  gröziu  buoch. 
Aber  diese  Lesart  erklärt  den  Fehler  in  H 
nicht,  sondern  nur  die  in  D;  EM  haben  hier 
wie  so  oft  den  Ausdruck  verkürzt  und  zu- 
sammengezogen. —  36,  10  ir  mäezet  e  durch 
ein  tuoch,  daz  hanget  vor  der  innern  heilikeit,  komm. 
Wer  irgend  mhd.  Satzbau  versteht,  wird  dies 
nachhinkende  komm,  das  an  pedantische  nbd. 
Satzordnung  mahnt,  für  unmöglich  erklären.  Nun 
folgen,  wie  S.  angiebt,  auf  heüikeit  die  Worte 
daz  tuoch.  bezeichmt  den  tot,  da  müge  wir  alle 
durch  in  DEHm.  Und  in  D  allein  folgt 
noch  gen,  e  wir  zuo  der  innern  heüikeit  und 
dann  komm.  Es  wäre  also  klar,  daß  H  der 
Text  von  D  vorlag,  und  der  Schreiber  von 
H  von  heüikeit  auf  heüikeit  sprang.  Aber 
nein!  der  alte  Schreiber  ist  hier  unschuldig, 
erst  der  moderne  Herausg.  hat  die  Worte, 
die  in  H  gar  nicht  fehlen,  weggelas- 
sen! —  52,  29  folgt  auf  geben  in  D  K  M  ein 
Satz   von  zwei  Druckzeilen,   der  wie  jener  mit 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  v.  Strobl.    161 

gelten  und  wider  geben  schloß,  und  den  H  offen* 
bar  wegen  dieses  gleichen  Schlusses  tibersprang. 
—  54, 24  folgt  auf  wir  uns  vor  m  Meten  in  D 
(in  E  M  fehlt   der  ganze  Passus)  ein  Satz  von 
zwei  Zeilen,   der  ebenfalls   mit  wir  uns  vor  in 
hüden  schloß.     Also  auch  hier  hat  H  offenbar 
übersprungen.   —  61,  15  folgt   auf  sande  in  D 
(in  K  M   fehlt   die   ganze  Stelle)  ein  Satz,  der 
mit  sande  ebenfalls  schließt  und  deswegen  von 
H  übersprungen   wurde*).  —  63,  19  folgt  auf 
gdouben  in  D   (KM  sind   wieder  gekürzt)  ein 
Satz,  der  ebenfalls  mit  gelouben  schließt     Dazu 
vergleiche   man   die  Anmerkung   des    Herausg., 
der  um  H  zu  retten,   gegen  D  H   den  Text  än- 
dert, H  eine   'verläßliche  Hs.'  nennt,   und  auf 
63, 15  verweist,  ohne  zu  bemerken,  daß  auch 
dort  dem  Schreiber  von  H   der  gleiche  Auslas- 
songsfebler  begegnet  ist.  —  68,  23  der  ander 
morder,  DM  der  ander  morder  ist  ouch  ein  übel 
morder ;   H  sprang  von  morder  auf  morder.  — 
76,  3,   wo  der  Herausg.   eine  Lücke  annimmt, 
macht  er  die  Anmerkung  'Die  in  der  Us.  nicht 
bezeichnete  Lücke  ist  in  D  folgendermaßen  aus- 
gefällt    ...  in  M  ...  /   Dabei  sieht  er  nicht, 
daß  die  'Lückenausfüllung'  mit  an  dem  jungesten 
anfängt   und   die  Worte  nach  der  Lücke  eben- 
falls mit  an  dem  jungesten,  daß  also  H   hier  of- 
fenbar von   einem  gleichen  Ausdruck   auf  den 
andern  tibersprang.  —   77,  35  folgt  auf  in  den 
winkeln  und   m  den  vinslern  löchern   in   D  (M 
ist  hier  lückenhaft)   ein   Satz,   der  schließt  mit 
in  den  wincheln  und   in   den  vinstern  wincheln 
(so  D  fehlerhaft  für  löchern).     Also  auch  hier 
der  gleiche  Fall.  —  81, 17  folgt  auf  übel  wären 

*)  59,  29  wird  in  den  Lesarten  angegeben,  daß 
n—vorhU  in  H  fehlt.  Dies  ist  keineswegs  der  Fall; 
den  Herausg.  hat  das  vorhergehende  vorhte  irre  geführt. 

11 


162  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

in  D  die  füren  in  die  pittern  helle  (=  M)  und 
miezzen  nu  ymmer  (und  die  m.  M);  der  Schrei- 
ber von  H  sprang  von  einem  die  auf  das  vor 
müezen;  es  sind  also  die  Worte  die — helle  ein- 
zuschieben, und  und  die  müezen  fortzufahren.  — 
87, 24  mit  einigem  tropfen  wazzers}  und  der  Les- 
art 'hierauf  da  ist  sein  immer  genuch  an.7  Aber 
H  liest  (=  D  M)  mit  ainem  tropfen  wassers 
(==  D  M),  do  ist  sein  ymmer  genug  mit.  ainiger 
tropfen  wassers  (=  D)  der  u.  s.  w.  Auch  hier 
hat  erst  der  Herausg.  den  Fehler  verschuldet, 
—  89, 14  folgen  auf  sol  in  D  M  die  Worte  und 
als  oft  si  der  mensch  enpfahet;  sie  fehlen  in  H, 
indem  der  Schreiber  von  als  ofte  auf  als  ofte 
sprang.  —  92,  5  nach  mit  rehte  ein  langer  Satz 
in  D,  der  mit  mit  rehte  schließt,  was  H  um  so 
leichter  übersehn  konnte,  als  auch  ein  ganz  ähn- 
liches Wort  (besliezent — sliezent)  folgte.  Und 
daß  wirklich  H  hier  ausgelassen  hat,  ist  aus 
dem  fehlerhaften  besliezent  in  H  ersichtlich,  das 
erst  durch  den  Text  in  D  erklärlich  wird.  — 
94,  4  mit  sinen  heiligen  H,  mit  sinen  heiligen 
engein  und  mit  sinen  heiligen  D  (ähnlich  M); 
auch  hier  ist  das  Uebersehen  klar.  —  94,  15 
nach  am  jungesten  tage  von  himele  in  D  mit  dem 
almehtigen  gote,  wan  der  Jcumt  an  dem  jungesten 
(tage)  von  himele  (ähnlich,  aber  gekürzt  M).  In 
H  ist  die  Beziehung  von  sinen  unklar,  die  Aus- 
lassung aber  klar;  vgl.  95,5.  —  98,9  vor  wan 
in  D  M  ein  mit  wan  beginnender  Satz;  dieser 
gleiche  Satzanfang  verschuldete  die  Auslassung 
in  H.  —  100, 2  die  Worte  nach  schar,  welche  S. 
als  in  D  M  stehend  bei  den  Lesarten  anführt, 
fehlen  keineswegs  in  H!  Auch  die  An- 
gabe der  Lesarten,  daß  zweier— sint  in  H  fehle, 
ist  falsch;  der  Herausg.  sprang  seinerseits 
von  sint  auf  das  nächste  sint.  —  114,5  ist  nach 


Berthold  v.  Regensburg,  heratugeg.  v.  Strobl.    163 

DM  in  H  wahrscheinlich  auch  eine  durch  lieber- 
springen  von  ein  auf  ein  veranlaßte  Lücke  an- 
zunehmen. —  114,  13  nach  guot  eine  Lücke,  in 
D  folgt  ein  Satz,  der  wahrscheinlich  statt  mit 
wise,  mit  guot  in  der  Vorlage  von  H  schloß,  was 
den  Ausfäll  erklärt.  —  117,20  nach  gewandein 
D  M  ein  Passus,  der  gleichfalls  mit  gewande 
schließt  und  deswegen  ausfiel.  —  122,8  nach 
Idbendes  wazzer  oder  tötez  in  D  M  ein  ebenfalls 
mit  diesen  Worten  schließender  Satz.  —  131, 34 
die  aus  D  in  der  Anm.  angeführten  Worte  f  e  h- 
len  keineswegs  in  H,  sondern  sind  erst 
vomHrg.  im  Texte  weggelassen.  —  146,11 
nach  freuden  in  D  ein  ebenfalls  mit  freuden 
schließender  Satz.  DerHerausg.  bemerkt  hierzu 
'Ausfall  dieser  Worte  in  H  durch  Ueberspringen 
des  Auges  vom  ersten  freuden  zum  zweiten  ist 
nicht  nothwendigerweise  anzunehmen.'  Not- 
wendig nicht,  aber  für  jeden,  der  meine  Dar- 
legung bis  hierher  verfolgt  hat,  in  höchstem 
Grade  wahrscheinlich.  —  146, 37  nach  und  aller 
Sünden  wirste  in  D,  ein  Satz,  der  mit  und  aller 
sunden  tcierst  schließt.  —  146,  38  geben  die 
Lesarten  an,  daß  sündent  in  H  fehle,  und  daß 
auf  sündent  in  D  M  ein  ganzer  Satz  folge. 
Aber  weder  jene  Angabe,  daß  sündent  in  H 
fehle,  noch  die,  daß  dieser  Satz  fehle,  ist  richtig: 
H  stimmt  ganz  mit  DM  überein  und  liest 
sündent  Nu  secht  ob  ir  der  ye  haine  gesecht  und 
welches  sint  nu  die  sund  aller  offenMchst  vnd  an 
vnterloß.  Der  Hrg.  sprang  von  Nu  seht  auf 
den  nächsten  ebenso  beginnenden  Satz!  —  147, 17 
nach  äaz  ein  mensche  der  Sünden  eine  tuot  in  D 
ein  gleichfalls  mit  diesen  Worten  schließender 
Satz  (M  ist  hier  lückenhaft).  —  149, 19  nach 
Mnt  folgt  in  DM  und  kindes  hint\  sicherlich 
sprang  auch   hier   der  Schreiber   von  hint  auf 

11* 


164  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stock  5.6. 

ki$it.  —  166,  8  nach  kindes,  wie  S.  angiebt,  in 
D  ein  Passus,  der  ebenfalls  mit  Jcindes  schließt. 
Dazu  macht  der  Hrg.  die  Anm.  'Wenn  man 
auch  einen  Ausfall  dieser  Stelle  in  H  dadurch 
rechtfertigen  (den  Ausfall  rechtfertigen  ?)  könnte, 
(daß  der  Schreiber  vom  ersten  ckindcs  zum  zwei- 
ten sprang,  so  kann  die  Lesart  in  H  doch  be- 
stehen und  wird  durch  die  nicht  aUzuhäufige 
Verwendung  von  müezen  in  der  Bedeutung  con- 
üngit  zur  Aendernng  Anlaß  gegeben  haben.' 
Aber  in  H  ist  nichts  ausgefallen,  sonder» 
erst  in  der  Ausgabe;  H  stimmt  wörtlich  mit 
D!  —  169,9  nach  da  in  D  (M)  ein  langer  Satz. 
Die  H  vorliegende  Fassung  schloß  offenbar  mit 
mstd  martert  sie  dd,  welche  Worte  auch  der  Lücke 
vorhergehen,  —  192,31  nach  uf  in  D  M  ein 
Satz,  dessen  betreffender  Theil  ebenfalls  mit  uf 
schließt.  —  1.95, 37  nach  beste  in  D  M  ein  Satz, 
welcher  mit  bestem  schließt.  —  196,  3  o»ch 
dingen  in  D  ein  Satz,  der  mit  dingen  schließt. 
Daß  bier  in  M  derselbe  Satz  fehlt,  kann  nichts 
gegen  D  beweisen;  denn  wir  sahen  früher,  4»ß 
mehrfach  in  zwei  Handschriften  dieselben  Auk- 
«lassungen  begegnen  (37,1.  83,26). 

Es  wird  doch  niemand  es  für  einen  Zufall 
erklären  können,  daß  an  allen  diesen  Stellen 
der  in  H  ausgelassene  Satz  oder  Satztheil  mit 
demselben  Worte  schließt,  welches  vor  der  Lücke 
steht,  oder  den  '  Interpolatoren '  die  Schlauheit 
zutrauen,  sie  hätten  es  gerade  so  eingerichtet, 
daß  immer  das  gleiche  Wort  am  Schluß  ihrer 
Interpolation  vorkam. 

Wenn  hier  an  mehreren  Stellen  sich  zeigte, 
daß  die  Lücken  erst  durch  den  Herausg.  ver- 
schuldet worden,  so  zeigt  sich  weiter,  daß  über- 
haupt seine  Angaben  der  Lesungen  in  H  sehr 
liederlich  sind.    Ich  will  nur  von  der  ersten  der 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  y.  Strobl.    166 

in  H.  enthaltenen  Predigten  die  Fehler  verzeich- 
nen; im  übrigen-  aber  mich  auf  eise  Auswahl 
von  Stellen  beschränken.  24,  4  hat  EL  kunnenl, 
nicht  künnety  und  dieser  Fehler  begegnet  wohl 
hundertmal.  25,  4  sdber  H. ;  wenn  das  24,  27 
angegeben  wunde,  mußte  es  auch  hier  geschehen 
oder  eine  allgemeine  Bemerkung  über  die  Schrei« 
bnng  des  Wortes  folgen.  25,  8  erde>  also  so, 
nicht  erden  zu  schreiben  (auch  D  bat  erd).  25, 
34  was  ist,  was  S.  nicht  bemerkt,  durchstrichen. 
2%  11  ewrem  H,  der  saug,  ganz  rieb  tig.  26,17. 
auch  H  hat  das  (*»  D),  aber  s  wurde  dann  ge- 
tilgt 26,21  allew  H<,  kann  richtig  sein;  bei 
den  Lesarten  nicht  angegeben.  26,  35  male] 
tml  <ms$m  H»  26,38  #em,  nicht  zuo  dem,  und 
ganz  richtig  H.  27, 12  selben  H,  ganz  richtig. 
27,  12  hat  H  willen  statt  villen.  27, 13  hat  H 
unde.  27,15  H  geLider ,  wie  also  zu*  schreiben, 
S  gUder.  27>33  H  suüe  wiry  und  so.  zu  schrei- 
ben. 27,38  haben  H  ganz  richtig,  nach  alle  die 
steht  der  Conj-  28y  15  iedes  statt  jenes  liest  H ; 
ob  auch  D,  oder  ist  D  Druckfehler  flir  H?  28, 
16  iu]  es  (nicht  ea)  H,  aber  s  scheint  gebessert. 
28,29  grymmigen  H.  28, 30  der,  in  D  fehlend, 
ist  in  H  zwischengesebrieben»  28,31  eines  B, 
kann  richtig  sein  {eüned).  29^1  dajs  fehlt  H, 
wodurch  eirstt  die  Lesart  krummen:  verständ- 
lich wird.  29, 2  H  röi«Ä.  29,  4  arw^n  Jewtew 
allerdings  B ,  aber  in  orwer  tewte  gebessert 
(=  DKM),  und  armer  Hute  w&rt  sprechen 
ist  natürlich  m  schreiben.  29,  17  dami  ia 
H  ist  ia  das  richtige  ami  (am)  gebessert.  29, 
18  mynnsten  H,  die  schwache  Form  auch  in  E 
und  gauzt  «iehtig.  2%  27  nicht  (»  D)  hat  auch 
H !  29,  28  alle,  nicht  aller  H,  also  wohl  al  der 
erde,  29, 37  zpilman  H,  gana  richtig.  30,  37 
yeb  mid,  willen  (nicht  gab  umbw.)  B.   31,5  efes] 


166  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  6.  6. 

das  H,  wodurch  erst  die  Lesart  an  nidm,  die 
anzweifelhaft  die  richtige  ist  (S.  nlden)  verständ- 
lich wird.  31)  17  dir  fehlt  in  H  beim  Zeilen- 
schluß, was  nicht  bemerkt  ist  (er  |  deinen).  31, 
22  H  eher  dem  als  dein.  31,  25  iemer  fehlt  H, 
nicht  E!  31,  31  diu  fehlt  H,  beim  Zeilenschluß 
(alle  |  werlt).  32,  12  betwingen  mag  H,  nicht 
mac  betwingen  (wie  die  andern?)  32, 14  male 
steht  gar  nicht  in  H  und  ist,  auch  wenn  die 
andern  Hss.  es  hätten,  zu  streichen.  32,  31 
alle,  nicht  allen,  H.  Ich  denke,  das  sind  für 
neun  Seiten  genug  Fehler  und  Ungenauigkeiten 
einer  Hs.  gegenüber,  die  ein  Herausg.  als  Grund- 
lage seines  Textes  ansieht. 

33, 14  wan  bis  15  haben  fehlt  keineswegs  in 
H.  —  34, 18  triuget,  nicht  Wiege,  H,  und  es  ist 
nicht  der  geringste  Grund  triege  zu  schreiben. 
—  34,  27  im,  nicht  in,  H,  und  im  ist  richtig,  in 
vielleicht  nur  Druckfehler.  —  36,29  soll  einen 
in  H  fehlen.  Keineswegs;  es  steht,  nur  mit  an- 
derer Wortstellung,  nach  engit.  — •  37, 14  doch 
H,  nicht  iedoch,  und  also  doch  zu  lesen.  —  37, 
37  noch  sie  H,  nicht  noch;  die  Worte  stehen  in 
H  allein.  —  39, 2  sott,  nicht  wilt,  H,  das  diese 
Worte  allein  enthält,  zer  une  hat  keine  Hs., 
sondern  H,  übereinstimmend  mit  den  andern, 
zu  une,  ze  also  ist  zu  lesen.  —  40, 15  nicht  ge- 
linet hat  H,  sondern  geluiet,  es  ist  also  glüejet 
zu  schreiben.  —  40,34  sie  ez  hat  auch  H  (= 
DK  Mm)  und  so  ist  also  zu  schreiben.  —  41, 
6  nymmer  H,  das  allein  diese  Worte  enthält.  —  • 
42, 15  die  Worte  und  —  gewaltic  (welches  und  ist 
gemeint?)  sollen  in  H  fehlen.  Keineswegs; 
sondern  es  heißt,  und  zwar  übereinstimmend  mit 
D,  und  also  nutz  und  also  gewaltig  ist  die  puß 
vor  got:  so  ist  mithin  zu  lesen.  —  42,  17  dem, 
das  in  DK  Mm  fehlt,  istinH  an  den  Rand  ge- 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  t.  Strobl.    167 

schrieben,  also   sicher*  Zusatz  und  zu  streichen. 

-  42, 21  der,  das  in  D  K  M  m  fehlt,  fehlt  ancb 
in  H,  und  mit  Recht;  vgl.  42, 17.  -  44, 12  er 
oil  als  Lesart  von  H  angegeben,  aber  er  ist  in 
et  gebessert,  und  eht  alle  ist  zn  schreiben.  — 
44, 19  weissagen  hat  H,  und  dies  ist  die  rich- 
tige Lesart  (vgl.  D),  denn  bekanntlich  wird  rahd. 
sich  an  nemen  mit  acc.  constrniert.  —  45,35 
lenger  H,  aber  das  e  ans  a  gebessert,  und  ohne 
Frage  langer  zu  schreiben.  —  47, 12  deinen  (= 
D)  hat  H  und  vielleicht  richtig.  —  49,  39  Avi- 
cenna  (=  D)  hat  auch  H,  und  so  ist  zu  schrei- 
ben. —  50, 14  H  hat  verlernen  in  verhernen  ge- 
bessert; es  ist  also  mitD  verhören  zu  schreiben. 

—  51,  7  ander  (=  D)  hat  auch  H,  und  ganz 
richtig.  —  51,  8  beginge  H,  also  couj.,  der  hier 
ganz  richtig  ist.  —  52, 17  wollen  H,  also  conj., 
und  ganz  richtig.  —  52,  23  nicht  die,  sondern 
der,  liest  H,  und  daraus  ergiebt  sich  die  Besse- 
rung Wir  (H  setzt  hier  großes  W,  S.  fälsch- 
lich nach  niht  einen  Punkt)  gehen  in  gurten 
tröst  oder  niht,  so  Jcunnen  wirs  der  selben  ereenie 
nimmer  genoeten.  —  53, 3  die  fehlt  H,  das  diese 
Worte  allein  hat.  —  55,9  ee  (=  D)  hat  auch 
H  und  so  ist  daher  zu  schreiben.  —  55,  32  sie, 
das  in  DEM  fehlt,  fehlt  auch  in  H  und  ist  zu 
streichen.  —  56?  6  hettens  (=  D)  H,  und  so  ist 
zn  schreiben.  —  59,  3  haüig  H  (vgl.  heiig  D), 
also  ein  heilie  man,  nicht  ein  heilige  man,  was 
dein  Sprachgebrauch  zuwider.  —  61,5  ouch  vor 
iuwer  nicht  nur  in  D,  sondern  auch  H,  also  den 
beiden  einzigen  Hss.  —  62,21  en  laut,  soll  H 
lesen;  es  steht  aber  er  laut  (D  er  log),  es  ist 
ersichtlich,  daß  H  in  seiner  Vorlage  er  louc 
hatte;  laut  ist  einfach  Schreibfehler  und  Strobls 
Conjectur  in  laet  ist  zu  verwerfen.  Statt  dot  er 
ist  wan  er  zu  schreiben.  —   61,  26  beachten» 


168  Gott.  gel.  Aiiz.  1881.  Stück  5.  6. 

werth  igt,  daß  in  H  niht  den  Zeilenschluß  bil- 
det, und  danach  ist  der  Ausfall  eines  Wortes 
(engen  D)  nicht  unwahrscheinlich.  —  62,  39  ne- 
men,  nicht  nernent,  H,  und  da  D  namen  hat,  so 
ist  unzweifelhaft  naemen  die  richtige  Lesart.  — 
63,9  rehf  hat  H,  d.  h.  rekter ,  und  dies  ist  die 
richtige  Lesart.  -  65,  12  iuch  doch  H,  und  so 
ist  daher  zu  lesen.  --  65,  22  tier]  H  hat  diedi, 
was  in  viech  geändert  scheint;  also  vihe  zu  lesen. 

—  65,  24  mir  einen  menschen  S.,  aber  H  liest 
mir  amen  menschen,  was  offenbar  Schreibfehler 
für  armen  ist.  —  66,8  dar  umb  nicht  liest  auch 
H,  und  so  ist  mithin  zu  lesen.  —  67,6  gesagen 
mag  (=  D)  liest  auch  H ,  Strobls  Angabe  ist 
ganz  unrichtig.  —  68,  17  dller  vor  meiste  (== 
D  M)  steht  auch  in  H,  demnach  so  zu  schreiben. 

—  68,18  mackentz  ett  H,  und  so  ist  daher  zu 
lesen.  —  68, 19  nichts  nickt  H,  keineswegs  nifrf, 
niht ;  ein  nihtes  niht,  niur  ein  tuocklach  muß  ge- 
lesen werden.  —  69,31  vor  pfamder  steht  in  H 
aine\  es  ist  also  zu  schreiben  unrektm  vogetie, 
emiu  pfander.  —  69,  37  daz  merre  steht  in 
keiner  Hs.  und  eine  Lesart  wird  gar  nicht  an- 
gegeben! H  hat  under  allem  leben  teil,  was 
nicht  anzufechten  (vgl.  D).  —  70, 8  do ,  nicht 
so  bat  H,    es  ist  also  da  (=  D)   zu  schreiben. 

—  70,  20  Syfrider  (^  MD)  hat  auchH,  keine 
Siferder,  wie  S.  schreibt.  —  75,  32  nicht  ge- 
spüc,  sondern  gespül  hat  H,  was  also  mit  ge- 
spot  D  übereinstimmt  und  richtig  ist  —  71, 1 
auch  H  hat  so,  nicht  da,  demnach  ist  so  zu 
schreiben.  —  den,  das  in  D  M  fehlt,  ist  in  H 
durch  strichen,  adso  auch  beiß,  zu  tilgen.  —  71, 
5  den  fehlt  auch  H,  und  ist  zu  streichen.  — 
71,8  sich  fehlt  auch  H,  steht  also  in  keiner  Hs.! 

—  71,  29  ist  in  H  (=  D)  und  ganz  richtig.  — 
72, 3  kalben  H,  conj.  ganz  richtig.  —  72, 24  alle 


Berthold  v.  Regeusburg,  herausgeg.  v.  Strobl.     169 

die  (=  D)  Host  aucb  H,  und  so  ist  zu  schrei- 
ben. —  72,32  stand  H,  nicht  stend,  8.  schreibt 
stant:  soll  das  ein  conj.  sein?  1.  stände.  —  72, 
36  daz  ir  niemer  mer  gesundet  hat  keine  Hs., 
sondern  H  das  irs  nymmer  mer  gcthut,  womit  D 
weseutlieh  übereinstimmt.  —  74,  9  ist  genant 
(=  D)  liest  auch  H,  und  so  zu  schreiben.  — 
75, 10  ir  ie  (=  D  M)  hat  auch  H,  und  so  ist 
zn  schreiben.  —  79,  4  toetlich  sünde  (=  D;  hat 
auch  H,  und  so  ist  zu  lesen.  —  SO,  34  und  stein 
(=  D)  auch  in  H,  daher  in  den  Text  einzu- 
setzen. —  82, 7  kuin  inensch  H,  also  das  neutr., 
und  ganz  richtig.  —  82,9  an  (=  M)  H,  nicht 
in,  also  an  zu  lesen.  —  83,  6  kamen  H,  nicht 
h&ment;  es  ist  also  kamen  zu  schreiben.  —  87, 
7  sie  fehlt  auch  H;  oder  Druckfehler?  —  83,  25 
hat  Strobls  Text  eine  ganze  Zeile  in 
H  übersprungen:  lies  so  getrüivet  er  nie- 
man  als  wol  dar  zuo  als  im  selben:  sie  rnohte  ouch 
nieman  als  wol  gemeistert  haben.  -~  85,  13  und] 
wann  D  M,  aber  auch  H  hat  so,  wan  ist  daher 
zu  schreiben.  —  85, 25  ainualt  H,  nicht  einvdXr 
tigezj  und  einvalt  zu  lesen ;  vgl.  87,  23.  —  86, 7 
einer  (=  D  M)  hat  auch  H,  nieht  der}  aber  an 
fehlt;  lies  daz  ir  im  danne  einer  sele  helfet 
(vgl.  86, 13).  —  87, 2  nickte  hat  auch  H  (=  D). 
—  87,39  Das  H,  Der  hat  keine  Hs.,  daz  ist  zu 
lesen.  —  88,32  man]  H  liest  noch  man.  —  88, 
38  sie  (=  D),  nicht  die  hat  H,  also  sie  zu  le- 
sen. —  91,  37  stock  hat  H;  lies  in  stoc  legen9 
denn  der  sing,  und  Weglassung  des  Artikels 
dabei  ist  das  übliche. —  92,7  sie]  die  H,  also 
diu  zu  schreiben.  94,  23  sicher  nicht  bügrem, 
soudern  bügrein  in  H  zu  lesen,  also  bügervne 
zu  schreiben.  —  95,  4  haben  H  (conj.)  ganz 
richtig ;  vgl.  95, 2.  —  96, 15  Ccwanes  soll  H  le- 
sen, vielmehr  Canane9  mit  dem  bekannten  Ab- 


170  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

kttrzungszeichen  für  us,  das  dem  Herausgeber 
fremd  scheint.  —  100,4  haimrich  H,  und  diese 
Form  ist  daher  zu  setzen.  Hielt  sie  der  Heransg. 
nur  für  einen  Schreibfehler?  —  100, 13  zweier 
leie  soll  in  H  fehlen!  H  hat  zwayer  hant,  und 
zweier  hande  ist  daher  zu  schreiben.  —  100,  14 
nach  Ersten  folgen  die  von  S.  ausgelasse- 
nen Worte  decs  sint  gaistlich  lewt,  die  also  in 
den  Text  aufzunehmen  sind  (vgl.  D !).  —  100, 
28  die  hant  H,  ganz  richtig.  —  105,  38  etlich 
H,  nicht  etelicher,  so  hat  keine  Hs.  und  diese 
Lesart  ist  unsinnig.  —  106,  29  genimet  H,  nicht 
gewinnet,  und  jenes  ganz  richtig.  —  108,  32  an 
dem  H,  nicht  an  den,  also  an  dem  gründe  zu 
schreiben;  vgl.  D  und  109,  12.  —  108,35  pleir 
her  H  für  Mibe,  vielleicht  bWbe  ir  zu  lesen  (vgl. 
109,6,  wo  H  auch  er  für  ir  hat)  vgl.  127,28. 
—  111,22  H  hat  für  das  zweite  umb  —  über, 
und  so  ist  daher  zu  lesen.  —  114,  16  numiger 
bischof  H,  und  so  zu  schreiben.  —  115,  9  schö- 
nes H  (=DM),  also  schoenez  zu  lesen.  —  115, 
10  muß  H,  also  er  müeze  (=  er  enmüeze)  zu 
lesen.  In  derselben  Zeile  hat  H  nicht  aim,  viel- 
mehr aun  (=  an).  —  115,36  dem  (=  DM)  hat 
auch  H.  —  115,  38  so  schiere  H,  und  so  ist  zu 
schreiben.  —  118,  23  der  (=  M)  hat  auch  H, 
und  so  ist  daher  zu  lesen.  —  118,34  und  für 
swä  hat  auch  H  (=  D)  und  ist  ganz  richtig.  — 
119,  28  diu  ist  wahrscheinlicher  als  din  zu  le- 
sen (vgl.  D).  —  199,33  rechten,  was  als  Lesart 
von  H  angegeben  wird,  scheint  in  rotten  gebes- 
sert, röten  ganz  richtig,  wie  auf  derselben  Zeile 
bluotigen.  —  120,  33  ist  unserm  (=  D)  auch  H, 
und  ganz  richtig.  —  121,5  nicht  ist  diu  hatH, 
sondern  die  ist,  also  der  Artikel  vor  ketzerte 
fehlt  wie  in  DM.  —  121,  29  soll  H  lepso  lesen: 
es  steht  aber  leprosus,   mit  zwei  jedem  Philolo- 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  v.  Strobl.    171 

gen  bekannten  Abkürzungen,  deren  zweite  auch 
hier  Hrn.  Strobl  unbekannt  scheint  (vgl.  zu  96, 15). 
-  121,35  an  in  stdt:  H  bat  an  ir  stand:  es 
ist  zu  lesen  an  ir  Übe  stände  (vgl.  D).  —  122, 
27  soll  H  hainüichen  lesen ,  wofür  S.  durch  Con- 
jectur  verborgen  setzt;  aber  H  hat  schamlichen 
=  D  und  so  ist  zu  lesen.  —  123, 14  H  hat 
ymmer,  was  ganz  richtig ;  S.  setzt  falsch  niemer.  — 
124,19  volles  H,  lies  vollem,  die  flectierte  Form 
ganz  richtig,  weil  alterthümlich.  —  127, 36  grir 
fen  H,  ganz  richtig.  —  128, 9  und  —  dingen 
»oll  in  H  fehlen:  vielmehr  steht  ein  etc.  dafür. 
Auch  128, 23  steht  nach  rouben  ein  etc.  —  129, 
18  nicht  m,  sondern  an  hat  H,  und  es  ist  zu 
lesen  und  solt.e  alles  daz  guot  und  alle  die  ire 
äne  sin ;  vgl.  D.  —  130, 1  an  muoten  =  D,  und 
so  zu  lesen.  —  131,  22  lies  ein  also  griulich, 
denn  so  hat  H.  —  131,  33  gttiger  =  D  hat  H, 
und  ganz  richtig.  —  136,  5  gunne  H,  und  ganz 
richtig. 

Die  auf  S.  137  beginnende  Predigt  ist  allein 
nach  H  gegeben;  warum  ist  hier  W  nicht  ver- 
glichen? Aber  auch  H  ist  sehr  liederlich  be- 
nutzt. Ich  fähre  auch  hier  nicht  alles  an. 
140,6  hat  H  Pauls,  was  weder  bemerkt  noch 
beibehalten  ist.  147,  7  folgt  nach  fornicationem 
noch  two.  9.  140, 10  H  absolon,  die  im  13.  Jahrh. 
gewöhnliche  Form.  140,  23  vdhet  fehlt,  nicht 
angegeben.  142,  14  lies  diemüetic  mit  der  Hs. 
142, 15  mile  fehlt,  nicht  angegeben.  142,  29  ist 
fehlt,  nicht  bemerkt;  besser  wird  es  nach  alt 
ergänzt.  142,  34  laut,  nicht  land,-  also  lät  zu 
schreiben.  143, 1  kein]  ain  H,  nicht  angegeben. 
143, 17  ez]  ee  H,  nicht  bemerkt.  143, 30  nach 
rehte  folgt  noch  geitigen.  143,  35  gerufen  H, 
also  gerüefen  zu  lesen.  143,  36  eine  Zeile 
der  Hs.  übersprungen.     Lies  sie  sint  herter 


172  Gott,  geh  Anz.  1861.  Stock  5.  6. 

dmine  adamas,  und  ist  doch  niM  so  heries  in 
aller  der  weit  so  der  aäumas.  Ebenso  sind  144, 3 
eine  Anzahl  Worte  übersprungen  (von 
von  der  auf  von  der) ;  lies  wir  predigen  von  der 
f reise  diu  ze  helle  ist;  wir  predigen  von  der 
freude  im  himdriehe.  144,  13   wird  bei    den 

Lesarten  ausdrücklich  versichert  tasine  so!' 
Aber  H  hat  asnine,  es  ist  daher  isnine  zu  schrei- 
ben. —  144,28  nilii  fehlt  in  H,  und  mit  Recht. 
145,  17  den  zwei  herrm  H  mit  DM,  und 
richtig.  —  148,  9  iuwerm  H,  ganz  richtig.  — 
148*,  30  last  hatte  H,  der  Schreiber  hat  ea  aber 
in  kost  gebessert;  auch  nkht  get,  sondern  got, 
also  =  D  M.  Seine  üble  Conjectur  hat  der 
Herausg.  selbst  fallen  lassen.  —  149,29  vor  ge- 
het steht  ir  (==  D)  in  H,  also  aufzunehmen.  — 
149,  35  so  sini  sin  sicher  hat  H,  nicht  sief  also 
ist  zu  schreiben  so  sint  ir  sin  sicher  (vgl.  DM). 

—  150,  24  1.  iemer  mer  mit  H.  —  152,  30  des 
(=  D),  nicht  es,  daher  des  zu  lesen. 

Die  Predigt  S.  154 — 164  wieder  allein  nach 
H  gegeben,  ohne  Vergleiehung  vob  W.  155,  34 
fehlt  das  eine  der  zwei  an,  dagegen  steht  ein 
an  vor  samt  Pauls  und  ist  dort  einzufügen» 
mourter  fehlt  in  H.  Aueh  hat  H  nkht  Neros, 
sondern  Nero,   »lso  in  etiler  Zeile    vier  Fehler! 

155,  88  H  hat  das  sprachlich  richtige  dm;  die 
vielleicht  Druckfehler.  —  156,  18  pleiben  conj. 
H,  ganz  richtig.  —  156,25  in,  nicht  an  bat  iL 

—  156,  28   1.   zem   himdrtehe  mit  H  (zum).    — 

156,  30  1.  ist  körnen   mit  H.  —  158,  11   hat  H 
r 

martr,  was  doch  nicht  marier,  wie  schon  der 
Sinn  lehren  konnte,  sondern  martercr  aufzulösen 
ist.  Die  gleiche  Abkürzung,  ebenfalls  falsch 
aufgelöst  in.  dieser  Zeile  nochmals,  und  ebenso 
158,  12.     (158,  18.    159,  18   hat  die  Hs.  falsch 


Berthold  v.  Segensburg,  heran sgeg.  v.  Strobl.     17a 

matter  statt  warterer).  164,  2  (zweimal).  164, 
&  —  1587  23  iand  H,  also  lant  zu  schreiben.  — 
158, 36  Aas  H,  nach  des;  iudi  daß  an  fernen  ist 
die  cowecte  nahd.  Ausdrucksweise.  —  1 59, 13  nieht 

rkw  hat  H,  sondern  rww.  —  159,21  I.  erbermde 
(H  erpermd);  warum  hier  auf  einmal  erbarmede? 

-  159,  30  da«  zweite  an  fehlt.  —  160, 3  so]  ex 
H,  und  so  ist  zu  lesen.  —  160, 15  sie  nach  daz 
fehlt;  wohl  zu  lesen  da#s  umb.  —  160,  38  der 
das  steht  zweimal  in  H,  und  ganz  richtig.  — 
161,  2  seine  hat  H,  kann  also  auch  in  sinem 
aufgelöst  werden.   —  163,  17  I.  mit  H  enhaben. 

—  163,  36  nach  sieh  bei  S.  ausgefallen  nickt, 
also  tu.  lesen  der  wü  sich  niht. 

165, 15  mensch,  nicht  mensdien,  H,  und  men-' 
sehe  ganz  richtig;  vgl.  DM.  —  167,  38  seht 
fehlt  in  H.  —  169,  26  sein  (=  D) ,  ganz  rich- 
tig; 1.  under  sine  junger  (warum  jünger?  hat 
doch  noch  H  keinen  Umlaut  in  dem  Worte)*  ~ 
170,  34  1.  als  groe  mit  H.  —  171,38  hinnen, 
nemen  soll  H  haben,  aber  H  hat  (=  D  M)  das 
ganz  richtige  haimen.  —  172,  2  denne  die  vor 
fasten  feMt  in  H  am  ZeiJenweehsel.  —  172,  4 
1.  mit  H  die  nur  da  (H  do)  so  gröten  schaden 
tuont.  —  172,13  statt  iu  hat  H  auch  (vgl.  D) 
and  ganz  richtig.  —  172j  18  tmenet]  H  hat,  was 
nicht  angegeben,  wend,  und  n  in  r  gebessert, 
also  werd\  es  ist  also  werde  zu  schreiben  (vgl, 
wirt  DM).  —  173, 10  H  hat  durch  got.  —  174, 
1  H  att  (\.  al)   der  w.   —   176, 31  nicht  deum 

hat  H,  sondern  dum,  was,  wie  jeder  Philologe 
wissen  sollte,  dominum  bedeutet.  Derselbe  Feh- 
ler nochmals  193,17.  —  178,1  wird  eine  Les- 
art von  H  angeführt,  die  auf  Auslassung 
einer  Zeile  beruht!  Es  ist  mit  H  zu  lesen 
(nach  waere) :  Daz  waere  gote  so  liep  niht  als  so 
im  ein  tugentfiaft  mensche  einen  halben  tac  diente. 


174  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5. 6. 

-r  178,24  er  fehlt  H  (=  D  M),  ist  also  zu 
streichen.  —  179,  9  dae  daz  D  M  ist  offenbar 
die  richtige  Lesart;  H  hat  das  am  Zeilenschlaß 
und  in  Folge  dessen  ein  daz  ausgelassen.  — 
179,  132  lebent  H,  in  lobent  geändert;  lüejent 
ist  eine  ganz  unnütze  Gonjectur.  —  181,  7  hu- 
ment]  H  hmie\  lies  so  Jcoeme  iuwer  frouwen  gar 
vil  zuo  dem  himelriche  (vgl.  D  M).  —  182,  12 
nicht  in}  sondern  an  hat  H  ganz  richtig  (=  M). 

—  185,  11  ganz  falsch  der  Text  von  H  ange- 
geben. Lies  mit  H  (ygl.  D)  so  ist  er  in  dem 
nidern  mit  dem  gewalt.  Jfyir  sehen  in  halt  als 
wol  in  dem  nidern  himelrichet  in  der  kristenheü,  als 
in  dem  dbern.  Der  Herausg.  hat  wieder 
etwas  übersprungen!  —  186,12  lies  mit  H 
das  grammatisch  richtige  do. —  186,29  Yspanien 
hat  auch  H;  warum  diese  Form  aufgeben?  — 
188,28  nach  ieglicher  steht  in  H  Comparari.  — 
189,8  der  die  die  sünde  tuotit  H,  ganz  richtig, 
ygl.  9.  —  189,  22  nicht  muoe  hat  H,  sondern 
must  (=  DM);  es  ist  also  zu  lesen  das  du 
MMOst  oder  besser  müezest  —  189,  34  nach  e 
folgt  noch  dö,  was  aufzunehmen.  —  190, 37  lies 
ir  habent  mit  H  (=  DM).  —  191,  34  lies 
iht  mit  H.  —  192, 15  vor  so  steht  auch  in  H 
wan  (=  D  M),  also  aufzunehmen.  —  192,  32 
diu  H,  ganz  richtig.  —  192,  38  uwerm  H,  ist 
ganz  richtig.    -    193, 16    lies  auch  got  mit   H. 

—  193, 33  zechent  H ,  also  wohl  mit  D  M  zie- 
hent  zu  schreiben.  —  194,  18  die  Lesart  von 
H  falsch  angegeben,  H  hat  nur  ist  iuch,  es  ist 
also  zu  schreiben  ist  iu  witetven.  —  195,  28 
haim  H,  ganz  richtig,  warum  das  sprachwidrige 
heime?  Ebenso  209,10.  -  198—200  nur  in 
H  erhalten.  198, 6  ist  fehlt  H.  198,  20  lies  mit 
H  daz  ist  also.  198,  22  lies  mit  H  noch  durch 
lau  noch  durch  keiner  slahte  dinc.  199,  16  H 
erst,  warum  erstes?    199,  30  H  so  ain.    199,31 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  ?.  StrobJ.     175 

getan,  H,  ganz  unnöthig  getäniu.  199,  47  sernli- 
chez]  smechliches  H.    200,  25  1.  lernen  mit  H. 

203,  22  der  nach  wwrf  fehlt  (=  M)  and  ist 
daher  zu  streichen.  —  209,  2  lies  mit  H  (vgl. 
M)  und  tet  do  so.  —  209,  15  spranc  doch  rehlt 
H,  nicht  angegeben.  —  209, 28  die  H,  also  offen- 
bar Versnob,  die  in  din  zu  bessern,  and  um 
oder  dine  ist  zu  lesen.  —  210,  6  wieder  eine 
Zeile  ausgefallen!  lies  nach  siner  grozen 
erbermde,  so  kumt  ir  dannoch  zuo  der  ewigen 
Wirtschaft  Wie  gedankenlos  hat  hier  der  Her- 
aasgeber gearbeitet! 

211 — 220  nur  nach  H,  W  ist  nicht  verglichen. 
Gleich  auf  der  ersten  Seite  mehrere  Zeilen 
übersprungen!  Lies  211,10  und  in  der  cd" 
ten  e  da  stet  also  und  die  guoten  sint  also  wcl 
gesegent  mit  drizic  segen;  also  sint  die  reihten 
und  die  guoten  gesegent  in  der  alten  e  und  in 
der  niuwen  e.  —  2117lb  und  dem  H,  kann  rich- 
tig sein;  vgl.  213,  1.  —  212,28  ander  H,  ganz 
richtig.  —  213, 7  Ion  fehlt  H.  —  213,  8  des 
fehlt  H.  —  213, 15  nicht  suit,  sondern  das  ganz 
richtige  sint  bat  H.  —  213,  29  sie  fehlt  H.  — 
213,32  H  prinnet.  —  214,2  haben  in  halten  ge- 
bessert H,  ganz  richtig.  —  214,21  des  fehlt  H. 

-  214,23  noch,  nicht  doch,  liest  H!  —  215,  6 
werden  H.  -  215,  20  sie]  sich  H.  -  216,  2 
prine  (nicht  prime)  mit  Strich  darüber  hat  H 
hier  und  207, 34.  —  216,  3  1.  Ärriani  mit  H.  — 
216, 15  mnni  populo  IT,  und  so  fast  durchgängig. 

—  216,29  liminos]  H  hat  cnnos,  was  offenbar 
terndnos  aufzulösen  ist!  Jenes  liminos  ein  hüb- 
scher Beweis  sprachlicher  und  paläographischer 
Kenntnisse!  —  217,13  1.  dicü  initH.—  217,36 
lies  ze  helle  mitH.  —  218,12  durch  Uebersprin- 
gen  von  doch  auf  doch  ein  Stück  Text  aus- 
gefallen,  lies   so  toil  ich  doch  darvon  sagen, 


176  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

* 

toan  ist  ir  hie  niht,  en  gotes  namen^  so  tum  ich 
doch  als  der  etc.  —  219,4  dem  fehlt  H.  —  219, 
36  verratent  H  und  menige,  wahrscheinlich  ir 
vcrrätent  wenigem  menschen.  —  220,  20,  was 
wie  gern  aussieht,  ist  ein  angefangenes  geiuot, 
das  dann  ausgestrichen  wurde.  Also  gerne  ist 
zu  tilgen.  —  220,  32  Idbende  fluoch]  lebens 
flaisch  H. 

Wenn  hier  an  einer  Menge  von  Stellen  die 
Lesungen  des  Herausg.  als  falsch  und  höchst 
gewissenlos  sich  ergehen,  so  hat  er  an  andern 
Stellen  ganz  unnöthige  Aenderungen  sich  er* 
laubt.  So  ist  25,  7  und  ganz  unntftbig  gestri- 
chen, —  25, 1 8  eins  toten  houbet  statt  ein  töten 
hoxibet  (in  H  ist  nicht  am,  sondern  ain  zu  lesen), 
vgl.  70,39.  99,11.  147,26.  —  25,34  eine  ganz 
verfehlte  Conjectur;  lies  mit  D  daz  geschaeh  im 
aUea  Mute.  —  27,  37  üebent,  wie  alle  Hss.  ha- 
ben, ist  ganz  richtig.  —  28,  18  ir  herren,  ir 
ritter  H  (vgl.  D)  ist  nicht  anzutasten.  —  28, 28 
warum  einem  in  ein  verwandelt?  —  33,  8  die 
ganz  unglückliche  Aenderung,  an  welche  dann 
in  der  Anm.  weitere  Folgerungen  gebaut  wer- 
den, ist  schon  in  der  Rec.  im  Liter.  Central- 
blatte  nach  Verdienst  gewürdigt  worden.  —  35, 
20  c&hinMnäcr,  wie  HKoi  haben  (vgl.  auch 
DM)  scheint  der  Herausg.  für  eine  Art  Ditto- 
graphie  gebalten  zu  haben;  er  kennt  also  offen- 
bar die  ganz  geläufige  Zusammensetzung  hin- 
hinder  nicht.  —  35,30  da,  das  in  HD  fehlt,  igt 

Egmz  tiberflüssig  und  zu  streichen.  —  42,31  die 
esart  von  D  H  ist  beizubehalten.  —  48, 5  ein 
iUeliu  pläter;  warum  iibeliu?  H  übel,  und  so 
ist  häufig  unnötbig  nach  ein  die  stark  flectierte 
Form  statt  der  unflectierten  gesetzt.  —  49,  6 
die  Ergänzung  niht  gehelfen  ist  kaum  notwen- 
dig ;    vgl.  61,  26    und   die   Anm.   zu   64, 33.  — 


Bertbold  v.  Regensburg,  herausgeg.  v.  Strobl.    177 

88, 21  hat  zu  ergänzen  ist  überflüssig.  —  98, 21 
änvalt  ist  nicht  zu  streichen;  ebenso  wenig  99, 
22  und  alle,  was  übrigens  bei  den  Lesarten  fehlt. 
-  107,23  die  Ergänzung  ist  nicht  nöthig.  — 
108,7  selben  H  kann  ganz  richtig  sein;  auch 
108,  11  setzt  AI  siben.  —  110,20  von  Aquilon 
ist  mit  D  zu  schreiben;  in  H  M  ein  einfacher 
leicht  erklärlicher  Auslassungsfehler.  —  117,  17 
Entweder  ist  ganz  richtig;  vgl.  120,  35.  —  118, 
33  warum  an  dem  statt  der  in  H  überlieferten 
am9  das  anderwärts  beibehalten  wird  ?  —  118,39 
main  H,  warum  den  j>lur.  meine?  vgl.  36.  — 
119,26  in  bei  leien  tvis  ist  nicht  nöthig;  der- 
artige Ausdrücke  stehn  adv.  im  Accus.;  in  fehlt 
Hss.  — .132, 2  die  Ueberlieferung  ist  ganz  rich- 
tig; nur  muß  man  nach  körne  keinen  Punkt 
setzen.  —  154,15  warum  sie  in  die  verändert? 

Auch  Lücken  im  Texte,  die  ja  allerdings 
nicht  zu  leugnen  sind,  werden  vom  Herausg. 
viel  häufiger  als  nöthig  angenommen.  Einmal 
(zu  165,  22)  hat  er  das  selbst  nachträglich  er- 
kannt. Aber  auch  24,23.  53,6.  75,30.  76,10. 
101,  4  sind  Lücken  nicht  nothwendig  anzu- 
nehmen. 

Die  Interpunktion  ist  mehrfach  falsch,  vgl. 
25, 23.  27,  27.  38, 22.  52, 23.  54, 6.  56, 21.  58, 
18.  69,  20.  74,  5.  95,  21  (hier  macht  H  ganz 
richtig  bei  Seit  eine  Interpunktion,  nicht  bei  so). 
115,31.  119,12.  190,23  etc. 

Fehler  verschiedener  Art  notiere  ich  noch 
an  den  folgenden  Stellen.  26,  33  lies  die  da; 
ebenso  30,  24  —  27,  14  1.  venje  vollen,  worauf 
die  Lesarten  weisen.  —  27, 19  iu  H  (vgl.  nu 
D)  ist  nicht  einfach  zu  streichen,  sondern  in  ie 
zu  verändern.  —  34,14  die  Anm.  sagt  Schweiß 
nicht,  welches  gehoben  durch  geben  zu  ersetzen 
ist',  offenbar  das  zweite,  wie  D  zeigt.  —  36,  12 

12 


176  Gott.  gel.  Anz.  1381.  Stütk  5.  6. 

1.   da  ze  wederem   iiirUn,  wie    schon    das  Lit 
Ce&tr«  bemerkt  hat.  —    36,  31    1.  nü  seht\  vgl. 
die  Lesarten   und   37, 9 ;  besonders  60, 21,   wo 
seht   auch   in  H  fehlt.  —  88,  20  hine  im  rekte 
got  vergapj  unmögliche  Wortstellung.  —    39, 19 
doch  driu  (S.  dri)  und  drizec  jär.  —  39,  23  wä 
von  DH  ist  nicht  zu  streichen;   die  Worte-  daz 
du  daz  niemer  tarst  (besser  turrest)  geleben  sind 
in  Parenthese  zu  setzen.  —  42,37  daz  ist  ganz 
richtig ;   es  bedeutet  'darüber   daß*.  —    45,  3  L 
dö  bekomy  wie  H  auch  hat.  —  46, 1  H  hat  woU 
iry  und  wenn   auch  die  junge  Hs.  nicht  genau 
weit  und  wolt  scheidet,  so  führte  doch  der  Nach- 
satz wolte  ich  auf  das  prät.    Also  woltet   ist  zu 
schreiben.     Das  gleiche  55,  1.      Dagegen    hei 
vorausgehendem  wellent  folgt  im  Nachsatz  ich 
wil  59,11.     Vgl.  74,  22.  —   63,2    hat  H  wolt 
and  geb,  was   nicht  weit  und  gibe  ist,   sondern 
weitet  und  gaebe.    Auch  64,33  ist  wolt  (=*  H) 
Oder  woltet   zu  schreiben,   denn   künde  ist  ata 
prät.  conj.  von  kan  aufzufassen.  —  176, 26  eben- 
falls wolt  (=  H)    oder   woltet,   im  Nachsäte   so 
wolte  ich.  —  46,  33   kürzet  natürlich  zu  schrei- 
ben; vgl.  47,  32.  —  4b,  32  1.  taete\  vgl.  52,  27. 
— *  50,7  er  wie  H  hat,  steht  sicher  verschrieben 
ftir  es,  wie  mehrfach  in  der  Hs.;  nicht  des   ißt 
zu  schreiben.  —    50, 18   L  man  buozte  (aach  H 
hat  pust  ohne  Umlaut),  denn  der  conj.  hat,  was 
der  Herausg.  hätte  wissen  müssen,  keinen  Uta- 
laut  in  diesem  Falle.    Derselbe  Schnitzer  mehr- 
mals: so  75,15.   78,4.   138,13.    268,14.  —  51, 
14  I.  sich,    da   ist  mir  daz  aller  lidfest  ~-   51, 
21  1.  solte  mit  D,  vgl.  18,  wo  H  denselben  Feh- 
ler (sollen  für  solte)  begeht.  —  52,  17  die  Les- 
arten weisen   auf  diu  gdich,  instrum.  —  54,  12 
1.  töhtet  mit  H,   das  diese  Worte  allein  hat.  — 
54,26  unrichtige  Besserung;  lies  mit  D  wan  er 


Berthold  v.  Itegefisbarg,  herauggep.  v.  Strobl.    179 

Hm  der  helle  rähte  nieman  gewönen;  H  lieft  ein- 
fach beim  Zeilfcöweehsel  (der])  helle  aus;  reich 
ist  für  rekte  verschrieben.  Berthold  braucht  das 
Wort  kdleriche  nicht.  —  55,  39  das  adv.  heißt 
hovdiehm\  darauf  fuhrt  noch  die  Schreibung 
bmn  —  in  H.  —  57, 12  äne  toufe,  warum  nicht 
touft  wie  H  hat?  Vgl.  57,13.  Ebenso  1.  57,20 
&*e  tauf.  —  57,39  1.  gewonen,  vgl.  58, 7.  —  59, 
34  ist  der  Lesart  von  D  folgend  zu  schreiben  sie 
haeten  in  hin  w  der  selben  läge  (D  hut) ;  vgl.  60, 16. 
~  60,  16  ist  frodiche  ganz  verfehlt,  vielmehr 
mit  D  frumecllche  zu  lesen,  wofür  fmntlich  in 
fl  ein  einfacher  Sehreibfehler  ist     Vgl  72, 32* 

—  60,  36  nieman  ist  unmöglich  die  richtige 
Lesart.  Das  ursprüngliche  war  nehein,  'keiner' 
mit  Bezug  auf  edeler  und  schoener.  —  61, 15  so 
gedenket  er  itn  gehört  zur  Bede  des  Teufels.  — 
63,  24  f.  ist  D  zu  folgen  und  die  Aenderungen 
&8  Hevausg.  sind  zu  verwerfen.  —  64, 13  die 
Lesarten  weisen  auf  die  Form  müese.  —  64,30 
l  wie  statt  swie.  —  31  soll  wie  wohl  die  Be« 
4entaqg  von  *hd«  wie  'so  wie,  so  bald'  haben. 
Recht  schöne  Kenntnis  des  Sprachgebrauchs  des 
13.  Jahrb.!  +—  66,  15  1.  bekuote,  prät.  ooqj.,  H 
bat  behüte,  tv&brefld  66,  17  in  behüten  der  Um- 
laut ganz  ttkhtig  bezeichnet  ist.  —  68,11  1.  er- 
morden* —  68,  29  wer  ich  dir  ez}  denn  man 
mi  einem  -nipht  eines.  —  69, 3  hat  H  wd,  was 
im  Zusammenhalt  mit  D  also  auf  welle  weist, 
triebt  auf  wü.  *—  70,  26  doch  halbiu  zu  lesen ! 
ebenso  70f£3  heiligiu,  72,  25.   122, 9  wäriu  etc. 

—  72, 28  ad  mit,  lies  wit  so  =  D.  —  75,  2  1. 
alles  dar.  —  82,  6  1  do  für  da.  -  83, 1  1.  ger 
fmesen  mit  D.  —  85,  24  toufe,  wie  H  liest,  ist 
gafiz  richtig,  die  Absicht  bezeichnend.  —  85, 27 
wehen,  Wie  alle  Hss<  haben,  ist  nicht  in  asche 
n  ändern ;  es  ist  plur.,   vgl.  mhd.  Wb.  1,  65*. 

12» 


160  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

—  85,  39  1.  sol  sprechen  mit  D.  ieman  in  H 
weist  vielleicht  auf  innan.  —  87, 7  die  Lesart 
von  H  (wo  das  außerhalb  der  Zeile  steht)  weist 
auf  daz  er  niur  deste  swaerer  ist  und  deste  swae- 
rer  wirk  —  90,  14  H  hat  muß,  es  ist  also  zu 
schreiben  er  müeze  (=  er  enmüeze).  —  92,  25 
1.  müesen.  —  95,  26  1.  diu  diu.  —  97,  15.  16 
besser  Jcoemen  —  gaebet.  —  99,  16  1.  reihte   da. 

—  101,  16  1.  tiuvelwinnende  als  ein  Wort; 
vgl.  180,1.  —  111,39  1.  Da  sante,  da  nach 
einer  Frage.  —  119, 1  lies  iuwer  wurde  ein  mi- 
chel  teil  behalten  da  ze  dorfe,  wan  (wenn  nicht 
wäre)  diu  selbe  üzsetzikeit,  beidiu  frouwen  und 
man.  —  126,15  streicht  der  Herausg.  einen  Ge- 
danken, den  alle  Hss.  haben,  weil  er  ihm  Bert- 
hold nicht  zutraut.  Man  wird  über  solchen  sub- 
jectiven  Geschmack  einfach  zur  Tagesordnung 
tibergehen  dürfen.  —  126,35  1.  haete.—  129,37 
offenbar  mit  D  M  zu  lesen ;  H  hat  es  sich  bequemer 
gemacht.  —  132,  26  die  Worte  ez  sol  noch  diu  ztt 
honten  sind  mit  D  M  hier  zu  streichen,  und  offenbar 
durch  Abirren  auf  133,  2,  wo  auch  der  selbe 
Satz  ich  —  gesunt  vorausgeht,  in  H  hierher  ge- 
kommen. —  132, 32 ff.  überall  prät.  zu  setzen: 
du  müesest  —  dir  Mibe.  —  137, 10  1.  daz  sie  da. 

—  137,  27  1.  gevähen.  —  139,  22  offenbar  eine 
Lücke  anzunehmen;  es  wird  zu  schreiben  sein 
viel  in  groze  sünde  von  der  gesiht\  vgl.  26.  — 
141,3  da  weltlich  in  jüngeren  Hss.  ein  sehr 
häufiger  Fehler  für  waetUch  ist,  so  ist  sicher 
waetlichen  zu  schreiben.  —  142, 11  daz  es  man 
sie  lebe,  eine  ganz  unmögliche  Wortstellung;  lies 
cht  für  es.  —  142,22  natürlich  ist  paeze  zu  le- 
sen; statt  sie  besser  dm  zu  schreiben.  —  147,  15 
1.  man  mit  DM.  —  148,  25  1.  einer,  H  hat 
ainr. —  149,11  1.  diu.  —  150,8  natürlich  läsen 
an  iueh;  iu  ein  arger  Sprachschnitzer.  —  151, 10 


Berthold  v.  Regensburg,  herausgeg.  v.  Strobl.    181 

Ida  hebet;  vgl.  zu  111,39,  und  151,20.  —  152, 
22  soll  verslint  conj.  sein;  1.  verslinde.  —  154,3 
1.  dar.  —  159,  3  1.  etewen,  H  hat  ganz  richtig 
etwen,  nicht  etwa  etwenn.  —  160,  23  1.  tw,  vgl. 
24.  —  160,  31  niemer  schlechte  Aenderung, 
eher  so  Meine  als  sie  was  des  fasten  tages>  so 
sie  —  körnen.  —  161,  6  1.  kamen.  —  161,  19 
aine  hat  H,  lies  jse  einem  rehten;  rehten  ist  auch 
bei  Konrad  von  Würzburg  im  Reim  vorkom- 
mende Form.  —  161, 25  H  hat  niu  fündf  also 
niuwe  fünde  ist  zu  schreiben.  —  161, 32  statt 
wirt  eher  mSre  zu  bessern.  —  162,  35  übele, 
besser  ergänzt  mantM,  doch  ist  eine  Ergänzung 
gar  nicht  nöthig.  —  162, 37  1.  grösiu  leit  wegen 
38.  —  166,  20  1.  genuocte.  —  176,7  fliehent  in 
H  ist  einfach  Schreibfehler.  —  177,  24  1.  an 
welhem  teile  (=  D) ,  H  sprang  von  t  in  teile 
auf  t  in  tugerit.  —  179,  31  1.  so  der  iendert; 
auch  dir  könnte  bleiben.  —  180,  2  überwinde, 
schöner  imp.,  1.  uberwint.  —  181,  6  iuwerre 
frouweny  ganz  unsinnig,  1.  iuwer  frouwen  d.  h. 
von  euch  Frauen;  vgl«  14.  Aber  besser  folgt 
man  der  Lesart  von  DM.  —  182,1  1.  iut  denn 
man  gesiget  bekanntlich  einem  an.  —  187, 12  1. 
erkuolest,  H  hat  auch  erkulst  —  189,  18  1.  diu 
Unt.  —  193,15  mislich  ganz  verkehrt;  1.  wn- 
nützlich,  vgl.  194,  25.  —  207,33  1.  saehe,  vgl. 
M.  —  208,  5  1.  täten*  t  —  208, 30  war  haben 
H  M,  danach  ist  waere  zu  schreiben  und  die 
Interpunktion  zu  ändern.  —  214, 30  im  ist  die 
richtige  Lesart.  —  216, 13  1.  verfluochet.  —  217, 
5  1.  hoeret.  —  217,  15  nach  Analogie  der  an- 
dern Stellen  ist  nach  herre  noch  amen  zu  setzen. 

—  219,  9   1.  das  ir  iuch  noch  nie  vor  schänden. 

—  220, 35  natürlich  iu  zu  lesen.  —  222,  42  1. 
wü  eht  sie  sich  wern,  vgl.  M.  —  227,28  1.  schön- 
heit,  denn  so  lautet  das  Wort  im  13.  Jahrh.  — 


182  Gott,  geh  Aaz.  1881.  Stück  5. 6. 

234, 16  1.  gebraeste.  —  234,37  1.  komm.  236, 
27  1.  gebraeste.  —  244, 12. 15  besser  koeme  und 
koetneti.  —  249,35  1.  heize. —  253,5  1.  d&  sluoc. 
—  256, 31  f.). ate  hohe,  ebenso 256, 35  unhohe. — 
268,3  L  verstoige.  —  271,  12  besser  Ute. 

Das  Resultat  unserer  Kritik  ist:  die  Arbeit 
taugt  nichts,  und  es  ist  zu  bedauern,  daß 
Pfeiffer's  Vorarbeiten  nicht  in  bessere  Hände 
gekommen  sind. 

Heidelberg,  1.  November  1880. 

Karl  Bartsch. 


Johannes  Althusius  und  die  Entwicklung 
der  naturrechtlichen  Staatstheorien. 
Zugleich  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Rechtssyste- 
matik. Von  Otto  Gierke.  Breslau,  Wilhelm  Koeb- 
ner  1880.    X  und  322  S.    8°. 

Das  vorliegende  Buch  ist  ein  höchst  werth- 
voller  Beitrag  zur  Literatur-  und  Dogmenge- 
schichte des  allgemeinen  Staatsrechts.  Der  Ver- 
fasser hat  es  sich  zunächst  zur  Aufgabe  gemacht, 
einen  hervorragenden  politischen  Denker,  wel- 
cher seit  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  unver- 
dienter Vergessenheit  anheim  gefallen  war,  wie- 
der an  das  Licht  zu  ziehen  und  in  seiner  Be- 
deutung zu  charakterisieren;  indem  er  es  dann 
aber  zur  vollen  Würdigung  des  Althusius  untere 
nahm,  die  wichtigen  politischen  Doktrinen,  wel- 
che in  dessen  Hauptwerke  eine  eigenthtimjtiche 
Ausprägung  erhalten  haben,  in  ihrer  Entwicke* 
tangsgesohiehte  vorwärts  und  rückwärtfc  zu  ver- 
folgen, hat  er  seine  Abhandlung  zu  einer  Ge- 
schiebte  der  naturrechtlichen  Staatstheorien  er- 
weitert und  dadurch  eine  zusammenhängende 
geschichtliche  firkenntnift  einer  der  merkwür- 
digsten „Ideenwelten"  angebahnt. 

Der  erste  „Leben  und  Lehrt  des  Althusius* 


Gierke,  Johannes  Althiuiut.  183 

ttberschriebeue  Tbeil  des  Werkes  zerfällt  in  drei 
Kapitel:  Johannes  Althusius;  die  Politik  des 
Alth.,  die  Jurisprudenz  des  Alth.  (die  in  einer 
Beilage  hinzugefügte  Polemik  gegen  die  Be* 
handlung  Lupoids  von  Bebenburg  in  Riezler's 
Schrift  über  die  literarischen  Widersacher  der 
Päpste  zur  Zeit  Ludwig  des  Bayern  gehört  si- 
cherlich nicht  an  diesen  Platz).  Ueber  die  Le- 
|  bensschicksale  des  Althusius  hat  der  Verfasser 
keine  neuen  Ermittlungen  vorgenommen,  wohl 
aber  die  vorhandenen  Uterarischen  Nachrichten 
sorgfältig  und  mit  Kritik  benutzt.  Seine  Ver- 
muthung,  daß  Althusius'  deutscher  Familienname 
„Althaus"  gelautet,  hat  seitdem  durch  die  dankens- 
werte Notiz  Rivier's  in  der  Revue  de  droit  in* 
teroational,  Bd.  XII  S,  348,  sich  als  unzweifel- 
haft richtig  erwiesen;  ebenso  ist  durch  diese 
der  Streit,  ob  die  Heimath  des  Alth.  die  Graf- 
schaft Wittgenstein  oder  Ostfriesland,  zu  Gun- 
sten der  ersteren,  auch  von  G.  vertretenen  An* 
nähme  entschieden;  endlich  wissen  wir  nunmehr 
mit  Bestimmtheit,  daft  A.  im  Jahre  1585  zu  Ba+ 
sei  studiert  hat,  wogegen  allerdings  G.'s  Ver* 
muthung,  daft  derselbe  seine  juristische  Bildung 
in  Genf  vollendet  und  eben  dort  sich  mit  streng 
ealvinistischem  Geiste  erfüllt  habe,  bisher  keine 
Bestätigung  erhalten  hat.  Als  Zeitpunkt  der 
Ueberstedelang  des  A,  von  der  Herbor ner  Hoch- 
schule, an  welcher  derselbe  mit  geringen  Unter- 
brechungen seit  1586  lehrte,  nach  Emden,  wo 
er  dann  bis  zu  seinem  Tode  (1638)  das  wich- 
tige Amt  des  Syndikus  verwaltet  hat,  wird  von 
G.  mit  Recht  das  Jahr  1604  fixiert  (auch  Stin* 
Uing,  der  früher  in  der  Allg.  Deutschen  Bio- 
graphie 1601  als  Beginn  des  Bmdner  Syndikats 
bezeichnet  hatte»  bat  sieb  nunmehr  —  Geschichte 
der    Deutsche*    Rechtswissenschaft ,    Abth.    I, 


184  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  5. 6. 

S.  469  —  dieser  Zeitbestimmung  angeschlossen). 
Sehr  ansprechend  ist  G.'s  Ausführung  (S.  17 
N.  37),  daß  die  bei  späteren  Schriftstellern  sich 
findenden  Verdächtigungen  des  moralischen  Cha- 
rakters des  Altb.  ihren  Grund  nur  in  der  poli- 
tischen Gegnerschaft  haben.  Von  Alth.'s  geisti- 
ger Anlage  giebt  er  auf  Grund  der  Schriften 
desselben  ein  durchaus  treffendes  Bild  (S.  16 — 
17)}  indem  er  namentlich  hervorhebt,  daß  der- 
selbe der  „ge borne  radikale  Doktrinär u,  bei 
außerordentlicher  Aktivität  des  Wesens  und  bei 
großer  Kühnheit  des  Gedankens  doch  einen  ein- 
seitig logischen  Verstand  besessen  und  deshalb 
seine  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Probleme 
der  Lehrmethode  einerseits,  auf  die  Fragen  des 
praktischen  Verhaltens  im  öffentlichen  und  pri- 
vaten Leben  andererseits  gerichtet  habe. 

Auf  dem  Gebiete  der  Jurisprudenz  gehört  A. 
zu  den  Ersten,  welche  ein  von  der  Legalord- 
nung unabhängiges  System  des  Rechtes  aufzu- 
stellen und  durchzuführen  versucht  haben.  Seine 
beiden  einschlägigen  Werke,  die  kürzere  Juris- 
prudentia  Romana  (zuerst  1586)  und  die  aus- 
führliche Dicaeologica  (zuerst  1617)  sind  von 
G.  (S.  39  N.  8  und  S.  41—49)  eingehend  ana- 
lysiert. Als  bleibende  Verdienste  derselben  er- 
scheinen (S.  42  N.  16)  die  Verweisung  der  all- 
gemeinen Lehren  in  einen  vorbereitenden  Theil 
und  die  Zweitheilung  der  Personen  in  Einzel- 
personen und  Collekti vpersonen ;  dagegen  steht 
die  in  der  Dicaeol.  von  A.  unternommene  Ein- 
gliederung des  gesammten  Staatsrechts  in  das 
civilistische  System  in  engstem  Zusammenhange 
mit  seinen  Lehren  vom  publicistischen  Social- 
contrakt  und  vom  publicistischen  Mandat,  und 
das  ge8ammte,  auf  Ramistischen  Principien  be- 
ruhende System  konnte  bei  sei  seiner  Künstlich- 


Gierke,  Johanne«  Althuiui.  186 

keit  und  Verwickeltheit  keinen  dauernden  Er- 
folg  erzielen. 

In  der  Geschichte  der  Politik  beziehungsweise 
des  allgemeinen  Staatsrechts  dagegen  nimmt 
Alth.  ohne  Zweifel  eine  bedeutende,  wenn  auch 
seit  der  Mitte  des  1 8ten  Jahrhunderts  nicht  mehr 
genügend  bekannte  und  anerkannte,  Stellung 
ein.  Seine  zuerst  im  J.  1603  zu  Herborn  ver- 
öffentlichte, seit  der  zweiten  Auflage  (Gronin- 
gen 1610)  wesentlich  vermehrte  „Politica  metho- 
diee  digestatt  war  nicht  nur  das  erste  vollstän- 
dige Lehrbuch  der  Politik,  sondern  zugleich  die 
erste  systematische  Begründung  und  Durchfüh- 
rung der  Lehre  von  der  Volkssouveränetät.  Den 
lohalt  dieses  merkwürdigen  Werkes  hat  G.  im 
zweiten  Kapitel  des  ersten  Theils  (S.  18—36) 
sorgfältig  analysiert;  die  Schicksale  desselben, 
insbesondere  seine  Verbreitung  und  sein  Einfluß 
auf  die  politischen  Doktrinen  der  Folgezeit,  so- 
wie die  zahlreichen  Bekämpfungen  seiner  Grund- 
sätze, sind  schon  in  den  einleitenden  Betrach- 
tungen zu  Anfang  des  ersten  Kapitels  (S.  4 — 
10)  skizziert;  aber  erst  der  zweite  Theil,  „die 
Entwicklungsgeschichte  der  in  der  Staatslehre 
des  Althusius  ausgeprägten  politischen  Ideen" 
giebt  den  Maßstab  ftkr  Würdigung  des  Gedan- 
kengebalts und  der  wissenschaftlichen  Bedeu- 
tung der  Staatslehre  des  A. 

In  6  Kapiteln  behandelt  der  zweite  Theil 
fläch  einander:  Die  religiösen  Elemente  der 
Staatslehre;  die  Lehre  vom  Staats  vertrage;  die 
Lehre  von  der  Volkssouveränität;  das  Repräsen- 
tativprinzip;  die  Idee  des  Föderalismus;  die 
Idee  des  Rechtsstaats.  In  allen  diesen  Be- 
ziehungen hat  Alth.  ohne  Zweifel  eigentüm- 
liche und  wichtige  Gedanken  ausgesprochen. 
Wenngleich  streng  calvinistischer  Richtung  und 


186  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  5.6. 

voll  von  Citaten  aus  der  Bibel,  ist  doch  seine 
Politik  ihrem  Grundcharakter  nach  ein  welt- 
liches Buch,  seine  Staatsauffassung  eine  wesent- 
lich rationalistische.  Auf  die  Lehre  vom  Ge- 
sellschaftsvertrage hat  er  zuerst  ein  ganzes  so- 
ciales und  politisches  System  aufgebaut.  Indem 
er  auf  die  Volkssouveränetät  den  von  .Bodin 
formulierten  strengen  Begriff  der  Souveränetät 
anwandte,  hat  er  die  absolute  Ausschließlichkeit, 
Unveräußerlichkeit,  Unübertragbarkeit  und  Un- 
verjährbarkeit der  Majestätsrechte  des  Volkes, 
wenn  auch  nicht  zuerst  ausgesprochen,  doch 
zuerst  mit  logischer  Gonsequenz  begründet,  und 
zuerst  die  weitere  logische  Folgerung  gezogen, 
daß  es  nur  eine  rechtmäßige  Staatsform,  die 
Demokratie,  geben  könne.  Den  Gedanken  der 
Bepräsentativverfas8ung  hat  er,  obgleich  das 
Prinzip  der  Volkssouveränetät  durchaus  festhal- 
tend und  andererseits  an  die  bestehende  stän- 
dische Gliederung  sich  anschließend,  doch  in 
Gestalt  corporativer  Delegation  für  alle  Stufen 
der  politischen  Gemeinwesen  durchzuführen  ge- 
sucht. In  wahrhaft  großartiger  Weise  sodann 
hat  er  den  Staat  aufgebaut  auf  eine  Stufenreihe 
von  Gliedverbänden,  Städten  und  Provinzen, 
welche  dem  Staate  gleichartig,  nur  durch  den 
Mangel  der  Souveränetät  von  demselben  sich 
unterscheiden  sollen.  Endlich  hat  er,  ungeach- 
tet seiner  starken  Ausprägung  der  Volkssouverä- 
netät, doch  die  Idee  des  Rechtsstaats  consequent 
durchgeführt,  indem  er  auch  das  souveräne  Volk 
an  das  bestehende  Recht  gebunden  erklärte  und 
insbesondere  auch  dem  Herrscher,  wenngleich 
derselbe  nur  Mandatar  des  Volkes  sein  könne, 
ein  vertragsmäßiges  Recht  gegenüber  dem  Volke 
zuschrieb. 

Dennoch  wird  man  die  Frage  uicht  abweisen 


Gierke,  Johannes  Althoiius.  167 

können,  ob  die  Staatslehre  des  Altb.  geeignet 
sei,  als  geschichtlicher  Mittelpunkt  der  gesamm* 
ten  naturrechtlichen  Staatstheorie  hingestellt  zu 
werden.  Daß  die  von  ihm  gelehrten  Ideen  durch- 
gängig an  frühere  Doktrinen,  insbesondere  an  die 
mittelalterliche  Staatslehre  und  an  die  Aufstellun- 
gen der  ihm  vorausgegangenen  reformierten  Monar» 
cbomachen  anknüpfen,  kann  allerdings  nicht  ge- 
gen eine  solche  Behandlungsweise  geltend  ge- 
macht werden;  es  wird  durch  diese  Zusammen- 
hänge auch  nicht  seine  wissenschaftliche  Be- 
deutung heruntergedrückt,  denn  wie  Gierke  (S. 
321)  richtig  hervorhebt,  haben  auch  die  größten 
und  berühmtesten  Meister  der  Staatswissenschaft 
weit  mehr  als  gewöhnlich  angenommen  wird, 
taeils  nur  bereits  ausgesprochene  Gedanken  in 
geeignete  Formen  gegossen,  theils  allseitig  vor- 
bereiteten neuen  Gedanken  zum  letzten  Durch* 
brach  verholfen.  Dagegen  scheint  dem  Referen- 
ten der  Einfluß,  welchen  Alth.'s  Staatslehre  auf 
die  nachfolgende  Gedankenentwickelung  geübt 
bat,  wenigstens  so  weit  derselbe  nachweisbar, 
doch  nicht  so  ausgedehnt  and  tiefgreifend  ge- 
wesen m  sein,  daß  die  naturreehtliohe  Staats- 
auffassung  des  17ten  und  18 ten  Jahrhunderts 
*ls  von  ihm  wesentlich  beherrscht  sich  darstellte. 
Wohl  hat  insbesondere  seine  Ausprägung  des 
Prinzips  der  Volkssouveränetät  großes  Aufseben 
erregt,  vielfachen  Beifall  und  andererseits  ener- 
gische Bekämpfung  (insbesondere  auch  von  Gro- 
ÜU8  und  Conring)  hervorgerufen;  es  hat  G.  (S. 
5—6  S.  164  ff)  zudem  den  interessanten  Beweis 
geftthrt,  daß  die  von  den  deutschen  Reichspubli- 
cisten  seit  A  rum  ae  as  zur  Construktion  des  Reiches 
verwendete  Unterscheidung  zwischen  maiestas 
realis  und  personalis  eine  nur  wenig  veränderte 


188  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  6. 6. 

Formulierung  der  Volkssouveränetät  des  Althu- 
sius'  eDthielt.  Daß  aber,  wie  6.  glaubt  (S.  4, 
9,  201—202),  Rousseau  seine  berühmten  Aus- 
führungen über  das  Wesen  des  Gesellschafts- 
vertrages und  über  die  absolute  Unveräußerlich- 
keit  der  Souveränetät  aus  dem  von  ihm  nirgends 
citierten  Werke  des  A.  entnommen  habe,  wird 
durch  die  Aehnlichkeit  der  Gedanken  und  man- 
cher einzelnen  Wendungen  kaum  genügend  wahr- 
scheinlich gemacht.  Ebenso  scheint  mir  der  von 
G.  angenommene  unmittelbare  Zusammenhang 
des  von  Besold  und  Hugo  aufgestellten  Bundes- 
staatsbegriffs mit  der  föderalistischen  Doktrin 
des  A.  (S.  245)  nicht  ausreichend  dargetban  zu 
sein.  Daß  die  Von  A.  nicht  einmal  durchgreifend 
vorgenommene  Ausscheidung  der  religiösen  Ele- 
mente aus  der  Staatslehre  epochemachend  ge- 
wirkt habe,  wird  sich  ebensowenig  behaupten 
lassen,  wie  wir  seinen  Gedanken  über  Repräsen- 
tativverfassung und  seiner  rechtsstaatlichen  An- 
schauung eine  solche  Wirksamkeit  zuschreiben 
jdürfen.  Insbesondere  mit  Hugo  Grotius*  Jus  belli 
ac  pacis,  dessen  unermeßliche  Autorität  auch  G. 
(S.  72)  hervorhebt,  wird  Althnsius' Politik,  wenn- 
gleich vielleicht  reicher  an  eigenthümlichen  Ideen, 
doch  in  Betreff  der  geschichtlichen  Bedeutung 
für  die  naturrechtliche  Theorie  sich  nicht  ver- 
gleichen lassen. 

Für  den  Werth  der  in  dem  zweiten  Theile 
des  G.'schen  Werkes  gegebenen  dogmengeschicht- 
lichen Untersuchungen  ist  jedoch  die  Stellung, 
welche  innerhalb  derselben  einem  einzelnen  Ge- 
lehrten eingeräumt  ist,  durchaus  nicht  maßgebend. 
Dieser  Werth  ist  unzweifelhaft  ein  sehr  hoher. 
Mit  seltener  Gelehrsamkeit  und  größter  Gewis- 
senhaftigkeit ist  ein  massenhaftes  Material  aus 
den  politischen    und   staatsrechtlichen  Schriften 


Gierke,  Johannes  Althusius.  189 

des  Mittelalters   und   der  Neuzeit   zusammenge- 
tragen und  verarbeitet.     Indem   der  Stoff  nicht 
Dach  den  einzelnen  Schriftstellern,  sondern  nach 
den  für   die  naturrechtliche    Construction    des 
Staates  vorzugsweise  wichtigen  Gedanken  geord- 
net ist,  tritt  der  Gang  und  Zusammenhang  der 
geschichtlichen  Ideenentwickelung  deutlich  her- 
vor.   Vielfach  werden,  wie  der  Verfasser  indem 
Vorwort   mit  Recht   betont,  die   bisherigen  An* 
sichten   über   die  Urheberschaft  tief  einschnei- 
dender politischer  Doktrinen  durch  die  von  ihm 
gebrachten  Nachweise  berichtigt.    So  zeigt  sich 
namentlich    in   überraschender   Weise,   daß   die 
natnrrechtlichen   Lehren  ihre  Grundlegung  gro- 
ßenteils  schon  im  Mittelalter   erhalten   haben 
und  wird  dadurch  das  bisherige  höchst  unvoll- 
ständige Bild  der  mittelalterlichen  Staatstheorien 
wesentlich  ergänzt  und  berichtigt.     Mit  beson- 
derem Interesse  hat  Referent  auch  die  Ausfüh- 
rung der  G.'schen  Schrift  über  die  Anfänge  des 
Bandesstaatsbegriffs  (S.  245 — 50)  verfolgt.   Gern 
gesteht  er  zu,  daß  nach  dem  von  G.  geführten 
Nachweis  Besold  als  Vorläufer  Ludolph  Hugo's 
in  der  Aufstellung  dieses    Begriffs    angesehen 
werden   muß;   um  so   erfreulicher   aber   ist  es 
ihm,  daß  seine  Grundanschauung  über  die  Ab- 
leitung des   Bundesstaatsbegriffs   aus  dem  Ver- 
fassungsrechte  des  früheren  Deutschen  Reiches 
durch  G.'s  Darstellung  volle  Bestätigung  erhal- 
ten hat.    Ueberhaupt  ist   nach  G.'s  Ausführung 
der  Antheil    des  deutschen  Volkes  an  der  Aus- 
bildung der   modernen  Staatslehre  ein  weit  be- 
deutenderer  gewesen ,  als   bisher  angenommen 
wurde,  insbesondere  giebt  auch  Bluntschli's   be- 
kanntes Werk    über  die  Geschichte  der  Politik 
und  des  allgemeinen  Staatsrechts  in  die  deutsche 
Geistesarbeit  keinen  genügenden  Einblick.    Vor 


190  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.0. 

Allem  aber  möchte  Referent  den  eigenthtimlleheti 
Werth  des  G.'schen  Werkes  in  der  juristischen 
Behandlang  finden:  indem  G.  sein  Hauptaugen- 
merk auf  den  juristischen  Gehalt  der  naturrecht- 
lichen Staatstheorien  richtete,  bat  er  den  bisheri- 
gen wesentlich  philosophischen  resp.  politischen 
Darstellungen  des  Entwicklungsganges  der  mo- 
dernen Staatslehre  eine  juristisch  gefaßte  Dog- 
mengeschichte wenigstens  der  Grundbegriffe  zur 
Seite  gestellt  und  dadurch  erst  eine  Würdigung 
der  naturrechtlichen  Anschauungen  über  Recht 
und  Staat  gerade  in  ihrem  eigentümlichen  Kerne 
möglich  gemacht. 

Die  dogmengeschichtlichen  Studien  des  Ver- 
fassers sind  mit  so  vorzüglicher  Sorgfalt  und 
Gründlichkeit  geführt,  daß  trotz  der  ausnehmen- 
den Fülle  des  Stoffes  nur  äußerst  wenige  Ein- 
zelheiten zu  Bedenken  oder  Berichtigungen  An- 
laß geben.  Auf  einem  bloßen  Versehen  scheint 
es  zu  beruhen,  wenn  S.  266  neben  den  bekann- 
ten Sätzen  des  späteren  römischen  Kaiserrechts 
„Quod  principi  placuit  legis  habet  vigoremu  und 
^Princeps  legibus  solutus  est"  auch  die  von  der 
mittelalterlichen  Jurisprudenz  formulierten  Sätze 
„Omnia  iura  habet  princeps  in  pectore  suott 
(nach  c.  2  De  const,  in  6*°  1,  2)  und  ^Error 
principi s  facit  iusu  als  römische  Quellenaussprüebe 
bezeichnet  werden.  Irrig  ist  die  Behauptung 
(ß.  174)  die  von  Grotius  mit  so  viel  Nachdruck 
an  die  Spitze  gestellte  Unterscheidung  zwischen 
dem  subiectum  commune  und  dem  subiectum  pro- 
prium der  höchsten  Gewalt  (De  J.  B.  ac  P.  I 
o.  3  §  7)  komme  in  den  späteren  Einzelausfüh- 
rungen nirgends  zur  Verwendung:  Gr.  gründet 
vielmehr  (1.  c.  II,  c.  9  §.  8)  auf  den  Satz  „Im- 
perium quod  in  rege  ut  in  capite,  in  populo 
manet  ut  in  toto,  cuius  pars  est  caput"  die  Iden- 


Gierke,  Jobannes  Althusius.  101 

tiiät  des  Staates  und  folglich  die  Fortdauer  der 
Rechte  und  Verpflichtungen  desselben   bei  ver- 
änderter Staate  form,  sowie  den  Heimfall  der  ak- 
tiven Herrschaft  an    das  Volk  selbst  nach  dem 
Tode    des  Wahlkönigs    beziehungsweise    nach 
Aussterben  des  Herrschergeschlechts.     Ungenau 
ist  es  ferner,  wenn  (S.  175  N.  58)  Pufendorf  zu 
den  Schriftstellern   gerechnet   wird,   welche  die 
eben  erwähnte  Unterscheidung  des  Orotius1  „als 
6ine  nicht   nur  Überflüssige,   sondern  schädliche 
Doktrin,  die  dem  verderblichen  Begriff  der  ma- 
iestas  realis    bedenklich   nahe  stehe   und  wohl 
gar  als  dessen  Quelle  zu  betrachten  sei",   be- 
kämpften;  an   der   von  Gierke   citierten   Stelle 
der  Fufendorfschen  Schrift  de  Officio  Horn,  et 
Civis  ist   von  dieser  Lehre  des  Grotius'   nicht 
die  Rede,  und  im  Jus  Nat.  et  Gent.  (VII,  6  §  4) 
ist  Puf.  vielmehr   bemüht,   derselben    eine  ganz 
unschädliche  Deutung  zu  geben,  ähnlich  wie  die 
von  Gierke  in  der  folgenden  Note  citierten  Au- 
toren.   Zu   weit  geht  der  Verfasser,  wenn   er 
(8.  187  vgl.  auch  N.  204),  allerdings  in  Ueber- 
ehrttimmung  mit   der   herrschenden  Auffassung, 
in  der  Lehre  Montesquieu's  von   der  Gewalten- 
tbeihng   „eine  wahre   und   bewußte  Zerstücke- 
lung der  Souveränetät  unter  mehrere  von  einan- 
der   durchaus    unabhängige    Subjecte"    findet; 
denn  —  um   nur  diesen  einen  Punkt  hervorzu- 
heben —  nach  den  Ausführungen  Montesquieu's 
in  dem  berühmten  Kapitel  über  die  Verfassung 
Englands  (Esprit  des  loix  XI  c.  6)  soll  der  ge- 
setzgebende Körper  nicht  allein  die  Gesetze  ma- 
chen, sondern  auch  die  Ausführung  der  Gesetze 
controllieren,  und  wenngleich  der  Monarch  per- 
sönlich nicht  zur  Verantwortung   gezogen  wer- 
den dürfe,  sollen  doch  die  Käthe  desselben  die 


192  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  5.  6. 

Verantwortlichkeit   für  alle    seine   Handinngen 
tragen. 

In  der  von  G.  gewählten  dogmengeschichtlichen  Be- 
handlung8weise  ist  es  begründet,  daß  seine  eigenen 
Rechts-  und  Staatsanschauungen  nur  selten  hervortreten. 
Da  jedoch  die  ganze  Arbeit,  wie  das  Vorwort  ausdrück- 
lich erwähnt,  aus  G.'s  vieljährigen  Studien  über  die  Ge- 
schichte der  Corporationslehre  und  insbesondere  des  Be- 
griffs der  juristischen  Person  herausgewachsen  ist,  so  er- 
klärt sich  leicht,  daß  gerade  die  eigenthümliche  Ansicht 
des  Verfassers  über  das  Wesen  der  juristischen  Person 
für  seine  Charakteristik  der  naturrechtlichen  Theorien 
vielfach  maßgebend  geworden  ist.  Wer  G.'s  Auffassung 
von  der  Realität  der  juristischen  Person  und  von  deren 
Selbstconstituierung  nicht  zu  theilen  vermag,  wird  auch 
den  eingestreuten  kritischen  Bemerkungen  insbesondere 
über  die  Vertragstheorie  und  über  den  individualistisch- 
mechanischen Charakter  der  auf  dieselbe  gegründeten 
Gesellschafts-  und  Staatslehre  (s.  namentlich  S.  105  ff. 
und  S.  262—63)  wenigstens  nicht  unbedingt  beistim- 
men können;  doch  wäre  jede  Polemik  gegen  diese  Ur- 
theile  voreilig,  so  lange  wir  nicht  in  der  hoffentlich 
bald  zu  erwartenden  Fortsetzung  des  großen  G.'schen 
Werkes  über  das  deutsche  Genossenschaftsrecht  die 
ausführliche  Begründung  und  Entwickelung  seiner  Cor- 
porationslehre vor  Augen  haben.  Je  weniger  aber  G.  in 
den  Grundanschauungen  über  die  Entstehung  und  über 
die  juristische  Construction  des  Staates  mit  der  natur- 
rechtlichen Lehre  übereinstimmt,  desto  dankenswerther 
ist  die  lebhafte  Anerkennung,  welche  er  den  durch  das 
jetzt  so  viel  geschmähte  Naturrecht  gewonnenen  „unver- 
lierbaren Errungenschaften"  des  Rechts-  und  Freiheits- 
gedankens zollt.  Insbesondere  wendet  er  sich  am  Schlüsse 
des  Abschnitts  über  den  Rechtsstaat  TS.  317 — 20)  mit 
beredten  und  treffenden  Worten  gegen  aie  augenblicklich 
in  Deutschland  mehr  und  mehr  Boden  gewinnende  Rich- 
tung, welche  das  positive  Recht,  unter  Ignorierung  sei- 
nes unentbehrlichen  naturrechtlichen  Complements,  ledig- 
lich auf  den  Willen  und  die  Zwangsmacht  des  Staates 
gründet. 

Breslau.  S.  Brie. 

^^ma^M^  —  -|  irirniiiiir  -■--  -  .,  | L 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  R  Behniach,  Director  d.  Gott.  gel.  Ans. 

Verlag  der  DietoHcK  sehen  Verlags-  Buchhandlung. 

Druck  dir  Dieierich' sehen  Univ.-  Buchdrucker**  ( W.  /V.  Kosainet). 


198 

Oöttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König!.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  7.  16.  Februar  1881. 


Inhalt:  A.  Bitschi,  Geschichte  des  Pietismus.  Bd.  I.  Yon  W. 
Herrmann.  —  Itinera  nierosolymitanaet  description«  terrae 
sanetae  bellis  saeris  anterior»  ct.,  ed.  T.  Tobler  et  A.  Molinier.  Von 
F.  Togd.  —  E.  y.  Wietersheim,  Geschichte  der  Völkerwanderung. 
2.  Aufl.,  von  F.  Dann.    Von  0.  Kaufmann* 

3  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ana.  verboten  s 

Geschichte  des  Pietismus  von  A.  R  i  t  s  c  h  1. 
Erster  Band :  Der  Pietismus  in  der  reformirten  Kirche. 
Bonn,  A.  Marcus.    1880.    VIII,  600.    8°. 

Mit  diesem  Buche  ist  der  evangelischen 
Kirche  und  der  Geschichtsforschung  ein  gleich 
großer  Dienst  erwiesen.  Der  ersteren,  weil  hier 
zum  ersten  Male  ein  Reformversuch  in  ihrer 
Mitte,  der  sich  bis  in  die  Gegenwart  hinein  mit 
zweifellosem  Erfolge  fortsetzt,  scharf  und  klar 
in  seiner  eigentümlichen  Tendenz  erfaßt  und 
mit  den  einfachen  Grundgedanken  der  Reforma- 
tion des  16.  Jahrhunderts  verglichen  ist.  Der 
letzteren,  weil  eine  so  bedeutende  geistige  Be- 
wegung wie  der  Pietismus  vor  dem  eindringen- 
den Blick  des  Verfassers  das  Aussehen  einer 
gestaltlosen  Nebelmasse  verliert  und  sich  in 
deutliche  Körper  auflöst,  deren  Herkunft  man 
ebenso  wie  ihren  Werth  für  die  geschichtliche 
Umgebung  bestimmen  kann. 

Allerdings  ist  der  Name  Pietismus  ursprüng- 
lich auf   eine  Erscheinung   in  der  lutherischen 

13 


194  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

Kirche  Deutschlands  angewendet  worden.  Da 
sich  aber  vor  dem  Auftreten  der  pietistischen 
Conventikel  in  dem  lutherischen  Deutschland 
Vereinigungen  ähnlicher  Art  in  der  reformierten 
Kirche  der  Niederlande  zeigen,  so  zieht  der 
Verf.  'die  Möglichkeit  in  Betracht,  daß  die  spä- 
tere Erscheinung  von  der  früheren  abhängt.  An 
dieser  Ausdehnung  des  Namens  Pietismus  auf 
die  verwandten  Vorgänge  innerhalb  der  refor- 
mierten Kirche  hat  der  Verf.  einen  Vorgänger 
an  Göbel,  dem  er  noch  einen  anderen  außer- 
ordentlich fruchtbaren  Gesichtspunkt  verdankt 
Göbel  hatte  bei  seiner  sorgfältigen  Untersu- 
chung den  Eindruck  gewonnen,  daß  im  Pietis- 
mus die  im  16.  Jahrhundert  unterdrückten  Re- 
formbestrebungen der  Wiedertäufer  wieder  auf- 
leben. Diesem  Gedanken  ist  nun  Bitschi 
nachgegangen,  aber  mit  ganz  anderer  Intention 
als  sein  Vorgänger.  Göbel  hatte  sich  durch 
die  bemerkte  Analogie  zu  dem  Resultat  leiten 
lassen,  daß  an  dem  Pietismus  ebenso  wie  an 
der  Wiedertäuferei  die  practische  Energie  zu 
loben,  der  Mangel  an  theoretischer  Umsicht  zu 
tadeln  sei.  Es  ist  das  nichts  Anderes  als  das 
instinctive  Urtheil  der  evangelischen  Kirche 
gegenüber  dem  sich  ihr  aufdrängenden  Reform- 
versuch,  aber  keine  geschichtliche  Erkenntniß 
dessen,  was  die  beiden  Erscheinungen  für  sich 
gewesen  sind.  Ritschi  dagegen  verwendet 
denselben  Gesichtspunkt  dazu,  um  seinen  Gegen- 
stand der  bloßen  practisch-kirchlichen  Beurthei- 
lung  zu  entziehen.  In  einer  Einleitung,  welcbe 
niemand  ohne  den  Eindruck  einer  großartigen 
historischen  Conception  lesen  wird,  zeichnet  er 
den  geschichtlichen  Zusammenhang,  aus  welchem 
solche  Erscheinungen,  wie  die  genannten,  nach 
ihrem  wirklichen  Gehalt  zu  erkennen  sind. 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  195 

Die  Wiedertäuferei  und  der  Pietismus  sind 
zunächst  darin  verwandt,  daft  sie  beide  das 
Werk  der  Reformatoren  vollenden  wollen.  Und 
wenn  auch  das  Urtheil  der  letzteren  über  die 
sogenannten  Ultra's  der  Reformation  ein  ganz 
anderes  gewesen  ist,  so  hat  doch  die  leiden« 
schaftliche  Energie,  mit  welcher  jener  Anspruch 
erhoben  wurde,  den  Erfolg  gehabt,  daß  auch 
die  evangelische  Geschichtsschreibung  bisher 
darauf  eingegangen  ist,  in  beiden  Bewegungen 
eine  quantitative  Steigerung  der  von  Luther 
und  Zwingli  angefangenen  Wiederherstellung 
der  Kirche  anzuerkennen  und  nur  den  Ueber- 
eifer  zu  tadeln.  R  i  t  s  c  h  1'  s  ganzes  Buch  lie- 
fert dagegen  den  Beweis,  daß  es  sich  in  beiden 
Fällen  nicht  um  einen  solchen  blos  quantitativen 
Unterschied  handelt,  sondern  um  eine  ganz  an- 
dere Art  der  Reform.  Will  man  diese  in  ihrer 
Eigentümlichkeit  erkennen,  so  muß  man  auf- 
hören, sie  allein  mit  dem  Unternehmen  unserer 
Reformatoren  zu  vergleichen.  Reformationen 
der  Kirche  sind  nicht  blos  gegen,  sondern  auch 
durch  die  legitimen  Organe  derselben  ins  Werk 
gesetzt  worden.  In  der  morgenländischen  Kirche 
ißt  freilich  von  solchen  Lebenszeichen  nichts  zu 
verspüren,  da  hier  die  einseitige  Verehrung  des 
Liturgischen  zu  einer  Auseinandersetzung  des 
Christenthums  mit  den  Weltmächten  und  zu 
geistiger  Arbeit  überhaupt  keinen  Anlaß  giebt 
Anders  aber  ist  es  in  der  abendländischen  Kirche 
des  Mittelalters.  Die  gregorianische  Reform  und 
die  Stiftung  des  Franciscanerordens  treten  hier 
als  die  epochemachenden  Ereignisse  hervor,  in 
welchen  die  Verwirklichung  der  in  der  Kirche 
angelegten  Ziels  eine  neue  Wendung  nimmt. 
Beide  Male  liegt  die  treibende  Kraft  in  dem 
katholischen   Grundsatz,   daß   das  Christentum 

13* 


196  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

seiner  Idee  nach  Mönchthum  sei.  Indem  der 
große  Pabst  den  Weltgeistlichen  die  Formen 
des  mönchischen  Lebens  aufzwang,  gewann  der 
unvergessene  Gedanke  Augustins,  daß  die  Kirche 
der  Gottesstaat  sei,  ein  neues  Leben.  Die 
Kirche  konnte  sich  dem  Staate  nicht  unterord- 
nen, wenn  ihre  Vertreter  die  in  ihm  zusammen- 
gefaßten Beziehungen  um  Gottes  willen  von  sich 
ablösten.  Aber  das  in  dem  Staate  lebende  Volk 
nahm  dabei  nur  als  die  von  dem  Klerus  gelei- 
tete Masse  an  dem  vollkommenen  Chris  tenth  um 
Theil.  Die  Personen  fielen  in  den  Bereich  der 
Welt,  des  Materials  für  die  Herrschaft  der  Kirche. 
Gegen  diesen  Mangel  richtet  sich  die  Reform 
des  Franciscanerordens.  Sein  Stifter  hat  es 
nicht  blos  auf  einen  neuen  Mönchsorden  abge- 
sehen, sondern  auf  die  Ueberwindung  der  Welt 
in  dem  Personleben  des  Volkes.  Durch  die 
Stellung  der  Aufgabe,  die  Laien  möglichst  zu 
activer  Theilnahme  an  der  mönchischen  Fröm- 
migkeit heranzuziehen,  und  durch  die  Größe  der 
Mittel,  welche  er  für  diesen  Zweck  in  Bewegung 
setzte,  wurde  er  ein  Reformator  der  Kirche. 
Sein  Werk  machte  den  Zeitgenossen  den  Ein- 
druck, daß  es  die  Sehnsucht  der  Kirche  nach 
den  Idealzuständen  ihres  Anfangs  in  Jerusalem 
erfülle.  Wenn  man  also  den  reformatorischen 
Charakter  dieser  beiden  epochemachenden  Er- 
scheinungen anerkennen  muß,  so  gelangt  man 
zu  einem  weiteren  Begriffe  von  Reformation,  als 
derjenige  ist,  von  dem  die  protestantische  Ge- 
schichtsbetrachtung sich  leiten  läßt.  Reforma- 
tion ist  die  Herstellung  des  richtigen  Verhält- 
nisses zwischen  Christenthum  und  Welt,  unter 
der  Voraussetzung,  daß  dasselbe  in  eine  Ver- 
mischung des  Ghri8tenthums  mit  der  Welt  über- 
gegangen ist.     Aus   diesem  Begriff  von   Refor- 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.   I.  197 

mation,   welcher  sich   an  den  Vulgatatext  von 
Rom.  12,  2  anschließt,  sind  nicht  bfos  jene  bei- 
den mittelaltrigen  Versuche  der  Kirche  zu  ihrer 
Erneuerung  zu  verstehen,  sondern  ebenso  die 
Bestrebungen    der    Wiedertäufer    und    unserer 
Reformatoren.      Die   Reform    der  Wiedertäufer 
ist  durchaus   katholischer  Art,  namentlich  sind 
es,  wie  der  Verf.  nachweist,  in  franoiscanischen 
Kreisen  geprägte  Schlagworte,  welche  hier  Ver- 
wendung finden.    Sie  wollen  sich  streng  an  den 
Buchstaben  der  h.  Schrift  binden,  aber  verstehen 
sie  dabei  vorwiegend  als  Gesetz   zur  äußeren 
Disciplinierung   des  Lebens;    sie   betonen    die 
Heilsgewißheit,  aber  führen  dieselbe  auf  indivi- 
duelle Inspiration  zurück.    In   beiden  Beziehun- 
gen hat  man  nicht  eine  Steigerung  evangelischer 
Grandsätze,  sondern  ein  Fortwirken  katholischer 
Motive  zu   erkennen.     Aus   vielen   und  höchst 
auffallenden  Merkmalen    der  Uebereinstimmung 
ist  zu  schließen,   daß  die  Wiedertäufer  solche 
Personen  sind,  welche  von  dem  francisoanischen 
Ideal  des  Christenthums   erfüllt   waren,   als   sie 
in  Luther  und  Zwingli  die  Organe  der  entspre- 
chenden Eirchenreform  zu  erkennen   glaubten. 
Als  sie  sich  dann  in  der  Erwartung  getäuscht 
fanden,  daß  jene  Männer  es  auf  die  Steigerung 
der  Askese  für  das  christliche  Volk  abgesehen 
hätten,   haben  sie  selbst  die  Reformation   des 
heiligen  Franz   erneuert.     Auch  für  sie  ist  es 
nicht  die  Aufgabe  des  Christenthums,   das  Le- 
ben in  der  Welt  übernatürlich  zu  ordnen,  son- 
dern den  Menschen  möglichst  aus  der  regelmä- 
ßigen Ordnung   des  sittlichen  Lebens  herauszu- 
heben.    Die  Auseinandersetzung   des  Christen- 
thums mit  der  Welt  wird  auf  die  Negation  der 
letztern  hinausgeführt.    Dieser  Reihe  mittelaltri- 
ger  Reformbestrebungen  tritt  nun  das  Werk  un- 


198  Gott.  gel.  Aiiz.  1881.  Stück  7. 

serer  Reformatoren  gegenüber,  ihnen  analog  als 
Versuch,  das  Christenthum  von  Verweltlichung 
zn  befreien,  aber  specifisch  verschieden  durch 
Art  und  Inhalt  der  erstrebten  Freiheit.  Die  Er- 
kenntniß,  daß  die  kirchliche  Rechtsordnung  nicht 
der  Kirche  selbst  gleichzusetzen,  sondern  als  ab- 
geleitetes Mittel  für  die  religiöse  Gemeinschaft 
zu  taxieren  ist,  und  die  damit  verbundene  Aner- 
kennung des  Staates  in  dem  selbständigen  Werthe 
einer  Gottesordnung  entspricht  durchaus  dem 
Nolite  conformari  huic  saeculo.  Die  Kirche 
sollte  dadurch  von  der  Tendenz  auf  äußerliche 
Weltbeherrschung,  welche  in  der  gesteigerten 
Weltverachtung  der  früheren  Reformationen  im- 
mer wieder  ihre  Nahrung  gefunden  hatte,  be- 
freit und  zum  Verständniß  ihres  Wesens  und 
ihres  Berufes  zurückgeführt  werden.  Aber  die- 
ses Streben  wäre  sinnlos  gewesen  und  erfolglos 
geblieben,  wenn  die  Reformatoren  nicht  ein 
neues  Lebensideal  an  die  Stelle  des  alten  ge- 
setzt hätten,  welches  den  Ansatz  zur  Verweltli- 
chung der  Kirche  in  sich  barg  und  als  tief  ein- 
gewurzeltes Motiv  das  Denken  und  Fühlen  be- 
herrschte. Das  bisherige  Ideal  einer  mönchi- 
schen Vollkommenheit  überflog  die  natürlichen 
Bedingungen  unseres  Daseins  und  belastete 
grade  dadurch  die  christliche  Frömmigkeit  mit 
einer  leidenschaftlichen  Richtung  auf  die  Welt. 
Der  evangelisch  erneuerte  Begriff  des  vollkom- 
menen Chrfetenlebens  umfaßt  die  Momente  des 
Vertrauens  auf  die  göttliche  Vorsehung,  des  da- 
von getragenen  Gebetes  und  der  dadurch  er- 
möglichten Treue  im  Beruf.  Dieser  Begriff  von 
perfectio  Christiana  ist  in  der  Augustana  und 
ihrer  Apologie  dem  mönchischen  Lebenstdeal 
entgegengesetzt.  Und  wenn  derselbe  in  den 
Privatschriften  der  Reformatoren  nicht  eben  oft 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.   I.  199 

ausdrücklich  formuliert  wird,  so  bezeichnet  er 
doch  die  practische  Spitze,  welche  alles  Uebrige, 
was  sonst  in  Lehre  und  Lebensordnung  refor- 
miert wurde,  zusammenfaßt  und  zu  seinem  End- 
zweck bringt.  Auch  die  Rechtfertigung  aus  dem 
Glauben  ist  als  das  wichtigste  Organ  des  so 
bestimmten  Christenlebens  leicht  zu  verstehen, 
indem  sie  dem  Sünder  jenes  Vertrauen  auf  die 
göttliche  Vorsehung,  dessen  er  an  sich  nicht 
fähig  ist,  ermöglicht.  Dieses  Lebensideal  der 
evangelischen  Kirche  läßt  sich  auf  Mönche  nicht 
anwenden,  es  paßt  nur  auf  das  Berufsleben  von 
Menschen,  welche  in  der  Welt  die  von  Gott  be- 
herrschte Stätte  ihrer  Arbeit  anerkennen.  Durch 
dieses  Glaubensurtheil  und  durch  die  Aufgabe 
des  sittlichen  Berufes  wird  der  Christ  allerdings 
an  die  Welt  gebunden,  von  welcher  das  katho- 
lische Lebensideal  ihn  loszureißen  strebt  Aber 
in  Wahrheit  wird  auf  jene  Weise  die  Abhängig- 
keit von  der  Welt  überwunden,  welche  jede 
ascetische  Lebensanschauung  begleitet.  Die 
Welt  wird  nun  als  das  Object  der  geistigen 
Herrschaft  gewürdigt,  welche  der  im  Glauben 
gegründete  sittliche  Charakter  ausübt.  Der 
Christ  wird  darauf  angewiesen,  sich  in  seinem 
wirklichen  Dasein  in  der  Welt  zu  erfassen  und 
in  diesem  selbst  die  Gottesnähe  zu  finden,  zu 
welcher  die  katholische  Praxis  auf  dem  Wege 
vergeblicher  Weltverneinung  emporsteigen  will. 
Auf  diese  Weise  hat  der  Verf.  die  beiden  Haupt- 
gruppen der  abendländischen  Christenheit  in 
ihren  Lebenszielen  scharf  unterschieden.  Er 
gewinnt  aber  noch  einen  anderen  Gesichtspunkt 
zu  diesem  Zweck,  indem  er  sich  die  Frage  vor- 
legt, wie  sich  speciell  der  religiöse  Verkehr  des 
Christen  mit  Gott  im  Mittelalter  gestaltet  habe. 
Die  vorbildliche  und  das  ganze  Mittelalter  hin- 


200  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

durch  maßgebende  Darstellung  dieser  Devotion 
findet  der  Verf.  in  den  86  Predigten  des  heil. 
Bernhard  über  das  Hohelied.  An  diesem  klas- 
sischen Master  wird  es  deutlich,  daß  die  Gnade 
den  obersten  Gesichtspunkt  nicht  Mos  für  die 
evangelische,  sondern  ebenso  für  die  katholische 
Frömmigkeit  bildet,  und  daß  es  ferner  durchaus 
verkehrt  ist,  wenn  nach  der  herkömmlichen  Auf- 
fassung der  protestantischen  Polemik  derKatho- 
licismus  den  Erlöser  vorwiegend  als  den  stren- 
gen Richter  vorstellen  soll,  dem  man  sich  le- 
diglich auf  dem  Umwege  der  Heiligenverebrung 
nähern  dürfe.  Bernhard  giebt  der  allegorischen 
Erklärung  des  Hohenliedes  die  höchst  erfolg- 
reiche Wendung,  daß  er  unter  der  Braut  Christi 
nicht  sowohl  die  Kirche  als  die  einzelne  Seele 
versteht.  Die  Contemplation,  welche  er  den 
Mönchen  als  die  vollkommene  religiöse  Praxis 
empfiehlt,  kommt  auf  den  bräutlichen  Verkehr 
mit  dem  Herrn  Jesus  hinaus.  Diese  nicht  ohne 
ein  Bewußtsein  ihres  sinnlichen  Charakters  auf- 
tretende Devotion  ist  im  Grunde  nichts  Anderes 
als  der  Cultus  des  idealen  Menschen.  Die  sen- 
timentale Betrachtung  des  menschlich  Rühren- 
den an  Christus  läßt  den  religiösen  Gedanken 
seiner  Gottheit  nicht  aufkommen.  Der  letztere 
entspricht  der  Erfahrung,  daß  man  in  dem  Be- 
wußtsein der  Liebe  Christi  die  Welt  überwin- 
det. Die  einsamen  Phantasien  jenes  bräutlichen 
Verkehrs  sind  aber  das  gerade  Gegentheil  die- 
ser Erfahrung.  Der  Gegensatz  der  katholischen 
und  evangelischen  Frömmigkeit  läßt  sich  also 
dahin  aussprechen,  daß  jene  in  der  leidenschaft- 
lichen Sympathie  mit  dem  Erlöser  und  in  den 
unsicheren  Genüssen  der  Phantasie  und  erregter 
Gefühle  gipfelt,  während  die  letztere  nicht  in 
diesen  Erscheinungen  hängen  bleibt,  sondern  in 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.   I.  201 

der  geistigen  Freiheit  ihren  Abschluß  findet, 
welche  der  im  Kampf  des  Lebens  stehende 
Mensch  ans  dem  Vertrauen  auf  den  Erlöser 
schöpft.  Dieser  Gegensatz  steht  mit  der  Lebens- 
auffassung beider  Kirchen  in  engstem  Zusam- 
menhange. Ist  das  Idea)  des  christlichen  Le- 
bens ein  mönchisches,  so  muß  die  von  Bernhard 
empfohlene  Praxis  der  Frömmigkeit  Platz  grei- 
fen ;  die  Durchführung  jenes  Ideals  vertilgt  not- 
wendig die  Anlässe  für  die  Bethätigung  des 
evangelischen  Glaubens.  Sobald  dagegen  die 
mönchische  Lebensauffassung  verdrängt  wird, 
so  findet  sich  der  Mensch  vor  practische  Pro- 
bleme gestellt,  durch  deren  Ernst  die  einsamen 
Genüsse  der  sentimentalen  Frömmigkeit  entwer- 
tet werden.  Diese  Frömmigkeit  mit  ihrer  my- 
stischen Spitze  kann  nur  Mönchen  zugemuthet 
werden,  welche  gar  keine  Gelegenheit  haben, 
ihren  Glauben  in  den  Versuchungen  durch  die 
Sorgen  des  menschlichen  Lebens  zu  erproben. 
Die  evangelischen  Christen  dagegen,  welche 
diese  Probe  machen  sollen,  weil  sie  der  Welt, 
in  welche  sie  Gott  gestellt  hat,  nicht  den  Rü- 
cken kehren  dürfen,  können  sich  von  ihrer  Ver- 
söhnung mit  Gott  nur  dadurch  überführen,  daft 
sie  die  Hemmungen  des  Lebens  durch  das  Ver- 
trauen auf  Gott  und  durch  das  von  demselben 
erfüllte  Gebet  überwinden. 

Dieser  gemeinsame  religiöse  Charakter  der 
Reformation  wird  nun  aber  etwas  modificiert 
durch  die  verschiedene  Beurtheilung ,  welche 
der  kirchlichen  Disciplin  in  dem  deutschen  Kir- 
chengebiet und  in  dem  außerdeutschen  Calvinis- 
mus zu  Theil  wird.  Die  beiden  Zweige  der 
Reformation  stimmen  zwar  darin  überein,  daft 
die  Disciplin  nicht  blos  aus  der  allgemeinen 
Rücksicht  der  gesellschaftlichen  Ordnung,  son- 


202  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  7. 

dem  auch  ans  der  Rücksicht  auf  die  Ehre  Christi 
oder  auf  den  besonderen  Charakter  der  christ- 
lichen Gemeinschaft  nothwendig  sei.  Hieraus 
folgert  aber  Calvin,  daß  die  Kirche  bestimmte 
rechtliche  Organe  zur  Ausscheidung  der  offen- 
baren Sünder  besitzen  müsse,  zu  denen  sich 
die  Staatsgewalt  nicht  als  höhere  Instanz,  son- 
dern nur  als  bereitwillige  Dienerin  verhalten 
dürfe.  Er  begründet  die  kirchliche  Disci  plinar- 
gewalt  unmittelbar  aus  der  heil.  Schrift  und 
hält  sie  für  ein  unverlierbares  Attribut  der 
Kirche.  Dagegen  folgt  die  deutsche  Reforma- 
tion dem  Gedanken,  daß  die  Disciplin  nur  eine 
bedingte  Notwendigkeit  für  die  Kirche  hat,  so- 
fern nämlich  der  Staat  seine  sittliche  Bestim- 
mung, die  Ordnung  des  Lebens  im  Sinne  des 
Christenthums  aufzurichten,  vergißt.  Als  den 
normalen  Zustand  hat  man  dabei  vor  Augen, 
daß  die  Kirche  als  die  Trägerin  der  Gnaden- 
verkündigung und  der  Staat  als  die  in  Gottes 
Willen  begründete  Rechtsordnung  zusammen- 
wirken zu  einer  göttlichen  Erziehung  des  Vol- 
kes, welche  dann  auch  reinigend  auf  die  reli- 
giöse Gemeinschaft  zurückwirkt.  Die  lutheri- 
sche Stellung  zu  diesen  Fragen  ist  also  durch 
den  reinen  religiösen  Begriff  von  der  Kirche 
und  durch  den  evangelischen  Begriff  vom  Staate 
bestimmt,  in  welchen  der  volle  Gegensatz  zum 
Katholicismus  erreicht  wird.  Das  calvinische 
Ideal  einer  durch  äußerliche  Gesetzlichkeit  dis- 
ciplinierten  Kirchengemeinschaft  gehört  in  die- 
selbe Reihe  wie  die  franciscanische  Reform.  Die 
Verwandtschaft  mit  den  Wiedertäufern,  welche 
sich  darin  verräth,  ist  noch  deutlicher  in  den 
besonderen  Umständen  ausgedrückt,  daß  Cal- 
vins Verwerthung  des  N.  T.  ebenfalls  aus  der 
Meinung  hervorgeht,  die  erste  und  elementarste 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.   I.  2G8 

Gestalt  der  christlichen  Gemeinde  sei  die  für 
alle  Zeiten  maßgebende,  und  daß  er  sieh  gegen 
gesellige  Erholung  und  öffentliches  Spiel  ebenso 
ablehnend  verhält,  wie  jene.  Daraus  erhellt, 
daß  der  Calvinismus  zur  Aufnahme  oder  Neu- 
erzeugung solcher  Lebensformen,  welche  der 
franciscanischen  Reform  entsprechen,  besonders 
disponiert  sein  muß.  Calvin  selbst  hat  sich  frei- 
lich dagegen  verwahrt,  daß  die  Richtung  seiner 
Kirche  auf  sittliche  Vollkommenheit  zu  separa- 
tistischen Folgerungen  führen  müsse.  Er  hat 
dabei  nicht  nur  den  Merkmalen  der  Kirche,  in 
welchen  ihr  rein  religiöser  Begriff  bezeichnet 
ist,  den  höheren  Werth  zugestanden,  sondern  er 
bat  auch  anerkannt,  daß  die  Forderung  der 
sittlichen  Reinheit  der  Gemeinde  eine  Versu- 
chung für  die  Guten  zu  Ungeduld  und  hoch- 
mütiger Strenge  werden  könne.  Aber  es  ist 
bezeichnend,  daß  er  gerade  denen,  die  solchen 
Versuchungen  unterliegen,  das  Prädicat  der  Gu- 
ten zugesteht.  Demgemäß  haben  in  der  Folge 
die  strengen  und  ungeduldigen  Vertreter  der 
sittlichen  Vollkommenheit  der  Gemeinde  sich 
für  die  Guten  und  die  Besten  in  der  reformier- 
ten Kirche  geachtet.  Und  sie  haben  darum 
sich  über  alle  die  Gründe  hinweggesetzt,  mit 
welchen  Calvin  ihnen  im  Voraus  entgegenge- 
treten ist.  Die  lutherische  Kirche  hat  trotz  des 
entgegengesetzten  Scheines  der  Unfertigkeit  eine 
festere  Abgrenzung  gegen  das  mittelaltrige 
Christentum  gewonnen  als  der  Calvinismus. 
Allerdings  hat  auch  die  lutherische  Kirche  ge- 
mäß der  Regel,  daß  neue  geistige  Antriebe  von 
den  Massen  nicht  ohne  Rückbildungen  des  Al- 
ten angeeignet  zu  werden  pflegen,  Rückstände 
specifisch  katholischen  Wesens  mit  sieb  genom- 
men.   Aber  von  viel  größerem  Gewichte  ist  es, 


204  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  7. 

daß  Calvin  von  vornherein  mit  Luthers  Grand- 
Sätzen  jene  Anfgabe  der  weltflüchtig  heiligen 
Gemeinde,  so  weit  es  im  Staate  möglich  war, 
verbunden  hat.  Er  hat  damit  den  Reformtrieb 
der  am  Ausgang  des  Mittelalters  in  den  Volks- 
massen lebte,  seiner  Kirchenbildung  einverleibt 
und  derselben  auf  diese  Weise  eine  Wider- 
standskraft verliehen,  welche  dem  Lutberthum 
nicht  eigen  war  Wenn  man  nun  Grund  hat, 
gerade  deswegen  die  Genialität  Calvins  zu  be- 
wundern, so  darf  man  sich  doch  nicht  verber- 
gen, daß  darin  eine  Rückbildung  des  mittelal- 
trigen  Reformideals  in  die  Reformation  Luthers 
vorliegt.  Im  Calvinismus  sind  fremdartige  Ele- 
mente in  größerem  Umfange  mit  einander  ver- 
banden als  in  dem  vorgeblich  halbkatholisch  ge- 
bliebenen Lutherthum. 

Wenn  nun  der  Pietismus  das  in  beiden  Zwei- 
gen des  Protestantismus  fortwirkende  Reform - 
bedürfniß  befriedigen  will,  so  sind  es  doch 
nicht  jene  unüberwundenen  Reste  katholischen 
Wesens,  gegen  welche  er  sich  richtet,  sondern 
die  Dürrheit  und  Geistlosigkeit  des  Buchstaben- 
glaubens. Diesen  Fehler  an  den  beiden  prote- 
stantischen Kirchen  leitet  der  Verf.  davon  ab, 
daß  es  im  Reformationszeitalter  selbst  nicht  ge- 
lungen war,  sich  der  neuen  Totalanschauung 
vom  Christentum  theologisch  zu  bemächtigen. 
Das  reformatorische  Christentum  wird  in  einer 
Reihe  von  Lehrartikeln  überliefert,  welche 
Fremdartiges  mit  sich  führen  und  vor  Allem 
das  innere  Band  des  Zusammengehörigen  nicht 
erkennen  lassen.  Schon  im  vierten  Artikel  der 
Augastana  wird  der  practische  Zweck  der  Lehre 
von  der  Rechtfertigung  aus  dem  Glauben  nicht 
mitgenannt;  man  muß  sich  über  ihn  aus  ande- 
ren  Aussagen   des    Bekenntnisses   unterrichten. 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.   I.  205 

Und  doch  ist  erst  in  diesem  practiscben  Zweck 
die  entscheidende  Erkenntniß  der  Reformation 
ausgesprochen,  daß  die  geistige  Verfassung,  in 
welche  der  christliche  Glaube  den  Menschen 
versetzt,  die  Veränderung  seiner  Weltstellung 
bedeutet,  welche  ihn  befähigt,  in  seinem  welt- 
lichen Dasein  Gott  zu  finden  und  für  Gott  zu 
leben.  Von  dieser  Erkenntniß  aus  ist  es  mög- 
lich, die  christlichen  Lehren  zweckmäßig  zu 
ordnen  und  dieselben  nicht  blos  als  Probleme 
des  Verstandes,  sondern  als  Heilslehren  zu  wür- 
digen. Du^ch  die  Umstände  in  eine  Polemik 
hineingerissen,  welche  sich  naturgemäß  an  Ein- 
zelnes heftete,  sind  die  Reformatoren  zur  Durch- 
führung dieser  systematischen  Aufgabe  nicht 
gekommen.  Die  Epigonen  aber,  wie  Jo.  Ger- 
hardt, waren  so  wenig  im  Stande,  aus  den 
Bruchstücken,  welche  sie  conserviert,  sich  auf 
das  Ganze  zu  besinnen,  daß  sie  es  für  zweck- 
mäßig hielten,  die  Lücken  durch  Entlehnungen 
aus  den  Scholastikern  zu  füllen.  Das  Verstand* 
niß  für  jenes  practische  Ziel,  welches  die  re- 
formatorischen Lehrer  voraussetzten,  bat  sieh  in 
der  Gemeinde  fortgepflanzt,  wie  die  ascetische 
Literatur  beweist.  In  der  eigentlichen  Theolo- 
gie des  17.  Jahrhunderts  ist  wenig  davon  zu 
spüren.  Wenn  daher  die  Theologen  dieser  Zeit 
das  Verdienst  haben,  wenigstens  die  Formeln 
an  wichtigen  Punkten  treu  bewahrt  zu  haben, 
so  konnte  doch  das  zähe  Festhalten  von  Sätzen, 
deren  practische  Tendenz  ihnen  verborgen  blieb, 
wohl  die  Energie  ihres  Willens  herausfordern 
and  den  Verstand  in  logischer  Arbeit  üben ;  das 
religiöse  Gefühl  dagegen  erfuhr  aus  der  treuen 
Erfüllung  dieser  Aufgabe  wenig  Anregung.  Und 
wenn  nun  in  der  Folgezeit  lebendige  Geister 
darauf  drangen ,  einen  practisohen  Ertrag  der 
religiösen  Erkenntniß  zu  erleben ,  so  zeigte  sich, 


206  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  1 

* 

daß  die  Orthodoxie  in  beiden  Kirchen  unver- 
mögend war,  ihnen  die  Wege  zu  weisen.  Sie 
mußte  den  Vorwurf  der  Unfruchtbarkeit  auf 
sich  nehmen.  Die  Männer  aber,  die  diesen  Vor- 
wurf e^höfren,  wurden  Pietisten. 

Das  Reformbedtirfniß  wird  also  in  beiden 
Zweigen  der  evangelischen  Kirche  durch  die 
Unzweckmäßigkeit  der  herrschenden  Lehre  ge- 
nährt Auf  dem  Gebiete  des  Calvinismus  aber 
wird  jenes  Bedtirfniß  weit  eher  practisch  wirk- 
sam, weil  hier  das  ethische  Merkmal  an  dem 
Kirchenbegriff  und  das  Forschen  nach  den  Kenn- 
zeichen des  Gnadenstandes  eine  Unruhe  erzeu- 
gen, welche  die  Folgen  jenes  Mangels  schneller 
stur  Reife  bringt.  Die  daraus  entspringende  Bct 
wegung  verfolgt  der  Verf.  nun  nicht  in  der  gan- 
zen refcrmirten  Kirche.  Er  beschränkt  sich  auf 
die  niederländische  und  deutsche,  weil  die  ana- 
logen Erscheinungen  in  England  unter  Bedin- 
gungen stehen,  welche  auf  dem  Festlande  feh- 
len. Schon  der  einflußreichste  Name  der  nieder- 
ländisch-reformierten  Kirche  des  17.  Jahrhun- 
derts, Gisb.ert  Voet,  zeigt  sich  nicht  nur  als 
strengen  Vertreter  calvinischer  Orthodoxie,  son- 
dern verbindet  damit  einen  Eifer  für  kirchliche 
Zucht,  der  neben  den  Auswüchsen  des  Volks- 
lebens auch  naturgemäße  Ordnungen  desselben 
bekämpft.  Er  selbst  läßt  sich  dadurch  noch 
nicht  zur  Separation  verleiten.  Die  bereits  be- 
stehenden Absonderungen  innerhalb  der  nieder- 
ländischen Kirche  sucht  er  vielmehr  als  Organe 
des  gemeinsamen  kirchlichen  Lebens  zu  verwer- 
then.  Auch  Mystiker  ist  er  nicht  gewesen.  Aber 
sein  Eifer  für  die  kirchliche  Disciplin,  in  wel- 
chem sich  die  Stimmung  der  strengen  Calvini- 
sten  in  den  Niederlanden  spiegelt,  stellt  doch 
Aufgaben,  welche  auf  die  Separation  hindrän- 
gen.   Und  ein  von  ihm  hochgeachteter  Theolog, 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  207 

Wilhelm  Teellinck,  konnte,  ohne  seinen 
Widersprach  zn  erfahren,  den  Stand  der  Bekeh- 
rung mit  den  Mitteln  des  Hohenliedes  nach  der 
Auslegung  Bernhardts  beschreiben.  Den  Ab* 
stand  zwischen  der  hier  empfohlenen  bräutlichen 
Zärtlichkeit  für  den  Herrn  Jesus  und  dem  evan- 
gelischen Glauben  nach  der  Auffassung  Calvins 
blieb  dem  orthodoxen  Calvinisten  verborgen. 
Es  erscheint  daher  als  zufällig,  weon  er  für 
sich  weder  zur  Separation  noch  zur  Mystik  fort* 
schritt.  Sein  großer  Zeitgenosse  Johann  Coc- 
cejus  lieferte  für  die  Förderung  des  pietisti- 
schen Wesens  einen  anderen  Beitrag.  Dem  pe- 
dantischen Streben  nach  Vollkommenheit,  wel- 
ches in  den  Gonventikein  gepflegt  und  in  dem 
Grandsatz  der  Präcisität  ausgesprochen  wurde, 
blieb  er  durchaus  fern.  In  den  Kreisen  die- 
ser Richtung  galt  er  als  Oppositionstheolog 
was  er  insofern  auch  war,  als  ihn  sein  origi- 
nelles Schriftverständniß  an  sehr  wichtigen 
Punkten,  wie  in  der  Gotteslehre,  mit  der  ortho- 
doxen Ueberiieferung  in  Widerspruch  brachte. 
Trotzdem  hat  er  durch  einen  seiner  bedeutend* 
sten  Gedanken  dazu  beigetragen,  jenen  Vertre- 
tern einer  gereizten  Orthodoxie  den  Weg  zum 
Pietismus  zu  ebnen.  Was  den  Reformatoren  nie 
gelungen  war,  den  religiösen  Glauben  und  das 
sittliche  Handeln  der  christlichen  Gemeinde  als 
die  gleichnothwendigen  Functionen  desselben 
Lebens  ans  Gott  klar  zu  machen,  bringt  Coc- 
cejtts  in  überraschend  großartiger  Weise  zu 
Stande,  indem  er  die  biblische  Idee  des  Reiches 
Gottes  in  ihr  Recht  einsetzt.  In  dem  vom 
Verf.  analysierten  Panegyricus  de  regno  dei 
führt  er  aus,  daß  die  aus  dem  Worte  Gottes 
hervorgehende  religiöse  Gemeinschaft,  nicht  das 
Ganze  der  Herrschaft  Gottes  darstellt.  Dieses 
Reich,  in  welchem  die  Knechte  Könige  sind,  ist 


208  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

nur  vorhanden,  sofern  die  religiöse  Freiheit  sieb 
als  die  Voraussetzung  der  sittlichen  Freiheit  be- 
währt, welche  in  dem  Friedensreiche  iin  Liebe 
verbundener  Menschen  ausgeübt  wird.  Der 
große  Einfluß,  den  Coccejus  gewonnen  hat, 
ist  nicht  zum  Mindesten  darauf  zurückzuführen, 
daß  er  dieses  gemeinschaftliche  religiöse  und 
sittliche  Ideal  zur  Anschauung  gebracht  hat. 
Aber  je  höher  die  anregende  Kraft  desselben 
zu  veranschlagen  ist,  desto  verhängnißvoller 
war  es,  daß  es  ihm  nicht  gelungen  war,  den 
weltlichen  Beruf  in  seinem  Werthe  für  das  Chri- 
stenleben  aufzufassen  und  diese  Erkenntniß  mit 
jenem  Ideal  zu  verarbeiten.  Indem  ihm  diese 
wichtigste  ethische  Errungenschaft  der  Reforma- 
toren verloren  ging,  diente  der  kräftige  Antrieb, 
den  er  ertheilte,  doch  zu  einer  Verengung  der 
Lebensauffassung,  welche  der  Entwicklung  des 
Pietismus  zu  Gute  kam.  Der  erste,  welcher  die 
ausgeprägten  Züge  des  Pietismus  trägt,  ist  ein 
Schüler  von  Voet  und  Coccejus,  Jodocus  vom 
Lodensteyn,  von  welchem  der  Verf.  eine 
überaus  anziehende  Schilderung  entwirft.  Das 
practische  Ideal  des  Calvinismus,  die  Wiederher- 
stellung des  apostolischen  Zeitalters  der  Kirche, 
gewinnt  bei  diesem  energischen  Manne  die 
Kraft,  eine  Reihe  mittelaltriger  Grundsätze  an 
sich  heranzuziehen,  vor  welchen  die  evangeli- 
schen Lehren  nicht  Stand  halten  können ,  weil 
sie  sich  aus  jener  Aufgabe  nicht  rechtfertigen 
lassen.  Ohne  es  sich  einzugestehen ,  weicht 
Lodensteyn  in  den  wichtigsten  Punkten  der 
christlichen  Weltanschauung  von  den  Reforma- 
toren sehr  bedeutend  ab.  Die  Rechtfertigung 
aus  dem  Glauben  zieht  er  nur  als  Mittel  der 
sittlichen  Heiligung  in  Betracht;  die  hauptsäch- 
liche Bedeutung  Christi  ist  nicht,  daß  er  als 
Herr   der   Gemeinde   die  Seinen   mit  Gott    ver- 


Ritschi,  Geschiebte  des  Pietismus.   I.  üOil 

söhnt,  sondern  daß  er  sie  beherrscht  und  den 
Gehorsam  in  vollkommner  Erfüllung  des  Ge- 
setzes von  ihnen  fordert;  die  Selbstverleugnung 
im  Sinne  einer  gänzlichen  Entsagung  vom  eige- 
nen Willen  das  Ziel  des  Christenlebens;  und 
dies  Alles  getragen  von  dem  für  allgemein  ver- 
nünftig ausgegebenen  Gedanken,  daß  die  Maje- 
stät und  Souveränetät  Gottes  jegliche  Selbstän- 
digkeit des  Geschöpfes  ausschließt.  Weil  er 
diesen  nominalistischen  Gottesbegriff,  den  die 
Reformatoren  in  der  Prädestinationslehre  zuge- 
lassen hatten,  in  der  reformierten  Orthodoxie 
als  den  leitenden  Gedanken  des  Systems  vor- 
fand, so  räumt  er  ein,  daß  die  Reformation 
allerdings  die  göttliche  Wahrheit  ans  Licht  ge- 
bracht babe.  Aber  als  bloße  Reform  der  Lehre 
babe  sie  die  Kirche  dazu  gebracht,  im  Dienste 
der  Begriffe  zu  vertrocknen.  Die  wahre  Refor- 
mation soll  durch  die  Praxis  jener  Selbstver- 
neinung herbeigeführt  werden,  in  welcher  sich 
der  Christ  von  der  Welt  und  die  Gemeinde  von 
ibrer  welthistorischen  Aufgabe  zurückziehen  soll, 
um  zu  den  Eeimzuständen  der  Urkirche  zurück- 
zukehren. Er  empfindet  es  als  einen  schweren 
Hange),  daß  in  der  evangelischen  Volkskirche 
das  freudige  Gefühl  der  Erlösung  durch  Chri- 
stus den  Schmerz  über  die  Unvollkommenbeit 
der  Werke  abstumpft  und  er  wagt  den  Aus- 
sprach, es  würde  besser  gewesen  sein,  die  gött- 
liche Wahrheit  im  Verborgenen  zu  lassen,  als 
mit  den  Irrthümern  des  Pabstthums  zugleich  die 
vorhandene  Uebung  jener  Selbstverleugnung  zu 
zerstören.  Obgleich  er  nun  daran  verzweifelte, 
die  diesen  Grundsätzen  entsprechende  Reform 
an  der  Kirche  seines  Volkes  durchzuführen,  so 
folgerte  er  daraus  doch  nicht  die  Notwendig- 
keit der  Separation,  sondern  die  Notwendigkeit 
der  Selbstverleugnung  und  des  geduldigen  Har 

14 


210  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  7. 

reus,  bis  der  Herr  selbst  helfen  würde.  Aber 
es  ergab  sich  von  selbst,  daß  in  den  Augen 
seiner  Gesinnungsgenossen  der  Werth  der  Con- 
ventikel  sieh  hob,  in  welchen  der  Weg  der  von 
ihm  geforderten  Beform  beschritten  werden 
konnte.  Und  indem  sich  Lodensteyn  wei- 
gerte, seiner  amtlichen  Pflicht  gemäß  das  Abend- 
mahl zu  spenden,  kam  er  doch  auch  zu  einer 
Art  von  Separation,  welche  der  anspruchsvollen 
Zurückgezogenheit  der  Pietisten  von  der  öffent- 
lichen Kirche  im  Grunde  gleichartig  ist  Der 
Pietismus  in  dieser  seiner  ersten  Gestalt  ist  also 
eine  Evolution  des  Calvinismus  und  zugleich 
eine  Beeinträchtigung  des  protestantischen  Cha- 
rakters desselben.  Denn  die  Weltanschauung, 
aus  welcher  die  practischen  Forderungen  Loden- 
steyn* hervorgehen,  ist  durchaus  katholisch  und 
hebt  den  protestantischen  Grundsatz  auf,  daß 
der  Christ  durch  die  Erlösung  zur  Selbständig- 
keit gegenüber  der  Welt  berufen  ist.  Ein  Fran- 
zose, der  direct  von  der  katholischen  Kirche 
herkam,  hat  dann  die  von  Lodensteyn  vorbe- 
reitete Separation  in  den  Niederlanden  zur  Aus- 
führung gebracht  Auch  L  aba  die  folgt  dem 
Ziele,  die  Kirche  nach  dem  Muster  der  Ge- 
meinde von  Jerusalem  zu  erneuern.  Und  der 
Verf.  zeigt,  daß  bei  dieser  ersten  Separation  der 
Gedanke,  welcher  jener  Aufgabe  immer  zu 
Grunde  liegt,  sehr  geistvoll  erfaßt  und  kraftvoll 
durchgeführt  wird.  Nicht  die  Nachahmung  ein- 
zelner Zttge  an  der  ersten  Gemeinde  ist  für 
Labadie  die  Hauptsache.  Er  verfährt  viel  radi- 
caler,  indem  er  in  seiner  Stiftung  durch  die 
freie  productive  Kraft  aller  Glieder  die  rechtli- 
chen Formen  der  Kirche  zu  ersetzen  sucht. 
Seine  Gemeinde  sollte  in  ihrem  Gottesdienst 
durchaus  den  Charakter  freier  Geselligkeit  be- 
wahren,  wie  die   in    sich  einige  Gemeinde  der 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  211 

ersten  Zeit.  Ohne  Zweifel  hat  er  damit  durch- 
zufahren gesucht,  was  bei  jener  Sehnsucht  nach 
den  Zuständen  der  Urkirche  immer  gemeint 
war,  eine  religiöse  Gemeinschaft,  welche  allein 
darch  die  ihr  eigentümlichen  Mittel  besteht, 
ohne  der  rechtlichen  Formen,  die  ihr  an  sich 
fremd  sind,  zu  bedürfen.  Man  wird  auch  nicht 
leugnen  können,  daß  diese  relative  Formlosig- 
keit des  religiösen  Verkehrs  dem  Grundbegriffe 
der  Kirche  congruenter  ist,  als  die  Gemeinschaft 
gesetzlicher  Lehre,  Disciplin  und  Verfassung, 
welche  des  Geistes  und  des  Lebens  zu  entbeh* 
ren  verdächtig  ist.  „Hierin  ist  das  Recht  eines 
solchen  Unternehmens  begründet.  Aber  die 
Geschichte  der  Labadistischen  Gemeinde  bewährt 
es,  daß  dieses  Recht  die  Geburtsstunde  einer 
solchen  Bildung  nicht  zu  überdauern  pflegt.  Die 
freie  Geselligkeit,  in  welcher  die  Wahrheit  der 
christlichen  Gemeinschaft  gefunden  zu  sein 
scheint,  artet  theils  in  immer  weiter  greifende 
Formlosigkeit  aus,  theils  erzeugt  sie  neue  For- 
men des  Rechts ;  sie  betritt  also  die  Bahn  eigen- 
tümlicher Verweltlichung,  so  wie  das  erste 
Aufleuchten  ihres  geschichtlichen  Daseins  vor- 
über ist.  Und  in  diesen  Merkmalen  schleunigen 
Verfalles  der  separatistischen  Gesellschaft  be* 
währt  sich  ferner,  daß  der  Bestand  und  die 
Kraft  des  Christenthums  auf  eine  breitere  Grund- 
legung und  eine  reichere  Fülle  menschlicher 
and  weltlicher  Beziehungen  angewiesen  ist,  als 
welche  in  dem  Rahmen  der  freien  religiösen 
Geselligkeit  Platz  finden"  (223).  Die  Schick- 
sale dieser  merkwürdigen  Gemeinde  und  ihre 
hauptsächlich  durch  die  hochbegabte  Anna  Maria 
von  Schurman  vertretenen  Grundsätze  legt  der 
Verf.  ausführlich  dar.  Der  Begriff  der  Souverä- 
netät  Gottes  und  der  geschöpflichen  Nichtigkeit 
des  Menschen  bildet  hier  ebenso  wie  im  Katho- 

14* 


212  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

üoismus   den   obersten  Gesichtspunkt  der   Reli- 
gion.   Der  Glaube  kommt  nicht  seinem  eigenen 
Inhalte  nach,    als  das  religiöse  Bewußtsein    der 
Rechtfertigung  in  Betracht,  sondern  als  Antrieb 
und  Mittel  zur  Heiligung.     Die  letztere  besteht 
in  Selbstverleugnung  und  diese  wiederum  gipfelt 
in   der  Contemplation,    in  welcher  die  Seele  in 
völligem  Erleiden    die  Einheit   mit  Gott   erlebt, 
deren  Wollust  in.  den  Bildern  des  Hohenliedes 
geschildert  ist.    Diese  im  Kloster  einheimische 
Frömmigkeit  wird  dann  auch  mit  dem  Titel  des 
Mönchthumes   geschmückt:   man   wird    dadurch 
zum  Stande  eines  Engels  erhoben.    Es  sind  die- 
selben Grundzüge  der  Weltanschauung  wie  bei 
Lodensteyn.    Aber  die  katholische  Herkunft 
derselben   tritt  deutlicher  zu  Tage;   L  aba  die 
weiß,   daß   er  seine  Mystik    aus   den  Schriften 
des  Areopagiten,  des  Hugo   von  St.  Victor   und 
aus  den  Predigten  Bernhards  über  das  Hohelied 
geschöpft  hat.    Ebenso  ist  die  katholische  Ten- 
denz in   seiner  kirchlichen  Praxis  stärker  aus- 
geprägt;  es  gilt  jetzt   gerade,    die  Frommen 
höheren  Stils   von  dem  „gemeinen  bürgerlichen 
Schlage"  derselben  zu  scheiden.     Dieselbe  My- 
stik wird  nun  gleichzeitig  auch  von  solchen  ge- 
pflegt, welche  innerhalb  der  Landeskirche  blie- 
ben, wie  Brake  1,  ja  sogar  von  einem  hervor- 
ragenden  Vertreter    der   academischen    Ortho- 
doxie,   von  H.  Witsius.     Als  Mittel   der  An- 
knüpfung  an   das   orthodoxe  Lehrsystem    dient 
der  Begriff  der  leeren  Absolutheit  des  göttlichen 
Willens.    Aber  die  practischen  Beziehungen  des 
Rechtfertigungsglaubens,  welche  man  bisher  we- 
nigstens  nicht   verleugnet   hatte,    werden    nun 
durch   die  mystische  Praxis  entwerthet,   welehe 
jenem    Begriffe    wirklich   entspricht      Es   wird 
wie    etwas   Selbstverständliches    hingenommen, 
daß    die    ästhetischen   Genüsse    der  Phantasie, 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  213 

welche  sich  an  der  Schönheit  nnd  Liebenswür- 
digkeit Gottes  oder  des  Herrn  Jesus  berauscht, 
dem  Christen  Höheres  bieten.  Die  merkwürdige 
Thatsache,  daß  ein  academisoher  Theolog  die 
Bernhardinische  Frömmigkeit  genau  reproducie- 
ren  konnte,  ohne  daft  man  die  Unangemessen- 
heit dieses  Gedankenkreises  für  die  reformierte 
Kirche  rügte,  erklärt  sich  einigermaßen  daraus, 
daß  die  reformierte  Orthodoxie,  Voet  an  der 
Spitze,  überhaupt  alle  möglichen  Stoffe  religiö- 
ser und  theologischer  Bildung  aus  dem  Mittel- 
alter aufzunehmen  pflegte,  sofern  dieselben  ge- 
gen den  feststehenden  Umfang  der  Controverse 
mit  dem  Pabstthum  als  neutral  erschienen.  Wei- 
ter weist  der  Verfasser  nach,  wie  jene  Einbil- 
dung, daß  die  mystische  Praxis  eine  Frömmig- 
keit höherer  Ordnung  bedeute,  in  die  Conven- 
tikel  eindringt.  Es  war  natürlich,  daß  diesel- 
ben sich  dieser  Auszeichnung,  sobald  sie  als 
solche  anerkannt  war,  zu  bemächtigen  suchten. 
Auf  diese  Weise  tritt  in  den  Oonventikeln  die 
gesetzliche  Richtung,  der  sie  ihre  Entstehung 
verdankten,  zurück  und  macht  der  sogenannten 
„evangelischen"  Richtung  Platz,  welche  auf  dem 
Wege  der  Contemplation  die  gefühlsmäßige  Er- 
fahrung <fer  Seligkeit  erstrebt.  Bei  dieser  Ueber- 
leitung  der  Mystik  in  weitere  Kreise  kommt 
aber  nicht  der  ganze  transcendente  Apparat  der- 
selben in  Anwendung.  Nicht  das  unsagbare 
Aufgehen  der  Seele  in  Gott,  sondern  der  zärt- 
liche Umgang  der  Seele  mit  dem  allerschönsten 
Jesus  ist  der  Hauptgesichtspunkt.  Der  Verf. 
zeigt  dabei  namentlich  an  dem  Beispiel  von 
Sicco  Tjaden,  wie  diese  Frömmigkeit  im 
Grunde  auf  den  Oultus  des  idealen  Menschen 
hinauskommt.  Die  mechanische  Kraft  des  ästhe- 
tischen Eindrucks  des  Ideals  auf  die  Seele  soll 
alles  Andere  ersetzen.    Wie  weit  man  sich  mit 


214  Gott.  gel.  Aiiz.  1881.  Stück  7. 

dieser  dürftigen  Gefühligkeit  von  dem  großarti- 
gen Retchthum  des  einfachen  evangelischen 
Glaubens  entfernt,  weist  der  Verf.  mit  meister- 
hafter Schärfe  nach.  „Diese  Predigt  von  der 
Liebenswürdigkeit  des  Herrn  Jesns  ist  doch  nur 
ein  sehr  verkümmerter  Nachklang  der  Predigt 
von  unserm  Herrn  Jesus  Christus.  Es  kommt 
doch  wohl  an  auf  die  Herrschaft  oder  die  Gott- 
heit Christi.  Diese  kann  nun  nicht  zur  Geltung 
gebracht  werden  außerhalb  der  nothwendigen 
Beziehung  zwischen  ihm  und  seiner  Gemeinde, 
welche  die  Bestimmung  hat,  in  die  Gotteskind- 
schaft  und  in  die  Beherrschung  der  Welt  ein- 
zutreten. Innerhalb  dieses  Rahmens  erst  ist  es 
möglich,  das  Gewicht  der  Sünde  und  das  Gegen- 
gewicht der  Erlösung  von  Sünde  und  Uebel 
richtig  zu  deuten,  und  die  Befreiung  des  Ein- 
zelnen von  seiner  Schuld  gegen  Gott  in  der 
Freiheit  des  Vertrauens  auf  Gott,  in  der  Freiheit 
der  Kinder  Gottes  von  der  Furcht  vor  der  Welt 
und  in  dem  erfolgreichen  Vorsatze  des  Gehor- 
sams gegen  Gott  nachzuweisen"  (317).  Jene 
Contemplation  der  Schönheit  und  Liebenswür- 
digkeit Jesu  kann  zwar  in  gehobenen  Momen- 
ten die  Phantasie  in  die  Genüsse  eines  Privat- 
verhältnisses zum  Herrn  einführen,  ftber  jener 
Entfaltung  des  religiösen  Charakters  dient  sie 
nicht  und  die  Ehrfurcht  vor  dem  Heiligen  muß 
sie  unterdrücken.  Auffallend  ist  bei  dieser  gan- 
zen Reformbewegung,  daß  theologisch  gebildete 
Geistliche  die  Leiter  sind,  welche  das  refor- 
mierte Christentum  in  den  Typus  der  bernhar 
dinisohen  Frömmigkeit  zurück  zu  bilden  suchen. 
Das  Ende  konnte  nur  entweder  die  Auflösung 
der  evangelischen  Kirche  in  den  Niederlanden 
oder  die  Separation  sein,  welche  letztere  end* 
lieh  1839  in  der  Constituierung  einer  Christli- 
ehen separierten  Gemeinde  vor  sich  ging. 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  215 

Es  ißt  unmöglich,  in  einer  kurzen  Ueber- 
«cht  einen  vollen  Eindruck  davon  zu  geben, 
wie  fein  und  sicher  der  Verf.  den  Naohweis 
über  Herkunft  und  Charakter  des  Pietismus  ge- 
führt bat.  Er  zeigt  unwiderleglich,  daß  der 
Pietismus  sich  bildet,  weil  der  mangelhafte  Aus- 
druck des  evangelischen  Christenthums  katholi- 
sche Lebensmotive,  welche  der  Sturm  des  16. 
Jahrhunderts  nicht  gänzlich  hatte  beseitigen 
können ,  wiederaufkommen  läßt.  Die  klare 
Gegenüberstellung  des  reformatorischen  und  des 
pietistischen  Christenthums,  wobei  die  compli- 
riertesten  Erscheinungen  mit  fester  Hand  in 
ihre  Elemente  zerlegt  werden,  bildet  eine  der 
glänzendsten  Seiten  des  Buches.  Aber  wenn 
der  Verf.  sich  auch  selbst  durchweg  auf  die 
Seite  der  Reformatoren  stellt,  so  verkennt  er 
doch  keineswegs,  wie  respectable  religiöse  Kräfte 
an  der  Mischgestalt  des  Pietismus  gearbeitet 
haben ;  und  vor  Allem  ermöglicht  er  durch  seine 
umfassende  Analyse  dem  Leser  die  Bildung 
eines  eigenen  Urtheils.  Man  gewinnt  bei  dem 
Verf.  mehr  als  den  Wechsel  von  Sympathie  und 
Antipathie,  in  welcher  sonst  die  historische  Be- 
trachtung des  Pietismus  zu  versetzen  pflegt. 
Der  begriffliche  Gehalt  der  streitenden  Weltan- 
schauungen kommt  zur  klaren  Aussprache.  Und 
wenn  sich  der  Leser  mehr  zum  Pietismus  hin- 
gezogen fühlt  als  zu  dem  evangelischen  Chri- 
stentum, an  dessen  Lebensfähigkeit  der  Verf. 
glaubt,  so  wird  er  an  der  Hand  dieses  Führers 
wenigstens  die  Gründe  verstehen  lernen,  denen 
er  dabei  nachgiebt 

Nachdem  der  Verf.  im  ersten  Buch  die  all- 
gemeinen Bedingungen  für  das  Aufkommen  des 
Pietismus  erörtert  und  im  zweiten  die  Ent- 
stehung desselben  in  den  Niederlanden  geschil- 
dert hat,  zeigt  er  im  dritten  Buch,  wie  sich  von 


216  ,  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

dort  aus  die  pietistische  Reformbewegung  in  der 
deutschreformierten   Kirche  ausbreitete.     Leider 
verbietet   es   der    Baum,   auf  diesen  Theil    des 
Werkes   noch   näher   einzugehen.    Ich  bemerke 
aber,  daß  derselbe  vortrefflich  geeignet  ist,  auch 
nichttheologische  Leser  zu  fesseln  und  zu  einem 
Verständniß   für   die   Bedeutung   des   Pietismus 
zu   bringen.     Die   Bilder   so  bedeutender  Men- 
schen wie  Lampe,  Tersteegen,  Lavater, 
Jung  -  Stilling  ,      Collenbusch      wirken 
ebenso  anziehend  durch  den  Reichthum  und  die 
Lebendigkeit  der  Schilderung,  wie  sie  instructiv 
sind   als   sehr   verschiedenartige   Modificationen 
desselben  Qrundcharakters.    Aber  auch  die  Ge- 
duld, welche  der  Verf.  an  Menschen  von  kleine- 
ren   Verhältnissen,   wie   Anna   Schlatter,   G.  D. 
Krummacher  und  Kohlbrügge  gewendet  hat,  ist 
sehr  dankenswert^    Originalität  der  Gedanken 
ist  hier  freilich  nicht  mehr  zu  finden.    Aber  na- 
mentlich die  beiden  zuerst  Genannten  sind  höchst 
interessante  Krankheitserscheinungen,  deren  Stu- 
dium durch  die  bewundernswerthe  Virtuosität  in 
religiöser  Mittheilung,    welche  ihnen  eignet,  er- 
leichtert wird.    Von  einer  Abnormität  darf  man 
bei  ihnen  insofern  reden,  als  man  berechtigt  ist, 
sie  mit  dem  Calvinismus,  den  sie  vertreten  wol- 
len, zu  vergleichen.     Abgesehen  davon  sind  sie 
in  der  Art,  wie  sie  die  religiösen  Gedanken  an 
den  Wechsel  ästhetischer  Erregtheit  und  Stumpf 
heit   des  Gefühls   knüpfen,   getreue   Nachfolger 
jenes    „evangelischen"    Pietismus    und   correcte 
Bepräsentanten  der  katholischen  Sinnesart,  wel- 
che  sich  den  objectiven  Gründen  der  evangeli- 
schen Heilsgewi öheit  verschließt.    Der  Verf.  hat 
eine  besondere  Gabe  dafür,  auch  in  solchen  Er- 
scheinungen  der    Kirchengeschichte    die   Wirk- 
samkeit  der    religiösen  Gedanken   aufzuspüren, 
welche  in    der   Regel   bei  der  Geschichte  der 


Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus.  I.  217 

letzteren  außer  Betracht  bleiben.  Die  glänzende 
Bewährung  dieser  Gabe  sichert  dem  vorliegen- 
den Buche,  welches  der  Dogmengeschichte  ein 
neues  großes  Gebiet  gewonnen  hat,  eine  epoche- 
machende Bedeutung. 

Zum  Schluß  sei  noch  die  interessante  Beob- 
achtung über  das  Verhältnis  von  Mystik  nnd 
Scholastik  mitgetheilt,  welche  der  Verf.  in  dem 
Abschnitt  über  Tersteegen  gemacht  hat.  Er  fin- 
det nämlich,  daß  die  quietistische  Mystik,  welche 
im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  in  Spanien  ihre 
Hauptvertreter  gefunden  hat,  die  Mystik  des 
Franciscanerordens  ist,  nnd  ihren  theoretischen 
Hintergrund  in  der  Theologie  des  Duns  Scotus 
besitzt,  während  auf  der  andern  Seite  die  My- 
stik in  der  ersten  Hälfte  des  Mittelalters  ebenso 
wie  die  deutsche  Mystik  des  14.  Jahrhunderts 
anf  die  Begriffe  hinauskommt,  welche  Thomas 
theologisch  entwickelt  hat.  Wie  die  scotistische 
Theologie  dem  Thomismus  absichtlich  entgegen- 
gesetzt ist,  so  ist  auch  die  quietistische  Mystik 
als  die  entsprechende  religiöse  Praxis  anzu- 
sehen, welche  sich  in  der  katholischen  Kirche 
trotz  der  officiellen  Begünstigung  der  Dominicaner 
in  der  Theologie  behauptet.  Die  quietistische 
Mystik  folgt  dem  Begriff  des  Duns  von  der  Se- 
ligkeit, wonach  dieselbe  in  der  gänzlichen  Hin- 
gabe des  Willens  an  Gott  ihr  Wesen  hat  und 
die  Freude  sie  nicht  nothwendig  begleitet;  da- 
mit steht  in  Verbindung  der  scotistische  Gottes- 
begriff, gemäß  welchem  das  richtige  Verhältniß 
zwischen  Gott  und  Mensch  die  volle  Nichtigkeit 
des  letzteren  voraussetzt.  Nach  Thomas  dagegen 
besteht  die  Seligkeit  in  der  Contemplation,  wel- 
che nothwendig  von  Freude  begleitet  ist  Wenn 
dann  die  dominicanische  Mystik ,  die  diesem 
Begriffe  folgt,  von  der  schauenden  Seele  sagt, 
Gott   seinen   Sohn   in  ihr  von  Neuem  ge- 


218  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

Wert,  so  wird  darin  der  Werth  derselben  für 
Gott  ausgesprochen,  welcher  ebenfalls  bereits  in 
dem  thomistischen  Gottesbegriff  festgestellt  ist 
Wie  wichtig  diese  Wahrnehmung  für  die  Er- 
kenntniß  der  Bedeutung  ist,  welche  der  Mystik 
zukommt,  braucht  nicht  ausgeführt  zu  werden. 
Es  wäre  nur  noch  nöthig,  daß  an  classischen 
Vertretern  der  quietistischen  Mystik  wie  Johan- 
nes de  Cruce  der  detaillierte  Nachweis  fttr  jenen 
Zusammenhang  gefuhrt  würde. 

Marburg.  W.  Herrmann. 


Itinera  Hierosolymitana  et  descriptio- 
nes  terrae  sanctae  bellis  sacris  ante- 
rior a  edid.  TitusTobler  et  Augustus  Mo- 
li n  i  e  r.    Genevae  1877  et  1880.  *) 

Obwohl  die  hier  gesammelten  Reisebeschrei- 
bungen zumeist  einer  so  späten  Zeit  angehören, 
daß  die  Namen  der  Verf.  dem  klassischen  Phi- 
lologen fremd  klingen,  so  giebt  es  doch  ein 
Band,  welches  einige  und  zwar  die  bedeutend- 
sten derselben  mit  der  antiken  Litteratur  ver- 
knüpft, und  es  hätte  sehr  im  Interesse  der 
Hsgb.  gelegen  diese  Beziehung  zu  ermitteln  und 
auszunützen.  Aber  wenngleich  die  Vorrede  des 
Werkes  mit  den  Worten  beginnt:  Palaestinae 
geographica  initium  in  lItmerario  a  Bordigala 
Hierosolymam  usque '  minime  quaerendum,  sed 
ad  multo  anteriorem  aetatem  regrediendum  est, 
sind  die  Hsgb.  doch,  als  ob  diese  älteren  Quel- 

*)  Nachdem  bereits  in  Stück  44  dieser  Blätter  vom 
vorigen  Jahre  der  gelehrte  Verf.  der  4  Geschichte  des 
Levantehandels  im  Mittelalter',  Hr.  Oberstudienrath  Dr. 
W.  Heyd,  die  Bedeutung  des  oben  genannten  Werkes 
im  Allgemeinen  dargelegt  hat,  bilden  die  folgenden  Mit- 
theilungen eine  gewiß  nicht  unwillkommene  Ergänzung 
jener  Besprechung,  da  sie  die  Reisebeschreibungen  von 
einer  wesentlich  neuen  Seite,  in  ihrer  Beziehung  zu  den 
Ausläufern  der  antiken  Litteratur,  betrachten. 


Itinera  Hierosolymitana  ed.  Tobler  et  Moliuier.     219 

ien  nur  im  Griechischen  (Josepbas,  Ptolemäus) 
oder  im  Hebräischen  (Talmud)  zu  suchen  seien, 
während  sie  nur  lateinische  Bearbeitungen  be- 
rücksichtigen wollen ,  stillschweigend  darttber 
hinweg  gegangen.  Nur  einmal  wird  aus  dem 
Kirchenvater  Hieronymus  eine  Stelle  namhaft 
gemacht,  welche  Adamnanus  selbst  (Arculf.  2, 7) 
mit  ausdrücklicher  üinweisung  auf  den  über  lo- 
corum  des  Hieron.  citiert.  Aber  daß  derselbe 
Adamnanus  2,  10  den  nämlichen  Hieron.  de  in- 
terpret, nominum  hebr.  (III.  pg.  130  und  195 
edit.  Vallars.),  daß  er  1,23  die  Chronik  des  Sul- 
picius  Sever  us  2,33,5,  daß  er  2, 12  die  genannte 
interpr.  des  Hieron.  p.  230  Wort  für  Wort  aus- 
geschrieben hat,  entging  den  Herausgebern  und 
damit  auch  der  große  Vortheil  mit  Hülfe  der  ge- 
nannten Quellen  den  sehr  unsichern  Text  des 
Adamnanus  festzustellen  und  daraus  ein  untrüg- 
liches Regulativ  für  die  Beurtheilung  der  Hand- 
schriften zu  gewinnen.  Und  sofern  auch  jene 
Stelle  aus  Sulpicius,  obschon  Adamnanus  mit 
einem  ut  alibi  scriptum  repertum  est  zur  Auf- 
suchung der  Quelle  auffordert,  leichter  übersehen 
werden  konnte,  das  angeführte  Werk  des  Hie- 
ronymus mußte  doch  auf  jeden  Fall  zu  Rathe 
gezogen  werden,  schon  deshalb,  damit  abgesehen 
von  dem  großen  textkritischen  Interesse  zwischen 
dem,  was  die  Späteren  selbständig  beigebracht, 
und  jenem,  was  sie  einfach  von  den  Aelteren 
abschrieben,  geschieden  werden  konnte.  Es 
scheint  kaum  begreiflich,  daß  ein  Mann  wie 
Tobler,  welcher  mit  so  viel  Eifer  und  Geschick 
Jahrzehnte  auf  die  Erforschung  des  heiligen  Lan- 
des verwendet  hat,  nie  darauf  kam  einen  Blick 
in  den  Abschnitt  bei  Isidor,  welcher  in  seinen 
origines  14,  3,  16—28  über  Palästina  handelt, 
zu  werfen.  Dort  würde  er,  unterstützt  von  den 
vortrefflichen  Anmerkungen  Arevali's,  die   beste 


220  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

Antwort  auf  seine  Frage  (pg.  XXXIV) :  quinam 
sunt  ergo  Uli  auctores?  erbalten  und  erfahren 
haben,  wer  der  von  Eucberius  citierte  Joseph  us, 
wer  der  von  Tobler  selbst  richtig  gefühlte 
Eucherii  quid  am  antecessor,  wie  der  von  A  damn. 
2, 18  genannte  tertius  Judaicae  eaptivitatis  liber  zu 
deuten,  was  in  erster  Linie  unter  den  von  Beda 
benützten  veteres  libri  zu  verstehen  sei 

Es  ist  immer  eine  und  dieselbe  Quelle,  der 
sogenannte  Hegesippus*,  der  lateinische,  von 
Weber  und  Cäsar  1864  herausgegebene  lateini- 
sche Uebersetzer  des  jüdischen  Krieges  von  Jo- 
sephus,  welcher  von  den  genannten  Autoren  da 
und  dort  wortgetreu  abgeschrieben  worden  ist, 
auch  in  den  Partieen,  die  er  aus  eigener  Kennt- 
niß  in  den  Bericht  des  Josephus  einzuschieben 
pflegt.  Eine  Vergleichung  dieser  Quelle,  welche 
sowohl  für  Hegesipp  als  auch  für  Eucherius,  Isi- 
dor,  Adamnanus,  Beda,  seine  Gompilatoren,  höchst 
fruchtbar  ist,  würde  die  Hsgb.  der  itinera  vor 
manchen  Fehlgriffen  in  der  Gestaltung  des  Tex- 
tes bewahrt  haben,  und  sie  ist,  auch  wenn  man 
auf  einzelne  Verbesserungen  weniger  Gewicht 
legt,  oft  geradezu  unentbehrlich  um  zu  verstehen, 
was  der  Abschreiber  sagen  wollte.  Oder  lesen 
sich  die  Worte  des  Adamn.  2,  28  unde  procul 
dubio  fit,  ut  in  adverso  inter  scabras  (codd.  scru- 
peas)  rupes  molesque  disruptas  canalis  ille  medius 
semper  sit  inquietus  nicht  ganz  anders,  wenn 
man  daneben  hält,  was  Hegesippus  sagt  4,  27, 
44:  unde  fit,  ut  |  inlidentibus  se  in  partem  insu- 
lae  fluctibus  et  recurrentibus  \  in  adversum  inter 
scrupeas  rupes  molesque  constructor  ct. !  Die  Un- 
verständlichkeit  aber  jener  Stelle  bei  Beda  12: 
lucernam  accensam  ferunt  supernatare  sine  ulla 
corwersione  nee  extineto  demergi  lamine,  quin 
et  vas  demersum  arte  qualibet  difficile  haerere 
in  profundo  verschwindet  sofort,   wenn  man  bei 


v.  Wietersheiin-Dahn ,  Geschieht«  d.  Völkerwander.    221 

Heges.  4, 18  liest:  lucernam  accensam  f.  s.  s.  u. 
ce.dJ.et  quavis  demersum  arte  quod  vivat  diff. 
k  in  pr. 

Wird  hiedurch  das  Interesse  neuerdings  auf 
Hegesipp  gelenkt  werden,  so  sei  hier  nur  noch 
die  Bemerkung  gestattet,  daß  der  Leser  mehr 
darüber  in  der  eben  erschienenen  Abhandlung 
des  Ref.  'De  Hegesippo,  qui  dicitur,  Josephi 
interpreted  Erlang.  1881  findet,  wo,  wenn  auch 
diese  Frage  nur  andeutungsweise  behandelt  wer- 
den konnte,  ein  Verzeichniß  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Stellen  gegeben  ist. 

Rom.  Dr.  Friedr.  Vogel. 

Geschichte  der  Völkerwanderung  von 
Eduard  v.  Wietersheim.  Zweite  vollständig 
umgearbeitete  Auflage  redigirt  von  Felix  Dahn. 
B.  1.    Leipzig,  T.  0.  Weigel.     1880.    637  S.    8°. 

Wietersheims  Geschichte  der  Völkerwande- 
rung hat  wohl  bei  allen  Lesern  den  Eindruck 
hinterlassen,  daß  der  Verfasser  mit  wahrhaft 
heiligem  Eifer  an  seine  Aufgabe  gegangen  war, 
daß  er  aber  weder  die  Schulung  besaß,  um  die 
kritische  Untersuchung  rein  zu  Ende  zu  führen, 
noch  auch  die  künstlerische  Begabung,  um  den 
disparaten  Stoff  zu  ordnen.  So  mußte  denn 
die  Nachricht  überraschen,  daß  Dahn  eine  neue 
Ausgabe  besorgt  habe.  Der  erste  Band  (bis 
375)  liegt  vor.  Er  zeigt  sehr  starke  Verände- 
rungen. Ganz  weggelassen  sind  S.  11—268  des 
ersten  Bandes,  welche  römische  Verhältnisse  be- 
handelten. Einige  Abschnitte  sind  neu  oder 
fast  neu,  und  auch  von  dem  übrigen  Buche  blieb 
keine  Seite  ohne  Aenderungen.  Einige  dersel- 
ben sind  in  Klammern  gesetzt  und  mit  D  be- 
zeichnet; aber  viele  Aenderungen,  welche  nicht 
so  bezeichnet  sind,  enthalten  ebenfalls  sachliche 
Abweichungen.    Der  Leser  merkt   oft  nicht,   ob 


222  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

es  die  Meinung  von  Dabn  ist,  was  da  steht, 
oder  von  Wietersheim.  Sehr  zahlreich  sind  die 
Aenderungen  des  Stils  und  der  Gruppierung. 
Excurse  sind  in  den  Text  versetzt  und  anderes 
ist  aus  dem  Text  an  das  Ende  verwiesen,  ein- 
zelne Worte,  Zeilen  und  Seiten  sind  weggelas- 
sen. Der  lästigen  Breite  und  der  Zusammen- 
hangslosigkeit  des  Buches  ist  dadurch  mit  Glück 
entgegengearbeitet,  —  wo  ich  die  Aenderungen 
verglich,  fand  ich  Verbesserungen,  aber  die 
schweren  Mängel  von  Wietersbeims  Ausdrucks- 
weise, die  Dahn  selbst  Bausteine  B.  2  S.  150  f. 
treffend  characterisiert  bat,  konnten  doch  auch 
so  nur  theilweise  beseitigt  werden.  Geblieben 
ist  ferner  der  Mangel,  der  in  der  ganzen  An- 
lage des.  Buches  liegt:  es  ist  weder  eine  Unter- 
suchung noch  eine  Darstellung,  es  ist  ein  Ge- 
misch aus  beiden.  Abgesehen  von  einzelnen 
Excursen  hat  die  Untersuchung  nicht  einmal 
den  Baum,  den  sie  haben  muß,  wenn  sie  wis- 
senschaftlichen  Werth  haben  soll.  Sie  hat  fer- 
ner nicht  Freiheit  genug,  sie  steht  unwillkürlich 
unter  dem  Einfluß  der  Darstellung,  in  die  sie 
eingefügt  ist  und  welehe  dureh  sie  begründet 
werden  soll.  Nicht  besser  geht  es  der  Dar- 
stellung. Sie  wird  in  Fetzen  zerrissen  und  ent- 
behrt der  Bestimmtheit,  welche  zu  ihrer  Natur 
gehört.  Dahn  scheint  freilieh  diese  gemischte 
Gattung  historischer  Darstellung  grundsätzlich 
für  die  allein  richtige  zu  halten.  In  seinem 
jüngsten  Aufsatz  »Ueber  neuere  Darstellungen 
der  deutschen  Urgeschichte«  in  'Im  Neuen 
Reich'  1881  Nro.  4  macht  er  deshalb  meiner 
Deutschen  Geschichte  bis  auf  Karl  den  Großen 
Theil  I  den  Vorwurf,  der  Leser  könne  nicht 
unterscheiden,  was  Tacitus  sage  und  wo  meine 
Meinung  anfange.  Die  Frage  ist  grundsätzlich 
so  wichtig,  daß  ich  bei  dieser  Gelegenheit  dar- 
auf eingehe,   und    ich    wähle    dazu   denjenigen 


v.  Wietersheim-Üahn ,  Geschichte  d.  Völkerwander.     223 

Punkt,  bei  dem  Dabo  am  bestimmtesten  auftritt. 
Es  ist  meine  Darstellung  von  Athanarichs  letz- 
ten Schicksalen.  An  zwei  Stellen  babe  ich 
mich  forschend  mit  diesem  Abschnitt  der  Ge- 
schichte auseinandergesetzt  Einmal  in  diesen 
Blättern  1871  Stück  35  in  einer  Recension  von 
Nitscbe's  Gothenkrieg,  und  dann  in  einer  aus- 
führlichen Untersuchung  in  den  Forschungen 
zur  Deutschen  Geschichte  XII  411 — 441  'Kriti- 
sche Untersuchungen  zu  dem  Kriege  Theodo- 
sius  des  Großen  mit  den  Gothen  378 — 82'. 
Das  Resultat  dieser  Untersuchungen  tilgte  ich 
in  meine  Deutsche  Geschichte  ein  und  nur  das 
Resultat:  denn  so  habe  ich  mir  die  Aufgabe 
gestellt.  Die  Geschichte  wollte  ich  darstellen, 
wie  sie  mir  nach  gewissenhafter  Benutzung  der 
Quellen  und  der  bisherigen  Darstellungen  er* 
schien  —  die  Untersuchung  aber  an  anderen 
Orten  fahren.  Nun  vergleiche  man  mit  dieser 
Darstellung  und  der  sie  stützenden  Untersu- 
chung die  Darstellung  von  Dahn,  Könige  der 
Germ.  V,  16  ff.  Die  Erzählung  wird  des  Stof- 
fes nicht  Herr,  weil  das  Interesse  des  Autors 
wie  des  Lesers  beständig  abgelenkt  wird  durch 
Angaben  aus  den  Quellen,  zerstreute  Polemik 
und  Anfänge  der  Untersuchung,  die  wohl  den 
Laien  blenden  mögen,  der  Wissenschaft  aber 
nichts  nützen.  Nicht  einmal  die  Zergliederung 
des  arg  verwirrten  Berichtes  von  Zosimus  ist 
gegeben.  —  Und  nun  noch  eine  persönliche  Be- 
merkung. Es  ist  unmöglich,  alle  Fragen  in  gleicher 
Weise  selbst  zu  untersuchen,  und  es  ist  schwer 
sich  der  Forschungen  anderer  so  zu  bemächti- 
gen, daß  man  mit  wirklichem  Urtheil  über  sie 
verfügt  Daß  ich  das  Unternehmen  wagte,  ist 
so  gekommen.  Ich  hatte  die  Untersuchung  von 
Waitz  und  Bessel  über  Ulfila  wieder  aufgenom- 
men. Die  Kritik  des  Philostorgius,  der  Acta 
Nicetae  etc.   lag  fertig,  und  als  Einleitung  dazu 


224  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  7. 

entwarf  icb  das  Bild  von  dem  geistigen  Leben 
des  vierten  Jahrhunderts,  das  jetzt  das  erste 
Capitel  in  dem  dritten  Bache  meiner  Geschichte 
bildet.  Dies  Capitel  hat  mir  den  Muth  gemacht 
den  alten  Lieblingsplan  einer  reinen  Darstellung 
der  ganzen  Periode  wieder  aufzunehmen.  Ich 
kannte  die  ungeheueren  Schwierigkeiten,  die  zu 
überwinden  waren,  und  fürchtete  auch  im  Ein- 
zelnen oft  fehlzugreifen,  während  ich  den  Blick 
auf  das  Ganze  gerichtet  hielt.  Es  muß  aber 
doch  nicht,  allzuoft  geschehen  sein.  Das  haben 
die  bisherigen  Beurtheilungen  gezeigt,  und  Dahn 
hat  mich  vollends  beruhigt.  Ich  darf  seinen  Auf- 
satz vielleicht  als  eine  Antwort  ansehen  auf  die 
Recension,  die  ich  in  diesen  Blättern  von  Dahns 
Hauptwerk,  den  'Königen  der  Germanen'  ge- 

Seben  habe,  1871  Stück  9  S.  321- 360,  und  auf 
ie  Recension,  die  ich  über  Usinger,  Die  An- 
fänge der  Deutschen  Geschichte  in  Stück  32  von 
1876  schreiben  mußte,  um  den  verstorbenen 
Freund  gegen  die  ebenso  ungerechten  als  maß- 
losen Angriffe  Dahns  zu  vertheidigen.  Wenn 
Dahn  unter  diesen  Umständen  und  bei  seiner 
langjährigen  Bekanntschaft  mit  dem  Gebiete 
nichts  anderes  finden  konnte,  was  er  zu  tadeln 
im  Stande  war :  so  darf  ich  wohl  recht  zufrieden 
sein.  Die  sachlichen  Bemerkungen  kann  ich 
ruhig  der  Prüfung  der  Fachgenossen  überlassen 
und  die  stilistischen  dem  Leser,  der  die  Ci- 
tate  nachschlägt.  Die  Stelle  von  S. 295  ist 
erst  durch  Weglassen  einiger  Worte  unverständ- 
lich geworden,  und  bei  dem  Gitat  von  den 
„drohenden  Wolken"  S.  285  hat  Dahn  die  La- 
cher auf  seine  Seite  gezogen,  weil  er  aus  dem 
Zeugma  dasjenige  Subject  wegließ,  für  welches 
das  Prädicat  gewählt  war.        G.  Kaufmann. 

Fur  die  Redaction  verantwortlich :  JE,  Heimisch,  Director  d.  Gott,  gel. 
Verlag  der  Düterich'schtn  Ytrtogs-Buchhmdkmg. 
Druck  der  JHeUrich' sehen   Univ.- BucJnhitcktrei  (W.  Fr.  JTMstor). 


225 

Gffttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  8.  23.  Febr.   1881. 


Inhalt:  Monuments  Öerraaniae  historica:  Scriptorum 
torn.  UV.  Von  0.  Watit.  —  M.  Cohn,  Beitrage  «nr  Bearbeitung 
des  römischen  Rechts.  Bd.  I.  Von  E.  Holder.  —  W.  Roeder,  Bei- 
trage zur  Erklärung  und  Kritik  des  Isaios.    Von  F.  Bloss. 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  Terboten  a 


Monuments  Germaniae  historica  inde  ab 
anno  Christi  quingentesimo  usque  ad  annum  millesi- 
mum  et  quingentesimum  edidit  societas  aperiendis  fon- 
tibus  rerum  Germanicarum  medii  aevi.  Scriptorum 
t  o  m  u  8  XXV.  Hanno verae  impensis  bibliopolii  Hah- 
niani  1880.    VIII  und  958  Seiten  in  Folio. 

Ein  Bericht  über  diesen  neuen  Band  der 
Scriptores,  den  ich  in  gewohnter  Weise  hier  ab- 
zustatten habe,  muß  mit  dem  wiederholten  Aus- 
druck schmerzlichsten  Bedauerns  beginnen,  daß 
derjenige,  der  einen  so  wesentlichen  Antheil  an 
der  Bearbeitung  desselben  gehabt,  von  dessen 
mehrjähriger  wissenschaftlicher  Thätigkeit  die 
bedeutendsten  Früchte  hier  erst  ans  Licht  tre- 
ten, der  Dr.  Joh.  Heller,  das  Erscheinen  des 
Bandes  nicht  mehr  erlebt  hat,  indem  er  wohl 
noch  bis  auf  die  letzten  Seiten  hin  mit  demsel- 
ben beschäftigt  war,  aber,  wie  er  einer  hoff- 
nungsreichen Laufbahn  früh  entrissen  ward,  so 
auch  nicht  einmal  die  Genugthuung  hatte,  diese 
wichtigen   Beiträge  zu   dem    großen  nationalen 

15 


?26  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stuck  8. 

Werk  den  freunden  Deutscher  Geschichte  selbst 
vorlegen  zu  können.  Sie  beziehen  sieh,  ebenso 
wie  die  Arbeiten  im  vorhergehenden  Bande,  alle 
auf  das  Gebiet  des  jetzigen  Belgien,  mit  dessen 
historischen  Quellen  wie  mit  den  lebenden  For- 
schern er  während  eines  längeren  Aufenthalts 
im  Lande  sich  auf  das  beste  bekannt  gemacht 
hatte:  des  Aegidius  Gesta  episcoporum  Leodien- 
sium,  mehrere  Genealogiae  ducum  Brabantiae, 
die  dem  Batduin  von  Avesne  zugeschriebene 
Chronik  von  Hennegau,  das  Ghronicon  des  Gen- 
ter Johannes  de  Thilrode. 

Die  große  Zahl  der  gerade  diesen  Grenzge- 
bieten des  Deutschen  Reiches  angehörigen  hi- 
storischen Werke  hat  es  freilich  nöthig  gemacht 
eine  Theilung  vorzunehmen:  die  Chronik  des 
Qalduin  von  Ninove  und  das  umfangreiche  Werk 
des  Johann  Lange  von  Ypern,  das  an  die  Ge- 
schichte des  Klosters  St.  Bertin  anknüpft,  hat 
Dr.  Holder-Egger  bearbeitet;  von  mir  sind  die 
Gesta  der  Aebte  des  Klosters  Villers  in  der 
Nähe  von  Brüssel  übernommen,  aber  auf  Grund 
von  CoUatiojoen,  die  auch  großenteils  Heller 
gemacht  hatte» 

Andere  Mitarbeiter  an  diesem  Bande  sind 
Professor  Wattenbach  und  Archivrath  Reimer  in 
Marburg;  eia  Stück  war  noch  von  dem  verstor- 
benen L.  Bethmann  zor  Ausgabe  vorbereitet, 
bedurfte  aber  nach  Veriajif  längerer  Jahre  einer 
Ergänzung.    Das  Uebrige  ist  von  mir  geliefert 

Der  Zweck  des  Bundes  war,  nachdem  der 
24.  hauptsächlich  Ergänzungen  und  Nachträge 
zq  den  von  16—23  publieierten  Geschichtschrei- 
bern des  12.  und  13.  Jahrhunderts  gebracht  und 
die  Ijteihe  der  kleineren  Welt-Chroniken  bis  zum 
Schluß  dieses  hinabgeführt  hatte,  die  größeren 
Werke  hauptsächlich   ans  dem  Gebiet  der  Pro- 


Monumenta  Germaniae  hist.   Scriptor.   T.  XXV.    227 

rinzialgeschichte  in  Anschluß  an  Band  23  bis 
zum  Ende  des  13.  Jahrhunderts  zu  bringen. 
Doch  ist  diese  Grenze,  auch  abgesehen  von  spä- 
ter hinzugefügten  Fortsetzungen  älterer  Werke, 
ein  paar  Mal  überschritten,  beim  Johann  Lange, 
wenn  wir  auf  die  Abfassungszeit  sehen,  die  erst 
in  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  fällt,  die  aber 
hier  nicht  maßgebend  sein  konnte,  da  die  Dar- 
stellung schon  mit  dem  J.  1294  abbricht,  so- 
dann bei  der  Fortsetzung  der  Eicbstedter  Bi- 
8chofsgeschichte,  von  der  nur  ein  sehr  kleiner 
Theil  ins  13.  Jahrb.  fällt,  aber  dieser  doch  auch 
innerhalb  desselben  geschrieben  ist,  den  Krems- 
mttnsterer  Geschichtsquellen,  von  denen  die  um- 
fangreichsten erst  den  20er  Jahren  des  14.  Jahrb. 
angehören,  aber  sich  vorzugsweise  mit  der  frühe- 
ren Geschichte  des  Klosters,  der  Bischöfe  von 
Pas8an,  der  Herzoge  von  Baiern  und  Oester- 
reich  beschäftigen  und  mit  älteren  Aufzeichnun- 
gen so  nahe  zusammenhängen,  daß  eine  Tren- 
nung nicht  wohl  möglich  war.  Auch  die  beiden 
Werke  des  Sifrid  von  Ballbausen  (Sifridus  pres- 
byter, wie  er  früher  meist  genannt  wurde)  sind 
erst  1304,  resp.  1307  gesehrieben;  aber  nur  die 
letzten  drei  Seiten  geben  Aber  das  Jahr  1300 
hinaus,  und  scharf  nach  den  Jahrhunderten 
lassen  sich  überhaupt  die  Grenzen  einmal  nicht 
ziehen.  Dies  Werk  hätte  allenfalls  auch  schon 
den  kleineren  Ohroniken  des  24.  Bandes  ange- 
reiht werden  können;  da  das  nicht  geschehen, 
fand  es  passend  hier  seinen  Platz. 

Diese  vorläufigen  Bemerkungen  zeigen  schon, 
daß  die  verschiedenen  Theile  des  Reichs  Ver- 
treter gefunden  haben:  nur  Schwaben  fällt  dies* 
mal  ganz  aus.  Dagegen  lieferte  Oberlothringen 
das  umfassende  Werk  des  Richer  von  Senonnes, 
das  auch   für  die  Geschichte  des  Elsasses  eine 

15* 


228  Gott,  gel.  Aue.  1881.  Stück  8. 

erhebliche  Wichtigkeit  hat ;  dem  Rheingebiet 
gehören  das  Buch  des  Christian  von  Mainz  über 
sein  Erzstift  und  die  Fragmente  der  metrischen 
Chronik  von  Köln  an;  Baiern  die  jüngere 
Ebersberger  Chronik,  und  die  Passauer  Bischofs- 
geschichten, Oesterreich  außer  den  Kremsmün- 
sterer  Sachen  eine  freilich  nicht  sehr  werthvolle 
Chronik  in  Versen,  Franken  die  Eichstedter  Bi- 
schofsgeschichte, Thüringen  die  Werke  des  Si- 
frid  und  eine  kurze  Geschichte  Ilfelds  und  der 
Hohnsteiner  Grafen,  Sachsen  die  Fortsetzung 
der  Geschichte  von  Kloster  Steterburg  und  Auf- 
zeichnungen über  mehrere  Lübecker  Bischöfe, 
endlich  Friesland  die  Geschichte  des  Klosters 
Bastede  mit  den  wichtigen  Nachrichten  über 
die  Kämpfe  gegen  die  Stedinger  und  über  die 
Oldenburger  Grafen. 

Eine  der  umfangreichsten  von  diesen  Publi- 
cationen  ist  das  Werk  des  Aegidius  von  Orval 
über  die  Lütticher  Bischöfe  mit  verschiedenen 
Anhängen.  Ein  glücklicher  Zufall  wollte,  daß, 
gerade  als  diese  Ausgabe  vorbereitet  werden 
sollte,  die  lange  verschollene  Originalhandschrift, 
welche  Chapeaville  benutzt,  in  der  Seminar- 
bibliothek zu  Luxemburg  wieder  auftauchte, 
aus  der  sie  zweimal  mit  großer  Liberalität  uns 
zur  Benutzung  erst  nach  Göttingen,  dann  hier 
nach  Berlin  übersandt  worden  ist  Dadurch 
ward  es  Dr.  Heller  möglich,  sie  mit  größter 
Sorgfalt  zu  untersuchen  und  zu  vergleichen,  die 
veschiedenen  im  Lauf  der  Zeit  gemachten  Ein- 
tragungen, von  denen  das  beigefügte  Facsimile 
eine  Vorstellung  giebt,  genau  zu  unterscheiden, 
so  über  die  Entstehung  und  Beschaffenheit  des 
Werkes  nähere  Auskunft  zu  geben.  Dasselbe 
trägt  ja  wesentlich  den  Charakter  einer  Compi 
lation   an  sich;  auf  dem  Grunde   des   Heriger 


Monumenta  Germaniae  hist.   Scriptor.    T.  XXV.     229 


Anselm  entworfen,  hat  er  diese  mit  mannig- 
fachen Znsätzen  versehen  und  mit  Hülfe  ver- 
schiedenen Materials  fortgesetzt.  Eine  Frage, 
welche  der  Kritik  manche  Schwierigkeiten 
macht,  war  das  Verhältnis  zn  dem  Texte  des 
Anselm.  Köpke  in  seiner  Ausgabe  dieses 
(SS.  VII)  hat  wohl  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  es  auch  noch  eine  weitere  handschriftliche 
Ueberlieferung  für  die  Fassung  giebt,  welcher 
Aegidius  folgt,  begnügt  sich  aber  diesen  Text 
als  verkürzt  und  entstellt  (recisum  et  fucatum) 
zu  bezeichnen.  Dies  ist  in  der  That  wenig  zu- 
treffend; ebenso  oft  wie  verkürzt  ist  er  auch 
erweitert,  und  entstellt  kann  man  ihn  nur  inso- 
fern nennen,  als  sich  mehrfach  eine  andere  Auf- 
fassung der  Dinge,  namentlich  eine  viel  feind- 
lichere Gesinnung  gegen  Heinrich  III.  in  dem- 
selben ausspricht.  Heller  hatte  sich  vorbehalten, 
unter  Benutzung  des  Codex  Nr.  178  (durch  Irr- 
tham,  der  auch  in  den  Nachträgen  nicht  be- 
richtigt worden  ist,  steht  S.  5:  187)  der  Lütti- 
cher  Bibliothek;,  der  auch  bereitwillig  hierher 
mitgetheilt  ward,  eine  nähere  Untersuchung  der 
Sache  im  N.  Archiv  zu  geben,  auch  nach  mei- 
nem Wunsch  die  wichtigsten  Stellen  als  Nach- 
trag zur  Ausgabe  des  Anselm  in  SS.  XIV  zu 
veröffentlichen.  Mit  Bücksicht  darauf  ist  im 
Aegid  alles  was  aus  dieser  Bearbeitung  des  An- 
selm stammt,  auch  wo  es  von  dem  gedruckten 
Text  erheblich  abweicht,  als  abgeleitet  gleich- 
mäßig mit  Petitschrift  gedruckt.  Es  muß  bei 
dieser  Gelegenheit  aber  daran  erinnert  werden, 
daß  die  Ausgabe  des  Anselm  auch  sonst  manche 
Mängel  hat,  indem  die  benutzten,  verhältnis- 
mäßig alten  Handschriften  wesentliche  Verbes- 
serungen durch  die  später  aufgefundene  im  Klo- 
ster  Averboden   erhalten;    auch    unangenehme 


230  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  8. 

Druckfehler  finden  sich  hier  mehr,  als  man  es 
sonst  in  den  Monumenta  gewohnt  ist. 

An  den  Text  des  Aegidius  sehließen  sich 
Auszüge  aus  einem  kürzeren  Werke  (Gesta 
abbreviata  S.  129 — 135),  das  mit  ihm  in  nahem 
Zusammenbange  steht,  vielleicht  ihm  selbst  zu- 
geschrieben werden  muß:  es  stimmt  zum  Theil 
mit  der  ursprünglichen,  später  von  dem  Autor 
geänderten  Fassung  überein,  hat  aber  auch  Zu- 
sätze. Zunächst  nur  diese  haben  Aufnahme  ge- 
funden; sie  sind,  wie  Heller  meint,  großenteils 
aus  einer  uns  verlorenen  annalistischen  Quelle 
des  Aegidius  genommen ;  anderes  betraf  die  An- 
fänge Lüttichs,  ist  hier  aber  als  'nimis  fabulo- 
sum'  weggelassen,  was  ick  jetzt  bedaure,  da 
doch  auch  die  Sagen  oder  Erdichtungen  des 
Mittelalters  über  die  ältere  Geschichte  ein  ge- 
wisses: Interesse  haben. 

Weiter  folgt  die  Vita  des  Bischofs  Albert 
von  Ltitticb  (S.  135—168),  die  Aegid  fast  voll- 
ständig seiner  Compilation  einverleibt  hat,  die 
hier  aber  zuerst  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt 
veröffentlicht  wird  aus  einer  Brüsseler  Hand- 
schrift, die  früher  Arndt  an  Ort  und  Stelle,  dann 
Heller  nochmals  hier  benutzen  konnte.  Als  Ver- 
fasser wird  der  Abt  Werrkus  von  Lobbes  mit 
wenigstens  sehr  großer  Wahrscheinlichkeit  er- 
mittelt. —  Auch  die  Vita  der  b.  Odilia  war 
eine  wichtige  Quelle  Aegids  für  die  Geschichte 
des  13.  Jahrhunderts.  Von  ihr  bat  sich  aber 
nur  das  dritte  Buch,  da»  auch  als  Triumpfans 
S.  Lamberti  in  Steppes  bezeichnet  wird  and 
sieh  speciell  mit  dem-  Kampf  Lütticbs  gegen 
Herzog  Heinrieb  von  Brabant  im  J.  1213  be- 
schäftigt, in  ursprünglicher  Fassung  Erhalten, 
wie  dieselbe  Cbapeaviile  au»  einem  jetzt  ves~ 
schollenen  Codex  herausgegeben  hat;   eine  Rö- 


Monumenta  Germaniae  hist.    Scriptor.    T.  XXV.    231 

mische  Handschrift  des  17.  Jahrhübderts  ehthält 
eine  moderne  Ueberatbeitung  and  gewährte  der 
Ausgabe  (S.  169—191)  wenig  Nützen.  Hellet 
erklärt  sich  gegen  die  Vermuthung  Scheffel 
Boicborsts,  daft  das  von  Albricus  angeführte 
Werk  eines  Hirnardus  hiermit  identisch  sei. 

Unter  der  Ueberschrift  Monumenta  historiad 
Villariensis  (S.  192—235)  sind  mehrere  auf  dad 
Kloster  bezügliche  Werkö  vereinigt,  eine  Chro: 
nik  oder  Geschichte  desselben  —  1250,  von 
anderen  fortgesetzt  und  so  bis  zum  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  geführt,  dann  Auszüge  auö 
einem  Bach  'Gestasatitttörum  Villarienfeium',  dad 
in  zwei  Recensionen  vorliegt  und  zum  Theil 
mit  Benutzung  älterer  Schriften  über  einzeln^ 
bedeutendere  Angehörige  des  Klosters  verfaßt 
ist  Eitie  ganze  Reihe  meist  aber  neuerer  Hand- 
schriften ist  in  Belgiöti,  Paris  und  London  vol" 
handen,  die  maünigfache  Verbesserungen  ztf 
der  früheren  Ausgabe  Marlenes  möglich  machten; 

Christians  ton  Mainz  ( Lib  er  dfe  calamitate 
ecclesiae  Moguntinäe'  (S.  236—248)  idt  aucH 
nur  in  neueren  Handschriften  erhalten,  von  de- 
nen Jaffa  für  seine  Ausgabe  iü  den  Monuments 
Mogttatina  (Bibl.  Ill)  eine  Würzburger  und 
Frankfurter  benutefe.  Dazu  brachte  HÖirndf 
selbst  eine  zweite  Würzburger  und  eine  Main- 
zer berbei;  diö  Monumenta  besaßeti  seit  länge- 
rer Zeit  die  Collatioti  dner  stark  abweichenden 
in  Upsala,  die  aller  ab  die  Übrigen  (im  J.  1458 
im  Mainz  geschrieben)  besondere  Berücksichti- 
gung zu  fordern  ö6hieü,  bis  in  letzter  Stunde 
noch  glückliche*  Weite  in  Cheltenham  von  Dr. 
LiebermanA  die  Abschrift  aufgefunden  ward, 
welehfc  Treffler  aus  eiüem  Sponheimer  Codex 
gemacht,  dettä  VWgTeichung  gefälligst  von 
Hofr.  Prof.  M*a&6n  iü  Wien  beäotgt,  dann  kei- 


232  Gott.  gel.  Anz.  1681.  Stück  8. 

neu  Zweifel  ließ,  daß  diese  der  neuen  Ausgabe 
zu  gründe  gelegt  werden  müsse,  durch  welche 
nun  alle  früheren  als  ungenügend  beseitigt 
werden. 

Von  dem  umfassenden  Werk  des  Rieh  er  us 
über  die  Geschichte  seines  Klosters  Senonnes  in 
den  Vogesen  (S.  249—345)  befindet  sich  die 
Originalhandschrift  in  Paris,  die  ich  hier  mit 
voller  Freiheit  benutzen  konnte,  um  zum  ersten 
Mal  einen  ganz  vollständigen  und  correcten 
Text  zu  geben.  Dachery  hatte  nur  die  Ab- 
schrift einer  Handschrift  des  16.  Jahrhunderts 
benutzen  können,  aber  auch  ziemich  große  Stücke 
ganz  weggelassen,  die  allerdings  durch  ihren 
Inhalt  nicht  gerade  geeignet  waren  für  den 
Autor  einzunehmen,  die  aber  doch  zur  Beurthei- 
lung  desselben  kaum  entbehrt  werden  können : 
nur  einiges  davon  ist  neuerdings  zugleich  mit 
einer  älteren  französischen  Uebersetzung  ge- 
druckt worden  (1842),  ein  Buch,  das  freilich  in 
zwei  Exemplaren  auf  der  hiesigen  Bibliothek 
vorhanden,  aber  sonst  schwerlich  weit  verbreitet 
ist.  Dasselbe  bringt  auch  Auszüge  aus  Auf- 
zeichnungen, welche  einem  Errard,  Kämmerer 
des  Herzogs  Theobald  (Thiebaut)  von  Ober- 
lothringen zugeschrieben  werden  und  in  altfran 
zösischer  Uebersetzung  vorliegen  sollen:  ich 
verkenne  nicht,  daß  ihre  Genuität  zu  einigen 
Zweifeln  Anlaß  geben  könnte,  habe  aber  doch 
geglaubt  die  nicht  uninteressanten  Nachrichten 
in  den  Koten  mittheilen  zu  sollen;  eine  voll- 
ständige Ausgabe  wäre  jedenfalls  erwünscht, 
um  den  Werth  der  Ueberlieferung  eingehender 
prüfen  zu  können.  Daß  Richers  Buch  bei  man- 
chem Unrichtigen  und  Unnützen  (das  mit  klei- 
ner Schrift  gedruckt  ward)  auch  wesentliche 
Beiträge  zur  Geschichte  des  13.  Jahrb.  enthält, 


Monumenta  Germaniae  bist.    Scriptor.    T.  XXV.    233 

ist  bekannt  genug  und  neuerdings  noch  beson- 
dere mit  Rücksicht  auf  die  Geschichte  des  El- 
sasses hervorgehoben  worden.  —  Als  Anbang 
ist  die  in  Hexametern  geschriebene  ältere  Vita 
des  Abts  Antonius  beigefügt  (S.  345—348),  die 
in  demselben  Codex  steht,  bisher  nur  einmal 
und  nicht  ohne  Fehler  gedruckt  war. 

An  die  ganz  entgegengesetzte  Seite  des 
Reichs  führt  das  Chronicon  rhythmicum  Austria- 
cum,  das  Wattenbach  nach  zwei  Handschriften 
der  Wiener  Bibliothek  bearbeitet  hat  (S.  349  — 
368).  Das  Fragment  einer  dritten  älteren  Hand- 
schrift in  Kloster-Neuburg,  das  Pez  herausge- 
geben, Pertz  wieder  abgeschrieben,  war  tiber- 
sehen, da  es  sich  unter  einem  ganz  anderen 
irreführendem  Titel  in  unseren  Sammlungen 
befand;  in  Nachtrag  (S.  873)  konnten  daraus 
einige  Verbesserungen  des  sehr  corrupten  Textes 
gegeben  werden.  Um  die  Beseitigung  zahlrei- 
cher Schäden,  die  den  Text  oft  fast  ganz  un- 
verständlich machen,  hat  sich  Wattenbach  sehr 
verdient  gemacht;  einiges  steuerten  Dr.  Holder- 
Egger  und  ich  bei.  Leider  ist  der  Inhalt  kaum 
der  aufgewandten  Mühe  werth,  da  es  zum  gro- 
ßen Theil  unhistorische  oder  doch  verwirrte 
Nachrichten  sind,  die  der  Verf.  in  schlechte 
Verse  brachte.  Doch  enthalten  sie  immer  einzel- 
nes von  Interesse,  wie  gleich  zu  Anfang  die 
sagenhafte  Darstellung  von  Friedrich  I.  Wahl, 
später  einiges  zur  Geschichte  Oesterreichs  und 
Ungarns. 

In  höherem  Grade  ist  das  der  Fall  bei  dem 
Gedicht  eines  Eheinländers,  oder  wie  ich  glaube 
bestimmter  sagen  zu  können,  eines  Kölners,  des- 
sen Fragmente  aus  einer  hiesigen  Handschrift 
Pertz  im  J.  1855  herausgab,  worauf  zwei  Jahre 
später    andere    aus    dem    Nachlaß   Kindlingers 


284  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  8. 

von  Deycks  veröffentlicht  wurden.  Beide  sind 
hier  jetzt  vereinigt  (S.  369—380),  dann  auch 
in  der  Octavausgabe  der  Chronica  regia  Colo- 
niensis  wieder  abgedruckt.  Gab  die  wiederholte 
Vergleichung  der  Berliner  Fragmente  immer  ein- 
zelne Verbesserungen,  so  war  das  in  höherem 
Maße  bei  den  jetzt  im  Düsseldorfer  Staatsarchiv 
bewahrten  beiden  Blättern  der  Fall,  die  uns  ge- 
fällig zugesandt  wurden.  Allerdings  ist  die  Be- 
schaffenheit aller  der  Art,  daß  die  Entzifferung 
oft  mit  den  größten  Schwierigkeiten  verbunden 
ist,  wo  dann  das  geübte  Auge  Wattenbachs  oft 
erwünschte  Hülfe  gewährte.  Manches  hat  aber 
das  Messer  des  Buchbinders  für  immer  zerstört. 
Und  alles  sind  Fragmente,  die  des  rechten 
Zusammenhangs  entbehren,  auch  nicht  überall 
ganz  verständlich  sind,  die  aber  doch  nicht  das 
ungünstige  Urtbeil  verdienen,  das  Cafdaüns  über 
sie  ausgesprochen  hat,  und  von  denen  man  im- 
mer wünschen  mag,  daß  ein  weiterer  glücklicher 
Zufall  sie  ergänze. 

Es  folgt  eine  kurze  Genealogie  der  Nach- 
kommen des  h.  Arnulf,  <L  h.  der  Lothringischen 
Familien,  die  sich  Earelragischer  Abkunft  rühm- 
ten, von  Heller  nach  einer  Pariser  Handschrift 
mitgetheilt  (S.  381—384).  Und  daran  scbliessett 
sich  unmittelbar  (S.  385— -413)  verschiedene,  un- 
ter sich  zusammenhängende  Genealogien  des 
Brabanter  Herzogshauses,  drei  in  Prosa  (die 
eine  nennt  sich  Chronica),  eine  in  Versen,  ans 
Handschriften  in  Paris,  Brüssel,  Lüttich,  Coblenz, 
Wien.  Gab  die  Untersuchung  dieser  sowie  der 
Nachweis  der  Quellen  hier  zu  mancher  müh-' 
same ii  Arbeit  den  Anlaß,  so  w$r  das  im  noch 
höherem  Grade  der  Fall  bei  der  Henneganer 
Chronik,  die  mit  dem  Namen  de*  Grafen  Bai- 
duin  von  Avesnes  in  Verbindung  gebracht  wird 


Monument*  Germaoiae  hist.   Scriptor.   T.  XXV.    286 

und  die  in  doppelter  Französischer  Bearbeitung:, 
tbeilweise  in  einer  Lateinischen  Redaction  una 
außerdem  in  späterer  bald  abgekürzter,  bald 
vermehrter  Fassung  vorliegt.  Heller  hat  sich 
bald  überzeugt,  daß  nicht  der  Lateinische,  son- 
dern der  Französische  Text  das  Original,  dies 
aber  zu  einem  großen  Theil  auch  nur  Com- 
pilation aus  andern  Quellen  sei ,  von  denen 
jedoch  manche  nicht  erhalten  sind.  So  galt 
es  aus  dem  voluminösen  Werk  das  Wertbvolle 
auszusondern  und  zum  Abdruck  zu  bringen :  von 
den  ersten  80  Gapiteln  sind  nur  2  raitgetheilt, 
auch  später  konnten  große  Massen  (86—127. 
132—151.  173—191  und  mehrere  andere)  über- 
gangen werden.  Der  Umfang  schmolz  derge- 
stalt sehr  zusammen  (S.  414—467);  fast  am 
wichtigsten  sind  die  Genealogien,  welche  der 
Autor  bei  einer  zweiten  Recension  erbeblich  er- 
weitert hat.  Fällt  die  erste  zwischen  1278 — 
1281,  so  diese  noch  vor  1284.  Daß  der  Graf 
Balduin  zu  der  Arbeit  Ailaß  und  zum  Theil 
auch  den  Stoff  gegeben  hat,  ist  einer  alten 
Ueberlieferung  naeb  durchaus  wahrscheinlich, 
ihn  geradezu  als  Verfasser  va  bezeichnen,  aber 
nicht  zulässig,  da  die.  Handschriften  des  ur- 
sprünglichen Werkes  davon  schweigen.  Die 
drei  wichtigsten  befinden  sich  in  Paris,  eine  in 
München,  und  konnten  von  Heller  sorgfältig  be- 
nutzt werden.  Mit  besonderer  Anerkennung  ist 
hervorzuheben,  daß»  der  verdiente  Brüsseler  Ge- 
lehrte Kervyn  de  Lettenhove,  der  eine  vollstän- 
dige Ausgabe  vorbereitet,  die  fertigen  Druck- 
bogen derselben  gefälligst  zur  Verfügung  stellte. 
Ein  wesentlich  anderes  Gebiet  betreten  wir 
in  der  'Chronica  principum  Saxoniae',  obschon 
auch  hier  das  im  13.  Jahrh.  lebhaft  erweckte 
Interesse,  an  Genealogien  der  Fürstenhäuser  daa 


236  Gott.  gel.  Ans.  Iö81.  8ttick  8. 

vorherrschende  ist.  rf>.  Holder-Egger  hat  den 
zuerst  von  Heineinann  benutzten  Goslarer  Codex 
hier  vergleichen  können ,  dazu  das  Excerpt 
einer  neueren  Handschrift  im  Berliner  Archiv 
gefügt,  das  sich  auf  den  die  Brandenburger 
Markgrafen  beziehenden  Theil  beschränkt  und 
einiges  aus  einer  verlorenen  Brandenburger  Bi- 
schofschronik einschaltet.  Daran  reiht  sich  was 
an  älteren  Nachrichten  über  Brandenburg  theiis 
in  der  Goslarer  Handschrift,  theiis  sonst  erhal- 
ten ist,  namentlich  auch  der  Bericht  des  Hein- 
ricus  de  Antwerpe  über  die  Erwerbung  der 
Stadt  durch  Albrecht  den  Bären,  endlich  aus 
jenem  Codex  auch  einzelne  Nachrichten,  die 
sich  auf  Magdeburg  beziehen  (S.  468 — 486). 
Leider  scheint  ja  keine  Hoffnung,  daß  die  Chro- 
niken der  Mark  und  des  Bisthums  Branden- 
burg, welche  hier  excerpiert  sind  und  die  auch 
der  Böhme  Pulcawa  benutzte,  wieder  vollständig 
zu  Tage  kommen. 

Eine  eigentliche  Bischofegeschichte  Lübecks 
ist  erst  im  15*  Jahrh.  geschrieben  und  konnte 
hier  nicht  in  Betracht  kommen.  Aber  Aufzeich- 
nungen über  einzelne  Bischöfe  sind  einem  alten 
Registrum  des  Bisthums  einverleibt,  die  nach 
der  Ausgabe  von  Lappenberg  und  Leverkus 
hier  aus  dem  Codex  des  Oldenburger  Staats- 
archivs Aufnahme  gefunden  haben  (S.  487—494). 
Außer  Nachrichten  über  Erwerbungen  des  Stifts 
betreffen  sie  besonders  die  Verhältnisse  zu  den 
Grafen  von  Holstein  und  den  Rittern  des  Landes. 

Viel  inhaltsreicher  und  historisch  interessan- 
ter ist  die  Geschichte  des  Klosters  Rastede 
(S.  494 — 514),  die  auch  zuerst  Lappenberg  her- 
ausgegeben hat,  für  die  aber  der  ebenfalls  im 
Oldenburger  Archiv  bewahrte  und  gefalligst 
hierher  gesandte  Codex   doch  manche  Verbesse- 


Monumenta  Germauiae  hist.    Scriptor.   T.  XXV.    237 

nragen  ergab.  Aach  einiges  andere  was  der- 
selbe zur  Geschichte  des  Klosters  und  indirect 
der  Oldenburger  Grafen  darbot  ist  hinzugefügt 
worden.  Für  die  Erläuterung  einzelner  Stellen 
gewährten  neuere  Arbeiten  von  Schumacher, 
Wilmans,  Krause,  Bippen  manches  erwünschte 
Material  zu  dem  was  Lappenberg  und  Ehren- 
traut  früher  gegeben. 

Balduin  Ganonicus  in  dem  Belgischen  Klo« 
sterNinove  unternahm  es  eine  allgemeine  Chro- 
nik von  Christi  Geburt  an  zu  schreiben ,  ver- 
band aber  damit  eine  Geschichte  seines  Stifts 
nod  nahm  außerdem  besondere  Rücksicht  auf 
Flandern  und  die  benachbarten  Gebiete,  über 
welche  er  auch  schon  in  älterer  Zeit  und  na- 
mentlich seit  den  12.  Jahrh.  manches  Eigen- 
tümliche zu  berichten  wußte.  Was  so  irgend 
von  Bedeutung  erschien  hat  Dr.  Holder-Egger 
ausgehoben  und  einiges  andere  hinzugefügt,  was 
die  gleichzeitige  Handschrift  in  Gent,  welche 
Prof.  Arndt  verglichen,  an  weiteren  Aufzeich- 
nungen enthält,  dazu  noch  einige  Stücke,  die 
sich  auf  die  Geschichte  des  Klosters  beziehen 
aus  einem  Codex  im  Brittischen  Museum  und 
aus  älteren  Drucken  von  Miraeus  (S.  515—556). 

Daran  reiht  sich  (S.  557— 584)  die  fast 
gleichzeitige  Compilation  des  Johannes  de  Thil- 
rode,  Mönchs  im  Kloster  St.  Bavon  zu  Gent, 
dessen  Originalhandschrift  Heller  hier  benutzen 
durfte.  Die  Päpste,  die  Aebte  des  Klosters,  die 
Bischöfe  von  Noyon  und  Tournai,  die  Herzoge 
von  Brabant,  die  Grafen  von  Flandern  werden 
der  Bei  he  nach  behandelt,  dazwischen  über  ein- 
zelne Ereignisse  etwas  ausführlicher  gesprochen. 
Beigegeben  sind  einige  auf  Gent  bezügliche  No- 
tizen aus  einer  Brüsseler  Handschrift  (S.  584 — 
686). 


238  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  8. 

Sehr  kurz  (S.  587—589),  am  Schluß  leider 
unvollständig  ist  die  Geschichte  des  Klosters  II- 
feld  you  Johannes  Caput  (Haupt).  Eine  Hand- 
schrift im  Archiv  des  Grafen  Stolberg-Stolberg, 
die  uns  bereitwillig  ttbersandt  ward,  geht  etwas 
weiter  als  der  Druck  den  Förstemann  besorgte, 
aber  bricht  mit  dem  Schluß  einer  Lage  in  der 
Mitte  der  Geschichte  des  Abtes  Johannes  ab« 
Erkundigungen  in  Ilfeld,  Hannover,  Rudolstadt 
haben  kein  weiteres  Exemplar  zu  Tage  ge- 
fordert 

Der  neuen  Ausgabe  der  späteren  Gesta  episco- 
porum  Eichstetensium  (S.  590 — 609)  liegt  die 
Abschrift  zu  gründe,  welche  vor  einer  Reihe 
von  Jahren  aus  dem  Original  des  Domcapitels 
zu  Eichstedt  Betbmann  machte.  Seitdem  ist 
in  einem  Festprogramm,  das  jedenfalls  nur 
geringe  Verbreitung  erhalten  hat.  ein  Abdruck 
erfolgt  (1867),  der  zur  Vergleicnung  herange- 
zogen ward.  Für  die  Nachrichten  über  die  Er- 
werbungen, resp.  Verpfändungen  und  Wieder- 
einlösung von  Gütern  sind  die  Urkunden,  soweit 
sie  gedruckt  oder  doch  in  den  Regesta  Boica 
verzeichnet,  nachgewiesen,  for  Bestimmung  der 
Ortsnamen  die  neueren  Werke  Aber  die  Ge- 
schichte des  Bisthums  benutzt. 

Viel  mehr  Mühe  machten  die  (S.  610-678) 
vereinigten  'Historiae  Patavienses  et  Cremifanen- 
ses',  zumal  die  letzte  Ausgabe  von  Loserth  sieh 
in  jeder  Weise  als  ungenügend  erwies.  Einmal 
galt  es  ältere  Passauer  Aufzeichnungen  von 
den  Eremsmünsterern  zu  unterscheiden ;  sie  ver- 
binden mit  einem  Katalog  der  Bischöfe  einen 
solchen  auch  der  Bairiscfaen  Herzoge  und  ge- 
hören noch  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  an; 
Handschriften  in  Klosterneuburg,  Matsee,  Mün- 
chen,  die   großenteils  hier   zur   Hand  waren, 


Monument*  Germanise  hist.   Scriptor.   T.  XXV.    239 

machten  es  nröglieh,  den  ursprünglichen  Text 
und  spätere  Zusätze  und  Umgestaltungen  ge- 
nau darzulegen;  wobei  sieb  denn  freilieb  her- 
ausstellte, wie  beinahe  unbegreiflich  fehlerhaft 
namentlich  die  Reihenfolge  der  Herzoge  ist. 
Diese  Aufzeichnungen  wurden  auch  in  Krems- 
münster  abgesehrieben,  zugleich  aber  mit  zahl- 
reichen Veränderungen,  Zusätzen  und  einer  Fort- 
setzung versehen,  und  dem  eine  ähnliche  Ge- 
schichte des  Klosters  hinzugefügt :  in  dieser  Ge- 
stalt liegt  die  Arbeit  in  einer  jetzt  Wiener  Hand- 
schrift vor,  in  der  verschiedene  Hände  thätig  ge- 
wesen sind.  Aber  auch  eine  neue  Abschrift 
oder  Redaction  ward  in  dem  Kloster  vorgenom- 
men, die  sich  in  einer  andern  jetzt  noch  daselbst 
bewahrten  Handschrift  befindet.  Beide  wurden 
gefälligst  der  hiesigen  königlichen  Bibliothek 
ttbersandt  und  konnten  längere  Zeit  eingebend 
untersucht,  verglichen  oder  abgeschrieben  wer- 
den. Die  beigefügte  Schrifttafel  zeigt,  daß  das 
keine  bequeme  Arbeit  war;  es  gab  Stellen,  die 
immer  wiederholt  betrachtet  werden  mußten, 
und  es  mag  das  einigermaßen  als  Entschuldi- 
gung dienen,  wenn  die  früheren  Drucke  vielfach 
so  fehlerhaft  ausgefallen  sind.  Zum  Theil  las- 
sen sieh  dieselben  Hände  in  beiden  Codices  er- 
kennen; es  i*t  auch  klar,  daß  der  eine  in  dem 
andern:  benutzt,  ausgesehrieben  worden  ist,  und 
iwar  fto>  daft  das  Verhältnis  wechselt,  nament- 
lich die  Randzusätze  bald  hier  bald  dort  als 
älter  oder  ursprünglicher  erscheinen,  ohne  daft 
es  doch  möglich  war  in  dieser  Beziehung  überall 
zu  einem  ganz  sicheren  Ergebnis  zu  gelangen. 
Ueber  dies  Verhältnis  und  die  etwaigen  Verfas- 
ser habe,  ich  i*.  einem  besonderen  Aufsatz  (For- 
schungen z.  D.  G.  XX)  gehandelt  und  mich  be- 
gnügt in  der  Ausgabe  selbst  die  Resultate  kür- 


240  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  8. 

zer  anzugeben,  wonach  kein  Grund  ist,  einen 
Kellermeister  Sigmar  als  bei  der  Niederschrift 
betheiligf  anzusehen,  die  Angabe  aber,  daß  ein 
Bernard  Verfasser  dessen  sei,  was  in  dem  zweiten, 
etwas  jüngeren  Codex  sich  findet,  alle  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich  hat;  die  Bezeichnung  als 
Noricus,  welche  Aventin  ihm  giebt,  drückt  nicht 
sowohl  einen  Beinamen  als  nur  allgemein  die 
Herkunft  aus.  Von  demselben  Verfasser  ist 
auch  ein  'Liber  de  origine  et  ruina  monasterii 
Cremifanensis,,  der  freilich  ebenso  wie  die  son- 
stigen Aufzeichnungen,  nicht  wenige  fabelhafte 
Nachrichten  enthält,  daneben  stellenweise  etwas 
breite  kirchenrechtliche  Deductionen,  aber  auch 
manches  Interessante,  und  der  lebendig  und  gut 
geschrieben  nicht  mit  Unrecht  zu  den  besseren 
historischen  Arbeiten  aus  dem  Anfang  des  14. 
Jahrh.,  dem  er  angehört,  gerechnet  worden  ist. 

Von  der  *  Historia  universalis'  des  Sifrid  von 
Ballhausen  befindet  sich  der  früher  nicht  be- 
nutzte Originaltext  in  der  Universitätsbibliothek 
zu  Erlangen;  die  etwas  spätere  Bearbeitung 
der  Universalgeschichte,  welche  derselbe  als 
'  Compendium  historiarum '  bezeichnete,  enthalten 
Handschriften  zu  Leipzig  und  Dresden ;  diesel- 
ben konnten  von  Dr.  Holder-Egger  für  den  zur 
Aufnahme  geeigneten  Theil  benutzt  werden 
(S.  679—718).  Zu  diesem  gehörte  auch  was 
mit  den  Erfurter  Annalen  von  St.  Peter  ver- 
wandt und  ohne  Zweifel  aus  einem  älteren 
Exemplar  derselben  genommen  ist;  anderes  geht 
auf  die  sogenannte  Chronica  minor  zurück.  Die 
eigentümlichen  Nachrichten  sind  nicht  umfang- 
reich, doch  für  das  Ende  des  13ten,  die  ersten 
Jahre  des  14ten  Jahrhunderts  nicht  ohne  Be- 
deutung. 

Ganz  unbekannt  war  bisher  der  zweite  Theil 


Monumenta  Germaniae  lust.    Scriptor.   T.  XXV.    211 

der  Gesta  praepositornm  Steterburgensium  (S. 
719—735),  der.  mit  der  Urkundensammlung  des 
Stifts  verbanden  sich  in  einer  Handschrift  des 
Wolfenbütteler  Landesarchivs  befindet,  den  ich 
ror  langen  Jahren  in  Hannover,  jetzt  wieder 
hier  benutzt  habe.  Der  wichtigste  Theil  be- 
steht aus  Aufzeichnungen  des  Propstes  Johann 
über  seine  Amtsführung  1269—1290.  Aber  auch 
über  seine  Vorgänger  und  Nachfolger  sind  kür- 
zere Nachrichten  gegeben,  die  bis  zum  J.  1311 
gehen.  Bei  dem  Nachweis  der  genannten  Orte 
hat  der  Archivsecretär  Zimmermann  zu  Wolfen- 
btittel  seine  freundliche  Beihülfe  gewährt. 

Den  Schluß  der  chronologisch  geordneten 
Reihe  macht  das  Werk  des  Jobannes  Lange  von 
Ypern,  Abts  von  St.  Bertin,  über  die  Geschichte 
seines  Klosters,  mit  der  er  eine  Art  allgemeiner 
Geschichte  verband,  die  er  aus  den  verschieden- 
sten Quellen  zusammenschrieb,  während  er  ihr 
zugleich  zahlreiche  Urkunden  einverleibte  und 
so  ein  Buch  von  sehr  bedeutendem  Umfang  zu 
stände  brachte,  obschon  er,  wie  schon  bemerkt, 
nicht  über  das  13.  Jahrhundert  hinaus  gelangte. 
Es  liegt  in  einer  doppelten  Recension  vor,  von 
der  die  eine,  wie  der  Herausgeber  Dr.  Holder- 
Egger  wohl  mit  Recht  annimmt,  erst  nach  sei- 
nem Tode  gemacht  ist,  um  dem  unvollendet  ge- 
lassenen Werke  wenigstens  formell  einen  Ab 
Schluß  zu  geben.  Beide  haben  übrigens  hand- 
schriftlich weitere  Verbreitung  erhalten;  23  Co- 
dices werden  aufgezählt,  von  denen  die  ältesten 
in  St  Omer,  Boulogne  und  Brüssel  uns  zur  Be- 
nutzung zugesandt  wurden  und  die  Herstellung 
eines  zuverlässigen  Textes  und  Darlegung  der 
zwischen  den  beiden  Reoensionen  obwaltenden 
Verschiedenheiten  möglich  machten  (S.  736  866). 
Auf  den  Nachweis  der  Quellen   ist  große  Sorg 

16 


242  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  8. 

fait  verwandt,  von  einzelnen  Urkunden  der 
Druck  in  einer  neueren  Monographie  auch  noch 
ganz  zuletzt  in  den  Addenda  angegeben.  Bei  der 
vielfachen  Benutzung,  die  das  Buch  des  Johann 
bei  späteren  Flandrischen  Geschichtschreibern  ge- 
funden, wird  diese  kritische  Bearbeitung  hier 
besondere  Beachtung  fordern. 

Als  Supplementum  ist  bezeichnet  was  ganz 
ans  Ende  des  Bandes  gesetzt  ist  (S.  867—872): 
derjenige  Theil  des  jüngeren,  aber  doch  wahr- 
scheinlich nicht  lange  nach  der  Mitte  des  13. 
Jahrhunderts  geschriebenen  Ghronicon  Ebers- 
pergense,  der  als  Zusatz  oder  Erweiterung  zu 
dem  älteren,  SS.  XX  gedruckten,  in  Betracht 
kam.  Wäre  derselbe  vielleicht  passender  gleich 
hiermit  verbunden  worden,  so  mag  es  als  ein 
Vortheil  angesehen  werden,  daß  jetzt  die  alte 
Handschrift  zugänglich  ward,  von  der  Oefele 
nur  spätere  Abschriften  hatte:  sie  fand  sich  in 
der  Bibliothek  des  historischen  Vereins  von 
Oberbaiern  in  München.  Eine  kurze  Notiz  über 
eine  Weihung  des  Klosters  im  J.  1312  ward 
aus  einer  Handschrift  der  Münchener  Hof-  und 
Staatsbibliothek  hinzugefügt. 

Die  in  gewohnter  Weise  gearbeiteten  Index 
(S.  874—953)  und  Glossarium  (S.  954—957) 
sind  von  Dr.  Br.  Erusch  verfaßt;  nur  hat  zn 
jenem  Dr.  Heller  beigesteuert,  was  der  an  Na- 
men und  Verwandtschaftsbezeichnungen  so  reiche 
Text  der  französischen  Chronik  von  Hennegan 
ergab.  Auf  ein  französisches  Wortverzeichnis 
glaubten  wir  verzichten  zu  dürfen;  Dr.  Heller 
hat  sich  bemüht,  in  den  AnmerkungenjdasNoth- 
wendige  zu  bemerken. 

So  ist  ein  Band  unserer  großen  Sammlang 
vollendet,  der,  wenn  er  auch  mehr  der  Provin- 
zialgeschichte   als   der   Reichsgeschichte    dient, 


Monumenta  Germania*  hist.   Scriptor.  T.  XXV.    243 

doch,  glaube  ich,  ein  nicht  geringes  Interesse 
bei  uns  and  bei  unseren  westlichen  Nachbarn 
in  Anspruch  nehmen  kann.  Ist  einige  Jahre 
an  demselben  gearbeitet,  so  wird  der  Umfang 
und  die  Verschiedenartigkeit  des  hier  vereinig- 
ten Materials  das  hinreichend  erklären.  Die 
Arbeit  hat  auch  nur  in  dieser  Zeit  und  in  der 
vorliegenden  Weise  ausgeführt  werden  können 
durch  die  Liberalität  der  Bibliothek-  und  Ar- 
chiv-Verwaltungen, die  den  bei  weitem  größten 
Theil  der  benutzten  Handschriften  hier  zugäng- 
lich gemacht  haben.  Ich  darf  es  aussprechen, 
daß  ohne  das  einzelne  Stücke,  wie  der  Aegi- 
diu8,  die  Kremsmttnsterscben  Historien,  gar  nicht 
hätten  so  gegeben  werden  können,  wie  sie  nun 
unter  wiederholter  Vergleichung  der  zum  Theil 
verschiedenen  Bibliotheken  angehörigen  Codices 
vorgelegt  worden  sind,  und  ich  darf  daran  auch 
an  dieser  Stelle  den  Wunsch  knüpfen,  daß  auch 
in  Zukunft  nicht  durch  ängstliche  Beschränkung 
bei  der  Versendung  von  Handschriften  unsere 
Stadien  benachteiligt  werden  mögen,  wobei  ich 
gern  hervorhebe,  daß  auch  die  Pariser  National- 
bibliothek und  die  Brüsseler  Bibliothek  de  Boar- 
gogne  unter  Delisles  und  Ruelens'  einsichtsvoller 
und  wahrhaft  liberaler  Verwaltung,  wie  sie  die- 
sem Bande  mannigfache  Förderung  gewährt 
haben,  noch  neuerdings  unseren  Wünschen  stets 
bereitwilligst  entgegen  gekommen  sind. 

G.  Waitz. 


Beiträge  zur  Bearbeitung  des  römischen 
R  e  c  h  1 8  von  Dr.  Max  Cohn,  Prof.  zu  Amsterdam. 
Erster  Band.    Berlin,  Weidmann  1880.    8°. 

Von  obigem  Buche  erschien  1878  ein  erstes 
4  Bogen  starkes  Heft,  enthaltend  drei  Abhand- 
iaogen  über   die   Testirfähigkeit    der    Frauen , 

16* 


244  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stock  8. 

über  patronatisches  Erbrecht  und  über  plus  pe- 
titio.  Am  Ende  des  Jahres  1879  folgte,  Bluntscbli 
zum  50jährigen  Doctorjubiläum  gewidmet,  ein 
zweites  Heft,  welches  schon  äußerlich  ganz  an- 
ders als  jenes  erste  sich  präsentiert  durch  seinen 
25  Bogen  übersteigenden  Umfang.  In  der  Vor- 
rede dieses  zweiten  Heftes  erklärt  der  Verf., 
während  der  Inhalt  des  ersten  essayistischen 
Charakters  gewesen  sei,  habe  er  bald  empfun- 
den, daß  seine  Individualität  nach  dieser  Seite 
hin  nicht  ten  dire;  er  sei  daher  zu  „der  ihm  zu- 
sagenden Behandlungsweise"  übergegangen,  wenn 
auch  „nicht  auf  dem  geraden  Wege,  sondern 
mittelst  der  ein  wenig  mikrologischen  Untersu- 
chung der  ersten  Abhandlung  über  das  ope  con- 
silio  der  actio  furti".  Da  so  der  Verf.  selbst 
den  Schwerpunkt  seiner  Beiträge  ganz  in  die 
nicht  weniger  als  360  Seiten  füllende  Abhand- 
lung eur  Lehre  von  der  capitis  demmutio  ver- 
legt, so  wird  auch  Referent  sich  damit  begnügen, 
über  diese  zu  berichten.  Als  ihre  Tendenz  be 
zeichnet  der  Verf.  „eine  Widerlegung  der  beuti 
gen  Theorie  von  der  Zerstörung  der  rechtlichen 
Persönlichkeit"  und  damit  die  Anbahnung  einer 
richtigeren  Schätzung  einer  Lehre,  „die  unsere 
Jurisprudenz,  wie  wenig  andere,  für  eine  Ema- 
nation der  formalen  Vortrefflichkeit  römischen 
Rechts,  materiell  dagegen  fttr  eine,  wenn  auch 
nicht  eingestandene,  so  doch  sicher  empfundene 
Wunderlichkeit  hielt". 

Der  Verf.  beginnt  mit  einer  „Inventarisirung 
der  Capitisdeminutionsfalletf.  Bezüglich  der 
maxima  c.  d.  bemerkt  er  zunächst,  daß  es  un- 
genau sei,  sie  als  Zerstörung  der  Civität  und 
IAbertät  zu  bezeichnen,  da  allerdings  mit  dieser 
nothwendig  jene  untergehe,  aber  „nicht  auf 
Grund    der  c.  d.  maxima  —  man    müßte   viel- 


Cohii,  Beiträge  zur  Bearbeitung  des  röm.  Rechts.    246 

mehr  sagen  auf  Grand  der  c.  d.  media,  wenn 
es  für  diese  nicht  eine  geschlossene  Anzahl  von 
Fallen  gäbe".  Als  ob  der  Oivitätsverlust  ne- 
ben dem  Freiheitsverluste  und  nicht  als  ein  in 
diesem  enthaltener  einträte,  und  als  ob  die  Be- 
zeichnungen der  minima  media  und  maxima  c. 
d.  gesonderte  Arten  der  c.  d.  und  nicht  viel- 
mehr Grade  ausdrückten,  von  denen  der  hö- 
here den  niederen  in  sich  schließt.  Freilich  soll 
nach  dem  Verf.  die  maxima  c.  d.  schon  des- 
wegen nicht  als  solche  die  Givität  zerstören, 
weil  ihr  Eintritt  gar  nicht  durch  diese  bedingt 
sei.  Die  Annahme  zwar,  daß  Gai.  I.  160  einen 
notorischen  non  civis  eine  solche  erleiden  lasse, 
verwirft  der  Verf.  selbst,  hält  aber  die  Sache 
ftr  entschieden  dadurch,  daß  ja  auch  der  non 
civis  z.  B.  servus  poenae  werden  könne.  Daß 
aber  die  das  caput  deminuirenden  Thatbestände 
diese  Wirkung  nur  im  Falle  der  Existenz  eines 
solchen  caput  haben  konnten,  bedurfte  ebenso 
wenig  besonderer  Hervorhebung  als  der  Um- 
stand, daß  ein  infamirendes  Verbrechen  nur  den- 
jenigen zum  infamis  macht,  der  es  nicht  schon 
ist;  die  Frage,  wer  ein  caput  im  Sinne  der  cd« 
besitze,  ist  daher  in  keiner  Weise  beantwortet 
durch  die  Angabe  der  eventuell  dieses  caput 
deminuirenden  Facta.  Was  die  einzelnen  Fälle 
der  maxima  c.  d.  angeht,  so  meint  der  Verf., 
bei  der  servitus  poenae  liege  „kein  Verlust  der 
Freiheit  vor  in  dem  Sinne,  der  bei  den  übrigen 
Capitisdeminntionsfällen  damit  verbunden  wird, 
nämlich  ein  Verlust,  an  den  sich  die  Begrün- 
dang der  Rechtsstellung  eines  servus  anknüpft" 
(S.  63).  Der  servus  poenae  sei  „den  Regeln 
des  Rechts  der  Sklaven  durchaus  nicht  unter- 
worfen"; der  Ausdruck  servus  sei  bei  ihm  „le- 
diglieh ein  Tropus".  Dieser  Behauptung  gegen- 
über möchte  man  den  Verf.  fragen,  1)  ob  e» 


246  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  a 

nicht  auch  servi  sine  domino  gehe,  sowie  2)  ob 
wenn  es  heißt,  derselbe  sei  mehr  poenae  als 
fisci  servus,  damit  das  Staatseigentum  und  nicht 
vielmehr  nur  die  Eigenschaft  des  Sklaven  als 
eines  Erwerbsinstruments  für  den  Staat  verneint 
werden  sollte. 

Nachdem  Verf.  die  von  Oaius  und  Justinian 
aufgezählten  Fälle  der  max.  c.  d.  erörtert  hat, 
geht  er  zur  Frage  über,  ob  einen  solchen  Fall 
der  gemeinen  Annahme  entsprechend  auch  die 
captivitas  bilde.  Für  die  Verneinung  „ganz 
entscheidend"  scheint  ihm  L.  4  D  de  suis  38, 
16.  da  „hier  der  Fall  der  captivitas  und  c.  d. 
als  zwei  besondere  Dinge  behandelt  werden". 
Ulpian  sagt  dort 

1)  Si  filius  suns  heres  esse  desiit,  in  eins- 
dem  partem  succedunt  omnes  nepotes  etc. 

2)  Filius  autem  suus  heres  esse  desiit,  si 
capitis  minutione  vel  magna  vel  minore  exierit 
de  potestate. 

3)  Quodsi  filius  apud  hostes  sit,  quamdiu  vi- 
vit,  nepotes  non  succedunt. 

Weit  entfernt  die  Subsumtion  der  captivitas 
unter  die  c.  d.  auszuschließen,  scheint  unsere 
Stelle  sie  vielmehr  zu  belegen.  Wird  uns  ge- 
sagt, durch  Ausscheiden  des  Sohnes  aus  den 
sui  heredes  rücken  die  Enkel  an  seine  Steile, 
jenes  Ausscheiden  erfolge  durch  c.  d.,  diese 
Succession  trete  aber  im  Falle  der  Kriegsge- 
fangenschaft, so  lange  der  Sohn  noch  lebe,  nicht 
ein;  so  wird  für  diesen  Fall  weder  die  c.  d. 
noch  das  Ausscheiden  des  Sohnes  aus  der  Zahl 
der  sui  heredes,  sondern  nur  die  daraus  sonst 
sich   ergebende  Succession  der  Enkel  verneint 

Bezüglich   der  media   c.  d.   sucht  der   Verf. 
zunächst   in  L  5  §  3  D.   de  extr.  cogn.  50,  13 
die  Worte  i.  e.  cum  libertas  adimitur  als  Glos 
sem   zu  erweisen  (gewiß   mit  Recht);  sodann 


Cohn,  Beiträge  zur  Bearbeitung  des  röm.  Rechts.    247 

wendet  er  sich  zur  aqnae  et  ignis  interdictio 
nnd  deportatio.  Jene  habe  ursprünglich  nicht 
sowohl  das  Bürgerrecht  zerstört  als  den  dieses 
zerstörenden  Erwerb  eines  fremden  Bürgerrechts 
veranlaßt;  ob  aber  der  Verlust  der  Civität  durch 
Annahme  eines  neuen  Bürgerrechtes  als  cap. 
dem.  gegolten  habe,  erklärt  der  Verf.  für  mehr 
als  fraglich;  für  die  media  sowohl  als  die 
maxima  c.  d.  gelangt  er  zu  dem  Resultate,  daß 
alle  sicheren  Fälle  derselben  auf  Delicten  be- 
ruhen. 

Als  durch  Gains  sicher  bezeugte  Fälle  der 
minima  c.  d.  betrachtet  der  Verf.  zunächst  die 
arrogatio  und  die  seitens  einer  femina  sui  iuris 
vollzogene  coemtio.  Dagegen  bezweifelt  er  die 
c.  d.  bei  jeder  anderen  in  manum  conventio. 
Bezüglich  der  mancipatio  und  manumissio  con- 
Btatiert  der  Verf.,  daß  von  Gains  sowohl  die 
Hingabe  in  das  Mancipium  als  die  Freilassung 
e  mancipio  als  besondere  Fälle  der  c.  d.  be- 
zeichnet seien;  nur  aber  die  Zugehörigkeit  der 
remancipatio  seien  Zweifel  erlaubt.  Bezüglich 
der  Frage,  was  denn  nun,  wie  bei  der  magna 
c.  d.  libertas  und  ci vitas,  bei  der  minima  eine 
Aufhebung  erfahre,  weist  der  Verf.  zunächst 
Savignys  Ansicht  zurück,  die  namentlich  als 
völlig  widerlegt  zu  betrachten  sei  durch  die 
Eigenschaft  der  manumissio  e  mancipio  als  einer 
cd.  Ebensowenig  sei  aber  jenes  die  Agnation, 
wie  derselbe  Fall  beweise.  Immer  aber  handle 
es  sich  um  Vertauschung  der  bisherigen  Fami- 
lienzugehörigkeit mit  einer  anderen,  wobei  frei- 
lieh dahin  gestellt  bleiben  müsse,  warum  andere 
dieselbe  Vertauschung  bewirkende  Vorgänge 
keine  c.  d.  begründen. 

Verf.  wendet  sich  nun  zu  den  „aufhebenden 
Wirkungen  der  c  d.tt  u.  zw. 


246  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  8, 

1)  bezüglich  der  publica  iura,  vod  denen  eon- 
statiert  wird,  daß  sie  durch  Untergang  des  sie 
bedingenden  Bürgerrechts  erlöschen ,  dagegen 
durch  minima  c.  d.  nicht  berührt  werden;  doch 
glaubt  der  Verf.  im  Falle  der  datio  in  manci- 
pium  das  Gegentheil  annehmen  zu  sollen. 

2)  Die  hausherrlichen  Rechte  gehen 
durch  c,  d.  stets  verloren.  Bezüglich  der  tutela 
(non  legitima)  hält  der  Verf.  trotz  §  4  J.  q.  m. 
tut.  I,  22  und  L.  11  §  4  D  de  test.  tut.  26,  2 
den  Untergang  durch  media  c.  d.  nicht  für  ent- 
schieden. Durch  minima  e.  d.  läßt  der  Verf. 
nach  altem  Rechte  auf  Grund  von  L.  7  pr.  D 
de  cap.  min.  4,  5  außer  der  legitima  die  einem 
Haussohn  übertragene  Tutel  erlöschen  wegen 
ihrer  Unverträglichkeit  mit  der  die  c.  d.  begrün- 
denden mancipii  causa. 

3)  Bezüglich  der  Ehe  nimmt  der  Verf.  ein 
doppeltes  (naturales  und  civiles)  Element  des 
iustum  matrimonium  an,  das  daher  bei  media 
c.  d.  als  Ehe  nach  ius  gentium  fortexistiert 
habe;  für  unzweifelhaft  erklärt  er  die  Einfluß- 
losigkeit  der  minima  c.  d. 

4)  Was  den  Verlust  des  Activvermögens  an- 
geht, so  erklärt  der  Verf.  seinen  Eintritt  durch 
media  c.  d.  bezüglich  der  nichtcivilen  Rechte 
aus  dem  Zweck  der  Strafe.  Was  das  Schick- 
sal der  Rechte  betrifft,  welche  durch  minima 
c.  d.  dem  durch  dieselbe  ihrer  unfähig  gewor- 
denen verloren  gehen,  so  will  der  Verf.  den 
vielbesprochenen  Untergang  der  in  indicium  de* 
ducierten  Forderungen  entweder  auf  Frauen  be- 
schränken und  aus  ihrer  Proceßunföhigkeit  oder 
aber  auB  der  regulären  Unfähigkeit  der  Haus* 
kinder  als  Kläger  zu  processieren  erklären; 
Proceßpartei  sei  nämlich  der  Deminuirte  geblie- 
ben und  erst  die  actio  iudieati  sei  dem  Gewalt- 
haber erworben  worden. 


Cohü,  Beiträge  zur  Bearbeitung  des  röm.  Rechts.    249 

5)  Die  Befreiung  des  capite  ininntus  von 
seinen  Schulden  beruht  nach  dem  Verf.  auf 
einem  aus  dem  Wegfall  des  Vermögens  sich  er- 
gebenden Postulat  der  Billigkeit;  bei  Hingabe 
in  das  mancipium,  mannmissio  e  mancipio  und 
Arrogation  des  Gewalthabers  nimmt  Verf.  Fort- 
existenz der  Schulden  an. 

Zum  Schluß  nimmt  der  Verf.  Stellung  zur 
herrschenden  Theorie  der  c.  d.  Nahe  liege  sie 
für  die  magna  c.  d.}  sowie  für  die  media,  „weun 
es  sich  blos  um  einen  Verlust  „der  civil  recht- 
liehen Persönlichkeit  handelte;  für  die  minima 
dagegen  erscheine  sie  „mindestens  abenteuer- 
lich"; wenn  man  die  Zerstörung  der  Persönlich- 
keit aus  der  Ablösung  von  der  Agnatenfamilie 
erkläre,  so  sei  „nun  dagegen  einzuwenden,  daß 
diese  ganze  Erklärung  für  die  mannmissio  e 
mancipio  nicht  paßt".  Sodann  müßte  nach  der 
herrschenden  Ansicht,  meint  der  Verf.,  als 
„maxima  höheren  Gradestf  der  Tod  gelten. 
Seine  eigene  Auffassung  von  der  Entwicklungs- 
geschichte der  cap.  d.  ist  nun  diese.  Als  Ur- 
fälle  betrachtet  er  solche  der  minima  c.  d.,  nur 
sie  kenne  Cicero  und  nur  sie  verstehe  unter  c. 
d.  das  Edict,  wie  auch  der  Ausdruck  nicht  eine 
Vernichtung,  sondern  nur  eine  „ungünstige  Ver- 
änderung" des  caput  bedeute.  Ausgangspunkte 
seien  arrogatio  und  in  manum  conventio  der 
gewaltfreien  Frau ;  nur  auf  sie  beziehe  sich  das 
Edict  über  die  restituierte  Klage  und .  nur  an 
sie  denke  wohl  auch  Cicero.  Ausgeschlossen 
seien  so  ursprünglich  alle  Fälle  gewesen,  welche 
keine  Verschlechterung  der  Stellung  zur  Folge 
hatten.  Um  jene  beiden  Acte  in  ihrer  zerstören- 
den Eigenschaft  zu  bezeichnen,  sei  der  Aus- 
druck aufgekommen.  Eine  Erweiterung  des 
Sprachgebrauchs  erscheine  zunächst  in  der  „Pro* 


250  Gott.  gel.  Ana.  lbdl.  Stück  8. 

fanliteratur"  durcb  Bezeichnung  der  Gefangen- 
schaft als  c.  d.  Nach  und  nach  hätten  sieh 
weitere  Fälle  der  Vernichtung  des  caput  ange- 
setzt, so  daß  man  schließlieh  in  der  c.  d.  nichts 
gesehen  habe  als  „eine  pennutatio  gewisser 
status  und  zw.  der  Art,  daß  sie  auf  eine  große 
Zahl  von  Rechtsverhältnissen  aufhebende  Wir- 
kung übt".  Mit  dem  Aufkommen  einer  Unter- 
scheidung verschiedener  Arten  habe  man  ange- 
fangen jeden  Fall  für  sich  zu  entwickeln;  da- 
durch sei  der  Zusammenhang  abhanden  gekom- 
men und  sei  der  zusammenhaltende  Begriff  nur 
noch  der  der  status  permutatio  (ohne  zerstörende 
Bedeutung  derselben)  geblieben.  Bei  der  maxima 
c.  d.  habe  man  die  captivitas  „ganz  richtig" 
wegen  der  Besonderheit  abgestoßen,  sei  dagegen 
im  servus  poenae  über  die  status  permutatio 
hinausgegangen  und  habe  inconsequent  die  Um- 
wandlung von  Sklaverei  in  Freiheit  nach  wie 
vor  nicht  als  c.  d.  angesehen.  Bei  der  media 
c.  d.  habe  die  Betonung  des  Strafmoments  die 
Ausdehnung  auf  Fälle  anderer  Art  verhütet 
Bei  der  minima  dagegen  habe  man  sich  mit 
der  „permutatio  status  hominis"  begnügt,  frei- 
lich unter  Ausschließung 

1)  „aller  Fälle,  in  denen  an  einen  auf- 
hebenden Einfluß  auch  nicht  gedacht  werden 
konnte",  wie  Tod  des  pater  familias. 

2)  Der  Ausschluß  der  captio  zum  Priester- 
thum  „liegt  wohl  an  dem  Umstände,  daß  keine 
römische  Jurisprudenz  einen  Act  des  pontifex 
mit  einem  Worte  wie  c.  d.  belegen  durfte"  1 

3)  Die  Nichtzurechnung  der  jüngsten  Fälle 
erkläre  sich  „damit,  daß,  als  sie  aufkamen,  man 
über  die  Zeit  hinaus  war,  in  der  eine  arbeitende 
Wissenschaft  das  Bedürfniß  fühlen  konnte,  den 
Katalog  der  c.  d.  zu  vervollständigen,  überdies 


Cohn,  Beiträge  zur  Bearbeitung  des  röm.  Rechts.    251 

aber  anter  dem  Einfluß  des  Denen  Rechts  der 
Begriff  der  c.  d.  minima  mehr  and  mehr  be- 
deutungslos geworden  war". 

Die  vorliegende  Uebersicht  giebt  keine  Vor- 
stellung and  will  keine  Vorstellung  geben  von 
den  zahlreichen  Details,  die  der  Verf.  vielfach 
in  breitester  Weise  behandelt  hat ;  sind  sie  doch 
ihm  selbst  nur  Mittel  zum  Zwecke.  Fragen  wir 
uns  aber  nach  der  Erreichung  des  vom  Verf. 
verfolgten  Zweckes  die  Theorie  der  cap.  dem. 
zu  reformieren,  so  vermag  Referent  diese  Frage 
nur  zu  verneinen.  War  es  verdienstlich  vom 
Verf.  hervorzuheben,  daft  der  Begriff  der  c.  d. 
ein  ziemlich  junger  und  daß  er  höchst  wahr- 
scheinlich von  Fällen  der  minima  c.  d.  ausge- 
gangen ist,  sowie  daß  es  bei  den  Hanptfällen 
der  c.  d.  sich  um  Strafen  handelt,  so  ist  es  dem 
Verf.  doch  nicht  gelungen  von  diesen  Ansätzen 
ans  irgend  welche  Theorie  der  c.  d.  zu  ent- 
wickeln. Weder  bat  der  Verf.  glaublich  ge- 
macht, daß  der  römische  Begriff  der  c  d.  ein 
so  absolut  zerfahrener  war,  wie  er  ihn  darstellt, 
noch  hat  er  wirklich  die  Annahme  widerlegt, 
daß  die  c.  d.  in  der  einen  oder  anderen  Weise 
als  eine  rechtliche  Zerstörung  der  individuellen 
Persönlichkeit  anzusehen  sei.  Bei  allem  aufge- 
wendeten Fleiße  ist  der  Verf.  dem  Loose  nicht 
entgangen ,  vor  dem  freilich  kein  Fleiß  zu  si- 
chern vermag,  eine  mehr  mühsame  als  fruchtbare 
Arbeit  zu  liefern.  Den  Stempel  des  Mühsamen 
trägt  trotz  mancher  Redeblumen,  die  der  Leser 
unschwer  vermissen  würde,  auch  der  Stil  des 
Verf.,  so  daß  seiner  Abhandlung  allerdings  nichts 
anhaftet  von  der  essayistischen  Behandlung, 
welche  er  mit  ihr  wieder  verlassen  zu  haben 
angiebt. 

Erlangen.  E.  Holder. 


252  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  8. 

Beiträge  zur  Erklärung  undKritik  des 
I  s  a  i  o  s ,  von  W.  Boeder,  kgl.  Gymnasiallehrer. 
Jena,  Ed.  Frommann  1880.    VIEL  83  S.     8°. 

Diese  kleine  Schrift  soll,  nach  der  Erklärung 
des  Vorworts,  eine  Vorläuferin  zu  einer  kritisch  - 
exegetischen  Bearbeitung  der  bedeutenderen  Re- 
den des  lsaios  sowie  der  deinosthenischen  gegen 
Aphobos  sein,  womit  der  Verf.  diese  Werke  der 
Schullekttire  zugänglich  zu  machen  hofft 
Ref.  kann  nicht  verhehlen,  daß  ihm  lsaios  für 
die  Schule  kein  geeigneter  Autor  scheint,  und 
daß  nach  seiner  Meinung  auch  jene  Erstlings- 
werke des  Demosthenes  einen  Schüler  nicht  wer- 
den fesseln  können  ;  das  Prädikat  „formvollen- 
det", welches  der  Verf.  ihnen  und  den  Beden 
des  lsaios  giebt,  ist  weder  für  die  einen  noch 
für  die  andern  ein  durchaus  angemessenes.  Auch 
ein  Lord  Brougham  hat  dem  lsaios  keinen  Ge- 
schmack abgewinnen  können.  Doch  abgesehen 
von  der  Bestimmung  für  die  Schule  muß  man 
ja  jedem  es  Dank  wissen,  der  dem  in  der  That 
noch  wenig  bearbeiteten  lsaios  seine  Mühe  zu- 
wendet. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  größerenteils 
grammatisch- kritisch;  nur  die  beiden  ersten  Ab- 
schnitte sind  anderer  Art.  In  dem  ersten  han- 
delt der  Verf.  „über  Aufbewahrung,  Aufhebung, 
Aenderung  und  über  Abschriften  eines  Testa- 
ments nach  attischem  Recht".  Er  berichtigt 
einige  Irrthümer,  die  sich  in  der  neuesten  Bear- 
beitung von  Hermann's  griech.  Antiquitäten  fin- 
den, und  die  durch  verkehrte  Benutzung  von 
Stellen  des  lsaios  entstanden  sind.  Dann  aber 
sucht  er  selbst  etwas  gegen  Schömann  zu  er- 
weisen, worüber  ihm  Refer,  nicht  ganz  zustim- 
men kann:  daß  nämlich  zur  nachträglichen  Auf- 
hebung einer  testamentarischen  Adoption  der 
einseitige  Wille  dessen  der  adoptiert  hatte  nicht 


Roeder ,  Beiträge  zur  Erklärung  u.  Kritik  des  Isaios.    253 

gentigt  babe,  sondern  eine  Art  von  Zustimmung 
des  Adoptierten  erforderlich  gewesen  sei.  Ans 
Ie.  6,  32  geht  nichts  hervor,  als  daß  natürliche 
Erben,  wenn  sie  bei  der  Niederlegnng  einer  ober 
einen  Theil  der  Erbschaft  anderweitig  verfügen- 
den Urkunde  betheiligt  gewesen  waren,  auch  bei 
einer  Aufhebung  derselben  zngezogen  zu  werden 
Ansprach  hatten;  sie  waren  eben  hier  so  gut 
wie  Contrahenten  (vgl.  Schümann  z.  St.).  In 
dem  Falle  der  1.  Rede  aber  mag  die  Sache  in- 
sofern ähnlich  liegen,  als  der  Erblasser  Kleony- 
fflos  das  Testament  bei  den  Astynomen  nicht 
allein,  sondern  in  Gemeinschaft  mit  den  be- 
dachten Seitenverwandten  deponiert  hatte;  ver- 
langte  er  es  nnn  behufs  einer  Aenderung  oder 
Aufhebung  zurück,  so  mußte,  wenn  nicht  er 
selbst,  doch  einer  der  Mitbetbeiligten  vor  dem 
Beamten  das  erklären,  während  dieser  einem 
Dritten  schlechterdings  die  Urkunde  nicht  aus* 
bändigen  durfte.  So  erklärt  es  sich,  weshalb 
Kleonymos  nicht  seinem  Neffen,  dem  Sprecher 
der  Rede,  sondern  den  Gegnern  den  Auftrag  der 
Herbeischaffung  gab.  —  Unrichtig  scheint  mir 
die  Conjektur  zu  1  §  25:  dvsXstv  p$v  yäq  u> 
dvdqet;  oi%  ottig  «'  fjr  älXw  Y^afApcmto  fj  %& 
naQd  «jf  dq%^  xtn*4vm,  »tatt  der  überlieferten 
Akkusative  aXXo  rgapfiaztZor  -to-7isif*€vov.  Auf- 
zuheben, sagt  der  Redner,  gab  es  nichts  als 
diese  Urkunde,  die  also,  wenn  er  aufheben 
wollte,  herbeigeschafft  werden  mußte;  zum  Nach- 
tragen dagegen,  wenn  er  das  wollte,  gab  es  auch 
anderes  Papier.  Hingegen  ist  es  ein  ganz  un- 
möglicher Ausdruck:  ein  Testament  durch  die 
Urkunde,  auf  der  e's  steht,  vernichten.  —  Der 
2.  Abschnitt  untersucht,  wer  die  Gegner  in  der 
1.  Rede  seien ;  Referent  hat  seine  (abweichende) 
Ansicht  anderweitig  ausgesprochen.  Der  Verf. 
macht  den  Fehler,  daß  er   alle  im  Prozeß  auf 


254  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  & 

der  entgegengesetzten  Seite  stehenden  Personen 
ohne  weiteres  als  solche  faßt,  die  auf  die  Erb- 
schaft Ansprach  machten.  —  Was  nun  aber  die 
weiterhin  behandelten  grammatischen  und  kriti- 
schen Fragen  betrifft,  so  sieht  sich  Ref.  zu  sei- 
nem Bedauern  zu  ganz  entschiedenem  Einsprach 
genöthigt.  Der  Verf.  geht  nämlich  darauf  aas, 
eine  ganze  Reihe  von  Dingen,  die  man  sonst 
für  die  gewöhnliche  attische  Prosa  als  gramma- 
tisch unzulässig  oder  doch  als  verdächtig  an- 
sieht, auf  Grund  unserer  handschriftlichen 
Ueberlieferung  sowohl  dem  Isaios  als  andern 
Prosaikern  zu  vindicieren.  Solche  sind:  weit- 
gehendes Fehlen  des  &v  beim  Indikativ  der 
Nichtwirklichkeit,  &v  mit  Optativ  statt  äv  mit 
Indikativ,  potentialer  Optativ  ohne  av,  Futur. 
Indikativ  mit  äv  u.  a.  m. ,  so  daß  man  sich 
wundert,  wenn  er  schließlich  Iva  mit  Indik»  Fat. 
nicht  gelten  läßt.  Es  ist  hier  unnöthig,  auf 
alles  Einzelne  einzugehen,  da  der  Fehler  in  den 
leitenden  Grundsätzen  liegt.  Es  ist  falsch,  den 
Hdschr.  des  Isaios  für  diesen  den  gleichen  Grad 
der  Glaubwürdigkeit  beizulegen  wie  den  de- 
mosthenischen  für  Demosthenes;  viel  mehr  noch 
ist  es  falsch,  die  einzelnen  Hdschr.  des  Isaios, 
oder  Lysias,  unter  einander  hinsichtlich  der 
Glaubwürdigkeit  gleich  oder  fast  gleich  zu  stel- 
len. Aus  solchen  Codices,  wie  der  Palatinos 
des  Lysias  oder  der  Crippsianus  A  der  kleineren 
Redner  ist,  läßt  sich  über  die  Möglichkeit  ir- 
gend welcher  Anomalie  überhaupt  nichts  fest- 
stellen, dazu  sind  sie  viel  zu  sehr  verdorben. 
Die  sichersten  Zeugen  sind  ja  die  Inschriften, 
demnächst  aber  haben  auch  sorgfältig  ge- 
schriebene Handschriften,  wie  wir  solche  bei 
Piaton,  Isokrates,  Demosthenes  besitzen,  eine 
große  Autorität,  doch  so,  daß  ein  Beispiel  oder 
zwei  auch  aus  ihnen  unter  Umständen  noch  sehr 


Boeder,  Beiträge  zur  Erklärung  u.  Kritik  des  Isaios.    255 

wenig  ausmachen  Neben  dem  Palatinos  aber 
hat  irgend  eine  andre  Hdschr.  des  Lysias  gar 
keine  Autorität,  weil  alle  bekanntlich  aus  jenem 
abgeschrieben  sind,  und  doch  sagt  der  Verf. 
z.  B.  S.  51 :  „auch  Lys.  12,  44  haben  bis  auf 
den  Palatinos  alle  Hdschr.  ipijylosote".  Er 
scheint  in  der  That  die  Hdschr.  nur  zu  zählen. 
Bei  Isaios  aber  und  den  andern  Rednern,  die 
mit  diesem  die  gleiche  Ueberlieferung  haben, 
hat  nach  des  Ref.  Ueberzeugung  der  jüngste 
Hsg.  des  Antiphon,  V.  Jernstedt,  das  Richtige 
erkannt,  indem  er  die  Hdschr.  BLZM  als  aus  A 
direkt  oder  indirekt  abgeleitet  ansieht.  Aber 
auch  schon  nach  den  bisher  feststehenden  Re- 
sultaten hätte  der  Verf.  es  sich  sparen  können, 
den  Codex  Z  durch  Hrn.  R.  Peiper  an  verschie- 
denen Stellen  neu  vergleichen  zu  lassen.  Aus 
seiner  falschen  Methode  geht  es  nun  hervor,  daß 
seine  Ergebnisse  fast  überall  den  entschieden- 
sten Widerspruch  hervorrufen  müssen.  Z.B.  &v 
mit  Indic.  Fut.  wird  durch  folgende  Stellen  ge- 
stützt. Isai.  XI,  47  i\  (Sv  äv  dtaßdttovug  dv- 
vyoovtcu  (wo  übrigens  A,  was  der  Verf.  nicht 
wissen  konnte,  pr.  m.  duxßdlkovc*  hatte,  corr.  1). 
„Wahrscheinlich  auch"  10,21  äv  —  ipjjcfiaetr&e, 
obwohl  A  corr.  2  y>fi<ploaio&€.  „Aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach"  1,  21  dp  —  nonjaets,  wie 
Q  hat;  Aid.  noiforfts,  die  Hdschr.  sonst  alle 
noiijoane.  [Hier  hat  der  Verf.  das  s  Bekker's 
mißverstanden  und  hält  daher  no$ij(ra$T6  für  mo- 
derne Conjektur.]  „Ebenso"  7,  42  äv  noiyc&s&s, 
„wo  die'  Hdschr.  nebst  der  Aldina  den  Conjunk- 
tiv  norfaijo&s  und  nur  der  verbesserungssüchtige 
Grammatiker  bei  A  nonja<uo&€  schreibt".  Bekker 
bemerkt :  TUHqäarf&e]  libri  noujotjöÖSj  sed  A  corr. 
(von  1.  Hand) ;  der  Verf.  hat  also  auch  hier  wie- 
der mißverstanden.  Er  bringt  dann  Beispiele 
ans  Piaton  und  Xenophon,  auch  die  in  sehr  ge- 


25«  .     Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  8. 

ringer  Zahl;  dann  eins  ans  Thukydides,  und 
drei  „von  sämmtlicben  Hdschr.  beglaubigte  Stel- 
len der  übrigen  attischen  Redner" :  nämlich  zwei 
ans  Deinarchos  and  eine  aas  Isokrates.  Wie 
können  aber,  fragt  man  doch,  bei  so  nahen  und 
lautlich  für  die  Byzantiner  identischen  Formen, 
wie  nonj<f€0&€  und  noiyactMrd'f,  iMtjaezs  und  iXey- 
(fcute,  die  Handschriften  von  irgend  welcher  Au- 
torität sein?  Das  sind  nämlich  die  fraglichen 
Formen  an  zwei  der  drei  Stellen;  an  der  drit- 
ten (Dein.  1,  68)  liegt  auch,  wenn  die  Ueber- 
lieferung  richtig  ist,  lediglich  Anakolutbie  vor, 
und  ist  das  Futurum  von  dem  in  Frage  stehen- 
den äv  durch  volle  7  Zeilen  getrennt.  Nun  kom- 
men noch  die  „wahrscheinlich"  vorhandenen  Bei- 
spiele: isokratische,  „wo  der  Grammatiker  von 
T  äv  gestrichen  hat" ,  und  zwei  bei  Aischines, 
an  deren  einer  die  Emendation  dvsQtl  für  dv 
iqet  ganz  zweifellos  ist.  Ref.  beabsichtigt  nicht, 
bei  dieser  ganzen  Frage  in  die  Gontroverse,  so- 
weit sie  wirklich  vorhanden  ist,  einzutreten,  son- 
dern will  lediglich  gegen  die  Beweismethode 
protestieren,  mit  welcher  nur  Verwirrung  in  der 
Grammatik  angerichtet  wird.  Die  verbesserungs- 
süchtigen Herausgeber  zu  tadeln  steht  nur  dem 
an,  der  von  den  Principien,  von  welchen  diesel- 
ben bei  ihrem  Verfahren  sich  leiten  lassen,  sich 
ganz  genau  unterrichtet  hat,  was  bei  dem  Verf. 
augenscheinlich  nicht  der  Fall  —  Von  den  im 
letzten  Abschnitte  mitgetheilten  eignen  Conjek- 
turen  erscheinen  beachtenswerth  die  zu  Is.  3, 49 
wj  d!  yvyolq  &vyatQ\  %Maq  (für  yv.  ovcij  %qiG%i- 
itaq)  und  zu  3,  62 :  s%  »$  avtijy  d^Qstto  tj  ißid- 
feto  <jfc>  i^yev  [äv]  in  %mv  ncttQcowv,  {nal\ 
ovx  äv  xie. 

Kiel. F.  Blass. 

Für  die  Redaotioa  Ter  an  tw  ortlich :  JE,  Rshnüch,  Director  4.  Gott.  fei.  Adz. 

Verlag  der  Dütoich' sehen  Verlags-  Buchhandlung. 

Druck  der  Dielerich' 'sehen  Univ.-  Buchdrnckerei  ( TV.  Fr.  Kaestnn). 


•257 

6  ttttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König).  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  9. 10.  2.  u.  9.  März  188 1. 


I  Inhalt:  £.    de    Laveleye,  Das  Ureigenthom ;  deutsche  Ausg.  t. 

I  K.  Bücher.  D.  Ross,  Studies  in  the  early  history  of  institutiors  I— 
!        HI.   Yon  R  Nasse.  —    W.   W  u  n  d  t ,   Logik.    Bd.  I.    Yon  J.  Rehmk*. 

-  W.  S pitta,  Grammatik  des  arabischen  Yulgardialects  von  Aegyp- 
I  tea.  Yon  Th.  Nöldeke.  —  A.  R  a  a  b  e ,  Die  Klagelieder  des  Jeremias  und 
j        der  Prediger  des  Salomon.    Yon  J.  WeUhatuen.  —    P.  Regnaud,   La 

Metrique  de  Bharata.    Yon  R.  Pisehd. 

i        s  Eigenmachtiger  Abdruck  yon  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Das  Ureigenthum,  von  Emil  de  Laveleye. 
Autorisirte  deutsche  Ausgabe,  herausgeg.  und  vervoll- 
ständigt von  Dr.  Karl  Bücher.  Leipzig,  F.  A. 
Brockhaus  1879.    XXX.  535  Seit.    8°. 

Studies  in  the  early  history  of  institu- 
tions by  Denman  W.  Ross.  I.  II.  III. :  The 
theory  of  village  communities.  Cambridge,  Mass.,  U.S.A. 
University  press :  John  Wilson  and  son.  1880.  23,  12  u. 
32  Seit.   8°. 

Die  an  erster  Stelle  genannte  Schrift  hat  seit 
ihrem  ersten  Erscheinen  in  französischer  Sprache 
eine  Reihe  von  Auflagen  erlebt,  sie  ist  ins  Eng- 
lische übersetzt  worden  und  liegt  nun  hier  in 
deutscher  Bearbeitung  vor.  Offenbar  hat  sie  in 
weiten  Kreisen  Beachtung  gefunden,  in  viel  wei- 
tern jedenfalls,  als  jemals  ein  deutsches  Buch, 
welches  diesen  oder  irgend  einen  andern  Theil 
der  agrarischen  Geschichte  behandelt.  Ausge- 
sprochener Maßen  ist  es  auch  nicht  in  erster 
Linie  der  Zweck  des  Verfassers  gewesen,  neue 
wissenschaftliche  Forschungen  zu  geben,  sondern 

17 


258  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

auf  die  behandelten  Erscheinungen  die  öffent- 
liche Aufmerksamkeit  zu  lenken  und  dadurch 
das  Verständniß  für  die  Mängel  und  die  not- 
wendige Weiterentwicklung  unserer  vermögens- 
rechtlichen Ordnung  zu  verbreiten.  Zwar  hat 
ihn  gewiß  nicht  die  Absiebt  geleitet,  die  man 
ihm  wohl  irrthtimlicher  Weise  untergelegt  hat, 
die  alten  Formen  der  Feld-  und  Hausgemein- 
schaft als  in  unserer  Zeit  noch  anwendbar  zu 
empfehlen.  Mit  Recht  sagt  sein  Uebersetzer: 
wer  einem  ernsthaften  Schriftsteller  zutraut,  daß 
er  die  russische  Dorfgemeinschaft,  die  südslavi- 
sche  Zadruga,  die  schweizerische  Allmende,  die 
holländische  Erbpacht  und  die  ländliche  Pro- 
duktivgenossenschaft in  einem  Athem  als  agrar- 
politische  Panaceen  empfehle,  für  den  sind  der- 
artige Darstellungen  überhaupt  nicht  geschrieben. 
Aber  doch  hat  der  Verf.  nicht  blos  den  Gedan- 
ken anregen  wollen,  daß  die  Eigenthumsordnung 
veränderlich  ist.  Er  glaubt  vielmehr,  daß  die 
freie  Ueberlassung  des  Vermögens  an  die  Indi- 
viduen zu  willkührlichem  Schalten  damit,  wie 
sie  das  Produkt  unserer  modernen  Rechts-  nnd 
Wirthschaftsentwicklung  ist,  mit  den  socialen 
Mißständen  der  Gegenwart  in  engem  Zusammen- 
hang stehe.  In  dem  reinen  Privateigentum  an 
Grund  und  Boden,  wie  es  sich  bei  den  Römern 
zuerst  ausgebildet  und  jetzt  nach  längerer  Ver- 
dunklung bei  den  wichtigsten  Cultumationen 
wieder  hergestellt  ist,  sieht  er  die  Hauptursache 
der  Vermögensungleichheit  und  der  Verschärfung 
der  Klassengegensätze,  welche  unsere  moderne 
Gesellschaft  gefährden.  Er  fürchtet,  daß,  wenn 
diese  Dinge  sich  so  weiter  entwickeln,  sie  in 
traurigen  socialen  Kämpfen  und  dem  Verlast 
der  politischen  Freiheit  enden.  Da  möchte  er 
nun  zeigen,  daß  das  Eigenthum  nicht  immer  so 


E.  de  Laveleye,  Pa«  Ureigenthum.  269 

dien  socialen  Charakters  entkleidet  nnd  nur 
den  privaten  Zwecken  des  Individuums  dienst- 
bar gewesen  ist ,  wie  heutzutage,  und  dadurch 
den  Gedanken  anregen,  daft  auch  unsere  heutige 
Eigenthumsordnung  noch  nicht  die  letzte  und 
vollkommenste  sei ,  sondern  daß  das  Privat- 
eigentum im  Interesse  der  harmonischen  Ent- 
wicklung des  Ganzen  Einschränkungen  erfahren 
müsse.  Wie  er  sich  die  wttnschenswerthe  Um- 
kehr zu  einem  mehr  socialen  Charakter  des 
Eigenthums  denkt,  darüber  giebt  er  keine  kla- 
ren Ausführungen,  nur  Andeutungen.  Manches 
vortreffliche  Wort  findet  sich  da  in  der  Vorrede, 
neben  andern  Aeußerungen,  die  mir  von  zwei- 
felhaftem Werthe  scheinen.  Er  verlangt  also 
eine  Abschwächung  des  Individualismus,  größere 
Unterordnung  des  Individuums  unter  die  Zwecke 
der  Gesammtheit,  mehr  sociale  Pflichten  für  das 
Vermögen,  aber  auch  allgemeinere  Vertheilung 
des  Eigenthums,  größere  Gleichheit  in  den  Le- 
bensbedingungen der  verschiedenen  Klassen.  Je- 
ner  oberste  Grundsatz  der  Gerechtigkeit  „Je- 
dem nach  seinen  Werken u  müsse  zur  Wahrheit 
werden  und  zwar  in  der  Weise,  daß  das  Eigen- 
thum  wirklich  das  Resultat  der  Arbeit  sei  und 
daß  das  Wohlbefinden  eines  jeden  im  richtigen 
Verhältniß  zur  Mitwirkung  bei  der  Produktion 
stehe.  Er  hofft  die  Umgestaltung  von  der  Kraft 
des  Ghristenthums.  Dasselbe  habe  bis  zur  Ge- 
genwart nur  auf  die  Individuen  und  dadurch 
aof  den  Staat  eingewirkt.  Wer  aber  seine 
Macht  habe  ermessen  können,  der  werde  zu- 
geben, daß  es  einst  eine  ordnende  Kraft  des 
Staats  werden  und  dann  sich  der  Welt  in  der 
ganzen  Tiefe  seiner  Gedanken  und  der  ganzen 
Fülle  seiner  Segnungen  offenbaren  werde. 
Als  Kritiker  sind  wir  darauf  angewiesen,  mehr 

17  • 


260  Gott.  gel.  AbZ.  1881.  Stück  9,  10. 

die  Punkte  hervorzuheben,  in  denen  wir  von  dem 
Verf.  differieren,  als  die,  in  denen  wir  tiberein* 
stimmen;  und  da  glauben  wir  zwei  Bedenken 
nicht  verhehlen  zu  dürfen. 

Erstens  scheint  uns  der  Verf.  die  sittliche 
Bedeutung  jener  älteren  Institutionen  zu  über- 
schätzen. Nach  seiner  Auffassung  wären  also 
die  verschiedenen  Formen  der  Feldgemeinschaft, 
wie  sie  auf  früheren  Culturstufen  sich  finden, 
mehr  vom  Geiste  des  Ghristenthum  durchdran- 
gen, als  unser  heutiges  reines  Privateigentum. 
Das  scheint  uns  eine  unabweisbare  Conse- 
quenz  der  vom  Verfasser  in  der  Einleitung  ent- 
wickelten Gedanken  zu  sein.  Ist  aber  dem 
wirklich  so?  Die  Gesinnung  der  Dorfgenossen 
in  einem  russischen  Dorfe  mit  Collektiveigen- 
thum  und  gemeinsam  geregelter  Wirtschaft 
könnte  doch  der  christlichen  Liebe  sehr  viel 
ferner  stehn,  als  die  der  Anbauer  in  einem  Di- 
strikte des  fernen  Westens  der  Vereinigten  Staa- 
ten, von  denen  jeder  selbstständig  für  sich  wirt- 
schaftet und  nach  eigenem  freien  Ermessen  die 
wilde  Natur  sich  dienstbar  macht.  Hartherzig- 
keit und  Selbstsucht  können  sich  unter  jeder 
Form  des  Zusammenlebens  geltend  machen  nnd 
doch  ist  es  die  Gesinnung  der  Menschen,  die 
Stellung  des  Herzens  zu  Gott  ganz  allein,  auf 
welche  das  Christenthum  Gewicht  legt.  Und 
noch  bedenklicher  erscheint  mir  ein  anderer 
Punkt.  Entspricht  die  Forderung,  daß  jedem 
nach  seinen  Werken  die  äußern  Güter  dieser 
Welt  zugetheilt  werden  sollen,  wohl  dem  Geist 
des  Ghristenthums  und  würde  das  Streben  nach 
ihrer  Verwirklichung  in  der  That  die  sittliche 
Entwicklung  des  menschlichen  Geschlechts  för- 
dern? Wie  würde  es  um  uns  beschaffen  sein, 
wenn  jede   gute    That  sofort    ihren   Lohn     in 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigeuthum.  261 

äußern  Glüeksgütern  erhielte?  —  Doch  wir  wol- 
len diese  Frage  nicht  weiter  verfolgen,  da  ja, 
wie  wir  anerkennend  hervorheben,  die  Tendenz 
des  Bachs  für  seinen  Hauptinhalt  ganz  unwe- 
sentlich ist.  Sie  hat  nur  insofern  auf  die  Schrift 
eine  sehr  vorteilhafte  Wirkung,  als  sie  der 
Darstellung  des  Verfassers  eine  Wärme  und  eine 
Lebendigkeit  giebt,  welche  ihr  schwerlich  in 
dem  Maße  eigen  sein  würde,  wenn  die  Unter- 
suchungen nur  aus  antiquarisch-historischem 
Interesse  hervorgegangen  wären. 

Von  dem  angedeuteten  Gesichtspunkt  aus- 
gehend hat  nun  der  Verfasser  mit  großem  Fleiß 
gesammelt,  was  die  historische  und  national- 
ökonomische Forschung  neuerer  Zeit  über  ge- 
meinschaftliches Eigenthum  und  über  gemein- 
schaftliche Benutzung  von  Grund  und  Boden 
bei  Völkern  verschiedener  Zeiten  und  Orte  zu 
Tage  gefördert  haben,  aber  in  einzelnen  Ab- 
schnitten diese  Forschung  auch  durch  eigene 
Untersuchung  wesentlich  gefördert.  Sein  Ueber- 
setzer  hat  dann  durch  werthvolle  selbstständige 
Arbeiten  das  Werk  noch  weiter  bereichert.  Das 
Ganze  aber  zeichnet  sich  durch  eine  geschmack- 
volle und  angenehm  lesbare  Form  aus,  die  ge- 
wiß viel  dazu  beigetragen  hat,  daß  der  Verf. 
seinen  Zweck  auf  die  behandelten  Erscheinun- 
gen die  Aufmerksamkeit  der  gebildeten  Welt 
zu  lenken,  in  so  ausgedehntem  Maße  erreicht 
hat  Nicht  minder  aber  sind  es  die  vielen  Ana- 
logieen  in  der  agrarischen  Entwicklung  ganz 
verschiedener  Völker,  welche  in  der  übersichtli- 
chen Darstellung  des  Verf.  oft  in  einer  auch 
den  Fachmann  überraschenden  Weise  zu  Tage 
treten,  die  der  Lektüre  des  Buchs  einen  großen 
Reiz  geben.  Wir  sind  auf  diesem  Gebiete  dar- 
auf angewiesen  unsere  mangelhaften  Kenntnisse 


262  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

der  agrarischen  Zustände  früherer  Zeiten  durch 
Vergleichungen  zu  ergänzen.  Ohne  dieselben 
müßten  wir  sehr  oft  ganz  darauf  verzichten, 
uns  ein  anschauliches  Bild  von  den  Verhältnis- 
sen früherer  Zeiten  zu  machen.  Gerade  da- 
durch sind  zahlreiche  Mißverständnisse  hervor- 
ragender Historiker  entstanden,  daß  sie  eich 
auf  Interpretation  einzelner  Urkunden  beschränk- 
ten ohne  sich  unter  Zuhülfenahme  anderer  ähn- 
licher und  genauer  beobachteten  Erscheinungen 
ein  lebensvolles  Bild  des  Ganzen  zu  machen. 
Wir  sind  deshalb  weit  entfernt,  den  Ausstellun- 
gen zuzustimmen,  welche  der  Verfasser  des 
zweiten  oben  citierten  Werks  gegen  die  ver- 
gleichende Methode  Laveleye's  macht  Natür- 
lich aber  ist  es,  daß  ein  Schriftsteller,  der  mit 
so  großem  Erfolge  eine  bestimmte  Methode  ver- 
folgt, im  Einzelnen  auch  mitunter  Analogieen 
sieht,  wo  Andern  mehr  die  Verschiedenheit  der 
agrarischen  Zustände  auffällt. 

So  scheint  uns  —  um  in  die  Besprechung 
einzelner  Abschnitte  des  Buchs  einzutreten  — , 
daß  der  Verf.  den  Unterschied  in  der  agrari- 
schen Entwicklung  Rußlands  und  der  germani- 
schen Völker  zu  wenig  betont  Ihm  ist  die 
russische  Dorfverfassung  das  lebende  Bild  der 
altgermanischen  Feldgemeinschaft  und  wohl  ohne 
Zweifel  aus  diesem  Grunde  stellt  er  sie  in  den 
Vordergrund  seiner  Darstellung.  Nun  ist  aber 
ein  Grundgedanke  der  erstem,  das  gleiche  Recht 
aller  volljährigen  Einwohner  auf  einen  gleichen 
Theil  der  Ländereien,  deren  Eigentümer  die 
Dorfschaft  ist,  bei  den  germanischen  Dörfern  in 
historischer  Zeit  nirgendwo  nachweisbar.  Man 
kann  es  als  wahrscheinlich  betrachten,  daß  bei 
der  ersten  festen  Niederlassung  jeder  erwachsene 
Volksgenosse  seinen  Antbeil  an  der  Flur  erhielt, 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  263 

aber  nachdem  einmal  die  Austheilung  erfolgt 
and  jeder  seine  Hufe  erhalten,  waren  bei  wach- 
sender Bevölkerung  die  Besitzlosen  auf  die  Ar- 
beit für  Andere  oder  auf  die  Occupation  des 
unbebauten  Landes  angewiesen.  Die  letztere  hat 
der  Besitzlosigkeit  des  freien  Dorfgenossen  ge- 
wiß lange  vorgebeugt.  Entweder  wurden  ge- 
eignete Theile  des  unbebauten  Landes  zu  neuen 
Hafen  im  alten  Dorfe  oder  zu  ganz  neuen  Töch- 
terdörfern verwandt.  Auch  haben  bei  wachsender 
Bevölkerung  wohl  mehrere  Familien  zusammen 
eine  Hufe  besessen,  bis  dann  wahrscheinlich  erst 
später  in  einem  großen  Theile  von  Deutschland 
auch  die  Naturaltheilung  der  Hufen  üblich  wurde. 
Von  einem  Rechte  aber  der  Besitzlosen,  eine 
neue  Theilung  zum  Zweck  der  Vermehrung  der 
Hafenzahl  durch  Verkleinerung  des  Umfangs 
der  alten  zu  verlangen,  findet  sich  unseres  Wis- 
sens in  der  deutschen  Geschichte  keine  Spur. 
Ebenso  ist  es  aber  bis  vor  einigen  Jahrhunder- 
ten auch  in  Rußland  gehalten  worden.  Das 
scheinen  die  neuern  Untersuchungen  über  den 
Gegenstand  doch  festgestellt  zu  haben.  Diesel- 
ben sind  mir  freilich  nur  aus  dem  Buche  von 
H.  v.  Keussler  bekannt,  das  auch  von  Laveleye 
benutzt  ist  Aber  der  Bericht  dieses  Schrift- 
stellers über  die  russischen  Forschungen  macht 
den  Eindruck  der  größten  Sorgfalt  und  Ge- 
nauigkeit Darnach  gab  es  in  den  altrussischen 
freien  Gemeinden  noch  kein  Recht  jedes  Ge- 
meindegliedes auf  einen  proportionalen  Antheil 
am  Gemeindelande.  Dies  Recht  ist  erst  später 
in  Folge  der  Einführung  der  Leibeigenschaft 
und  der  Kopfsteuer  entstanden  und  damit  ist 
der  russische  Gemeindebesitz  dem  altdeutschen 
sehr  unähnlich  geworden.  Ist  dem  aber  so, 
dann   zeigt  die  russische  agrarische  Geschichte 


261  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

nicht  einen  Fortschritt  von  dem  Gesammteigen- 
thum  zu  immer  größerer  Ausbildung  des  Privat- 
eigenthums,  wie  ihn  Laveleye  als  allen  Völkern 
eigentümlich  darstellt,  sondern  umgekehrt  einen 
Rückschritt  zu  einer  sehr  verstärkten  agrari- 
schen Gemeinschaft,  und  dann  kann  die  russische 
Dorfschaft  nicht  mehr  als  das  Urbild  einer  ur- 
sprünglichen Feldgemeinschaft  gelten. 

An  die  übrigens  sehr  sorgfältige  Darstellung 
der  heutigen  russischen  Dorfverfassung  und  an 
eine  Abwägung  ihrer  Vortheile  und  Nachtheile  reiht 
de  Laveleye  ein  anderes  Bild  einer  noch  zur  Zeit 
bestehenden  ganz  ähnlichen  agrarischen  Gemein- 
schaft. Er  giebt  nach  Quellen,  die  in  Deutsch- 
land schwer  zugänglich  sind,  eine  höchst  inter- 
essante und  lehrreiche  Darstellung  der  Dorfge- 
meinschaften auf  Java.  Wir  ersehn  daraus,  daß 
noch  ein  großer  Theil  des  Landes  dort  Gemein- 
gut jst  und  daß  periodische  Auftheilungen  des- 
selben unter  die  Dorfgenossen  üblich  sind.  Mit 
dem  conservativen  Sinn,  welcher  der  holländi- 
schen Colonialverwaltung  eigen  ist,  hat  man 
nirgends  in  diese  Verhältnisse  eingegriffen.  Man 
hat  vielmehr  auch  die  Stücke,  welche  von  dem 
unbebauten  Lande  die  Regierung  den  europäi- 
schen Golonisten  überlassen  hat,  denselben  nicht 
als  Eigenthum,  sondern  zu  emphyteutischem 
Recht  auf  75  Jahre  gegeben,  so  daß  nach  Ab- 
lauf dieses  Zeitraums  eine  neue  Regulierung  der 
Besitzverbältnisse  erfolgen  kann.  Der  Verf. 
deutet  an,  daß  die  enorme  Volksvermehrung  in 
Java  (1808  3,730,000,  1872  17,298,200  Einwoh- 
ner) wohl  mit  diesen  Besitzverhältnissen  zusam- 
menhängen möge.  Schon  mehrfach  hat  man 
Befürchtungen  ausgesprochen,  daß  daraus  mit 
der  Zeit  für  die  Colonic  große  Mißstände  sich 
ergeben  würden.    Auch  uns  scheint  der  Zusam- 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  265 

menhang  nicht  unwahrscheinlich  und  wir  möch- 
ten darin  einen  Beweis  dafür  sehn,  daft  eine 
Agrarverfassung,  welche  jedem  einen  Antheil 
am  Lande  gewährt,  für  Cnlturstufen  paßt,  auf 
denen  in  Folge  Ueberflusses  an  Land  die  Aus- 
dehnung des  Ackerbaus  keine  Schwierigkeiten  hat. 
Nachdem  der  Verf.  so  die  noch  bestehen- 
den Dorfgemein8cbaften  geschildert,  wendet  er 
rieh  zu  der  germanischen  Mark.  Die  Darstel- 
lung schließt  sich  unter  Benutzung  der  Arbeiten 
von  Haussen,  Röscher  u.  A.  ganz  überwiegend 
an  6.  L.  v.  Maurer  an.  Indeß  giebt  der  Verf. 
doch  wohl  in  einzelnen  Aeußerungen  dem  Col- 
lektiveigenthum  bei  den  germanischen  Stämmen 
in  geschichtlichen  Zeiten  eine  größere  Trag- 
weite, als  die  Untersuchungen  dieser  Männer 
rechtfertigen.  Daß  nicht  erst  das  Edikt  des 
Königs  Chilperich  v.  J.  574  bei  den  Franken 
ein  Erbrecht  an  Grund  und  Boden  geschaffen, 
wie  der  Verf.  meint,  ist  schon  von  anderer  Seite 
hervorgehoben.  Ferner  kehrt  hier  die  Ansicht 
wieder,  daß  die  periodischen  Theilungen  und 
die  Reebningsprocedur  die  Bestimmung  gehabt 
hätten,  Jedem  Einwohner  des  Dorfs44  ein  An- 
recht auf  einen  Ackertheil  zu  sichern,  der  groß 
genug  war,  um  den  Bedürfnissen  der  Familie 
zu  genügen.  Wo  wir  Reste  dieser  Einrichtun 
gen  in  Scandinavien  oder  Deutschland  finden, 
war  ihre  Bestimmung  eine  beschränktere.  An 
diese  geschichtliche  Darstellung  hat  dann  der 
Uebersetzer  einen  weitern  Abschnitt  gereiht,  in 
dem  er  eine  Uebersicht  giebt  von  den  Re- 
sten der  alten  Agrarverfassung,  die  sich  in 
Deutschland  erhalten  haben.  Alle  wichtigern 
Nachrichten ,  namentlich  was  sich  in  den 
Schriften  von  Haussen,  Achenbach,  Meitzen  fin- 
det, ist  darin  sorgfältig  zusammengetragen.    Der 


266  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

folgende  Abschnitt  über  die  Allmenden  der 
Schweiz,  obwohl  mit  unendlicher  Mühe  vom 
Verf.  bearbeitet,  ist  doch  seitdem  durch  die  viel 
erschöpfenderen  Arbeiten  von  Miaskowski  tiber- 
holt. Dagegen  ist  ungemein  werthvoll,  was  der 
Uebersetzer  über  die  Allmenden  im  südwestli- 
chen Deutschland  zusammengetragen.  Nur  We- 
nige haben  wohl  genaue  Kenntniß  von  dem  Um- 
fange gehabt,  in  welchem  sich  Qemeinland  in 
dem  südwestlichen  Deutschland  erbalten  hat, 
und  vor  Allem  von  der  eigenthümlichen  Art  der 
Benutzung  desselben.  Die  dortigen  agrarischen 
Zustände  zeigen  in  dieser  Beziehung  manche 
Aehnlichkeit  mit  der  Schweiz,  lndeß  sind  doch, 
wie  der  Verf.  hervorhebt,  zwei  wesentliche  Un- 
terschiede zwischen  den  Verhältnissen  der  süd- 
deutschen und  der  schweizerischen  Allmenden. 
Einmal  fehlen  unter  den  erstem  die  großen 
Strecken  natürlichen  Weidelandes,  welche  in  den 
Gebirgsgegenden  der  Schweiz  den  Grundstock 
des  Gemeinlandes  bilden,  und  dann  ist  in  den 
süddeutschen  Staaten  in  der  Regel  die  politische 
Gemeinde  die  Eigenthümerin  des  Gemeinlandes. 
Nur  selten  haben  sich  Realgemeinden  im  Be- 
sitz der  Allmende  erhalten,  während  die  der 
Schweiz  eigenthümlichen  Zwischenbildungen  zwi- 
schen Realgemeinde  und  der  heutigen  politi- 
schen Gemeinde,  die  Bürgergemeinden,  die  Recht- 
samegemein  den,  die  Gerechtigkeitsgenossenschaf- 
ten u.  s.  w.  fast  ganz  zu  fehlen  seheinen.  Ge- 
naue statistische  Angaben  über  den  Umfang  der 
Allmenden  und  die  Art  der  Benutzung  fehlen  in 
den  meisten  süddeutschen  Staaten,  in  Württem- 
berg wird  der  Umfang  des  Gemeinlandes  1863 
auf  735,722  Morgen  angegeben,  wovon  58,285 
Morgen  Aecker,  25,864  Morgen  Wiesen,  5245 
Morgen   Gärten   und   Länder,    82,491    Morgen 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  267 

Weide  crad  andere  Cultur arten,  563,837  Morgen 
Wald.  Von  den  Gemeinden  des  Landes  besitzen 
nur  ll°/o  gar  kein  Grundeigenthum,  68,9  VqJ1*- 
ben  Waldungen,  85,6  °/0  besitzen  Aecker,  Wie- 
sen and  Weiden.  In  den  Nachbarstaaten  scheint 
verhältnißmäßig  noch  mehr  Land,  das  durch  die 
letztern  Culturarten  genutzt  wird,  Gemeinde- 
eigentham  zu  sein.  In  Hohenzollern-Hecbingen 
gehört  41  %  alles  Grundeigentums  den  Gemein- 
den, aber  darunter  noch  nicht  einmal  die  Hälfte 
Wald.  In  Baden  hatten  1854  die  Gemeinden 
softer  beträchtlichen  Waldungen  noch  160,000 
Morgen  Ackerland  und  Wiesen.  —  Ueber  die 
Art,  wie  die  Gemeindewaldungen  bewirtschaf- 
tet werden,  verbreitet  sich  der  Verf.  nicht.  Die 
früher  gemeinschaftlich  benutzten  Weiden  sind 
seit  dem  Aufkommen  der  Stallfütterung  allmäh- 
lich immer  mehr  zu  andern  Zwecken  verwandt 
worden.  Zum  Theil  werden  die  nicht  bewalde- 
ten Ländereien  für  Rechnung  der  Gemeindkasse 
verpachtet  oder  auch  bewirtschaftet.  Nament- 
lich in  Württemberg  streben  die  Gemeinden 
hauptsächlich  darnach,  aus  dem  Ertrage  der 
Allmenden  die  Gemeindebedürfnisse  ganz  oder 
zum  großen  Theil  zu  decken,  zum  Theil  werden 
sie  an  die  Gemeindebürger  zur  zeitweiligen 
Nutzung  vertheilt.  In  besonders  ausgedehntem 
Maße  scheint  das  in  Theilen  von  Baden,  Hessen 
and  Hohenzollern  der  Fall  zu  sein.  Der  Verf. 
hält  gewiß  mit  vollem  Rechte  diese  Nutzungs- 
art des  Gemeinlandes  nicht  für  alt.  Sie  sei  in 
den  meisten  Fällen  erst  entstanden,  als  die  Ge- 
meinweiden mit  Aufkommen  des  Futterkräuter- 
baus und  der  Stallfütterung  überflüssig,  die  alte 
Ackerflur  für  die  wachsende  Bevölkerung  zu 
klein  geworden  sei.  Während  nun  der  Ferner- 
stehende gewiß  in  der  Regel  geneigt  sein  wird, 


268  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

über  diese  Austheilung  kleiner  Ackerstücke  auf 
oft  nur  kurze  Zeit  a  priori  ungünstig  zu  ur- 
theilen,  lobt  der  Verf.  die  Resultate  auf  das 
Entschiedenste.  Die  Bewirtschaftung,  versichert 
er  nach  eigenen  Beobachtungen  und  manchen 
angeführten  Zeugen,  sei  eine  nachhaltige  und 
verständige,  nur  wo  periodische  Verloosungen 
mit  kurzen  Fristen  noch  gebräuchlich  seien,  lasse 
die  Instandhaltung  der  Allmendfelder  viel  zu 
wünschen,  aber  dies  Herkommen  bestehe  nur  ver- 
einzelt, in  der  Regel  würden  die  zur  Nutz- 
nießung bestimmten  Flächen  in  kleinere  und 
größere,  nach  dem  Umfang  in  Klassen  geschie- 
dene Loose  getheilt.  Die  zur  Nutznießung  be- 
rechtigten erhielten  anfangs  nur  kleinere  Grund- 
stücke und  rückten  dann  allmählich  in  die  grö- 
ßern Loose,  wenn  dieselben  frei  würden,  ein, 
um  diese  dann  auf  Lebenszeit  zu  behalten.  Das 
wirke  wie  eine  Altersversorgung,  welche  die 
auf  dem  Lande  oft  bittere  Lage  des  Alters  ver- 
bessere, die  Pietät  gegen  das  Alter  mehre  und 
die  Armenlasten  der  Gemeinde  mildere.  Den 
besitzlosen  kleinen  Handwerkern,  Tagelöhnern 
u.  s.  w.  auf  dem  Lande  werde  durch  die  klei- 
nen Ackerstücke  Gelegenheit  gegeben,  ihre  freien 
Stunden  zu  verwerthen  und  einen  Theil  ihres 
Nahrungsbedarfs  selbst  zu  erzeugen.  Jeder  sei 
so  vor  der  äußersten  Noth  gesichert.  Unter  al- 
len Umständen,  auch  bei  der  Benutzung  für  die 
Gemeindekasse,  habe  aber  ein  ausgedehntes  Ge- 
meindeland großen  Werth,  insofern  dadurch  der 
Gemeinde  ein  wichtiger  Einfluß  auf  die  land- 
wirtschaftlich zweckmäßige  Gestaltung  der  ge- 
sammten  Gemarkung  gesichert,  ein  kräftiges 
Gemeindeleben  befördert  werde  und  die  Ge- 
meindelasten vermindert  würden.  Aufs  schärfste 
verurtheilt  der  Verf.  die  Gemeinheitstheilung  als 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  269 

ungerecht  und  unwirtschaftlich  und  führt  zum 
Belege  verschiedene  Beispiele  übler  Erfolge  der- 
selben aus  dem  südwestlichen  Deutschland  an. 
Unter  voller  Anerkennung  der  vom  Verf.  ge- 
rühmten Wirkungen  der  süddeutschen  Allmenden 
wird  man  aber  doch  dies  letztere  Urtheil  in 
seiner  Allgemeinheit  bestreiten  dürfen.  Da  wo 
sich  die  alte  Dorfverfassung  mit  Flurzwang  und 
Gemeindeweide  und  damit  das  Bewußtsein  er- 
halten hatte,  daß  zu  der  Hofstätte  und  zu  dem 
Ackerlande  ein  ideeller  Antheil  an  dem  nicht 
aufgeteilten  Lande  der  Dorfflur  nothwendig  ge- 
höre, konnte  man  nicht  die  Geraeinweide  in 
ein  Eigenthum  der  politischen  Gemeinde  ver- 
wandeln, ohne  das  berechtigte  Rechtsgefühl  der 
Landbevölkerung  zu  verletzen.  Anders  ist  es 
mit  dem  Gemeinwalde.  Derselbe  bildete  nicht 
in  dem  Maße  eine  nothwendige  wirthschaftliche 
Ergänzung  des  Ackerlandes,  war  nicht  so  in 
der  ununterbrochenen ,  fast  ausschließlichen 
Nutzung  der  Grundbesitzer  und  ist  daher  nicht 
selten  ganz  allmählich  in  das  Eigenthum  der 
politischen  Gemeinde  gekommen.  Wenn  aber 
die  Gemeinweide  plötzlich  nach  Aufgabe  der 
Wirthschaftssysteme  mit  ewiger  Weide  in  eine 
andere  Nutzungsart  genommen  werden  sollte,  so 
entsprach  die  Vertheilung  nach  dem  Ueberwin- 
terungsmaßstabe  mit  kleinen  Abfindungen  für 
die  Besitzlosen  in  der  That  am  meisten  der 
herkömmlichen  Berechtigung,  wie  sie  sich  seit 
Jahrhunderten  gestaltet  hatte.  Daß  die  Dinge 
im  südwestlichen  Deutschland  sich  anders  ent- 
wickelt, liegt  wohl  zum  großen  Tbeil  darin,  daß 
die  alte  Realgemeinde  in  der  Regel  nicht  plötz- 
lich durch  eine  Operation,  wie  die  norddeut- 
schen Separationen  und  Verkuppelungen  auf- 
gelöst wurde,   sondern   allmählich  zerbröckelte 


270  Gott.  gel.  Anz.  IRfil.  Stück  9. 10. 

und  zur  Zeit,  als  die  Gemeinweiden  über- 
flüssig wurden,  meistens  schon  viel  von  ihrer 
Ursprünglichkeit  eingebüßt  hatte,  während  die 
politische,  die  Personalgemeinde,  dort  auf  dem 
Lande  ein  viel  größeres  Zusammengehörigkeits- 
gefühl entwickelt  hatte,  als  in  Norddeutsch- 
land. Was  aber  die  wirtschaftlichen  Er- 
folge betrifft,  so  konnte  die  bloße  Vertheilung 
eines  oft  nur  bescheidenen  Restes  der  Gemein- 
weiden ohne  die  eigentlich  doch  dazu  gehörige 
Zusammenlegung  aller  Grundstücke  auch  nicht 
die  günstigen  Wirkungen,  wie  die  norddeutschen 
Gemeinheitstheilungen  haben.  Indeß  kann  es 
unsere  Absicht  nicht  sein,  hier  die  im  Ganzen 
doch  wohl  unläugbaren  großen  Resultate  der 
preußischen  Separationen  oder  der  hannoverschen 
Verkoppelungen  auseinander  zu  setzen  und  sie 
abzuwägen  gegen  den  auch  unserer  Ansicht 
nach  unbestreitbaren  Nutzen,  den  die  süddeut- 
schen und  schweizerischen  Allmenden  darbieten. 
Nur  darauf  möchten  wir  noch  aufmerksam  ma- 
chen, daß  die  Vortheile  der  Ueberweisnng  klei- 
ner Ackerstücke  zu  ganz  oder  fast  unentgel- 
ticher Nutzung,  die  der  Verf.  hervorhebt,  zum 
großen  Theil  durch  die  eigenthümlichen  Ver- 
hältnisse des  südwestlichen  Deutschlands  und 
der  Schweiz  bedingt  sein  dürften.  Dort  be- 
günstigen sowohl  die  Absatzverhältnisse  wie  das 
Klima,  die  ganz  kleine'  Landwirtschaft  und 
dort  fehlt  es  in  der  Regel  an  Nebenerwerb  für 
die  Nutznießer  der  Allmenden  nicht.  Selbst  in 
diesen  Gegenden  aber,  will  es  uns  scheinen,  ver- 
wandelt sich  die  persönliche  Nutzung  der  All- 
menden durch  alle  Berechtigten  mehr  und  mehr 
in  eine  Verwendung  derselben  für  die  Gemeinde- 
kasse, sei  es  durch  förmliche  Verpachtung,  sei 
es  durch  allmähliche  Steigerung  des  von  den 
Nutznießern    zu   zahlenden   Zinses.     Die    „All- 


£.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  271 

mendgttter"  werden  immer  mehr  zu  „Kämmerei* 
gutem".  Diese  Tendenz  giebt  der  Verf.  für 
Württemberg  selbst  zu,  sie  scheint  mir  auch  aas 
Manchem  hervorzugebn,  was  Miaskowski  über 
die  Schweizer  Allmenden  mitgetheilt  hat. 

Ans  den  folgenden  Abschnitten  heben  wir 
den  über  die  Mark  in  den  Niederlanden  hervor. 
Der  Verf.  tbeilt  mit,  daß  sich  in  den  binnen« 
ländischen  Provinzen  Niederlands,  deren  Ein- 
wohner sächsischen,  nicht  friesischen  Stammes 
sind,  zahlreiche  Dörfer  mit  Flurzwang,  Drei- 
felderwirtschaft mit  ausgedehnten  Gemeinweiden 
erbalten  haben.  Die  Einhegung  der  mit  Winter- 
oder Sommerfrucht  bestellten  Theile  der  Flur, 
welche  in  Deutschland  früher  mit  todten  Zäu- 
nen geschah,  wird  dort  durch  eine  Art  von 
Mauern  aus  Heideplaggen  bewerkstelligt  Viel 
geringer  sind  die  Spuren  der  alten  Feldgemein* 
ßchaft  in  Belgien.  In  Betreff  dieses  Landes 
sind  besonders  interessant  die  Mittheilungen 
Aber  die  sogen,  virees  in  den  Ardennen,  welche 
nnsenn  Schiffellande  in  den  Moselgegenden  und 
der  Eifel  ganz  entsprechen.  Lehrreich  ist  ferner 
der  Abschnitt  über  die  Gemeindegüter  und 
Weiderrechte  in  Frankreich  und  den  Kampf 
dieser  Einrichtungen  zuerst  mit  der  Grundherr- 
Bchaft  und  dann  mit  den  Bestrebungen  zur  Her- 
stellung freien  Privateigentums.  Mit  einer  in 
der  That  erstaunlichen  Belesenheit  haben  ferner 
der  Verfasser  und  sein  Uebersetzer  gesammelt, 
was  über  agrarische  Gemeinschaft  in  irgend 
einer  Form  bei  außereuropäischen  Völkern,  ins- 
besondere der  Urbevölkerung  Amerikas  berich- 
tet ist  Die  von  Dr.  Bücher  verfaßte  Schilde- 
rung des  Inkastaats  in  Peru  zeichnet  sich  durch 
besondere  Lebendigkeit  und  Wärme  aus.  Sie 
soll  dem  Leser  anschaulich   vor  Augen   führen, 


272  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

daß  nicht  nur  unsere  heutige  Eigenthumsordnung 
culturscbaffende  Wirkungen  haben  kann. 

Nach  der  Uebersicht  über  die  Reste  alter 
Agrarverfassungen  bei  modernen  Völkern  greift 
der  Verfasser  zurück  ins  klassische  Alterthum. 
Im  Anschluß  besonders  an  eine  Arbeit  von 
Paul  Viollet  sucht  er  nachzuweisen,  daß  auch 
die  Völker  des  klassischen  AJterthums  in  ähn- 
licher Weise  wie  die  germanischen  Stämme  ur- 
sprünglich in  Feldgemeinschaft  gewirthschaftet  ha- 
ben. Uns  dünkt,  zwei  Ergebnisse  der  Untersuchung 
dürften  ziemlich  sicher  sein,  daß  nämlich  Ge- 
meinland bei  den  Griechen  und  Römern  ur- 
sprünglich vorhanden  war  und  daß  die  Verkei- 
lung der  Aecker  als  eine  Angelegenheit  der 
Öffentlichen  Ordnung  betrachtet  wurde.  Ob  aber 
eine  förmliche  Feldgemeinschaft  auch  am  Acker- 
lande bei  diesen  Völkern  jemals  bestanden  hat, 
das  scheint  uns  doch  noch  immer  sehr  zweifel- 
haft. An  diese  Erörterung  schließt  sich  eine 
kurze  Geschichte  des  Eigenthums  in  Rom.  Sie 
soll  offenbar  die  mit  dem  quiritischen  Eigen- 
thum  verbundenen  Gefahren  darthun.  Kaum  sei 
dasselbe  eingeführt  gewesen,  als  es  auch  schon 
die  Existenz  der  demokratischen  Institutionen 
und  der  Republik  durch  seine  centralisierende 
Macht  bedroht  habe.  Aber  auf  die  üble  agra- 
rische Entwicklung  Italiens  unter  der  römischen 
Herrschaft  haben  andere  ungünstige  Momente 
von  so  sichtbarem  und  überwiegendem  Einfluß 
eingewirkt,  daß  man  zur  Erklärung  des  Ver- 
falls das  quiritische  Eigenthum  nicht  heranzu- 
ziehn  braucht ;  und  weil  sich  der  Verfall  aus  an- 
dern Ursachen  hinlänglich  erklärt,  so  kann  aus 
dieser  Geschichte  auch  kein  einigermaßen  siche- 
rer Schluß  auf  die  Wirkungen  des  römischen 
Rechts  gezogen  werden.    Vergegenwärtigen  wir 


E.  de  Laveleye,  Das  Ureigenthum.  273 

ung  nnr  die  beständige  Zufuhr  tod  Sklaven  nach 
Italien  ans  den  Kriegszügen  in  eroberten  Län- 
dern, die  Wohlfeilheit  dieser  Arbeitskraft,  die 
von  jedem  Militärdienste  befreit  war,  während 
auf  dem  freien  Grundeigentümer  die  enorme  Last 
des  römischen  Kriegsdienstes  ruhte,  nehmen  wir 
hinzu,  wie  der  Getreidebau  dieser  kleinen  Bauern 
aufs  Schwerste  dadurch  geschädigt  wurde,  daß 
große  Quantitäten  Getreide  aus  den  ersten  Korn- 
ländern  des  Mittelmeers  von  Staatswegen  nach 
Rom  geführt  und  dort  verkauft  oder  zu  nomi- 
nellen Preisen  abgegeben  wurden,  so  bedarf 
man,  glaube  ich,  keiner  weitern  Erklärung  für 
die  Verdrängung  der  bäuerlichen  Ackerwirth- 
schaften  durch  große  Weidewirtbschaften  der 
Sklavenhalter. 

Nachdem  im  ersten  Theile  des  Buchs  die 
Feldgemeinschaft  der  Dörfer  und  größeren  agra- 
rischen Bezirke  erörtert  ist,  wendet  sich  im  zwei- 
ten Theile  der  Verfasser  zu  den  Hausgemein- 
schaften (communautes  de  families),  d.  h.  den 
Vereinigungen  der  Abkömmlinge  desselben 
Stammvaters,  welche  dasselbe  Haus  oder  densel- 
ben Hof  bewohnen,  gemeinsam  arbeiten  und  die 
Produkte  der  ländlichen  Arbeit  gemeinsam  ver- 
zehren. Offenbar  sind  die  Hausgenossenschaften 
eise  von  den  Dorfgenossenschaften  total  ver- 
schiedene Einrichtung.  Denn  wenn  auch  wahr- 
scheinlich die  Dorfgenossen  ursprünglich  mit 
einander  durch  das  Band  der  Verwandtschaft 
ähnlich  verbunden  waren,  wie  die  Hausgenossen, 
so  giebt  doch  die  Selbstständigkeit  der  eigenen 
Wirtschaft,  das  unbeschränkte  Walten  auf  dem 
eigenen  Hofe,  das  reine  Eigenthum  am  beweg- 
liehen Vermögen  der  Dorfschaft  einen  ganz  an- 
dern Charakter,   als  ihn   die  einem  Patriarchen 

18 


274  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

untergeordneten,  fast  jeder  Selbstständigkeit  er- 
mangelnden Familien  der  Hans-  oder  Hofcom- 
munen  haben.  Die  beiden  Abschnitte,  in  denen 
der  Verf.  die  Hausgemeinschaften  bei  den  Süd- 
slaven und  im  mittelalterlichen  Frankreich  schil- 
dert, dürften  zu  den  interessantesten  und  lehr- 
reichsten Theilen  des#  Buchs  gehören.  Der  Verf. 
hat  selbst  die  slavischen  Distrikte  südlich  von 
der  Donau  besucht  und  entwirft  auf  Grund  eige- 
ner Anschauung  ein  überaus  günstiges  Bild  von 
den  Zuständen  in  den  dortigen  Hauscommunen 
und  von  den  ökonomischen  und  socialen  Wir- 
kungen dieser  patriarchalischen  Einrichtungen. 
Ein  reiches  Material  hat  dann  aber  der  Verf. 
auch  über  die  alten  französischen  Hausgenossen- 
Schäften  gesammelt.  Wir  ersehn  daraus,  in  wel- 
cher Ausdehnung  der  Zeit  und  dem  Baume  nach 
die  Bewirtschaftung  eines  und  desselben  Guts 
durch  mehrere  Familien  dort  vorgekommen  ist. 
Der  Verf.  findet  die  Ursache  davon  nicht  in  den 
besondern  Verhältnissen  des  mittelalterlichen 
Frankreichs,  sondern  glaubt,  daß  bei  der  ersten 
Austheilung  des  Landes  zum  Ackerbau  die 
Ackerloose  nicht  unter  die  Einzelnen,  sondern 
unter  die  in  Hausgenossenschaft  zusammen  le- 
benden Familien  vertheilt  worden  seien.  Die 
'cognationes  hominum,  qui  una  coierunt'  bei  Cae- 
sar seien  Hausgenossenschaften  wie  die  in  Ser- 
bien. Wäre  dem  so,  dann  wäre  doch  das  Feh- 
len der  Hausgenossenschaften  von  mehreren  Fa- 
milien, als  wirthschaftlicher  Einheiten,  in  so  vie- 
len Gegenden,  in  denen  sich  sonst  alte  agrari- 
sche Sitten  erhalten  haben,  auffallend.  Sollte 
es  nicht  näher  liegen,  die  Erklärung  darin 
zu  suchen,  daß  die  Aufteilung  des  Landes  ur- 
sprünglich in  der  Begel  so  erfolgte,  daß  jedem 
vertheilungsberechtigten   Genossen   eine    wirth- 


E.  de  Laveleye,  Pas  Ureigenthum.  275 

sehaftliche  Einheit,  eiAe  Hufe,  als  Antheil  an 
der  Gemeindeflur  überwiesen  wurde,  daß  diese 
Einheiten  aber  ursprünglich  als  nntheilbar  an- 
gesehn  wurden  und  daß  deshalb  bei  wachsender 
Bevölkerung  zuletzt  mehrere  Familien  zusammen 
eine  Hufe  bewirtschafteten?  Die  Grundherrn 
haben  dann,  wie  der  Verf.  richtig  hervorgehoben, 
das  geschlossene  Zusammenhalten  der  ungeteil- 
ten Hufen  durch  die  Hausgenossenschaft  im  ei- 
genen Interesse  befördert.  Vielleicht  hängt  es 
damit  auch  zusammen,  daß  in  Frankreich  so 
viel  mehr  Hausgenossenscbaften  im  Mittelalter  sich 
finden  als  in  Deutschland.  Deutschland  war 
schwächer  bevölkert  und  bot  ein  weiteres  Feld 
für  die  Aussendung  von  Tochterdörfern  und  an- 
dere Niederlassungen  auf  unbebautem  Lande, 
als  das  länger  cultivierte  und  dichter  bevölkerte 
Frankreich.  Es  trat  daher  in  jenem  Lande 
auch  nicht  so  häufig  die  Nothwendigkeit  zum 
Zusammenwohnen  mehrerer  Familien  auf  einer 
Hufe  hervor,  wie  in  diesem. 

Es  folgt  dann  eine  Abhandlung  über  die 
Entstehung  der  Ungleichheit  des  Grundeigen- 
tums, in  welcher  der  Verf.  die  Ursachen, 
welche  zu  verschiedenen  Zeiten  und  bei  ver- 
schiedenen Völkern  den  Untergang  oder  das 
Zurückweichen  des  freien  Bauernthums  gegen- 
über großem  Grundbesitz  zur  Folge  gehabt  ha- 
ben, zusammenstellt  —  immer  so,  daß  man  sieht, 
wie  sehr  der  Verf.  selbst  diese  Entwicklung  be- 
dauert. Unseres  Erachtens  wird  er  der  cultur- 
historischen  Bedeutung  des  großen  Grundeigen- 
tums, wie  sie  besonders  von  Inama-Stern- 
egg  in  neuerer  Zeit  hervorgehoben,  nicht  immer 
gerecht.  Man  kann  doch  wohl  darüber  zweifel- 
haft sein,  ob  es  der  Entwicklung  des  mensch- 
lichen Geschlechts  förderlich  gewesen  wäre,  wenn 

13* 


276  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.10. 

ganz  Europa  dauernd  und  ausschließlich  von 
kleinen  Bauernrepubliken  nach  Art  der  schwei- 
zerischen Urkantone  erfüllt  geblieben  wäre. 

Die  Abschnitte  über  die  Entwicklung  der 
Grundeigenthumsverhältnisse  in  England  und  in 
Britisch-Ostindien  bieten  weniger  Eigentümliches. 
Sie  sollen,  wie  es  scheint,  die  Entstehung  des 
großen  Grundeigentums  an  zwei  Beispielen  aus 
der  neuern  Geschichte  veranschaulichen ;  dagegen 
gebührt  dem  Abschnitt  über  die  Erbpacht,  die 
freilich  mit  dem  übrigen  Inhalt  des  Buchs  nur 
in  einem  losen  Zusammenhange  steht,  das  Ver- 
dienst, auf  die  große  wirthschaftliche  Bedeutung 
dieser  Form  der  Landleihe  unter  den  Ersten 
wieder  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Lave- 
leye  ist  der  Meinung,  daß  man  wohl  etwas  vor 
eilig  über  die  Erbpacht  den  Stab  gebrochen, 
und  schildert  namentlich  die  günstigen  Wirkun- 
gen der  Erbpacht  in  der  portugiesischen  Pro- 
vinz Minho  und  der  holländischen  Groningen. 

Nach  einem  Blick  auf  einige  neuere  Ver- 
suche mit  dem  corporativem  Ackerbau  schließt 
das  Buch  mit  Erörterung  der  verschiedenen 
Eigenthumstheorien,  die  wir  hier,  um  nicht  allzu 
lang  zu  werden,  einer  Kritik  nicht  unterziehen. 

Im  entschiedenen  Gegensatz  zu  Laveleye 
steht  das  zweite  der  oben  angeführten  Bücher. 
Der  Verf.,  ein  amerikanischer  Gelehrter,  hat  sich 
vor  Allem  zur  Aufgabe  gesetzt,  nachzuweisen, 
daß  die  Annahme  eines  Collektiveigenthums  am 
Grund  und  Boden  bei  den  germanischen  Stäm- 
men eine  verkehrte  Theorie  sei.  Die  Feldge- 
meinschaft, welche  wir  in  den  Dörfern  des  Mit- 
telalters und  zum  Theil  auch  der  neuern  Zeit 
finden,  sei  ausschließlich  auf  Land  beschränkt 
gewesen,  welches  von  größern  Grundeigentü- 
mern  ihren  Sklaven   und   Knechten  ausgetheilt 


Ross,  Theory  of  village  communities.  277 

sei,  bei  freien  Grundbesitzern  komme  eine  solche 
Feldgemeinschaft  nicht  vor.  —  Daß  irgend  ein 
Zusammenhang  zwischen  der  alten  freien  Mark- 
und  Dorfgemeinschaft  und  der  hörigen,  einer 
Grundherrschaft  unterworfenen  bestehn  könne, 
längnet  er.  Es  sei  niemals  nachgewiesen  und 
könnte  auch  nicht  nachgewiesen  werden ,  wie  aus 
der  Mark  der  Fronhof  geworden  sei. 

Wie  es  scheint  haben  den  Verfasser  auf 
diese  Idee  die  neuern  Untersuchungen  über  die 
russischen  Dörfer  geführt,  welche  er  aus  einem 
Artikel  von  Wallace  in  Macmillans  Magasine  zu 
kennen  scheint.  Er  wundert  sich,  daß  die  Ar- 
beit von  Wallace  nicht  unter  den  Advokaten 
der  Theorie  der  Feld-  und  Dorfgemeinschaft 
Schrecken  verbreitet  hat,  denn  damit  sei  ja  das 
Muster  einer  altgermanischen  Dorfgemeinschaft, 
auf  das  sich  die  Anhänger  dieser  Theorie  im- 
mer vorzugsweise  berufen,  beseitigt.  Daß  auch 
nicht  einer  der  Gelehrten,  welchen  wir  die  ge- 
nauere Kenntniß  der  Geschichte  deutscher  Agrar- 
verfassung  verdanken,  aus  den  gegenwärtigen 
russischen  Zuständen  Rückschlüsse  auf  die  deut- 
sche Vergangenheit  gemacht  hat,  übersieht  der 
Verf. 

Ueberhaupt  scheinen  die  Arbeiten  deutscher 
Gelehrten  über  die  alte  deutsche  Agrarverfassung 
dem  Verfasser  nur  sehr  unvollkommen  bekannt 
zu  sein.  Er  citiert  Ct.  L.  v.  Maurer  und  Thudichum, 
sowie  einen  Artikel  des  Referenten  im  Contem- 
porary Review,  dagegen  hat  er  die  Schriften  von 
Sybel,  Hanssen,  Röscher,  Gierke  u.  A.  nicht  be- 
achtet oder  doch  einer  Berücksichtigung  nicht 
für  werth  gehalten.  So  erklärt  es  sich,  daß  er 
sich  selbst  ein  verkehrtes  oder  doch  unklares 
Bild  von  den  Ansichten  deutscher  Gelehrten  über 
die  alte   deutsche  Feldgemeinschaft  macht  und 


278  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

sich  zum  großen  Theil  in  Ausführungen  ergeht, 
welche  Thatsachen  beweisen  sollen,  die  für  die 
vorliegende  Frage  unwesentlich  und  von  den 
Männern,  deren  Ansichten  bekämpft  werden  sol- 
len, nicht  bestritten  sind. 

Das  erste  der  drei  Hefte,  aus  denen  die 
Schrift  besteht,  ist  ganz  dem  Nachweis  gewid- 
met, daß  die  ältesten  Urkunden  aus  den  ersten 
Jahrhunderten  nach  der  Völkerwanderung  Grund- 
eigenthum  mit  dem  Recht  dasselbe  zu  verkau- 
fen und  zu  verschenken  und  auch  Theilungen 
von  Grundbesitz  unter  verschiedene  Miterben 
kennen.  Sollte  diese  Thatsache  irgend  einem 
Forscher  auf  diesem  Gebiete  unbekannt  geblie- 
ben sein?  Ganz  gewiß  nicht  dem  hauptsächlich 
citierten  und  bekämpften  G.  L.  v.  Maurer.  „Die 
Loo8güteru,  sagt  Maurer  Einl.  S.  7,  „sind  frühe 
schon  in  Sonderei genthum  übergegangen.  —  In 
Deutschland  —  wahrscheinlich  schon  zur  Zeit  der 
Völkerwanderung  und  der  darauf  folgenden  Nie- 
derlassungen in  den  Römerprovinzen  ebensowohl 
wie  in  England  und  in  Deutschland  selbst.  Da 
man  nämlich  bald  nach  jenen  Niederlassungen 
in  den  ältesten  Volksrechten  und  Urkunden  be- 
reits Erbeigen  findet  u.  s.  w.tf. 

Der  Verf.  befindet  sich  dann  weiter  in  einem 
Irrthume  über  die  Bedeutung  dieser  Thatsache 
für  die  alte  Feldgemeinschaft.  »The  theory  of 
joint  ownership  of  lande,  sagt  er  S.  7,  »is  not 
consistent  with  the  law  of  allodial  inheritance, 
because  joint  ownership  involves  periodic  or 
occasional  redistribution  and  every  redistribution 
would  involve  a  breach  of  the  lawc.  Und  ferner 
S.  10:  »Fancy  one  acquiring  land  by  gift  and 
purchase  and  finding  it  next  day  merged  with  that 
of  neighboring  proprietors  for  redistribution!« 
Offenbar  ist  er  der  Ansiebt,  daß  die  neue  Verthei- 


Ross,  Theory  of  village  communities.  279 

long  des  Landes  in  einer  Mark-  oder  Dorfgenos- 
senschaft immer  nur  nach  der  wechselnden  Kopf- 
zahl zu  gleichen  Theilen  geschehn  könne,  und 
tibersieht  völlig,  daß  auch  eine  Feldgemeinschaft 
möglich,  bei  der  die  Genossen  das  Land  zu  un- 
gleichen, aber  doch  ideellen  Theilen  besitzen  kön- 
nen. »Joint  ownership  implies  equality«  wiederholt 
er  mehrfach.  (I.  S.  21 :)  „If  the  land  was  owned  per 
stirpes ,  the  community  was  a  community  without 
communism  a  »Markgenossenschaft  ohne  Feld- 
gemeinschaft«11. Die  Schrift  von  Hanssen  über 
die  Gehöferschaften  im  Reg.-Bez.  Trier  muß  ihm 
unbekannt  geblieben  sein,  sonst  wäre  eine  so 
verkehrte  Auffassung  nicht  möglich. 

Eigenthümlich  ist  die  Art,  wie  der  Verf.  mit 
den  dunklen  und  unklaren  Zeugnissen  des  Ta- 
citus und  den  bestimmten  und  deutlichen  des 
Julias  Caesar  über  die  agrarischen  Zustände  der 
Germanen  umgeht.  Er  hat  vor  diesen  Berichten 
geringen  Respect.  „Man  sagt",  so  sind  seine 
Worte,  „daß  Caesar  und  Tacitus  die  Einrich- 
tung von  Gesammteigenthum  am  Grund  und  Bo- 
den beschreiben,  welche,  wie  wir  sehn,  nicht 
vereinbar  ist  mit  allodialem  Erbrecht.  Ist  dem 
so,  so  würden  wir  abzuwiegen  haben  das  Zeug- 
niß  des  Caesar  und  Tacitus  gegen  alle  die  Ge- 
setze, Formeln  und  Urkunden,  die  wir  mitge- 
teilt haben,  und  ich  fürchte  das  Zeugniß  des 
Caesar  und  Tacitus  würde  da  sehr  wenig  wie- 
gen". Welch*  ein  Zeitraum  und  welche  Bege- 
benheiten zwischen  Julius  Caesar  und  den  er- 
sten agrarischen  Urkunden  liegen,  wird  da  ganz 
außer  Acht  gelassen.  Der  Verf.  sucht  dann  aber 
ferner  auch  außerdem  nachzuweisen,  daß  diese 
Schriftsteller  mißverstanden  sind.  Wir  gehn 
nicht  ein  auf  seine  Interpretation  der  viel  be- 
sprochenen Stelle  des  Tacitus,  in  der  hauptsäch- 


280      Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.10. 

lieb  die  Verkeilung  secundum  dignationem  nach 
der  Ansicht  des  Verfassers  der  Annahme  einer 
Feldgemeinschaft  widersprechen  soll.  Von  Jul. 
Caes.  VI.  22  und  IV.  1.  sagt  er:  we  should  say 
there  was  no  ownership  at  all,  only  adverse 
possession  for  a  short  time  by  groups  of  kinsmen. 
Im  zweiten  Heft  folgt  nun  die  nähere  Aus- 
führung des  Gedankens,  daß  die  mittelalterlichen 
„land  communities"  nur  Gruppen  von  Leibeige- 
nen waren,  ohne  Eigenthum  am  Grund  und  Bo- 
den, in  denen  die  Gleichheit  der  bäuerlichen 
Besitzungen  durch  den  Willen  des  Grundherrn 
eingeführt  und  erhalten  wurde.  Daß  jemals  aus 
einer  freien  Dorfschaft  eine  grundherrliche  ge- 
worden, das  sei  nicht  nachgewiesen  und  wenn 
die  Verbindung  zwischen  dem  group  of  allodial 
proprietors  und  den  group  of  serfs  nur  durch 
Analogieen  bewiesen  werden  könne,  so  könne 
sie  eben  überhaupt  nicht  bewiesen  werden.  Da- 
gegen lasse  sich  nachweisen:  1.  Daß  Genossen- 
schaften von  Leibeigenen  (assemblages  of  serfs) 
unter  allodialer  Grundherrscbaft  bei  den  verschie- 
denen deutschen  Stämmen  im  fünften  oder  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  sich  finden.  2.  Daß 
dieselben  existiert  haben  in  vorhistorischer  Zeit, 
vor  Tacitus,  der  sie  erwähnt.  3.  Daß  dieselben 
identisch  sind  mit  den  Genossen  der  Leibeigenen 
unter  feudaler  Grundherrlichkeit.  Auch  da  müs- 
sen wir  den  Verf.  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  unseres  Wissens  Niemand  behauptet  hat, 
die  Grundherrschaft  sei  erst  in  den  Zeiten  des 
Lehnswesens  entstanden  und  daß  es  ebenso 
großer  Irrthum  ist,  wenn  er  glaubt,  daß  man 
die  Zunahme  der  Grundherrschaft  und  die  Un- 
terwerfung zahlreicher  freier  Gemeinden  unter 
dieselben  in  Deutschland  nur  auf  Grund  von 
analogen  Erscheinungen  bei  andern  Völkern  an- 


Ross,  Theory  of  village  communities.  281 

genommen  habe.  Nur  in  Folge  dieser  Irr- 
tbümer  kann  der  Verf.  dann  auf  den  Gedanken 
kommen,  mit  dem  Nachweis  von  gruudberrlichen 
Dorfgenossenschaften  in  ältester  Zeit  sei  bewie- 
sen) daß  es  keine  freie  Dorf-  oder  Markgenos- 
senschaften jemals  gegeben  habe.  Denn  darauf 
beschränkt  sich  in  der  That  der  Beweis  des 
Verf.  für  Punkt  3.  Wie  es  nun  aber  gekommen, 
daß  gerade  in  den  ältesten  Sitzen  bäuerlicher 
Freiheit,  wie  namentlich  in  den  Urkantonen  der 
Schweiz,  sich  die  Reste  agrarischer  Gemeinschaft 
in  so  ausgedehntem  Maße  erhalten,  diese  Frage 
bat  sich  der  Verf.  gar  nicht  aufgeworfen. 

Im  dritten  Heft  versucht  dor  Verf.  die  Be- 
weise, welche  die  Anhänger  der  Theorie  von 
der  ursprünglichen  Feldgemeinschaft  für  ihre 
Ansicht  aufgestellt  haben,  zu  widerlegen.  Wir 
räumen  dem  Verf.  ein,  daß  er  einzelne  Citate, 
besonders  bei  G.  L.  v.  Maurer  gefunden  hat,  die 
nicht  ganz  das  besagen,  was  sie  nach  der  Mei- 
nung des  Gitierenden  bedeuten  sollen.  Bei  einem 
so  fruchtbaren  und,  wie  wir  zugeben  wollen,  in 
Bezug  auf  die  Markgenossenschaft  auch  mitunter 
etwas  einseitigen  Schriftsteller  ist  das  nicht  ge- 
rade ein  Wunder.  Für  die  ganze  Frage  ver- 
schlagen aber  diese  Stellen  sehr  wenig.  Der 
Verf.  bricht  auch  hier  seiner  Polemik  dadurch 
die  Spitze  ab,  daß  er  die  Ansichten  der  Gegner, 
welche  er  bekämpft,  nicht  scharf  auffaßt. 
„According  to  von  Maurer ,  .  Prof.  Nasse  and 
their  followers,  the  earliest  form  of  possession  of 
land  among  the  Germans  was  collective  owner- 
ship involving  redistributions  per  capita".  Wie- 
derholt wird  die  alte  Feldgemeinschaft  definiert 
als  proprietorship  per  capita  according  to  von 
Maurer.  Die  wiederholten  Verkeilungen  nach 
der  Kopfzahl  sind  es  denn  auch   ausschließlich, 


282  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

welche  bestritten  werden.  Sind  sie  nicht  nach- 
weisbar, so  sind  alle  Resultate  dentscher  For- 
schung über  die  älteste  Agrarverfassung  umge- 
stoßen. Nnn  wird  aber  jeder  gern  zugeben, 
daß  wir  wenig  Über  die  Art  der  Vertheilung  des 
Landes  unter  die  verschiedenen  Volksklassen 
bei  der  ersten  festen  Niederlassung  deutscher 
Stämme  wissen  und  daß  die  periodischen  Ver- 
keilungen des  Ackerlandes  in  Dörfern,  von  de- 
nen wir  Kunde  haben,  keine  Verkeilungen  nach 
wechselnder  Kopfzahl  waren,  wie  ich  das  oben 
schon  hervorgehoben.  Ich  habe  sorgfältig  nach- 
gesucht, welche  Stellen  in  den  beiden  ausschließ- 
lich citierten  Schriften,  in  Maurers  Einleitung 
und  meinem  Artikel  im  Contemporary  Review 
Veranlassung  zu  diesem  Mißverständniß  gegeben 
haben.  Maurer  spricht  von  wiederholten  Verthei- 
lungen  unter  die  „Landeigner",  die  „Gemeinde- 
genossen11, citiert  aber  zugleich  Beispiele,  in 
welchen  die  Vertheilung  unter  die  angesessene 
Bauernschaft  oder  nach  gehöferschaftlichen  An- 
theilen  stattfand.  Ich  habe  nur  ganz  im  Allge- 
meinen von  Verkeilungen  unter  die  community 
gesprochen,  welche  die  alte  wilde  Feldgraswirth- 
gchaft  naturgemäß  mit  sich  gebracht  habe.  Von 
diesem  ganzen  Zusammenhang  mit  der  Art  der 
Bodenbenutzung  weiß  der  Verf.  gar  Nichts.  Wie 
kann  man  aber  über  diese  Dinge  urtheilen  ohne 
sich  irgend  ein  Bild  von  den  älteren  Arten  des 
Ackerbaus  zu  machen  und  unter  völliger  Igno- 
rierung der  darüber  angestellten  Untersuchungen? 
Nach  der  Polemik  gegen  Maurer  wendet  sich 
der  Verf.  gegen  Thudicbum  (Gau-  und  Markver- 
fassung in  Deutschland).  Er  übersetzt  eine 
Stelle  dieses  Buchs  S.  183 :  „Noch  Jahrhunderte 
machte  sich  der  Gesichtspunkt  geltend,  daß  der 
Einzelne  sein  Ackerland  nur  von  der  Gemeinde 


Rose,  Theory  of  village  communities.  288 

besitze"  nicht  ganz  genau:  „for  centuries  the 
individual  got  his  land  from  the  community,  of 
which  he  was  a  member".  Die  Uebersetzang 
mnß  die  Meinung  erregen,  daß  Thudichum  eine 
Jahrhunderte  fortgesetzte  Zutheilung  von  Land 
an  die  Einzelnen  behauptet  hätte.  Th.  hatte 
zur  Stütze  seiner  davon  offenbar  sehr  differie- 
renden Ansieht  sich  auf  Reste  der  alten  Agrar- 
verfa8süng  und  auf  Rechtsanschauungen  im 
Volke  berufen,  die  sich  aus  den  älteren  Zeiten 
bis  ins  Mittelalter  erhalten  hatten,  Denman  Roß 
wirft  ihm  vor,  daß  er  die  Zeiten  vermenge. 
Die  Zeugnisse  für  Privateigenthum  und  Erbrecht 
seien  aus  den  Jahren  500—800,  die  für  Com- 
nnraismus  und  Gleichheit  aus  der  Zeit  von  800 
-1600.  —  Thudichum  beweise  daher  nur,  daß 
nicht  das  Privateigenthum  aus  dem  Collektiv- 
eigenthum  sich  entwickelt,  sondern  daß  da,  wo 
früher  Privateigenthum  war,  später  Communis- 
nros  entstanden  sei! 

Als  Stütze  für  seine  Ansichten  beruft  sich 
der  Verf.  auf  Inama-Sternegg ,  der  in  Conrads 
Jahrbüchern  eine  anerkennende  Besprechung  des 
ersten  Hefts  dieser  Studien  gegeben  hat.  Dieser 
Gelehrte  steht  ja  in  seiner  Ansicht  von  der  Be- 
deutung der  alten  Markverfassung  allerdings  in 
einem  gewissen  Gegensatz  zu  den  andern  von 
nn8erm  Verfasser  citierten  deutschen  Gelehrten. 
Aber  gerade  die  Stellen ,  welche  aus  Inama- 
Sternegg's  Schriften  angeführt  werden,  enthalten 
keinen  solchen  Gegensatz.  Wenn  derselbe  sagt, 
daß  Sondereigenthum  an  Grund  und  Boden 
allenthalben  bei  den  deutschen  Volksstämmen 
«nr  Zeit  ihrer  Volksrechte  bestand  oder  daß  vor 
der  Völkerwanderung  noch  nicht  mit  Bestimmt- 
heit allgemein  Sondereigenthum  am  Ackerlande 
angenommen   werden  könne,    nach  der  Völker. 


284  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.10. 

Wanderung  dasselbe  aber  unzweifelhaft  als  vor- 
herrschend auftrete,  so  stimmen  diese  Aeußerun- 
gen  so  ziemlich,  mit  dem  vorher  von  G.  L.  v. 
Maurer  angeführten,  in  denen  dieser  anerkennt, 
daß  zur  Zeit  der  Volksrechte  und  bald  nach  der 
Völkerwanderung  die  Loosgtiter  schon  Erbeigen 
waren. 

Trotz  fleißigen  Studiums  der  Urkunden  scheint 
uns  daher  der  Verf.  die  vorliegende  Frage  we- 
nig gefordert  zu  haben.  Er  würde  unseres  Er- 
achtens  weiter  gekommen  sein,  wenn  er  die 
Fragen  des  Rechts  nicht  von  denen  der  Wirth- 
schaft  völlig  losgelöst  hätte.  Insbesondere  die 
bei  der  Untersuchung  des  Verfassers  im  Vorder- 
grund stehende  Frage,  ob  eine  periodische  Neu- 
vertheilung  von  Ackerland  in  den  ältesten  ger- 
manischen Dörfern  stattgefunden,  läßt  sich  von 
der  nach  dem  Wirtschaftssysteme  derselben  nicht 
trennen  und  wenn  man  eine  wilde  Feldgras- 
wirthschaft  für  das  Wirtschaftssystem  der  alten 
Deutschen  hält,  wird  man,  glaube  ich,  auch  eine 
solche  periodische  Wiedervertheilung  für  wahr- 
scheinlich halten,  einerlei  ob  die  Dörfer  freie, 
oder  grundherrliche  Dörfer  waren. 

Bonn.  E.  Nasse. 


Logik.  Eine  Untersuchung  der  Principien  der  Erkennt- 
nis und  der  Methoden  wissenschaftlicher  Forschung 
von  Wilhelm  Wundt.  Zwei  Bände.  1.  Band : 
Erkenntnißlehre.  Stuttgart,  Ferdinand  Enke  1880. 
XII.    585  Seit.    8°. 

Ein  neues  Werk  von  Wundt  wird  sowohl  der 
Freund  als  auch  der  Gegner  mit  Interesse  er- 
scheinen sehen  und  mit  Spannung  in  die  Hand 
nehmen,  da  man  in  diesem  Manne  den  besonne- 
nen und  selbstständigen  Forscher,  welcher  mit 
.Liebe  und  hervorragender  Gewissenhaftigkeit  in 


Wundt,  Locrik.    Bd.  I.  285 

seinen  Stoff  sich  versenkt  und  mit  dialektischer 
Gewandtheit  denselben  zu  verarbeiten  weiß, 
schon  seit  Langem  hat  schätzen  müssen.  Die- 
ses eben  ist  es,  was  einen  Jedem  mit  einer  ge- 
wissen inneren  Beruhigung  zu  einem  neuen 
Buche  Wundt's  greifen  läßt,  weil  die  Ueber- 
zeugung  lebendig  geworden  ist,  daß  hier  fertige 
Arbeit  geliefert  sei,  und  daß,  wenn  etwa  neue 
Ansichten  einschneidender  Art  dargeboten  wer- 
den, dieselben  doch  nicht  zu  jenen  flachgegrün- 
deten Ueberraschungen  zu  zählen  seien,  mit  de- 
nen nns  zu  unterhalten  das  gegenwärtig  schrift- 
stellernde  Publicum  ja  sonst  nicht  selten  be- 
müht ist. 

Es  ist  ein  umfassend,  aber  keineswegs  zu 
breit  angelegtes  Werk  über  Logik,  dessen  erste 
Hälfte  unter  dem  Titel:  Erkenntnißlehre  vor» 
liegt.  Mag  es  auch  vielfach  Bedenken  erregen, 
eine  systematische  Arbeit  bruchstückweise  er- 
scheinen zu  sehen,  so  müssen  doch  im  vorlie- 
genden Fall  derartige  Bedenken  schweigen. 
Denn  gemäß  der  Wundt'schen  Auffassung  von 
den  Anforderungen,  welche  die  Wissenschaft  be- 
rechtigter Weise  an  die  Logik  stellen  dürfe, 
können  die  beiden  Hälften:  der  logisch-erkennt- 
nißtheoretische  und  der  methodologische  Theil 
ohne  Schaden  getrennt  und  nach  einander  dar- 
geboten werden.  In  dem  ersteren  Theil  behan- 
delt Wundt  „die  Entwicklung  des  Denkens,  die 
logischen  Normen  desselben  und  die  für  das 
logische  Denken  und  seine  Anwendungen  gülti- 
gen Principien  der  Erkenntniß",  der  andere 
Theil  dagegen  „wird  sich  mit  den  Formen  des 
systematischen  Denkens  und  mit  den  Methoden 
der  wissenschaftlichen  Untersuchung  beschäfti- 
gen". Der  vorliegende  erste  Theil  ist  für  die 
Logik  als  Wissenschaft  offenbar   der  wichtigste, 


28G  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

weil  er  der  grundlegende  ist,  von  dem  auch  die 
Darstellung  der  Methoden  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung  durchgängig  abhängen  muß,  wenn- 
gleich andrerseits  Wundt's  Bemerkung  richtig  ist, 
daß  „die  Formen  der  systematischen  Darstellung 
zurückweisen  auf  die  Methoden  der  Untersuchung 
oder  auf  diejenigen  Verfahrungsweisen,  deren 
sich  die  wissenschaftliche  Forschung  bedient,  um 
Probleme  zu  lösen  und  von  bestimmten  Ergeb- 
nissen aus  zur  Aufstellung  neuer  Probleme  zu 
gelangen.  In  der  Geschichte  der  Wissenschaft 
geht  die  Gewinnung  des  Wissens  seiner  syste- 
matischen Entwicklung  noth wendig  voran". 

Von  durchschlagender  Wichtigkeit  und  ver- 
heißungsvoller Bedeutung  für  die  Entwicklungs- 
geschichte der  Logik  ist  nun  meines  Erachtens 
die  von  Wundt  geforderte,  aus  dem  oben  mit- 
geteilten kurzen  Programm  ersichtliche  enge 
Verknüpfung  der  Logik  mit  der  Erkenntniß- 
theorie:  „Die  Logik  bedarf  der  Erkenntniß- 
theorie  zu  ihrer  Begründung".  Vielleicht  nicht 
minder  wichtig  ist  auch  die  in  dem  zu  erwar- 
tenden zweiten  Theil  der  Logik  entwickelte 
Forderung  Wundt's:  „Die  Logik  bedarf  der  Me- 
thodenlehre zu  ihrer  Vollendung".  Hier  kann 
uns  aber  jetzt  vor  Allem  erst  jene  erste  Forde- 
rung beschäftigen,  mit  welcher  Wundt,  wie  ich 
meine,  die  Hoffnung  verbinden  darf,  daß  erden 
die  Logik  seit  Langem  fesselnden  eisernen  Bing 
der  Ueberlieferung  endgültig  sprengen  werde. 

Wundt  nennt  die  von  ihm  vertretene  Logik 
die  wissenschaftliche  und  vindiciert  ihr  diesen 
Titel  von  zwei  Gesichtspunkten  aus,  einmal  weil 
sie  die  Gesetze  des  logischen  Denkens  nicht 
als  unerklärte  Thatsachen  einfach  hinstellen, 
sondern  auf  ihren  Ursprung  in  der  inneren  Er- 
fahrung zurückführen  und  über  den  Grund  ihrer 


Wundt,  Logik.   Bd.  I.  287 

Evidenz  sowie  über  die  Bedingungen,  unter  de- 
nen ihre  Anwendung  thatsächliche  Erkenntnis 
herbeiführt,  Rechenschaft  geben  will;  dann 
aber  auch,  weil  sie  den  theoretischen  Wissen- 
schaften (durch  Feststellung  der  Methoden  wis- 
senschaftlicher Forschung)  wirkliche  Dienste  lei- 
sten will.  So  stellt  sich  diese  „wissenschaft- 
liche" d.i.  die  erkenntnißtheoretisch  und  metho- 
dologisch bearbeitete  Logik  mitten  inne  zwischen 
die  formale  und  die  metaphysische  oder  dialektische 
Logik,  welche  letzteren  beide  mit  Recht  als  ein- 
seitige Richtungen  bezeichnet  werden.  Denn  die 
formale  Logik,  die  als  ihre  einzige  Aufgabe 
die  Darstellung  der  Formen  des  Denkens  an- 
sieht und  demgemäß  etwa  den  Namen  „Kunst- 
lehre des  Denkens"  annimmt,  befriedigt  keines- 
wegs die  Ansprüche,  welche  die  Einzelwissen- 
schaften an  die  Logik  zu  stellen  berechtigt 
sind,  da  sie  weder  zeigt,  wie  die  Denkgesetze 
entstehen  und  warum  dieselben  gültig  sind,  noch 
anch  die  wissenschaftlichen  Verfahrungsweisen 
auf  ihre  logischen  Regeln  zurückzuführen  unter- 
nimmt. Nicht  weniger  einseitig  aber  ist  die 
metaphysische  Logik,  welche  umgekehrt  mehr, 
als  von  der  Logik  überhaupt  verlangt  wird,  lei- 
sten will,  indem  sie  das  Denken  für  das  Werk- 
zeug hält,  welches  „dem  Wissen  nicht  bloß 
seine  Form  gebe,  sondern  auch  den  Inhalt  des- 
selben aus  sich  hervorbringe",  also  aus  sich 
selbst  reales  Wissen  gewinne :  solchen  „dialekti- 
schen Bestrebungen" ,  Wissen  aus  dem  reinen 
Denken  herauszuspinnen,  liegt,  sei  es  versteck- 
ter, sei  es  offener  Weise  die  Annahme  einer 
Identität  des  Denkens  und  Seins  zu  Grunde. 
Diese  Einseitigkeiten  sucht  die  „wissenschaft- 
liche" Logik,  welche  eben  mit  vollem  Recht 
ihre  Aufgabe  in   der  Entwicklung   der  Grund- 


288  Gott.  gel.  An*.  18R1.  Stück  9. 10. 

lagen  und  Methoden  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntniß  sieht,  zu  vermeiden,  indem  sie  einer- 
seits nicht  mit  der  formalen  Logik  die  Voraus- 
setzung theilt,  daß  „die  Denkformen  gleichgül- 
tig seien  gegen  den  Erkenntnißinhalt ;  denn  eine 
solche  Voraussetzung  steht  im  Widerspruch  mit 
dem  überall  von  der  Wissenschaft  festgehalte- 
nen Grundsatz ,  daß  die  Erkenntnißmethoden 
sich  richten  müssen  nach  ihren  Objectentt ;  andrer- 
seits aber  tritt  die  „wissenschaftliche"  Logik 
auch  ihrer  dialektischen  Schwester  entgegen, 
indem  sie  die  Voraussetzung  einer  Identität 
des  Denkens  und  Seins  oder  auch  .nur  eines 
Parallelismus  der  Existenz-  und  Erkenntnißfor- 
men  zurückweist,  weil  aus  derselben  als  einem 
metaphysischen  obersten  Axiom  die  Versuchung 
sich  erhebe,  das  Wirkliche  aus  den  Denkformen 
zu  construieren.  Damit  die  letztere  Abweisung 
indeß  nicht  falsch  verstanden  werde ,  weist 
Wundt  darauf  hin,  daß  diese  metaphysische  An 
nähme  ihre  thatsächliche  Grundlage  in  einer 
Voraussetzung  habe,  welche  allerdings  unser 
Denken  an  jede  Erkenntniß  heranbringt,  daß 
nämlich  „das  Denken  ein  zur  Erkenntniß  ge- 
eignetes Werkzeug  und  hiedurch  befähigt  sei, 
schließlich  eine  Uebereinstiramung  unserer  Be- 
griffe mit  den  Erkenntnißobjecten  zu  erreichen". 
Der  Forderung  jedoch,  daß  das  Denken  von  sei- 
nen Objecten  bestimmt  sei,  entgeht  die  meta- 
physische Logik  gerade  durch  ihr  Identitäts- 
axiom ,  sie  will  vielmehr ,  daß  die  Objecte 
nach  dem  Denken  sich  richten.  Wundt  aber 
ist  der  Ansicht,  daß  „bei  ^eder  wissenschaftli- 
chen, nicht  durch  metaphysische  Annahmen  ge- 
störten Forschung  neben  der  schließlichen  Ueber 
ein8timmung  der  Begriffe  mit  den  wirklichen 
Dingen   die   anfängliche  Verschiedenheit  beider 


Wnndt,  Logik.   Bd.  I.  289 

ah  Voraussetzung  gelte.  Indem  sich  das  wis- 
senschaftliche Denken  fortwährend  zwischen  die- 
sen beiden  Endpunkten  seines  Weges  befindet, 
empfängt  es  rechtzeitig  den  Antrieb  zu  seiner 
Thätigkeit  und  den  Math  zu  seiner  Ausdauer". 
Die  schließliche  Uebereinstimmung  könne  sich 
nie  in  eine  Identität  umwandeln,  sondern  einzig 
und  allein  die  Bedeutung  einer  „Nachbildung 
der  Objecte  gewinnen,  bei  welcher  das  Denken 
sich  bewußt  ist,  alle  Forderungen  erfüllt  zu  ha- 
ben, welche  die  Wirklichkeit  seiner  nachbilden- 
den Thätigkeit  stellt".  Der  „wissenschaftlichen" 
Logik  besteht  also  „der  Zweck  des  Denkens  in 
der  erreichbaren  Uebereinstimmung  dessel- 
ben mit  seinen  Gegenständen".  Diese  Sätze 
sind  von  grundlegender  Wichtigkeit  für  die 
Art,  wie  Wundt  die  erkenntnißtheoretische  Be- 
arbeitung der  Logik  durchfährt,  und  ich  werde 
auf  dieselben  weiter  unten  zurückkommen,  in- 
dem ich  auch  noch  jenen  anderen  sich  anschlie- 
ßenden Satz  Wundt's  hereinnehme,  daß  „vermöge 
der  unmittelbaren  Selbstunterscheidung  des  Den- 
kens von  seinen  Gegenständen  sieh  jene 
schließliche  Uebereinstimmung  niemals  in  eine 
Identität  umwandeln  könne". 

Nach  Wundt  nimmt  diese  wissenschaftliche 
Logik,  welche  von  denjenigen  Gesetzen  des 
Denkens,  die  bei  der  Erforschung  der  Wahrheit 
wirksam  sind,  Rechenschaft  geben  will,  die 
Stellung  zwischen  der  Psychologie,  „der  allge- 
meinen Wissenschaft  des  Geistes",  und  der  Ge- 
sammtheit  der  übrigen  Wissenschaften  ein.  Da 
nun  die  Logik  feststellen  soll,  wie  „der  Verlauf 
unserer  Gedanken",  von  dem  uns  die  Psycholo- 
gie lehrt,  wie  er  sich  wirklich  vollzieht,  sich 
vollziehen  soll,  damit  er  zu  richtigen  Erkennt- 
nissen führe,  so  scheint  die  Behauptung  begrün- 

19 


290  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

det,  daß  die  Aufgaben  der  Logik  auf  die  psy- 
chologische Untersuchung  zurückweisen,  daß  also 
in  der  Darstellung  dieser  Logik  auszugehen  sei 
von  der  „psychologischen  Entwicklung  des  Den- 
kens", wobei  man  sich  dann  zugleich  .Rechen- 
schaft zu  geben  sucht  von  den  Eigenthümlich- 
keiten,  welche  die  logischen  Gedankenverbin- 
dungen gegenüber  anderen  Formen  der  Verbin- 
dung und  des  Verlaufs  der  Vorstellungen  dar- 
bieten/ Gegen  diese  Bestimmungen  erheben 
sich  mir  indeß  von  einer  Seite  gewisse  Be- 
denken. 

Ich  begrüßte  es  oben,  daß  Wundt  die  Logik 
mit  der  Erkenntnistheorie  in  enge  Verbindung 
zu  bringen  suche,  da  ich  aus  dieser  Verbindung 
vor  Allem  eine  Befruchtung  der  formalen  Logik 
erhoffe;  wenn  ich  nun  aber  auf  die  von  Wundt 
präcisierte  Verbindung  beider  Wissenschaften 
näher  eingehe,  so  sehe  ich  mich  durch  dieselbe 
nicht  befriedigt  Wundt  will  die  Erkenntniß- 
theorie  in  die  Logik  hineinnehmen;  denn  weil 
einerseits  die  Logik  der  Hülfe  erkenntnißtheo- 
retischer  Untersuchungen  gar  nicht  entbehren 
könne  und  andrerseits  die  Fundamentalbegriffe 
und  Gesetze  der  wissenschaftlichen  Erkenntniß 
in  nächster  Beziehung  zu  den  allgemeinen  Denk- 
gesetzen stehen,  so  erscheine  es  mindestens 
Praktisch  undurchführbar,  die  Gebiete  der  Er- 
enntnißtheorie  und  der  wissenschaftlichen  Lo- 
gik in  der  Darstellung  von  einander  zu  trennen. 
Logik  und  Metaphysik  sollen  demnach  die  bei- 
den Hälften  der  theoretischen  Philosophie  bilden, 
indem  die  Metaphysik,  wenn  Philosophie  über- 
haupt die  Lösung  der  den  einzelnen  Wissen- 
schaften gemeinsamen  Probleme  zur  Aufgabe 
hat,  sich  mit  dem  allgemeinen  Inhalt  des  Wis- 
sens, die  Logik  aber  mit  den  Grundlagen  des- 
selben und  den  Normen  seiner  Entwicklung  be- 


Wundt,  Logik.   Bd.  I.  291 

schäftige.  Man  fragt  sich  hier  billig,  wobleibt 
denn  die  Psychologie,  diese  Grundlage  der 
„wissenschaftlichen"  Logik;  gehört  sie  nicht 
zur  theoretischen  Philosophie,  so  wird  sie,  da 
sie  nicht  in's  Gebiet  der  praktischen  Philosophie 
fallen  kann,  zu  den  „einzelnen  theoretischen 
Wissenschaften a  gezählt  werden  müssen. 

Es  könnte  nun  schon  Wunder  nehmen,  daß 
eine  Wissenschaft,  welche,  wie  alle  „theoreti- 
schen" Wissenschaften,  die  Dienste  der  „wissen- 
schaftlichen" Logik  in  Anspruch  nehmen  soll, 
ihrerseits  zunächst  der  Logik  grundlegende 
Dienste  zu  leisten  habe.  Denn  nicht  verhält  es 
sich  hier  mit  Logik  und  Psychologie  in  gleicher 
Weise,  wie  mit  der  Metaphysik  und  den  „Er- 
fahrungswissenschaften", die  sich  gegenseitige 
Dienste  leisten  und  in  wechselseitiger  Abhängig- 
keit stehen,  insofern  die  Metaphysik  die  Be- 
griffe und  Gesetze  der  Erfahrungswissenschaften 
„einer  letzten  Bearbeitung  unterzieht";  dieses 
Geschäft  führt  keineswegs  die  Logik  an  den 
Begriffen  und  Gesetzen  der  Psychologie  aus. 
Aber  die  Logik  ist  eine  Wissenschaft  des  mensch- 
lichen Geistes,  und  wenn  .es  wahr  ist,  daß,  wie 
Wundt  erklärt,  die  Psychologie  die  allge- 
meine Wissenschaft  des  Geistes  bedeutet,  so 
möchte  vielleicht  die  Logik  eine  angewandte 
Psychologie  genannt  werden  können,  und  zwar 
eine  auf  das  Erkennen  angewandte  Psychologie. 
Die  Logik  stellt  dann  die  psychologischen  Denk- 
gesetze, welche  zum  Wissen  führen,  dar,  sie 
zeigt,  wie  man  richtig  zu  denken  habe  d.  h. 
wie  man  denken  müsse,  um  zu  richtigen  Er- 
kenntnissen zu  gelangen;  oder,  wie  Wundt 
sagt,  die  Logik  stellt  das  werdende  Wissen  dar. 

Wem  diese  Erklärnng  beliebt,  der  wird  sich 
nun  aber  wohl   nicht   mit  der  eigentümlichen, 

ID* 


292  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

von  Wundt  vorgeschlagenen  Verknüpfung  voto 
Logik  and  Erkenntnistheorie  mffl  ihrer  beider- 
seitigen Grundlegung  durch  die  Psychologie 
einverstanden  erklären  können,  wenigstens  ist 
dies  der  Punkt,  welcher  mich  hindert,  Wundt's 
Auffassung  völlig  zu  der  meinigen  machen  zu 
können.  Ist  nemlich  Logik  die  auf  das  Erken: 
nen  angewandte  Psychologie,  so  setzt  meiner 
Meinung  nach  diese  Anwendung  der  Psycholo- 
gie die  Erörterung  desjenigen,  was  Erkennen 
sei,  voraus,  da  mir  ohne  dieses  Wissen  die  Mög- 
lichkeit einer  solchen  Anwendung  undenkbar 
ist  Die  Wissenschaft  aber,  welche  die  Frage, 
was  das  Erkennen  sei,  zu  beantworten  hat,  ist 
die  Erkenntnißtheorie,  als  Wissenschaft  gegen 
über  der  Psychologie  durchaus  selbständig,  und 
sie  ist  daher  auch  unabhängig  von  ihr  zu  er- 
halten. Ich  möchte  daher  der  Erkenntnißtheorie 
jene  Stellung  angewiesen  wissen,  welche  Wundt 
auch  als  eine  mögliche  bezeichnet  neben  Logik 
und  Metaphysik,  „als  derjenigen  Disciplin,  welche 
nicht  den  Inhalt  und  nicht  die  Methoden  des 
Wissens,  sondern  seine  Grundlagen  zu  unter- 
suchen und  seine  Grenzen  zu  bestimmen  hattf. 
Indem  Wundt  aber  die  Erkenntnißtheorie  auf 
die  „Fundamentalbegriffe  und  Gesetze  der  wis- 
senschaftlichen Erkenntniß"  einschränkt,  und  die 
Psychologie  zur  grundlegenden  Wissenschaft 
macht,  scheint  er  zu  übersehen,  daß  die  funda- 
mentalen erkenntnißtheoretischen  Fragen  nach 
dem  „Was0  unserer  Erkenntniß  schon  seiner 
Psychologie  in  bestimmter  Weise  beantwortet  zu 
Grunde  gelegt  sind,  daß  also  auch  seine  Logik, 
wie  sie  vorliegt,  nicht  nur  auf  die  Psychologie, 
sondern  auch  schon  auf  erkenntnifttheoretische 
Untersuchungen,  die  ihrerseits  noch  älter  sind 
als  die  psychologischen,  zurückweist.   Wie  könnte 


Wandt,  Logik.   Bd.  I.  293 

dies  auch  anders  sein !  Denn  Denken  nnd  Er- 
kennen ist  in  der  That  zweierlei,  nnd  sobald 
die  Denkgesetze  in  ihrer  Beziehung  zum  Er- 
kennen bestimmt  werden  sollen,  muß  man  vor- 
her über  das  Erkennen  überhaupt  ein  „Wissen", 
d.  h.  eine  Erkenntnißtheorie  naben:  Dies  ist 
nun  auch  factiscb  bei  Wundt  der  Fall ! 

Denn  Wundt  bringt  aus  seiner  Psychologie 
nicht  nur  das  Wissen  von  dem  psychologischen 
Proceß  des  Wahrnehmens,  Vors  tell  ens  und  Be- 
greifens  mit,  sondern  ebenfalls  das  „Wissen" 
von  dem  erkenntnißtheoretiscnen  Ma- 
terial Wahrnehmung,  Vorstellung  und  Begriff; 
dieses  Material  läßt  sich  wohl  von  der  Logik 
bearbeiten,  nnd  es  lassen  sich  diejenigen  Ge- 
setze des  Denkens  aufstellen,  welche,  um  Wis- 
sen zu  erlangen,  der  Mensch  angesichts  dieses 
Materials  zu  beobachten  hat,  aber  man  darf 
nicht  vergessen,  daß  dasselbe  erkenntnißtheore- 
tisches,  nicht  aber  psychologisches  Material  sei 
Uebersieht  man  diesen  Umstand,  so  wird  man 
sich  schwerlich  dessen  bewußt,  daß  schon  den 
psychologischen  Untersuchungen  über  das  Den- 
ken eine  bestimmte  erkenutnißtheoretische  An- 
nahme zu  Grunde  lag,  und  man  unterscheidet 
dann  vor  Allem  nicht  deutlich  zwischen  Wahr- 
nehmen, Vorstellen,  Begreifen  nnd  Wahrnehmung, 
Vorstellung  und  Begriff,  oder,  um  es  kürzer  aus- 
zudrücken, zwischen  Denken  und  Gedachtem. 
So  zeigt  sich  denn  auch  bei  Wundt,  daß  nicht  nur 
der  Proceß  des  Erkennens,  wie  billig,  als  ein 
psychologischer  aufgefaßt  wird,  sondern  daß 
Weh  der  Bewußtseinsinhalt,  welcher  die  Er- 
kenntniß  oder  das  Wissen  ausmacht,  ihm  ohne 
Weiteres  als  ein  psychologisches  Gebilde  gilt. 
Dadurch  aber  ist  ihm  schon  eine  ganz  be- 
stimmte  Entwicklung   seiner  in    die    „wissen- 


294  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

schaftliche"  Logik  hineingeflochtenen  Erkennt- 
nißtheorie  vorgezeichnet,  indem  im  Ornnde  das, 
was  schon  stillschweigend  zu  Grunde  gelegt 
war,  nun  anscheinend  unabhängig  aus  harm- 
losen psychologischen  Unterlagen  aufgezogen 
wird. 

Jene  bekannte  Frage  nemlich  in  Betreff  des 
Verhältnisses  von  Denken  und  Sein  wird  durch 
die  psychologische  Unterlage  schon  bestimmt 
dirigiert.  Da  eben  angenommen  wird,  daß  im 
Denkproceß  nicht  nur  subjective  Funktionen  an- 
zunehmen seien,  sondern  als  Resultat  derselben 
auch  psychische  Gebilde,  die  „im  Geiste"  durch 
dieselben  entständen,  so  kann  die  erkenntniß- 
theoretische  Frage  in  Ansehung  des  Verhältnis- 
ses von  Denken  und  Sein  schon  garnicht  anders 
aufgefaßt  werden  als  eine,  welche  das  Verhält- 
niß  der  psychischen  Gebilde  zu  dem  Seienden 
zu  beantworten  habe.  Diese  Auffassung  theilt 
allerdings  Wundt  mit  der.  Gegenwart  überhaupt, 
aber  er  hat  damit,  wie  sie,  jene  Untersuchung 
völlig  bei  Seite  gesetzt,  ob  denn  in  der  That 
der  sogenannte  Bewußtseinsinhalt  ein  für  sich 
bestehendes  „inneres"  Sein  gegenüber  dem 
„äußeren"  Sein  repräsentiere,  ob  der  Bewußt- 
seinsproceß  der  Schöpfer  eines  neuen  Seins  auf 
Grund  des  afficierenden  Seins  d.  i.  der  „Er- 
kenntnißobjecte"  sei,  oder  ob  derselbe  nur  eine 
Beziehung  des  bewußten  Ichs  zum  „Erkenntniß- 
object"  herstelle.  Auf  die  Beantwortung  dieser 
Frage  kommt  zunächst  Alles  an. 

Kommt  man  nun  von  der  Psychologie  her, 
in  welcher  man  seit  Langem  gewohnt  ist,  von 
den  Gebilden,  welche  in  der  Seele  entstehen, 
zu  reden  und  diese  Gebilde  als  Seelenbilder  des 
Seienden  aufzufassen,  so  erscheint  eine  solche 
Frage  allerdings  überflüssig,  weil  man  ihre  Ant* 


Wundt,  Logik.    Bd.  I.  295 

wort  ja  schon  längst  in  der  Tasche  hat  Wenn 
aber  dann  die  „wissenschaftliche"  Logik  nicht 
nur  Logik,  sondern  auch  Erkenntnißtheorie  sein 
will,  so  vermisse  ich  gar  sehr  die  Erörterung, 
was  Wundt  unter  den  so  angeführten  „ Erkenn t- 
nißobjecten"  oder  dem  „Wirklichen"  versteht, 
was  er  unter  den  „Gegenständen  der  inneren 
and  äußeren  Erfahrung,  die  uns  unmittelbar  ge- 
geben sind,"  verstanden  wissen  will. 

Wundt  polemisiert  gegen  die  Behauptung 
der  Identität  oder  des  Parallelismus  von  Denken 
und  Sein,  und  in  dem  Sinn,  wie  er  diese  Be- 
hauptung historisch  richtig  sich  gegenüberstellt, 
ist  die  Polemik  begründet,  denn  aus  dem  dia- 
lektischen Proceß  des  reinen  Denkens  wird  man 
weder  das  Sein  noch  das  „Bewußtseinsbild"  des 
Seins  construieren  können.  Aber  er  unterläßt 
es,  seine  Behauptung,  daß  wissenschaftliches 
Denken  zur  Uebereinstimmung  der  Begriffe  mit 
den  „wirklichen  Dingen"  kommen  müsse,  er- 
kenntnißtbeoretisch  zu  begründen,  da  er  nicht 
zeigt,  was  denn  unter  diesen  wirklieben  Dingen 
zu  begreifen  sei  und  wie  eine  Erkenntniß  der- 
selben möglich  und  zu  denken  sei. 

Statt  dessen  geht  Wundt  von  der  psycholo- 
gischen Entwicklung  des  Denkens  aus  und 
spricht  zunächst  von  den  associativen  Verbin- 
dungen der  Vorstellungen,  die  er  mit  dem  ihm 
eigenen  feinen  Geschick  in  die  simultane  und 
successive  Association  zerlegt,  indem  er  noch 
die  erstem  eintheilt  in  associative  Synthese,  As- 
similation und  Complication.  Wir  sind  hier  mit- 
ten in  der  Auffassung  von  den  Vorstellungen  als 
geistigen  Gegenständen,  die  das  „innere  Sein" 
ausmachen,  und  in  dem  Geistesraum  nun  das 
ihrer  Natur  gemäße  Spiel,  sich  zu  verbinden 
treiben,  wir  erfahren  aber  nichts  davon,  was  doch 


296  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  9.  10. 

die  logische  Erkenntnistheorie  bieten  sollte,  ob 
diese  Vorstellungen  die  „wirklichen  Dinge" 
seien  oder  als  Bewußtseinsbilder  des  Wirklichen 
aufmarschieren. 

Von  jenen  Verbindungen  unterscheidet  Wandt 
die  apperceptiven  Verbindungen  der  Vorstellun- 
gen; und  betrachtet  hier  1)  die  Entwicklung 
apperceptiver  Gesammtvorstellungen ,  2)  die 
Entwicklung  des  Gedankenverlaufs  und  3)  die 
Wechselwirkungen  zwischen  der  Begriffsbildung 
und  dem  Gedankenverlauf. 

Diese  beiden  Capitel,  welche  ein  glänzendes 
Zeugniß  gründlichen  Studiums  und  scharfer  Be- 
obachtung bilden,  würden  nun  in  ihrem  psycho- 
logischen und  logischen  Werth  nichts  einbüßen, 
wenn  aus  ihnen  herausgeworfen  würde  die  An- 
sicht, daß  die  Vorstellungen  geistige  Gegen- 
stände i  n  uns  wären ,  wenn  demnach  Alles,  was 
von  den  associativen  und  apperceptiven  Ver- 
bindungen der  Vorstellungen  gesagt  ist,  auf  das 
Vorstellen  bezogen  würde.  Man  wird  mir 
hier  vielleicht  einwenden,  daß  der  Sache  nach 
doch  Alles  dasselbe  bliebe,  ob  es  nun  auf  die 
Vorstellungen  oder  auf  die  Acte  (Vorstellen)  be- 
zogen würde;  ich  gebe  dies  zu,  soweit  es  sich 
nur  um  psychologische  Fragen  hier  handelt.  In- 
sofern aber  auch  die  Erkenntnistheorie  hinein- 
gezogen wird,  betone  ich  die  eminente  Wichtig- 
keit der  von  mir  vorgeschlagenen  Aenderung, 
und  wenn  man  mich  darauf  hinweist,  daß  man 
angesichts  der  associativen  Verbindungen  und 
ihres  Unterschieds  von  den  apperceptiven  njnfyt 
allein  von  Acten,  sondern  von  Bewußtseins- 
gegenständen und  einem  inneren  Sein  reden 
müsse,  so  denke  ich,  daß  die  Notwendigkeit, 
innere  Gegenstände  deshalb  anzunehmen,  und 
mit  den  Acten  nicht  allein  sich  begnügen  20 


Wundt,  Logik.   Bd.  I.  297 

können,  nur  demjenigen  erscheint,  welcher  von 
vornherein  solche  Gegenstände  als  Material  des 
Bewußtseinsprocesses  vorausgesetzt  bat11). 

Wie  wichtig  in  erkenntnißtheoretischer  Be- 
ziehung aber  die  Stellung  zn  der  soeben  be- 
rührten  Angelegenheit  sei,  ergiebt  sich  schon 
bei  dem  ersten  Schritt,  den  die  „wissenschaft- 
liche" Logik  thut;  bei  der  erkenntnißtheoreti- 
achen  Auffassung  von  den  Begriffen.  Bevor 
ich  aber  auf  die  Wundt'scbe  erkenntnißtheoreti- 
flche  Bestimmung  des  Begriffs  eingehe,  will  ich 
die  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  daß  der  Ab- 
schnitt seiner  psychologischen  Einführung  in  die 
Logik,  in  welchem  Wundt  von  den  Begriffen 
bandelt,  eine  eigentümliche  Verschwommenheit 
in  Ansehung  des  Begriffs  aufweist.  Wundt  de- 
finiert den  Begriff  nach  dessen  psychologischer 
Entwicklung  als  „die  durch  active  Appercep- 
tion vollzogene  Verschmelzung  einer  herrschen- 
den Vorstellung  mit  einer  Reihe  zusammenge- 
höriger Vorstellungen".  Diese  Definition  macht 
den  Begriff  zu  einer  Legierung  verschiedener 
Vorstellungen,  und  man  ist  versucht,  den  Begriff 
für  eine  Vorstellung  wiederum  auszugeben ;  das 
«oll  aber  nach  Wundt  nicht  angenommen  wer- 
den, denn  „der  Begriff  an  sich  selbst  ist  unvor- 
stellbar", dessenungeachtet  aber  ist  er  nach  Wundt 
for  das  Ich  vorhanden,  da  der  Begriff  „gebildet" 
wird  aus  „bestimmten  Elementen  der  einzelnen 
Vorstellung".  Daraus  folgt,  daß  der  Begriff 
als  solcher  doch  für  das  Bewußtsein   gegeben 

*)  Zum  näheren  Verständnis  meiner  erkenntnift- 
theoretischen  Auffassung  des  Bewußtseinsprocesses,  deren 
Darlegung  hier  nicht  gestattet  sein  kann,  verweise  ich 
auf  meine  soeben  bei  G.  Reimer  in  Berlin  erschienene 
Erkenntnistheorie :  „Die  Welt  als  Wahrnehmung  und 
Begrüß 


298  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

ist  als  eine  „Verbindung  gewisser  Elemente  der 
Vorstellung".  Sieht  man  sich  aber  nun  genauer 
die  „Elemente"  an,  so  bemerkt  man,  daß  nach 
Wundt  dieselben  „einfache  Vorstellungen"  sind: 
also  wäre  der  Begriff  als  solcher  einfache  Vor- 
stellung oder  als  eine  Verbindung  solcher  ein- 
facher Vorstellungen  eine  zusammengesetzte 
Vorstellung  und  demnach  doch  vorstellbar? 
Auch  dieses  nicht,  denn  im  Grunde  sind  diese 
einfachen  Vorstellungen,  in  welche  sich  „alle  in 
unser  Bewußtsein  eingehenden  Vorstellungen 
durch  die  psychologische  Analyse  zerlegen"  las- 
sen, aus  denen  also  „alle  wirklichen  Vorstellun- 
gen zusammengesetzt  sind",  nur  „ein  Gegen- 
stand psychologischer  Abstraction.  Da  nun  der 
Begriff  nach  Wundt  Elemente  der  wirklichen 
Vorstellung  umfaßt,  die  Vorstellung  aber  aus 
„Elementen"  zusammengesetzt  ist,  so  ergäbe 
sich  daraus,  daß  die  wirkliche  Vorstellung  aus 
Begriffen  als  ihren  psychologischen  Elementen 
zusammengesetzt,  daß  Begriffe  also  das  eigent- 
lich primitive  Bewußtseinselement  sein  müßten. 
Dieß  wird  Wundt  aber  auch  nicht  Wort  haben 
wollen,  also  wird  der  Begriff  ebensowenig  mit 
dem  „Element"  wie  mit  der  „Vorstellung"  iden- 
tificiert  werden  sollen;  freilich  wird  trotz  alle- 
dem die  letztere  Auffassung  wieder  nahe  ge- 
legt, wenn  Wundt  bei  Gelegenheit  der  Erörte- 
rung von  Sprachlaut  und  seiner  Verschmelzung 
mit  der  „stellvertretenden"  Einzelvorstellung 
schreibt:  der  Begriff  besteht  nur  aus  einem 
mit  einer  stellvertretenden  Einzelvorstellung  A 
verschmolzenen  Sprachlaut,  welcher  letztere  zu- 
gleich die  herrschende  Vorstellung  ist".  Doch 
wenige  Zeilen  weiter  scheint  die  Verwirrung  ge- 
löst zu  werden,  wenn  man  von  dem  Begriff  als 
„psychologischen  Act"    liest.     Nun   müßte  man 


Wundt,  Logik.    Bd.  I.  299 

unter  Begriff  also  den  Act  verstehen,  in  welchem 
das  Ich  ein  Element  oder  mehrere  Elemente 
d.  i.  einfache  Vorstellungen  im  Bewußtsein  hat. 
Dem  widerspricht  aber  wiederum,  daß  Wundt 
wenige  Zeilen  weiter  den  Begriff  als  Bewußt- 
seinsinhalt und  nicht  als  Act  auffaßt,  wo  er  von 
dem  „Reichthum  der  Begriffe",  von  den  „Be- 
griffen, denen  nicht  mehr  einzelne  sinnliche  Ob- 
jecte,  Eigenschaften  und  Handlungen,  sondern 
nur  noch  allgemeine  Beziehungen  entsprechen", 
schreibt. 

Abgesehen  von  dieser  bei  einem  Wundt  dop- 
pelt verwunderlichen  Verschwommenheit  in  der 
Behandlung  des  Begriffs,  die  meiner  Ansicht 
aber  eben  ihren  natürlichen  Grund  darin  hat, 
daß  der  Psychologe  Wundt  zugleich  mit  der 
Auflösung  des  Processes  des  Vorstellens  in  seine 
Theile  die  wirkliche  Vorstellung  in  sogenannte 
Elemente  auflösen  zu  können  glaubt,  was  wie- 
derum auf  die  Ansicht  von  der  Vorstellung  als 
„innerem  Sein"  sich  gründet  —  abgesehen  von 
dieser  von  mir  schmerzlich  empfundenen  Schwäche 
der  wissenschaftlichen  Logik  bat  die  Ansicht 
von  den  Vorstellungen  als  innerem  Sein  eine 
erkenntnißtheoretisch  wichtige  Stellung  dem  Be- 
griffe gegeben.  Gesetzt  den  Fall  nemlich,  daß 
die  Vorstellungen  als  solche  noch  eine  unmittel- 
bare Fühlung  mit  der  Wirklichkeit  zuerkannt 
erhalten,  so  wird  diese  nun  den  Begriffen,  die 
wir  als  einen  Bewußtseinsinhalt,  und  nicht  als 
Act  betrachten,  wie  Wundt  es  im  weiteren  Ver- 
laufe auch  zu  thun  scheint,  keineswegs  einge- 
räumt, die  Begriffe  werden  zu  Denkformen,  die 
Dicht  außer  dem  Denken  da  sind,  gestempelt. 
»Unseren  Begriffen,  Urtheilen  und  Schlüs- 
sen" heißt  es,  „kommt  keine  erkennbare  Wirk- 
lichkeit zu,  außer  in  unserem  Denken".    Stände 


300  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.  10. 

da:  Unserem  Begreifen  etc.,  so  könnte  ich 
einstimmen  und  auch  den  diesem  folgenden  Satz 
annehmen:  „Wohl  aber  erweisen  sich  die  logi- 
schen Formen  als  die  geeigneten  Hülfsmittel  zur 
geistigen  Wiedererzeugung  jenes  thatsächlichen 
Zusammenhangs  der  Erkenntnißobjecte,  der  von 
uns  überall  vorausgesetzt  werden  muß".  Das 
Begreifen  ist  wie  das  Urtheilen  und  Schließen 
eine  logische  Function,  die  natürlich  nur  das 
wirklich  ist,  was  sie  ist,  nemlich  Denkfunction. 
Der  Begriff  ist  das  Bewußtseinsresultat  des  Be- 
greifens,  ich  sehe  aber  nun  nicht  ein,  warum 
der  Begriff  zurückstehen  soll  hinter  dem,  was 
geurtheilt  und  was  erschlossen  ist;  wie  dieses 
Letztere,  auch  von  Wundt  wird  es  nicht  bean- 
standet werden,  „erkennbare  Wirklichheit"  sein 
kann,  warum  sollte  es  nicht  auch  der  Begriff 
sein  können?  Wenn  überhaupt  irgend  etwas 
erkennbare  Wirklichkeit  nach  Wundt  haben 
kann,  dann  könnten  nur  noch  die  Vorstellungen, 
respective  die  „Erkenntnißobjecte"  derselben 
diese  Wirklichkeit  aufweisen;  wenn  diese  aber, 
so  auch  die  Begriffe,  welche  ja  die  Elemente 
„umfassen"  sollen,  aus  denen  die  Vorstellungen 
der  „erkennbaren  Wirklichkeit"  „zusammenge- 
setzt sind.  Hier  ist  der  wunde  Punkt  der 
Wundt'schen  Erkenntnißtheorie,  den  ich  bei  die- 
ser Gelegenheit  natürlich  nur  andeuten  kann, 
und  ich  gebe  nur  noch  zu  bedenken,  wie  der 
Umstand,  daß  die  Begriffe  durch  die  Function 
des  Denkens  dem  Ich  gewonnen  werden,  noch 
kein  Grund  ist,  sie  selbst  aus  dem  Gebiet  der 
erkennbaren  Wirklichkeit  zu  streichen,  es  sei 
denn,  daß  man  das  Wort  Wirklichkeit  identi- 
ficiere  mit  dem  Wort  „Vorstellung". 

Grade   in   Bezug  auf  die  Bestimmung   der 
Wirklichkeit  läßt  es  Wundt,   der   auf  dieselbe 


Wundt,  Lo?ik.    Bd.  I.  301 

bei  verschiedenen  Gelegenheiten,  besonders  bei 
Erörterung  des  Begriffs  der  Substanz,  zu  reden 
komtnt,  an  der  wtlnschbaren  Klarheit  fehlen- 
wir  werden  von  ihm  belehrt,  daß  man  zweierlei 
Realität,  die  unmittelbare  und  die  mittelbare  an- 
zunehmen habe,  von  denen  die  erstere  allein 
den  „inneren"  Erfahrungen,  die  zweite  dagegen 
den  „äußeren"  Erfahrungen  zukomme.  Diese 
Unterscheidung  hängt  natürlich  zusammen  mit 
und  ist  hervorgegangen  aus  der  Annahme,  daß 
die  Vorstellung  ein  Bewußtseinsbild  des  „Außen" 
sei,  sie  hängt  zusammen  mit  der  ganzen  Sub- 
jeetivierung  des  Erkenntnißprocesses,  wie  solche 
begreiflicherweise  aus  der  psychologischen  Grund- 
lage sich  erheben  mußte,  so  daß  das  Ziel  des 
Processes  in  der  „Uebereinstimmung  der  Begriffe 
mit  den  wirklichen  Dingen"  gesehen  wird.  Diese 
Bestimmung  des  Ziels  muß  aber  auf  dem  Stand- 
punkte Wundt's  großes  Bedenken  erregen,  da 
man  nicht  die  Möglichkeit,  solche  „Ueberein- 
stimmung" zn  constatieren,  beweisen  kann ;  denn 
die  wirklichen  Dinge  kann  man  nach  Wundt'- 
schemSinn  nur  in  Vorstellungen  dem  Menschen 
gegeben  denken :  wie  kann  man  also  von  U  eb  er- 
einstimmung  der  Begriffe,  die  an  sich  selbst 
nicht  vorstellbar  sind,  mit  den  einzig  und  allein  vor- 
stellbaren Dingen  reden  ?  Eine  zweite  Schwierig- 
keit aber,  die  Uebereinstimmung,  selbst  gesetzt 
den  Fall,  daß  die  Möglichkeit  derselben  zuge- 
standen wäre,  zu  constatieren,  liegt  in  dem  Um- 
stände, daß  Wundt  ja  nie  den  Begriff  und  das 
„wirkliche  Ding",  sondern  nur  den  Begriff  und 
die  Vorstellung  des  wirklichen  Dinges  verglei- 
chen könnte;  er  müßte  demnach  zunächst  noch 
den  Nachweis  liefern,  daß  das  wirkliche  Ding 
und  die  Vorstellung  congruente  erkenntnißtheo- 
reti8che  Factoren  seien,  ein  Nachweis,  der  in  der 


302  Gott.  gel.  Adz.  1K81.  Stück  9.10. 

wissenschaftlichen  Logik  nicht  gegeben  ist,  aber 
allerdings   auch    nie    gegeben   werden   könnte. 

Ich  habe  im  Vorstehenden  nur  einen  grand- 
legenden Mangel  in  der  Wundt'schen  Logik,  da 
sie  doch  auch  Erkenntnißtheorie  liefern  will,  anzu- 
deuten gesucht;  natürlich  gebricht  es  mir  hier 
an  Raum,  um  ausführlich  denselben  aufzudecken 
und  vor  Allem,  um  zu  zeigen,  wie  derselbe  sei- 
nen Einfluß  übt  auf  die  erkenntnißtheoretischen 
Erörterungen  über  die  „Grundbegriffe  der  Er- 
kenntniß" ,  Erörterungen  im  Uebrigen,  die  viele 
neue  und  richtige  Gedanken  enthalten.  Dieses 
Letzte  gilt  noch  mehr  von  dem  Abschnitt,  be- 
titelt „Von  den  Gesetzen  der  Erkenntnißtf,  in 
welchem  Wundt  die  logisch  -  mathematischen 
Axiome,  das  Causalgesetz  und  das  Zweckprincip 
einer  gedankenreichen  fruchtbaren  Untersuchung 
unterzieht,  die  schon  allein  der  „wissenschaft- 
lichen Logik"  eine  bedeutende  Stellung  sichert. 

Abgesehen  überhaupt  von  der  in  der  Logik 
Wundt's  zu  Tage  tretenden  erkenntnißtheoreti- 
schen Grundanschauung  wird  die  eigentliche  lo- 
gische Seite  des  Buches  sich  sicherlich  einer 
allgemeinen  Zustimmung  erfreuen  können.  Wundt 
hat  hier  in  den  rein  logischen  Abschnitten,  welche 
über  die  Begriffe,  die  Urtheile  und  die  Schluß- 
folgerungen handeln,  gezeigt,  daß  die  Meinung, 
die  Logik  biete  keinen  Anlaß  mehr  zu  weiterer 
Arbeit  und  Entwicklung,  eine  durchaus  irrige 
sei,  und  er  hat  sich  selbst  in  diesen  Abschnitten 
als  einen  Meister  in  der  selbsteigenen  Behand- 
lung der  logischen  Probleme  bewiesen. 

St  Gallen.  J.  Rehmke. 


Sputa,  Grammatik  d.  arab.  Vulgärdialects  v.  Aegypten.  303 

Grammatik  des  arabischen  Vulgardia- 
lectes  von  Aegypten.  Von  Dr.  Wilhelm 
Spitta-Bey,  Director  der  viceköniglichen  Biblio- 
thek in  Kairo.  Leipzig,  J.  G.  Hinrichs'sche  Buchhand- 
lung 1880.    (XXXI  und  519  S.  in  Oct.). 

Die  große  Wichtigkeit,  welche  dieses  Buch 
fär  die  Kenntniß  des  Arabischen  und  der  semi- 
tischen Sprachen  überhaupt  hat,  mag  es  ent- 
schuldigen, daß  ich  eine  Besprechung  desselben 
unternehme,  obwohl  ich  mich  nur  äußerst  wenig 
mit  den  lebenden  arabischen  Mundarten  befaßt 
habe  und  mich  gegenüber  dem  Stoffe  des  Wer- 
kes nur  als  dankbaren  Schüler  bekennen  kann. 
Der  wissenschaftlich  genügend  vorgebildeten 
Kenner  des  Vulgärarabischen  giebt  es  ja  bei  uns 
so  wenige,  und  schwerlich  wird  einer  derselben 
behaupten  können,  daß  er  gerade  den  ägypti- 
schen Dialect  nur  annähernd  so  genau  kenne 
wie  Spitta.  Die  ganze  Arbeit  macht  den  Ein- 
druck völliger  Zuverlässigkeit  und  größter  Ge- 
nauigkeit. Spitta  beschränkt  sich  mit  gutem 
Grunde  darauf,  die  Sprache  von  Cairo  und  des- 
sen Umgegend  darzustellen,  und  zwar  so  wie  er 
sie  mit  seinen  eignen,  durch  lange  Uebung  ge- 
schärften Ohren  gehört  hat.  Wo  er  einmal 
sprachliche  Erscheinungen  auf  gewichtige  Auto- 
rität Andrer  mittheilt,  erwähnt  er  das  immer 
ausdrücklich.  Den  reichen  Stoff  behandelt  er 
streng  wissenschaftlich,  klar  und  übersichtlich, 
so  daß  wohl  wenig  literaturlose  Mundarten  sich 
einer  so  trefflichen  Grammatik  rühmen  können 
wie  jetzt  das  Arabische  von  Cairo. 

Spitta  war  es  natürlich  besonders  darum  zu 
than,  die  wirkliche  echte  Volkssprache  zu 
schildern.  Diese  ist  aber  keine  in  sich  abge- 
schlossene Einheit.  Leise  Uebergänge  verbinden 
die  Sprechweise   des  gemeinen  Mannes  mit  der 


304  Gott.  gel.  Am.  1R81.  Stuck  9. 10. 

• 

der  Gebildeten,  welche  mit  und  ohne  Bewußt- 
sein ihre  Rede  durch  Entlehnungen  aus  der 
Schriftsprache  schmücken,  und  die  von  jeder- 
mann viel  vernommenen  und  wenigstens  einiger- 
maaßen  verstandenen  Redensarten  und  Formen 
des  Korans,  der  Tradition  und  der  amtlichen 
Schriftstücke  sickern  immer  wieder  auch  bis  in 
die  untersten  Schichten  durch,  hemmen  die  freie 
Entwicklung  der  Mundart  oder  stören  wenig- 
stens ihre  Gleichmäßigkeit.  Je  gebildeter  der 
Mann,  desto  zwieschlächtiger  ist  seine  Sprache. 
Aber  auf  alle  Fälle  ist  das  heutige  Aegyptisch 
doch  ein  von  der  Schriftsprache  stark  geschie- 
dener Dialect.  Freilich  hat  dasselbe  gar  vieles 
altarabische  beibehalten)  freilich  ist  manche  Ab- 
weichung in  ihm  wie  in  andern  arabischen  Vul- 
gärdialecten  schon  um's  Jahr  1100  und  früher 
nachweisbar  und  bestand  wohl  manch  andre  we- 
nigstens im  Keim  schon  zu  Muhammed's  Zeit, 
nur  daß  sie  von  der  Ueberlieferung  der  Gram- 
matiker nicht  beachtet  ist:  aber  die  beliebte 
Anschauung  von  dem  völlig  conservativen  Cha- 
rakter des  Arabischen  muß  schon  bei  der  ge- 
nauen Schilderung  einer  einzigen  seiner  leben- 
den Töchter  als  ganz  falsch  aufgegeben  wer- 
den. Daß  sie  auf  die  übrigen  semitischen  Spra- 
chen nicht  paßt,  wird  jeder  zugeben,  der  nur 
einen  Blick  etwa  in's  Neusyrische  oder  Amhari- 
sche  geworfen  hat. 

Die  Art,  wie  sich  die  Vulgärdialecte  aus  dem 
Altarabischen  durch  Decomposition  und  Compo- 
sition entwickelt  haben,  ist  für  uns  schon  da- 
durch von  großer  Wichtigkeit,  daß  sie  uns  Ana- 
logien zur  Beurtheilung  des  uncontrolier baren 
Entstehens  der  älteren  semitischen  Sprachen 
giebt.  Der  Aberglaube,  daß  die  Sprachen  eine 
vorhistorische  Periode  des  Wachsthums  und  eine 


Spitta,  Grammatik  d.  arab.  Vulgardialects  ?.  Aegypten.  305 

historische  des  Vorfalls  besäßen,  hat  wobl  nach* 
gerade  seine  Geltung  verloren.  Und  so  wird 
der  wissenschaftliche  Beobachter  auch  nicht  mehr 
geneigt  sein,  die  Erscheinungen  dieser  Dialecte 
zu  loben  oder  zu  tadeln,  je  nachdem  sie  dem 
Altarabischen  näher  oder  ferner  stehn,  sondern 
bei  aller  Anerkennung  der  empfindlichen  Ver- 
loste doch  auch  zugeben,  daß  wir  hier  manche 
gelungene  Neubildung  und  manche  Beseitigung 
überflüssigen  Reichthums  haben. 

Was  die  Laute  der  Sprache  anbetrifft,  so 
treten  hier,  wie  wohl  bei  allen  neuarabischen 
Dialecten,  besonders  der  starke  Verlust  und  die 
Abschwächung  von  Vocalen  hervor.  In  Spuren 
zeigen  sich  diese  Tendenzen  schon  im  Altarabi* 
soben,  aber  durch  ihre  Ausbildung  bedingen  sie 
schon  allein  einen  ganz  anderen  Lautcharacter ; 
eben  hierdurch,  wie  freilich  noch  durch  manche 
andre  Erscheinung,  nähern  sich  diese  Dialecte 
in  ihrem  Wesen  sehr  dem  Aramäischen,  worauf 
Spitta  mit  Recht  wiederholt  hinweist  Bei  der 
ägyptischen  Mundart  ist  besonders  zu  beachten, 
daß  sie  die  durch  den  Ausfall  kurzer  Vocale  in 
geschlossne  Silben  tretenden  Vocale,  wenn  unbe- 
tont, gern  verkürzt,  z.  B.  qaüin  aus  qäfüin*). 
Ein  ähnlicher  Lautwandel  herrschte  einerseits, 
und  zwar  in  noch  weiterem  Umfange,  schon  im 
Altsemitiscben  (jagum  für  jaqum,  jaqutnna  für 
jaqämnä),  andrerseits,  noch  genauer  entspre- 
chend, im  Aramäischen  (qatlin  aus  qdtUn  aus 
qätüin).  Die  Sprache  schwankt  hier  oft  zwischen 
dem  Ausfall  des  kurzen  Vocals  mit  Verkürzung 


*)  Zuweilen  auch   von  Wort   zu  Wort,   wie   schon 
DschawaKqi  (12.  Jahrh.)     ^  ^  -1**^1  tadelt  (Mor- 

genl.  Forschungen  131). 

20 


306  Gott,  gel  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

de»  vorhergehenden  (zuweilen  auch  ohne  solche) 
und  Bewahrung;  eine  ganz  ähnliche  Unsicher- 
heit muß  eine  Zeit  lang  im  Syrischen  bestanden 
haben.  Auch  sonst  finden  wir  in  der  Färbung 
und  dem  Maaße  der  Verflüchtigung  der  Vocale 
wie  in  der  übrigen  Lautbehandlung  sehr  viele 
Schwankungen.  Die  Anhänger  der  Lehre  von 
der  ausnahmslos  gleichmäßig  wirkenden  Kraft 
der  Lautgesetze  werden  Spitta's  Texten  gegen* 
über  einen  schweren  Stand  haben,  denn  so 
gern  wir  zugeben  wollen,  daß  dies  Schwanken 
zum  Theil  durch  Einfluß  der  Schriftsprache  und 
andrer  arabischer  Dialecte  verursacht  und  daß 
auch  der  verschiedene  Satzaccent  ein  lautlich 
differenzierendes  Moment  ist,  so  bleibt  doch  noch 
sehr  vieles  übrig,  was  sich  nur  durch  Annahme 
wirklicher  Doppelformen  erklären  läßt;  andrer- 
seits kommt  auch  mancher  „sporadischer  Laut- 
wechsel" vor. 

Zu  diesem  sporadischen  Lautwechsel  rechne 
ich  aber  nicht  geradezu  Fälle  wie  natar  „reg- 
nen" aus  rnatar,  denn  hier  ist  das  n  aufs  Per- 
fect nur  aus  dem  Imperf.  junfur,  tun  fur  „es  reg- 
net" (S.  334)*)  übertragen,  wo  m  durch  die 
Stellung  vor  t  in  allerdings  immer  noch  etwas 
ungewöhnlicher  Weise  zu  n  geworden  ist  (vgl. 
Unteli  «*  JJtf  ZDMG.  XXXIII,  622).  In  ähn- 
licher Weise  hat  ja  im  Semitischen  oft  der  erste 
Radical  zunächst  in  einzelnen  Formen  einen 
Einfluß  von  dem  zweiten  erfahren,  der  sich  dann 
weiter  geltend  machte. 

Auch  von  der  jetzt  häufig  verkannten  Er- 
scheinung, daß  besonders  viel  gebrauchte  Wör- 


«-o 


*)  Vgl.   auch    Wi*  für     Ug    Morgenl.   Forsch un« 
gen  134. 


Spitto,  Grammatik  d.  ar&b.  Vulgardialectf  v.  Aegypten.  307 

tor  oft  ungewöhnliche  Verstümmlungen  erleiden, 
bietet  dieser  Dialect  manche  Beispiele,  z.  B.  bei 
den  Pronomina. 

Alterthtimlich  ist  das  Aegyptische  in  der  Be- 
wahrung  der   Aussprache  des  _  als  g.    Sehr 

merkwürdig  ist  nun,  daß  es  sieb  so  daran  ge- 
wöhnt hat,  gemeinarabisches  -  als  g  anzusehen. 

daß  es  dies  anch  auf  den  entsprechenden  Laut 
nichtsemitischer  Sprachen  ausdehnt  und  z.  B. 
das  persische  ch(w)ädscha  als  chawägä  auf- 
nimmt, die  türkische,  viel  angewandte  and  selbst 
zur  Ableitung  von  arabischen  Wörtern  (wie 
tama^angt  „Geizhals"  von  0U+£?  S.  503  nr.  130, 

jasirgt  „Sklavenhändler"  von  ja***  =  j&»\)  be- 
nutzte Endung  _>  als  gl  und  das  italiänische 
generale  (=  dschenerale)  als  generär.     Selbst  - 

wird  zuweilen  durch  g  vertreten,  meist  jedoch 
durch  s.    Die  einzige  Ausnahme  wüä  „Geeicht" 

=  *>3  (neben  dem  wohl  nicht  eigentlich  volks- 
tümlichen ivagh  mit  übertragener  Bedeutung) 
muß  aus  dem  syrischen  Arabisch  stammen; 
nach  Socin-Baedeker  (2.  Aufl.)  GXLIV  sagt  man 
in  Syrien   wuss\   die   Beduinen   der    syrischen 

Wüste   sprechen  m>^    (was  schon  Dschawäliqi 

a.  a.  0.  149,  1  tadelt).  Der  lebhafte  Verkehr 
und  die  vielen  Hin-  und  Herwanderungen  zwi- 
schen Syrien  und  Palästina  und  Aegypten  er- 
klären ja  am  besten  die  zahlreichen  Berührun- 
gen der  beiden  Dialecte.  —  Gemeinschaftlich 
ist  einem  Theil  der  Aegypter  und  der  Syrer 
auch  die  seltsame  Verwandlung  des  q  in  den 
bloßen  Spiritus  lenis,  welche  schon  Barhebraeus 
(13.  Jahrh.;   in   den  Scholien  zu  Richter  12,  6 

20* 


306  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  9. 10. 

und  Gramm.  I,  206, 24)  für  eine  Eigentümlich- 
keit des  Aramäischen  der  Palästinenser 
erklärt. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  Aegypter  nicht 
bloß,  wie  fast  alle  Araber,  die  übrigen  Gutto- 
rale sehr  treu  bewahren,  sondern  auch  das 
Hamm  in  großem  Umfange  festhalten,  sogar  im 
Silbenauslaut. 

Die  Consonanten  &  £*  Je  erleiden  eine  dop- 
pelte Behandlung,  indem  sie  theils  zu  den  Den- 
talen v>  o  {jo,  theils   zu  den  Zischlauten   \  \j»  \ 

werden.  So  viel  ich  jedoch  sehe,  ist  der  nor- 
male Wandel  der  erstere;  die  Zischlaute  zeigen 
sich  hauptsächlich  oder  ausschließlich  in  solchen 
Wörtern,  welche  aus  der  Schrift-  oder  höhern 
Umgangssprache  stammen  und  eigentlich  alt- 
arabisch sind.  Es  stimmt  dazu,  daß  nach  Spitta 
(S.  9)  die  Gebildeten  altarabisches  £>  immer  ^ 

lesen,  daß  die  Zischlaute  mehr  in  Substanti- 
ven, namentlich  Abstracten  und  in  festen  Redens- 
arten als  in  Verben  und  flüssiger  Sprache  er- 
scheinen. Fälle  wie,  daß  hadis  als  technisches 
Wort  „Tradition"  neben  hadit  „Erzählung*  steht 
(S.  17),  bestätigen  diese  Anschauung. 

Nach  Spitta's  Darstellung,  mit  der  die  Wal- 
tin's  übereinzustimmen  scheint,  sind  die  Laute 
o  und  g)  von  einem  leisen  Hauche  begleitet,  wie 

ja  auch  das  gemeindeutsche  t  und  Je  jetzt  für 
Aspiraten  gehalten  werden.  Ich  möchte  zur  Er- 
wägung geben,  ob  sich  nicht  hieraus  die  Er- 
scheinung erklärt,  daß  die  Griechen  wie  die  Se- 
miten x  =  »  wie  =  D ,  #  =  n  wie  =*=  n 
setzen.  Die  griechischen  Laute  waren  nach 
allem  Anschein  noch  sehr  spät  nicht  Affricatae, 
sondern  wirkliche  Aspiratae,  wie  die,  ihnen  sonst 
vielleicht  nor  ungefähr  entsprechenden,  semiti- 


Spitta,  Grammatik  d.  arab.  Vulgärdialects  v.  Aegypten.  S09 

sehen,  während  die  völlig  hauchlosen  %  und  « 
mit  d  und  p  gleichgesetzt  wurden,  die  mit  ihnen 
wenigstens  in  dem  Hangel  des  Hauchs  überein- 
stimmten*).    * 

Wie  weit  wir  in  diesem  Dialect  Neuschöpfiuig 
von  Wurzeln  annehmen  dürfen,  mag  dahin  stehn. 
Aber  die  Umscbaffung  namentlich  von  schwachen 
Wurzeln  ist  hier  wieder  reichlich  zu  belegen. 
Ich  weise  z.  B.  bin  auf  tinqäd  „wird  angezün- 
det« „(506  nr.  164)  von  ^  =  ^;  auf  itrawoa 

=  i^fjj   (S.  16)   und   das    häufige    aura  Impf. 

jfai  und   toarrä   „zeigen"  IV  und  II  von  ^t^, 

deren  ersteres  wieder  schon  Dschaw&lfqt  (Mor- 
gen!.   Forschungen    157,  5)    zu  verwerfen   hat. 

Durch  Assimilation  entsteht  nuss  aus  vjuai  und 

bildet  nun  ohne  Weiteres  den  Plural  ansds;  ob 
nicht  auch  ftass  „sehen"  und  qadd  „MaaB"   am 

einfachsten   aus    j*u,  jöJ>    zu   erklären    sind? 

Solche  Vorgänge  haben  wir  schon  in  dem  Urse- 
mitischen anzunehmen. 

Die  Menge  der  grammatischen  Formen  hat 
schon  aus  rein  lautlichen  Gründen,  wie  dem  Ab- 
fall kurzer  Auslautvocale ,  stark  abgenommen. 
Unbequem  ist  namentlich  das  Zusammenfallen 
der  1.  und  2.  Person  Sg.  Perf.  Der  fast  gänz- 
liche Verlust  des  alten  Passivs  (eine  Perfectform 
ist  u.  a.  noch  ruziq  S.  441,  1)  ist  durch  Aus- 
dehnung der  Reflexiva,  namentlich  der  VII.  Ver- 
balclasse,  ziemlich  ersetzt.  Die  IX.  Glasse  hat 
eine  doppelte  Form,  itfi'ü  und  tfU£<A\  erstere, 

*)  Aehirikh  war  es  beim  nordsemitischen  />,  das 
nicht  als  ^equivalent  des  griechischen  n  angesehn  ward, 
so  daB  die  Syrer  noch  spät  eigne  Bezeichnungen  für  die 
in  ihre  Sprache  aufgenommenen  Wörter  mit  n  erfanden. 


310  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

eine  Neubildung,  ist  wohl  die  eigentlieh  volks- 
tümliche, letztere  der  Schriftsprache  entlehnt. 
Aehnliohe  Beobachtungen  lassen  sich  noch  öfter 
bei  Nebenformen  machen.  Von  den  Versuchen, 
durch  Httlfswörter  den  Sinn  der  beiden  Tem- 
pora für  gewisse  Fälle  schärfer  auszudrücken, 
Versuchen,  wie  sie  in  ähnlicher  und  gleichfalls 
unzulänglicher  Weise  auch  das  Altarabische,  das 
Syrische  und  Nensyriscbe  kennen,  ist  der  inter- 
essanteste die  auch  im  syrischen  Arabisch  be- 
liebte Zusammensetzung  des  Imperfects  mit  bi} 
wodurch  eine  Art  Präsens  hergestellt  wird.  Ohne 
Spitta's  Erklärung,  daß  dies  bi  einfach  die  Prä- 
position sei,  gradezu  als  sicher  anzuerkennen, 
bemerke  ich,  daß  ja  auch  die  alte  Sprache  eine 
solche  Verbindung  des  Impf,  mit  einer  Präposi- 
tion  kennt,   denn   das  li  in  JJ&J  und  in  jJsli 

ist  doch  sicher  nur  die  Präposition,  die  auch  in 
unserm  Dialect  in  liqtaü  =  tydaäJ  (S.  352,  3) 

aufs  Neue  erscheint.  —  Die  Beschränkung  des 
Duals  ist  kein  großer  Verlust.  Beim  Pronomen 
hat  sich  dieser,  wie  es  scheint,  formell  noch  in 
huma,  humä  erhalten,  das  freilich  ganz  wie  Atem 
als  Plural  gebraucht  wird ;  auch  andre  Sprachen 
haben  bekanntlich  ursprüngliche  Dualformen  in 
Pluralbedeutung  aufbewahrt.  Die  Häufigkeit 
gewisser  Duale  wie  ^^j,  &#**  mag  es  er- 
klären, daß  sich  ein  auf  sie  hinweisendes  Pro- 
nomen erhielt,  auch  nachdem  die  Beschränkung 
der  Bedeutung  verloren  war. 

So  viele  Veränderungen  gegenüber  dem  clas- 
sischen  Arabisch  wir  nun  auch  in  den  Formen 
des  Dialacts  bemerken,  so  ist  hier  doch  alles 
echt  arabisch  und  echt  semitisch.     Dieser  Cha- 


Spitta,  Grammatik  d.  arab.  Vulgärdialects  v.  Aegypten.  811 

racter  wird  selbst  durch  die  Entlehnung  des 
oben  erwähnten  türkischen  Suffixums  und  durch 
die  mancherlei  fränkischen  und  sonstigen  frem- 
den Wörter  nicht  eigentlich  beeinträchtigt.  Auch 
die  sehr  eingebend  und  übersichtlich  darge- 
stellte Syntax  erscheint  als  durch  und  durch 
arabisch.  Freilich  giebt  es  da  manches  auf- 
fallende, wie  die  stark  verbale  Behandlung  des 
activen  Participiums  und  wie  die  Gewohnheit, 
die  Fragwörter  an's  Ende  des  Satzes  zu  stellen 
(z.  B.   bähum  fen  =  {y*\&  p^u*    „wo    ist  ihr 

Haus?");  aber  auch  diese  Abweichungen  vom 
Altgewohnten  stehn  durchaus  nicht  im  Wider- 
sprach mit  dem  arabischen  Grundcharacter  der 
Sprache.  —  Daß  der  Verf.  das  syntactische  Ma- 
terial im  Ganzen  nach  dem  in  meinen  aramäi- 
schen Grammatiken  befolgten  Schema  angeord- 
net hat,  kann  mir  nur  schmeichelhaft  sein. 

Im  Folgenden  erlaube  ich  mir  noch,  an  diese 
und  jene  Stelle  der  Grammatik  eine  Bemerkung 
zu  knüpfen.  Die  Conjunction  lamma  „bis,  da- 
mit« (S.  185)  ist  schon  von  Wetzstein  ZDMG. 
XXII,  117  richtig  aus  U  £1  erklärt*).  Der  laut- 
liche Vorgang  ist  hier  wie  beim  altarabischen 
lammä  (verkürzt  lam)  aus  Lo  *i  sowohl  in  der  Be- 
deutung „noch  nicht"  wie  in  der  im  Schwinden 
begriffenen  „wenn  nicht"  (Mand.  Grammatik  S. 

209),  während  U  „nachdem14  wohl  kaum  an- 
ders  als   aus  la  =  J  und  mä  erklärt  werden 

kann,  so  daß  die  Verdopplung  secundär  ist  wie 
im  hebräischen    si»V  n7?^i    UJ    muß   dagegen 

*)  Die  Beduinen  der  syr.  Wüste  haben  die  eigea- 
thümliche  Nebenform  iljdma,  welche  öfter  in  Wetzstein's 
Erzählung  erscheint. 


312  Gott.  gel.  Am.  1681.  Stück  9. 10. 

eine  jüngere  Bildung  sein.  —  Die  Wunschpar- 
tikel r#  (S.  178)  =  s^ll  mag  volksetymologisch 

mit  {j^\)  in  Znsammenhang  gebracht  sein,  aber 
ursprünglich  ist  das  gewiß  nicht,  denn  man  kann 
c^J  doch  nicht  von  dem  gleichbedeutenden  «jqX, 

von  y  u,  s.  w.  trennen.  —  In  der  ersten 
Silbe  von  ezai  „wie?"    (S.  168)    ist  nicht  wohl 

fr  v.  £ 

t,  sondern  ein  abgeschwächtes  e,  ^\  zu  sehn. 
Eeaijoh    „wie    geht    es    ihm?"    ist    also    = 

ju;  ^t.    ajJ  könnte  ja  höchstens  heißen:    „hat 

er  eine  Gestalt?  tt  —  Das  seltsame  dann,  tann 
mit  Suffixen  (S.  329)  „darauf",  meist  mit  folgen- 
dem Particip,  scheint  mir  durch  ^i  noch   nicht 

recht  erklärt;  tänije  4,  26  gehört  ja  kaum  dazu. 
Ich   habe   an  *it  \3  gedacht  (wie  die  Beduinen 

sagen    Q^  f  Ii5l*3    ZDMG.    XXII,  82,   4; 

psjjuJä  f  Mtf^   eb.  77,   1   u.  s.  w.)    oder   an 

«it  131    (mit  demonstrativen   131),   aber  bei 

jeder  Erklärung  bleiben  Formen,  die  sich  nicht 
fügen.  ~    Kit  wehet   „so  und  so"  (S.  18)   ist 

v^*I*3  <^r>  hängt  also  mit  \oS  nicht  näher  zu- 
sammen. —  j&i  (vgl.  S.  80)  „warum?" 
kommt  schon  bei  Abu  Nuwäs  (Ahlwardt  S.  24, 
im   Beim)  vor;    auch    Dschaw&ltqt    läßt  j$ 

zu,  verlangt  nur  die  Aussprache  mit  Tanwtn  ^t 
Eigentlich  classisch  ist  das  Adverbium  aber  ge- 


Spitta,  Grammatik  dt  arab.  Vulgar  dialects  v.  Aegypten.  313 

wiÄ  nicht.   —    Das   Wort  minje}   ältere  Form 

&u*,  womit  viele  ägyptische  Ortsnamen  zusam- 
mengesetzt sind  and  das  auch  in  Palästina  als 
Ortsname  vorkommt,  ist  nicht  koptischen  Ur- 
sprungs (S.  X),  sondern  griechisch  povy  „mansio". 
Der  St.  cstr.  mmjet,  mit  (S.  27)  ist  ähnlich  wie 

tnivet  von  mtne   „Hafen"   für  Lu*  aus  1>U&^ 


d.  i.  Upiva.  —  oji  (S.  8)  ist  nicht  die  spätere, 
sondern   die  Grundform  (1.  Pers.  Perf.),  woraus 

durch    rückwirkende  Assimilation    *>j*    werden 

kann.  —  Nicht  als  „unnatürlich"  sehe  ich  die 
tiberlieferte  Betonungsweise  des  Arabischen  an 
(S.  59);  sondern  nur  als  nicht  ursprünglich,  gegen- 
über der  von  den  Schwestersprachen  zum  Theil 
treaer  bewahrten  altaemitischen.  —  Die  Her- 
leitung der  jetzigen  Nominalformen  aus  dem 
Accusativ  (S.  147)  ist  gewiß  nicht  aufrecht  zu 
erhalten;  bei  der  Verweisung  auf  das  Romani- 
sche bleibt  zu  bemerken,  daß  da  auch  sehr 
viele  Nomina  statt  der  Accusativ-  die  Nomina- 
tivform  zeigen  z.  B.   die  italiänischen  PI  u rale 

auf  i  und  e.  —    Die   Formen  ^J,  ,Jl*t   (S. 

145)  scheinen  mir  von  ^rfo}\,  ^&\  auszugehen, 

wie  *Uo,  s^Lä  von  qm*j.   —    Daß  rwpin  (far 

rvtöfin)  nicht  hebräisch,  sondern  aramäisch  sei 
(S.  121),  ist  eine  etwas  seltsame  Behauptung. 
Das  sehr  häufige  Wort  kommt  in  den  ältesten 
Schriften  des  A.  T.,  zum  Beispiel  bei  den  frühe- 
sten Propheten  vor;  es  hat  sein  Ebenbild  in 
nvVj$,  wie  denn  m—  als  Fem.  zum  relati- 
ven ■*—  noch  vielfach  vertreten  ist,   Grade  um- 


314  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9.10. 

gekehrt  ist  Aaa?  ein  dem  Hebräischen  entlehntes 

Fremdwort,  über  dessen  richtige  Aussprache  die 
syrischen  Schalen  nicht  sicher  sind.  —  Die 
Entstehung  der  S.  191  aufgeführten  Quadrilitera 
sehe  ich  zum  Theil  anders  an  als  der  Verf. 
Ueberhaupt  findet  sich  hier  und  da  noch  eini- 
ges das  Altarabische  oder  die  anderen  semiti- 
schen Sprachen  betreffende,  worin  ich  nicht 
ganz  mit  ihm  übereinstimme ;  aber  das  sind 
durchgehends  Sachen  von  weniger  Bedeutung, 
zumal  bei  einem  Werke,  dessen  Aufgabe  es  ist, 
die  gegenwärtige  Sprache  darzustellen. 

Dem  Buche  ist  eine  ziemlich  umfangreiche 
Auswahl  von  Texten  angehängt,  alle  aus  dem 
Munde  der  Leute  aufgezeichnet.  Bei  Weitem 
am  wichtigsten  sind  die  Erzählungen.  Es  sind 
zum  großen  Theil  alte  Bekannte  aus  1001  Nacht 
u.  drgL  und  im  Tone  den  älteren  Geschichten 
ähnlich  gehalten,  wenn  auch  nicht  grade  glän- 
zend Vertreter  ihres  Fachs.  Ein  gewisser  Zu- 
sammenhang mit  der  geschriebenen  Literatur 
ist  von  vorn  berein  deutlich,  und  dieser  wirkt 
auch  einigermaaßen  auf  die  Sprachformen  ein. 
Daß  der  Stil  der  mündlichen  Erzählung  bei  den 
Arabern  verschiedener  Länder  eine  gewisse 
Festigkeit  besitzt,  zeigt  sich  z.  B.  darin,  daß 
diese  Geschichten  mit  der  von  Wetzstein  mitge- 
theilten  Beduinenerzäblung,  die  bei  aller  Breite 
in  sich  einen  weit  höheren  Werth  hat,  sogar 
die  feste  Formel  £1  Lc^*  £>y.  (ZDMG.  XXII, 

81,  12  u.  s.  w.)  ,=  J  Ucy>^  £?>jA  Spitta 
451,  6  u.  s.  w.  gemein  hat.  Kennern  der  *An- 
tar  und  andrer  Volksromane  werden  wohl  diese 
Zusammenhänge  noch  deutlicher  sein  als  mir. 
Aber  es  wäre  doch  gewiß  schwer,  bessere  zu- 
sammenhängende Proben  der  lebenden  Sprache 


Spitta,  Grammatik  d.  arab.  Vulgardialects  v.  Aegypten.  815 

zu  erhalten.  Wer  die  Grammatik  sorgfältig  ge- 
lesen, der  wird  diese  Geschichten  ziemlich  gut 
verstehn  können,  wenn  ihm  auch  hie  und  da 
noch  eine  Anmerkung  erwünscht  wäre,  welche 
die  Bedentang  einer  Redensart  oder  einer  Vo- 
cabel  erklärte.  Hoffentlich  nimmt  Spitta  von 
diesem  Winke  Notiz  für  die  weitere  Veröffent- 
lichung von  dergleichen  Sachen,  die  wir  ihm 
allerdings  an's  Herz  legen  möchten;  eine  kleine 
Erleichterung  kann  er  dabei  dem  Leser  noch 
geben  durch  die  Einführung  von  Uncialen  bei 
Eigennamen.  Sonst  scheint  mir  seine  Trans- 
scription sehr  zweckmäßig,  da  sie  genau  ist, 
obne  doch  den  Leser  durch  das  Bestreben  zu 
verwirren,  jede,  nur  dem  scharf  Hörenden  be- 
merkbare, feine  Vocalnttance  durch  ein  beson- 
deres Zeichen  wiederzugeben.  Bequemer  wäre 
für  uns  allerdings  die  Beibehaltung  der  arabi- 
schen Schrift,  aber  die  Laute  der  Sprache 
würde  uns  diese  viel  weniger  deutlich  machen. 
Wer  nun  die  Erzählungen  leidlich  rasch  gele- 
sen hat  und  sich  einbildet,  er  verstehe  jetzt  die 
Sprache  von  Cairo,  der  wird  unsanft  aus  seiner 
Täuschung  aufgeweckt,  wenn  er  sich  an  die 
darauf  folgenden  Lieder  macht.  Hier  ist  die 
Uebersetzung,  welche  Spitta  beifügt,  unentbehr- 
lich. Das  liegt  freilich  zum  größten  Theil  an 
dem  poetischen  Stil.  Als  Muster  der  volkstüm- 
lichen Sprache  können  diese  Verse,  wie  auch 
der  Herausgeber  andeutet,  nicht  in  dem  Maaße 
dienen  wie  die  Erzählungen.  Dasselbe  muß  we- 
nigstens zum  Theil  auch  von  den  Sprichwörtern 
gesagt  werden,  welche  die  Sammlung  schließen. 
Aesthetisch  und  moralisch  stehn  manche  von 
ihnen  weit  über  den  Geschichten  und  Liedern; 
manche  werden  auch  echt  ägyptische  Erzeug- 
nisse sein,  aber   andre  stammen   doch  aus  der 


316  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  9. 10. 

höheren  Literatur.  Nr.  226  ist  ans  einem  vor- 
islamischen Verse  und  nr.  230  gehört  gar  zu 
einem  Aussprach  Muhammed's.  Da  ist  es  denn 
die  Frage,  ob  die  Umsetzung  in  die  wirkliche 
Volkssprache  überall  ganz  vollzogen  ist. 

Wenn  ich  nun  dem  Buche  als  wissenschaft- 
lichem Werke  nur  das  größte  Lob  zollen  kann, 
so  möchte  ich  die  Vermuthung  aussprechen,  daft 
sich  dasselbe  auch  practisch  bewähren  werde. 
Freilich  hat  sich  noch  Keiner  bloß  aus  einer 
Grammatik  eine  Sprache  wirklich  zu  eigen  ge- 
macht; freilich  wird  ein  des  Altarabischen  Un- 
kundiger mit  diesem  Werke  kaum  etwas  an- 
fangen können:  aber  wer  mit  genügenden  Vor- 
kenntnissen an  dasselbe  geht,  der  kann  sich, 
denke  ich,  dadurch  in  den  Stand  setzen,  in 
Aegypten  dessen  Sprache  ziemlich  rasch  ver- 
stehen und  selbst  reden  zu  lernen. 

In  der  Vorrede  spricht  der  Verf.  den  drin- 
genden Wunsch  aus,  daß  diese  Volkssprache 
zur  Schriftsprache  erhoben  und  die  etwas  abge- 
standene Canzlei-  und  Büchersprache  beseitigt 
werde.  Gewiß  können  wir  uns  diesem  Wunsch 
nur  anschließen,  aber  freilich  darf  man  die  ge- 
waltigen Hindernisse  nicht  verkennen,  die  seiner 
Verwirklichung  entgegenstehe  Der  Hinweis  auf 
die  Geschichte  der  italiänischen  Sprache  paßt 
nicht  ganz;  denn  auf  einen  Mann  wie  Dante 
darf  man  nicht  rechnen,  und  ein  solcher  fände 
in  Aegypten  auch  kaum  einen  geeigneten  Bo- 
den. Am  meisten  Hoffnung  ist  noch  darauf  zu 
setzen,  das  practische  Bedttrfniß  werde  das  zu 
Wege  bringen,  was  sich  von  oben  herab  durch 
Beamte  und  Gelehrte  schwerlich  in's  Leben  ru- 
fen läßt 

Wir  schließen  mit  dem  Wunsche,  daß  diesem 


Raabe,  Klagelieder  d.  Jeremias  u.  Prediger  d.  Salomon.  S17 

trefflichen  Werke  bald  ebenso  gründliche  und 
aas  lebendiger  Kenntnift  geschöpfte  Darstellun- 
gen andrer  arabischer  Dialeete  folgen  mögen,  so 
daft  wir  allmählich  ein  gewisses  Bild  tob  der 
Entwicklung  des  Arabischen  in  allen  seinen 
Gebieten  gewinnen  könnten. 
Die  Ausetattang  ist  vortrefflich. 

StruMmrg  i.  £.  Tb.  Nöldeke. 

-  ■     ■■  * 

Die  Klagelieder  des  Jeremias  und  der 
Prediger  des  Salomon.  Im  Urtext  nach  neue- 
ster Kenntnis  der  Sprache  behandelt,  (entere  metrisch) 
übersetzt,  mit  Anmerkungen  und  einem  Glossar  ver- 
sehen. Neuer  Gesichtspunkt  fur  hebräisches  Versmaß 
eröffnet.  Von  Andreas  Raabe.  Leipzig,  Commis- 
sionsverlag  von  L.  Fernau  1880.    VI.   224  S.    8°. 

In  der  selben  Weise,  wie  Hr.  A.  Raabe  ein 
Jahr  früher  das  Buch  Ruth  und  das  Hohe  Lied  v 
„Dach  neuester  Kenntnis  der  Sprache  behandelt44 
hat,  fährt  er  jetzt  mit  den  Klageliedern  und  dem 
Prediger  fort.  Der  Titel  verheißt  viel;  dazu  be- 
zeugt dann  noch  der  Hr.  Gommissionsverleger 
Fernau,  daß  der  neue  noch  nicht  betretene  Weg 
sehr  erfolgreich  sei  und  zu  einer  bisher  uner- 
reichten Erkenntnis  des  Inhaltes  der  betreffen- 
den Bücher  führe,  obgleich  man  von  jeher  schon 
vielfach  die  Uebersetznng  des  hebräischen  Tex- 
tes unternommen  habe.  Die  neue  Methode  geht 
Ton  dem  Grundsatze  aus,  daß  das  Hebräische, 
wenn  man  es  nur  richtig  ausspreche  (so  wie  es 
der  Verf.  durch  seine  Transscription  zeigt),  wei- 
ter nichts  als  das  reine  Sanskrit  sei.  Die  Ver- 
gleiehung  der  Grammatik  hat  sich  der  Autor 
indessen  geschenkt,  er  vergleicht  nur  das  Lexi- 
kon. Unverzagt  geht  er  dabei  immer  aufe 
Gftaze,  ohne  viel  Federlesens  zu  machen.  Man 
hatte  bisher  gedacht,   man  dürfe  höchstens  die 


318  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9: 10. 

einfachsten  lexicalischen  Elemente  vergleichen, 
also  z.  B.  nicht  die  hebräischen  Triliteren  mit 
den  einsylbigen  Sanskritwurzeln,  weil  die  Drei- 
buchstabigkeit,  als  etwas  spezifisch  Semitisches, 
der  hypothetischen  Ursprache  auf  keinen  Fall 
angehört  haben  könne.  Dieser  Hr.  Raabe  aber 
bewährt  seine  Unbefangenheit  in  allen  gelehrten 
Vorurtheilen  dadurch,  daß  er  auch  die  abgelei- 
tetsten Bildungen  der  beiden  Sprachen  direct 
mit  einander  vergleicht;  was  schert  es  ihn,  ob 
die  Grammatiker  einen  Buchstaben  für  bloß  for- 
mativ  oder  umgekehrt  für  radical  halten  1  Z.B. 
ist  das  bekannte  Wort  Thora  (von  der  Wurzel 
wara)  =  skr.  tarff,  Sternbild,  Inbegriff  der  Er- 
kenntnis, Wissen  der  Dinge  bis  auf  deren  Ur- 
sprung. Auf  die  entlegensten  Gebiete  fallen  die 
Strahlen  des  neuen  Lichts,  das  uns  aufgesteckt 
wird;  so  wird  z.  B.  mittelst  der  Etymologie  des 
Zahlworts  nrou>  das  Grundgesetz  der  hebräischen 
Metrik  aufgedeckt. 

Wunderlich  ist,  daß  die  Uebersetzung  der 
hebräischen  Texte,  die  Herr  Raabe  giebt,  trotz 
Allem  sich  nicht  so  sehr  von  der  Tradition  ent- 
fernt; da  hat  er  offenbar  mit  einem  fremden 
Kalbe  gepflügt  und  nicht  mit  seinem  neuesten 
Instrument.  Ja  es  scheint,  als  gehe  seine  ganze 
Vergleichung  von  den  überlieferten  Bedeutungen 
der  Wörter  aus,  die  ihm  als  sicher  gelten,  Weil 
sie  im  Lexikon  stehen.  Darnach  hat  er  dann 
sanskritische  Analoga  aufgesucht,  und  nach  die- 
sen wieder  die  hebräischen  Wörter  kunstmäßig 
behandelt.  Dabei  ist  es  ihm  sehr  zu  statten  ge- 
kommen, daß  er  vom  Hebräischen  sicherlich 
nichts ,  vom  Sanskrit  schwerlich  mehr  versteht 
Er  ist  also  überhaupt  kein  Mann,  der  auf  seine 
Thorheiten  irgend  eine  Antwort   verdient;  man 


La  Mltrique  de  Bharata,  p.  Regnaud.  319 

ärgert  sich  nachträglich,   sich  dennoch  mit  ihm 
befaßt  zu  haben. 

Greifswald.  Wellhausen. 


La  Me"trique  de  Bharata.  Texte  Sanscrit  de 
deux  chapitres  du  N&tya-Qästra,  publik  poor  la  pre- 
miere foifi  et  suivi  d'une  interpretation  franchise  par 
Paul  Regnaud.  Paris  (Ernest  Leroux)  1880. 
[Extrait  des  Annales  du  Musde  Guimet  Tome  II]. 

Die  Arbeit  des  Herrn  Regnaud  ist  mir  nur 
verständlich  unter  der  Voraussetzung,  daß  es 
ihm  gänzlich  unbekannt  ist,  daß  vom  Bharata- 
(ästram  außer  der  Handschrift  der  Royal  Asia- 
tic Society  noch  andere  Handschriften  vorhan- 
den sind.  Da  der  Aufsatz  von  Dr.  W.  Hey- 
mann in  den  Göttinger  Nachrichten  1874  p. 
86 ff.  in  Weber's  Indischer  Literaturgeschichte2 
p.  248  Anm.  *)  erwähnt  wird  (wo  freilich  irr- 
thttmlich  die  Göttinger  gel.  Anzeigen  genannt 
werden),  so  wundert  es  mich,  daß  er  Herrn 
Regnaud  entgangen  ist.  Die  zweite  vollstän- 
dige Handschrift  im  Besitze  von  Dr.  Hall  hätte 
Herr  R.  ebenso  leicht  erlangen  können  wie 
Dr.  Heymann  und  durch  eine  Anfrage  bei  Dr. 
Rost  würde  er  erfahren  haben,  was  ich  durch 
eine  Mittheilung  von  Dr.  Heymann  weiß,  daß 
Bühler  von  einer  dritten  vollständigen  Hand- 
schrift in  Ajmir  hat  zwei  Abschriften  nehmen 
lassen,  daß  ferner  in  Indien  sicher  noch  ein 
Dutzend  Handschriften  und  wahrscheinlich  auch 
der  Commentar  des  Abhinavagupta  vorhanden 
ist.  Ein  MS.  wird  auch  erwähnt  von  Oppert, 
Lists  of  Sanskrit  Manuscripts  in  Private  Libra- 
ries of  Southern  India  (Madras  1880)  p.  471 
No.  6019,  und  auch  das  unter  No.  6018  aufge- 
führte Nätyalakshana  scheint  damit  zusammen- 


320  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  9. 10. 

zuhängen,  da  Bharata  als  Verfasser  angegeben 
wird.  Bei  Gough,  Records  of  Ancient  San- 
skrit Literature  (Calcutta  1878)  p.  144  nennt 
Bühler  das  Werk  Bhäratiyanätyalakehana.  Das 
Material  zu  einer  kritischen  Ausgabe  des  N&- 
tya$ästram  des  Bharata  ist  also  vorhanden  und 
bei  der  Liberalität  der  Indischen  Regierung 
leicht  zu  beschaffen.  Die  von  Herrn  R.  be- 
nutzte Handschrift  ist  so  verderbt  und  lücken- 
haft) daß  es  eine  Verschwendung  von  Baum 
und  Zeit  ißt,  aus  ihr  allein  den  Text  herauszu- 
geben. Herr  R.  hat  die  verderbten  Lesarten 
oft  mit  vielem  Scharfsinn  verbessert  und  auch 
seine  Uebersetzung  ist  meist  richtig.  Aber  eine 
große  Anzahl  von  Stellen  des  Textes  bleibt 
ganz  unsicher  und  über  ihre  Auffassung  läßt 
sich  streiten,  p.  21  v.  48  ist  natürlich  varata- 
nuh  statt  paratanu  zu  lesen;  p.  23  v.  67  ver- 
langt die  Grammatik  und  das  Metrum  catväry 
ädau  für  R/s  catur  ädau.  p.  20.  v.  40  ist  gUa- 
vätadagdhä  zu  lesen  und  die  fehlenden  Silben 
können  nicht  hinter  maliniva  gestanden  haben, 
da  das  Metrum  dagegen  Widerspruch  erbebt. 
Wahrscheinlich  lautete  der  Vers:  gitavätadag- 
dhdsi  kamaliniva.  Auch  in  v.  26  ist  die  feh- 
lende Silbe  falsch  bezeichnet  Es  fehlt  eine 
Kürze.  Der  Vers  ist  offenbar  zu  lesen:  kshinah 
skhalamänavidambanakah  \  grutvaughavigarjüam 
und  das  Metrum  wird  schwerlich  totokam  hei- 
ßen, parikotayate  weist  vielmehr  auf  Jcotaka  bin. 
Bei  der  Lage  der  Dinge  wäre  es  müßig  auf 
Einzelheiten  weiter  einzugehen  und  Conjecturen 
zu  geben,  wo  man  ohne  große  Mühe  Gewißheit 
haben  kann.  An  Druckfehlern  ist  kein  Mangel. 
Kiel. R.  PischeL 

Fta  die  Redaction  rerantwortlich :  &  Rehniseh,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 
Verlag  der  Ditterich'Mchn  Verlags- IhtchJumdkmg. 
Druck  dir  DitUrich'ichen  Univ.-  Buchdntctorti  ( W.  Fr,  Katsimtr). 


331 

6  ft  1 1  i  n  g  i  s  c  h  e 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König  1.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  11.  16.  März  188 1. 


Inhalt:  E.  H.  Bunbnry,  History  of  Ancient  Geography.  Yon 
J.  Burtack.  —  J.  I*.  P  i  c ,  Ueber  die  Abstammung  der  Rumänen.  Von 
&  l  Bidermann.  —    J.  J.   Baumann,   Handbuch  der  Moral.    Vom 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  ron  Artikeln  der  Gott,  gel.  Abc.  verboten  s? 

Ahistory  of  ancient  geography  among  the 
Greeks  and  Bomans  from  the  earliest  ages  till  the 
fall  of  the  roman  empire.  By  E.  H.  B  u  n  b  u  r  y ,  F.R.G.S. 
With  twenty  illustrative  maps.  In  two  volumes.  London, 
John  Murray  1879.  Vol.  I.  pp.  XXX,  666.  Vol.  II. 
pp.  XVIII,  743. 

Trotz  des  lebendigen  Eifers,  mit  welchem 
bei  dem  allgemeinen  Aufschwung  der  classischen 
Stadien  in  nnsrem  Jahrhundert  auch  die  Kennt- 
nis der  geographischen  Leistungen  des  Alter* 
tbums  gefördert  wurde,  ist  noch  nie  in  größrem 
Maaßstabe  der  Versuch  unternommen  worden, 
die  Entwicklung  der  antiken  Erdkunde  zu  einem 
bis  ins  Einzelne  ausgeführten  historischen  Ge- 
aammtbilde  zu  vereinigen.  Bunbury  unterzieht 
-  sich  dieser  Aufgabe  mit  specieller  Bücksicht  auf 
die  Bedürfnisse  der  Studierenden.  Ihnen  will 
er  für  da«  Verständnis  und  die  Würdigung  der 
geographischen  Anschauungen  der  Griechen  und 
Römer  ein  Führer  sein,  ihnen  die  reichen  Re- 
sultate der  in  zahllosen  Monographien  zerstreu- 

21 


322  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stack  11. 

ten  modernen  Forschungen  auf  diesem  Gebiete 
gesammelt  und  kritisch  gesichtet  entgegen- 
bringen. 

Die  Anlage  seines  Werkes  ist  eine  streng 
historische.  Ihrer  Altersfolge  nach  werden  die  in 
Betracht  kommenden  Schriftsteller  jeder  für  sich 
erledigt,  in  chronologischer  Ordnung  wird  jeder 
Kriegszug,  jede  Entdeckungsfahrt  in  unbekannte 
Ferne  geschildert  Selbst  für  die  mathematische 
und  physikalische  Geographie  wird  dem  sachli- 
chen Zusammenhang  keine  Concession  gemacht, 
sondern  der  Chronologie  die  Herrschaft  über  die 
Darstellung  belassen.  Kritische  Fragen  werden, 
um  den  Fluß  der  historischen  Ausführungen 
nicht  zu  unterbrechen,  am  Schlüsse  jedes  Capi- 
tels  in  längeren  Noten,  die  bisweilen  den  Cha- 
rakter von  Excursen  annehmen,  discutiert  Daß 
diese  Anlage  für  den  Verfasser  die  bequemste 
und  auch,  für  den  Nachschlagenden,  der  nur 
über  ein  antikes  Werk  oder  einen  historischen 
Vorgang  Belehrung  sucht,  vorteilhaft  ist,  soll 
nicht  bezweifelt  werden.  Ob  aber  solch  eine 
Gruppierung  des  Stoffs  diesem  die  lehrreichste 
Beleuchtung  sichert,  die  Entstehung  und  den 
Wandel  jeder  einzelnen  geographischen  An- 
schauung am  klarsten  aufdeckt,  ist  doch  sehr 
problematisch.  Der  Verfasser  hat  das  empfun- 
den und,  um  das  sachlich  Zusammengehörige 
und  chronologisch  getrennte  nicht  gapz  aus- 
einander fallen  zu  lassen,  sich  ohne  Scheu  (p. 
IX)  zu  häufigen  Wiederholungen  entschlossen, 
welche  den  Umfang  des  Buchs  entschieden  er- 
weitert, die  Darstellung  für  den  das  ganze  Werk 
bewältigenden  öfter  verwässert  und  doch  dem 
Bedürfniß,  dem  sie  entsprungen,  nicht  genügt 
haben.    Wer  sich  z.  B.  über  die  Versuche  der 


Bunbury,  History  of  ancient  geography.         323 

Alten  in  der  Schätzung  und  Messung  von  Berges* 
höhen  informieren  will,  wird  trotz  der  mehrfach 
wiederholten  Erwähnung  der  Messungen  Di- 
caearchs  über  diese  Bestrebungen  in  ihrer  Ge- 
sammtheit  an  keiner  Stelle  des  Buchs  ein  be- 
friedigendes Bild  erlangen.  Selbst  wenn  er  — 
vom  Index  ganz  ungenügend  unterstützt  —  aus 
dem  ganzen  Werke  sich  die  zerstreuten  ein- 
schlägigen Notizen  (I  617/8.  660  II  23.  251. 
270.  385.  394.  407)  mühselig  zusammensucht, 
gewinnt  er  nur  eine  kleine  Auswahl  von  Zif- 
fern, nirgends  einen  Einblick  in  den  Gedanken- 
Proceß,  durch  den  die  Alten  zu  ihren  Höhen- 
Angaben  gelangten. 

Mehr  noch  als  aus  den  z.  Theil  ansehnlichen 
Wiederholungen  erklärt  sich  der  stattliche  Um- 
fang des  Werks  ans  der  Aufnahme  langer 
kriegsgeschichtlicher  Berichte,  die  man  ohne  Be- 
dauern vermissen  würde.  Einer  Geschichte  der 
Erdkunde  liegt  gewiß  nicht  die  Verpflichtung 
ob,  den  Siegeszug  Alexanders  vom  Hellespont 
bis  Gaugamela  zu  erzählen,  den  Ueberwältiger 
Galliens  auf  seinen  Kreuz-  und  Quermärschen 
von  einem  Gemetzel  zum  andern  zu  begleiten. 
Die  welthistorischen  Ereignisse  dürfen  bei  dem 
Publikum,  für  welches  solch  ein  Werk  bestimmt 
ist,  wohl  als  bekannt  vorausgesetzt  werden. 
Nur  die  Früchte,  welche  sie  der  geographischen 
Kenntniß  eingetragen,  bedürfen  der  Beleuchtung. 

Wenn  hier  B.  die  Grenzen  seiner  Aufgabe 
zu  weit  gesteckt  hat,  hat  er  sie  anderwärts 
überraschend  eng  gezogen.  Das  gilt  zunächst 
von  dem  Kreise  classischer  Schriftsteller,  auf 
den  er  —  ich  will  nicht  sagen  sein  Quellen- 
stadium, aber  sicher  doch  —  die  Besprechung 
beschränkt  hat.  Grade  dort,  wo  der  Novize  im 
Stadium   der  alten  Geographie  einer  Hülfe  be- 

21* 


324  .  Gott  gel.  Ans.  1881.  Stick  11. 

sondern  bedarf,  beim  Nachweisen  entlegnerer 
Qaetten  läßt  ihn  B.  im  Stich.  So  stehen  z.  B. 
die  für  eine  Geschichte  der  Erdkunde  durchweg 
bedeutungsvollen  Nachrichten  über  die  Versuche 
der  Alten  in  der  Kartographie  meist  ziemlieh 
versteckt  in  Schriftstellern,  die  im  Allgemeinen 
für  die  Geographie  keine  oder  nur  eine  ganz 
untergeordnete  Wichtigkeit  haben  *).  Grade 
solche  verstreute  Perlen  am  Faden  der  zusam» 
menfassenden  Darstellung  mit  aufzureihen  und 
zu  verwerthen  ist  die  Sache  eines  Handbuchs. 
B.  aber  hat  all  seine  Sorgfalt  auf  die  hervor- 
ragendsten geographischen  und  geographisch- 
historischen  Haupt- Werke  des  Alterthums  con- 
centriert.  Die  Zeugnisse,  welche  bei  andren 
Classikern  gelegentlich  sich  finden,  hat  er  zu 
wenig  beachtet,  selbst  wenn  sie  große  Contro- 
versen  so  stark  berührten  wie  z,  B.  Vitrov  VIII 
2  die  Nilquellen-Frage  in  der  Auffassung  Jubas» 
Auch  das  reiche  inschriftliche  Material,  welches 
speoiell  für  die  römische  Kaiserzeit  für  den 
Mangel  litterarischer  Erzeugnisse  uns  vielfach 
entschädigt,  ist  nicht  ausreichend  verwerthet 

Schwieriger  ist  es  vielleicht  über  die  Be- 
grenzung des  Begriffs  der  Geographie  mit  B. 
zu  rechten.  Er  faßt  ihn  so  knapp  wie  möglich, 
meiner  Anschauung  nach  allzu  eng.  Mathema- 
tische und  physikalische  Geographie  spielen  in 
seinem  Werke  eine  entschieden  untergeordnete 
Rolle.  Kann  er  schon  der  Frage  nach  Gestalt 
und  Größe  der  Erde  nicht  ausweichen,  so  schließt 
er  wenigstens  die  Entdeckung  der  Erd-Retation 
von    seiner  Darstellung  aus.     Der  Name    des 

*)  Die  meistern  dieser  Zeugnisse  sammelte  schon 
Reingauum.  Geschichte  der  Erd-  und  LÄnder-Abbildu* 
gen  der  Alten.    Jena  1339. 


Bunhurf ,  History  of  ancient  geography.        896 

Biketas  fohlt  in  dieser  Gerichte  der  antiken 
Erdkunde. 

Auch  die  Abschnitte  der  mathematischen 
Geographie,  in  deren  Besprechung  B.  eintritt, 
sifid  Bicht  immer  mit  4er  durchgreifenden  Klar- 
heit des  Urtheäls  und  der  erschöpfenden  Gründ- 
lichkeit behandelt,  welche  man  ihm  sonst  nach- 
ahmen maß.  Werfen  wir  einen  Blick  auf  das 
korze  Capital  „Physical  philosophers"  I.  p.  120/6. 
Zu  der  gemächlichen  Breite,  mit  welcher  die 
von  ftp&tan  Quellen  dem  Thaies  fälschlich  zu- 
gesebiiebnen  weit  vorgeschrittenen  Anschauun- 
gen beleuchtet  werden,  steht  in  befremdendem 
Segensatz  der  an  einer  kurzen  verächtlichen  Be- 
merkung über  Aaaximander  ausgegossene  Spott. 
1st  es  denn  wirklich  sp  kindisch  albern,  wenn 
Attttsimander,  von  pJanimetrischer  zu  stereome- 
triecher  Anschauung  fortschreitend,  die  Erdscbeibe 
des  Thaies  sich  als  einen  niedrigen  Säulen- 
atampf  denkt,  als  einen  Cylinder,  dessen  Höhe 
7»  des  Qtterdurchmessera  betrage?  Diese 
uifennäftig  überlieferte  Proportion  (Euseb.  praep. 
ev.  L  8)  igiebt  sicher  eine  minder  abenteuerliche 
Vargtelluag  als  der  rohe  Vergleich  mit  einem 
Steinpfeiler  (Plot.  pbtc.  phil.  Iü.  10.  Galen  phü. 
hist.  XÄil.  2),  mit  welchem  B.  sieh  begnügt. 
Des  gewaltigen  Fortschritts,  der  in  der  kühnen 
Speculation  Anaximanders  lag,  daß  die  Erde 
frei  ohne  Stütze  mitten  im  Weltraum  schwebe 
(Arietot.  de  caclo  II.  13),  that  B.  gar  keine  Er- 
wähnung.  Als  ersten  Vertreter  der  Anschauung 
von  der  Kugelgestalt  der  Erde  und  ihrer  Zonen- 
Einteilung  bezeichnet  B.  Pythagoras,  wiewohl 
die  für  ihn  sprechenden  Zeugen  nicht  schwer 
hm  Gewicht  fallen  gegenüber  den  auf  Parmeni- 
des  sich  vereinenden  Stimmen  von  Theophrast 
and  Positioning,  Männern,  denen  man  die  Fähig- 


326  Gott.  gel.  Anz.  1881.  StücS  11. 

keit  nicht  absprechen  kann,  das  ihnen  noch  in- 
tact vorliegende  Quellen-Material  mit  der  in 
solchen  Fragen  unerläßlichen  Schärfe  and  Cor- 
rectheit  aufzufassen.  Die  Beweise,  welche  Ari- 
stoteles für  die  Kugelgestalt  der  Erde  vorbringt 
(de  caelo  II.  14),  führt  B.  I.  p.  395/6  kurz  an, 
ohne  im  Mindesten  die  geringe  Stichhaltigkeit 
des  ersten  von  den  Wirkungen  der  Schwerkraft 
hergeleiteten,  die  mangelhafte  Formulierung  des 
zweiten  von  den  Mondfinsternissen  entlehnten, 
und  die  Halbheit  des  letzten  hervorzuheben,  der 
an  die  Aenderung  des  Horizonts  mit  wechseln- 
der geographischer  Breite  anknüpft,  also  nur  für 
eine  Krümmung  der  Erdoberfläche  in  der  Rich- 
tung von  Nord  nach  Süd  beweisend  blieb,  bis 
Dicaearch  (Martian.  Gapella  de  nupt.  phil.  VI. 
590)  ihn  ergänzte.  In  Gap.  XVI,  wo  die  ersten 
Versuche  einer  Messung  des  Erdumfangs  be- 
sprochen werden,  muß  natürlich  auch  die  Frage, 
ob  wir  unter  der  Ziffer  des  Eratosthenes  soge- 
nannte olympische  Stadien  (8=1  röm.  Meile) 
oder  ein  von  diesen  abweichendes  Maaß  zu  ver- 
stehen haben,  zur  Erledigung  kommen.  In  der 
That  handelt  B.  mehr  als  einmal  (I.  p.  209— 
211.  544—546.  624.  IL  26)  über  die  von  man- 
chen Gelehrten  angenommene  Verschiedenheit 
des  Stadien-Maaßes.  Sonderbarer  Weise  zieht 
er  es  stets  vor  sich  mit  den  alten  längst  abge- 
thanen  Begründungen,  die  d'Anville  und  Gosse- 
lin  dafür  ins  Feld  führten,  herumzuschlagen. 
Nirgends  tritt  er  den  unleugbaren  Schwierig- 
keiten näher,  welche  aus  bemerkenswerthen 
Glassiker-Stellen  (namentlich  Plin.  h.  n.  XII.  13, 
53)  für  die  Annahme  eines  immer  und  überall 
gleichen  Stadien-Maaßes  erwachsen.  Wenn  vor- 
sichtige, feine  Köpfe  wie  Hultsch,  (Metrologie 
der   Griechen    und   Römer   p.  49/50)   sich    ent- 


Bunbury,  History  of  ancient  geography.         327 

schließen,  bei  Eratosthenes  ein  älteres,  kürzeres 
Stadien-Maaß  anzuerkennen,  ist  ihrer  reiflichen 
Erwägung  gegenüber  wohl  mehr  der  von  Berger 
(Die  geograph.  Fragmente  des  Eratosthenes  p. 
132—137)  eingeschlagene  Weg  gründlicher  Prü- 
fung am  Platze  als  die  von  Banbury  wiederholt 
aufgeführte  Skiomachie.  Fast  muß  man  glau- 
ben, daß  B.  die  neueren  Vertbeidiger  des  kür- 
zeren Itinerar-  oder  Bematisten-Stadiums,  vor 
Allen  das  1862  erschienene  Werkchen  von 
Hultsch  gar  nicht  kennt. 

Die  Orientierung  über  die  moderne  Littera- 
tnr  ist  überhaupt  nicht  grade  die  stärkste  Seite 
des  Verfassers.  Das  Ziel,  eine  Darstellung  der 
Entwicklung  der  antiken  Erdkunde  nach  dem 
Standpnnkt  der  heutigen  Forschung  zu  geben, 
bat  er  nicht  ganz  erreicht.  Nicht  nur  kleine 
werthvolle  Monographien,  auch  bedeutende  grö- 
ßere Werke  sind  ihm  unbekannt  geblieben. 
Müllenboff's  Deutsche  Alterthumskunde,  ein  Werk, 
das  mit  seinen  bemerkenswerthen  Untersuchun- 
gen über  Py theas,  Eratosthenes,  Timaeus,  Avien 
dem  Studium  der  alten  Geographie,  wenn  nicht 
durchweg  solide  Resultate,  so  doch  eine  Fülle 
fruchtbarer  Anregungen  bietet,  ist  dem  Verf. 
augenscheinlich  nie  in  die  Hand  gekommen. 
Bergers  Erläuterung  der  Hipparch-Fragmente, 
die  neue  französ.  Ausgabe  der  Peutinger'schen 
Tafel  und  sonst  eine  Reihe  berücksichtigens- 
werther  Ausgaben  und  Erklärungs-  Schriften 
sind  ihm  entgangen.  In  dem  Excurs  über  Hanni- 
bals  Alpen-Uebergang  (IL  p.  37)  bezeichnet  er 
als  heut  noch  concurrenzfähig  nur  die  Anschau- 
ungen, welche  den  Uebergangspunkt  nach  dem 
£1.  St.  Bernhard  oder  dem  Mt.  Genis  verlegen. 
Keinem  Menschen  falle  es  mehr  ein  (no  one 
will  any  longer  be  found)  sieb  für  den  —  aller- 


328  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

dings  ganz  außer  Betracht  liegenden  —  Gr. 
Bernhard  oder  den  Mt.  Genftvre  zu  entscheiden. 
Banbury  scheint  gar  nicht  bemerkt  zu  haben, 
daß  grade  in  neurer  Zeit  sich  ein  sehr  energi- 
scher und  wohlbegrttndeter  Umschwung  zu  Gun- 
sten des  Mt.  Genfevre  unter  den  mit  dem  Termin 
besonders  vertrauten  französischen  Gelehrten 
(Desjardins,  filis£e  Rectus,  Hennebert)  zu  voll- 
ziehen beginnt. 

Wenn  so  nach  einigen  Seiten  das  Werk  B.'s 
nicht  vollkommen  die  Erwartungen  erfüllt  die 
seine  Vorrede  erweckt,  kann  man  detia  Verf.  die 
Anerkennung  nicht  versagen,  daß  er  in  deih 
wichtigsten  Punkte,  in  der  klaren  Darstellung 
und  der  Beurtheilung  der  geographischen  Lei- 
stungen jeder  einzelnen  Epoche  des  klassischem 
Alterthums  sich  seiner  Aufgabe  durchaus  ge- 
wachsen zeigt.  Die  Homerische  Geographie  (L 
31—84  mit  einem  wohl  durchdachten  Kärtchen), 
der  Beweis  gegen  die  Existenz  eines  direkten 
Indienhandels  zur  Zeit  der  Ptolemäer  (1. 580  ff.) 
sind  schöne  Proben  besonnener,  nüchterner  Auf- 
fassung. Auch  in  der  Würdigung  der  eineeinen 
geographischen  Schriftsteller  des  Alterthums  be- 
kundet sich  fast  durchweg  ein  gesundes  und 
selbständiges  Urtheil.  Nur  in  wenigen  Fällen 
würde  man  die  Kritik  schneidiger  und  conse- 
queüter  durchgeführt  wünschen,  so  gegenüber 
Po ly bins.  Bei  seiner  Beurtheilung  (IL  16— 
42)  stimmt  der  Verf.  im  Ganzen  noch  kräftig 
ein  in  den  von  Niebuhr  angeschlagenen  und 
seither  von  den  Meisten  festgehaltenen  Ton  un- 
begrenzter Bewunderung.  Und  doch  sind  grade 
die  geographischen  Leistungen  des  Polybius  be- 
sonders geeignet,  den  aufmerksamen  Leser  rasch 
von  der  Ueberschätzung  dieses  Schriftstellers 
gründlich  zu  kurieren.    Daft  Polybius  auf  Grund 


Banbury,  History  of  ancient  geography.         329 

der  geographischen  Kenntnisse,  welche  die  Rö- 
mischen Eroberungskriege  gereift  und  Römische 
Schriftsteller  z.  Th.    schon  in  historischen  Wer- 
ken niedergelegt   hatten,   vielfach   in  der  Lage 
war,  die  Vorstellungen  seiner  Griechischen  Land- 
leute  über   die  westlichen  Mittelmeerländer   zu 
berichtigen  und  zu  erweitern,  ist  selbstverständ- 
lich.   Das  war  sein  Glück,  nicht  sein  Verdienst. 
Will  man   dieses   würdigen,   dann    hat  man  zu 
untersuchen,  in  wie  weitPolybins  es  verstanden 
hat,  aus  seiner   unerhört  vortheilhaften  Position 
für  die   Förderung    der   Erdkunde   Nutzen   zu 
ziehen.    Die  wohlfeile  und  deshalb  in  ihrer  Un- 
geschliffenheit     überaus    widerwärtige    Kritik, 
welche  er   an  seinen  Vorgängern  —   nach    ihm 
lautet  Ignoranten,   Idioten  und  Schwindlern  — 
ausübt)  fällt  dabei  fttr  uns  minder  ins  Gewicht, 
ab  die  positive  productive  Leistung,  welche  Po- 
lybius aufzuweisen  hat.    Mit  ihr  steht  es  —  das 
können   wir   trotz   des    Verlustes    des   XXXIV. 
Buchs  getrost  aussprechen  -  keineswegs  glänzend. 
Üeberschaut  man  nur  flüchtig  die  zahlreichen 
M**0-Angaben,  welche  Polybius  für  die  Dimen- 
sionen   der   Mittelmeerküste ,    für    Länge    und 
Breite  der  damals  bekannten  Ländermassen  bei- 
bringt, so  empfängt  man  unwillkürlich  zunäehst 
denselben   Eindruck   wie   Bunbury   IL  34 ff.*). 

*)  Die  Ziffern,  welche  Bunbury  a.  a.  0.  als  Beispiele 
und  zugleich  als  die  wesentlichste  Quintessenz  der  An- 
schauungen des  Polybius  vom  Mittelmeerbecken  anführt, 
sind  —  wohl  in  Folge  von  Benutzung  schlechter  Text- 
Ausgaben  —  meistens  falsch.  —  S.  27  Anw.  1  wird  als 
Beispiel  für  Verwerthung  Römischer  Straßen  messungen 
grade  die  Stelle  III.  39  über  die  zu  Polybius'  Zeit  noch 
gar  nicht  bestehende  Via  Domitia  herausgegriffen.  Schon 
ükert  hat  die  Stelle  als  interpoliert  erkannt.  Sie  ver- 
räth  ihre  Unechtheit  obendrein  uoch  durch  die  gewöhn- 
liche Reductions-Ziffer :  8  Stadien  =■  M.  P.  Polybius 
setzte  878  Stadien  gleich  einer  Römischen  Meile* 


330  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

Man  meint  bier  ein  wohl  durchdachtes,  einiges 
System  geographischer  Anschauungen  vor  sich  zu 
haben,  dessen  einzelne  Theile  durch  gewissen- 
hafte Erwägung  unter  einander  in  Harmonie 
gebracht  sind.  Prüft  man  genauer  —  wie  es 
in  der  besten  der  neuren  Monographien  (M.  C. 
P.  Schmidt  De  Polybii  geographia  Berlin  1875) 
geschieht  — ,  dann  stößt  man  schnell  auf  über- 
raschende Widersprüche. 

Für  ein  und  dieselbe  Entfernung  werden  — 
zum  Theil  unter  Umständen,  die  jeden  Gedan- 
ken an  eine  Textverderbniß  ausschließen  —  uns 
an  verschiedenen  Stellen  des  Werks  verschiedene, 
bisweilen  weit  divergierende  Werthe  angegeben. 
Ein  Versuch,  construierend  die  Gesammtheit  der 
Polybianischen  Maaße  zu  einem  Kartenbilde  zu 
vereinen,  scheitert  vollständig.  Die  Menge  die- 
ser Distanz-Angaben  des  Polybius  ist  nichts  als 
ein  ungenießbares  Ragout  aufgelesener  Römi- 
scher Messungen  und  Alexandrinischer  Rechnungs- 
Resultate,  unter  welche  eigene,  ungeprüfte 
Schätzungen  zahlreich  eingemengt  sind.  Kann 
demnach  dem  Schriftsteller  nicht  die  Anerkennung 
gezollt  werden,  daß  er  ein  neues,  verbessertes 
Gesammtbild  der  Oikumene  entworfen,  so  lassen 
auch  in  den  einzelnen  Ländern,  speciell  in  dem 
westlichen  Mittelmeergebiete,  auf  dessen  Dar- 
stellung er  sich  so  viel  zu  Gute  thut,  seine  An- 
schauungen oft  selbst  den  Grad  der  Correctheit 
vermissen,  den  Andere  vor  ihm  schon  erreiebt 
hatten. 

Bunbury  betont  besonders  den  großen  Fort- 
schritt, welchen  des  Polybius  Werk  in  der 
Kenntniß  der  Alpen  bezeichne.  Polybius  erntet 
hier  das  Lob,  das  seiner  vortrefflichen  Quelle 
über  Hannibals  Alpenübergang  gebührt,  einer 
Quelle,  deren    Bericht  Polybius    mehrfach  miß- 


Bunburv,  History  of  ancient  geography.        331 

verstanden  and  durch  Auslassung  yon  Momen- 
ten, welche  in  seine  grundfalschen  Vorstellungen 
Ton  den  Alpen  nicht  hineinpaßten,  verstümmelt 
bat.  Was  Polybius  wertbvolles  zur  Charakteri- 
stik und  zur  Topographie  der  von  Hannibal 
durchzogenen  Hochgebirge- Landschaft  sagt,  ge- 
hört ganz  seinem  Quellen-Schriftsteller  (Cincius 
Alimentus?)  an,  dem  auch  Livius  (unabhängig 
von  Polybius)  folgt.  Was  Polybius  selbst  hinzu- 
thut,  ist  falsch  und  verwirrend.  Ganz,  in  seinem 
Kopf  gewachsen  ist  sicherlich  die  wunderbare 
Anschauung,  welche  er  IL  15. 16  III.  47  XXXIV 
10  von  dem  Grundriß  der  Alpen  und  dem  Ver- 
lauf ihrer  Hauptströme  entwickelt.  Nach  ihm 
beginnen  nördlich  von  Massalia,  in  Ligurien  zu- 
sammenfallend, Alpen  und  Apenninen  und  strei- 
chen allmählich  divergierend  östlich  (also  die 
Alpen  etwa  O.N.O.,  die  Apenninen  O.S.O.).  Den 
Nord-Abhang  der  Alpen  begleitet  der  Rhone- 
Strom,  der  an  ihrem  0.  Ende,  n.  vom  Adriati- 
schen  Meere  entspringt  und  von  da  an  meist  in 
enger  Schlucht  westsüdwestlich  (nqög  tag  %«f/tM- 
Qtväg  <W<»k),  zuletzt  (III.  47,  9)  gradezu 
nach  Westen  fließt,  bis  zu  seiner  Mündung 
ins  Sardoische  Meer.  In  dem  Thale  zwischen 
Alpen  und  Apenninen  strömt  von  W.  nach  0. 
der  Po,  dessen  Oberlauf  (II.  16,7)  von  der  in 
den  Alpen  belegenen  Quelle  bis  in  die  Ebne 
hinab  südwärts  gerichtet  ist.  So  wenig  Re- 
spect mir  diese  Angaben  vor  des  Polybius'  geo- 
graphischen Kenntnissen  einflößen,  muß  ich  doch 
gestehen,  daß  ich  dem  Schriftsteller  das  schwere 
Unrecht  nicht  anthuen  möchte,  diese  irrigen  An- 
schauungen als  Früchte  einer  Forschungs-Reise 
auf  Hannibals  Marsch-Route  anzusehen.  Wäre 
Polybius  je  im  Tauriner- Lande  gewesen,  dann 
hätte  er  merken  müssen,  daß  der  Po  vordem 


332  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

Beginn  seines  östlichen  Laufes  nicht  von  Nor- 
den, sondern  von  Süden  her  kommt.  Wäre  es 
ihm  je  vergönnt  gewesen,  von  der  Continent 
der  Rhone  und  Isfere  an  dem  Hauptstrom  ab- 
wärts bis  in  die  Nähe  der  Mündung  zu  rei- 
sen, dann  hätte  er  nimmermehr  die  Vorstellung 
gewonnen,  daß  die  Rhone  in  ihrem  Unterlaufe 
eine  westliche  Richtung  innehalte»  Wer  25  Mei- 
len weit  längs  der  unteren  Rhone  hinreist  und 
etliche  Tage  lang  die  Mittagssonne  stetig  sich 
ins  Gesicht  scheinen  läßt,  ohne  zu  merken,  daft 
die  Rhone  gegen  Süden  fließt,  der  bat  jeden 
Anspruch,  für  einen  geographischen  Beobachter 
zu  gelten,  verloren.  Im  Bergland  sind  grobe 
Orientierungsfehler  möglich  und  entschuldbar, 
nie  aber  in  einer  offnen,  breiten  ThalsoMe  «it 
constanter  Längs-Richtung.  Grade  weil  ich  Po- 
lybius ein  reichliches  Maaß  gesunden  Menschen- 
verstandes zutraue,  kann  ich  nicht  glauben,  daß 
er  je  dem  Wege  Hannibals  durch  das  untre 
Rhone-Thal  und  die  Alpen  in  das  Tauriner- 
Gebiet  gefolgt  sei.  Polybius  selbst  versichert 
•das  III.  48,  12  auch  keineswegs,  sondern  be- 
hauptet nur,  sich  auf  einer  Reise  durch  die  Al- 
pen (vermutblich  über  den  Gol  di  Ten  da*)  im 
Allgemeinen  die  Uefcerzeugung  verschafft  au 
haben,  daß  dies  Gebirge  keineswegs  so  über 
alle  Begriffe  fürchterlich  sei,  wie  die  lebhafte 
Phantasie  mancher  (Schriftsteller  es  ausgemalt 
hätte.  Wo  die  Schriftsteller  von  der  Ausdeh- 
nung und  dem  Werth  ihrer  Reisen  reden,  wäh- 

*)  Das  ist  der  einzige  Paß,  den  er  überschreiten 
konnte,  ohne  seine  Anschauung  vom  Oberlaufe  des  Po  zu 
verbessern.  Für  ihn  spricht  auch  der  Umstand,  daß  für 
"keinen  Punkt  des  Westalpen-Gebiets  im  Norden  Massa- 
lias  sich  der  Beweis  führen  oder  auch  nur  die  Wahr- 
scheinlichkeit sich  dartbun  .l&Bt,  daft  Polybius  ihn  gesehen. 


Birabury,  History  of  ancient  geography.         3flB 

leD  sie  den  Ausdruck  gern  so ,  daß  der  Leser 
yob  der  Summe  ihrer  Reise-Erfahrungen  eine 
möglichst  höbe  Meinung  bekommt  (Tgl.  z.  B, 
Strabo  II.  p.  117).  Man  mud  solche  Stellen 
stets  cum  grano  salis  verstehen,  nie  mehr  hinein- 
legen, als  in  ihnen  bestimmt  ausgesprochen  ist. 
Wer  sich  von  dieser  Ueberzeugung  leiten  läßt, 
wird  die  auch  von  Bunbury  aufgetischte  fable 
convenue  von  Polybius'  Forschungs-Reisen  auf 
Hauuibals  Marschroute  ins  Schattenreich  ver- 
weisen. Sie  ist  absolut  unverträglich  mit  den 
unverantwortlich  falschen  Vorstellungen,  welche 
Polybius  vom  untren  Rhonelauf  und  vom  Ober- 
lauf des  Po  besaß.  Polybius  steht  in  diesem 
Pwkte  sicher  erheblich  unter  dem  Niveau  der 
geographischen  Kenntnisse,  welche  die  Theil- 
nehmer  und  Zeitgenossen  des  Hannibalischen 
Krieges  sich  erworben  hatten*). 

Bunbury  hebt  ferner  auch  bei  der  Pyrenäen- 
Halbinsel  die  ungeheure  Ueberlegenheit  des  Po- 
lybius Über  die  Kenntniß  der  Vorgänger  hervor. 
Gewiß  mit  Recht;  denn  Polybius  war  der  erste 
griechische  Geograph,  welcher  die  Halbinsel 
selbst  bereiste.  Ueberraschender  als  die  correk- 
ten  Nachrichten,  die  er  bringt,  sind  gewichtige 
Unklarheiten  und  Fehler,  welche  seinen  Auf- 
fassungen anhaften.  Die  ausführliche  Beschrei- 
bung Neu-Karthagos  und  seines  Hafens  (Polyb. 
X.  10)    bat  bereits   H.   Droysen    (Rhein.  Mu- 

*)  Daß  die  gemeinsame  Quelle  des  Polybius  und  Li- 
ving vom  untren  Rhone-Lauf  eine  richtigere  Vorstellung 
besal,  lehrt  Liv.  XXX  81.  (Hannibal)  profectus  adversa 
ripa  Rhodani  mediterranea  Qaliias  petit  (also  nord- 
wärts!) Für  Polybius  war  das  unverständlich.  Er  än- 
dert den  Satz  nach  seinen  Anschauungen:  HI. .47,  1 
nqoijyt  nccQa  rbv  nora/ubv  dno  &alccrrt]g  wg  inl  tyv  &u, 
XoHwptyof    tip    noQHav    ofc    ets   *h¥  peitoyatoy  trj  s 


334  ^     Gott.  gel.  Arn.  1881.  Stück  11. 

seum  XXX.  62—67)  auf  Grund  specieller  Kflsten- 
Earten  untersucht  und  gefunden,  daß  Polybius 
grobe,  nicht  einmal  unter  einander  consequent 
übereinstimmende  Orientierungs-Fehler  begangen 
und  auch  wesentliche  Züge,  die  dem  Terrain- 
Bild  in  Wirklichkeit  gar  nicht  eigen  sind,  in 
seine  Schilderung  hineingetragen  hat.  Man  wird 
über  diese  Confusion  im  Stadtplan  Neu-Kartba- 
gos  milder  urtheilen,  wenn  man  einen  bei  Po- 
lybius auftretenden,  weit  ärgeren  Irrthum  be- 
merkt, auf  welchen  mein  verstorbner  Lehrer 
Carl  Neumann  mich  gelegentlich  aufmerksam 
machte.  So  unglaublich  es  klingt,  ist  es  doch 
unzweifelhaft,  daß  Polybius  sich  im  Unklaren 
darüber  befunden  hat,  daß  Sagunt  südlich  vom 
Ebro  liege.  Seine  Quellen  sind  in  diesem 
Punkte  durchaus  sicher  und  deutlich  gewesen. 
Das  sieht  man  aus  den  Stellen,  an  denen  Po- 
lybius einfach  das  in  ihnen  gefundene  reprodu- 
ciert,  ohne  eigene  Reflexion  einzumischen:  III. 
6,  1.  14,  9.  15,  5.  17,  2.  97,  5.  6.  Merkwürdi- 
ger Weise  stehen  zu  der  hier  niedergelegten 
correcten  Anschauung  die  Stellen  in  unleugba- 
rem Gegensatz,  wo  Polybius,  ohne  sich  an  den 
leitenden  Faden  eines  wohl  orientierten  Quellen- 
schriftstellers zu  halten,  eine  selbständige  Be- 
merkung macht,  die  ein  Streiflicht  auf  seine 
persönliche  Vorstellung  von  Sagunts  Lage  wirft. 
IV.  28,  1  benutzt  er  zur  chronologischen  Fixie- 
rung von  Ereignissen  in  Griechenland  das  Da- 
tum der  Belagerung  Sagunts.  tavta  ds  iitQav- 
uto  xazä  tovg  ctviovg  xaiQoig  xa#'  ovg  'Avvi- 
ßag,  yeyovcog  r^dy  xvQiog  twv  ivtög  7/?f- 
qoq  notafjbov  ndptatv,  inoteZw  tyv  ÖQptjy 
inl  tify  Zaxav&alwv  nokiv.  Wenn  hier  schon 
eine  exacte  Interpretation  zu  dem  Resultat  ge- 
langt,   daß   Sagunt  in    des   Schriftstellers   An- 


Buiibury,  History  of  ancient  geography.         335 

flchamiDg  auf  dem  linken  Ebfo-Ufer  lag,  tritt 
dieses  selbe  Ergebniß  noch  schlagender  und 
vollkommen  unwiderleglich  hervor  bei  einer 
aufmerksamen  Lecture  von  III.  27 — 30.  Inner- 
halb dieser  3  Capitel  wird  drei  Mal  (27,  9. 
29,  3.  30,  3)  sehr  nachdrücklich  der  Inhalt  des 
Vertrags  zwischen  Hasdrubal  und  den  Römern 
dahin  angegeben,  daß  die  Karthager  sich  ver- 
pflichteten, den  Ebro  nicht  mit  Heeresmacht  zu 
überschreiten.  Eine  besondere  Bestimmung 
zum  Schutze  Sagunts,  wie  sie  die  Quellen  nach- 
weislich (Livius  XXI.  2)  bezeugten,  hat  nach 
Polybius'  Meinung  dieser  Vertrag  Hasdrubals 
nicht  enthalten.  Das  vergegenwärtige  man 
sich  bei  der  Lecture  des  Abschnitts,  in  welchem 
Living  die  Rechtsfrage  zwischen  Karthago  und 
Rom  discutiert,  speciell  die  Frage,  ob  die  Kar- 
thager mit  dem  Angriff  auf  Sagunt  einen  Ver- 
.  trags-Bruch  begangen  und  einen  casus  belli  ge- 
schaffen hätten.  Polybius  bejaht  diese  Frage 
aus  zwei  Gründen:  1)  weil  der  Friedens- Vertrag 
am  Ende  des  ersten  punischen  Krieges  die  Kar- 
thager verpflichtet  habe,  Roms  Bundesgenossen, 
zu  denen  Sagunt  schon  vor  220  gehörte,  unge- 
kränkt zu  lassen,  2)  weil  die  Karthager  durch 
den  Kriegszug  wider  Sagunt  die  im  Has- 
drubalischen  Vertrage  übernommene  Verpflich- 
tung verletzten,  den  Ebro  mit  Heeres- 
macht nicht  zu  überschreiten.  Ichsetze 
den  griechischen  Text  der  merkwürdigen  Stelle 
hierher :  ei  piv  ug  ttjp  Zaxavfrtjg  dniileuxv  ahiav 
itotjOt  toi  nolifioVj  ovyXMQiitiov  ädixcug  i&vtj- 
vo%ivai  töv  noXepov  KctQXfjSoyiovg  xatd  ts  tag 
hl  tov  Aovtaxiov  avv&ijxag,  xaF  äg  £<fc*  tolg 
ixaiiQtov  avppaxoig  t^v  v<py  kxatiotov  vnciQXMV 
ätupdistav,  xatd  te  tag  iny  *Atsdoovßov,  xa&y  äg 
0vx  Sdu   diaßalvMV   toy  "IßijQa  notapov  inl  iro- 


336  Gott.  gel.  An*.  1*81.  Stück  11, 

XiiMp  KccQXfjdoviovc.  Polybius  spricht  hier  un- 
zweifelhaft in  einer  eigenen  Reflexion,  welche 
uns  einen  Einblick  in  seine  Anschauungen  ge- 
stattet, die  Ueberzengung  aus,  daß  die  Kartha- 
ger, um  Sagunt  anzugreifen,  über  den  Ebro 
gehen  mußten,  daß  also  Sagunt  nördlich  von 
diesem  Strome  lag.  Das  ist  freilich  ein  krasser 
Fall  von  Unklarheit  und  Gedankenlosigkeit  'ge- 
genüber dem,  was  Polybius  an  andren  Stellen 
desselben  Buchs  aus  seinen  Quellen  über  Sa- 
gunts  Lage  richtig  abgeschrieben  hat  Wem  bei 
diesem  ,  blunder'  nicht  die  Augen  aufgehen  über 
die  Unklarheit  der  geographischen  Anschauun- 
gen des  Polybius,  dem  ist  nicht  zu  helfen! 

Um  die  Grenzen  einer  Recension  nicht  zu 
weit  zu  überschreiten,  will  ich  —  ohne  weitere 
Einzelheiten  herauszugreifen  —  nur  im  Allge- 
meinen noch  auf  eine  Thatsache  hinweisen, 
welche  die  Geschichtsschreibung  des  Polybius 
nach  ihrem  geographischen  Werthe  ausreichend 
beleuchtet.  Ein  durch  Klarheit  seiner  geogra- 
phischen Vorstellungen  ausgezeichneter  Histori- 
ker wird  vor  Allem  das  Ziel  erreichen  müssen, 
über  den  Schauplatz,  auf  welchem  die  von  ihm 
erzählten  Ereignisse  sich  zugetragen,  seine  Le- 
ser nicht  im  Zweifel  zu  lassen.  Caesar  ist  das 
—  ohne  daß  er  darnach  suchte  —  immer  gang 
oder  annähernd  gelungen.  Polybius  gelingt  es 
auch  —  aber  nur  innerhalb  Griechenlands 
Grade  in  den  Gebieten,  als  deren  Erforscher  er 
paradiert,  läßt  er  uns  in  den  wichtigsten  histo- 
risch -topographischen  Fragen  vollständig  im 
Stich.  Der  Alpenübergang  Hannibals,  für  den 
uns  zum  Glück  noch  der  aus  derselben  vorzüg- 
lichen Quelle  geflossene  Bericht  des  lavius  vor- 
liegt, ist  das  Object  einer  unsterblichen  Contro- 
verse,  der  Marsch   über   den  Apennin  und  die 


Banbury»  History  of  ancient  geography.         337 

Arno-Sümpfe  desgleichen.  Ueber  die  Topogra- 
phie und  somit  zum  Theil  auch  über  den  inne- 
ren Zusammenhang  der  Ereignisse,  die  sich  in 
Afrika  abspielten,  sind  wir  völlig  im  Dunkeln. 
Das  gilt  nicht  nur  von  dem  kurzen  Feldzug  des 
Regulas,  nicht  nur  vom  Söldnerkriege,  noch 
mehr  von  dem  Entscheidungskampfe,  der  den 
Hannibalischen  Krieg  beendete.  Von  der  Schlacht 
bei  Zama  wissen  wir  —  was  die  Oertlichkeit 
angeht  —  thatsächlich  nur  soviel  mit  Gewißheit, 
daß  sie  nicht  in  der  Nähe  von  Zama  geschlagen 
ward.  Wer  sich  getraut  die  Wahrheit  zu  sa- 
gen, der  bekennt,  daß  es  mit  dem  geographi- 
schen Verständniß  des  größten  Kampfs  um  die 
Herrschaft  über  das  westliche  Mittelmeerbecken 
überall  schlecht  bestellt  ist,  wo  wir  auf  Poly- 
biu8  allein  angewiesen  sind,  und  daß  dieses  De- 
ficit nicht  in  der  Mangelhaftigkeit  der  Quellen 
des  Polybius ,  sondern  in  der  Individualität  die- 
ses Schriftstellers  begründet  liegt. 

Demnach  kann  ich  mich  mit  der  von  Bun- 
bnry  in  zu  lichten  Farben  gehaltenen  Beurthei- 
lung  der  geographischen  Leistungen  des  Poly- 
bius schlechterdings  nicht  einverstanden  erklä- 
ren. Sonst  wird  man  meist  in  die  Lage  kom- 
men, Bunbury's  ruhigem,  wohl  erwogenem  Ur- 
theil  beizustimmen.  Studierende,  welche  auf 
dem  Gebiete  der  alten  Geographie  sich  zu  orien- 
tieren wünschen,  finden  in  ihm  einen  meist  ver- 
läßlichen, im  Ganzen  angenehmen ,  wenn  auch 
etwas  zu  gesprächigen  Führer. 

Breslau.  J.  Parts  eh. 


22 


338  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

Ueber  die  Abstammung  der  Rumänen.  Von 
Jos.  Lad.  Pfc.  Leipzig,  Verlag  von  Duncker  und 
Humblot  1880.    228  SS.    8°. 

Selten  erscheinen  Schriften  ,  deren  Inhalt  mit 
dem  Titel  so  wenig  im  Einklänge  steht,  als  es 
bei  der  vorliegenden  der  Fall.  Der  Verf.  hätte 
das  Richtige  getroffen ,  wenn  er  seine  Schrift 
als  einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Verbrei- 
tung der  Rumänen  bezeichnet  haben  würde. 
Denn  die  Abstammungsfrage  erörtert  er  nur 
insoferne,  als  er  die  bezüglichen  „neuen  Theo- 
rien" in  gedrängter  Ettrze  dem  Leser  vorfahrt 
und  in  seinen  geschichtlichen  Betrachtungen  auf 
die  Besiedelung  der  Balkanhalbinsel  durch  die 
Römer  zurückgeht.  So  viel  er  dann  auch  außer- 
dem über  Slaven,  Griechen,  Magyaren,  Alba- 
nesen  (Altillyrier)  u.  s.  w.  vorbringt,  so  wird 
doch  dadurch  der  Ursprung  der  rumänischen 
Rage  als  einer  ethnographischen  Besonderheit 
nicht  ins  Klare  gesetzt,  sondern  es  bleibt  seinen 
Bemerkungen  nach  unentschieden,  welchen 
Antheil  die  vorgenannten  Völker  und  die  Thra- 
ker daran  haben.  Und  hierauf  kommt  es 
doch  eigentlich  an,  sobald  die  Abstammung 
nachgewiesen  werden  soll.  Selbst  über  den 
Ausgangspunkt  der  Verbreitung  der 
Rumänen  hat  der  Verf.  sich  kein  bestimmtes 
Urtheil  gebildet,  sondern  er  spricht  darüber, 
nachdem  er  eine  Menge  negativer  Momente  des 
Langen  und  Breiten  erörtert  hat,  S.  198  ff.  seine 
„bescheidene  Meinung"  dahin  aus,  daß  die  Vor- 
eltern der  heutigen  Rumänen  aus  dem  alten 
Dacien  am  linken  Ufer  der  Donau 
durch  einen  furchtbaren  Verheerungssturm,  der 
sie  hinderte,  über  die  Donau  zu  setzen,  gegen 
Westen  gedrängt  wurden  und  daß  sie 
auf    dieser    ihrer  Flucht   theils    im    Nord- 


Pfö,  Abstammung  der  Rumänen.  339 

westen,   t hei  1s   im  Süden  von  Sieben* 
bürgen,  so  wie  in  den  anstoßenden  Ge- 
birgen Ungarns   ein  Versteck  fanden,   wo 
die  folgenden  Wogen   der  Völkerwanderung  sie 
anbehelliget  ließen.    Von  hier  ans  breiteten  sie 
sich  dann  unter  günstigeren   Verhältnissen  wie- 
der gegen  Osten  ans,  indem  sie  anf  dem  Boden 
des  heutigen  Fürstentums  Rumänien  sich  nie- 
derließen.    In  dieser  Beziehung  acceptiert  also 
der  Verf.  die  volkstümlichen  Ueberlieferungen 
der  Rumänen  selber.    Zahlreiche  Spuren  slawi- 
scher Einwirkung  auf  dieselben   läßt   er  nicht 
nor  gelten,   sondern   erklärt  er  auch  aus  lang- 
wierigem Beisammenleben  derselben  mit  slavi- 
schen  Völkerschaften  an  den  Abhängen  der  Kar- 
pathen.    Er  widmet  gerade  diesen  Berührungen 
einige  der  besten  Kapitel  seiner  überhaupt  viel 
Belehrung   bietenden,   aus   den  mannigfachsten 
und  namentlich  auch  aus  bisher  fast  unbenutz- 
ten Quellen  geschöpften  Schrift.     Nicht  minder 
interessant  sind   seine   sonstigen   Exkurse,   die 
aber  nur   im  Verhältnisse  zu  dem  schlecht  ge- 
wählten Titel   als   solche   sich   darstellen.     Sie 
hängen  unter  sich  wie  Theile  eines  systematisch 
ausgedachten  Ganzen  zusammen,  das  nur  nicht 
identisch  mit  Dem    ist,    was   der  Verf.  zu  be- 
handeln   vorgiebt.     Er   nimmt  dabei   auch  auf 
die  Zinzaren  (Cuzo-Walachen)   Rücksicht;   aber 
schließlich  läßt  er  die  Frage  nach  der  Herkunft 
dieser  unbeantwortet,  ja  er  nimmt  nicht  einmal 
einen  ernsthaften  Anlauf  zu  positiver  Feststellung 
des  Weges,   auf  welchem   dieselben  nach   dem 
Hämns-Gebirge  kamen,  geschweige  denn,  daß  er 
ihre  Verwandtschaft  mit  den  Rumänen  am  lin- 
ken Donauufer  zu   bestimmen   sich  herbeiließe. 
Bios  die  kulturellen  Unterschiede  zwischen  bei- 
den Gruppen  betont  er  nachdrücklichst  und  nicht 

22* 


S40  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

ohne  Erfolg,  um  daraus  den  Schluß  zu  ziehen, 
daß  Letztere  unmöglich  aus  der  Balkanhalbinsel 
zugewandert  sein  können.  Er  sagt  diesfalls  S. 
205:  „Ob  aber  die  Rumänen  und  Zinzaren  eine 
einheitliche  nationale  Körperschaft  gebildet  ha- 
ben und  vielleicht  durch  die  Völkerwanderung 
getrennt  wurden,  läßt  sich  vorläufig  nicht 
angeben,  da  es  unmöglich  ist,  nach  den  eben 
vorliegenden  Quellen  eine  nach  dem  aureliani- 
schen  Dacien  hinübergewanderte  Dacoromani- 
sche  Bevölkerung  sicherzustellen  oder  zu  ver- 
folgen oder  eine  Auswanderung  von  der  Balkan- 
halbinsel an  das  nördliche  Donau-Ufer  zu  be- 
weisentf.  Diese  Stelle  ist,  was  die  Mängel  der 
Schrift  betrifft,  in  mehrfacher  Hinsicht  bezeich- 
nend. Der  Verf.  spricht  da  von  nationaler 
Zusammengehörigkeit,  während  er  offenbar  an 
genetischen  Zusammenhang  denkt  oder  wenig- 
stens zunächst  hieran  hätte  denken  sollen.  Er 
verzichtet  da  aber  auch  auf  die  Verwerthung 
einer  ansehnlichen  Menge  von  ethnographischen 
Behelfen,  welche  sich  ihm  dargeboten  haben 
würden,  wenn  er  in  der  einschlägigen  französi- 
schen Literatur  Umschau  gehalten  hätte.  Ihm, 
der  vorzugsweise  das  urkundliche  Material 
berücksichtiget  und  für  andere  Erkenntnißquel- 
len  überhaupt  wenig  Sinn  zu  haben  scheint,  ist 
freilich  die  physiologische  Beobachtung  Neben- 
sache. Dagegen  bewährt  er  sich  als  einen  For- 
scher, der  die  Aufzeichnungen  der  Vorzeit  für 
seine  Zwecke  sehr  gut  zu  verwerthen  weiß. 
Dabei  kommt  ihm  die  Kenntniß  der  verschiede- 
nen slavischen  Schriftsprachen,  die  ihm  russi- 
sche, kroatische,  czechische  und  bulgarische 
Texte  zu  benutzen  ermöglicht,  nicht  wenig  zu 
Statten.  Er  ist  ferner  in  der  historischen  Lite- 
ratur Ungarns,  insbesondere  was  Urkundenwerke 


Pfc,  Abstammung  der  Rumänen.  341 

betrifft,  so  bewandert,  daß  er  den  hiermit  min- 
der Vertrauten  gewiß  viel  Nenes  erzählt,  was 
zu  weiterem  Forschen  anzuregen  geeignet  ist. 
Außerdem  darf  sein  eindringliches  Studium  der 
byzantinischen  Geschichtsquellen,  die  er  dem 
griechischen  Originaltexte  nach  citiert,  nicht 
unterschätzt  werden,  weil  er  daraus  manche 
Anregungen  schöpfte,  die  seinen  Vorgängern 
auf  diesem  seit  Thumann  vielbetretenen  For- 
schungsgebiete vorenthalten  blieben. 

1st  schon  der  mit  „Bulgaro-Vlachien"  über- 
schrieben e  Abschnitt  (S.  70—96),  wodurch  der 
Beweis  hergestellt  werden  soll,  daß  das  spätere 
walachische  Fttrstenthum  sammt  dem  Fogaraser 
Lande  in  Siebenbürgen  Bestandtheile  des 
zweiten  bulgarischen  Reiches  waren, 
-  reich  an  Aufschlüssen,  die  kein  künftiger  Ge- 
schichtschreiber wird  unbeachtet  lassen  dürfen, 
so  birgt  sich  hinter  dem  unscheinbaren  Titel 
„Das  romanische  Element  im  alten  Dacien", 
welchen  das  III.  Gapitel  trägt,  eine  sorgfäl- 
tig ausgearbeitete  Monographie  über 
die  Rumänen-Ansiedlungen  im  Be- 
reiche der  ungarischen  Krone,  mittelst 
welcher  der  Nachweis  geliefert  werden  will,  daß 
hier  schon  vor  der  Ankunft  der  Ma- 
gyaren Rumänen  seßhaft  waren,  ja  selbst  der 
politischen  Organisation  hier  nicht  entbehrten. 
Der  Verf.  folgert  dies  —  und  zwar,  wie  Ref. 
meint,  mit  Recht  — ,  aus  der  unverkennbaren 
Ao8nahmsstellung,  welche  die  Rumänen  im  un- 
garischen Staate  bis  zur  Neuzeit  behaupteten 
und  die  ihnen  als  mittelalterlichen  Colonisten 
nicht  zu  Theil  geworden  wäre.  Denn  diese 
Stellung  weicht  von  der  durch  das  Colonisten- 
recht  begründeten  in  wesentlichen  Punkten  ab. 
Namentlich  verdient  der  S.  128  citierte  ungari- 


342  Gott.  gel.  Abz.  1881.  Stück  11. 

sehe  Gesetz-Artikel  Beachtung,  welcher  beweist, 
daß  bis  um  die  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts 
Walachen,  Rutheuen  und  Slovaken  in  Ungarn 
nicht  nur  vom  s.  g.  lucrum  Camerae  frei,  son- 
dern auch  von  der  allgemeinen  Wehrpflicht  aas- 
genommen waren,  wogegen  sie  dem  Her- 
kommen gemäß  gewisse  Kriegsdienste  zu 
verrichten  hatten.  Dieser  Gesetz-Artikel  regelt 
keineswegs  blos  die  Verhältnisse  einzelner  An- 
siedlungen,  sondern  betrifft  die  genannten  Na- 
tionalitäten im  Allgemeinen,  was  nur  von  ur- 
alter Sonderberechtigung,  welche  die  Magyaren 
denselben  bei  Errichtung  des  ungarischen  Staa- 
tes sozusagen  abfindungsweise  einzuräumen  sich 
genöthigt  sahen,  herrühren  kann.  Es  erhellt 
daraus  zugleich,  wie  alt  gerade  in  Ungarn 
das  Nationalitätenrecht  und  wie  falsch  die  Be- 
hauptung ist:  es  hätte  in  früherer  Zeit  ein  sol- 
ches dort  nicht  bestanden.  Geringere  Beweiskraft 
haben  die  vielen  Gitate  aus  Urkunden,  welche 
der  Verf.  beibringt,  um  darzuthun,  welche  Ge- 
rechtsame die  Rumänen  an  verschiedenen  Orten 
Ungarns  und  Siebenbürgens  vormals  genossen. 
Denn  diese  Gerechtsame  können  durchweg  Zu- 
geständnisse sein,  welche  mittelalterlichen  Colo- 
nieen  gemacht  wurden.  Ja  insoferne  schwächt 
der  Verf.  sogar,  indem  er  sich  darauf  beruft 
und  mit  emsigster  Sorgfalt  die  urkundlichen  Be- 
lege dafür  zusammenstellt,  das  Gewicht  der 
übrigen  Argumente  ab,  welche  er  für  seine  Be- 
hauptung :  die  Rumänen  seien  in  Ungarn  und 
Siebenbürgen  schon  vor  Ankunft  der  Magyaren 
ansässig  gewesen,  —  ins  Treffen  führt.  Denn 
die  vielen  mittelalterlichen  Golonieen,  welche  er 
ersichtlich  macht  oder  auf  die  er  zum  minde- 
sten indirekt  hinweist,  lassen  beinahe  keinen 
Raum  für  ältere  Ansiedlungen  gleicher  Nation*- 


Pic,  Abstammung  der  Rumänen.  343 

lität  innerhalb  bestimmter  Territorien  übrig  and 
geben  im  Gegensatze  zu  der  Thesis,  welche  der 
Verf.  aufstellt,  zu  erkennen,  daß  ein  sehr  be- 
trächtlicher Theil  der  in  jenen  Ländern  wohn- 
haften Rumänen  aus  neueren  Ankömm- 
lingen besteht.  Aber  überraschend  groß  ist 
immerhin  das  Material,  welches  der  Verf.  in  die- 
ser Hinsicht  zusammentrug  und  in  ihrer  Massen- 
haftigkeit  machen  diese  detaillierten  Notizen  den 
Eindruck,  als  hätten  die  ungarischen  Rumänen 
durch  die  Reformen  der  Neuzeit  vor  Maria 
Theresia  einen  verhältnismäßig  viel  größeren 
Verlust  an  politischer  Einzelnberechtigung  er- 
litten, als  die  übrigen  Nationalitäten,  von  den 
Deutschen,  deren  Privilegien  weit  größere  Be 
fugnisse  und  Garantien  enthielten,  natürlich  ab- 
gesehen. Die  Rumänen  standen  übrigens  den 
Letzteren  insoferne  nahe,  als  gerade  auch  sie 
districtweise  organisiert  waren  und  im  Se- 
veriner  Comitate  sogar  ihre  besonderen  Gene- 
ral-Congregationen  hatten,  wie  der  Verf. 
ans  Pesty's  in  ungär.  Sprache  erschienener  Ge- 
schichte jenes  Comitats  nachweist  (S.  152  ff.). 
Anch  in  Siebenbürgen  standen  die  Rumänen 
einst  an  politischer  Berechtigung  hinter  den 
übrigen  privilegierten  Nationen  des  Landes  nicht 
oder  nur  wenig  zurück.  Mindestens  faßt  unser 
Antor  die  im  Frühjahre  1437  unter  den  rumä- 
nischen Bauern  Siebenbürgens  ausgebroßhene 
Revolution  als  einen  Beweis  auf,  daß  dieselben 
ursprünglich  keine  Hörigen  waren  und  in  einer 
anf  die  Stillung  dieses  Aufstandes  bezüglichen 
Urkunde  vom  Juli  1437  ist  von  einer  Universi- 
tär Regnicolarum  tarn  Hnngarorum  quam  Vala- 
chorum  die  Rede  (S.  168  ff.). 

Daß  der  Verf.  diese  Reminiscenzen  aus  der 
älteren    Verfassungsgeschichte    Ungarns    scharf 


344  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

betont,  hat  seinen  Grund  nicht  nur  in  der  wis- 
senschaftlichen Aufgabe,  die  er  sich  gestellt 
hat,  sondern  auch  in  seiner  Tendenz,  die  ma- 
gyarischen Hegemoniegelüste  herabzustimmen. 
Deshalb  vertauscht  er  schon  im  I.  Abschnitte 
(S.  16)  die  ruhige  Art  seines  Vortrags  mit  bei- 
ßendem Tadel,  indem  er  auf  die  Ethnographie 
Ungarns  von  Hunfalvi  Schwicker  und  (S.  17)  auf 
Schwicker's  Polemik  gegen  Jung's  Buch  „Römer 
und  Romanen "  zu  sprechen  kommt.  Er  spottet 
da  über  das  „neue  Evangelium"  und  über  die 
„neue  Erfindung"  (Hunfalvi's) :  daß  die  Magya- 
ren von  den  jetzigen  Bewohnern  des  König- 
reiches Ungarn  die  ältesten,  somit  auch  über  die 
anderen  zu  herrschen  berufen  seien.  Auch  spä- 
terbin (so  auf  S.  122  u.  126)  kann  er  diesen 
seinen  Unmuth  nicht  unterdrücken.  Wir  ver- 
danken vielleicht  ebensosehr  ihm  als  einem  wis- 
senschaftlichen Motive  die  Ausdehnung  der  Un- 
tersuchung über  das  alte  Nationalitätenrecht 
Ungarns  auf  die  Slovaken  und  Ruthen  en 
(S.  131  —  144).  Dabei  werden  an  sich  bekannte 
Thatsachen  in  einer  Gruppierung  vorgeführt, 
welche  der  tendenziösen  Färbung  ungeachtet, 
die  ihr  eigen  ist,  des  Werthes  für  den  Geschicht- 
schreiber nicht  ganz  ermangelt.  Was  die  Ru- 
thenen  anbelangt,  so  hat  Ref.  in  s.  Schrift 
„Die  ungarischen  Ruthenen,  ihr  Wohngebiet,  ihr 
Erwerb  und  ihre  Geschichte"  (2.  Tbl.  1.  Heft) 
diese  Verhältnisse  gleichfalls  besprochen,  ist  je- 
doch zu  einigermaßen  abweichenden  Resultaten 
gelangt,  so  daß  der  Verf.  der  vorliegenden 
Schrift  wohl  aus  diesem  Grunde  es  nöthig  fand, 
seiner  Seits  die  nämliche  Untersuchung  anzu- 
stellen. 

Des  Verf.'s   Hauptinteresse    concentriert  sich 
gegen   den  Schluß   seiner  Arbeit   in   der  Erfor- 


Pic,  Abstammung  der  Rumänen.  345 

sehnng  der  Besiedlungsgeschicbte  der  Marina» 
ros  (S.  146—149)  und  der  anstoßenden  Ge- 
biete so  wie  in  kirchengeschichtlichen 
Erwägungen  (S.  201-228),  deren  Zusam- 
menhang mit  dem  Thema,  das  er  sich  wählte, 
als  ein  naturgemäßer  anerkannt  werden  muß. 
Das  Alter  der  rumänischen  Ansiedlungen  in  der 
Marmaros  ist  ein  wichtiges  Glied  in  der 
Kette  seiner  Beweisführung  und  von  weitgehen- 
dem historischen  Belange.  Daher  mag  das  von 
ihm  dort  über  die  Marmaros  Bemerkte  hier 
durch  Angaben  ergänzt  werden,  welche  Ref.  am 
Ende  der  50er  Jahre  aus  loealgeschichtlichen 
Quellen  zu  schöpfen  in  der  Lage  war,  deren 
Zugänglichkeit  namentlich  für  deutsche  Forscher 
dermalen  sehr  in  Frage  steht.  Nach  diesen  un- 
ter amtlicher  Autorität  gepflogenen  Erhebungen 
giebt  es  in  der  Marmaros  nur  wenige  Ortschaf- 
ten, deren  Gründung  hinter  das  XIV.  Jahrhun- 
dert zurückreicht.  Vielmehr  sind  dort  die  mei- 
sten Dorfgemeinden  entweder  nach  der  in  ihnen 
fortlebenden  Volksüberlieferung  oder  nach  Ur- 
kunden, die  den  Sachverhalt  klar  stellen,  erst 
in  neuerer  und  neuester  Zeit  entstanden.  Aber 
zu  den  ältesten  Ansiedlungen  gehören  dort  die 
rumänischen  und  wenn  diese  um  die  Mitte  des 
XIV.  Jahrhunderts  durch  die  Abgabe  eines  Thei- 
les  ihrer  Insassen  an  die  Moldau  sich  leerten, 
so  rückte  anderer  Seits  alsbald  Ersatz  dafür 
ans  Gegenden  nach,  wo  Rumänen  bis  dahin 
noch  dichter  beisammenwohnten.  Es  erhielt  sich 
anch  dort  eine  größere  Anzahl  rumänischer 
Adelsfamilien,  deren  Grundbesitz  ein  Alter  von 
400  bis  500  Jahren  hat,  so  daß  im  Südosten 
der  Marmaros  alle  Gulturspuren  auf  rumänische 
Einwirkung  hinweisen,  beziehungsweise  Aus- 
flüsse  solcher   sind.    Nirgends   in   Ungarn  ver- 


346       Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

lautet  auch  so  viel  von  eingegangenen  Klöstern 
und  Bischofssitzen  des  griechisch  orthodoxen  Be- 
kenntnisses, als  in  diesem  abgelegensten  Winkel 
des  Königreiches.  Der  Verf.  der  vorliegenden 
Schrift  verräth  unter  diesen  Umständen  großen 
Scharfblick,  indem  er  dieselbe  mit  Betrachtungen 
ttber  die  Verbreitung  orientalischen  Kirchen- 
wesens in  Ungarn  schließt.  Ueber  die  Einzel- 
heiten, die  er  darein  veriicht,  wollen  wir  hier 
nicht  mit  ihm  ins  Gericht  gehen.  Er  hat  jeden- 
falls auf  dem  engen  Räume  weniger  Blätter  da 
mehr  gesagt,  als  vor  ihm  die  meisten  Histori- 
ker, welche  dieses  Thema  nicht  ex  professo  be- 
handelten. 

Die  Eingangskapitel  seiner  Schrift  haben, 
von  der  literarhistorischen  Einleitung  abge- 
sehen, ein  vorwiegend  antiquarisches  Gepräge, 
Sie  schließen  sich  an  die  bezüglichen  Arbeiten 
eines  Landsmannes  des  Verfassers,  des  Gzechen 
Gonstantin  Jireiek,  an,  dem  er  sichtlich  nach- 
strebt. Die  Wissenschaft  verdankt  diesem  Wett- 
eifer Aufklärungen  über  die  älteste  Geschichte 
der  Balkanhalbinsel,  welche  eine  feste  Grund- 
lage für  weitere  Forschungen  abgeben.  Doch 
mit  der  Frage  nach  der  Abstammung  der 
Rumänen  haben  sie,  wie  überhaupt  die  meisten 
Studienresultate  des  Verfassers,  nur  insoferne  zu 
schaffen,  als  sie  den  älteren  Anschauungen  da- 
von mehr  und  mehr  den  Buden  entziehen,  auf 
welchem  diese  wurzeln.  Der  Verf.  leugnet  da 
mit  größter  Bestimmtheit  und  gestützt  auf  Ar- 
gumente, die  alle  Beachtung  verdienen,  daß  auf 
der  Balkaninsel  das  romanische  Element  die 
Stürme  der  Völkerwanderung  derart  über- 
dauerte, wie  es  der  Menschenzahl  und  der  po- 
litischen Organisation  nach  hätte  geschehen 
müssen,  wenn  von  hier  aus  rumänische  Staats- 
wesen hätten  begründet  werden  können  (S.  67). 


Pfc,  Abstammung  der  Rumänen.  347 

Dieses  negative  Ergebniß  einer  Seite  und  die 
positiven  Wahrnehmungen  über  die  Verbreitung 
und  Stellung  der  Rumänen  im  Karpatbengebiete 
anderer  Seite  führen  den  Verfasser  zu  der  oben 
bemerkten  Erkenntniß.  Die  Schrift  ist  in  flie- 
ßendem und  fast  durchweg  correctem  Deutsch 
geschrieben,  obschon  der  Verf.  mit  einzelnen 
Worten  (wie  z.  B.  S.  35  „zeigt"  statt  „zeugt41, 
S.  144  „Umstand"  st.  „Zustand«)  zu  erkennen 
giebt,  daß  diese  Sprache  nicht  seine  Mutter- 
sprache ist,  womit  dann  freilich  die  ziemlich 
emphatische  Kundgebung  slavischen  Nationalbe- 
wußtseins auf  S.  47  und  daß  der  Verf.  sich  im 
Vorworte  selber  als  eine  „slavische  Stimme u  be- 
zeichnet, die  den  Beruf  hat,  far  die  slavische 
Vergangenheit  Ungarns  und  der  Balkanhalbinsel 
einzutreten,  —  vollkommen  übereinstimmt. 

Ein  paar  Versehen,  wie  z.  B.  die  ungleiche 
Datierung  der  Szegediner  Landtagsartikel  auf 
S.  128  u.  190,  sind  von  ganz  untergeordneter 
Bedeutung.  Die  Ausstattung  der  Schrift  aber 
ist  hervorragend  schön. 

Graz.  H.  I.  Bidermann. 

Handbuch  der  Moral  nebst  Abriß  der  Rechtsphilo- 
sophie.   Von  J.  J,  Bau  mann.    Leipzig,  Hirzel  1879. 

445  SS.     8°. 

Dies  Buch  nimmt  in  der  Moral  zum  Aus- 
gangspunkt Untersuchungen  über  den  Willen. 
Es  vertritt  hierin  die  Ansicht,  daß  der  Wille, 
d.  h.  die  geistigen  Zustände,  wo  auf  Vorstellung 
und  Werthechätzung  innere  oder  zugleich  auch 
äußere  Bethätigung  folgt,  sich  aus  ursprünglich 
unwillkürlichen  Bethätigungen  erst  herausbildet. 
Für  die  Begründung  dieser  Ansicht  muß  ich  auf 
das  Buch  selbst  verweisen ,  ich  rechne  zu  dieser 
Begründung  mit,  daß  von  dieser  Willensauffas- 


348  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  IL 

sang  aus  sieb  Detailgesetze  der  Willensbildung 
aufstellen  lassen,  und  daß  bei  ihr  die  Rätsel- 
haftigkeiten verschwinden,  die  gerade  in  der 
Lehre  vom  Willen  -soviel  ihr  Wesen  getrieben 
haben.  Man  kann  gegen  diese  Ansieht  nicht 
mit  Recht  einwenden,  daß  das  Merkmal  des 
Willens,  ein  Streben,  ein  conatus  zu  sein,  sich 
mit  ihr  nicht  vertrage;  denn  das  Streben,  der 
conatus  ist  theils  unwillkürlich  (eine  sehr  alte 
Lehre),  theils  ist  es  die  auf  Vorstellung  und 
Werthschätzung  eintretende  Bethätigung  selber, 
sofern  sie  allmählich  sich  hervorthut  oder  nur 
schwach  ist.  Auch,  daß  man  die  allgemeine 
Form  des  Wollens  von  dem  besonderen  Inhalt 
unterscheiden  müsse  und  darin  ein  Bedenken 
gegen  obige  Fassung  des  Willens  liege,  halte 
ich  für  keinen  triftigen  Einwand,  weil  ich  eine 
allgemeine  Form  des  Willens  nur  als  eine  Ab- 
straction aus  den  einzelnen  Willensregungen  an- 
erkenne; diese  einzelnen  Willensregungen  sind 
die  reellen  Kräfte,  durch  analoge  Ausdehnung  in 
Folge  der  Willensbildung  kann  es  allerdings 
scheinen,  als  ob  mindestens  in  gewissem  Um- 
fang der  Wille  eine  Gesammtkraft  sei,  aber,  ab- 
gesehen von  allgemeinen  psychologischen  Er- 
wägungen, werden  wir  nur  zu  oft  im  Leben 
daran  erinnert,  daß  jeder  Wille  und  jede  will- 
kürliche Handlung  ein  Einzelakt,  wenn  auch 
darum  kein  isolierter  Akt,  ist,  welcher  stets  einer 
besonderen  Ausbildung  bedarf,  wenn  wir  seiner 
sicher  sein  wollen. 

Der  Punkt,  welcher  für  die  Ordnung  der 
Untersuchungen  maßgebend  war,  liegt  in  der 
Ueberzeugung,  daß,  so  sehr  die  Seele  ein  gei- 
stiges Wesen  ist,  doch  im  gegenwärtigen  Leben 
nicht  nur  ihre  Bethätigung  im  Allgemeinen,  son- 
dern  auch  Inhalt   und  Richtung   derselben   von 


Baumann,  Handbuch  der  Moral.  349 

dem  innigsten  Zusammenhang  mit  einem  Orga- 
nismus bedingt  sind,  daß  also  nur  die  physiolo- 
gisch-psychologische Auffassung  des  Menschen 
zusammen  und  in  möglichstem  Verein  die  wahre 
Auffassung  desselben  ist.  Dadurch  fällt  nicht 
nur  die  Trennung  in  ein  niederes  sinnliches  und 
ein  höheres  geistiges  Leben,  sondern  es  bietet 
sich  auch  sofort  als  ein  überwiegender  Unter- 
schied der  Menschen  dar,  ob  in  ihnen  die  vega- 
tative  Lebensrichtung  überwiegt  (materieller  Er- 
werb und  Genuß)  oder  das  Muskelleben  oder 
das  Nervenleben,  jedes  immer  in  physiologisch- 
psychologischem Sinne  zusammen  verstanden, 
ein  Unterschied,  der  nicht  nur  den  inhaltlichen 
Gegensätzen  der  bisherigen  Moralsysteme  zu 
Grunde  liegt,  sondern  auch,  wenngleich  in  etwas 
mangelhafter  Fassung  ^-  man  bezog  das  Ueber- 
wiegen  des  Muskelsystems  blos  auf  kriegerische 
Betätigung  —  im  Mittelalter  und  in  Plato  sich 
aufweisen  läßt.  In  all  diese  überwiegenden  Le- 
bensrichtungen zieht  sich  dann  modificierend  das 
sexuelle  System  hinein.  Für  die  Anordnung  des 
Buches  ist  diese  Auffassung  insofern  maßgebend 
gewesen,  als  nach  den  Abschnitten  „inhaltliche 
Grundlegung  der  Moralu  und  „die  drei  Cardi- 
naltugenden"  die  physiologisch-psychologischen 
Hauptrichtungen  mit  Bezug  auf  das  gefundene 
Moralprincip  ausführlich  abgehandelt  werden; 
was  dabei  nicht  zur  Behandlung  kam,  weil  es 
sich  mehr  oder  minder  auf  alle  Hauptlebens- 
richtungen zugleich  bezieht,  ist  in  einem  Ab- 
schnitt „ergänzende  Gesammtbetrachtungen"  hin- 
zugefügt. —  Von  den  grundlegenden  Untersu- 
chungen über  den  Willen  und  seine  mögliche 
Ausbildung  schreibt  es  sich  her,  daß  die  sittli- 
chen Kräfte  und  ihre  Entwicklung  überall  einen 
Hauptpunkt  der  Erörterungen  auch  im  Detail 
bilden,   weshalb   nicht   blos   die  pädagogischen 


350  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

Grundfragen  hierüber  berührt  werden,  sondern 
noch  mehr  die  Selbsterziehung  der  Erwachse- 
nen und  deren  mögliche  Einwirkungen  auf  ein- 
ander beständig  zur  Sprache  kommen.  Das  ver- 
tretene Moralprincip  selbst  kann  man  als  eine 
Verschmelzung  dessen,  was  man  gewöhnlich 
Eudämonismus  nennt  (Wertschätzung  des  sinn- 
lichen Lebens),  und  der  sog.  Cultursysteme  mit 
dem  Prinzip  der  Liebe,  aber  unter  maßgebender 
Bedeutung  der  letzteren,  ansehen,  eine  Ver- 
schmelzung, die  wiederum  durch  die  Lehre  vom 
Willen  und  die  physiologisch-psychologische  Auf- 
fassung des  Menschen  nothwendig  wurde.  Aus 
der  ganzen  Auffassung  endlich  ergab  sich  die 
Immanenz  der  Moral,  d.  h.  daß  das  moralische 
Leben  seine  Wurzeln  und  seine  Aufgaben  in  der 
uns  gegebenen  Welt  hat)  ohne  daß  darum  Hoff- 
nungen und  Ausblicke  über  die  Erde  hinaus 
ausgeschlossen  sind. 

Den  „Abriß  der  Rechtsphilosophie"  hätte  ich 
der  Moral  selbst  einverleiben  können,  denn  auf 
das  Bedürfniß  einer  solchen  wird  man  mitten  in 
den  moralischen  Untersuchungen  geführt,  aber 
sie  an  der  betreffenden  Stelle  einzuschalten 
würde  eine  störende  Unterbrechung  gewesen 
sein.  Der  eigenthümliche  Standpunkt  dieser 
Rechtsphilosophie  ist  durch  folgende  Erwägun- 
gen bestimmt  Die  bloße  logische  Abstraction 
auf  Grund  der  bezüglichen  empirischen  Erschei- 
nungen ergiebt  leicht  den  Formalbegriff  des 
Rechtes,  daß  Recht  die  Lebensordnung  einer 
größeren  oder  kleineren  Gemeinschaft  ist,  deren 
Innehaltung  von  den  Mitgliedern  mit  Nachdruck 
gefordert  wird.  Dieselbe  Abstraction  kann  aber 
auch  zeigen,  daß  inhaltlich  das  Recht  diffe- 
riert, sofern  die  Lebensauffassungen  differieren, 
und  zwar  differieren  diese  keineswegs  blos  von 
Zeitalter  zu  Zeitalter  und  Volk  zu  Volk,  sondern 


Baumami,  Handbuch  der  Moral.  851 

auch  bei  demselben  Volk  und  in  derselben  Zeit 
sind  mehr  oder  minder  verschiedene  Lebensauf- 
fassungen meist  vertreten  gewesen.  Man  denke 
nur  au  die  verschiedenen  Religionen  bei  uns, 
welche  stets  auch  mit  oft  großen  Unterschieden 
in  der  Moral  verbunden  sind*),  oder  man  denke 
an  die  mannicbfachen  philosophischen  Schulen 
der  Alten,  welche  immer  auch  verschiedene  Le- 
bensrichtungen in  der  Praxis  darstellten.  Ge- 
wöhnlich machen  es  unsere  Rechtsphilosophen 
und  Moralisten  so,  daß  sie  ihre  eigene  Lebens- 
auffassung als  die  allein  richtige  erweisen  und 
die  abweichenden  Ansichten  ausdrücklich  wider- 
legen und  dann  thun,  als  wären  diese  letzteren 
eben  damit  ein  für  alle  Mal  aus  der  Welt  ge- 
schafft. Geholfen  hat  diese  Manier  bis  jetzt 
nichts,  die  Mannichfaltigkeit  der  Lebensansichten 
ist  fort  und  fort  wiedergekehrt.  Der  Grund  die- 
ser Erscheinung  läßt  sich  nach  der  von  mir  ver- 
tretenen Ansicht  vom  Willen  und  der  physiolo- 
gisch-psychologischen Natur  des  Menschen  wohl 
einsehen:  die  Elemente  des  Willens  und  der 
Lebensrichtungen  liegen  tiefer  als  die  wissen- 
schaftliche Reflexion,  mit  dieser  allein  läßt  sich 
daher  dieser  Verschiedenheit  nicht  beikommen; 
noch  schlimmer  aber  ist  es  zu  dem  Auskunfts- 
mittel zu  greifen,  wozu  Plato  und  Aristoteles 
nnd  Augustin  (compelle  intrare)  im  Gefühl  der 
Unzulänglichkeit  blos  theoretischen  Moralisierens 
gegriffen  haben,  nämlich  zum  Zwang,  sei  er 
staatlich  oder  staatlich-kirchlich  gewesen.  Die 
verschiedenen  Lebensauffassungen  müssen  mit 
mehr  als  blos  theoretischen  Mitteln,  aber  ohne 
Zwang  mit  einander  um  den  Sieg  in  der  Menschheit  in 
friedlicher  Weise  ringen.  Es  ist  also  von  der  vertretenen 
moralischen  Ueberzeugung  selbst  gefordert,  daß  die  Le- 
bensordnung der  Gemeinschaft,  welche  schlechterdings  un- 

*)  S.  meinen  Aufsatz  „Die  klassische  Moral  des  Ka- 
tholicismus",  Philosophische  Monatshefte  1879,  Vm. 


352  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  11. 

erläßlich  ist  zu  dem  von  allen  Ansichten  gewollten  Zu- 
sammenleben, doch  so  gehalten  sei,  daß  sie  fur  religiös- 
sittliche Mannichfaltigkeit  und  Mannichfaltigkeit  der  Le- 
bensansichten überhaupt  principiell  und  nicht  blos  durch 
nachträgliche  halbe  Zugeständnisse  Raum  lasse.  So  er- 
gab sich  der  (inhaltliche)  Begriff  vom  Recht  als  derjeni- 
gen Einrichtungen,  welche  das  freie  Zusammenleben  der 
Menschen  unter  einander  ermöglichen  und  nothwendig 
sind,  damit  es  sich  entfalten  möge,  oder  als  des  Inbe- 
griffs der  Forderungen  von  Mensch  zu  Mensch,  welche 
für  einen  auf  Freiheit  Aller  gegründeten  Verkehr  uner- 
läßlich sind,  eine  Definition,  deren  ganzer  Sinn  sich  na- 
türlich erst  in  den  Ausführungen  lebendig  erweist.  Man 
braucht  deshalb  das  Recht  nicht  von  aller  Moral  zu  tren- 
nen, wie  manche  gethan  haben,  es  kann  und  wird  stets 
in  einer  Gesammtlebensauffassung  wurzeln,  aber  es  darf 
nicht  verlangt  werden,  daß  diese  bei  jedem  Menschen  die 
gleiche  sei.  Auch  nicht  für  blos  provisorisch  würde  ich 
jenen  Rechtsbegriff  halten,  etwa  bis  alle  zu  derselben 
Lebensauffassung  gelangt  sind,  sondern  selbst  wo  das  ein- 
mal der  Fall  wäre,  würde  um  der  individuellen  Freiheit 
willen  doch  jener  Rechtsbegriff  festzuhalten  sein.  Wenn 
ich  von  diesem  Rechtsbegriff  gesagt  habe,  daß  er  der 
Tendenz  nach  mit  der  kantischen  Erklärung  überein- 
komme, so  ist  natürlich  nur  gemeint  gewesen,  daß  auch 
Kant  die  Absicht  gehabt  hat,  trotz  gemeinsamer  Forde- 
rungen von  Mensch  zu  Mensch  große  Gebiete  des  Lebens 
der  individuellen  Freiheit  und  deren  etwaigen  besonderen 
Vereinigungen  innerhalb  der  Rechtsgesetze  offen  zu  lassen, 
der  Ausführung  und  ganzen  Methode  nach  bleibt  deshalb 
meine  Darstellung  durchaus  von  der  kantischen  verschie- 
den. Man  könnte  vielleicht  meinen,  eine  solche  Auffas- 
sung sei  künstlich;  aber  künstlich  im  tadelnden  Sinn  ist 
nur,  was  mehr  Umstände  macht,  als  die  Natur  der  Sache 
erfordert,  diese  ist  aber  selbst  hier  sehr  compliciert.  Der 
gewonnene  Rechtsbegriff  ist  außerdem  fruchtbar:  das 
Recht  und  seine  vollkommene  Realisation  im  Staate  ge- 
ben dem  Menschen  nach  allen  Seiten  seines  Lebens  Schutz 
und  Förderung,  aber  mit  der  Vertheilung,  bei  der  allein 
individuelle  Freiheit  gedeihen  kann,  daß  die  einen  Seiten 
des  Lebens  durch  Recht  und  Staat  mehr  blos  geschützt, 
die  anderen  zugleich  mehr  gefördert  werden. 

Oktober  1880. Baumann. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Behntoch,  Director  d.  Gott.  gel.  Ans. 

Verlag  der  DüUrich'scfon  YerkqB-  Buckhandhmg. 

f>mck  der  DitUrich'schm  Univ.-  Buchdrucktrei  (  W.  F)r.  Kasafam). 


363 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsieht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  12.13.  23.  u.  30.  März  1881. 


Inhalt :  F.  Overbeds,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  Yon  R.  A.  IAp- 
sm.  —  P.  Weler,  System  der  altsynagogalen  palästinischen  Theo- 
logie, herauBge?.  v.  F.  Delitzsch  nnd  0.  Schnedermann.  Von  C.  Siegfried. 

-  W.  D.  Whitney,  Indische  Grammatik,  Übers,  y.  H.  Zimmer.  Yon 
B.  Ddbrück.  —  M.  Lexer,  Mittelhochdeutsches  Handwörterbach  nnd 
1.  Lexer,   Mittelhochdeutsches  Taschenwörterbuch.    Ton   K.  Bartsch, 

—  F.  Franciss,  Der  deutsche  Episkopat  in  s.  Verh&ltniss  zu  Kaiser 
und  Reich  unter  Heinrich  HI.    Yon  &  Bernheim. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  verboten  s 

Zur  Geschichte  des  Kanons.  Zwei  Abhand- 
lungen von  Franz  Overbeck.  Chemnitz ,  E. 
Schmeitzner  1880.     142  Seit.     8°. 

Der  geehrte  Verf.,  früher  Professor  in  Jena, 
widmet  die  unter  vorstehendem  Titel  zusammen- 
gefaßten Abhandlungen  dem  ehrwürdigen  Nestor 
:  protestantischer  Wissenschaft,  Karl  Hase, 
zu  seinem  fünfzigjährigen  Jenenser  Professor- 
Jubiläum.  Die  erste  Abhandlung  ist  überschrie- 
ben „Die  Tradition  der  alten  Kirche  über  den 
Hebräerbrief",  die  zweite  „der  neutestamentliche 
Kanon  und  das  muratorische  Fragment".  Bei- 
den sind  die  bekannten  Vorzüge  der  historisch- 
kritischen Arbeiten  Over  becks,  allseitige  Be- 
herrschung des  gelehrten  Stoffs,  eindringende 
Schärfe  der  Forschung  und  Präcision  des  Aus- 
dracks  in  hervorragendem  Maße  eigen.  Die 
Untersuchung  über  den  Hebräerbrief  sucht  zu- 
nächst „die  muthmaßliche  Vorgeschichte  dessel- 

23 


354  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

ben"  zu  ergründen.  Der  Verf.  gebt  dabei  von 
einer  doppelten  Voraussetzung  ans:  die  eine  ist 
die  allgemeine,  in  der  zweiten  Abhandlang  nä- 
her begründete,  daß  die  Aufnahme  einer  Schrift 
in  den  Kanon  gleichbedeutend  sei  mit  der  An- 
erkennung apostolischer  Verfasserschaft ,  daß 
man  also  keine  anonyme  Schrift,  und  ebenso- 
wenig, eine  von  den  Sammlern  des  Kanon  für 
zweifelhaft  geachtete  kanonisiert  habe.  Dies  an- 
gewendet auf  den  Hebräerbrief,  so  drückt  seine 
Aufnahme  in  den  Kanon  das  Urtheil  aus,  daß 
er  wirklich  von  Paulus  herrühre.  Seine  Stellung 
am  Ende  der  Sammlung  paulinischer  Briefe  be- 
zeichnet keinen  Zweifel  an  seinem  Ursprung,  da 
vielmehr  die  Aufnahme  in  den  Kanon  alle  der- 
artige Zweifel  niederschlug,  sondern  nur  die  Er- 
innerung daran,  daß  er  der  schon  bestehenden 
Sammlung  nachträglich  hinzugefügt  worden  war. 
Die  zweite  speciell  auf  den  Hebräerbrief  bezüg- 
liche Voraussetzung  ist  diese,  daß  derselbe  ein 
wirklicher  Brief  an  eine  wirkliche  Gemeinde 
sei,  wie  zuletzt  Köstlins  Untersuchung  festgestellt 
habe.  Von  diesen  Voraussetzungen  aus  kommt 
der  Verf.  zunächst  zu  dem  Ergebnisse,  daß  das 
Fehlen  des  Eingangsgrußes  nicht  ursprünglich 
sein  könne,  einfach  darum,  weil  kein  wirklicher 
Brief  so  anfangen  könne.  Aber  auch  die  Ueber- 
schrift  nQÖg  'EßQctiovg,  welche  so  wie  sie  laute 
nur  palästinensische  Juden  bezeichnen  könne 
und  von  den  Sammlern  des  Kanon  auch  nur  in 
diesem  Sinne  gemeint  sei,  könne  auf  keinen 
Fall  richtig  sein  und  sei  wahrscheinlich  ein  ab- 
sichtlicher Zusatz,  welcher  die  wahre  Bestimmung 
des  Briefes  verhülle,  wobei  der  Verf.  übrigens 
die  Möglichkeit  offen  läßt,  daß  der  Brief  ur- 
sprünglich an  den  jüdischen  Theil  einer  christ- 
lichen   Ortsgemeinde   oder  Provinzialkirche  ge- 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  365 

nebtet  war.  Bei  der  Aufnahme  in  den  Kanon 
sei  also  Anfang  und  Eingangsgruß  gestrichen, 
und  die  neue  Ueberschrift  ngdg  ^Eßgaiovg  vorge- 
setzt worden.  Zugleich  aber  hätten  die  Samm- 
ler des  Kanon  dem  mit  13,  21  abgeschlossenen 
Brief  den  Schluß  13,  22-25  hinzugefügt,  wel- 
cher an  den  Paulasschüler  Timotheus  und  an 
die  römische  Gefangenschaft  des  Paulus  an- 
knüpfe, offenbar  in  der  Absicht,  den  Brief  als 
einen  paulinischen  erscheinen  zu  lassen.  Gegen 
die  Ursprttnglichkeit  des  Schlusses  macht  0  ver- 
beck neben  der  Zusammenhangslosigkeit  von 
Vs  22  (denn  in  der  Kürze  des  Briefes  liege 
doch  kein  Grund  das  darin  Gesagte  zu  beher- 
zigen!) namentlich  die  Thatsache  geltend,  daß 
im  Hebräerbriefe  sonst  nirgends  das  uns  be- 
kannte apostolische  Zeitalter  anklinge;  derselbe 
gehöre  vielmehr  einem  Bereiche  an,  über  den  die 
Tradition  sonst  verloren  ist.  Von  den  beiden 
an  sich  offenstehenden  Möglichkeiten,  daß  die 
Kaiionisation  des  Briefes  ein  vorhandenes  Dun- 
kel über  seinen  Ursprung  gewaltsam  beseitigt, 
oder  aber  eine  ursprüngliche  Kunde  durch  eine 
künstliche  Tradition  ersetzt  habe,  entscheidet 
sich  Overbeck  für  die  zweite  Alternative.  Wäh- 
rend nun  das  Abendland,  in  welchem  uns  die 
erste  Bekanntschaft  mit  dem  Briefe  schon  gegen 
Ende  des  ersten  Jahrhunderts  begegnet  (im  Ko- 
rintherbriefe  des  römischen  Clemens),  anfänglich 
die  paulinische  Verfasserschaft  des  Briefes  be- 
stritt und  folgerichtig  seine  Aufnahme  in  den 
Kanon  ablehnte,  erfolgte  seine  Kaiionisation  im 
Morgenlande  durch  gewaltsame  Unterdrückung 
des  auch  hier  anfangs  sich  geltend  machenden 
Widerspruchs,  welcher  sich  übrigens  nicht  auf 
doetrinelle  Bedenken  stützte,  sondern  lediglich 
gegen  die  angebliche  paulinische  Abkunft  rieh- 

23* 


356  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

tete  und  außer  seinem  Anfang  namentlich  stili- 
stische Bedenken  geltend  machte.  Zur  Zeit  des 
Clemens  Alexandrinus  und  des  Origenes  war 
diese  Gegnerschaft  noch  nicht  verstummt:  doch 
war  dem  Clemens  ebenso  wie  dem  „Presbyter", 
auf  dessen  Autorität  er  sich  beruft,  der  Brief 
bereits  als  Paulusbrief  in  der  gegenwärtigen 
Form  tradiert.  Mit  den  Zweifeln  fand  Clemens 
durch  die  Annahme  sich  ab,  Paulus  habe  den 
Brief  hebräisch  verfaßt,  der  griechische  Text 
aber  sei  eine  von  Lukas  veranstaltete  Ueber- 
setzung.  Origenes,  der  die  auch  im  Orient  noch 
immer  nicht  allgemeine  Anerkennung  seiner 
paulinischen  Abkunft  durch  die  Ueberlieferung 
der  dqxaXoi  ävÖQsg  zu  stützen  sucht,  läßt  die 
Frage  nach  einer  hebräischen  Urschrift  als  be- 
deutungslos fallen,  scheidet  aber  zwischen  dem 
paulinischen  Oedankengehalt  und  der  unpaulini- 
nischen  Form:  letztere  werde  von  den  Einen 
dem  Lukas,  von  den  Andern  dem  Clemens  (Ro- 
manus) zugeschrieben,  während  Origenes  selbst 
sich  hierüber  jedes  Urtheils  enthält  Eusebios 
ist  von  der  paulinischen  Abkunft  überzeugt, 
wenn  er  aueh  gelegentlich  „über  seine  Gelehr- 
samkeit stolpert";  der  letzte  Nachklang  der  al- 
ten Zweifel  ist  die  Bestreitung  durch  die  Aria- 
ner,  welche  aber  der  Befestigung  der  herrschen- 
den Tradition  nur  förderlich  sein  konnte.  Die 
Geschichte  der  abendländischen  Tradition  zer- 
fällt nach  Overbeck  in  drei  Perioden:  die  Pe- 
riode des  ältesten  Streites  zwischen  Abendland 
und  Morgenland,  die  Periode  der  Ignorierung 
des  Briefes  im  Abendlande  und  die  Periode  sei- 
ner Aufnahme  auch  in  den  abendländischen  Ka- 
non. Für  die  erste  Periode,  welche  Overbeck 
bis  zur  Wende  des  2.  und  3.  Jahrh.  erstreckt, 
gewinnt  er  folgende  Ergebnisse:    Der    Wider- 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  357 

sprach  gegen  den  Brief  beruhte  auch  im  Abend- 
lande ursprünglich  nicht  auf  dogmatischen 
Bedenken,  sondern  auf  Bestreitung  seiner  apo- 
stolischen Herkunft.  Die  römische  Kirche,  bei 
welcher  uns  die  erste  Spur  einer  Bekanntschaft 
mit  dem  Briefe  begegnet,  wußte  über  seinen  Ur- 
sprung mehr  als  andre,  eine  Tbatsache,  welche 
auch  Overbeck  durch  die  ursprüngliche  Be- 
stimmung nach  Rom  aufzuhellen  geneigt  ist,  für 
welche  Annahme  manche,  wenn  auch  nicht  eben 
starke  Indicien  sprechen.  Irenäus  und  Hippolyt 
kennen  den  Brief,  bestreiten  aber  seine  paulini- 
sehe  Abkunft  und  haben  ihn  nicht  in  ihrem  Ka- 
non; Cajus  verwirft  ihn  im  Streite  mit  Proklus; 
Tertullian  schreibt  ihn  (de  pudicitia  20)  aus- 
drücklich dem  Barnabas  zu,  und  hat  ihn  trotz 
des  Ansehns,  das  er  in  den  Gemeinden  genoß, 
nicht  im  Kanon.  In  dieser  allerdings  ganz  iso- 
liert stehenden  Angabe  des  Tertullian  ist  Over- 
beck sehr  geneigt,  die  ursprüngliche  Tradition 
der  römischen  Kirche  über  den  Hebräerbrief 
wiederzuerkennen,  da  seine  frühere  Meinung,  die 
fiarnabashypothese  sei  das  abendländische  Sei- 
tenstück zur  orientalischen  Paulustradition,  an 
der  Thatsache  scheitere,  daß  die  dann  zu  sup- 
ponierende  Tendenz  dem  Briefe  zu  kanonischem 
Ansehen  zu  verhelfen  ja,  wie  das  Beispiel  Ter- 
tnllians  zeige,  ihren  Zweck  verfehlt  habe.  Ge- 
gen Barnabas  spreche  nichts  (9,  4  lasse  sich 
„kaumtf,  7,  27  „nicht  mehru  dagegen  anfüh- 
ren) ;  jedenfalls  sei  die  Barnabashypothese  „die 
einzige  des  Anhörens  werthe".  Der  zwei- 
ten Periode  weist  Overbeck  namentlich  auch  das 
nroratoriscbe  Fragment  zu,  welches  nach  ihm 
wahrscheinlich  erst  aus  der  ersten  Hälfte  des  3. 
Jahrh.  stammt.  Da  nämlich  die  Frage  nach  der 
Kanonicität  des  Hebräerbriefs  so  früh  ins  Abend- 


358  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  12. 13. 

land  gedrungen  sei,  als  der  Brief  überhaupt  im 
Kanon  erscheine,  an  einen  eignen  völlig  selbstän- 
digen Epistelkanon  des  Abendlandes  aber  nicht 
gedacht  werden  könne,  so  weise  das  völlige 
Schweigen  des  Fragments  über  den  Brief  deut- 
lich in  die  zweite  Periode :  denn  die  Zeit,  in 
welcher  etwa  die  paulinischen  Briefe  ohne  den 
Hebräerbrief  kanonisiert  waren,  liege  ganz  im 
Dunkeln  und  sei  jedenfalls  für  das  Fragment 
viel  zu  früh.  Als  weitere  Zeugnisse  für  die 
zweite  Periode  macht  Overbeck  außer  Cyprian 
und  Victor  von  Pettau  geltend  die  systematische 
Gliederung  der  paulinischen  Briefe  in  9  Schrei- 
ben an  7  Gemeinden  und  4  Privatbriefe,  welche 
für  den  Hebräerbrief  keinen  Raum  lasse,  sowie 
seine  völlige  Ignorierung  in  den  novatianischen 
Streitigkeiten  des  Abendlandes.  Obwohl  es  nun 
neben  dem  eigentlichen  Kanon  auch  einen  „Sei- 
tenkanon" gab,  so  habe  der  Hebräerbrief  doch 
auch  in  letzterem  keinen  Baum  gefunden,  denn 
er  füge  sich  in  keine  der  beiden  Classen  ein, 
aus  denen  jener  bestand.  Dagegen  soll  nun  ge- 
rade jene  völlige  Ignorierung  des  Hebräerbriefs 
die  Möglichkeit  geboten  haben,  ihn  in  der  drit- 
ten Periode  (etwa  seit  350)  auch  in  den  abend- 
ländischen Kanon  aufzunehmen:  man  wußte 
überhaupt  nichts  mehr  von  ihm;  daher  stand 
das  ursprüngliche  Hinderniß  seiner  Aufnahme 
nicht  mehr  im  Wege.  Aus  dem  interessanten 
Zeugenverhör  ist  hier  namentlich  hervorzuheben, 
daß  Hilarius,  Ambrosias,  Bufinus  den  Brief  unbe- 
denklich als  paulinisch  brauchen.  Dieselbe  Stel- 
lung soll  nach  Overbeck  Hieronymus  einnehmen, 
obwohl  er  der  ursprünglichen  Differenz  gedenke ; 
dagegen  lasse  Augustin  die  paulinische  Verfas- 
serschaft des  Briefes  offen,  betone  aber  desto 
bestimmter  seine   Kanonicität.     Die  Stelle  bei 


Over  beck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  359 

Philaster  haer.  89  betrachtet  Overbeck,  weil  aus 
Hieronymus  (de  vir.  illustr.  5)  geflossen  und  in 
Widerspruch  mit  der  haer.  88  festgehaltenen 
Zahl  von  13  paulinischen  Briefen,  als  interpo- 
liert, übrigens  nicht  ohne  die  Andeutung  eines 
—  nicht  weiter  begründeten  —  Zweifels  an  der 
jetzt  geltenden  Zeitbestimmung  der  haeresiologi- 
Bchen  Schrift  Philasters. 

Bei  der  strengen  Geschlossenheit  der  Over- 
beckschen  Untersuchung  erwies  sich  schon  um 
derselben  wirklich  gerecht  zu  werden  vorstehende 
gedrängte  Uebersicht  erforderlich.  Manches  was 
Air  sich  genommen  bedenklich  erscheinen  mag, 
gewinnt  seinen  Halt  erst  in  seinem  strengen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Ganzen  dieser  methodisch 
musterhaft  durchgeführten  Abhandlung.  Dies 
gilt  z.  B.  auch  von  der  auf  den  ersten  Blick 
wenig  empfehlenden  Annahme,  daß  der  Schluß 
des  Briefes  spätere  Zuthat  sei.  Wer  diesen  Schluß, 
übereinstimmend  mit  der  kirchlichen  Tradition 
seit  der  Kanonisierung  des  Briefes,  nur  aus  der 
Lebensgeschichte  des  Paulus  zu  deuten  weiß, 
und  wer  mit  dem  Verfasser  andrerseits  darin 
übereinstimmt,  daß  der  Brief  ein  wirklicher, 
einem  uns  sonst  unbekannten  Bereiche  des  aposto- 
lischen Zeitalters,  insbesondre  nicht  dem  pauli- 
nischen Kreise  angehöriger  Brief  sei  —  der  wird 
mit  logischem  Zwange  zu  der  Annahme  des 
Verfassers  getrieben.  Von  diesen  beiden  Prä- 
missen halte  ich  nun  die  erste  für  unabweisbar, 
wenn  sie  auch  noch  etwas  anders  als  bei  Over- 
beck zu  begründen  sein  wird;  die  zweite  wird 
zu  modificieren  sein,  doch  ohne  daß  sich  da- 
durch für  die  vorliegende  Frage  etwas  ändert. 
Die  Annahme,  daß  der  Brief  nach  13,  23  u.  24 
aus  der  römischen  Gefangenschaft  des  Paulus 
geschrieben  sein  wolle,  kann  ich  freilich  nicht 
theilen.    Mir  scheinen  die  Worte  vielmehr  um- 


360  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

gekehrt  vorauszusetzen,  daß  der  (wirkliche  oder 
angebliche)  Verfasser  sich  auf  freiem  Fuße  be- 
findet, also  wenn  Paulus  gemeint  ist,  daß  er  ans 
seiner  Gefangenschaft  wieder  befreit  ist  und  daß 
die  Leser  dies  wissen.  Denn  nur  so  erklärt 
sich  das  otpopcu  ipaq,  welches  an  keine  andre 
Bedingung  geknüpft  ist,  als  an  die  erwartete 
Ankunft  des  Timotheus.  Dieser  ist  offenbar  als 
Gefährte  des  Schreibers  gedacht:  der  letztere 
benachrichtigt  die  Leser  über  die  Schicksale  des 
Timotheus,  obwohl  beide  Männer  nicht  an  dem- 
selben Orte  befindlich  sind,  und  meldet  sein  Vor- 
haben, in  Begleitung  des  Timotheus  die  Leser 
zu  besuchen,  wenn  anders  derselbe  schnell  ge- 
nug kommt,  d.  h.  schnell  genug  der  Anforde- 
rung des  zur  Reise  gerüsteten  Schreibers  ent- 
spricht, zu  ihm  zu  stoßen.  Ein  persönliches  Ver- 
hältniß,  wie  es  hier  zwischen  dem  Schreiber 
und  Timotheus  vorausgesetzt  wird,  ist  aber  ge- 
schichtlich nur  für  Paulus  und  Timotheus  be- 
zeugt. Die  Brüder  dno  *ItaXUxq  können,  wie 
auch  Overbeck  geltend  macht,  recht  wohl  die 
von  Italien  aus  grüßenden  sein.  In  diesem  Falle 
wäre  der  Brief  nach  den  Schlußversen  von  Rom 
aus,  nicht  an  die  Römer  geschrieben.  Dies  alles 
führt  auf  eine  Situation  wie  sie  2  Tim.  4,  9. 21 
vorausgesetzt  wird,  wo  nicht  gradezu  auf  Ab- 
hängigkeit von  diesem  Briefe,  der  ja  auch  früh- 
zeitig als  Zeugniß  für  eine  Befreiung  des  Pau- 
lus aus  der  römischen  Gefangenschaft  verwerthet 
wurde.  Die  Annahme  eines  solchen  Abhängig- 
keitsverhältnisses aber  schließt  von  selbst  die 
Folgerung  ein,  daß  die  Schlnßverse  spätere  Zu 
that  sind,  aus  einer  Zeit,  da  die  Eanonicität  der 
Pastoralbriefe  schon  feststand,  die  des  Hebräer- 
briefes aber  erst  noch  der  Fixierung  bedurfte. 
Die  nur   hier  erwähnte  Gefangenschaft   des  Ti- 


0 verbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  361 

motheus  steht  natürlich  der  Annahme  einer  Ab- 
hängigkeit von  2.  Tim.  nicht  entgegen ;  daß  wir 
uns  aber  von  Ort  nnd  Umständen  dieser  Ge- 
fangenschaft keine  Vorstellung  machen  können, 
beruht  auf  der  Unklarheit,  welche  meistentheils 
erdichteten  Situationen  eigen  zu  sein  pflegt. 
Was  nun  aber  die  zweite  Voraussetzung  Over- 
becks  betrifft,  daß  der  Brief  aus  einem  Kreise 
lirchristlicher  Lehrüberlieferung  stamme,  von 
dem  uns  keine  sonstige  Kunde  erhalten  sei,  so 
darf  es  wohl  als  feststehend  gelten,  daß  derselbe 
nicht  einfach  in  die  Literaturproducte  paulini- 
scher  Richtung  einzuverleiben  ist,  also  ebenso- 
wenig wie  von  Paulus  selbst  von  einem  seiner 
Schüler  herrührt.  Doch  läßt  sich  die  letztere 
Behauptung  nur  unter  der  Einschränkung  auf- 
recht erhalten,  daß  man  unter  „Schülern"  des 
Apostels  Männer  versteht,  deren  Theologie  sich 
völlig  in  den  Voraussetzungen  des  pauliniscben 
Lehrsystems  bewegt.  Denn  ich  halte  noch  im- 
mer die  Annahme  für  unwiderlegt,  daß  die  pau- 
linischen  Briefe  und  die  paulinische  Theologie 
allerdings  einer  der  Factoren  sind,  welche  auf 
den  Anschauungskreis  des  Hebräerbriefs  einge- 
wirkt haben,  möge  man  nun  den  Antheil  dieses 
Factors  höher  oder  niedriger  veranschlagen. 
Die  Rechtfertigungslehre  des  Briefes  schließt  sich 
an  die  paulinischen  Formeln  an;  Stellen  wie 
Hebr.  11,  11  flg.;  19  beruhen  auf  directer  Ke- 
miniscenz  an  den  Römerbrief.  Ebenso  unver- 
kennbar ist  andrerseits,  daß  die  paulinischen 
Formeln  in  einem  andern  als  dem  acht  paulini- 
schen Sinne  verwerthet  sind,  und  daß  die  wirk- 
liehen theologischen  Grundlagen,  auf  denen  die 
Lehre  des  Briefes  sich  auferbaut,  einerseits  im 
urapostolischen  Ohristenthum  andrerseits  im  jü- 
dischen Alexandrinismns  liegen.    Ich   darf  mich 


362  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

hierftlr  der  Kürze  halber  auf  die  Dissertation 
von  Schmiedet  berufen,  in  welcher  sich  diejenige 
Auffassung  des  Hebräerbriefs,  welche  auch  ich 
gegenüber  Hilgenfeld  und  Pfleiderer  einerseits, 
gegen  Weiß  andrerseits  immer  vertreten  habe,  in 
bündiger  Weise  zusammengefaßt  findet.  Ich  kann 
also  den  Satz,  in  dem  Hebräerbriefe  klinge  nir- 
gends das  sonst  bekannte  apostolische  Zeitalter 
an,  nur  mit  der  durch  Vorstehendes  an  die  Hand 
gegebenen  Beschränkung  mir  aneignen.  Aber 
diese  Differenz  trägt  für  die  Beurtheilung  des 
Schlusses  unsres  Briefes  nichts  aus.  Will  man 
also  nicht  wieder  zu  der  Schwegler'schen  An- 
nahme, daß  der  Brief  schon  von  dem  ursprüng- 
lichen Verfasser  dem  Paulus  untergeschoben  sei 
zurückkehren,  so  sehe  ich  meinerseits  nicht  ab, 
wie  man  der  Overbeckschen  Gonsequenz  hin- 
sichtlich der  Scblußverse  aus  dem  Wege  gehn 
will.  Die  Schwegler'sehe  Ansicht  halte  auch  ich 
für  unmöglich;  eher  noch  könnte  man  geneigt 
sein,  die  Briefform  für  eine  unserm  Dokumente 
erst  bei  der  Kanonisierung  aufgedrungene,  nnd 
letzteres  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  für 
eine  allerdings  an  einen  ganz  bestimmten  Hörer- 
oder Leserkreis  gerichtete  theologische  Abhand- 
lung zu  halten,  eine  Annahme,  bei  welcher  die 
Schlußverse  nicht  besser  fahren  würden,  wäh- 
rend sich  dagegen  der  gegenwärtige  Anfang  — 
freilich  nicht  die  Ueberschrift  —  als  ursprüng- 
lich rechtfertigen  ließe. 

Viel  bedenklicher  als  jene  kritische  Neue- 
rung erscheint  mir  die  wenn  auch  mit  Voreicht 
vorgetragene  Zustimmung  Overbecks  zu  der  jetzt 
vielbeliebten  Barnabashypothese.  Es  hört  sich 
zwar  ganz  gefällig  an,  daß  der  Widerspruch  der 
abendländischen  Kirche  gegen  die  paulinische 
Abkunft   des  Briefes   sich    am  Besten  aus  einer 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  363 

ursprünglichen  besseren  Kunde  über  seinen  wirkli- 
ehen Ursprung  erkläre  und  daß  eben  diese  Kunde 
in  der  bekannten  Stelle  Tertullians  noch  erhalten 
sei.  Aber  es  wäre  doch  ein  sonderbarer  Zufall, 
daß  Tertullian  als  der  Einzige  unter  allen  Abend- 
ländern uns  diese  richtige  Kunde  aufbewahrt  hätte. 
Wenn  ferner  nach  Overbeeks  treffendem  Nachweise 
auch  im  Oriente  zur  Zeit  des  alexandrinischen 
Clemens  und  des  Origenes  die  Gegner  des  pau- 
linischen  Ursprungs  noch  lange  nicht  verstummt 
waren,  so  würde  man  diesen  mit  demselben 
Rechte  wie  den  abendländischen  Gegnern  eine 
noch  in  ihrem  Besitze  befindliche  bessere  Kunde 
über  die  wirkliche  Herkunft  des  Briefes  zu- 
schreiben dürfen.  Nun  haben  aber  im  Morgen- 
lande die  Einen  den  Brief  dem  Lukas,  die  An- 
dern dem  römischen  Clemens  beigelegt:  denn 
die  Verwerthung  dieser  Namen  bei  dem  alexan- 
drinischen Clemens,  beziehungsweise  bei  Origenes 
sieht  doch  ganz  wie  ein  Ausgleichungsversuch 
zweier  widersprechender  Traditionen  aus.  Nach 
den  Worten  des  Origenes  hat  man  dann  aller- 
dings anzunehmen,  daß  dieser  Versuch  schon  äl- 
ter als  die  genannten  beiden  Kirchenlehrer,  und 
von  diesen  bereits  vorgefunden  ist;  nur  um  so 
mehr  treten  aber  dann  die  Lukas-  und  die  Cle- 
menshypothese der  Barnabashypothese  ebenbür- 
tig zur  Seite.  Will  man  zu  Gunsten  der  letzteren 
ihre  gerade  für  den  Hebräerbrief  wichtige  abend- 
ländische Bezeugung  ins  Feld  führen,  so  spräche 
für  jene  beiden  das  höhere  Alterthum  der  vor- 
auszusetzenden Zeugen.  Natürlich  fällt  mir  es 
nicht  ein,  den  Brief  im  Ernste  dem  Lukas  oder 
dem  Clemens  Romanus  zuzuschreiben ;  mir  liegt 
hier  nur  daran  zu  zeigen,  wie  unsicher  die  Stelle 
Tertullians  als  historisches  Zeugniß  ist.  Die  Be- 
denken speciell  gegen  die  gute  Kunde  Tertullians 


364  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

lassen  sich  aber  noch  verstärken.  Overbeck 
kann  selbst  nicht  verschweigen,  daß  der  Brief 
schon  bei  Tertullian  unter  der  Ueberschrift  ad 
Hebraeos  erscheint.  Diese  letztere  aber  soll  erst 
von  den  Sammlern  des  Kanon  herrühren,  setzt 
also  das  Vorhandensein  des  Briefes  in  seiner 
gegenwärtigen  bei  den  Orientalen  bereits  damals 
als  paulinisch  recipierten  Gestalt  bereits  voraus. 
Mit  welchem  Rechte  wird  nun  dem  Afrikaner  in 
dem  Einen  Punkte  eine  noch  ursprüngliche  Kunde 
zugeschrieben,  während  er  doch  in  dem  andern 
sich  so  wenig  als  zuverlässiger  Zeuge  erweist? 
Auf  die  von  Bleek  u.  A.  hervorgehobene  Mög- 
lichkeit einer  Verwechselung  des  Hebräerbriefs 
mit  dem  sogenannten  Barnabasbriefe  lege  ich 
hierbei  wenig  Gewicht.  Wohl  aber  ließe  sich 
fragen,  ob  nicht  die  ganze  Barnabashypothese 
erst  aus  dem  (unächten)  Schlosse  erwachsen  sei, 
indem  man  für  den  Xöyog  nctQaxXytätog  Hebr. 
13,  22  keinen  geeigneteren  Verfasser  glaubte 
ausfindig  machen  zu  können  als  den  vlög  naga- 
xXijaecog  Act.  4,  36.  Mindestens  böte  diese  An- 
nahme den  Vortheil,  die  Barnabashypothese  zu 
erklären,  ohne  daß  man  zu  der  von  Overbeck 
selbst  früher  gemnthmaßten  Tendenz,  den  Brief 
kanonisch  zu  machen,  seine  Zuflucht  nehmen 
müßte.  Er  blieb  auch  unter  des  Barnabas  Na- 
men außerkanonisch,  wenn  auch  'receptior'  als 
der  Hirte  des  Hermas.  Aber  auch  die  innern 
Gründe  scheinen  mir  für  die  Barnabashypothese 
nicht  günstig  zu  liegen.  Zwar  der  Anschluß  des 
Verfassers  an  die  Rechtfertigungslehre  des  Pau- 
lus, der  doch  in  Wahrheit  kein  Anschluß  ist, 
ließe  sich  ungezwungen  erklären.  Aber  schon 
der  ausgebildete  Alexandrinismus  fügt  sich  kaum 
in  das  sonstige  Geschichtsbild  des  cyprischen 
Leviten.  Schwerer  fällt  noch  ins  Gewicht,  daß 
Barnabas  trotz   Gal.  2,  13  die  Abschaffung  des 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  365 

mosaischen  Gesetzes  auch  für  Israel,  wenn 
auch  in  einem  anderen  so  doch  nicht  weniger 
radicalen  Sinne  als  Paulus  verkündigt  haben 
soll.  Das  Gesetz  gilt  dem  Verfasser  nicht  mehr, 
nachdem  das  alttestamentliche  Priesterthum  ab- 
geschafft ist  (7,  12);  mit  der  Inauguration  des 
neuen  Bundes  durch  Christi  Hohepriesterthum 
hat  der  alte  Bund  seine  Geltung  verloren.  Ist 
es  wahrscheinlich,  daß  diese  Gedanken  von  dem- 
selben Manne  ausgesprochen  sind,  der  sich  von 
seinem  alten  Missionsgefährten  trennte,  als  die- 
ser die  praktischen  Gonsequenzen  seines  Heiden- 
evangeliums auch  für  die  jüdischen  Christen  zu 
ziehen  unternahm?  Auf  die  vielbetonte  Un- 
kenntniß  des  zweiten  Tempels  durch  einen  Le- 
viten (Hebr.  9,  4)  lege  ich  weniger  Gewicht. 
Aber  nur  darum  nicht,  weil  ich  längst  ausge- 
führt habe  —  freilich  unter  Hilgenfelds  Wider- 
sprach — ,  daß  der  Hebräerbrief  gar  nicht  den 
zweiten  Tempel,  sondern  die  Stiftshütte  im  Auge 
hat,  und  gar  nicht  das  praktische  Interesse  ver- 
folgt, einen  Rückfall  der  Leser  in  den  angeb- 
lich noch  fortbestehenden  Tempelcultus  abzu- 
wehren, sondern  lediglich  dem  theoretischen 
Zwecke  dient,  die  höhere  Vorzüglichkeit  des 
Christentbums,  welches  er  principiell  als  Cultus- 
institut  auffaßt,  dem  Judenthum  gegenüber  zu 
entwickeln.  Wenn  er  auch  —  nämlich  von  dem 
Cultus  der  Stiftshütte  —  gelegentlich  im  tempus 
praesens  redet,  so  liegt  ihm  doch  nach  andern 
Stellen  das  alttestamentliche  Cultusinstitut  deut- 
lich in  der  Vergangenheit.  Dies  alles  führt 
denn  doch  wohl  über  die  muthmaßliche  Lebens- 
dauer des  Barnabas  hinaus  und  in  eine  Zeit 
hinein,  in  welcher  die  principielle  Loslösung 
auch  der  jüdischen  Christen  von  der  Synagoge 
eine  vollzogene  Thatsache  war.    Wenn  hiernach 


366  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

das  durch  die  Barnabashypothese  angezündete 
Licht  sich  als  Irrlicht  erweist ,  so  bleibt  frei- 
lich der  wirkliche  Ursprung  des  Hebräerbriefes 
vollständig  in  Dunkel  gehüllt.  Es  mag  sein, 
daß  die  römische  Kirche  anfanglich  eine  ge- 
schichtliche Kunde  darüber  besaß;  sicher  aber 
war  dieselbe  zu  Tertullians  Zeit  vergessen. 

Von  sonstigen  Punkten,  die  sich  etwa  bean- 
standen ließen,   hebe  ich   nur    die  S.  46  ff.  ge- 
gebene Ausführung  über  den  „Seitenkanon"  des 
N.  T.  hervor.     Als  Elemente   desselben   glaubt 
Overbeck  folgende  zwei  Classen  verzeichnen  zu 
dürfen  „1)  Bücher  deren  apostolische  Herkunft 
nur  als  weniger  beglaubigt  gilt  (gewisse  katho- 
lische Briefe,   die  Petrusapokalypse,   später   die 
didaxri  twv  änoöioXwv  u.  dgl.  m.);    2)    Bücher 
anerkannt   nichtapostolischen    Ursprungs,  deren 
Anspruch  auf  höhere  Autorität   aber   auf  ihrer 
Form   beruht   (Bücher  prophetischer  Form    wie 
z.   ß.    der   Hirte    des    Hermas,    oder    katholi- 
scher wie  z.  B.  der  sogenannte  Brief  des  Bar- 
nabas) tt.     Ich   möchte   hierbei   und  zwar  unter 
Berufung  auf  Overbecks   eigene  Ausführungen 
in    der    zweiten    Abhandlung    nur    den    einen 
Punkt  beanstanden,   daß  „die  katholische  Be- 
stimmung"   einer   Schrift   für    ihre    Aufnahme, 
wenn  auch  nur  in  den  „Seitenkanon",  ursprüng- 
lich maßgebend   gewesen  sein   soll.    Für  diese 
Rubrik,  speciell  für   die   Einordnung   des  sog. 
Barnabasbriefes   in   sie,   vermisse  ich   den  ge- 
schichtlichen Beleg.     Weit   näher  liegt  es  doch 
hier,    bei  der  Vorstellung  stehn  zu  bleiben,   die 
ja   auch   bei  Tertullian  in  dessen  Urtheil  über 
den   Hebräerbrief  durchblickt,    daß    „die   Nähe 
des   Verhältnisses   zu   den   Aposteln"    oder  die 
Apostelschülerschaft  als  „formelle  Autorität"  gel- 
tend  gemacht   wurde.      Bleibt    doch   Overbeck 


0 verbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  367 

gelbst  hinsichtlich  der  Legitimation  des  Lukas 
als  kanonischen  Schriftstellers  bei  der  Thatsache 
8tehD,  „daß  er  ein  Apostoliker  sei"  (S.  138)« 
Daß  der  Barnabasbrief  häufiger  als  andre  Do- 
cumente  dieser  Art  im  „Seitenkanon"  erscheint, 
erklärt  sich  hiernach  aus  der  ausgezeichneten, 
nahezu  apostelgleichen  Stellung  des  Barnabas; 
ein  ähnliches  Urtheil  scheint  aber  doch  hindurch- 
zublicken, wenn  gelegentlich  der  erste  Clemens- 
brief, die  Ignatianen  oder  der  Brief  Polykarps 
als  Bestandteile  jenes  Anhangs  erscheinen. 

Weit  kürzer  kann  ich  mich  über  die  zweite 
Abhandlung  Overbecks  fassen.  Dieselbe  bietet 
eine  eingehende  Beurtheilung  der  neuerdings 
von  Harnack  auf  Grund  des  muratorischen 
Fragmentes  aufgestellten  „Thesen"  über  die  äl- 
teste Geschichte  des  neutestamentlichen  Kanon. 
Insbesondre  sucht  Overbeck  die  Harnack'sche 
Behauptung  zu  widerlegen,  daß  das  Princip  der 
Apostolicität  in  der  Zeit  von  Irenäus  und  Ter- 
tnJlian  durch  das  der  Eatholicität  in  zwiefacher 
Beziehung  beschränkt  gewesen  sei:  durch  die 
Bücksicht  einmal  auf  die  katholische  (allgemein 
kirchliche)  Bestimmung,  zum  Andern  auf  den 
katholischen  (der  kirchlichen  Tradition  ent- 
sprechenden) Inhalt  einer  Schrift.  Während 
Harnack  demgemäß  annimmt,  daß  einerseits 
nicht  alles  Apostolische  als  solches  als  kanonisch 
gegolten  habe  (z.  B.  nicht  der  Privatbrief  an 
Philemon)  und  daß  andrerseits  nicht  alles  Nicht- 
apostolische aus  den  Kanon  ausgeschlossen  ge- 
wesen sei,  versucht  Overbeck  den  gegentheiligen 
Nachweis,  daß  die  Apostolicität  von  vornherein 
der  einzige  Maßstab  für  die  Kanonicität  einer 
Schrift  gewesen  sei.  Dies  geschieht  zunächst  in 
einem  allgemeinen  Abschnitt,  welcher  „die  all- 
gemeine Unwahrscheinlichkeit"  der  von  Harnack 


368  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

aufgestellten  Ansicht   zu   zeigen  sucht,   nnd  so- 
dann in  einer  speciellen  Bekämpfung  der  Har- 
nack'schen  Interpretation  des  muratorischen  Frag- 
ments, welches  jener  Ansicht  als  hauptsächlichste 
Stütze  dient.     In   dem   ersten  Abschnitte   zeigt 
0 verbeck,    daß    die   Harnack'sche    Vorstellung 
nicht  einfach  genug  ist,  wenn  sie  die  Geschichte 
des   Kanons    statt    unter   der    ausschließlichen 
Herrschaft    des    noch    ganz   naiv    aufgefaßten 
Princips    der  Apostolicität   mit    einem    Kampf 
verschiedener   Principien    beginnen   läßt     Daß 
„die  Katholicität  des  Inhalts"  kein  zweites  Prin- 
cip  neben  dem  der  Apostolicität  abgegeben  ha- 
ben könne,   wird    an  der  Traditionstheorie  Ter- 
tullians,  daß  dies  ebensowenig  von  „der  Katho- 
licität der  Bestimmung  oder  der  Adresse"  gelte, 
an  der  Traditionstheorie   des  Irenäus  und  dem 
langen  Schwanken  gerade  über  die  katholischen 
Briefe  gezeigt.      Gewisse  Bedenken   gegen  den 
Philemonbrief    wegen     seines    Privatcharakters 
und  seiner  dogmatischen  Indifferenz  werden  erst 
der  Zeit  schriftgelehrter  Beschäftigung  mit  dem 
bereits  bestehenden  Kanon  zugewiesen,  und  von 
der  Stelle  Tertull.  adv.  Marcion.  V,  21  gezeigt, 
daß  hier   der  Philemonbrief  nur   benutzt  wird, 
um  die  marcionitische  Verwerfung  der  Pastoral- 
briefe  zu   bekämpfen.     Endlich  gegen  die  be- 
hauptete   verhältnißmäßige    Gleichgiltigkeit  der 
kanonbildenden    Zeit    gegen     die    apostolische 
Herkunft  kanonischer  Schriften  beruft  sichOver- 
beck  auf  die  Tradition  über  den  Hebräerbrief. 
Der  zweite  Abschnitt,  welcher  sich  speciell  mit 
dem  muratorischen  Fragmente  beschäftigt,  unter- 
nimmt den  eingehenden  Nachweis,  daß  auch  für 
den  Fragmentisten  kein  andres  Princip  des  Ka- 
nonischen als  das  einfache  der  Apostolicität  in 
Betracht   komme.     Zunächst  wird  die  Ansicht 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.  369 

bekämpft,   daß  die  Kanonicität  des  N.  T.    dem 
Fragmentigten   im  Unterschiede   vom  A.  T.  auf 
der  kirchlichen  Reception    beruhe,  also   ein  be- 
sonders hohes  Bewußtsein  der  Kirche  von  ihrer 
Macht  über  den  Kanon  voraussetze.    Im  Einzel- 
nen wird  zunächst  an  dem  Abschnitte  des  Frag- 
mentes  über   die  Apokalypsen  gezeigt,   daß   in 
demselben    von  principiellen   Bedenken    gegen 
apostolische  Apokalypsen   nichts  zu   finden  sei. 
Dann  wendet  sich  Overbeck  dem  Abschnitte  über 
die  paulinisctaen  Briefe  zu,  beweist,  wie   in  der 
Behandlang   des    „Problems   der  Kanonisierung 
?on  Gelegenheitsschriften"  keineswegs  ein  Merk- 
mal ursprünglicher  Bedenken  gegen  ihre  Kanoni- 
sierung, sondern  lediglich  ein  ganz  gewöhnliches 
Stück  Apologetik  des  (bereits  bestehenden)  Ka- 
nons vorliege,  widerlegt   die   Annahme,   als    ob 
der   Fragmentist  für   die   sogenannten  katholi- 
schen Briefe  „ein  Vor urt heil"  gehabt  habe,  und 
bestreitet   die  Meinung,    der  Fragmentist   habe 
noch  gewußt,   daß   die  Pastoralbriefe  nicht  von 
Anfang  an  in  der  Sammlung  heil.  Schriften  ge- 
standen hätten.    Im  Einzelnen  werden  besonders 
die  auf  die  vier  Briefe  des  Paulus  an  Einzelne 
bezüglichen  Worte  durch  ihren  Parallelismus  mit 
dem  vorhergehenden  Absätze  erläutert,   und  die 
Stelle  über  die  vier  größeren  paulinischen  Briefe 
('de  quibus  singulis  necesse  est  etc.')  einer  sorg- 
fältigen Erklärung  unterzogen.    Schließlich  weist 
Overbeck  anch  an  den  Worten  über  das  Lukas- 
evangelium  und  über   die  Weisheit  Salomonis 
nach,  daß  anch   durch   diese   das  Princip  der 
Apostolicität  keineswegs  erschüttert  werde.    Mit 
der  Stelle  über  das  Weisheitsbuch  kann  freilich 
auch  er  nichts  Rechtes  anfangen :    „so   wie  die 
Worte   über   die    Sapientia    Salomonis    lauten, 
sprengen  sie  alle   in  der  Geschichte  des  Kanon 

24 


370  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

bekannten  Formen".  Aber  auch  „die  Spuren 
noch  freierer  Ansichten  über  die  Apostolicität 
des  Kanons",  welche  nach  Harnack  in  den 
Worten  über  das  Lukasevangelium  liegen  sollen, 
erklärt  0 verbeck  „nicht  sehr  viel  ernster"  neh- 
men zu  können.  Er  bestreitet  hier  zunächst  die 
Conjectur  'itineris' :  —  der  Fragmentist  wolle  sa- 
gen, Paulus  habe  bei  seiner  zweiten  Verantwor- 
tung vor  Gericht  den  Arzt  Lukas  als  eine  Art 
Rechtskundigen  bei  sich  gehabt;  dann  erläutert 
er  das  von  Harnack  geltend  gemachte  'suo  no- 
mine ex  opinione'  sehr  einfach  aus  dem  Pro- 
loge des  Lukasevangeliums,  und  führt  aus,  daß 
auch  wenn  die  Harnacksche  Auslegung  der 
Worte  als  Abweisung  einer  Betheiligung  des 
Paulus  an  der  Abfassung  des  Evangeliums  rich- 
tig sei,  doch  hiermit  nur  eine  auch  später  ziem- 
lich allgemeine  Meinung  ausgesprochen  wäre. 

Abgesehen  von  den  noch  manches  Frage- 
zeichen lassenden  Ausführungen  über  die  pauli- 
nischen  Briefe  bin  ich  in  der  Lage,  den  Aus- 
führungen Overbecks  gegen  Harnack  beitreten 
zu  müssen.  Daß  er  sich  bei  der  dunklen  Stelle 
über  die  Sapientia  auf  ein  non  liquet  zurück- 
zieht, mag  als  ein  Mangel  erscheinen,  doch  ge- 
stehe ich  meinerseits,  nichts  Besseres  zu  wissen, 
als  etwa  die  Erneuerung  der  alten  Conjectur  'nt' 
statt  'et'.  Größere  Bedenken  bleiben  hinsieht- 
lieh  des  Lukasevangeliums  zurück.  Es  ist 
klar,  daß  der  Fragmentist,  wenn  er  gleich  die 
Annahme  einer  wenigstens  mittelbar  paulinischen 
Abkunft  des  Evangeliums  nicht  bestreitet,  sie 
doch  auch  nicht  theilt;  ihn  aber  sich  bei  der 
Annahme  bloßer  Apostelschülerschaft  des  Evan- 
gelisten beruhigen  zu  lassen,  hat  die  gerade 
von  0  verbeck  selbst  so  energisch  geltend  ge- 
machte Thatsache  wider  sich,  daß  sonst  überall 
die  Apostolicität  im  strengen  Sinne   das  einzige 


Overbeck,  Zur  Geschichte  des  Kanons.         371 

Kriterium  der  Kanonicität  ist.    Mir  scheint,  daß 
es  aus  dieser  Verlegenheit  nur  dann  einen  Aus- 
weg giebt,    wenn  man  die  eigentümliche  Stel- 
lung der  Evangelienschriften  im  Kanon  berück- 
sichtigt   Das  was  denselben  schon  längere  Zeit 
vor  Zusammenstellung   des    Epistelkanons  ihre 
kirchliche  Geltung  sicherte,   war   nicht  sowohl 
ihre  apostolische  Abfassung,   als   vielmehr   die 
höhere  Autorität  der  Xöyoi,  xvqkxxoL    Wie  schon 
Hegesippos  in  der  bekannten  Stelle  der  Autori- 
tät ?on  Gesetz    und  Propheten   die   des   xvqux; 
hinzufügt,  so  ist   es  dieselbe  Autorität,  welche 
auch  in  der  nächsten  Folgezeit   die  kanonische 
Geltung   des  trotz  vierfacher   Darstellung  xatd 
Mav&alov,  xatd  Mdqxov,  xatd  Aovxäv  und  xatd 
^Itodvvfp   in  sich  einheitlichen  evayyikiov  sicher 
stellte.    Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  daß  neben 
der  Autorität  des  Herrn  als  des  eigentlichen  Ur- 
hebers des  svayyiXiov   wenigstens   nach  dessen 
wesentlichem  Kern  die  persönliche  Beglaubigung 
der  einzelnen  Evangelisten   nur   eine  subsidiäre 
Geltung  beanspruchen    konnte.     So  durfte  man 
hier  wohl  auch  mit  der  Autorität  eines  Apostel- 
schülers vorlieb    nehmen,   während   die  kanoni- 
sche Geltung  der  Briefe  streng  an  das  Merkmal 
der  Apostolicität   gebunden   blieb.     Die  weiter 
hieran  sich  anschließende  Frage  nach  dem  Her- 
gange bei  der  Aussonderung  unsrer  vier  kano- 
nischen Evangelien  kann  ich  natürlich  in  diesem 
Zusammenhange    nicht  erledigen.      Doch    darf 
man  bedenken,   daß   die    einzige   Evangelien- 
schrift, welche  außer  unsern  vier  noch  in  Frage 
kommen  konnte,   das  svayy&Xtov  xaP  cEßQaiov$} 
zeitweise   und  in  gewissen  Kreisen  einer  ganz 
oder  doch  nahezu  kanonischen  Dignität  sich  er- 
freut hat,   von    dem    katholischen  Kanon   aber 
sicher  nicht  wegen  vermeintlicher  Häresie,  son- 

24* 


372  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 18. 

dein  lediglich  als  (angebliche)  hebräische  Ur- 
schrift des  in  einem  Kanon  der  griechisch  re- 
denden Kirche  allein  verwendbaren  griechischen 
Matthäus  ausgeschlossen  blieb.  Alle  übrigen  um 
die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  und  später  noch 
umlaufenden  Evangelienschriften  trugen  aber, 
mochten  sie  sich  mit  noch  so  stolzen  Namen 
scbmücken,  das  haeretische  Gepräge  zu  deutlich  an 
der  Stirn,  als  daß  von  ihrer  Aufnahme  die  Rede 
sein  konnte. 

Ich  scheide  von  dem  Overbeckschen  Buche 
mit  dem  aufrichtigen  Danke  für  vielfache  Be- 
lehrung, die  mir  dasselbe  gewährt  hat  Die 
äußere  Ausstattung  ist  gut,  doch  ist  es  mir  un 
angenehm  aufgefallen,  daß  in  den  Anmerkungen 
fast  durchweg  statt  b  ein  umgekehrtes  q  ge- 
druckt ist.  Druckfehler  habe  ich  außer  den  am 
Ende  verzeichneten  nur  wenige  bemerkt.  S.  3  Z.  10 
ist  „des  1.  Jahrhunderts"  statt  „des  2.  Jahr- 
hunderts" zu  lesen. 

Jena.  Lipsius. 

System  der  altsynagogalen  palästini- 
schen Theologie  aas  Targum,  Midrasch  and 
Talmud.  Von  Ferdinand  Weber.  Nach  des 
Verfassers  Tode  herausgegeben  von  Franz  De- 
litzsch und  Georg  Schnedermann.  Leipzig 
1880  Dörffling  u.  Franke.    XXXIV.   399  S.    8°. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  erfreuliche  Er- 
scheinung  zunächst  um  des  Verfassers  willen, 
welcher,  ein  evangelisch-lutherischer  Pfarrer  Mit- 
telfrankens  von  kirchlich  gläubiger  Gesinnung, 
nicht  gemeint  hat  die  letztere  in  Schmähung  des 
Judenthums,  sondern  durch  liebevolle  Versen- 
kung in  die  Erforschung  der  Eigentümlichkeit 
desselben  bethätigen  zu  sollen,  und  dabei  zu- 
gleich  an    die  gute  alte  Zeit   erinnert,   da  die 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    373 

lutherischen  Pfarrer  es  für  eine  Ehrensache  hiel- 
ten, mit  der  Festigkeit  in  ihrem  Glauben  zu- 
gleich auch  eine  wissenschaftliche  Solidität  zn 
verbinden.  Er  sollte  die  Früchte  seines  Fleißes, 
welchen  er  auf  den  oben  bezeichneten  Gegen- 
stand in  20jährigem  sorgsamen  Stadium  gewen- 
det hat,  wohl  reifen  sehen  aber  leider  nicht 
mehr  einbringen,  er  starb  vor  Beginn  des 
Druckes  dieses  Werkes  dahin  und  es  haben  die 
oben  genannten  Freunde  des  Verstorbenen  sich 
ein  Verdienst  dadurch  erworben,  daß  sie  diese 
schöne  Frucht  tiefdringender  Forschung  der  theo- 
logischen Welt  zugänglich  gemacht  haben.  Es 
ist  dies  Buch  der  erste  Versuch  aus  selbständi- 
ger Durchforschung  der  Quellen  ein  Gesammt- 
bild  der  palästinischen  Theologie  zu  gewinnen, 
welche  in  Targum,  Midrasch  und  Talmud  in 
tausend  zersplitterten  Einzelheiten  vorliegt.  Der 
Verfasser  hat  diese  gesammelt  aus  der  Aggada 
der  jüdischen  Schriftauslegungstradition,  wie  sie 
besonders  in  den  Werken  des  Midrasch  vorliegt, 
bisweilen  aber  auch  mit  der  Halacha  dem  reli- 
giösen corpus  iuris  der  Judep  compliciert  er- 
scheint. Die  gesammelten  Details  hat  der  Verf. 
sodann  gesichtet  und,  soweit  das  möglich  ist 
bei  einer  Theologie,  die  nie  zum  Abschluß  kam 
und  es  zn  keiner  eigentlichen  Dogmatik  brachte, 
hat  er  sie  in  ein  System  gebracht.  —  Insofern 
das  Wesen  dieser  Theologie  der  Nomismus  ist, 
hat  die  Darstellung  derselben  ihren  Ausgangs- 
punkt zu  nehmen  von  dem  Wirken  des  Esra, 
welcher  das  Gesetz  zum  ersten  Male  zu  der  das 
ganze  Israel  verpflichtenden  Norm  erhob.  Durch 
dieses  Prinzip  ward  das  Leben  Israels  nach 
einem. Buche  geregelt  und  es  konnte  sich  von 
da  ab  um  nichts  andres  als  um  Auslegung  und 
Anwendung  des  Inhaltes  dieses  Buchs   handeln, 


374  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

Daraus  folgte  Alles  andre.    Die   Herrschaft  im 
Volksleben  mußte,  sobald  die  Nation  dieser  Rich- 
tung zustimmte,   was   seit  Esra  geschah,     den 
Kennern   des   Gesetzes    zufallen.     Die   Geltung 
aller  andern  Autoritäten  war  nur  eine  Frage  der 
Zeit,  die  königliche  Macht  in  Israel  fiel  mit  Ein- 
tritt der  Römerherrschaft,    die   priesterliche    der 
Zadokiten  (Sadducäer)   mit  der  Zerstörung   des 
Tempels:  die  Kenner  der  Thora,   die,   wie   sich 
von  selbst  verstand,  zugleich  ihre  eifrigsten  Be- 
obachter waren:   die  Pharisäer   blieben  als  Sie- 
ger auf  dem  Platze.     Diese   Entwickelung    der 
Dinge  beschreibt  der  Verf.  in  reicher  stofflicher 
Ausführung  im  ersten  Gapitel  seines  Buchs,  wel- 
ches  von   der  geschichtlichen  Einpflanzung    der 
Nomokratie    in   das    neujttdische  Gemeinwesen 
handelt.     In    den   folgenden  Capiteln   giebt   er 
dann  eine  Darstellung   der  eigentlichen  nomisti- 
schen  Grundlehren,   gewissermaßen  einen  ersten 
Theil  der  Prolegomena  dieser  Dogmatik,  welche 
das  Materialprinzip  des  Nomismus  umfassen.    Er 
zeigt  wie  die  jüdische  Theologie  die  Thora  als 
Abbild    des   göttlichen  Wesens   und  darum  als 
ewig  bei  Gott  präexistent  faßt,   wie   sie  in  der 
Thora   die   einzige  Heilsoffenbarung    und    das 
einzige  Heilsgut  erblickt,  wie  dann  hieraus  als 
Folge    sich   ergiebt,   daß  auf  jüdischem  Stand- 
punkte Frömmigkeit  wesentlich   als   Liebe  zur 
Thora  erscheint,   welche  Liebe  sich   sowohl  als 
Studium  wie  als  praktische  Erfüllung  derselben 
zu  bethätigen  habe.    Aus   letzterer  Anschauung 
ergiebt  sich  weiter  als  nothwendige  Consequenz, 
daß,  da  man  keine  andere  Form  der  Frömmig- 
keit als  die  Gesetzlichkeit  kennt,  nun  auch  nach- 
gewiesen  wird,   daß   bereits   die  Frommen  der 
alten  Zeit  Thorastndium  und  Thorabeobacbtung 
betrieben.     Ebenso  mußte  das  nomistische  Prin- 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    37 5 

zip  allmählich  alle  andern  überlieferten  religiö- 
sen Formen  und  Frömmigkeitserweisungen  ver- 
drängen: so  besonders  den  Opferdienst,  der 
durch  vorschriftsmäßigen  Gebetsdienst  ersetzt 
werden  kann.  Eine  anderweite  Gonseqnenz  des 
Nomismus  ist,  daß  die  Frömmigkeit  vorzugs- 
weise Sache  des  Wissens  ist,  der  Ungebildete 
Amhaarez  gehört  nicht  zur  Gemeinde,  nur  der 
talmudisch  gebildete  ist  der  eigentlich  werthvolle 
Jude.  Daß  dieses  Wissen  die  gerechte  That  zur 
notwendigen  Folge  habe,  scheint  den  talmudi- 
schen Lehrern  eben  so  ausgemacht  zu  sein,  wie 
dem  Plato*),  daß  die  Tugend  lehrbar  sei:  eine 
Parallele,  die  der  Verf.  nicht  bringt,  welche  uns 
aber  in  der  That  das  Sachverhältniß  am  Besten 
klar  zu  machen  scheint.  Die  Rabbinen  meinten 
offenbar,  daß  jemand,  der  einmal  ein  Jude  sei, 
von  selbst  das  thun  werde,  was  er  als  gesetzlich 
erkannt  habe.  Aus  dem  nomistischen  Prinzip 
fließt  aber  noch  weiter  der  Grundsatz,  daß  Got- 
tes Gegenwart  in  Israel  mit  Studium  und  Uebung 
der  Thora  solidarisch  verknüpft  ist.  Sein  Wohl- 
gefallen bezieht  sich  nur  auf  das  gesetzliche 
Verdienst  des  Menschen,  sein  Mißfallen  auf 
Uebertretungen.  Israel,  welches  das  Gesetz  auf 
sich  genommen,  ist  dadurch  Gottes  Volk  ge- 
worden; in  diesem  Besitz  beruht  seine  Heilig- 
keit, denn  aus  dem  Besitz  folgt  ja,  wie  wir 
sehen,  die  Uebung  der  Gebote,  und  da  der  Be- 
sitz des  Gesetzes  in  die  uranfänglichen  Zeiten 
des  Volks  zurückgeht,  so  ist  diese  schon  den 
Erzvätern  inhärierende  Heiligkeit  gewissermaßen 
ein  hypothekarischer  Besitz  Israels  geworden. 
Die  Heidenwelt,  die  das  Gesetz  ablehnt,  kann 
daher  keine  Heiligkeit  erlangen,  weder  ihreVä- 

*)  Protagoras  352—357.  Meno  17  B  ff.   Gorgias  466. 


376  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

ter  noch  sie  selbst  haben  je  etwas  mit  dem  Ge- 
setze zu  schaffen  gehabt  Andrerseits  folgt  für 
Israel,  da.  die  Heiligkeit  auf  dem  Besitz  der 
Thora  beruht,  daß  es  auch  in  der  Verbannung 
seinen  character  indelebilis  nicht  verlieren  kann, 
denn  es  dient  ja  auch  hier  Gott,  obwohl  die 
vollendete  Gottesgegenwart  erst  in  dem  wieder- 
hergestellten heiligen  Lande  stattfinden  wird.  — 
Ein  zweiter  einleitender  Abschnitt  unsres  Buchs 
beschreibt  dann  das  Formalprinzip  des  Nomis- 
mus. Hier  stehen  nebeneinander  das  geschrie 
bene  Wort  und  die  mündliche  Ueberlieferung. 
An  jenes  schließt  sich  der  Schriftbeweis,  in  die- 
ser tritt  die  rabbinische  Autorität  hervor. 

Die  Bibel  gilt  als  Gottes  Werk,  sie  enthält 
Gottes  Rede,  wie  letztere  den  heiligen  Männern 
inspiriert  wurde  durch  den  heiligen  Geist.  Doch 
findet  innerhalb  der  heiligen  Schriften  eine  ge- 
wisse Abstufung  hinsichtlich  der  Dignität  statt 
Die  Thora  ist  die  Hauptoffenbarung,  welche  von 
den  Propheten  eigentlich  nur  angewendet  und 
geltend  gemacht  wird,  sie  fügen  nichts  Neues 
hinzu,  die  Thora  enthält  bereits  Alles.  Die 
Offenbarung  der  Propheten  ist  gewissermaßen 
nur  eine  secundäre;  dies  markiert  sieh  auch  in 
der  gottesdienstlichen  Werthschätzung,  die  eigent- 
liche Schriftvorlesung  erfolgt  aus  der  Thora, 
Haphtharen  sind  nur  Anhangsperikopen.  —  Im 
Allgemeinen  aber  haftet  den  heiligen  Schriften 
als  göttlichen  Ursprungs  eine  Art  objectiver 
Heiligkeit  an,  ihre  Berührung  „verunreinigt  die 
Hände".  —  Sie  sind  für  die  Lehre  normativ 
und  haben  einen  unendlich  reichen  Inhalt,  der 
durch  Deutung  erschlossen  werden  muß.  Letz- 
terer Umstand  schließt  die  Forderung  einer 
authentischen  Interpretation  in  sich,  der  norma 
normans  muß  eine   norma  normata  als  Ergän- 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    377 

rang  zur  Seite  treten.  Daher  genügt  die  bloße 
Schrift  nicht,  es  muß  die  Ueberlieferung,  die 
r»|b*3iD|rmn  hinzu  kommen.  Letztere  ward 
nach  der  Ansicht  einiger  dem  Mose  zugleich  mit 
dem  schriftlichen  Gesetz  von  Gott  selbst  über- 
geben. Indeß  ward  sie  nicht  immer  treu  be- 
wahrt, ihre  Reconstruction  war  aber  deshalb 
möglich,  weil  sie  aus  dem  geschriebenen  Gesetz 
immer  wieder  abgeleitet  werden  kann.  Mit  die- 
sem Geschäfte  befaßten  sich  Josua,  Samuel,  die 
Propheten,  die  große  Synagoge,  das  Synedrium, 
die  rabbinischen  Autoritäten  bis  zum  Abschluß 
des  Talmud.  Die  Lehrüberlieferung  selbst  zer- 
fällt in  2  Theile:  Halachoth  das  religiös  juristi- 
sche Herkommen,  die  religionsgesetzliohe  Obser- 
vanz, und  Haggadoth:  die  überlieferte,  für  die 
Gemeinde  gültige  Schriftauslegung.  Diese  Ueber- 
lieferungen  galten  neben  der  Schrift  als  Thora, 
die  älteste  Sammlung  derselben  in  der  Mischnah 
ist  Auslegung  der  Schrift,  die  spätere  in  der 
Gemara  ist  Auslegung  der  Mischnah  und  inso- 
fern auch  wieder  Auslegung  der  Schrift.  Was 
gültige  Halacha  ist,  wird  per  majora  durch  ein 
rite  berufenes  Collegium  von  Autoritäten  ent- 
schieden, die  Haggada  bewegt  sich  freier, 
üeberhaupt  ist  die  Ueberlieferung  entwicklungs- 
fähig, die  Schriftdeutung  kann  sich  im  Laufe 
der  Zeit  ändern,  die  Schrift  selbst  dagegen 
bleibt  etwas  Festes«  Im  Prinzip  steht  daher  die 
Schrift  höher,  doch  in  der  Praxis  gilt  eigentlich 
nicht  sie,  sondern  die  Ueberlieferung,  diese  muß 
man  daher  vorzugsweise  studieren  und  ihre 
üebertretung  erfordert  Bestrafung.  —  Es  fragt 
sich  nun:  auf  welche  Weise  von  den  Lehrern 
die  Schriftauslegung  zu  vollziehen  sei?  Darüber 
giebt  es  13  Regeln,  in  denen  die  Kunstgriffe  der 
Deutung  enthalten  sind.     Was  sich   auf  diesem 


378  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  12. 13. 

Wege  ans  der  Schrift  entwickeln  läßt,  bat  einen 
eigentlichen  Schriftbeweis  im  engern  Sinne. 
Aber  es  giebt  Mittel  noch  mehr  herauszubekom- 
men, über  Manches  giebt  die  Schrift  einen 
Wink  (töi)  oder  man  hat  in  ihr  dafür  eine 
Stütze  (ttrDHDtt).  Solche  können  liegen  in  den 
Accentzeichen,  Buchstabenverzierungen,  pnneta 
extraordinaria,  in  Vertauschung  von  Buchstaben, 
Umstell nng  derselben,  Berechnung  ihres  Zabl- 
werths,  im  Sinne  der  Partikeln,  in  der  Stellang 
der  Worte,  in  akrostichischer  Deutung  der 
Worte,  in  der  Verbindung  der  Verse,  Abschnitte 
u.  a.  m.  Damit  nun  aber  nicht  jeder  nach  sei- 
nem Belieben  aus  der  Schrift  mache  was  er 
wolle,  ist  die  Ausübung  dieses  Verfahrens  in 
die  Hände  eines  Standes  der  Weisen  gelegt, 
welchen  Mose  begründete  und  mit  der  geistli- 
chen Leitung  der  Gemeinde  betrauete.  Dieser 
Stand  ist  seitdem  nicht  wieder  erloschen,  denn 
in  den  Gesetzesschulen,  die  schon  Mose  ein- 
richtete, wurden  Schüler  gezogen  trnfcbn  von 
den  Weisen  crösn,  an  deren  Spitze  das  Schul- 
haupt  (pxi  unser  Lehrer)  stand.  Das  Ansehen 
dieser  Stufen  wurde  durch  ein  sehr  pretiöses 
Ceremoniell  aufrecht  erhalten.  Die  durch  Ordi- 
nation (ro^ED)  in  den  Stand  der  Lehrer  erhobe- 
nen haben  Antheil  an  der  gesetzgebenden  Ge- 
walt in  der  Feststellung  der  Halacha,  an  der 
Gerichtsbarkeit  des  großen  Sanhedrin  zn  Jeru- 
salem, oder  des  kleinen,  der  in  jeder  Stadt  er- 
richtet werden  konnte,  oder  des  sogenannten 
Dreimännergerichts,  das  jede  beliebige  Gemeinde 
haben  durfte  —  und  die  Gemeinde  fügte  sich 
ihren  durch  keinerlei  materielle  Gewalt  unter- 
stützten Aussprüchen;  endlich  hatten  sie  das 
Recht  der  Lehre,  d.h.  der  Mittheilung  derUeber- 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    S79 

lieferung    oder    der    casuistischen    Gesetzeser- 
läuterung. — 

Nachdem  so  in  einem  grundlegenden  Tbeile 
die  Prinzipien  zur  Darstellung  gekommen  sind, 
wendet  sich  der  Verf.  in  einem  zweiten  Theile 
zur  Behandlang  der  einzelnen  Lehren.  Die  erste 
Abtheilnng  desselben  betrifft  den  theologischen 
Lehrkreis,  ans  welchem  zuerst  der  jüdische 
Gottesbegriff  zur  Sprache  kommt.  Das  Grund- 
bekenntniß  des  Judenthums  gegenüber  dem  heid- 
nischen Polytheismus,  sowie  auch  dem  christli- 
chen Trinitätsglauben  gegenüber  ist  das  der 
Einheit  Gottes ;  die  Doppeltheit  der  Gottesnamen 
Elohim  und  Jahve  wird  demnach  auf  zwei  Ver- 
fahrungsweisen  desselben  Gottes  bezogen,  der 
bald  Recht,  bald  Gnade  walten  läßt.  Sonst 
zeigt  die  ältere  Phase  des  Judenthums  ein  Stre- 
ben nach  möglichst  transcendenter  Fassung  des 
Gottesbegriffs  und  Beseitigung  aller  Antbropo- 
morphismen;  die  spätere  Entwicklung,  welche 
nicht  bei  der  abstracten  Leerheit  des  islami- 
schen Gottesbegriffs  sieb  beruhigen  konnte,  son- 
dern einen  lebendigen  nationalen  Gott  brauchte, 
wie  ihn  die  Väter  gehabt  hatten,  kam  dazu  Gott 
zn  judaisieren  und  ihn  in  dasselbe  Verhältniß 
zur  Thora  zu  setzen,  in  welchem  man  selber 
stand.  Er  beschäftigte  sich  danach  mit  der 
Thora  vor  Erschaffung  der  Welt,  schuf  die  letz- 
tere blos  um  ihretwillen  und  beobachtet  sie  auch 
fortwährend.  Alle  jüdischen  Freuden  und  Schmer- 
zen empfindet  er  mit.  Aus  diesem  letzteren  Ge- 
sichtspunkte finden  zahlreiche  Scandalosa  der 
Eisenmenger,  Schudt  u.  a.  ihre  historische  Er- 
klärung. Der  phantasie volleren  Auffassung  des 
göttlichen  Wesens  entspricht  es  dann  auch,  daß 
die  Umgebung  desselben :  seine  Wohnung,  der 
Thron  seiner  Herrlichkeit   und    der  Glanz  der 


380  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  12. 13. 

letzteren  selbst  mit  reicheren  und  bunteren  Far- 
ben ausgemalt  werden.  Die  Engelwelt  zeigt 
dabei  so  recht  den  emanatistischen  Zug  der  se- 
mitischen Mythologien,  zahlreiche  Engel  werden 
von  Gott  ad  hoc  gebildet  und  vergehen  wieder, 
entströmen  vorübergehend  dem  Glänze  der  gött- 
lichen Herrlichkeit,  andre  als  Engel  des  Dienstes 
haben  aber  eine  bleibende  Function.  Daß  sie  alle 
blos  hebräisch  verstehen,  erschwert  zwar  den 
allgemeineren  Verkehr  mit  ihnen,  nützt  aber  den 
Weisen  Israels  sehr.  Unter  den  Dienstengeln  ist 
Hetatron  der  nächste  Vertraute  Gottes,  eine  Art 
himmlischer  Großvezier,  der  besonders  die  Ge- 
schäfte Gottes  mit  Israel  zu  besorgen  hat.  Von 
den  mittlerischen  Hypostasen  des  Memra  und 
der  Schechina  gehört  die  erstere  nur  den  Tar- 
gumim  an,  die  letztere  •  ist  bei  den  Targumim 
nur  ein  Symbol  der  Gnadengegenwart  Gottes 
bei  seinem  Volke,  im  späteren  Judenthume  aber 
die  alleinige  Vermittlerin  der  göttlichen  Wirk- 
samkeit in  der  Welt. 

Der  heilige  Geist  ist  im  Judenthum  der  be- 
sondere Vermittler  der  göttlichen  Wirkungen  auf 
den  menschlichen  Geist.  Die  Auffassung  schwankt 
zwischen  Personifikation  und  Betrachtung  des 
Geistes  als  Kraft:  als  letzterer  kann  er  auch 
durch  Handauflegung  übertragen  werden  oder 
als  Gottesstimme  (Bath  kol)  sich  vernehmbar 
machen. 

Eine  2te  Abtheilung  behandelt  dann  den  kos- 
inologischen  und  anthropologischen  Lehrkreis.  — 

Die  Weltschöpfung  hat  die  Verwirklichung 
der  Thora  zum  Zweck,  denn  letztere  setzt  das 
Vorhandensein  einer  Menschheit  und  diese  wie- 
der einen  Schauplatz  voraus,  auf  dem  sie  sich 
bewegen  kann.  Darum  verdankt  die  Welt  der 
Thora  ihr  Dasein,  in  welcher  auch  der  Weltplan 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    381 

enthalten  ist.  Freilich  ist  der  engere  Zweck 
dabei  die  Schöpfung  Israels,  auf  welche  es 
eigentlich  allein  ankommt.  Im  späteren  Juden- 
tum erscheint  die  Materie  bei  der  Schöpfung 
als  eine  Gott  gegenüber  in  gewissen  Beziehun- 
gen selbständige  Macht,  die  der  Bändigung,  Ver- 
besserung und  einer  gewissen  contractlichen 
Verpflichtung  unterworfen  wird.  Ebenso  ist 
eigentümlich  die  Scheidung  der  2  Welten,  der 
oberen  und  der  unteren:  wodurch  ein  gewisser 
Dualismus  in  das  Schöpfungswerk  kommt.  Die 
Phantasie  verfolgt  dann  die  Ausgestaltung  der 
ersteren  bis  zu  7  Sphären.  —  Die  Erhaltung 
der  Welt  vollzieht  sich  dadurch,  daß  jedes  Ge- 
schöpf im  Organismus  derselben  seine  Bestim- 
mung erfüllt,  doch  hat  sich  Gott  vorbehalten, 
unter  Umständen  besondre  Kräfte  oder  Engel 
des  Segnens  oder  des  Verderbens  herabzusenden. 
Den  Grund  der  Welterhaltung  bildet  Israel,  wie 
tun  seinetwillen  ja  auch  die  Schöpfung  erfolgte. 

Den  Menschen  läßt  die  jüdische  Theologie 
nicht  nach  dem  Bilde  Gottes,  sondern  nach  dem 
der  Engel  geschaffen  werden. 

Dem  Leibe  des  Menschen,  der  mit  613  ver- 
schiedenen Theilen  behufs  Erfüllung  der  613  Ge- 
bote der  Tbora  ausgestattet  war,  wurde  der  böse 
Trieb  (snn  nar)  eingepflanzt^  der  zunächst  nichts 
anderes  als  der  sinnliche  Trieb  ist.  Böse  wird  er 
darum  genannt,  weil  alle  Sinnlichkeit  etwas 
blind  Wirkendes  ist.  Die  Seele  wird  als  etwas 
Besonderes  aus  dem  himmlischen  Vorrathshause 
Herbeigeholtes  hitizngethan.  Nach  der  Schöpfung 
befand  sich  der  Mensch  6  Stunden  lang  im  un- 
gestörten Frieden  des  Urstandes:  denn  der 
vorhandene  böse  Trieb  ruhte  noch,  war  gewisser- 
maßen noch  latent.  In  diesem  Urständ«  hatte 
er  die   Vorzüge   der   Weisheit    und   Schönheit, 


382  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

außerdem  war  ihm   zum   Gegengewicht  gegen 
den  bösen  Trieb   der  gute   (mo  nar)   gegeben, 
durch  welchen  er  jenen  überwinden  konnte  und 
sollte.    Es  kam  aber  anders,  der  in  der  Schlange 
wirksame  Satan  verführte  zuerst  die  Eva  durch 
Steigerung   des   bösen  Triebes   zur  Beiwohnung 
mit  sich,   Eva  mischte   dann   dem  Adam  Wein, 
so  daß  ihn  der  böse  Trieb  antrieb,  die  verbotene 
Frucht  zu  essen.    Die  weiteren  Folgen  werden 
sehr  verschiedenartig   beschrieben,   die    Haupt- 
sache  ist  jedenfalls   die    seitdem    eingetretene 
Steigerung  der  Uebermaoht   des  bösen  Triebes. 
In  den  gegenwärtigen  Menschen  ist  die  von  Gott 
eingeschaffne   Seele  prinzipiell   rein,    denn  der 
böse  Trieb   gehört   dem   unreinen  Leibe  an,  es 
bleibt  daher  das  Verhältniß  der  Seele  zum  Leibe 
ein  äußerliches:  doch  kann  jene  die  Thatendes 
Leibes   durch   ihre  Erkenntniß  beeinflussen.   — 
Auch  nach  dem  Falle  hat  der  Mensch  die  Wahl- 
freiheit, er    kann   den   guten  Trieb   dem  bösen 
vorziehen,    obwohl   dies   sehr   schwer  ist     Die 
meisten  Menschen  bringen  es  nicht  fertig,  daher 
kann    man   von  allgemeiner  Sündhaftigkeit  der 
Menschheit  reden,  denn  in  der  ordinären  Wirk- 
lichkeit begegnen  uns  keine  Beispiele  von  Sttnd- 
losigkeit.     Die  Naturanlage  des   bösen  Triebs 
bringt  allerlei Thatsünden  zu  Wege:  innere  und 
äußere,  wissentliche   und  unwissentliche,  kleine 
und  große.   Wer  nur  wenige  und  kleine  Sünden 
begeht  ist  gerecht  (p*nfc)   und   fromm   (toti), 
wer  viele   und  schwere  begeht  ist  ein  Frevler 
awn).  —    Die   Schwere  der   Sünde   wird  vom 
göttlichen  Gericht  abgeschätzt,   daraus   entsteht 
der  Begriff  der  Schuld.   In  Anspruch  genommen 
wird  der  Mensch   eigentlich   nur  für   die  man- 
gelnde Gegenwehr  gegen  den  bösen  Trieb,  denn 
Air  diesen  selbst  kann   er   nicht.     Je  nach  der 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    383 

Größe    der    in    jener    Unterlassung    liegenden 
Schuld   trifft  ihn    zur   Strafe   ein  Uebel.    Hier 
neigt  die  Auffassung,   wie  auch  sehon  in  den 
Zeiten  des  A.  TVs,  dazu  Schuld  and  Strafleiden 
als  strenge   Aequivalente   zu  fassen:    für  jede 
Krankheit  eine  ganz  bestimmte  Sünde  als  Ur- 
sache vorauszusetzen.    Der  Tod  kam  seit  Adams 
Sünde  in  die  Welt,   hat  indessen  über  den  ein- 
zelnen nur  Macht  infolge  der  eignen  Versündi- 
gung desselben:  daher  ganz  Sündlose  ohne  den 
Tod  zu  sehmecken  in   das   Paradies   eingehen. 
Außerdem   ist   aber   der  Mensch    wegen    seiner 
Sünde  auch  der  Macht  der  Dämonen,  der  Zau- 
berei, des  bösen  Blicks  u.  dgl.  preisgegeben.  — 
Die  3te  Abtheilung,  den  soteriologischen  Lehr* 
kreis  betreffend,   beschäftigt  sich   zunächst  mit 
Gottes  Heilsrathschluß.    Derselbe  beruht  darauf, 
daß  die  Gerechtigkeit  in  Gott  durch  die  Barm- 
herzigkeit  temperiert  ist.    Dieser  Umstand  be- 
stimmt ihn,  dem  sündigen  Menschen  einen  Weg 
der  Wiederherstellung  offen  zu  halten.    Dies  ist 
der  Weg   der  Buße  (nmt'n),   der  Demüthigung 
vor  Gott,  an  welche  sich  als  zweites  Heilsmittel 
das  Studium  und  die  Beobachtung  des  Gesetzes 
anschließt.     Diesen   Weg   haben   die  Israeliten 
beschritten,  welche   das  Gesetz  am  Sinai  über 
sich  nahmen:  durch  diese  Erklärung  ward  eigent- 
lich der  Zustand  der   Sündlosigkeit  für  Israel 
wieder  hergestellt.     Indessen  der  Exod.  32  be- 
richtete Abfall  zum  Götzendienst  war  gewisser- 
maßen ein  zweiter  Sündenfall  und  zwar  ein  spe- 
ciell   israelitischer.     Der  böse   Trieb   kam    in 
Israel  wieder   zur   Herrschaft.    Es   kommt  nun 
darauf  an,  den  Stand  der  sittlichen  Reinheit  wie- 
der zu  erwerben.    Diese  Gerechtigkeit  vor  Gott 
wird  erlangt  durch  Verdienst  (trot).     Die  mar 
schließt  in  sich   die  Gesetzesgerechtigkeit   und 


384  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

zugleich  einen  Lohnansprncb.  Sie  kommt  zu 
Stande  durch  Erfüllung  der  Vorschriften  (rms&); 
hat  ein  Mensch  diese  alle  erfüllt,  so  ist  er  p*rs. 
Solche  waren  z.  B.  die  Erzväter.  Man  kann  das 
aber  selbst  gar  nicht  wissen,  ob  man  zn  diesen 
„Gerechten"  gehört,  denn  die  Rechnung  wird 
von  Gott  gemacht,  dessen  Buchführung  wir  nicht 
übersehen.  Er  regelt  das  Conto  eines  jeden 
Menschen  täglich,  abschließend  aber  am  Ende 
seines  Lebens:  da  wird  ihm  gewissermaßen  die 
göttliche  Generalrechnung  vorgelesen.  Vorher 
kann  kein  Mensch  genau  wissen,  wie  es  mit 
ihm  steht.  —  Außer  der  Erfüllung  der  bestimm- 
ten Vorschriften  ist  aber  auch  die  Verrichtung 
guter  Werke  ein  Heilsmittel  für  den  Menschen, 
wie  Almosengeben  und  andre  Liebeswerke,  wes- 
halb auch  über  diese  Buch  geführt  wird.  Bei 
dieser  verwickelten  Methode  giebt  es  natürlich 
sehr  viele  Stufen  der  Gerechtigkeit  und  der  Un- 
gerechtigkeit. Es  giebt  solche,  die  vorwiegend 
Gutes,  solche,  die  vorwiegend  Böses  thun,  zwi- 
schen ihnen  viele,  die  mit  guten  und  bösen  Tha- 
ten  abwechseln  und  auch  dieses  wieder  in  sehr 
verschiedenen  Verhältnissen,  auch  ist  die  Quali- 
tät der  guten  und  bösen  Werke  im  Einzelnen 
eine  sehr  ungleiche  —  kurz  es  ist  offenbar  eine 
Sache,  die  Gott  viel  Mühe  macht,  immer  eine 
reinliche  Uebersicht  zu  haben.  Eine  sehr  an- 
genehme Aushülfe  für  solche,  die  sich  eines 
starken  Deficits  an  guten  Werken  bewußt  sind, 
bietet  die  stellvertretende  Gerechtigkeit  der  Vä- 
ter; an  dieser  kann  man  Antheil  haben,  wenn 
man  seinen  israelitischen  Stammbaum  nachweist; 
ebenso  hilft  die  Gerechtigkeit  lebender  Heiliger 
dem  Zeitgenossen.  —  Wer  aber  eigne  Werke 
aufweisen  kann,  hat  Anspruch  auf  Lohn,  letzte- 
rer regelt  sich  nach  Qualität  der  Leistung,  frei- 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    385 

lieh  hilft   dabei   die  nachsichtige   Beurtheilung 
Gottes  mit     Der  Lohn  ist  sowohl  irdisch  als 
himmlisch,  gegenwärtig  als  zukünftig;   er  wird 
nicht  nnr  dem  Einzelnen  selbst,  sondern  nm  sei- 
netwillen auch  dem  ganzen  Volke  zu  Theil.  So 
waren   alle  Siege   oder  sonstige  glückliche  Er- 
eignisse in  Israel  Folgen  seiner  Verdienste.   — 
Die  Versöhnung   wird  herbeigeführt  durch  Be- 
sänftigung  des   zürnenden  Gottes  in   der  Buße, 
der  Mensch    entschließt  sich  von  der  Gesetzes- 
übertretung abzulassen  und  sich  der  Gesetzeser- 
ftillung  zuzuwenden.     Es   erfolgt    zuerst    •■rm 
Sttndenbekenntniß,  das  auch  innerlich  geschehen 
kann,  damit  verbindet  man  Fasten  und  Casteiung. 
Bei  Unterlassungen  ist  die  Buße  hinreichend  zar 
Versöhnung,  bei  Uebertretungen  schiebt  sie  die 
Strafe  bis  zum  Versöhnungstage  auf.    Der  letz- 
tere hebt  für  alle  gewöhnliche  Sünden  den  gött- 
lichen Strafbeschluß  für  das  bevorstehende  Jahr 
auf;  indessen  ist  damit  noch  keine  völlige  Sühne 
geschaffen,  es  müssen  noch  Leiden   hinzutreten, 
bei  den   schwersten  Sünden  ist    der  Tod   des 
Sünders  nöthig.     Auch  hier   aber  kann  fremde 
Sühne  stellvertretend   eintreten,    auch    sühnen 
gate  Werke  und  Thorastudium   und  das  Selbst- 
opfer des  Märtyrers.    Bei  alledem  giebt  es  aber 
auch  hier   keine  absolute  Sicherheit,   ob   man 
wirklich  vollkommen  Versöhnung  erlangt  habe.  — 
Die   4te  Abtheilung  endlich  beschäftigt  sich 
mit  dem  eschatologischen  Lehrkreis.     Der  Tod 
ist  für   den  Frevler  Strafvollzug,  für   den   Ger 
rechten  freilich  auch  der  Sold  früherer  Sünden, 
indessen  in  milderer  Form  als  np^u»  Kuß  Got- 
tes eintretend.    Im  Tode  geht  die  Seele  wieder 
ans  dem  Leibe,  doch  nur  zögernd,  die  der  Ge- 
rechten geht  hin  zu  Gott,  die  der  Gottlosen  zum 
Scheol.     Die  Anschauungen   vom  Zustand  nach 

25 


386  Gott.  gel.  Abz.  1881.  Stück  12.  IS. 

dem  Tode  sind  sehr  verschieden:  es  ist  nicht 
recht  klar,  ob  Seheol  und  Gehinnom  za  unter* 
scheiden  sind,  ob  Gan  Eden  der  einzige  Aufent- 
halt der  Gerechten-  ist  oder  ob  sie  einen  Zwi- 
schenzastand  durchmachen.  Nach  einigen.  Stel- 
len kann  man  aus  dem  Gehinnom  durch  Buße 
zuletzt  in  den  G&n  Eden  gelangen,  oder  aneh 
Abraham  holt  die  Büßer  durch  sein  Verdienst 
heraas.  — 

Die  Seligen  im  Gan  Eden  haben  auch  Ab- 
stufungen ihrer  Paradiesesfreaden,  die  zum  Theil 
sehr  sinnlich  geschildert  werden.  —  Die  Vollenr 
dang  des  ganzen  Israel  wird  durch  den  Messias 
herbeigeführt,  dessen  Kommen  durch  Buße  und 
Gesetzeserfüllung  beschleunigt  wird.  Man  hat 
seine  Ankunft  theila  durch  apokalyptische  Rech- 
nung, theils  durch  gewisse  Anzeichen  (die 
Wehen  des  Messias)  für  die  Hoffenden  bestimm- 
bar zu  machen  gesucht  Sein  Wegbereiter  wird 
der  Prophet  Elia  sein:  er  stellt  Israel  äußerlich 
als  Volk  und  innerlich  als  Gottes  Knecht  her. 
Der  Messias  wird,  obwohl  präexistent,  doch  nie 
als  göttliche  Hypostase  gedacht.  Er  ist  ein 
davidischer  Sproß,  wie  alle  andern  Davididen 
und  wird  stets  nur  als  irdischer  König  gedacht. 
Seine  Ankunft  wird  anfangs  verborgen  sein,  in 
der  Stille  wird  er  für  sein  Werk  reif,  er  übt 
sich  in  der  Beobachtung  des  Gesetzes,  wenn  er 
hervortritt  wird  er  zu  leiden  haben,  doch  zu- 
letzt Israel  befreien  (bau)  wie  einst  Mose.  Dann 
wird  er  das  Reich  aufrichten,  im  Kampfe  gegen 
die  Abtrünnigen  sein  Leben  wagen  und  daa  Ge- 
setz in  Israel  erneuern.  Um  mit  Jesaj.  53  zu- 
rechtzukommen, erfand  man  noch  einen  zweiten 
leidenden  Messias,  der  durch  seinen  Tod  Israels 
Sünden  söhnt  und  als  Sohn  Joseph's  bezeichnet 
wird.  —  Der  messianisehe  König  aber  zertrttm- 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    3R7 

mert  die  Weltmacht  des  vierten  oder  letzten 
Weltreichs  mit  seiner  Hauptstadt  Rom,  er  Bam- 
melt die  Zerstreuten  Israels,  steigt  auch  in  den 
Scheol,  die  gestorbenen  Israeliten  herauszufüh- 
ren, es  erfolgt  die  Auferstehung  der  Todten, 
die  neue  Weltzeit  (ann  öbu)  tritt  ein.  Die- 
sem messianischen  Zeitalter  wird  eine  verschie- 
dene Dauer  bestimmt,  doch  stimmen  alle  An- 
sichten darin  überein,  daß  sein  Umfang  eben 
ein  begrenzter  sein  werde.  Während  desselben 
wird  Jerusalem  wieder  gebaut  und  herrlich  er- 
neuert, namentlich  die  Pracht  des  Tempels  wird 
alles  übertreffen.  Der  Tempeldienst  wird  wie- 
der hergestellt  und  die  Thora  zur  unbedingten 
Geltung  erhoben.  Infolge  dessen  herrscht  in 
der  Gemeinde  Israels  Gerechtigkeit,  daher  sich 
dann  der  Segen  Gottes  über  Volk  und  Land  un- 
gehemmt in  seiner  ganzen  Fülle  ergießen  kann. 
Ist  die  Herrschaft  des  Messias  über  Israel  fest- 
begründet, so  kann  er  dazu  schreiten,  seinen 
weiteren  Beruf  als  Weltherrscher  zu  erfüllen; 
dies  wird  aber  nicht  so  geschehen,  daß  die 
Weltvölker  einfach  zwangsweise  judaisiert  wür- 
den, vielmehr  werden  die  letzteren  bewogen 
durch  die  Vorzüglichkeit  Israels  den  Anschluß 
an  dasselbe  suchen.  Gleichwohl  ist  man  nicht 
geneigt,  Proselyten  anzunehmen,  nur  eine  kleine 
Schaar  Heiden  wird  wirklich  in  das  Judenthum 
übergehen,  die  übrigen  werden  sich  begnügen 
müssen,  dem  Volke  Israel  reiche  Tribute  und 
Geschenke  darzubringen. 

Das  Ende  dieser  messianischen  Weltherr- 
schaft wird  durch  eine  mächtige  Erhebung  der 
Völker  herbeigeführt,  das  Zeitalter  Gog  und 
Magog  beginnt.  Dieser  gewaltige  Kampf  hat 
das  Ende  der  Welt  zur  Folge:  Gott  schreitet 
selbst  ein,  es   beginnt   das   Weltgericht.     Die 

25* 


388  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  12. 13. 

Todten,  doch  blos  die  aas  Israel,  erstehen  auf, 
die  überlebenden  Heiden  werden  in  das  Ge- 
hinnom  gesendet,  dessen  Qualen  verschieden 
beschrieben  werden.  Israel  wird  wegen  seiner 
Gesetzesbefolgung  gerecht  gesprochen.  Darauf 
erfolgt  Schöpfung  eines  neuen  Himmels  und 
einer  neuen  Erde,  deren  Lebensformen  bald  mehr 
spirit ualistisch,  bald  mehr  sinnlich  aufgefaßt 
werden.  Die  Seligkeit  der  Gerechten  hat  ver- 
schiedene Stufen,  alle  aber  stehen  in  Gemein- 
schaft mit  Gott,  der  ihren  Beigen  anführt.  — 

Wir  haben  den  Rahmen  des  Systems  vorge- 
führt, die  solide  Ausfüllung  desselben  mit  rei- 
chen Stoffmassen  bei  Seite  lassend,  aber  wir 
glaubten  grade  dadurch,  daß  wir  nur  diese  Um- 
risse nachzeichneten,  dem  Leser  einen  Eindruck 
davon  zu  geben,  auf  welch  gediegnem  Unterbau 
ein  Ganzes  ruhen  muß,  das  eine  solche  Ge- 
schlossenheit und  Gliederung  seiner  Tbeile  zeigt. 
Uns  ist  bei  der  Durcharbeitung  desselben  anfs 
Neue  klar  geworden,  wozu  uns  auch  die  eigne 
Beschäftigung  mit  den  Quellen  des  Judenthums 
geführt  hat,  daß  so  scharf  auch  der  prinzipielle 
Gegensatz  des  Christenthums  gegen  das  Juden- 
thum  ist  und  so  zahlreich  infolge  dessen  auch 
die  Lehrabweichungen  im  Einzelnen  sein  müs- 
sen —  doch  die  historische  Entwicke- 
ln g  des  Christenthums  zahlreiche  jüdische 
Stoffe  in  sich  aufgenommen  fyrt,  welche  bis  auf 
den  heutigen  Tag  nachwirken.  Wir  können 
darum  den  Ausdruck  des  Verfassers  (Einl.  p. 
XXXI),  daß  denen  alles  Verständniß  für  den 
Gegensatz  beider  Religionen  abgehe,  „welche 
meinen,  die  Lehrweise  Jesu  und  der  Apostel  in 
ihren  Grundzügen  aus  Talmud  und  Midrasch  ab- 
leiten zu  könnena  —  nicht  für  sehr  glücklich 
gewählt  halten.   Denn  grade  die  „Lehr  weise" 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    389 


|  Jesu  und  der  Apostel,  namentlich  des  Paulus, 
hat  doch  mit  den  Formen  des  Midrasch  außer- 
ordentlich viel  Verwandtes,  wie  dies  ja  doch 
wohl  auch  bei  ihrem  Hervorgehen  »us  dem  jü- 
dischen Volke  nur  natürlich  ist.  Was  kann  es 
z.  B.,  um  nur  bei  dem  vom  Verf.  selbst  berühr- 
ten Stoffe  stehen  zu  bleiben,  Uebereinstimmende- 
res  geben  als  die  Art,  wie  Paulus  den  Messias 
den  durch  Adams  Sündenfall  allgemein  gewordnen 
Tod  aufheben  läßt  und  die  Allgemeinheit  des 
letzteren  dadurch  erklärt,  daß  alle  Menschen 
die  Uebertretung  Adams  gewissermaßen  wieder- 
holt hätten  (Rom.  5,  14)  —  was  kann  es  dem 
Aehnlicheres  geben  als  die  vom  Verf.  p.  238 — 
240  dargestellten  jüdischen  Lehren  ?  —  Ist  fer- 
ner nicht  die  Eschatologie  der  Apokalypse  fast 
bis  auf  den  Buchstaben  die  des  alten  Juden- 
tums, wie  sie  der  Verf.  in  den  §§.  81—90 
darstellt?  Ist  die  Lehre  vom  Gerieht,  das  den 
Einzelnen  nach  seinem  Tode  trifft  p.  273  nicht 
genau  dasselbe,  was  wir  Ebr.  9,  27  lesen? 
Sind  nicht  die  Vorstellungen  vom  Gehinnom  (p. 
328  ff.  373)  dieselben,  welche  uns  Lucae  16, 23  ff. 
begegnen  ?  *)  Dies  nur  einzelne  flüchtige  Anden- 
tungen, zu  denen  der  Stoff  des  Buchs  selbst  die 
Handhabe  bot,  die  Vervollständigung  des  Bil- 
des würde  selbst  ein  Buch  erfordern.  —  Eine 
bemerkenswerthere  Erscheinung  als  diese  ist  es 
aber,  daß  das  historische  Christenthum,  sobald 
und  sooft  es  Kirchenthum  wird  und  so  die 
Formen  des  Nomismus  annimmt,  wie  durch 
eine  Art   Atavismus   eine  Rückbildung  in  das 

*)  Dem  Umstände,  daß  der  Messias  in  den  Scheol 
steigt,  am  die  dortigen  Israeliten  zur  Theilnahme  an 
seinem  Reiche  heraufzufuhren  (vgl.  p.  351),  verdanken 
wir  das  xaieX&dvTa  tk  ?«  xanitaia  descendit  ad  inferna 
des  symbolum  apostolicum. 


390  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

Judenthum  zeigt.  Diese  Erscheinung  wiederholt 
sich  zu  den  verschiedensten  Zeiten  der  kirchli- 
chen Entwickelung.  So  ist  die  dogmatisierte 
Inspirationslehre  eine  Arbeit  der  Synagoge  (vgl. 
p.  78 — 81),  deren  Folgesatz,  die  alleinige  norma- 
tive Autorität  der  heiligen  Schrift,  wir  im  Tal- 
mud gerade  so  formuliert  finden  wie  in  der  Con- 
cordienformel  (vgl.  p.  83  unsres  Buchs  mit  F. 
C.  572).  Die  damit  sehr  wohl  sich  vertragende 
Anschauung,  daß  die  Schrift  norma  normans  sei, 
der  eine  norma  normata  als  Ergänzung  zur  Seite 
gehen  müsse,  ist  zunächst  eine  altjüdische,  welche 
Deutung  des  Gesetzes  durch  die  Weisen  ver- 
langt (vgl.  p.  86  ff.).  Für  den  authentisch  inter- 
pretierenden Sanhedrin  dürfte  es  wohl  nicht 
schwer  sein,  das  christliche  Seitenstück  der  öku- 
menischen Synoden  und  Goncilien  ausfindig  zu 
machen.  Und  wie  die  jüdischen  Interpreten  aus 
der  Ueberlieferung  (nbap)  schöpfen  (vgl.  p.  89) 
und  wie  als  geltendes  Gesetz  (nsbin)  von  ihnen 
dasjenige  festgestellt  wird,  was  1)  allgemein 
seit  unvordenklichen  Zeiten  als  in  Geltung  stehend 
anerkannt  ist  und  2)  was  sich  auf  eine  legitime 
Autorität  zurückführen  läßt:  so  finden  wir,  daß 
ganz  ebenso  die  römische  Kirche  aus  der  Tra- 
dition schöpft  und  daß  als  solche  zu  gelten  hat 
quod  semper  quod  ubique  quod  ab  omnibus  ere- 
ditmn  est.  —  Und  wenn  die  Schrift  interpretiert 
wird  durch  die  Mischnah,  die  Mischnah  aber 
durch  die  Gemara:  so  wird  in  der  lutherischen 
Kirche  die  Schrift  durch  die  augsburgisehe  Con- 
fession, diese  aber  durch  die  Goncordienformel 
ausgelegt,  was  also  mutatis  mutandis  auf  Eins 
herauskommt.  Auch  in  andern  Lehrstücken  fin- 
den sich  manche  Aehnlichkeiten.  Die  jüdische 
Lehre,  daß  die  Buße  eine  verdienstliche  Leistung 
sei  (p.  252.  300),  ist  bekanntlich  von  der  römi- 


Weber,  System  der  altsyaagog.  palästin.  Theologie.    391 

sehen  Kirche  wiederholt  worden.  Aach  die  3 
Stücke  derselben:  die  contritio  cordis  confessio 
oris  und  satisfactio  opens  finden  wir  bereits  im 
Judenthum  (vgl.  p.  303-305). 

Ganz  und  gar  das  Vorbild  der  katholischen 
Gerechtigkeitslehre  finden  wir  im  Judenthum. 
Die  Gerechtigkeit  setzt  sich  zusammen  aus  einer 
Summe  einzelner  Handlungen,  über  die  Gott 
Bach  fuhrt,  daraus  geht  für  den  einzelnen  in 
Bezug  auf  seinen  Stand  im  göttlichen  Urtbeil 
eine  völlige  Unsicherheit  hervor  (vgl.  p.  273. 
320  f.).  Ebenso  lehrt  die  römische  Kirche.  Bei 
ihr  ist  die  dem  Menschen  inhärierende  Gerech- 
tigkeit die  Bedingung  der  Seligkeit,  der  Ein- 
zelne kann  aber  niemals  wissen,  ob  er  genug 
von  derselben  besitzt  Ferner,  wenn  das  eigne 
Thun  durch  gute  Werke  die  Gerechtigkeit  er- 
langt, die  vor  Gott  gilt,  so  ist  damit  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  daß  einzelne  wirklich  die  voll- 
kommene Gerechtigkeit  erwerben.  Dies  geschah 
nach  jüdischer  Lehre  von  den  Erzvätern  (vgl. 
p.  278),  nach  katholischer  von  den  Heiligen. 
Diese  Gerechten  können  durch  ihre  guten  Werke 
den  Defect  ihrer  Volksgenossen  in  Israel  decken 
(vgl.  p.  280  ff.  286)  wie  in  der  römischen  Kirche 
die  Heiligen  durch  den  thefeaurus  meritorum, 
th.  supererogationis  perfectorum.  —  Auch  darin 
stimmen  beide  Systeme,  daß  in  ihnen  dem  Glau- 
ben ein  Verdienst  zugesprochen  wird  (vgl.  p. 
292.  295  mit  dem  meritum  de  congruo  des  Tri- 
dentinums)  —  und  aus  den  Erörterungen  von 
p.  300  geht  klärlich  hervor,  daß  in  der  Anseimi- 
schen Satisfactionstheorie  nicht  der  biblische, 
sondern  der  talmudische  Sühnebegriff  in  die 
Kirche  übergegangen  ist.  — -  So  ließe  sich  noch 
vieles  anführen,  doch  wird  das  Gesagte  genügen, 


892  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

diese   interessante    historische   Erscheinung    zu 
veranschaulichen.  — 

Heben  wir  zum  Schluß  noch  einige  Punkte 
hervor,  bei  denen  nach  unsrem  Dafürhalten  die 
Aufstellungen  des  Verf.'s  sich  nicht  als  richtig 
erweisen.  Nach  unsrer  Meinung  kann  man  näm- 
lich nicht  behaupten,  daß  die  specifiscb  jüdische 
Theologie  von  der  Lehre  des  gesammten  alten 
Testaments  unterschieden  sei  (Einl.  p.  IX),  wenn 
man,  wie  der  Verf.  selbst,  von  dem  Grundsatze 
ausgeht,  daß  dieses  Neue,  durch  welches  das 
Gesetz  der  ausschließliche  Mittelpunkt  des  reli- 
giösen Denkens  und  Lebens  in  Israel  ward,  von 
Esra  begründet  sei.  Denn  Esra  gehört  ja  doch 
jedenfalls  auch  dem  A.  T.  an  und  daß  wie  er 
Nehemia*)  und  der  Verfasser  der  Chronik  ge- 
sinnt sind  und  daß  seinen  Anschauungen  Eze- 
chiel  sehr  nahe  steht  und  daß  die  mittleren  Bü- 
cher des  Pentateuch  sich  wesentlich  auf  demsel- 
ben Boden  bewegen,  dürfte  doch  kaum  bezwei- 
felt werden  können.  Demnach  erscheint  es  uns 
nicht  richtig,  den  Nomismus  dem  A.  T.  ent- 
gegenzusetzen, sondern  gesagt  werden  zu  müs- 
sen, daß  die  spätere  jüdische  Theologie  nur  die 
consequente  Fortbildung  der  bereits  im  A.  T. 
im  sogenannten  Mosaismus  hervortretenden  no- 
mistischen  Richtung  gewesen  sei,  welche  sich  in 
späterer  Zeit,  besonders  seit  dem  Exil,  im  Gegen- 
satz zu  der  prophetischen  entwickelt  und  diese 
allmählich  verdrängt  hatte.  Und  darum  können 
wir  dem  Verf.  nicht  beistimmen,  wenn  er  Oehler 
deshalb  lobt,  weil  er  die  biblische  Theologie  des 

*)  Man  vergleiche  des  Nehemia  Buchführung  über 
seine  guten  Werke:  c.  5,  19.  13,  14.  22.  31.  besonders 
in  Beziehung  auf  das  Gottesvolk  mit  den  Grundsätzen 
der  jüdischen  Theologie,  welche  der  Verf.  p.  274  f. 
ausführt. 


Weber,  System  der  altsynagog.  palästin.  Theologie.    393 

A.  T.  von  dieser  jüdischen  Theologie  abgrenzt, 
denn  diese  Theologie  kann  abgegrenzt  werden 
nur  gegen  den  Prophetismus,  mit  dem  Mosais- 
nrag  dagegen  hängt  sie  so  eng  zusammen  wie 
nur  möglich.  Die  israelitische  Prophetenreligion 
war  eine  Religion  des  Geistes  und  der  Freiheit, 
der  Gesinnungen  nnd  der  sittlichen  Tbaten,  die 
jüdische  Gesetzesreligion  war  eine  Religion  des 
Boches  and  des  Buchstabens  mit  seinem  Zwange 
nnd  legte  ein  Joch  auf,  für  dessen  Aufbtlrdung 
damit  sie  ihm  gelinge  Esra  die  Maske  Moses 
vornahm;  sie  war  eine  Religion  der  Werke  und 
der  Ceremonie,  der  Gelehrsamkeit  und  des 
Kopfes,  denn  das  Thorastudium,  dem  die  Er- 
füllung der  Gebote  wie  ein  Schatten  nachfolgt, 
ist  es  was  selig  macht.  Auch  selbst  auf  dieser 
Stufe  ist  Großes  erzielt  worden,  wir  wollen  es 
nicht  verkennen  —  die  jüdische  Theologie,  der 
gesammte  Nomismus  von  Esra  (Mose)  an  bis 
zum  Abschluß  des  Talmud  hat  es  zu  einem 
großartigen  Organismus,  einem  Werk  voll  stau- 
uenswerthen  Scharfsinns  und  Reichthums  des 
Geistes  gebracht,  aber  man  thut  den  Propheten 
Unrecht,  wenn  man  ihnen  nachsagt,  es  sei  ihnen 
jemals  in  den  Sinn  gekommen  „das  Gesetz  zur 
Basis  ihrer  Heilslehre"  (Einl.  p.  IX)  zu  neh- 
men. Das  thaten  sie  so  wenig,  daß  der  Prophet 
Jeremia  sogar  behauptet,  es  sei  Jahve  gar  nicht 
eingefallen  beim  Auszuge  aus  Aegypten  irgend 
welche  Vorschriften  über  Opfer  zu  geben  c.  7, 22. 
vgl.  c.  6,  20  und  daß  er  kurzweg  leugnet,  daß 
an  der  Bundeslade  irgend  etwas  gelegen  sei 
c.  3,  16.  — 

Die  Kritik  des  jüdischen  Gottesbegriffs  vom 
christlichen  ans  (p.  145.  149)  hätten  wir,  sp 
sachlich  und  maßvoll  sie  auch  gehalten  ist,  doch 
anders  gewünscht.     Der  kirchlich   trinitarische 


394  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

Gottesbegriff  ist  nach  unserm  Dafürhalten  dem 
Judenthum  gegenüber  keine  besonders  günstige 
Position.  —  Warum  ist  p.  284.  286  der  talmu- 
dische Traetat  Edijoth  statt  nach  der  gewöhn- 
lichen Schreibung  Ednjoth  genannt?  Zn  den 
Berichtigungen  auf  der  letzten  Seite  tragen  wir 
noch  nach:  p.  382  Z.  7  ist  zn  lesen  „vor  dem 
Wolf«  statt  „vor  dem  Volk« ;  p.  328  Z.  1  lies 
„dem"  statt  „denn". 

Jena.  C.  Siegfried. 


Indische  Grammatik,  umfassend  die  klassische 
Sprache  und  die  älteren  Dialecte  von  William 
D  wight  Whitney.  Aus  dem  Englischen  übersetzt 
von  Heinrich  Zimmer.  Leipzig,  Druck  und  Ver- 
lag von  Breitkopf  und  Härtel  1879  (a.  u.  d.  T. :  Bi- 
bliothek indogermanischer  Grammatiken  bearbeitet  von 
F.  Bücheier  u.  s.  w.    Band  II). 

Von  den  indogermanischen  Grammatiken, 
welche  im  Verlage  von  Breitkopf  und  Härtel  er- 
scheinen sollen,  sind,  bis  jetzt  die  indische  von 
Whitney  und  die  griechische  von  G.  Meyer  aus- 
gegeben worden,  beides  treffliche  Werke,  aber 
erheblich  verschieden  an  Anlage  und  Ausfüh- 
rung. Die  Grammatik  von  Meyer  hält  sich  ge- 
nauer an  den  der  Sammlung  vorgezeichneten 
Plan,  indem  sie  ihren  Gegenstand  durchaus  vom 
Standpunkt  modernster  Linguistik  aus  behan- 
delt, während  die  Whitneysche  Arbeit  sich  im 
Wesentlichen  nach  dem  alten  grammatischen 
Schema  richtet.  Diese  Verschiedenheit  mag  zum 
Theil  auf  einer  verschiedenen  Stellung  der  Ver- 
fasser zu  den  sprachwissenschaftlichen  Proble- 
men beruhen;  hauptsächlich  aber  hat  sie  ihren 
Grund  in  dem  allgemein  bekannten  Zustand  der 
Sanskritgrammatik,  für  welche  die  Zeit  zu  einer 
solchen  Behandlung,  wie  sie  Meyer  dem  Griccbi- 


Whitney,  Indische  Grammatik.  896 

sehen  bat  angedeihen  lassen,  noch  nicht  gekom- 
men ist 

Die  indischen  Grammatiker  haben  für  ihre 
europäischen  Nachfolger  zwei  Aufgaben  übrig 
gelassen,  die  geschichtliche  Darstellung  des  ans 
der  Literatur  gezogenen  Sprachstoffs  und  die 
Einfügung  der  indischen  Grammatik  in  den  lin- 
guistischen Rahmen.  Das  Verdienst  Whitneys 
nun  besteht  darin,  in  der  vorliegenden  Gramma- 
tik mehr  als  irgend  Jemand  anders  nach  der  er- 
sten der  angegebenen  Richtungen  hin  geleistet 
zu  haben.  Ueberall  ist  das  was  die  Grammati- 
ker liefern  von  dem  was  die  Sprache  selbst  bie- 
tet, streng  gesondert  und  die  Sprache  ist  in 
einem  Umfange  ausgebeutet  worden,  wie  nie 
auvor.  Nicht  nur  die  vedischen  Sanhitas  sind 
sorgfältig  benutzt  (wobei  Whitney  schon  die 
neuerlich  erschienene  ebenso  mühselige  wie 
nutzbringende  Arbeit  von  Charles  R.  Lanman 
On  noun-inflection  in  the  Veda,  New-Haven  1880 
zu  Rathe  ziehen  konnte),  sondern  auch  aus  der 
gewaltigen  Masse  der  Brähmana-Literatur  ist 
zum  ersten  Mal  reichlicher  Stoff  beigebracht 
worden.  Für  die  Mittheilung  dieser  Sammlun- 
gen, durch  welche  ein  fester  Grund  für  eine  ge- 
schichtliche Behandlung  des  Sanskrit  gelegt 
worden  ist,  sind  alle  Benutzer  der  Grammatik 
dem  Verfasser  zum  lebhaftesten  und  aufrichtig- 
sten Danke  verpflichtet,  und  besonders  warm 
wird  die  Anerkennung  derjenigen  sein,  welche 
etwa  aus  eigener  Erfahrung  abschätzen  können, 
wie  viel  entsagender  Fleiß  in  diesen  anspruchs- 
losen Sätzen  enthalten  ist.  Für  eine  zweite 
Auflage  wäre  nur  etwa  zu  wünschen ,  daß  Wh. 
bei  selten  (zwei  oder  dreimal)  vorkommenden 
Formen  die  Gitate  beifügte,  und  vielleicht  wäre 
es  möglich,  den  Stoff  noch  durch  Herbeiziehung 


396  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

des  Epos,  für  dessen  Sprache  das  Wörterbuch 
von  Böhtlingk  und  Roth  eine  reiche  Fundstätte 
ist,  zu  bereichern.  Wenn  so  der  Stoff  immer 
vollständiger  herbeigeführt  sein  wird,  wird  es 
auch  an  der  Zeit  sein,  die  Darstellung  streng 
geschichtlich  zu  gestalten,  während  jetzt  die 
klassische  Sprache  noch  eine  bevorzugte  Stel- 
lung einnimmt,  wie  etwa  das  Attische  in  den 
bisherigen  griechischen  Grammatiken. 

Die  linguistische  Behandlung  des  Sanskrit 
ist  von  Bopp  glorreich  begonnen  und  nach  ihm 
in  verschiedenen  Monographien  und  Aufsätzen 
weiter  geführt  worden,  aber  zu  einer  zusammen- 
fassenden Darstellung  ist  man  noch  nicht  ge- 
langt. Auch  Whitney  beansprucht  nicht,  eine 
solche  geliefert  zu  haben.  Fehlt  doch  die  Laut- 
lehre, welche  das  Lautsystem  des  Sanskrit  aus 
dem  der  Grundsprache  herzuleiten  hätte,  noch 
ganz.  Daß  Whitney  in  dieser  Beziehung  zurück 
gehalten  hat,  kann  man  nur  billigen.  So  viel 
im  Einzelnen  in  sprachwissenschaftlichen  Wer- 
ken z.  B.  von  Ascoli  für  die  Lautlehre  des 
Sanskrit  geleistet  worden  ist,  so  wird  doch  noch 
viel  Wasser  zum  Meere  fließen,  ehe  man  an  die 
Aufstellung  einer  systematischen  Lautlehre  wird 
gehn  können.  Gelehrte,  welche  den  Feinheiten 
der  modernen  Lautforschung  gewachsen  und  mit 
den  übrigen  indogermanischen  Sprachen  be- 
kannt sind,  finden  hier  einen  reichen  und  dank- 
baren Stoff. 

Die  Anordnung  der  Whitneyseben  Gramma- 
tik ist  diejenige,  welche  uns  aus  den  griechi- 
schen, lateinischen  und  den  meisten  indischen 
Grammatiken  geläufig  ist.  Nach  einer  kurzen 
Einleitung  (in  welcher  auf  S.  XVII  neben  der 
Maiträyani-Samhitä  und  dem  Käthakam  nun- 
mehr auch  noch  die  jüngst  in  Bruchstücken  nach 


Whitney,  Indische  Grammatik.  397 

Europa  gekommene  Kapishthala-Samhitä  zu  er- 
wähnen sein  würde)  folgt  eine  Orientierung  über 
Lautsystem  und  Aussprache,  und  darauf  in  aus- 
führlicher und  lehrreicher  Behandlung  die  Wohl- 
lautsregeln, sodann  die  Declination  der  Substan- 
tia, Adjectiva,  Zahlwörter  (welche  herkömmli- 
cher Weise  vollständig  aufgeführt  werden,  ob- 
gleich, wie  mir  scheint,  diese  Aufzählung  im 
Grande  nicht  in  die  Grammatik  gehört)  und  der 
Pronomina,  darauf  die  Conjugation,  übersicht- 
lich und  besser  als  bisher  irgendwo  geschehen 
war,  nach  Tempussystemen  geordnet,  dann  die 
Indeclinabilia,  und  endlich  die  Stammbildung. 
Dieses  dem  Plan  der  Grammatiken  gemäß  als 
Zugabe  zu  betrachtende  Gapitel  wird  mit  Dank 
entgegengenommen  werden,  weil  es  vollständiger 
als  bisher  irgendwo  geschehen  war,  den  beleg- 
baren Wortstoff  zusammenstellt.  Mit  Benutzung 
dieser  Sammlungen  wird  man  nun  einen  not- 
wendigen Schritt  weiter  gehen  können,  der  frei- 
lich noch  in  keiner  Stammbildungslehre  einer 
indogermanischen  Sprache  (soweit  mir  bekannt 
ist)  geschehen  ist.  Es  wird  nämlich  nun  der 
Versuch  gemacht  werden  müssen,  dasjenige  was 
in  dem  Gebiet  der  Stammbildung  speciell  in- 
disch ist  von  dem  was  indogermanisch  ist,  zu 
sondern.  Reiche  Indices,  wie  wir  sie  noch  bei 
keiner  Sanskritgrammatik  in  gleicher  Vollkom- 
menheit besitzen,  schließen  das  Werk  ab. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  jeder  der  aus 
dem  Sanskrit  ein  Specialstudium  macht,  aus 
dem  endlosen  Stoff  mancherlei  nachzutragen  fin- 
det, und  in  manchen  Punkten  eine  andere  Auf- 
fassung haben  wird,  als  der  Verfasser.  Ich 
theile  aus  demjenigen,  was  ich  mir  zu  dem  Ver- 
horn notiert  habe,  einige  wenige  Einzelheiten 
mit,  die   vielleicht   von  Interesse   sein  können. 


398  Gott.  gel.  Anz.  18R1.  Stück  12. 13. 

In  dem  Abgehtritt  über  die  Personalendnngen 
§  543  erwähnt  Witney  die  sonderbare  von  var 
abznleitende  Form  vam,  welche  RV.  10,  28,  7 
erseheint,  in  dem  Verse: 

dpa  vraj&m  mahinä  dä§6she  vam. 
Ich  habe  früher  (Altindkehes  Verb  um  S.  34) 
yarn  im  Anschluß  an  Ludwig  aus  *varm  gedeu- 
tet, wobei  ich  annahm,  daß  m  direct  an  die 
Wurzel  getreten  sei.  Diese  Auffassung  ist,  wie 
neulich  Benfey  (Gott.  Nachr.  vom  17.  März  1880) 
bemerkt  hat,  unrichtig,  da  das  Suffix  ja  am  lau- 
tet, und  nicht  m.  Ob  aber  Benfeys  Auffassung, 
wonach  vam  für  vram  (aus  varam)  stehen  soll, 
richtig  ist,  ist  mir  zweifelhaft,  da  ich  keinen 
Grund  sehe,  warum  die  Form  vram  sich  nicht 
ebensogut  wie  vran  hätte  halten  sollen.  Ich 
möchte  jetzt  annehmen,  daß  vam  eine  durch  die 
Mittelstufe  *varm  gegangene  Verkürzung  ans 
varam  sei.  Für  die  Annahme  einer  solchen  ge- 
waltsamen Verkürzung  spricht  der  Umstand, 
daß  vam  am  Ende  einer  trochäisch  verlaufenden 
Reihe  steht.  Es  scheint  mir  nämlich,  daß  Graft- 
mann  Recht  hat,  wenn  er  dieser  Stelle  des  Ver- 
ses derartige  seltsame  Verkürzungen  zutraut.  Er 
hat  sich  darüber  zuerst  in  seiner  Anzeige  mei- 
nes Altindiscben  Verbums  geäußert  (Jenaer  Li- 
teraturzeitung  1874  Nr.  20,  Seite  299),  wo  er 
bei  Gelegenheit  der  Aoristform  sishvap  und  a^ig- 
nat  sagt:  „Wenn  der  Verf.  aus  einzelnen  For- 
men, in  welchen  dem  Aorist  kein  a  angefügt  ist, 
den  Schluß  zieht,  daß  dieses  a  nur  einer  ver- 
hältnißmäßig  jungen  Erweiterung  angehöre,  so 
kehrt  derselbe  das  Verhältniß  geradezu  um.  Ne- 
ben den  mehr  als  150  Aoristformen  mit  ange- 
fügtem a  kommen  ohne  dasselbe  nur  vor  sishvap 
und  a$i$nat,  beide  nur  am  Schlüsse  von  Trisk- 
tubh-Zeilen  (jenes  zweimal,  dies  einmal),   wo 


Whitney,  Indische  Grammatik.  399 

Znsammenziehungen  and  Verkürzungen,  oft  von 
sehr  gewaltsamer  Art,  gäng  und  gebe  sind" 
tl  s.  w.  Wenn  man>  diesen  Gedanken  Gtaraß- 
manns  weiter  anwendet,  wird  man  manches  Räth-» 
sei  sieh  lösen  sehn.  So  war  ans  bisher  die  Form 
dart  sehr  anstößig,  welche  zweimal  als  zweite 
Person  erscheint  in  den  Versen: 

saptä  y&t  pürah  $Arma  gäradir  d&rt 

RV.  1,  174,  2 
und  ebenso  6,  20, 10,  und  einmal  als  dritte  Per- 
son in  dem  Verse 

vricivato  y&d  dhariyüpiyäyära 

bin  pdrve  ärdhe  bhiyiaaparo  dart,  6,  27, 5. 
Han  wird  anzunehmen  haben,  daß  in  beiden 
Fällen  eine  um  des  Metrums  willen  vollzogene 
Verkürzung  aus  daxdar  vorliegt.  Aueh  aus  dem 
Nomen  schließt  sich  manches  mit  Leichtigkeit 
an.  So  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß  ütt 
als  Instrumentalis  des  Pluralis  nur  am  Vers- 
ende auftritt,  und  daß  die  Form  änhas  RV.  6,  3, 1 
in  dem  Verse 

deva  pasi  tyäjasä  martam  inhah, 
welche  Graßmann  gegen  den  Accent  als  Ablativ 
von  auh  auffaßt,  entschieden  für  inhasas  stehen 
muß.  Die  Durchgangsform  möchte  *anhass  ge- 
wesen sein.  Auch  das  fatale  nrin  möchte  Graß- 
mann  in  der  Anmerkung  zu  seiner  Uebersetzung 
von  RV.  1,  146,  4  als  gewaltsam  verkürzt  an- 
sehen. Jedenfalls  verdient  dieser  Gedanke  Graß- 
mannen  welcher^  wenn  ieh  nichts  übersehen  habe, 
bis  jetzt  nicht  weiter  beobachtet  worden  ist,  ein- 
gehende Prüfung.  Dabei,  wird  zu  berücksichti- 
gen sein,  was  Benfey,  namentlich  im  19ten 
Bande  der  Göttinger  Abhandlungen  über  den 
Einfluß:  dee  Metrums  auf  die  Sprachform  be- 
merkt 

|  545  gedenkt  Whitney  der  dritten  Personen 


400  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

auf  e  wie  $&ye  er  liegt  (von   denen  einige  wie 
ige  duh6  vidi  sieh  bis  in   die  Brähmanazeit  ge- 
rettet haben).    Bei  dieser  Gelegenheit  mache  ich 
auf  eine  sehr  merkwürdige  Form  ans  der  Mai- 
träyani  -  Samhitä    aufmerksam ,    welche     schon 
Böhtlingk  in    seinem   neuen  Wörterbuch  ange- 
führt hat,  nämlich  ai$a  als  dritte  Person  Sing, 
des    Imperfects.      Die    Stelle    lautet    nach    L. 
v.  Schröders   Mittheilung   so:    (M.  S.  1,  6,  8) 
agnishomiyam   purodagam  dvitiyam  anunfr  va- 
pet.  täd  bhnyo  havyäm  tipägät.  nö  asyänyä  ige. 
yärhi  vä  etäm  purä  brähmanä  nir&vapaüs  t&rhy 
eshäm   nä   kägcanäi^a  (k&§  cana  ai$a).    n&  hi 
vi  etäm  idänim  nirväpanty  äthaishäm  s&rvaicfc 
D.  h.   „er  bringe  dazu  noch  einen  zweiten  filr 
Agni   und  Soma  bestimmten  Opferkuchen  dar, 
damit  ist  er  dann  zu  der  überlegnen  Opfergabe 
gelangt,   und   Niemand   hat  über    ihn  Gewalt. 
Als  noch  die  Brahmanen  diesen  darbrachten,  da 
hatte  Niemand  über  sie  Gewalt    Jetzt  nun,  da 
sie  ihn  nicht  mehr  darbringen,   hat  Jedermann 
über  sie  Gewalt".    Die  Form  ai§a   hat  meines 
Wissens  in  dem  gesammten  Sanskrit  keinen  Ge- 
nossen.   Sie  ist  vermuthlich  eine  im  Augenblick 
vollzogene  Analogiebildung.    Wie  neben  v&hate 
das  Imperfectum  ävahata  steht,  so  entstand  dem 
suchenden  Schriftsteller  neben  ige    das  Imper- 
fectum aiga.    (Gelegentlich  mache  ich  auch  dar- 
auf aufmerksam,  daß  in  dieser  Stelle  sicher  na 
und  hi  als  zwei  besondre  Worte  erscheinen). 

§  788  heißt  es:  „Die  spätere  Grammatik 
giebt  die  Regel,  daß  mit  a  anlautende  und  mit 
mehr  als  einem  Oonsonanten  endigende  Wurzeln 
als  reguläre  Reduplication  an  haben ;  Perfecta 
derart  werden  vorgeschrieben  von  Wurzeln  wie 
aks,  arj,  und  anc  oder  ac;  die  einzigen  andern 
belegbaren   Formen   scheinen   änarchat    (MBh.) 


Whitney,  Indische  Grammatik.  401 

und  änarsat  (TA.)  zu  sein,  welche  danach  als 
Plnsquamperfecta  eingeordnet  werden".  Ob 
Whitney  die  Formen  änarchat  und  änarsat  mit 
Zuversicht  als  Plnsquamperfecta  betrachtet,  ist 
mir  nach  der  Fassung  dieses  Absatzes  nicht 
ganz  klar.  Ich  muß  gestehn,  daß  es  mir  auch 
nicht  gelingt,  zu  einer  entschiedenen  Meinung 
über  diese  Formen  zu  gelangen.  Denn  da  rcbati 
lediglich  ein  Praesensstamm  ist,  neben  weichem 
das  Perfectum  ära  lauten  würde,  so  ist  ein 
Plnsquamperfectum  änarchat  sehr  auffällig.  Man 
müßte  also  änarchat  doch  wohl  als  Imperfectum 
betrachten,  dessen  Bildung  mir  freilich  nicht 
recht  deutlich  ist.  Dagegen  mache  ich  darauf 
aufmerksam,  daß  in  der  Brähmana-Sprache  eine 
von  Whitney  nicht  erwähnte  Form  existiert, 
welche  ich  nur  als  Plusquamperfectum  auffassen 
kann,  nämlich  susbupthäs.  Eine  von  den  Vor- 
schriften nämlich,  welche  der  Lehrer  dem  Schü- 
ler ertheilt  und  welche  gewöhnlich  heißt:  mä 
sväpsih  lautet  im  Qat.  Br.  11,  5,  4,  5  ma  su- 
shupthäh.  Augenscheinlich  ist  sushupthäs  ein 
anechter  Conjunctiv  oder  nach  Brugmanscher  Be- 
zeichnung ein  Injunctiv  vom  Perfectstamme  d.  i. 
ein  Indicativ  Plusquamperfecti  ohne  Augment. 
Des  Perfectum  gushupe  ,ich  schlafe'  ließe  sich 
lateinischen  Perfectis,  wie  memini  vergleichen. 
Doch  genug  von  diesen  Einzelheiten! 

An  vielen  Stellen  möchte  ich  Whitneys  Gram- 
matik mehr  sprachwissenschaftliche  Färbung 
wUnschen.  So  scheint  es  mir  (um  nur  einen 
Fall  aus  dem  Perfectsystem  anzufahren)  nicht 
das  richtige  Verfahren,  wenn  Whitney  der  Per- 
fecta babhuva  und  sasüva  nur  als  eines  beson- 
deren Falles  von  „Unregelmäßigkeit"  erwähnt 
Es  wäre,  glaube  ieb,  nützlich  gewesen  zusagen, 
daß  hier  Reste  der  uralten  Reduplicationsweise 

26 


402  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

vorliegen,  welche  sich  in  den  europäischen  Spra- 
chen reiner  erhalten  hat,  als  im  Sanskrit.     Je- 
doch liegt  es  mir  sehr  fern,  Whitney  wegen  die* 
ser  Zurückhaltung  tadeln  zu  wollen.   Ueberhaupt 
haben    die    wenigen    kritischen   Bemerkungen, 
welche  ich   der   neuen  Sanskritgrammatik    ge- 
widmet  habe,  keinen  anderen   Zweck   als  den 
Punkt  genau  zu  bestimmen,  wo  die  außerordent- 
lichen  Verdienste   dieser  von  allen    Sprachfor- 
schern freudig   bewillkommneten  Arbeit  liegen. 
Der  Uebersetzung  kann  ich  keinen  besonde- 
ren Geschmack  abgewinnen.     Mir  scheint,   daß 
sie,   indem  sie   sich  dem  englischen  Text  allzu 
buchstäblich  anschließt,   nicht   selten   undeutsch 
wird.     Auch  laufen  Uebersetzungen    mit  unter, 
welche  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben  kön- 
nen.   So   liest  man  S.  XV  folgende  Aeußerung 
über  die  Sanskrit-Literatur:    „Sie  ist  fast  ganz 
metrisch:   nicht   nur  poetische  Werke,   sondern 
auch  Erzählungen,  Geschichten  (soweit  man  von 
irgend  etwas,   das   diesen  Namen   verdient,  als 
vorbanden  reden   kann)    und   wissenschaftliche 
Abhandlungen  jeder  Art  sind  in  Verse  gebracht". 
Dabei  ist  „Geschichten"   irre  leitend.    Es  wäre 
dem   modernen   deutschen  Sprachgebrauch  ent- 
sprechender gewesen,  histories  durch  ,  Geschichts- 
werke ',  ,  Geschichtsschreibung '  oder  einfach  be- 
schichte'    wiederzugeben.     —    Im   §   37    sagt 
Whitney:  „It  is  usual  among  European  scholars 
to  pronounce   both    classes  of  aspirates  as  the 
corresponding  non-aspirates  with  a  following  h: 
for  exemple  y    dh.  as  in  madhouse".     Zimmer 

setzt  für  madhouse  „Kind-heit"  ein,  obgleich  wir 
doch  das  d  in  Kindheit  nur  schreiben,  nicht 
sprechen.  —  Im  §  1051  bezeichnet  Whitney 
die  Verbaladjective  auf  tavya-  und  ya-  als  ge- 
rundiv;  die  Indeclinabilien  auf  tvä,  ya  und  am 


Lexer,  Mittelhochdeutsches  Handwörterbuch.    403 

als  gerund.  Ich  halte  diese  Bezeichnung  nicht 
für  empfehlenswerth,  sie  ist  aber  consequent, 
während  Zimmer  die  Form  auf  tvä  als  Gerundiv 
und  die  parallele  auf  ya  als  Gerundium  bezeich- 
net Diese  und  ähnliche  Irrthümer  und  Druck- 
fehler finden  ihre  Entschuldigung  in  dem  Um- 
stand, daß  die  Uebersetzung  rasch  angefertigt 
werden  mußte,  da  die  deutsche  Ausgabe  zu 
gleicher  Zeit  mit  der  englischen  erscheinen  sollte. 
Sie  werden  bei  einer  zweiten  Auflage  leicht  zu 
vermeiden  sein. 

Jena.  B.  Delbrück. 


Mittelhochdeutsches  Handwörterbuch 
von  Dr.  Matthias  Lexer,  o.  ö.  Professor  der 
deutschen  Philologie  in  Würzburg.  Zugleich  als  Supple- 
ment und  alphabetischer  Index  zum  Mittelhochdeut- 
schen Wörterbuch  von  Benecke-Müller-Zarncke.  8  Bde. 
Leipzig,  Hirzel  1872-78.  (I:  XXIX  S.,  2262  Sp.; 
H:  VII  S.,  2050  Sp.;  HI:  VI  S.  u.  1226  u.  406  Sp.). 
Lex.-8°. 

Mittelhochdeutsches  Taschenwörter- 
buch, mit  grammatischer  Einleitung.  Von  Mat- 
thias  Lexer.  Leipzig,  Hirzel  1879  (XXHI,  314  S.) 
kl.  8°. 

Nach  zehnjähriger  Arbeit  hat  Lexer  sein 
Handwörterbuch  abgeschlossen,  welches  nicht 
bloß  ein  Register  zum  'Mittelhochdeutschen 
Wörterbuch ',  sondern  eine  wesentliche  und  un- 
entbehrliche Ergänzung  desselben  geworden  ist. 
Wir  haben  alle  Ursache  dem  Verf.  dankbar  zu 
sein  für  die  mühevolle  Arbeit.  Ein  Abschluß 
ist  freilich  bei  einem  derartigen  Werke  auf 
einem  Gebiete  nicht  zu  erreichen,  wo  jede  neu 
aufgefundene  oder  zum  ersten  Mal  benutzte 
Quelle  Nachträge  liefert.  Der  406  Sp.  umfas- 
sende Anhang  des  3.  Bandes  enthält  bereits  eine 
reiche  Lese   von  Ergänzungen,  die  naturgemäß 

26* 


404  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

sich  zum  größeren  Theil  auf  die  vordere  Httlfte 
des  Wb.  erstrecken.  Auch  an  Berichtigungen 
kann  es  nicht  fehlen:  einiges  ist  schon  in  den 
1  Nachträgen'  berichtigt;  so  das  wunderliche 
anse-zeciwnan  (I,  27),  das  ansezech  {ansaezee) 
man  ist;  so  das  broedeltche  name  (I,  358)  im 
Ruiand,  das  broede  lichendme  ist,  wo  das  richtige 
Verständniß  dem  Verf.  erst  durch  meine  Aus- 
gabe gekommen  zu  sein  scheint.  Vgl.  ferner 
die  Nachträge  unter  dingeltn,  Mver,  niun»  Sicher 
kein  Wort  ist  das  ungeheuerliche  dsaloft  (N*  34), 
das  in  dsal  ofte  {ofte  steht  fehlerhaft  zweimal) 
zu  trennen  sein  wird,  badelat  ist  gewiß  nicht 
'Einladung  zum  Bade';  wie  wäre  das  durch- 
gängige t  in  dem  Worte  zu  erklären,  das  der 
Schreibung  der  betreffenden  Quelle  gar  nicht 
gemäß  ist?  btmenzelte  steht  für  bment-zelte. 
Das  beigefügte  blas  in  Klammer  war  zu  sparen, 
da  die  Kürze  in  blas  unzweifelhaft  ist.  blech- 
schere  ist  wohl  richtiger  blechschaere.  borel}  das 
unerklärt  geblieben,  ist  altfr.  buret,  ein  Wollen- 
stoff. Unter  diesen  steht,  aus  einem  unbegreif- 
lichen Fehler  Strobls  beibehalten,  als  plnr.  pr&t 
dozen  und  flozen.  dignicheit  steht  nicht  für  di- 
genheit,  sondern  ist  Ableitung  von  franz.  digne. 
entsamen,  entsamet  ist  an  den  angeführten  Stel- 
len nicht  adj.,  das  es  überhaupt  nicht  giebt, 
sondern  Composition  mit  guot.  gerech  N.  195 
kann  an  der  angeführten  Stelle  nicht  adj.,  son- 
dern muß  infin.  sein,  gile,  unerklärt  geblieben, 
ist  franz.  guile,  Betrug,  und  sunder  gile  nicht 
==  sunder  spot,  sondern  =±=  sunder  (äne)  trüge. 
In  honeo-krate  ist  der  zweite  Thöil  wohl  lat. 
crates,  worüber  vgl.  J.  Grimm  bei  Haupt  8, 421  f. 
jdrä  ist  unrichtig  statt  jarä  angesetzt.  Mehr* 
fach  finden  wir  in  den  Nachträgen,  auf  die  ich 
mich  hier  beschränken  will,  Wörter  als  neu  (in 


r 


Lexer,  Mittelhochdeutsches  Handwörterbuch.     406 

größerem  Druck)  aufgeführt,  die  unter  derselben 
oder  in  anderer  Form  schon  im  Hwb.  standen. 
So  amasür,  das  1,48  schon  in  der  Form  amaszür 
vorkam ;  ferner  anemuotunge,  angrif  (steht  unter 
anegrif,  ein  Beweis,  wie  unzweckmäßig  es  war, 
die  Compositionen  in  zwei  Reihen,  mit  an  und 
ane,  zu  trennen,  ebenso  wie  titer-  und  ritter-, 
während  bei  mite-  richtig  alle  mit-  eingereiht 
sind),  bedrücken^  beriUe,  besterben,  brennaere, 
buremute,  dristrenge,  eirkuoche  (s.  eierhuoche), 
erbietunge,  erlin ,  gabeltrager  (mit  demselben  Ci- 
tate  schon  I,  721),  gebande,  gedoeze,  geilender, 
geleren,  genüegen,  gevögefae,  gewarten,  göckdman} 
grüezec,  harmschar,  holze,  hülzin,  hüsgemach} 
imerndt,  isenhalde,  jegerhorn,  kiben,  küber, 
kirchwät ,  krämergewihte  ,  leimdecker ,  puster, 
saks,  sturmwcter,  tunhdmeister,  ungeriht,  verre- 
Ungen9  vronkmelriehe.  Anderseits  sind  Wörter 
klein  gedruckt,  die  als  neue  Wörter  zu  bezeich- 
nen waren.  Der  Name  Betetvin  ist  nicht  iden- 
tisch mit  bebewin,  sondern  hier  ist  win,  wie  in 
andern  Namen  «entstellt  aus  win.  Vgl.  ferner 
bettegegate,  brtwdertohter ,  entwarnen,  geblasen, 
gezomen,  goltbUlemelin9  grüsenen,  heric,  herko- 
mm, herzslehte,  holzbihel,  iferie,  kerstranc,  ori- 
ginal, quitenwazzer,  rthtegelt,  rösinekin.  Die 
Reihenfolge  der  Worte .  ist  nicht  selten  nicht 
streng  alphabetisch,  was  bei  einem  Nachschlage- 
buch immer  unangenehm  und  störend  ist.  Mit- 
unter ist  es  nur  Vertauachung  von  zwei  Wör- 
tern, worauf  weniger  ankommt,  wie  wenn  antse- 
gede  vor  antsaezic,  arzetaere  vor  arzentuom, 
08cherzeUe  vor  aschermitwoche,  ba/nline  vor  bonier 
steht  (vgl.  noch  S.  58.  59. 69.  75.  75.  84. 113. 119. 
137.  142.  145.  168.  171.  173.  185.  195.  203. 
209.  227.  237.  249.  258.  277. 277.  279.  280.  289. 
294.  314.   316.   324.  329.  336.  343.  345.  353. 


406  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

392),  aber  stärkere  Mißgriffe  sind,  wenn  ban- 
meise  aufSp.  43  statt  41  steht;  wenn  blaterspil, 
blatise,  blateen,  blathamascher,  blatlös  in  dieser 
Reihenfolge  stehen ;  wenn  gelide-  erst  nach  einer 
Reihe  von  Wörtern  mit  gelih-  steht;  geml,  ge- 
zafen,  gemgel  so  folgen ;  hantbeschouwerin  auf 
Sp.  228  statt  227  sich  findet;  commissionbrief 
auf  Sp.  278  statt  277 ;  vergenlon  auf  Sp.  392 
statt  391.  Manche  Verweisungen  standen  schon 
im  Hwb.  und  sind  daher  in  den  Nachträgen  zu 
streichen  (s.  äser,  bebendle,  bequingen). 

Nachträge  hier  zu  liefern  fällt  mir  nicht  ein, 
so  leicht  es  auch  wäre.  Ich  will  nur  ein  paar 
Worte  erwähnen  zum  Beweise,  wie  auch  längst 
und  allgemein  bekannte  Quellen  Ergänzungen 
liefern  und  wie  nur  die  Einseitigkeit  des  Verf. 
daran  schuld  ist,  daß  sie  fehlen.  Hätte  er  außer 
Lachmanns  Ausgabe  der  Klage  und  der  Nibe- 
lungen auch  andere  benutzt,  so  würden  ihm 
Belege  für  digeltche  (das  fehlt),  herrenliche  (Nib. 
C),  hohen,  vlekeliche  daraus  zu  Gebote  gestanden 
haben.  Das  seltene  Wort  uohaltic  fehlt,  es 
steht  in  der  Litante. 

Endlich  noch  eine  Bemerkung  über  die  Art 
der  Quellenbenutzung.  Gewiß  ist  es  einem  Lexi- 
cographen  erlaubt,  Specialwörterbücher  auszu- 
beuten, nur  muß  dann  die  betreffende  Quelle 
auch  genannt  werden.  Bei  Eonrads  Rolands- 
lied ist  nun,  wie  sich  leicht  nachweisen  läßt, 
das  Wortverzeichniß  meiner  Ausgabe  excerpiert, 
die  Gitate  aber  sind  in  die  der  Grimmschen 
Ausgabe  umgeschrieben  worden,  so  daß  es  den 
Anschein  hat,  als  habe  Lexer  den  Roland  neu 
ausgezogen,  während  er  doch  mich  ausgeschrie- 
ben hat.  Man  vgl.  unter  den  Nachträgen  d- 
waltic,  aneböz,  aneminne,  anschin,  begurten  (wo 
ich   aber  an   der  Construction    mit    doppeltem 


Lexer,  Mittelhochdeutsches  Taschenwörterbuch.    407 

Accus,  unschuldig  bin !)  edelinc,  einvar,  ergraben, 
erleiden,  ernenden,  ersmielen,  ersprengen ,  er- 
wagen,  erwarmen ,  geleidigen ,  genüege,  gerich9 
gesalben,  gewerden,  gewichen,  gesogerdiche  etc. 
Ja  L.  giebt  sich  sogar  den  Anschein,  als  habe 
er  die  Varianten  bei  Grimm  excerpiert,  vgl.  un- 
ter bezeichenen,  entvürkten,  geledigen,  gewonen, 
horsame,  iserin,  hübe,  nieware,  serigen,  see.  Nur 
ein  paarmal  bei  abweichendem  Texte  wird  meine 
Ausgabe  erwähnt:  s.  bewallen,  seile,  undergeben, 
wislichen;  die  beiden  letzten  Belege  im  Hwb., 
denn  vom  t  an  verschwindet  das  Bul.  unter  den 
Nachträgen  und  erscheint  im  Hwb.  selbst,  weil 
inzwischen  meine  Ausgabe  erschienen  war. 
Eine  ehrliche  Art  der  Quellenbenutzung  ist  das 
keinesfalls. 

Das  '  Taschenwörterbuch '  ist  ein  Auszug  aus 
dem  Hwb.,  der  gewiß  allen  denen,  die  nicht 
Germanisten  von  Fach  sind,  gute  Dienste  leisten 
wird.  Es  ist  eine  verständige  Auswahl  getroffen, 
wobei  die  Rechts-  und  Urkundensprache  Be- 
rücksichtigung gefunden  hat.  Denn  gerade  auch 
für  Juristen  und  Historiker  ist  dies  Buch  be- 
stimmt. Vorangeht  eine  kurze  grammatische 
Einleitung,  die  ebensogut  hätte  fehlen  dürfen, 
da  sie  einem  Bedürfnisse  kaum  entspricht  und 
außerdem  nicht  durchaus  auf  dem  heutigen 
Standpunkt  der  Forschung  steht  Unrichtig  ist 
Umente  mit  i  angesetzt,  ebenso  bisant  statt  bi- 
sant.  Statt  MveMe  war  besser  die  Form  bivilde 
oder  bivilde  anzusetzen,  galide  ist  falsch,  es 
muß  gdleide  heißen  (mlat.  galenda);  der  Beim 
des  Oesterreichers  Ulrich  von  dem  Tttrlin  kann 
nichts  beweisen,  gdleide  verhält  sich  zu  gälte 
wie  vespereide  zu  vesperte.  Unverständlich  ist  mir 
der  aus  dem  Hwb.  berübergenommene  Ausdruck 
zieher }    der   auf  bildende   (ausbildende?    aufzie- 


408  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

bende?)  Pfleger.  Daß  das  gar«  nicht  existie- 
rende, nur  auf  einer  Lachmannschen  Schrulle 
beruhende  schierliche  auch  in  diesem  Taschen- 
wörterbuch fortexistiert,  ist  ebensowenig  zu  bil- 
ligen wie  bei  uosezzel,  das  an  der  betreffenden 
Stelle  des  Lanzelet  einfach  aus  weizel,  Char- 
pie,  entstellt  ist. 

Heidelberg.  E.  Bartsch. 


Der  deutsche  Episkopat  in  seinem  Ver- 
hältnis zu  Kaiser  und  Reich  unter  Hein- 
rich HI.  1039—1056.  Von  Franz  Franei«. 
Theil  I.  Programm  zum  Jahresberichte  über  das  kgL 
Lyzeum  und  die  kgl.  Studienanstalt  zu  Regensburg  im 
Studienjahre  1878/79.  Stadtamhof,  Druck  von  J.  Mayr 
1879.    72  Seiten.    8°. 

Der  Verfasser  beabsichtigt,  das  genannte 
Thema  in  4  Theilen  zu  behandeln,  nemlich  1. 
Wahl  und  Einsetzung  der  Bischöfe,  2.  die  staat- 
liehe Stellung  und  politische  Wirksamkeit  der- 
selben, 3.  Besitz  des  Episkopats,  4.  die  deut- 
schen Päpste  in  ihren  Beziehungen  zu  Hein- 
rich III.  Es  ist  der  erste  Theil,  den  wir  hier 
vor  uns  haben,  der  die  Wahl  und  Einsetzung 
der  Bischöfe  unter  Heinrich  III.  behandelt. 

Die  Untersuchung  schließt  sich  an  die  von 
Friedberg  und  von  dem  Referenten  über  Lo- 
thar HL,  die  von  Witte  über  Eonrad  HL,  und 
die  vonGeardes  über  Ottol.  an  und  ist  zugleich, 
wie  alle  diese  Spezialuntersuchungen,  ein  Bei- 
trag zur  Regierungsgeschichte  des  betr.  Königs 
und  zur  Geschichte  der  Bisehofswahlen  über- 
haupt. Der  Verfasser  ist  nach  beiden  Beziehun- 
gen den  Anforderungen  seines  Themas  mit  über- 
legter Kritik  und  einsichtiger  Auffassung  gereckt 
geworden;  er  kennt  und  benutzt  sorglich  das 
«einschlägige  Material  an  Quellen  und  Literatur, 


Franziß,  Der  deutsche  Episkopat  unt.  Heinrich"  III.    409 

namentlich  stützt  er  sich  natürlich  auf  Steindorff, 
Jahrbücher  des  deutschen  Reiches  unter  König 
Heinrich  III,  Theil  1 ;  und  nach  beiden  genann- 
ten Beziehungen  ist  seine  Arbeit  nicht  ohne  ver- 
dienstliche Resultate  geblieben. 

Man  ist,  wenn  man  das  Verhalten  eines 
Regenten  bei  der  Einsetzung  der  Bischöfe  wäh- 
rend seiner  ganzen  Herrschaft  abgesondert  be- 
trachtet, in  der  auf  dem  Gebiet  des  früheren 
Mittelalters  seltenen  glücklichen  Lage,  die  wirk- 
liche Regierungsthätigkeit  des  Monarchen,  seine 
innere  Politik  in  einem  der  wichtigsten  Zweige 
verfolgen  und  erkennen  zu  können,  weil  die  Bi- 
schofs wählen  eben  der  einzige  Zweig  der  [Art 
«nd,  über  den  uns  die  Quellen  jener  Zeit  (aus 
bekannten  Gründen)  eingehendere  Nachrichten 
überliefert  haben.  Bei  gesonderter  Betrachtung 
der  Bischofswahlen  werden  wir  daher  fast  in 
jeder  Regierungsepoche  konkrete  bestimmte  An- 
schauungen von  der  Regierangsweise  des  Herr- 
sehers gewinnen,  welche  nicht  immer  gerade 
neue  Züge  deren  bisher  bekanntem  Charakter 
hinzufügen,  aber  jedenfalls  immer  die  bekannten 
Züge  eigenartig  bestätigen ,  sicherer  und  aus- 
geprägter markieren  werden.  Das  letztere  ist 
hier  der  Fall:  wir  sehen  Heinrich  III.  das  un- 
umschränkte Verfügungsrecht  bei  Besetzung  der 
bischöflichen  Stühle  üben,  indem  er  die  Bischöfe 
bald  designiert,  bald  geradezu  ernennt,  und  un- 
ter den  ihm  vorgeschlagenen  Kandidaten  bald 
beliebig  auswählt,  bald  alle  verwirft,  so  daß  er 
ungeachtet  der  verschiedenen  Formen  des  Wahl- 
verfahrens immer  die  Entscheidung  in  letzter 
Hand  behält;  wir  sehen  ihn  mit  Vorliebe  Män- 
ner seines  persönlichen  Vertrauens  befördern, 
seine  Kapläne,  Kanzler,  seine  Verwandten,  un- 
gern wählt   er  ihm  Fernstehende,  Unbekannte; 


410  '   Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.  13. 

allein  er  läßt  eich  keineswegs  rücksichtslos  nur 
von  seinen  Herrscherinteressen  leiten,  wie  etwa 
ein  Konrad  IL,  sondern  er  hat  auch  das  Inter- 
esse der  Bisthümer,  der  Kirche  selbst  wohl  im 
Auge.  So  wird  das  Bild  dieses  Herrschers,  wie 
es  uns  Giesebrecht  dargestellt  hat,  in  markan- 
ten Zügen  bestätigt  und  verschärft. 

Für   die  Geschichte  der  deutschen  Bischofs- 
wahlen kommt  besonders   der   zweite  Abschnitt 
der  Schrift  S.  17—28  in  Betracht,  wo  der  Ver- 
fasser   eine    zusammenhängende    Untersuchung 
über  die  Art  der  Ernennung  und  Einsetzung  der 
Bischöfe  giebt  und  mit  guter  Kenntniß  die  Ge- 
sichtspunkte, auf  die  es  ankommt,  hervorhebt 
Doch   hat   er  es,   vielleicht  mit  Rücksicht   auf 
sein  spezielleres  Thema,  unterlassen,  die  Resul- 
tate seiner  Untersuchung  für  die  allgemeine  Ge- 
schichte der  Bischofswahlen  zu  verwerthen,  bezw. 
auf  deren  Bedeutung  in  dieser  Beziehung  auf- 
merksam zu  machen.    Ich  möchte  dies  mit  Hin- 
blick auf  Waitz's  Verfassungsgeschichte ,  beson- 
ders Band  7  S.  269  ff. ,  und  auf  Gerdes'  Disser- 
tation, '  Die  Bischofswahlen  unter  Otto  dem  Gro- 
ßen in  den  Jahren  953  bis  973',  Göttingen  1878, 
in  einigen  Hauptpunkten   hier   thun.    Zunächst 
ist  da   zu  bemerken,   daß  wir  in  den  meisten 
Fällen   auf  die  Form    des  Wablverfahrens  sto- 
ßen, welche  schon  zur  Zeit  der  Ottonen  üblich 
war  (Gerdes  S.  45  Zeile  4   von  unten  ff.)  und 
noch  im    12.  Jahrh.   als    die   gewöhnliche  be- 
schrieben wird  (WaitzVII  S.  282  Note  1):  eine 
Deputation   bringt  die  Insignien   des  erledigten 
Stiftes  an  den  Hof,  und  dort  wird  der  neue  Bi- 
schof ernannt.     Daneben   kommt   aber  ein  aus- 
führlicheres Wahlverfahren   vor,    welches    wir 
ebenfalls   schon  unter  Otto  I.  (Gerdes  S.  42  ff., 
52  ff.)  und  noch  im  1 2.  Jahrhundert  (Waitz  I.  c. 


Franziß,  Der  deutsche  Episkopat  unt.  Heinrich  III.    4]  1 

282  Note  3)  finden :  es  werden  am  Orte  der  Se- 
digvakanz  mehrere  oder  es  wird  ein  Kandidat 
gewählt  nnd  diese  bezw.  dieser  dem  Könige 
präsentiert,  der  dann  den  Präsentierten  bezw. 
einen  der  Präsentierten  nominiert,  nicht  selten 
aber  auch  ohne  Rücksicht  anf  die  Vorgeschla- 
genen einen  Andern  ernennt.  Ein  charakteri- 
stischer Fall  des  ersten  Modus  ist  die  Wahl 
Lietberts  von  Cambray  (Franziß  S.  17  Note  5 
nnd  S.  64),  charakteristische  Fälle  des  zweiten 
Modus  sind  die  Wahlen  Halinard's  von  Lyon 
(Franziß  S.  11  Note  3  und  S.  57\  Wazo's  von 
Lattich  (Franziß  S.  17  Note  2,  S.  19/21,  S.49), 
Wido's  von  Mailand  (Franziß  S.  8  Note  1  und 
S.  56)  —  deutliche  Anzeigen  dafür,  daß  diese 
Wahlmodi  beide  aus  längerer  Praxis  hervorge- 
gangen sind  und  daß  keiner  der  beiden  zu  ir- 
gend einer  Zeit  plötzlich  und  willkürlich  in  An- 
wendung gebracht  worden  ist.  Nicht  minder 
deutlich  erhalten  wir  den  Nachweis  kontinuier- 
lichen Zusammenhanges  mit  früheren  und  spä- 
teren Formen,  wenn  wir  die  einzelnen  Akte  des 
Wahlverfahrens  ins  Auge  fassen.  Ich  gehe  da- 
bei auf  die  Unterscheidungen  und  Bezeichnun- 
gen von  Gerdes  zurück,  welche  sich  in  sachlich 
und  formell  empfehlenswerter  Weise  an  die 
ähnlichen  Vorgänge  bei  den  Pabstwahlen  anleh- 
nen (vgl  meine  Abhandlung  in  den  Forschungen 
zur  Deutschen  Geschichte  XX,  S.  362).  Da  be- 
gegnet uns  bei  dem  ausführlicheren  Wahlmodus 
wie  zur  Zeit  Otto's  I.  die  „Vorwahl"  am  Orte 
der  Sedisvakanz  durch  Klerus  und  Laien,  vgl. 
Gerdes  S.  42  mit  Franziß  S.  8  Note  1  bezw. 
Mon.  Germ.  SS.  VIII  74,  32  ff.  bei  der  Erhebung 
Wido's  von  Mailand  civibus  convenientibus  in 
mmm  tarn  clericis  quam  laicis  longas  solventes 
orationes  in   populo,  quatenus  de  acquirendo  et 


412  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12.13. 

eligendo  archiepiscopo  consulerentur,  elegemnt  etc. 
und  mit  Franziß  S.  11  Note  3  bezw.  M.  G.  SS. 
VII  236,  10  ff.,  bei  der  Erhebung  Halinards  von 
Lyon  vox  totius  cleri  cum  consensu  populi  etc. 
und   mit  Franziß   S.  19—21    bezw.  M.  G.  SS. 

VII  219,  32  ff.   bei  der  Erhebung   Wazo's   von 
Lüttich  a  clero  et  populo  ad  episcopatum  repos- 
citur,  a  cunctis  eligitur.    Innerhalb  dieser  Vor- 
wahl findet  eine  „Vorberathung"    (consulere  ist 
der  technische  Ausdruck  dafür,  der  in  der  oben- 
angeführten Stelle  gebraucht  ist,  vgl.  Gerdes  S. 
43)   und  eine   „Abstimmung"    (eligere  ißt   der 
Ausdruck  in  den  angeführten  Stellen,  vgl.  Ger- 
des S.  48)  statt.    Nach  solcher  Wahl  der  Kan- 
didaten geht  eine  Gesandtschaft  mit  der  „Bitte 
um  Bestätigung"    an  den  König  (petitio  ist  die 
dafür   gebrauchte  Bezeichnung,   vgl.  Gerdes  S. 
52/53  und  die  nachher  anzuführende  Stelle  aus 
Anselmi  gesta  episc.  Leod.),  wobei   die  Kandi- 
daten selbst  mitziehen  oder  nur  in  absentia  po- 
stuliert werden;  die  Petitio  geschieht  mündlich, 
aber  auch  durch  der  Gesandtschaft  mitgegebene 
Briefe  der  Gemeinde.    Dann  findet  nach  Bera- 
tung des  Königs  und  der  Kurie,  wobei  die 
Prüfung  der  zu  Wählenden  auf  ihre  kanonische 
und  sonstige  Zulässigkeit,  die  ohne  Zweifel  schon 
in  der  Vorwahl   eine  Rolle   gespielt  hat,   nicht 
unterbleibt,  die  „königliche  Bestätigung"  des  zu 
erhebenden  Kandidaten   statt.     Daß  auch  Ver- 
werfung  der  präsentierten    Kandidaten  seitens 
des  Königs  zu  Gunsten  irgend  eines  von  diesem 
beliebten  vorkommt,   habe   ich  vorhin  schon  er- 
wähnt.   Alle  diese   Modalitäten   sehen  wir  be- 
reits  unter  Otto  I.  in  Uebung,  vgl.  Gerdes  8. 
42  ff.,   52  ff.   mit  folgenden  Stellen :   M.  G.  SS. 

VIII  74,   32  ff.   bei   der  Erhebung  Wido's  von 
Mailand  cives  .  .  .  quatuor  majoris  ordinis  viros 


Franziß,  Der  deutsche  Episkopat  unt.  Heinrich  III.    413 

sapientes  optimae  vitae  bonaeque  farnae  elege- 
nrat,  qnitras  electis  universae  civitatis  ordines 
ipsos  ad  imperatorem  Henricutn  .  .  .  summa  cum 
diligentia  direxerunt,  et  his  imperatori  reprae- 
sentatie  ipse  discrete  provideret  consciliis  rima- 
tis,  quatenns  unum  de  istis  quatuor  archiepisco- 
pom  laudando  atmlo  et  virga  pastorali  conti  r- 
maret,  quem  confirmatum  civeö  majores  ,et  mi- 
nores indnbitanter  tenerent;  M.  0.  SS.  VII  236, 
10  ff.  bei  der.  Erhebung  Halinard's  von  Lyon 
vox  tortus  cleri  cam  consensu  populi  ...  at 
pastoris  caram  in  iis  gereret  deprecatnr.  ad  im- 
peratorem  legationem  mittant,  at  domnas  Hau* 
nardns  pontifex  eis  detur  exposcant.  imperatoris 
praeceptum  mittitur,  ut  domnas  Halinardas  in- 
thronizetur  praecipitur;  nachher  verfügt  Halinard 
sich  an  den  Hof,  am  die  Beiehnang  and  Bestä- 
tigung persönlich  entgegenzunehmen*),  worüber 

*)  Ich  halte  an  der  Meinung  Giesebrechts  fest,  daß 
der  Bericht  des  Chron.  S.  Benigni  Divion.  1.  c.  ein  ge- 
schlossenes Ganze  sei,  Steindorff  Jahrb.  d.  deutschen 
Reichs  unter  Heinrich  HL  S.  303  Note  2  will  zwei  ver- 
schiedene Berichte,  die  an  einander  gereiht  seien,  an- 
nehmen nnd  nur  den  zweiten  gelten  lassen,  Franziß  ist 
ihm  darin  gefolgt.  SteindorfPs  Annahme  stützt  sich  1) 
darauf,  daß  der  erste  und  zweite  Theil  der  ganzen  Wahl- 
geschichte durch  eine  Abschweifung  über  Halinards  Amts- 
rahrang unterbrochen  ist  —  solche  vorgreifende  Ab- 
schweifungen begegnen  aber  zu  oft  bei  mittelalterlichen 
Autoren,  um  einen  Verdachtgrund  gegen  die  Einheit  der 
dadurch  unterbrochenen  Erzählung  zu  bilden;  2)  darauf, 
daß  Halinard  im  ersten  Theil  des  Berichtes  Bedenken 
gegen  die  Uebernahme  des  Pontifikats  überhaupt  hegt, 
im  zweiten  Theil  nur  gegen  einen  einzelnen  Punkt,  nem- 
lieh  die  Ableistung  des  dem  Könige  schuldigen  Treueides, 
diese  Angaben,  meint  Steindorff,  wären  von  einander  ab- 
weichend, wenn  nicht  einander  widersprechend  —  aber 
dieselben  sind  wohl  mit  einander  verträglich;  denn  wenn 
ttan  dem  Gange  der  Erzählung  folgt,  erkennt  man,  daß 
diese  beiden  verschiedenen  Bedenken  zu  verschiedener 


41  i  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

gleich  Weiteres  zu  bemerken  sein  wird;   M.  G. 
SS.  VII  219,  32  nach  der  einstimmigen  Vorwahl 
wird  Wazo  als  Kandidat  von  Lüttich  nach  Re- 
gensburg an  den  Hof  gesandt,   virga  pastoralis 
cum  ecclesiae   nostrae  litteris  praesentatur,  res 
agenda  in  crastinnm  differtur,  postera  die  a  rege 
cum  episcopis  et  reliquis  palatii  principibus  con- 
sulitur ;  nach  lebhaften  Debatten  dringt  die  Kan- 
didatur Wazo's  durch,  Bischof  Bruno  von  Wirz- 
burg  und  Hermann  von  Koeln  regiae  majestati 
petitionem   nostram  conciliant  et  procerum  ani- 
mos  in  sententiam  suam  traiciunt.    Und  diesel- 
ben Modalitäten  finden   wir   noch   im  12.  Jahr- 
hundert fast  ebenso  in  Uebung.    Auch  die  For- 
men, in   denen   die  „Verleihung"  des  Bisthums 
seitens  des  Königs  vor  sich  ging,  sind  wesent- 
lich dieselben,  wie  schon  zur  Zeit  Otto's  I.  und 
wie    noch   zur  Zeit   des  Investiturstreites;  und 
mit  den  Formen  die  dafür  gebrauchten  techni- 
schen Ausdrücke:    Wido   von   Mailand   soll  der 
König  laudando  anulo  et  virga  pastorali  confir- 
mare,  M.  G.  SS.  VIII  74,  38 ;  von  Halinard  von 
Lyon   heißt  es  M.  G.  SS.  VII  236,  37   propter 
donum   episcopates   .  .  .  Heinrici    caesaris  cu- 

Zeit  bei  verschiedenen  Stadien  des  Wahlverfahrens  statt- 
gefunden haben :  das  erste,  als  der  König  auf  die  Petitio 
der  Gesandtschaft  von  Lyon  das  Bestätigungsdekret  er- 
lassen hatte  (und  hier  konnte  sehr  wohl  das  Zureden 
des  Pabstes  helfen,  da  wir  wissen,  daß  Halinard  die 
Uebernahme  des  Bisthums  bereits  früher  einmal  aus  an- 
geblich rein  kanonischen  Gründen  abgelehnt  hatte,  s. 
Steindorff  a.  a.  0.  S.  135);  das  zweite,  als  Halinard  wie 
üblich  die  Belehnung  und  Bestätigung  des  Königs  ent- 
gegen nehmen  sollte,  da  das  vorher  noch  nicht  geschehen 
war,  weil  er  der  Erzählung  gemäß  bei  Gelegenheit  der 
Petitio  nicht  selbst  mit  an  den  Hof  gegangen  war.  Wenn 
man  dies  in's  Auge  faßt  (vgl.  oben  im  Text  das  über  die 
Investitur  Gesagte),  so  ist  an  der  ganzen  Erzählung  im 
Chron.  S.  Benigni  Divion.  wohl  kein  Anstoß  zu  nehmen. 


Franziß,  Der  deutsche  Episkopat  uut.  Heinrich  III.    115 

riam  adiit  .  .  .  imperator  ut  moris  est  propter 
datum  honorem  episcopii  requisivit  ab  eo  fidei 
sibi  debitae  sacramentum;  vgl.  Gerdes  S.  56/57, 
Waitz  V.  G.  VII,  S.  280 ff.;  hervorzuheben  ist 
hierbei,  daß  der  Ring  als  Symbol  des  Bisthums- 
besitzes  unter  Otto  I.  noch  nicht  üblich  ist.  Die 
Gegenleistung  des  Belehnten  ist  der  Treueid, 
der  schon  unter  Otto  I.  aus  einem  Trenver- 
sprecben  und  Handschwur  besteht  (vgl.  Gerdes 
S.56)  und  noch  im  12.  Jahrhundert  und  später- 
hin unter  denselben  Ceremonien  vor  sich  geht 
(vgl.  Waitz  1.  c.  S.  287);  nur  ist  für  die  letztere 
Ceremonie  noch  nicht  der  technische  Ausdruck 
hominium  aufgekommen.  Aber  daß  die  Sache 
unter  Heinrich  III.  wesentlich  dieselbe  war,  er« 
giebt  sich  deutlich  aus  der  Erzählung  der  Chron. 
S.  Benign.  Divion.  M.  G.  SS.  VII  236 ,  40  ff. 
Der  König  verlangt  von  Halinard  von  Lyon  we- 
gen der  Verleihung  des  Bistbums  fidei  sibi  de« 
bitae  sacramentum.  Das  ist  eben  der  Treueid 
nebst  Handschwur,  der  von  jeher  dem  ortho- 
doxen Klerus  zuwider  war  und  gegen  den  sich 
immer  wieder  Einzelne  sträubten  (s.  Waitz  V.  G. 
VI,  S.  389/390,  VIII,  S.  454).  Halinard  ver- 
weigert denselben  aus  kanonischen  Bedenken; 
der  König  wünscht  wenigstens  si  non  vult  sa- 
cramentum facere,  vel  ad  hoc  se  proferat,  utvi- 
deatur  fecisse,  ne  mos  patriae  nostrae  adnulle- 
tar,  begnügt  sich  aber  schließlich  solummoda 
verbo  et  promissis  ipsius  fidem  assentiens  — 
derselbe  Ausweg,  welchen  Lothar  III.  gegenüber 
den  analogen  Bedenken  Konrads  von  Salzburg 
einschlug.  Auch  bei  der  Erbebung  Lietbert's 
von  Cambray  wird  die  Ableistung  des  Treu- 
eides mit  den  Worten  facta  fidelitate  imperatori 
erwähnt,  M.  G.  SS.  VII  492,  12,  vgl.  des  Re- 
ferenten Schrift  Lothar  III.   und   das   Wormser 


416  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  12. 13. 

Konkordat  S.  73.  Wenn  der  Kandidat  nicht 
selber  bei  seiner  Ernennung  am  Hofe  mit  zu- 
gegen war,  mußte  er  selbstverständlich  sich  spä- 
ter dorthin  begeben,  um  die  Belehnung  vom 
Könige  zu  empfangen,  vgl.  Gerdes  S.  55  und 
die  eben  erwähnte  Wahlgeschichte  Halinard's 
von  Lyon.  Was  die  Ceremonien  beim  Einzug 
und  bei  der  Einführung  der  Bischöfe  betrifft,  so 
möchte  ich  nur  hervorheben,  daß  während  in 
den  Quellen  aus  König  Heinrich's  Zeit  eine 
electio  publica  (vgl.  Gerdes  S.  59  und  Forschun- 
gen zur  deutschen  Gesch.  XX,  S.  361  ff.)  nicht 
ausdrücklich  erwähnt  wird,  der  feierliche  Em- 
pfang des  Neuerwählten  in  der  Bischofsstadt 
unter  derselben  technischen  Bezeichnung  Sus- 
ceptio  wie  zur  Zeit  Otto's  I.  und  Lothar's  in. 
vorkommt,  vgl.  Gerdes  S.  60  und  Forschungen 
zur  deutschen  Gesch.  XX,  S.  365  mit  den  Stel- 
len M.  G.  SS.  VIII  75,  9  usu  antiquo  ac  im- 
periis  imperatoris  urguentibus  honorifice  ac  de- 
vote 8usceptus  est  und  M.  G.  SS.  VII  220,  16 
in  sedem  episcopii  reducitur,  honorifice  ut  de- 
cebat  suscipitur.  Der  kürzere  Wahlmodus  ver- 
läuft, so  weit  uns  die  vorhandenen  Nachrichten 
sehen  lassen,  in  seinen  einzelnen  Stadien  we- 
sentlich ebenso,  mit  der  Ausnahme,  daß  eben 
die  vorherige  Ernennung  von  Kandidaten,  die 
Vorwahl  am  Orte  der  Sedisvakanz  wegfällt  zu 
Gunsten  königlicher  Designation  oder  Nomi- 
nierung. Ernst   Bernheim. 

Auf  mehrfache  Anfrage. 

Es  wird  bei  den  Gott.  gel.  Anz.  als  selbstverständ- 
lich betrachtet,  daß  wer  eine  Schrift  dahier  bespricht, 
dieselbe  nicht  auch  anderwärts,  auch  nicht  'in  kürzerer 
Form',  anzeigt. 

Ffir  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Heimisch,  Director  d.  G6tt.gel.  Abi. 
Verlag  der  Ditierich'schm  Yirlags- Buchhmuümy. 
Dntdt  d$r  DüUrich'schtn  Univ.-  Buchdruckerei  ( W.  Fr.  Kemt»*U 


417 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  14.  6.  April  1881. 


Inhalt:  A.  Samt  er,  Das  Eigenthum  in  seiner  sozialen  Bedeutung. 
Von  0.  Hartmann.  —  A.  H.  8  a  y  c  e ,  Introduction  to  the  Science  of 
Language.  Yon  A.  Fick.  —  A.  H.  Chartarir,  Canonicity.  A  Col- 
lection of  Early  Testimonies  to  the  Canonical  Books  of  the  New  Testa- 
ment.   Ton  0.  v.  Qebhardt 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ana.  verboten  SB 


Das  Eigenthum  in  seiner  sozial  en  Bedeu- 
tung, yon  Adolph  Samter.  Jena,  Verlag  von 
Gustav  Fischer  1879.    XXX  u.  503  S.    8°. 

Als  ein  Zeichen  der  Zeit  wird  auch  vor- 
stehendes Werk  in  diesen  Blättern  erwähnt  zu 
werden  verdienen.  Seine  Haupttendenz  richtet 
sich  gegen  die  Vorherrschaft  des  Individualis- 
mus in  der  Auffassung  and  Gestaltung  des  Eigen- 
tums. Nach  des  Verfasserg  eigenen  Worten 
gipfelt  das  Gesammtresultat  seiner  Untersuchun- 
gen darin :  „daß  weder  das  Privateigentum  noch 
das  Collectiv-Eigenthum  Ansprach  auf  ausschließ- 
liche Geltung  hat;  daß  sowohl  Privateigenthum 
wie  genossenschaftliches  wie  Staats-  und  Ge- 
meinde-Eigenthum  and  demgemäß  sowohl  die 
privatwirthschaftliche  wie  die  gemeinwirth- 
Bchaftliehe  Productionsweise  Existenzberechtigung 
habe".  In  dieser  Allgemeinheit  scheint  die  Auf- 
stellung allerdings  von  unerschütterlicher  Stärke 
zu  sein.     Alles   wird   aber   darauf  ankommen, 

27 


418  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

wie  man  sich  das  allgemeine  Princip  im  Einzel- 
nen ausgebildet  und  angewendet  denkt.  Und 
ob  hierin  der  Verfasser,  trotz  seines  unverkenn- 
baren Strebens  zum  Maßhalten,  doch  nicht  zu 
weit  nach  der  Seite  des  Sozialismus  hin  sich 
neigt,  das  kann  mit  Recht  gefragt  werden.  Es 
gilt  dies  namentlich  hinsichtlich  der  Behandlung 
des  Grundeigentums.  Weil  der  Grund  und  Bo- 
den nicht  beliebig  vermehrbar  ist,  weil  er  in  der 
fortschreitenden  Gesellschaft  die  Tendenz  einer 
andauernden  Werthsteigerung  verfolgt,  weil  sich 
in  ihm  die  productive  Kraft  der  Natur  unmittel- 
bar verkörpert:  eignet  sich,  nach  der  vom  Ver- 
fasser angenommenen  sozialistischen  Lehre,  das 
Grundeigenthnm  besonders  dazu  „als  gesell- 
schaftliches Eigenthum  zu  functionieren  und  der 
Gemeinschaft  überwiesen  zu  werden"  (S.  458), 
„hat  die  Natur  selbst  dem  Grundeigenthnm  den 
Stempel  der  Gesellschaftlichkeit  aufgedrückt,  es 
zum  Gemeingut  bestimmt"  (S.  462).  Es  ist 
das  ähnlich,  wie  wenn  Emile  de  Laveleye,  in 
seinem  fleißigen  und  lehrreichen  Buche  „de  la 
proprio  et  de  ses  formes  primitives",  in  der 
Schweizerischen , Allmende  das  Urbild  und  den 
idealen  Typus  alles  Eigenthums  „le  type  da 
vrai  droit  de  proprio,  qui  doit  servir  de  base 
k  la  society  de  Pavenir"  und  „la  solution  da 
probl&me  sociale"  entdeckt  hat. 

Unser  Verfasser  denkt  sich  freilich  die  prak- 
tische Ausgestaltung  und  Anwendung  des  Grund- 
gedankens in  anderer  Weise.  Der  Boden  kann 
und  muß,  nachdem  er  in's  Staatseigentum  über- 
gegangen ist,  „am  zweckmäßigsten  verpach- 
tet werden  una  zwar  in  solch  kleinen  Parzel- 
len, daß  die  Familie  ausreichendes  Ein- 
kommen findet"  (S.  491). 

Nicht  der  finanzpolitische  Gesichtspunkt  soll 


Samter,  I).  Eigenthum  in  sfeiner  socialen  Bedeutung.    419 

bei  dem  gesellschaftlichen  Eigenthnm  des  Staa- 
tes im  Vordergründe  stehen.  Vielmehr  soll  da- 
durch dem  ausschließlichen  Spiel  des  individuel- 
len Eigennutzes  ein  Gegengewicht  geboten,  es 
soll  den  im  Kampf  um's  Dasein  Bedrängten 
eine  gesellschaftliche  Zufluchtsstätte  geboten,  der 
Misere  soll  ein  Ende  gemacht  werden.  Ob 
niebt  in  der  Gonsequenz  dieses  Gedankens  auch 
das  liegen  würde,  daß  den  Vätern  zahlreicher 
Familie  von  Staatswegen  das  Pachtgeld  zu  re- 
mittieren wäre?  Und  ob  sich  nicht  bei  der  be- 
grenzten Möglichkeit  der  Vermehrung  solcher 
einträglichen  Pachtstellen,  gegenüber  dem  steten 
Andränge  einer  überzähligen  Bevölkerung,  ganz 
ähnliche  Schwierigkeiten  ergeben  würden,  wie 
sie  schon  vorlängst  durch  Aristoteles  (politic, 
lib.  II,  c.  3  §  5— 7)  gegenüber  verwandten  an- 
tiken Gesellschaftsidealen  berührt  worden  sind? 

Der  Verfasser  selbst  betont  übrigens  wieder- 
holt, daß  keineswegs  .durchaus  aller  Grund  und 
Boden  in  den  Besitz  der  Gemeinschaft  überzu- 
gehen braucht"  (S.  489).  Er  verwahrt  sich  und 
ans  gegen  die  Aussicht,  daß  plötzlich  ein 
Gesetz  erlassen  wird,  kraft  dessen  alles  oder 
nahezu  alles  in  den  Händen  der  Einzelnen 
befindliche  Grundeigenthum  enteignet  und  den 
Händen  des  Staates  bezw.  der  Gemeinde  über- 
antwortet würde  (S.  463).  Es  werde  dies  das 
Resultat  einer  allmählichen  geschichtlichen  Ent- 
wicklung sein,  freilich  in  unsrer  schnell  dahin- 
eilenden Zeit  immerhin  mit  größerem  Geschwind- 
Bchritt,  als  mit  welchem  in  der  ältesten  Ge- 
8chichtsperiode  das  ursprüngliche,  in  den  Hän- 
den der  Gemeinschaft  befindliche  Grundeigen- 
thum zum  größten  Theile  in  die  Hände  der 
Einzelnen  gekommen  ist 

Der  Ankündigung   einer  soweit  gehenden 

27* 


420  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

Verdrängung  des  einmal  herausgebildeten  Indi- 
vidual-Eigenthums  durch  Staats-  und  Collective 
eigenthum  stehen  wir  gewiß  nicht  vereinzelt 
gegenüber  mit  dem  Bedenken:  daß  einer  sol- 
chen Entwicklung  gewisse  constante  Grund- 
triebe der  menschlichen  Natur  glücklichen  und 
erfolgreichen  Widerstand  leisten  werden,  die 
nicht  schwächer  geworden  sind  seit  sie  Aristo- 
teles bei  der  Berührung  des  Eigenthums-Pro- 
blemes  (politic,  lib.  II,  c.  2)  weise  erwog. 

Unser  Verfasser  verfolgt  ganz  consequent 
die  gleiche  Tendenz,  die  er  bei  der  Behandlung 
des  Grundeigenthums  einschlug,  auch  bei  der 
Auffassung  des  anderweitigen  Staatsproductiv- 
eigenthums.  Bestimmt  verwahrt  er  sich  hier 
überhaupt  gegen  die  ausschließliche  Col- 
lectivarbeit  (S.  429).  Wie  die  literarisch -artisti- 
sche Production,  um  die  Möglichkeit  einer  gei- 
stigen Knechtschaft  auszuschließen,  der  Centra- 
lisation entzogen  bleiben  muß:  so  kann  auch  in 
anderen  Richtungen  die  Collectivarbeit  schädlich 
wirken  und  bedarf  jedenfalls  des  Gegengewichts 
durch  die  Einzelthätigkeit  und  durch  das  pri- 
vate Productiveigenthum.  Andererseits  aber 
fordert  auoh  das  System  der  individualistischen 
Privatwirtschaft  ein  Gegengewicht  in  der  wirt- 
schaftlichen Staatsthätigkeit  und  im  Staats- 
preductiveigenthum.  Der  Staat  soll  hierbei 
pflichtmäßig  dem  unter  seiner  Obhut  productiv 
Thätigen  möglichst  viel  Lohn  geben,  während 
der  Arbeiter  vom  Privatlohnherrn  möglichst  we- 
nig erhält.  Die  Erweiterung  der  Sphäre  wirt- 
schaftlicher Productivthätigkeit  des  Staates  auf 
Kosten  der  rein  individualistischen  Wirthschaft 
soll  sich  am  passendsten  anbahnen  und  einlei- 
ten durch  das  Zwischenstadium  einer  kräftigen 
Entwickelang    des  Genossenschaftswesens  und 


Samter,  D.  Eigenthum  in  seiner  socialen  Bedeutung.    421 

des  genossenschaftlichen  Productiveigentbums. 
In  welcher  Weise  aber  der  Staat  ein  ausreichen- 
des Maß  von  Produotiveigenthum  an  sieh  zu 
nehmen  and  in  welcher  Weise  er  dasselbe  zu 
verwenden  hat,  bleibt  als  „Frage  der  Zukunft" 
von  genauerem  Eingehen  ausgenommen.  Als 
leitendes  Ziel  der  Staatsthätigkeit  aber  wird 
aufgestellt :  „eine  Gesellschaftsordnung  herzu- 
stellen, in  welcher  die  Einzelnen  zur  Entfaltung 
ihrer  berechtigten  Bestrebungen  zu  gelan- 
gen vermögen  und  durch  welche  die  Ungleich- 
heiten beseitigt  werden,  die  sich  im  Laufe  der 
geschichtlichen  Entwicklung  herausgebildet  ha- 
ben«.  (S.  447). 

Es  enthält  dieser  letzte  Satz,  anders  als  die 
vorhergehenden  Sätze,  in  der  Thal  ein  so  all- 
gemein lautendes  humanes  Programm,  daß  ziem- 
lich ein  Jeder  es  wird  unterschreiben  können. 
Wenngleich  gar  Mancher  das  Moment  der  be- 
rechtigten Bestrebungen  strenger  und  ein* 
schränkender  auffassen  wird  als  unser  Verfasser 
und  gar  Maneher  viel  mehr  Ungleichheiten 
auf  die  Rechnung  einer  unerbittlichen  Natur- 
notwendigkeit setzen  wird,  als  auf  die  Rech- 
nung einer  freien  geschichtlichen  Entwicklung. 

Allen  den  Ausführungen  des  Verfassers  über 
die  praktische  Function  des  Eigenthums  geht 
voraus  eine  umfangreiche  Entwicklung  der 
Eigenthumsbildungen  der  Vergangenheit.  Hier- 
bei sind  aber  die  interessanten  Rechtsbildungen 
des  Hellenischen  Alterthums  gar  nicht  behan- 
delt, die  des  Mosaischen  Rechts  nur  flüchtig  be- 
rührt. Lediglich  die  Entwickelung  des  Eigen- 
thums im  Römischen  Reich  und  im  deutsehen 
Mittelalter  wird  eingehend  erörtert.  Dies  ge- 
schieht jedoch  nach  eigenem  Zugeständnis  des 
Verfassers  so  gänzlich  an  der  Hand  seiner  Auto- 


422  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

ritäten,  besonders  an  der  Hand  von  Tb.  Momm- 
sen,  Maurer,  Arnold,  Gierke,  daß  ein  genaueres 
Eingeben  darauf  unnöthig  ist. 

Auch  eine  genauere  Kritik  der,  schon  früher 
selbständig  publicierten  Abhandlung  über  den 
Eigenthumsbegriff  (S.  1 — 41)  kann  uns  erspart 
bleiben.  Bittet  ja  der  Verfasser  selbst,  bei  den 
rechtswissenschaftlichen  Auseinandersetzungen 
nicht  außer  Acht  zu  lassen,  daß  er  weder  Jurist 
sei,  noch  für  Juristen  schreibe.  Da  ist  ihm 
denn  durchaus  anerkennend  zuzugestehen,  daß 
er  sich  mit  Fleiß  und  im  Ganzen  mit  Verständ- 
niß  in  die  juristischen  Grundlagen  hineingear- 
beitet hat.  Nur  hat  auch  in  seiner  Beurtheilnng 
das  Rom.  Recht  kein  besseres  Glück  gehabt,  als 
es  so  oft  zu  haben  pflegt.  Dem  echten  Römi- 
schen Recht  ist  jedenfalls  die  Vorstellung,  daß 
nur  das  Privateigenthum  engeren  Sinnes  wah- 
res Eigenthum  sei,  ebenso  fremd,  wie  die  an- 
dere Vorstellung,  daß  dies  Privateigenthum  ein 
absolutes  sei  und  seine  Unumschränktheit  be- 
wahren müsse.  Das  Römische  Eigenthum,  mag 
es  in  der  Zuständigkeit  der  einzelnen  Priva- 
ten oder  der  Gesammtheit  sich  befinden,  trägt 
in  seiner  ganzen  rechtlichen  Ausgestaltung  eben- 
falls die  deutlichen  Spuren  an  sich,  bedingt  und 
begrenzt  zu  sein  durch  die  zwingenden  Inter- 
essen der  Gemeinschaft,  wie  es  nach  des  Ver- 
fassers eigener  richtiger  Erkenntnis  dem  Wesen 
aller  vernünftigen  Rechtsordnung  entspricht 

G.  Hartmann. 

Introduction  to  the  Science  of  Language  by 
A.  H.  8ayce.  2  Vols.  London,  C.  Kegan  Paul  &  Co. 
1880.    IX.  441  u.  421  S.    8°. 

Bücher,  wie  das  vorliegende,  welche  wissen- 
schaftlichen  Gehalt    mit    gemeinfaßlicher  Dar- 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.     423 

Stellung  verbinden,  sind  in  England  weit  häu- 
figer als  bei  uns.  Es  erklärt  sich  das  leicht 
aus  den  gesellschaftlichen  Zuständen  Englands. 
Der  englische  Gelehrte  ist  in  erster  Linie  Gentle- 
man, es  liegt  ihm  daher  so  nahe  wie  es  dem 
deutschen  Gelehrten  ferne  liegt,  sein  Arbeits- 
zimmer zu  verlassen  und  im  Gesellschaftskleide 
seines  Gleichen,  der  Gentry  von  England  Be- 
richt über  den  gegenwärtigen  Zustand  seiner 
Wissenschaft  zu  erstatten.  Daher  finden  wir 
denn  auch  fast  durchweg  in  den  englischen  Bü- 
chern dieser  Art  den  Ton  der  feinen  Gesell- 
schaft und  eine  faßliche  und  lebhafte  Darstel- 
lung, die  freilich  für  unseren  Geschmack  hier 
und  da  zum  bloßen  Geplauder  herabsinkt.  Die 
Schreibweise  unseres  Sayce  ist  ganz  besonders 
leicht  und  lebhaft,  ohne  doch  den  wissenschaft- 
lichen Gebalt  zu  beeinträchtigen.  Sein  Blick 
ist  weit:  er  umfaßt  das  Gesammtgebiet  der 
Sprache  und  der  Sprachen;  wenn  auch  insbe- 
sondere auf  indogermanischem  Boden  heimisch 
unternimmt  er  vergleichende  Streifzüge  ins  Se- 
mitische, Ural- A Itaische,  Chinesische,  ja  selbst 
in  die  Jagdgründe  der  Indianer  und  sonstiger 
„Wilden",  Streifzüge,  welche  ihm  mannigfache 
Beute  gewähren.  Ein  so  reichhaltiges  Material 
wird  von  allen  Seiten  betrachtet:  „Theories  of 
Language,  Physiology,  Morphology,  Metaphysics 
of  Language,  Roots,  Origin  of  Language"  u.  s.  w. 
werden,  wie  das  In  halts  verzeichniß  ausweist, 
nacheinander  abgehandelt. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  bei  der  unge- 
heuren Ausdehnung  seines  Gegenstandes  der 
Verf.  in  manchen  Partieen  sich  nur  referierend 
verhält,  ohne  neue  Gesichtspunkte  aufzustellen 
und  daß  er  nicht  auf  allen  Gebieten  die  gleiche 
Sicherheit  bekundet.    So  hält  er  noch  an  man- 


424  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  14. 

eben  Etymologieen  fest,  welchen  die  fortge- 
schrittene Kenntniß  der  Laute  den  Boden  ent- 
zogen hat.  Z.  B.  S.  119  „the  adjectival  termi- 
nation sya  or  tya  (f)  as  in  dijii6<Hog*  belonging 
to  the  people«  has  Decome  the  sign  of  the  ge- 
netive  (Inno-oio)".  drjfiociog  ist,  beiläufig  be- 
merkt, componiert  aus  Srjfiog  und  ociog  „populo 
concessusu.  Nach  S.  153  soll  die  Grundform 
des  Zahlworts  fünf  quemquem  sein,  was  sehr 
bedenklich  an  Schleichers  Jcankan  erinnert. 
S.  179  werden  aepi  und  pi  identificiert  und  beide 
dem  s.  sv&  gleichgesetzt,  da  es  doch  auf  der 
Hand  liegt,  daß  a<pi  zu  lat.  sibi  und  slav.  sehe 
gehört.  S.  188  werden  lat.  tepor  und  tempos, 
S.  189  arbor  und  röbur  und  (nach  Br6al)  erwr 
und  crus  für  „originally  identical*  erklärt  u.  s.  w. 
Man  könnte  noch  manche  verfehlte  Einzel- 
heit aufzählen,  doch  wäre  dies  Unrecht  einer 
Arbeit  gegenüber,  deren  Hauptwerth  nicht  in 
der  Detailforschung,  sondern  in  der  Aufstellung 
umfassender  Gesichtspunkte  besteht.  Solche 
Ideen  bietet  der  Verf.  besonders  zur  Entstehung 
und  Urgestalt  der  Sprache.  Freilich  vermag 
ich  hier  nicht  Allem  beizupflichten.  So  kann 
ich  z.  B.  nicht  einsehen,  welche  Parallele  zwi- 
schen dem  Sprechenlernen  der  Kinder  und  der 
ersten  Sprachentstehung  bestehen  soll.  Ich 
denke,  der  sprechen  lernende  und  der  Sprache 
schaffende  Mensch  stehen  so  weit  von  einander 
ab  als  nur  möglich.  Anders  der  Verf.  S.  104 
sagt  er:  children  —  are  the  best  example,  we 
can  have  of  the  way  in  which  the  first  men 
acquired  their  language,  remembering  only  that 
the  child  nowadays  has  a  complete  language 
already  framed  for  him,  whereas  the  first  men 
had  to  frame  theirs  for  themselves".  Der  in 
den  letzten  Worten  ausgesprochene  Gegensatz 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.     425 

hebt  meiner  Meinung  nach  alle  Analogie  zwi- 
schen dem  Kinde  und  dem  sprachbildenden  Ur- 
menschen auf.  Der  Verf.  freilich  glaubt  ans 
den  Sprechversuchen  der  Kinder  viel  lernen  zu 
können,  selbst  in  individuellen  'Sprechfehlern 
derselben  sieht  er  „survivals"  früherer  Sprach- 
perioden. So  z.  B.  S.  118.  Nachdem  er  hier 
die  Behauptung  aufgestellt  „that  the  termina- 
tion of  these  primitive  roots  or  sentence-words 
displayed  a  wearisome  monotony  of  agreement" 
fährt  er  fort  „Survivals,  as  Mr.  Tyler  has 
happily  termed  them,  are  among  the  most  va- 
luable means  we  have  of  arguing  back  to  an 
earlier  state  of  things,  and  we  can  only  treat 
as  a  survival  the  habit  of  a  child  whom  I  know, 
who  in  her  first  essays  at  speech  affixed  a  final 
ö  to  allmost  all  her  words,  saying  for  instance 
come-ö  and  dog-ö  for  »come«  and  »dog«.  Sayce 
führt  uns  noch  mehre,  seiner  Meinung  nach, 
instructive  Kinder  vor:  S.  311  ein  dreijähriges 
Kind  „who  invariably  substitutes  n  for  ltf,  IL 
S.  311  „Mr.  Taine's  little  girl«  und  II.  S.  313 
„a  little  boy",  an  welchem  Mr.  Charles  Darwin 
interessante  Beobachtungen  angestellt.  Ich  ver- 
mag nicht  abzusehen,  was  bei  dieser  „baby- 
showa  herauskommt. 

Den  Ursprung  der  Sprache  sucht  Sayce  „in 
gestures,  onomatopoeia  and  to  a  limited  extent 
interjectional  criesu.  Doch  ist  wohl  zu  mer- 
ken, daß  der  Verf.  hierin  nur  das  älteste  Ma- 
terial der  Sprache  erblickt,  die  Urform  der 
Bede  ist  ihm  der  Satz  oder  das  Satzwort 
(sentence,  sentenceword).  Geberden,  Lautnach- 
ahmung und  Empfindungslaute  theilt  der  Mensch 
allerdings  mit  dem  Thiere,  aber  die  Bede  des 
Menschen,  auch  wenn  sie  sich  bloß  dieses  ihm 
mit  dem  Thiere  gemeinsamen  Materials  bedient, 


426  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

unterscheidet  sich  von  der  „Thiersprache"  den- 
noch vollständig,  weil  sie  dieses  Material  zn 
einem  Satze  als  dem  Ausdrucke  eines  Gedan- 
kens verknüpft.  Hierdurch  fallen  die  rohen 
Ansichten  der  „Evolutionisten*4 ,  welche  die 
menschliche  Bede  aus  dem  thierischen  Geschrei 
herleiten,  da  es  die  baare  Willkür  ist,  den  homo 
sapiens  Linnaei  aus  einem  „homo  alalus"  (= 
äXoyog)  hervorgehen  zu  lassen,  wir  vielmehr 
das  Vermögen  ein  Urtheil  und  in  Folge  dessen 
einen  Satz  zu  bilden  als  dem  Menschen  ursprüng- 
lich eigen  anerkennen  müssen,  wenn  wir  uns 
nicht  in  wüste  Träume  verlieren  wollen,  die 
freilich  heutzutage  keck  genug,  zur  schweren 
Schädigung  der  Volksmoral,  als  „Ergebnisse 
der  Wis8enschafttf  ausposaunt  werden. 

Sayce  giebt  S.  111  Beispiele  für  die  Mög- 
lichkeit aus  „gestures,  onomatopoeia  and  inter- 
jectional  cries"  Sätze  zu  bilden:  Thus  by  imi- 
tating the  gurgling  of  water  and  pointing  to 
the  mouth,  a  man  could  signify  what  we  ex- 
press by  the  sentence  „I  wish  to  drink"  or  „I 
am  thirsty u ;  and  by  uttering  a  cry  of  pain 
and  pointing  to  a  knife,  he  could  show  that  he 
had  been  cut  by  it.  In  course  of  time  a  collec- 
tion of  words  would  be  formed,  each  of  which 
represented  what  we  now  call  a  sentence.  For 
a  sentence  —  is  the  name  given  by  the  gram- 
marian to  what  the  logician  would  call  a  pro- 
position or  a  judgment,  and  though  a  judgment 
may  be  analyzed  into  subject  and  object  and 
connecting  copula  (or  mental  act  of  comparison) 
we  cannot,  if  we  wish  to  be  intelligible,  sepa- 
rate its  elements  one  from  the  other.  The  whole 
sentence,  the  whole  l6yo(y  as  the  Greeks  would 
have  termed  it,  is  the  only  possible  unit  of 
thought;  subject  and  object  are  as  much  corre- 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    427 

lated  as  the  positive  and  negative  poles  of  the 
magnet".  Dieser  hier  mitgetheilte  Satz  möge 
genügen  zu  zeigen,  wie  sich  der  Verf.  den  Ur- 
satz,  das  ursprüngliche  Satzwort  denkt  «mit 
dem  die  Sprache  beginnt"  (S.  Ill),  „ welche 
durch  einen  einheitlichen  Accent,  noch  erhalten 
im  Satzaccent  des  entfalteten  Satzes  zusammen- 
gehalten wurde"  (S.  112) ;  „nothwendig  mit  einer 
Geberde  verknüpft  war"  (S.  116).  „And  this 
complex  of  sound  and  gesture  —  a  complex  in 
which  —  the  sound  had  no  meaning  apart  from 
the  gesture  —  was  the  earliest  sentence".  Der 
Verfasser  sonnt  sich  recht  in  diesem  Gedanken, 
der  allerdings  tief  und  groß  genug  ist,  sich  des- 
selben  zu  freuen,  er  wird  nicht  müde  ihn  zu 
wiederholen,  z.  B.  S.  377,  er  verzeichnet  eine 
Reihe  dicta  probantia  namhafter  Denker  und 
Gelehrten :  W.  v.  Humboldt  S.  364,  Renan  S.  364, 
Waitz  S.  84,  Fr.  Müller  u.  A. 

Nun  entsteht  die  Frage:  wie  verträgt  sich 
dieser  auf  den  ersten  Blick  einleuchtende  Ge- 
danke, daft  die  Sprache  von  Sätzen,  nicht  von 
Wörtern  ausging,  mit  der  herrschenden  Wurzel- 
theorie? Sayce  II,  1  ff.  wagt  mit  derselben 
nicht  völlig  zu  brechen,  wenn  er  auch  einsieht, 
daß  sie  mit  seinem  Lieblingsgedanken  nicht 
stimmt  Es  scheint  mir  daher  angemessen,  die 
geläufige  Annahme  von  Wurzeln  einer  näheren 
Betrachtung  zu  unterziehen. 

Da  ist  denn  zunächst  zu  bemerken,  daß  die 
Form,  in  welcher  die  indische  Grammatik  eine 
große  Zahl  von  Wurzeln  aufstellt,  falsch  ist, 
d.  h.  einem  ursprünglichen  selbständigen  Worte 
gar  nicht  geeignet  haben  kann.  Die  Hindus 
sind  zwar  in  der  Ansetzung  der  Wurzelformen 
nicht  consequent,  wenn  sie  neben  Wurzeln  mit 
geschwächtem  Vocal  wie  r  kr  ric  tud  vollvoca- 


428  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

lische  wie  da  as  pat  vac  aufstellen.  Eins  yon 
beiden  kann  nur  wahr  sein :  entweder  hatte  die 
„Wurzel"  (deren  Existenz  einmal  vorausgesetzt) 
volle  oder  geschwächte  Vocale.  Setzt  man  nun 
consequent  die  kürzeste  Form  an,  so  ergiebt 
sich  für  die  Mehrzahl  der  so  angesetzten  Wur- 
zeln aus  der  bloßen  Aufstellung  derselben  ihre 
Un Wirklichkeit,  ja  Unmöglichkeit:  z.  B.  ß  sein, 
vq  sprechen,  pt  fallen,  tn  spannen,  nk  erreichen 
u.  s.  w.  Wie  rein  äußerlich,  ohne  alle  Einsicht 
in  die  Lautverhältnisse  die  Hindus  bei  der  Auf- 
stellung ihrer  Wurzeln  verfuhren,  zeigen  An- 
sätze wie  rc  yuj  dah:  c  j  h  sind,  wie  Collitz 
nachgewiesen,  durch  Einfluß  eines  ursprünglich 
folgenden  e  aus  k  g  gh  palatalisiert,  man  hat 
also  entweder  rk  yug  dagh  oder  arce  yuje  dahe, 
im  indischen  Kleide  area  yuja  daha,  als  Wur- 
zeln anzusetzen.  Die  Gunatheorie,  welche  auf 
der  Ansetzung  von  i-,  u-  und  r-Wurzeln  beruht, 
darf  heutzutage  für  beseitigt  gelten ,  ich  be- 
merke hier  nur,  daß  der  Anhänger  dieser  Theorie 
in  vidh:  vyadh,  sup:  svap,  grbh:  grabh  einen 
zweiten  Guna  annehmen  muß,  wo  das  a  nicht 
vor-,  sondern  nachspringt.  Der  entscheidende 
Grund,  warum  pt  vk  und  so  denn  auchiliqtud 
gar  nicht  Urwörter  gewesen  sein  können ,  liegt 
in  den  Accentgesetzen.  Die  kürzesten  Stämme 
sind  nämlich  ursprünglich  accentlos:  i  pt  vk 
entstehen  durch  Einwirkung  des  auf  ursprüng- 
lich vollvocalische  ei  pet  vek  folgenden  Accents : 
ei-mi:  i-mfoi.  Denke  ich  mir  nun  die  Ursprache 
aus  lauter  Wörtern  wie  i  liq  tud  pt  vq  be- 
stehend, so  nehme  ich  damit  an,  daß  die  Sprache 
einmal  aus  lauter  tonlosen  (enclitischen  und 
proclitischen)  Wörtern  bestanden  habe,  was  na- 
türlich reiner  Unsinn  ist. 

Nun  könnte  der  Anhänger  der  Wurzeltheorie 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.     429 

sich  ans  aller  Noth  gerettet  glauben,  wenn  er 
consequent  die  vollvocalischen  oder  hochbeton* 
ten  Formen  ei  6s  d6rk  p6t  als  Wnrzeln  ansetzte, 
und  für  die  vocalisch  auslautenden  wie  sthä  dhe 
pö  halte  ich  dies  selbst  für  richtig  (jedoch  nur, 
weil  ich  diese  mit  Saussure  auf  sth£a  dhäe  peo 
zurückführe).  Eine  Folge  von  lauter  einsilbigen 
hochbetonten  Wörtern  ist  zwar  fast  ebenso  un- 
denkbar als  die  von  lauter  tonlosen,  doch  ist 
hier  wenigstens  das  einzelne  Wort  durchweg 
sprecbbar.  Für  die  Meinung,  daß  6d  6s  derk 
u.  s.  w.  die  Urgestalt  des  indogerm.  Wortes  sei, 
läßt  sich  nur  Ein  scheinbarer  Grund  anführen. 
Ich  gebe  ihn  mit  den  Worten  Delbrücks 
Einleitung  in  das  Sprachstudium  S. 74 
*Wenn  wirklich  die  Prototypen  der  jetzt  vorhan- 
denen Flexionsformen  dnrch  Zusammensetzung, 
insbesondere  die  Prototypen  der  Formen  des 
Verbum  finitum  durch  Zusammensetzung  einer 
Verbal-  mit  einer  Pronominalwurzel  entstanden 
sind,  so  muß  die  Wurzel,  ehe  das  Wort  ent- 
stand, bestanden  haben.  Die  Wurzeln  sind 
darum  in  den  Wörtern  enthalten,  weil  sie  vor 
ihnen  da  waren  und  in  ihnen  aufgegangen  sind. 
Sie  sind  die  Wörter  der  vorflexivischen  Periode, 
welche  mit  der  Ausbildung  der  Flexion  ver- 
schwinden. Und  daher  erscheint  denn  das- 
jenige, was  einst  ein  reales  Wort  war,  vom 
Standpunkte  der  ausgebildeten  Flexionssprache 
aus  nur  als  ein  ideales  Bedeutungscentrum u. 
Also:  wenn  ed-mi  aus  ed  und mi,  jenes  „essen", 
dieses  „ich"  bedeutend,  zusammengesetzt  ist,  so 
muß  vor  der  Vollziehung  dieser  Zusammen- 
setzung ed  schon  für  sich  ein  selbständiges 
„essen"  bedeutendes  Wort  gewesen  sein.  Sehr 
wohl;  wenn  nur  6dmi  wirklich  aus  ed  „essen" 
und  mi  „ich"   bestände.     Zwar  hat  Bopp  be- 


430  ftött.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

kanntllch  dies  Compositum  so  aufgelöst,  seine 
Deutung  des  mi  si  ti  auf  Pronominalstämme 
galt  und  gilt  als  ein  Palladium  der  Wissen- 
schaft, und  ich  selbst  bin  weit  entfernt  den 
Grundgedanken  Bopps  antasten  zu  wollen.  Frei- 
lich die  Durchfuhrung  dieses  Gedankens,  wie 
sie  von  Bopp  angebahnt,  von  Kuhn  und  Schlei- 
cher fortgesetzt,  z.  B.  in  Curtius  Verb  d.  griech. 
Sprache  I,  S.  35  ff.  dargelegt  ist,  läßt  sich  heutzu- 
tage nicht  mehr  halten,  weil  sie  den  Lautge- 
setzen zu  wenig  Rechnung  trägt.  Zwar  einige 
der  schlimmsten  Verstöße  lassen  sich  beseitigen 
ohne  Bopps  Idee  zu  schädigen.  So  ist  z.  B. 
das  si  der  zweiten  Person  selbstverständlich 
nicht  aus  tvi  entstanden,  sondern  hat  von  jeher 
Bi  gelautet,  ebenso  ist  das  te,  arisch  ta  der 
2  pl.  nicht  aus  tva  geworden;  beide  Formen 
erklären  sich  durch  Zurtickführung  auf  das 
Pronomen,  welches  bereits  ursprachlich  im  No- 
minativ sg.  so  sätod  (s.  sa  sä  tad  =  6  §  to  = 
got.  sa  so  that-a)  lautete,  d.  h.  die  beiden 
„Stämme"  se  und  te  zu  einem  Systeme  verei- 
nigt hatte,  ohne  daß  darum  der  eine  aus  dem 
anderen  entstanden  wäre.  Die  Beziehung  des 
Pronomens  se  auf  die  zweite  Person  ist  wenig- 
stens nicht  undenkbar,  man  vergleiche  s.  sa  tvam 
und  o  *AnoXX6da>QOQ !  was  ungefähr  so  viel  heißt 
als  „du!  Apollodor!"  Dagegen  läßt  sich,  meine 
ich,  sogar  beweisen,  daß  te  einst  für  die  zweite 
Person  gebraucht  wurde.  Dies  ergiebt  sich  aus 
s.  te,  das  doch  kaum  aus  tve  entstanden  ist; 
auch  ist  die  geläufige  Form  tvä  erst  aus  tövo 
«=  s.  t&va  =  tipo  tev  entstanden,  worin  -vo 
Genetivzeichen  ist  wie  in  TXaoia-po  der  alten 
korkyräischen  Inschrift.  Ebenso  wenig  wie  si 
aus  tvi  ist  das  $  in  xkv&*  xslpe&a  *bUT\H 
u.  s.  w.  auf  tv  zurückzuführen.    Ferner   ist  va 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.     431 

im  Dnal.  1  p.  natürlich  Dicht  ans  ma  entstan- 
den, es  gehört  vielmehr  zu  8.  v&m  vayam  sl.  v8 
got.  veis  nhd.  wir.  Aach  brauchen  die  Plurale 
und  Duale  mes  tes  ves  nicht,  allen  Laut-  nnd 
Denkgesetzen  zum  Trotze  ans  ma-tva  n.  s.  w. 
„ich  nnd  dutf)  entstanden  zn  sein,  sondern 
können  schlichtweg  als  Plurale  aufgefaßt  wer- 
den, wie  solche  im  s.  nas  1  p.  vas  2.  p.  äpfjug 
vpfuq  wirklich  vorliegen.  Endlich  ist  die  An- 
nahme von  bereits  ursprachlichen  Verstümme- 
lungen aufzugeben:  (ptyco  got.  balra  ist  nicht 
aus  (peQco-fju  „verstümmelt",  so  wenig  als  (p£(>e 
=  s.  bhara  aus  <psQ€&*  oder  s.  jajrii  aus  jar- 
nata  u.  s.  w. 

Aber  auch  nach  Vornahme  aller  dieser  Ver- 
besserungen bleiben  immer  noch  Bedenken 
schwerster  Art  gegen  Bopp's  Zerlegung  von 
6dmi  „ich  essea  in  ed  „essen"  und  mi  „ich". 
Das  Pronomen  1  p.  heißt  nicht  mi,  sondern  me 
(8.  ma)  und  die  Entstehung  von  ursprachlichem 
i  aus  e  ist  ganz  unerhört.  Ebenso  wenig  kann 
m  s.  me  1  med.  aus  ma-mi  entstanden  sein, 
wie  Kuhn  meint,  wenigstens  fehlt  alle  ursprach- 
liche Analogie.  Müssen  wir  nicht  also  doch 
fiopps  Idee  ganz  aufgeben  und  uns  nach  einer 
anderen  Deutung  umsehen?  Das  ist  allerdings 
Ludwigs  Meinung  (Infinitiv  im  Veda  Prag  1871). 
Um  Ludwig  gerecht  zu  werden,  muß  man  zwi- 
schen seinem  Grundgedanken  und  der  Ausfüh- 
rung desselben  sowie  den  daraus  gezogenen 
Consequenzen  genau  unterscheiden.  Das  neue 
frincip,  welches  er  aufstellt,  ist  die  Herleitung 
des  Verbum  finitum  aus  dem  Verbum  infinitum, 
seiner  Grundanschauung  gemäß,  daß  das  Be- 
sondere aus  dem  Allgemeinen  entstanden  sei 
nayiceshädviceshärambhah"  wie  das  Motto  sei- 
ner Schrift  lautet 


432  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

Den  Beweis  hierfür  findet  Ludwig  darin, 
daß  im  Veda  Formen,  die  ihrer  Bildung  nach 
deutlich  Infinitive  sind,  zur  Bezeichnung  der  1. 
und  3.  Person  verwendet  werden,  wie  c&ye  ich 
liege,  cäye  er  liegt,  dad6  ich,  er  ist  gegeben; 
ferner  in  der  Verwendung  des  Infinitivs  im 
Sinne  des  Imperativs,  und  für  das  finite  Verb 
historischer  Tempora  im  lateinischen  inf.  histo- 
ricus.  Dieser  Gedanke  Ludwigs  ist  zweifellos 
richtig  und  sichert  seinem  Urheber  einen  unver- 
gänglichen Namen  in  der  Geschichte  der  Sprach- 
forschung. Dagegen  ist  in  der  Durchführung 
dieses  Princips  Vieles  verfehlt:  Ludwig  erkennt 
nicht,  daß  außer  den  geläufigen  Infinitiven  anf 
i  und  m  noch  andere  „Infinite"  bestanden  ha- 
ben, so  vor  Allem  die  auf  s.  a,  ä,  welche  er 
durch  einen  wunderlichen  Lautproceß  auf  -äni, 
-äi  zurückführt.  Auch  muthet  uns  Ludwig  zu 
viel  zu,  wenn  wir  mit  ihm  alle  Formen  des 
Verbum  finitium  nun  ohne  Weiteres  für  ursprüng- 
liche Infinitive  halten  sollen.  Wo  begegnen  uns 
denn  Infinitive  wie  ädmi  yujmahe  dädvahe  u.  s.  w.j? 
Warum  ferner  finden  wir  die  Formen  mit  inne- 
rem m  und  v  nur  in  der  ersten,  die  mit  s  und 
th  in  der  zweiten,  die  mit  t  in  der  dritten? 
Hier  schüttet  Ludwig  in  seinem  Eifer  gegen  die 
Boppsche  Theorie  das  Kind  mit  dem  Bade  aus: 
das  Princip  Ludwigs  und  die  Erkenntniß  Bopps 
widerstreiten  sich  nicht,  sondern  lassen  sich  un- 
gezwungen mit  einander  vereinigen. 

Es  liegen  nämlich  neben  den  Formen,  welche 
ihrer  Bildung  nach  Infinitive  sind,  aber  als  Ver- 
bum finitum  fungieren,  vollere  Gestalten,  welche 
sich  von  jenen  nur  durch  eine  innere  Vermeh- 
rung unterscheiden.  Das  Verhältniß  dieser  vol- 
leren zu  den  einfacheren  Formen  ist  vor  Allem 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    433 

zu  untersuchen.  So  haben  wir  in  der  ersten 
Person : 

1  sg.  imp.  8.  bharä-n-i  neben  bharäi. 

8.  caye  ich  liege  neben  Ktf-p-f».  Der  Infi- 
nitiv ksXcu  ist  im  Griechischen  erhalten:  tax- 
tela*  bei  Hesych.  und  xctcu,  ebenda  s.  v.  oqsgxm- 
wtk¥\  ganz  gleich  sind  niQ&ai  %evm  u.  8.  w. 
gebildet,  die  ursprünglich  keinem  bestimmten 
Tempus  angehören.  Ebenso  ist  s.  name  inf.  = 
name  ich  beuge  mich. 

1  sg.  pf.  med.  dadä  lat  dedt  neben  diöo* 
j»-<o.    Ebenso  in  der  zweiten: 

2  sg.  asi  =  z.  ahi  du  bist  ist  nicht  in  as-si 
zu  zerlegen,  vielmehr  ist  asi  Infinitiv  wie  z.  B. 
8.  sam-cäkshi:  daneben  liegt  iaa-t  du  bist. 
Attisch  ei  du  bist  und  et  du  gehst  sind  mehr- 
deutig. Lit.  2  sg.  suki  verhält  sich  zu  s. 
bhara-8-i,  wie  s.  asi  zu  ia<ft. 

In  der  dritten  Person: 

8.  c&ye  er  liegt,  neben  c6-t-e  =  *rf-*-af.  — 
Die  3  sg.  aor.  pass,  des  Sanskrit  dä'yi  aväri 
avedi  ist  wohl  einfach  Infinitiv.  Ebenso  ist 
(ptQt*  neben  s.  bhara-t-i  =  got.  bairith,  Infinitiv, 
derselbe,  welchen  Bezzenberger  in  s.  bödhe-the, 
tadä  the  erkannt  hat.  Neben  der  3  sg.  pf.  8. 
dad6  liegt  dido  t-cu.  —  In  die  Reihe  s.  duh&m: 
dahatam  und  duhräm :  duhratam  fügt  sich  i-ys- 
vopav  ein.  Zu  Grunde  liegen  Infinitive  wie  s. 
vidäm. 

Wie  verhalten  sich  nun  ue1-(*-at  zu  s.  caye 
ich  liege:  xsta*  inf.  liegen,  £o-<s-i  zu  s.  asi,  s. 
bbara-s-i  zu  lit.  snki,  s.  bhara-t-i  zu  tfiQei,  s. 
ce  t-e  =  %%%'%  ai  zu  s.  caye  er  liegt  =  xeta* 
liegen?  Der  Thatbestand  läßt,  wie  mir  scheint, 
nur  Eine  Erklärung  zu.  Ursprünglich  wurde 
der  Infinitiv  z.  B.  keiai  liegen  für  alle  drei  Per- 
sonen des  Sing,  gebraucht,  später  infigierteman 

28 


484  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

die  Pronomina  me  se  te  und  gewann  so  kei-m-ai 
für  die  erste,  kei-s-ai  =  s.  cäshe  für  die  zweite, 
kei-t-ai  für  die  dritte  Person  sg.  Für  die 
Darstellung  der  Flexion  des  Dual  und  Plural 
nehme  ich  als  beliebiges  Beispiel  16iqmi  ich 
lasse.  In  liq-ves-i  1  du.  liq-mäs-i  l.pl.  sind 
die  Plurale  ves,  mes  infi giert;  liq-dhvai  2  pl. 
med.  scheint  eine  Nebenform  zu  dem  Infinitiv 
s.  -dhyäi  wie  -dhai  in  liq-me-dhai  1  pl.  med.*), 
endlich  liq6n-t-i  und  liqn-t-ai  3  pl.  enthalten  die 
Infinitivformen  liq£ni:  liqnai  vgl.  z.  B.  di-ddra*. 
Hiernach  würde  sich  das  ursprüngliche  Schema 
etwa  so  stellen: 

Act.  sg.  1  16iq-m-i  2  l&q-s-i  3  16iq-t-i,  du.  1 
liq-v6s-i  2  liqt-6s-i  1  pl.  Iiq-m6s-i  3  pl.  Iiq6n-t-i. 

Med.  sg.  1  liq-m-ai  2  liq-s-ai  3  liq-t-ai,  da.  1 
liq-v6-dhai,  pl.  1  liq-me-dhai  2.  liq-dhvai  3 
liqn-t-ai. 

Ist  diese  Auffassung  richtig,  so  ist  leiqmi 
gar  nicht  in  die  „Wurzel"  leiq  und  den  Prono- 
minalstamm  ma  aufzulösen,  sondern  die  ganze 
Flexion  von  leiqmi  leiqsi  u.  s.  w.  beruht  auf 
den  Infinitiven  l&qi  liqeni  liqai  liqdhai,  und  von 
dem  Hervortreten  der  „Wurzel4*  als  eines  ur 
sprünglich  selbständigen  Gebildes  kann  hier 
nicht  die  Rede  sein,  man  müßte  denn  behaup- 
ten, der  Locativ  16iqi  setze  einen  „Stamm"  leiq 
voraus.  Doch  ist  die  Berechtigung  zu  einer 
solchen  Annahme  sehr  zweifelhaft,  wenigstens 
hat  bis  jetzt  wohl  noch  niemand  behauptet,  daß 
wegen  s.  upari  ein  einstmals  durchflectiertes  npar 
neben  üpara  angenommen  werden  müsse.  —  In 
s,  dhimafti  =  &i(*s&a  i&ipe&a  scheint  eine 
kürzere  Form   des  Inf.  auf  -dhai  vorzuliegen, 

*)  Ist  s.  bhäradhvam  =  <p*qbc&ov,  so  ist  s.  bhäradhve 
2  pl.  med.  =  <}iQs<T&at  inf.  med.  and  damit  das  ursprüng- 
liche Infinit  auf  -dhvai  bewiesen. 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    435 

wie  eine  solche  auf  #*  in  *Xv&$  s.  crudbi  (vgl. 
zend.  crfiidhy&i  inf.)  erscheint;  ebenso  verhält 
sich  s.  dä'tn  er  gebe  zu  den  Infinitiven  dä'tum 
d&'tos  dä'tave  (vgl.  eppev  =  ippsvai). 

Neben  den  Formen  des  Verbum  finitum, 
welche  als  einfache  oder  infigierte  Infinitive  auf 
i  und  n  (s.  m)  aufzufassen  sind,  giebt  es  eine 
noch  ältere  Formenschicht,  welche  auf  bloßen 
Vocal  auslautet.    Diese  Formen  sind: 

In  der  ersten  Person: 

1  sg.  praes.  y^oo  got.  baira  z.  ufya,  conj. 
(ptgoo  s.  stävä. 

1  sg.  pf.  s.  cak&ra  ytyova  air.  cechon(a) 
got  man. 

In  der  zweiten: 

2  sg.  imp.  8.  kuru  mache,  bh&ra  =  tpi^s 
got.  nim. 

2  pl.  pf.  s.  jajn'a,  daraus  ySyats  durch  Infi- 
gierung  von  *:  y%yv-%-*  =  gegn-t-e. 

In  der  dritten: 

3  sg.   praes.   äol.   ti^tj   didw   und   darnach 

(pOQfJ   ÖOxlfJHÜ. 

3  sg.  pf.  yiyovB  air.  cechuin(e)  s.  cak&'ra. 

Daß  diese  Formen  älter  sind  als  die  dem 
mi  si  ti  u.  s.  w.  zu  Grunde  liegenden  Infinitive 
auf  i,  älter  auch  als  die  Infinitive  auf  n  (s.  m), 
liegt  auf  der  Hand;  der  Locativ  wie  der  Accu- 
sativ  setzen  den  Instrumental  voraus,  wie  denn 
z.  B.  me-i  und  me-n  älteres  me  resp.  me  (pe  s. 
mä)  voraussetzen  und  wirklich  neben  sich  lie- 
gen haben.  Vielleicht  ist  es  möglich  aus  diesen 
Trümmern  die  Urflexion  des  indogermanischen 
Verbs  wiederherzustellen,  eine  Flexion,  welche 
ganz  aus  den  eigenen  Mitteln  des  Wortes  bloß 
durch  den  accentbewirkten  Ablaut  bestritten 
wurde. 

Anstatt  fingierter  „Wurzeln"  liegen  also  der 

28* 


436  Gott.  gel.  Anz.  1881,  Stück  14. 

Verbalflexion  wirkliche  lebendige  Wörter  zu 
Grunde,  welche  wir  „Infinite"  nennen  wollen. 
Zum  Theil  sind  dieselben  wirkliche  Infinitive, 
wie  die  auf  i  und  n  (s.  m).  Eine  noch  ältere 
Schicht  wie  bhere  gegone  kommt  in  der  Sprache 
nicht  mehr  als  Infinitive  vor,  ist  aber  der  Aus- 
gang für  die  Infinitive  auf  i  und  n.  Das  Infinit 
entspricht  nun  den  bisher  an  die  Wurzel  ge- 
stellten Anforderungen:  es  ist  weder  Verb  noch 
Nomen,  sondern  beides;  zugleich  ist  es  ein  Ens 
und  keine  bloße  Abstraction.  Was  die  Urform 
des  Infinits  anlangt,  so  ist  diese  als  Instrumen- 
tal zu  bezeichnen,  insofern  dieser  Casus  ur- 
sprünglich gar  kein  Zeichen  annimmt  (z.  B.  ps 
s.  mä  =  m6  me'  als  Accusativ  verwendet),  nicht 
ganz  passend  erscheint  diese  Benennung  jedoch, 
insofern  die  Instrumentalform  vor  der  Ausbil- 
dung aller  anderen  Casus  bereits  vorhanden 
war.  Das  Infinit  als  Basis  der  gesammten  Ver- 
balflexion verträgt  sich  nun  auch  vortrefflich  mit 
der  von  Sayce  verfochtenen  Idee:  daß  nämlich 
das  Einfache  in  der  Sprache  der  Satz,  das 
Satzwort  sei.  Solche  Sätze  oder  Satzwörter 
sind  <piQu>  (pigs  yiyovs  wirklich;  freilich  ellipti- 
sche Sätze,  wenn  wir  ihre  Verwendung  betrach- 
ten, (fiqe  kann  seiner  Bildung  nach  nur  be- 
deuten „mit  Tragen",  es  heißt  aber  in  der  wirk- 
lichen Sprache  „trage  (du)".  Die  grammatische 
Beziehung,  hier  die  an  einen  gegenwärtigen 
Zweiten  gerichtete  Aufforderung  ist  in  <ftQ* 
lautlich  gar  nicht  ausgedrückt,  sie  ist  ursprüng- 
lich ergänzt  durch  die  Geberde  der  Weisung. 
Ebenso  ist  iptQoa  nicht  lautlich  vollständiger  Aus- 
druck für  „ich  trage"  (man  müßte  sonst  (f>£Q*> 
in  (fsqo-s  zerlegen),  das  „ich"  wurde  ursprüng- 
lich durch  eine  auf  den  Sprechenden  zurück- 
weisende Geberde   bezeichnet.     Man  muß  ganz 


Sayee,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    437 

allgemein  mit  Sayce  S.  112  annehmen,  daß  der 
Ursatz  aus  einem  Lautzeichen  verbunden  mit 
einer  Geberde  bestand,  daß  die  Einheit  beider 
den  vollen  Satz  bildete.  Diese  Betrachtung 
läßt  uns  überhaupt  erst  die  Entstehung  der  Ur- 
wörter  begreifen.  Nehmen  wir  z.  B.  an,  daß  pö 
(=  p£o)  ein  solches  Urwort  sei.  Dieses  konnte 
nicht  als  ein  für  sich  gedachtes  Abstract  ent- 
stehen, wohl  aber  in  einem  gedanklichen  Zu- 
sammenbange wie  z.  B.  „trinke  du".  Trat 
nun  in  einem  gegebenen  Falle  z.  B.  bei  der  Auf- 
forderung eines  Vaters  an  sein  dürstendes  Kind 
ein  dringender  Anlaß  ein  die  Lippenthätigkeit 
beim  Trinken  lautlich  zu  bezeichnen,  so  konnte 
dieser  lautliche  Ausdruck  ja  wohl  als  „pö  p6o" 
erscheinen,  aber  die  notbwendig  damit  verbun- 
dene Geberde  der  Aufforderung  vervollständigte 
erst  das  „pötf  zum  Satze  „trink".  So  mögen 
wir  denn  die  Infinite  durch  Infinitive  übersetzen, 
müssen  aber  wohl  bedenken,  daß  diese  als  solche, 
für  sich,  nichts  waren,  sondern  erst  durch  die 
begleitende  Geberde  zu  einem  sprachlichen  Et- 
was d.  h.  zu  einem  Satze  wurden:  keiai  heißt 
nur,  wenn  es  aus  seiner  ursprünglich  notwen- 
digen Verbindung  mit  einer  ergänzenden  Ge- 
berde gerissen  ist  „liegen",  mit  einer  solchen 
heißt  es  „ich  liege"  s.  c&ye,  oder  mit  einer  an- 
deren „  er  liegt"  s.  c&ye  u.  s.  w. 

Auch  die  sogenannten  Pronominalstämme 
können  nicht  für  sich,  sondern  nur  in  einem 
gedanklichen  oder  Satzzusammenhange  entstan- 
den sein.  Wenn  in  dem  Gedanken  des  ursprüng- 
lichen Menschen  die  Hinweisung  vorwog,  so 
konnte  der  Verbalbegriff  ausgelassen  und  die 
Hinweisung  durch  ein  Lautzeichen  gekräftigt 
werden.  Ein  „t£  da!"  ist  entstanden  in  ellipti- 
schen Sätzen  wie  „siehe  da!"  u.  s.w.,  wie  solche 


1 


438  Gott.  gel.  Anz.  lötfl.  Stück  14. 

elliptische  Sätze  noch  heutzutage  üblich  sind. 
Wenn  Bürger  sagt  ^Hier,  komm  hier",  so  ist 
das  erste  „hier"  gleichbedeutend  mit  dem  darauf 
folgenden  Satze  „komm  hier",  unser  „ja"  heißt 
eigentlich  „so",  wie  ital.  si  und  war  ursprüng- 
lich einem  Satze  „so  ist  es"  gleich.  Sonach 
dürfen  wir  den  Satz  aufstellen:  das  Infinit  und 
das  Localadverb  (oder  kurzweg  „Locale")  sind 
die  ältesten  Satzwörter,  beide  sind  in  ellipti- 
schen d.  h.  durch  Geberde  ergänzten  Sätzen  ent- 
sprungen. Der  Satz,  in  welchem  das  Infinit  ent- 
sprang, enthielt  dieses  selbst  mit  einer  Geberde 
aufs  Ich,  Du  u.  s.  w.  (z.  B.  bhire  -f-  Geberde  = 
trage  du),  dagegen  entstand  das  Locale  in  einem 
Satze,  worin  das  Infinit  (der  Verbalbegriff)  aus- 
gelassen oder  durch  eine  Geberde  angedeutet, 
die  Weisung  aber  durch  ein  Lautzeichen  hervor- 
gehoben wurde,  also  z.  B.  Geberde  +  te  = 
.siebe  da".  Der  lautlich  vollständige  Ursatz 
d.  h.  derjenige,  in  welchem  beide  Elemente  des- 
selben, Infinit  wie  Locale,  ihren  lautlichen  Aus- 
druck erhielten,  ist  erst  eine  spätere  Schöpfung, 
er  ist  das  entwickelte  Verbum  finitum,  wo  das 
Locale  in  das  Infinit  infigiert  ist,  z.  B.  keiai: 
kei-t-ai  er  liegt. 

Das  hier  verfochtene  Princip,  im  Anschlüsse 
an  Sayce's  Idee  von  der  Ursprttnglicbkeit  des 
Satzwortes  statt  von  der  Wurzel  von  den  In- 
finitiven als  den  der  Verbalflexion  zu  Grunde 
liegenden  Urformen  auszugehen,  erweist  sieh  be- 
sonders fruchtbar  für  die  richtige  Auffassung 
der  sog.  Tempusstämme.  Setzen  wir  statt  der 
„Wurzel"  liq  das  Infinit  16iqe  resp.  leiqe  als  Ba- 
sis, so  ergeben  sich  hieraus  sämmtliche  Tempo* 
stamme  als  bloße  durch  den  Accent  und  die  Re- 
duplication bewirkte  Umgestaltungen  dieser 
Grundform:  pre.  leiqö  und  leiqo,  aor.  Iiq6  and 
liqe  pf.  teloiqe  und  leliqä,  leliqS'  und  zwar  sind 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    439 

alle  diese  Formen  einst  wirklieh  vorhandene 
Wörter  gewesen  wie  sie  es  noch  sind  in  Xrinm 
=  leiqö,  letm  =  16iqe,  lim  (vgl.  ik&i) « liqö, 
UXome  =  teloiqe,  s.  ririca  wie  jajhi,  2  pl.  pf. 
=  leliqe.  Der  Stamm  liqe'  ist  der  des  griechi- 
schen sog.  Passivaorists.  Dieser  gilt  ganz  mit 
Unrecht  für  eine  den  Griechen  eigene  Bildung, 
er  findet  sieb  genau  entsprechend  im  Sanskrit 
im  part.  aor.  med.  z.  B.  vidä-nä  (zu  vindati) 
uod  in  den  slav.  Aoriststämmen  auf  e  und  a 
(tir^:  tire,  ber$:  btora),  sowie  in  „den  baltischen 
Aoristen  (lit  likati,  biro,  bridäu,  kirp&u,  lett. 
pirku,  dilu,  dfimu,  viru)a  Bezzenberger  in  G.G.A. 
1879  S.  674.  Daß  die  Sanskritgrammatiker 
vid-äna-s  trennen,  daß  dieses  äna  aus  mäna 
verstümmelt  (!)  sein  soll,  genügt  es  erwähnt  zn 
haben.  Um  die  völlig  gleiche  Bildung  des  griech. 
Aorist  Pass,  und  des  s.  part.  aor.  med.  zu  er- 
kennen, genügt  die  Zusammenstellung  beider 
Formen.  Man  vergleiche:  »xtf-f*«'«*  plyfj  dAupy- 
vcu  und  s.  dihä-n&  picä-na  vidä-nä,  §vfj  und  s. 
stuvä-ni,  i&rv  und  budhä-nä,  eyQtj$*  iyiQ^g 
Hesych.  und  ßfoiyG  und  s.  krä-nä  vrä-nä,  i<p- 
^aQfjv  und  s.  urä-nä,  hccQnijfMv  iQanijofiev  und 
s.  trshä-na,  sprdhä-nä.  Der  Stamm  leliqö'  ist 
der  dritte  Perfectstamm  des  Griechischen  (wenn 
man  n&notda  den  ersten,  inim&ikev  den  zweiten 
nennt).  Im  Sanskrit  und  Germanischen  wird 
aus  diesem  Stamme  das  part  pf.  med.  resp. 
pass,  gebildet,  nur  daß  im  Germanischen  das 
alte  S  durch  Einfluß  des  Accents  in  a  verwan- 
delt wird.  Man  vergleiche:  nem&ij-fä  IsXhj(*6~ 
voq  uztfjwf;  und  s.  didiä-na  riricä-nä  titvishä-na 
got  stigans,  iQQvy-Ka  teivxtj-***  und  tushtuvä»nä 
jajushä-nä  got  kusans,  BtQtjjcu  (=  p*pQW**) 
ßißltj-xa  und  s.  babhrä-na  got  baurans,  86x*l~*<* 
foxy-ta*  (=  (taoxq-)  und  s.  sehä-nä  (sebä  = 
sashä  =  toxi)  a-  &•  w. 


440  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

Zur  Stütze  der  oben  aufgestellten  Behaup- 
tung, m  s  t  in  xet-p-m  s.  c6-sh-e  xcZ-t-cu  seien 
in  das  Infinit  xetec*  =  cäye  infigiert,  haben  wir 
noch  Beispiele  ursprachlicher  Infigierung  beizu- 
bringen. Solche  Beispiele  gewähren  uns  die 
drei  nasalierten  Präsensclassen  des  Sanskrit  (7. 
9.  5  Glasse).  Die  Infigierung  liegt  bei  der  7. 
Glasse  auf  der  Hand:  s.  yu-nä-kti:  yu-n-jm&s: 
yu  n-j&nti  infigieren  deutlichst  n&  in  den  starken, 
n  in  den  schwachen  Formen,  und  wenn  auch 
die  accentgemäße  Vertheilung  von  n&  (=  ne) 
und  n  nur  im  Sanskrit  und  Zend  nachzuweisen 
ist,  so  steht  doch  für  Jeden,  in  dem  eine  Ahnung 
von  dem  Eunstbaue  der  Ursprache  aufgegangen 
ist,  von  vornherein  fest,  daß  das  System  ynnekti: 
yungm&ri:  yungenti  =  lat.  jungunt  keine  ari- 
sche Neuschöpfung  sein  kann. 

In  der  neunten  Präsensclasse  des  Sanskrit 
ist  n&,  n  ebenfalls  infigiert,  nicht  affigiert,  wie 
das  zuerst  von  Saussure  Systeme  prim,  des 
Voyelles  p.  240  ff.  nachgewiesen  ist,  und  zwar 
tritt  hier  nk  (n)  vor  dem  schließenden  Vocal 
des  „Stammes"  ein.  Dieser  schließende  Vocal 
lautet  im  Sanskrit  i,  im  Griechischen  mit  regel- 
rechter Entsprechung  a  (vgl.  ir*JQa-  järi-shus. 
Sag:  s.  äsls  lat.  eras,  xQipaq:  s.  kravis,  (fettes, 
iöoevarto:  s.  aeu-eyavit,  8%svaq:  s.  havis,  #17«- 
irjQ :  s.  duhi-tär  u.  s.  w.).  Das  s.  i  war  aber  in 
st&ri-  u.  s.  w.,  wie  das  Griechische  zeigt,  ur- 
sprünglich ein  A-Laut,  daher  verbindet  sich  in 
den  starken  Formen  nä  mit  dem  folgenden 
Stammauslaute  zu  na  z.  B.  st&ri-tum :  str-nä'-mi 
aus  str-n&a-mi.  Machen  wir  die  Probe  im 
Griechischen,  so  kann  hier  also  die  Präsensbil- 
dung -?w**,  -vafMv  nur  dann  erscheinen,  wenn 
der  allgemeine  Verbalstamm  auf  a  (=  s.  i)  aus- 
lautet, und  so  ist  es  in  der  That: 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    441 
ddpvijfjb*  (==  dap-ve-a-pi)  dd(*-v-a-tan   dctpd* 

dpdtog,  s.  dami-t&r. 

tidvatcu:  xedd-GGai  cf.  Gxida 

xiQVfj(ji*  ixlgrato :    xepa-ico  xsQa-trocu  axqa-tog. 

xQtftAvdvtUiV :  xq£(acc-zcu. 

Uvapar  TQinopcu  Hsch.:  fad-fto 

niXvatai :    neXd-uc*    mXd-cfGa*  nXy-to  a-nXy- 
%og  (a) 

mtvdg:  netd-aaak  ns-ma-pSvog. 

noQvdpev  ntoXstP  =  nsQPdpcv :  neqd-GGab,  n£- 
nqatak  nqä-tog. 

duxoxidrdto;  axedd-aocu,  tfxcdda. 
Ferner:  paQvapcu  kämpfe:  t*6Qtxt  wie  s.  mrnä'ti: 
inari  in  ämari-tar,  xdfivco  (ans  xapp^ft»):  xdpa- 
«05  xixpfj-xa  ä-xpä-tog,  s.  ä-cami-shta,  cami-tär, 
rdfApm:  %4(ia-xog}  tfofifj-iai,  ipy-tog  (a),  AXIvm 
lat.  lino  vgl.  s.  linäti  zu  layi.  Ebenso  verhalten 
sich  s.  krtnä'ti  kauft  zu  ngia-ttöai,  (s.  krlta  für 
kriyi-ta)  =  nquxto  in  d-nQidtfjv),  s.  äramnät 
stillte  zu  y-gipa  stille,  s.  ästrnät  lat.  sterno  zu 
8.  st&ri-tum,  8.  grnä'ti  ehrt  zu  ytya-g  lat.  grä-tus 
=  s.  gürtä.  Hätte  die  Wurzelschrulle  nicht  im 
Wege  gestanden,  so  mußte  man  längst  einsehen, 
daß  die  ganze  Verbalclasse  auf  s.  i,  griech.  a 
wie  8.  pari,  st&ri,  tiXa  tragen ,  x4qcc  mischen, 
&p4pa  (==  s.  a-dhvanl-t)  sterben  gar  nicht  auf 
Wurzeln  wie  par  rsX  xeq  (!)  ruhe,  sondern  auf 
den  Wörtern  s.  pari,  tiXa,  xtga,  Wörter,  welche 
theiiweis  noch  als  solche  nachweisbar  sind.  So 
ist  äya-pcu  gar  nichts  als  das  flectierte  äya-  und 
dieses  Schwächung  des  bekannten  Wortes  ptya 
=  an.  mjök  =  s.  mähi,  s.  ramnä'ti  ruht  auf 
rami  und  dieses  rämi  ist  das  griechische  Wort 
y-Qtpa  still.  In  hXdv  hXrjv  %&%Xap&v  ist  selbst- 
verständlich keine  „Metathese"  des  Wurzelphan- 
toms ntsX  oder  taXu  eingetreten,  sondern  «?  regej* 


442  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

recht  getilgt  und  in  hXrjr  thXtjxa  zXtjzog  der 
Auslaut  ebenso  regelrecht  gedehnt.  Die  Ent- 
sprechung von  s.  gürtä  und  lat.  grätus  ist  bei- 
läufig bemerkt  ebenfalls  ganz  regelrecht:  s.8t&ri 
=  *ot€Qcc  gäbe  regelmäßig  geschwächt  s.  stri-ti 
=  GiQa-io-g;  für  ri  (=  griech.  qcl  lat.  ra)  tritt 
aber  im  Sanskrit,  da  dessen  gekürzte  Vocale 
durchweg  eine  Stufe  tiefer  stehen  als  die  euro- 
päischen, r  ein  also  strta,  die  Dehnung  dieses  r 
würde  *8ttrtä  (wie  stir-ni)  =  lat.  strätus  geben. 
Ebenso  s.  gäri:  gri  =  gr:  gürtd,  aber  yiQa-g: 
(grä):  lat.  grätus.  Doch  kann  dies  hier  nicht 
weiter  verfolgt  werden. 

Auch  in  der  5.  Präsensclasse  des  Sanskrit 
ist  nä  (n)  ursprünglich  infigiert  und  zwar  in 
„Infinite"  auf  u.  Den  Beispielen  Saussures 
a.a.O.  fügeich  zu:  s. cakn&väma:  cikvancikvas 
xlxvg(&.\.  xixxvg),  äsaghnos :  sabu-rf  ox»  Qo-g  l%v~ 
QÖg,  s.  dabhnuv&nti :  z.  debaoma,  wozu  ved.  adbhu-ta 
(Bezzenberger  in  s.  Beiträgen  III  171  ff.)  rnöti 
oQWfju:  s.  arvan  oqovoo,  strnöshi  (Ttoqwuh:  0w- 
Qiaacu  ist  (toQpi-aaai  germ,  straujan,  s.  däcnöti: 
däcu-ri,  prusb^ute:  prushvä  Tropfen,  dhrshnuhi: 
fact's,  jinvati :  jiv,  pinvati :  ptvan.  Im  Grie- 
chischen: &%vv\kah\  a%tpwv  d%£(av,  &ÖQWfkan 
öoqsTv  (=  d'Qpsty  cf.  8.  dhürv),  ÖQsyvvg:  oQyvta 
s.  rjii,  yawpa* :  yav  sich  freuen  lat.  gau  Freude, 
SXXvfu:  oiXopsvog  (oXpd)  dXopdg,  <p&dyu  = 
(p&dvpn  z.  cpanvanti  zu  s.  spbavaya  cans, 
zu  sphäy. 

Wie  weit  auch  sonst  Infigierung  stattgefun- 
den, muß  weitere  Forschung  lehren ;  auf  die  An- 
wendung von  Infixen  bei  der  Deminutivbildung 
hat  bereits  Bezzenberger  in  s.  Beiträgen  V  99 
hingewiesen;  derselbe  theilt  mir  zwei  deutlichst 
mit  Infix  gebildete  s.  Deminutive  mit:  yämaki: 
yämi  und  svapitaki:  svapiti  (Aufrecht  in  Zs.  d* 
d.  morgen!.  Gesellsch.  34,  175).     Ich  (gebe  hier 


Sayce,  Introduction  to  the  Science  of  Language.    443 

eine  kleine  Sammlang  von  griech.  deminutiven 
Verben,  welche  deutlich  Infigierung  enthalten: 
ämaxd^opa*  Hsch.:  aoW£o/*a*,  doxtxdo  Hsch.: 
doxa,  (Avvnxä&w  Hsch.:  pimctgatia  Hsch.,  07*0- 
xoQÖdta  Hsch.  =  (fftoQÖdm  Hsch.:  a^QÖoq  Ge- 
walt; aqnaXlfa:  ceprraC«,  ßqvaXlfa :  ßQvdfa,  dctpct- 

<ntofaypH>e  Zischen:  atypög  olfa,  tgiykifa:  %qlt&f 
TQvkl£(a:  fjpf'£<0;  nonnvfodfa:  normvtt»,  tjßvXXtäv: 
i\fiäv\  i^anajvXXwv :  igancrnav,  ißvXXwv:  ßifco, 
ßQvXXwp :  ßQvv,  w&vXXsw  Hsch. :  w&eto ;  fiaddXXu : 
paddto,  iaQÖdXff  Hsch.:  ßctQdtjv  ßwsZv,  jJQpaXci- 
(ttno  Hsch.:  rjQpoaato,  ^QtaXiovto:  äq%im\  xay- 
%aXdw:  xay%äv-  XixsQilfcco:  Xaxzlfa,  paGtctQlfai 
patimfo,  oxw&aQtfai  oxw9l£(o.  Das  Verzeich- 
aiß  läßt  sich  noch  sehr  vermehren;  Verba  de- 
minutiva  ähnlicher  Bildung  sind  noch  heute  im 
Deutschen  üblich  wie  liebeln:  lieben,  tänzeln: 
tanzen  u.  s.  w. 

Wenn  so  die  „Wurzel"  zu  Gunsten  des 
Sayceschen  „Satzwortes"  aufzugeben  ist,  so  ist 
selbstverständlich,  daß  auch  der  „Stamm"  als 
leere  Abstraction  beseitigt  werden  muß.  Anstatt 
der  rohen  Zerhackung  des  lebendigen  Wortes  in 
„Wurzel"  oder  „Stamm"  und  „Suffix",  d.  h.  in 
zwei  non  entia,  ist  vielmehr  zu  zeigen,  wie  Ka- 
tegorie aus  Kategorie  in  gesetzlicher  Weise  sich 
entwickelt.  So  entspringen  Participien  aus  den 
Infinitiven,  besonders  deutlich  die  sogenannten 
part,  necessitatis:  z.  B.  s.  dätavyä  ist  nicht  aus 
der  „Wurzel"  da  und  dem  „Suffix"  tavya  ge- 
bildet, sondern  dätavyäm  „zu  geben"  ist  das, 
was  dä'tave  „zu  geben"  ist,  und  ob  das  in  dä- 
tavi-ä  scheinbar  an  dä'tave  angetretene  a  „die 
Pronominalwurzel  a"  oder  „das  secundäre  a- 
Suffix"  oder  „paragogisch"  sei,  mag  dahingestellt 
sein.  Ebenso  ist  lat.  ferendus  der,  welcher  „fe- 
rendo"  ist,  und  eine  „zu  beherzigende"  Mahnung, 


444  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

eine  Mahnung,  die  „zu  beherzigen a  ist.  Die  Ab- 
stracto auf  s.  yä  griech.  %a  haben  Verba  aufs,  ya 
gr.  ym  zur  notwendigen  Voraussetzung,  ebenso 
die  s.  nomina  agentis  auf  yu  vgl.  Bechtel  G.6.A. 
1879  S.  272,  dagegen  ruhen  die  Adjective  auf 
tog  auf  dem  Locativ.  Besonders  deutlich  tritt 
dies  bei  den  Ortsadjectiven  auf  yoiog  wie  7#a- 
xtjoiog  hervor.  Es  kann  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, daß  'I&axrJGwg  auf  den  Locativ  'I&axtjOi 
zurückzuführen  ist.  Man  vergleiche:  &Qid&og: 
0Qtä<r$9  IlsvisXtftoog :  IJemXtjo*,  llteXedciog :  Ilts- 
Xeäto,  OvXaötog:  QvXrjai,  QXvfaog:  QXvtjto, 
Hiernach  sind  auch  die  nQV(*vy<na  Homers  Taue, 
welche  sich  ^iiQVfiv^ai  an  der  Prymne"  befinden. 
Ebenso  ist  'Agystog:  ö  "Agyst,  Maga&mvtog:  i 
MccqccÜgovIj  AaxsdatfJiovtog :  6  Aaxedalpov*,  2&U- 
vovvnog:  6  Sshvovvu  (oop)  u.  s.  w.  An  sonsti- 
gen beweisenden  Formen  stelle  ich  noch  zusam- 
men :  avtiog :  civil,  ägtiog :  agunog,  yvvcua  öwga : 
yvpcu-fiaptjg,  defyog :  defy-tsgog,  dijfiog :  d^c*  = 
ddp  in  dripl-ifoßog,  fögiog :  fat,  lytog :  lift,  xga- 
Tcudg:  xgat ai-yvaXog ,  naXcudg:  ndXai,  noXog: 
not,  ngwiog:  ngcoi.  Noch  deutlicher  ist  elvdhog 
=  slv  äXi,  ivvv%iog  =  iv  vv%i9  lm%&oviog  =  ifd 
Z&OVI,  vnoxeiQtog  =  vno  %eigi.  Die  Vocalver- 
kürzung  in  ötjfjtiog  (vgl.  navdypsi)  ivdijfjuog  er- 
klärt sich  aus  alter  Oxytonierang,  erhalten  in 
äyveufg:  acpevog,  yegcuog:  ysgai^regog,  naXaiog: 
ndXcu,  wie  im  s.  divyi  d.  i.  divi  ä  „wag  im 
Himmel  (divi)  ist".  Wie  das  Patronym  TeXa- 
poivhog  zu  denken  ist  als  b  TsXaptiovi  „dem  Te- 
lamon  (gehörig)",  so  beruht  TeXapwldfig  auf 
dem  Ablativ  TiXapaptd,  „der  vom  TelamonB, 
TsXapoowddtjg  ist  „der  von  der  TsXapnavtad  sc. 
ywsady  der  vom  Telamonischen  Geschlechte". 

Diese  Betrachtungen  können  hier  nicht  wei- 
ter verfolgt  werden ;  sie  sind  veranlaßt  worden 
durch   den   kühnen  und  glücklichen   Gedanken 


Charteris,  Canonicity.  445 

Sayce's,  daß  nicht  von  Wurzeln,  Stämmen  und 
Suffixen,  als  leeren  Abstractionen,  sondern  vom 
Satzworte  auszugehen  sei.  Auf  den  übrigen 
reichen  Inhalt  der  Sayce'schen  Schrift  kann  ich 
hier  nicht  eingehen,  und  muß  mich  mit  einer 
allgemeinen  Empfehlung  derselben  nicht  nur  für 
Lernende,  sondern  auch  für  Lehrende  begnügen. 

A.  Fick. 


Canonicity.  A  Collection  of  Early  Testimonies  to 
the  Canonical  Books  of  the  New  Testament,  based  on 
Kirchhofer's  'Quellensammlung'.  By  A.  H.  Charte- 
ris, D.D.,  Professor  of  Biblical  Criticism  and  Biblical 
Antiquities  in  the  University  of  Edinburgh ;  and  one  of 
Her  Majesty's  Chaplains.  Edinburgh  and  London, 
William  Blackwood  and  Sons.  MDCCCLXXX.  (88, 
CXX,  484  S.    8°). 

Wenn  man,  durch  die  Fassung  des  Titels  ge- 
leitet, das  vorliegende  Werk  zunächst  vornehm- 
lich in  seinem  Verhältniß  zu  Kirchhofers  „Quel- 
lensammlung zur  Geschichte  des  Neutestament- 
liehen  Canons  bis  auf  Hieronymus"  (Zürich  1844) 
zu  würdigen  unternimmt,  so  wird  man  mit  der 
Anerkennung  des  Geleisteten  nicht  zurückhaltend 
zu  sein  brauchen.  Der  Verf.  hat  nicht  nur,  unter- 
stützt durch  eine  Anzahl  jüngerer  Freunde,  die  von 
seinem  Vorgänger  zusammengestellten  Texte  auf 
Grund  der  in  den  letzten  vierzig  Jahren  erschie- 
nenen neuen  Ausgaben  sorgfältig  revidiert,  son- 
dern auch  durch  Einleitungen  und  textkritische 
sowol  als  sachliche  Anmerkungen  die  Brauch- 
barkeit des  Buchs  zu  erhöhen  sich  bemüht.  Ganz 
neu  hinzugekommen  ist  namentlich  die  Introduc- 
tion (S.  I — CXX),  welche  in  17  Abschnitten  über 
die  wichtigsten  Zeugen  und  geschichtlichen  Zeug- 
nisse für  den  Gebrauch  der  neutestamentlichen 
Schriften  orientiert  Die  Quellenauszüge  selbst 
sind,  hier  und  da  vermehrt,  im  wesentlichen  ebenso 
gruppiert  wie  bei  Kirchhofer.    Den  Anfang  ma- 


446  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

chen  die  ältesten  Zeugnisse  für  eine  Sammlung 
heiliger  Schriften  (bis  auf  Athanasius)  and  die 
späteren  für  den  Canon  des  Neuen  Testaments 
(vom  Goncil  zu  Laodicea  bis  zum  —  Bonner  Alt- 
katholikencongreß  v.  J.  1874!).  Dann  folgen 
die  Stellen  patristischer  Schriften,  die  sich  auf 
das  Neue  Testament  als  Ganzes  beziehen,  sodann 
im  einzelnen  die  Zeugnisse  für  die  vier  Evange- 
lien, für  die  Synoptiker,  für  Matthäus,  Marcus 
u.  s.  w.  bis  zur  Apokalypse.  Dieß  der  erste 
und  Haupttheil  (S.  1—358).  Der  zweite  Theil 
bringt  die  Bezeugung  durch  heidnische  Schrift- 
steller (S.  361  —379,  darunter  auch  solche  Stücke, 
in  denen  zwar  von  Christen,  nicht  aber  von  ihren 
heiligen  Schriften  die  Bede  ist),  der  dritte  durch 
Häretiker  (S.  383—448).  Der  vierte  Theil  end- 
lich handelt  von  außerkanonischen  Evangelien 
(S.  451—471),  worauf  noch  Errata  (S.  473  f., 
hinzuzufügen  S.  XXXV  Anm.  1  Echhardt,  wofür 
Gebhardt,  und  S.  169  Anm.  4  Z1H,  wofür  TIE 
zu  lesen  ist)  und  ein  von  Bev.  James  Coullie 
ausgearbeiteter  Index  (S.  475—484)  folgen. 

Was  der  Verfasser  im  Vorwort  als  seine  Ab- 
sicht bezeichnet,  hat  er  in  anerkennenswerter 
Weise  ausgeführt,  und  Kirchhofers  Quellensamm- 
lung, ohnehin  längst  im  Buchhandel  vergriffen, 
kann  nun  als  völlig  antiquiert  gelten.  Nur  die- 
jenigen werden  sich  ihrer  etwa  noch  bedienen, 
welche  für  die  griechischen  Texte  eine  lateini- 
sche Uebersetzung,  von  welcher  hier  ganz  ab- 
gesehn  worden  ist,  nicht  missen  mögen.  Man 
kann  also,  wenn  man  die  Voraussetzung  des 
Verfassers  von  der  Brauchbarkeit  und  Zweck- 
mäßigkeit einer  derartigen  Sammlung  theilt,  für 
diese  Wiederbelebung  des  Eirchhoferschen  Wer- 
kes nur  dankbar  sein. 

Anders  gestaltet  sich  das  Urtheil,  wenn  man 
das  vorliegende  Buch,  abgesondert  von  seinem 


Charterte,  Canonicity.  447 

Vorgänger,  för  sich  allein  betrachtet  Man  sieht 
sieh  dann  zuvörderst  vor  die  Frage  gestellt,  ob 
wirklich  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  und  bei 
dem  gegenwärtigen  Stande  der  Forschung  nach 
den  Anfängen  und  der  Entwicklung  des  neu- 
testamentlichen  Canons,  eine  solche  Behandlung 
des  Gegenstandes,  wie  sie  uns  hier  geboten  wird, 
als  nützlich  und  der  Sache  förderlich  bezeichnet 
werden  kann.  Wer  den  Verhandlungen,  welche 
in  den  letztverflossenen  Jahrzehnten  hierüber  ge- 
führt worden  sind,  mit  Aufmerksamkeit  gefolgt 
ist,  wird  diese  Frage,  wenn  überhaupt,  so  doch 
nur  in  sehr  bedingter  Weise  bejahen  können. 
Daß  es  dem  Docenten,  welcher  über  Geschichte 
des  neutestamentlichen  Canons  liest,  recht  er- 
wünscht sein  mag,  ein  Handbuch  zur  Verfügung 
zu  haben,  in  welchem  sich  die  in  Betracht  kom- 
menden Belege  gesammelt  finden,  ist  einzuräu- 
men. Aber  selbst  unter  diesen  Gesichtspunkt  ge- 
stellt, möchte  man  die  Anlage  der  Quellensamqt- 
lung  anders  wünschen.  Dieses  bunte  Durch- 
einander von  ausdrücklichen  Citaten  und  bloßen 
Wortanklängen,  von  abendländischen  und  mor- 
genländischen Quellen,  ist  in  hohem  Grade  ver- 
wirrend und,  wenn  man,  wie  der  Verfasser,  vor- 
nehmlich auf  Studierende  als  Leser  rechnet,  um 
so  bedenklicher,  als  es  in  dem  Buche  selbst  an 
den  nöthigen  Directiven  zur  Sichtung  und  rich- 
tigen Beurtheilung  des  mannigfaltigen  Stoffes 
fehlt.  Die  ausführliche  Einleitung  giebt  zwar  für 
die  kirchlichen  Schriftsteller  bis  auf  Origenes 
herab  die  nöthigsten  Daten,  läßt  aber  die  grund- 
legenden Fragen  nach  der  Entwicklung  des  Be- 
griffs der  Canonicität  und  den  Merkmalen  der- 
selben so  wie  nach  den  localen  Verschiedenheiten 
der  Canonsgeschichte  ganz  bei  Seite. 

Die  Erörterung  der  zahlreichen  Controversen,  welche 
in  den  einleitenden  Abschnitten   zur  Sprache   kommen, 


448  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  14. 

läßt  das  Streben  nach  möglichster  Objectivität  nicht  ver- 
kennen. Die  Urtheile  des  Verfassers  sind  demgemäß  be- 
sonnen und  vorsichtig  abwägend,  bleiben  aber  dabei  nicht 
selten  zwischen  den  Extremen  schwankend.  So  z.  B.  in 
betreff  des  Briefs  an  Diognet,  von  dem  es  heißt:  nThe 
date  may  be  from  the  end  of  the  second  to  the  beginning 
of  the  fourth  century ;  or  it  may  be  the  fiction  of  a  later 
time"  (S.  65  Anm.  1,  wo  kurz  vorher,  mit  Berufung  auf 
Donaldson,  die  Abfassung  durch  Henr.  Stephanus  als 
„not  absolutely  inconceivable"  bezeichnet  worden  war). 
Ueber  die  Entstehungszeit  der  Acta  Pauli  et  Theclae  ur- 
theilt  der  Verf.  S.  180  Anm.  1  folgendermaßen:  „This 
Book  is  probably  that  to  which  Tertullian  refers  (de 
bapt.  c.  /7),  and  dates  from  some  time  after  the  middle 
of  the  second  century" ;  dagegen  S.  199  Anm.  1  äußert 
er  sich  darüber  wie  folgt:  a  work  of  the  second  century 
.  .  .  which  Tertullian  (de  bapt.  c.  if)  says  was  written 
by  a  presbyter  who  confessed  that  he  manufactured  it 
from  love  of  Paul.  According  to  Jerome  it  dates  from 
the  beginning  of  the  second  century".  Die  Litteraturan- 
gaben,  welche  übrigens  nur  gelegentlich  auftreten  und  auf 
Vollständigkeit  augenscheinlich  keinen  Anspruch  erheben, 
möchte  man  doch  oft  etwas  reichhaltiger  wünschen.  Wenn 
z.  B.  in  dem  Abschnitt  über  das  Muratori'sche  Fragment 

SS.  LXXIX  ff.),  der  doch  dazu  dienen  soll,  den  Leser  über 
len  Stand  der  Frage  zu  orientieren,  nichts  von  dem  er- 
wähnt wird,  was  seit  Hesse's  Monographie  (1873)  darüber 
geschrieben  worden  ist,  so  muß  das  als  ein  Mangel  be- 
zeichnet werden,  selbst  wenn  man  dem  Verf.  die  Berech- 
tigung zugesteht,  den  Werth  dieser  Urkunde  für  die  Ge- 
schichte des  neutestamentlichen  Canons  nicht  so  hoch  an- 
zuschlagen, wie  es  meist  geschieht.  „It  seems  to  J«", 
heißt  es  darüber  S.  LXXX,  „compiled  from  dislocated 
pieces;  at  all  events,  the  connection  between  the  sentences 
is  often  obscure.  The  only  use  which  can  be  safely  made 
of  its  testimony  regarding  some  disputed  point  is  of  a 
general  kind"  u.  8.  w.,  und  zum  Schluß  (S.  LXXXI): 
„On  the  whole,  we  must  regard  this  famous  fragment  «* 
an  unsatisfactory  document". 

Der  Druck  des  Buchs,  namentlich  der  mitgetheilten 
Texte,  macht  den  Eindruck  großer  Correctheit ;  die  Aus- 
stattung läßt  nichts  zu  wünschen  übrig. 

Göttingen. 0.  v.  Gebhardt. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  F.  Bechtd,  Director  d.  Gott.  gel.  Am. 
Verlag  der  IHeteiich' sehen  Vertage  -Buchhandlung. 
J)roc1c  der  Theif  rieh' sehen  Univ.'  Buchdruckevei  ( W.  Fr.  Ktwhm). 


449 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  15. 16.  13.  u.  20.  April  1881. 


Inhalt:  J.  Coaz,  Die  Lauinen  der  Schweiieralpen.  Yon  J.  Bartach, 
—  K.  Both,  Geschieht«  dee  Forst-  und  Jagdwesens  in  Deutschland. 
Von  B.  Braun.  —  Lamp  recht  von  Regensburg,  heraus?,  t. 
K.  Weinhold.  Von  F.  Beck.  —  Aristophanis  Thesmopho- 
riazQßae  ed.  H.  H.  Blaydes.  Von  Ä.  von  Ydsm.  —  F.  Beiini, 
fiieerca  del  fosforo  delle  urine.    Yon  Tk.  Hueemann. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  verboten  se 

Die  Lauinen  der  Schweizeralpen.  Von 
J.  Coaz.  Bearbeitet  und  veröffentlicht  im  Auftrage 
des  eidgenössischen  Handels-  und  Landwirthschafts- 
Departements.  Mit  einer  Lauinenkarte  des  Gotthard- 
gebietes,  fünf  Tabellen  und  vielen  Abbildungen.  Bern. 
J.  Dalp'sche  Buch-  und  Kunsthandlung  (E.  Schmid). 
1881.     147  SS.     8°. 

Wer  mit  theilnehmendem  Interesse  den  Fort- 
gang des  Kampfes  verfolgt,  welchen  in  den 
Alpenländern  eine  Scbaar  einsichtiger  Männer 
wider  die  den  Menschenwerken  feindlichen  Ele- 
mentar-Gewalten  and  ihren  starken  Bandesge- 
nossen, den  Unverstand  des  Volkes,  führt,  der 
hat  in  den  vordersten  Bei  hen  jener  wackren 
Caltur-Kämpfer  seit  drei  Jahrzehnten  stetig  den 
Mann  gefanden,  dessen  Namen  das  ans  vorlie- 
gende neae  Werkchen  auf  seinem  Titel  trägt. 
Ein  Bach  des  eidgenössischen  Oberforstinspec- 
tors  Coaz  über  die  Lauinen  darf  bei  jedem  Al- 
penfrennd,  schon  ehe  er  es  aufgeschlagen,  einer 
achtungsvollen  Aufnahme  sicher  sein.     Wer  es 

29 


450  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

gelesen,  wird  nicht  unterlassen,  ihm  ein  freudi- 
ges „Willkommen!"  entgegen  zn  rufen. 

Während  an  der  Erforschung  der  meisten 
Seiten  der  Alpen-Natur,  an  der  Entschleierung 
des  Gebirgs-Baus,  an  dem  Studium  der  atmo- 
sphärischen Vorgänge  und  der  Vegetation  Natur- 
kundige aller  Nationen  zahlreich  und  mit  Erfolg 
sich  bet  heil  igt  haben,  ist  eine  der  verbreitetsten, 
großartigsten  und  zugleich  verhängnißvollsten 
alpinen  Natur-Erscheinungen,  die  Lauine,  so  gut 
wie  vollständig  dem  Forschungs-Sinn  der  Alpen- 
bewohner vorbehalten.  Der  Fremde,  welcher 
im  Sommer  die  Alpen  durchwandert,  sieht  bis- 
weilen nach  stärkerem  Schneefall  in  den  Hoch- 
regionen an  jäher  Gipfel-Lehne  eine  Lauine 
hinabfegen  in  den  Grund  einer  Firnmulde  und 
läßt  mit  dem  Ergötzen  der  Neugier  sein  Auge 
auf  dem  schönen  Schauspiel  ruhen.  .  Von  den 
Schrecken  der  Lauinen-Stürze  gewinnt  er  nnr 
eine  dunkle,  mehr  ahnende  Vorstellung  aus  den 
Schneemassen,  mit  denen  ein  Lauinenzug  einen 
Wildbach  für  den  ganzen  Sommer  fest  über- 
brückt hat,  aus  dem  Bilde  der  Verwüstung,  das 
Waldungen  darbieten,  in  welche  Lauinen  selbst 
oder  die  ihnen  voraneilende  Windsbraut  einge- 
brochen sind,  aus  den  Schutzwehren,  mit  denen 
die  Bergbewohner  ihre  Häuser  und  ihre  Ver- 
kehrswege gewappnet  haben  gegen  den  An- 
sturm der  Schneefluth.  Eine  volle  anmittelbare 
Eenntniß  des  Pbaenomens  in  seinen  furchtbar* 
sten  Gestalten  kann  nur  der  gewinnen,  der  Jabr 
aus  Jabr  ein  die  Lauinenzeit  in  den  Alpen  mit 
durchlebt.  Auf  eine  von  praktischer  Erfahrung 
und  zugleich  von  wissenschaftlichem  Sinn  ge- 
tragene monographische  Darstellung  der  Laui- 
nen von  der  Hand  solch  eines  Mannes  haben 
wir  lange    warten  müssen.     Seit   Simler    und 


Coaz,  Lauinen  der  Schweizeralpen.  451 

Scheuchzer  die  Lauinen  classificierten  and  be- 
schrieben, sind  sehr  wenige  and  meist  sehr  we- 
nig fördernde  Beiträge  zur  Kenntniß  der  Latri- 
nen za  verzeichnen.  Mit  Litteratur  Studien 
braachte  Coaz  nicht  viel  Zeit  zu  verlieren. 

Das  Werk  von  C.  geht  naturgemäß  ans  von 
der  Vorbedingung  der  Lauinenbildung,  von  dem 
Schneefall  in  den  Schweizer  Alpen.  Es  be- 
zeichnet die  Grenzen,  innerhalb  deren  die  Luft- 
Temperatur  bei  Schneefällen  sich  zu  halten 
pflegt  (+  4°  C.  bis  —  10°  C.)  und  characteri- 
siert  die  je  nach  der  Temperatur  verschiedene 
Beschaffenheit  des  Schnees,  den  feuchten,  groß 
flockigen,  leicht  haftenden  Schnee  warmer  Tage 
und  den  trocknen,  feinen  Schneestaub,  der  in 
kalter  Luft  fallend  ein  Spiel  der  Winde  wird, 
die  ihn  umberwirbeln  und  in  ungleicher  Verkei- 
lung ablagern.  Länger  beschäftigt  den  Verf. 
die  Ermittelung  der  Masse  des  Schnees,  der  in 
den  Schweizer  Alpen,  speciell  in  dem  Gotthard- 
Gebiete  fallt,  dessen  Lauinenzüge  als  Beispiel 
für  die  Verbreitung  des  Phaenomens  auf  einer 
beiliegenden  Karte  (1:50,000)  eingetragen  sind. 
Coaz  hat  hier  mit  den  bekannten  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen,  denen  überhaupt  die  Mes- 
sung des  Schneefalls  unterliegt.  Um  auch  die 
Beobachtungen  derjenigen  Stationen  mit  ver- 
werthen  zn  können,  welche  nur  die  Höhe  der 
aus  der  Schmelzung  des  Schnees  gewonnenen 
Wasserschicht  angeben,  bemüht  er  sich  das  Vo- 
lumens-Verhältniß  zwischen  frisch  gefallenem 
Schnee  und  seinem  Schmelzwasser*)  zu  bestim- 
men aus   den   besonders  vollständigen  und  zu- 

*)  Dies  Verhältniß  schwankt  bekanntlich  nach  den 
Untersuchungen  von  van  Swinden  und  Quetelet  zwischen 
3 : 1  und  19  :  1  (im  Mittel  9 :  1).  Jelinek  hält  12  : 1  für 
die  durchschnittlich  anwendbare  Proportion. 

29* 


462 


Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  15. 16. 


verlässigen  Beobachtungen  zweier  im  Höben- 
gtirtel  der  Lauinenbildung  gelegener  Stationen. 
Für  den  Gr.  St.  Bernhard  (2478»)  ergiebt  sieh 
aus  3  Jahrgängen  (1876—1878)  das  Volumens- 
Verhältniß  von  frischgefallenem  Schnee  zum 
Schmelzwasser  =  12,064:1,  für  Sils -Maria 
(1810*)  aus  4  Jahrgängen  (1876—1879)  « 
12,33 : 1.  Das  Mittel  aus  beiden  Beobachtungs- 
Reihen  (12,12: 1)  benutzt  G.  dann  für  die  Um- 
rechnung der  Schmelzwasserhöhen  in  Schnee- 
höhen. Bei  den  starken  Differenzen  der  zwi- 
schen 21,93  und  8,17  sich  bewegenden  Monats- 
Mittel  für  den  Exponenten  der  Proportion,  schie- 
nen mir  die  von  Goaz  berechneten  Reinen  zu 
kurz  und  die  nahe  Uebereinstimmung  der  Re- 
sultate für  beide  Stationen  eine  mehr  zufällige. 
Da  überdies  die  Wahrscheinlichkeit  nahe  lag, 
daß  je  nach  den  Temperatur  Verhältnissen  für 
die  einzelnen  Monate  sich  verschiedene  Werthe 
des  Exponenten  der  Volumens-Proportion  zwi- 
schen Schnee  und  Wasser  ergeben  würden,  habe 
ich  für  die  beiden  von  G.  gewählten  Stationen 
die  vollen  in  den  Schweizerischen  Meteorologi- 
schen Beobachtungen  vorliegenden  Materialien 
rechnend  verwerthet  (Gr.  St.  Bernhard  16  Jahr- 
gänge 1864—1879.  Sils-Maria  11  Jahrgänge 
1869—1879).  Der  Exponent  des  Volumens-Ver- 
hältnisses zwischen  frischem  Schnee  und  Schmelz* 
wasser  beträgt  darnach: 


Oktober  . 

November 

December 

Januar 

Februar 

März. 

April 

Mai    . 

Juni   . 


Jahr 


Bernhard. 

Sils. 

7,79 

7,65 

10,29 

12,88 

11,92 

18,71 

12,36 

14,35 

12,04 

12,86 

11,67 

10,52 

9,43 

9,31 

7,23 

8,73 

6,22 

7,16 

10,10 


11,47 


Coaz,  Latrinen  der  Schweizeralpen.  468 

Beide  Beobachtungs-Reihen  zeigen  ein  regel- 
mäßiges Steigen  der  Verhältniß-Ziffer  vom  Herbst 
bis  zu  einem  im  Janaar  liegenden  Maximum, 
von  da  ab  ein  ebenso  regelmäßiges  Fallen  der 
Ziffer  bis  znm  Juni.  In  den  kälteren  Monaten, 
wo  der  Schnee  in  lockerer  Gestalt  fällt  nnd  die 
Zwischenräume  zwischen  den  über  einander  ge- 
lagerten Schneeflocken  nur  mit  Luft  (nicht  mit 
Wasser)  gefüllt  sind,  ist  seine  Anhäufung  eine 
minder  dichte.  Dasselbe  Schnee-Quantum  nimmt 
zu  dieser  Zeit  mehr  Raum  ein  als  in  den  wär- 
meren Herbst-  und  Frühlings-Monaten.  Mit  die- 
sem zweifellosen  Ergebniß  contrastiert  nun  Über- 
raschend die  Thatsache,  daß  der  frische  Schnee 
des  Großen  St.  Bernhard,  der  höheren  kälteren 
Station,  dichter  (10,10)  zu  liegen  scheint  als  der 
von  Sils  (11,68).  Besonders  in  den  seh  nee  rei- 
chen Winter-Monaten  (Nov.  bis  Febr.)  ist  der 
Exponent  der  Volumens  -  Proportion  zwischen 
Schnee  und  Schmelzwasser  bei  Sils  durchweg 
weit  höher  als  beim  Gr.  Bernhard.  Wie  erklärt 
sich  diese  Abnormität?  Ich  glaube:  durch  den 
mächtigen,  rein  lokalen  Einfluß,  welchen  der 
fiber  die  Paßhöhe  des  Bernhard  streichende  kräf- 
tige Wind  auf  die  Resultate  der  dortigen  Beob- 
achtungen ausübt.  Die  meisten  und  stärksten 
Schneefälle  auf  dem  Gr.  Bernhard  sind  von  hef- 
tigem Wind  begleitet.  Der  Schnee,  welchen  der 
Sturm  in  den  Regenmesser  hineinpeitscht,  mag 
durch  die  Vehemenz  des  Winddruckes  zu  größ- 
rer  Dichtigkeit  zusammengedrängt  werden,  als 
es  im  freien  Felde  oder  gar  im  Windschatten 
geschieht.  Daraus  ergiebt  sich  wahrscheinlich 
die  durch  die  Temperatur- Verhältnisse  nicht  er- 
klärliche Erniedrigung  des  Exponenten  der  Vo- 
lumens-Proportion zwischen  Schnee  und  Schmelz- 
wasser bis  unter  den  Betrag  herab,  der  für  das 


454  Gott,  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

windstillere  Sils  ermittelt  ist.  Noch  eines  ist  zu 
bedenken.  Der  auf  dem  Großen  St.  Bernhard 
fallende  Schnee  wird  durch  die  winterlichen 
Stürme  großen  Theils  fortgeweht.  Fast  in  je- 
dem der  Winter- Monate  (Nov.  bis  Febr.)  begeg- 
nen wir  bei  einem  oder  mehreren  Tagen  im 
Beobachtungs-Journal  der  Notiz,  es  habe  zwar 
stark  und  anhaltend  geschneit,  doch  sei  wegen 
des  heftigen  Windes  nur  wenig  oder  kein  Schnee 
im  Recipienten  gefanden  worden.  Diese  unvoll- 
ständige Messung  der  fallenden  Schneemenge 
äußert  auf  unsere  Special-Untersuchung  den 
Einfluß,  daß  diejenigen  Monate  (Nov.  bis  Febr.), 
in  denen  der  Exponent  des  Volumens- Verhält- 
nisses vom  Schnee  zum  Schmelzwasser  ein  be- 
sonders hoher  ist,  bei  der  Bildung  des  Jahres- 
Mittels  nicht  mit  dem  vollen,  ihnen  gebührenden 
Gewicht  in  die  Wagschale  fallen.  Auch  dadurch 
wird  die  Verhältnis- Zahl  unter  ihre  wahre  Höhe 
herabgedrückt.  Diese  Störungen,  welche  den 
Werth  der  sorgsamen  Beobachtungen  auf  dem 
Gr.  St.  Bernhard  beeinträchtigen,  würden  mich 
dazu  bestimmen,  grade  bei  dieser  Untersuchung 
von  den  Beobachtungen  des  Bernhard-Hospizes 
ganz  abzusehen. 

Begleiten  wir  Coaz  nun  weiter  zu  der  Be* 
Stimmung  des  Quantums  der  Schneemassen,  die 
im  Laufe  eines  Jahres  im  Gottbard-Gebiet  nie- 
derkommen, so  werden  wir  nicht  ohne  einige 
Ueberra8chung  den  Weg  betrachten,  den  er  zu 
diesem  Ziele  einschlägt.  Er  wählt  aus  dem 
Schweizer  Beobachtungs-Netz  10  Stationen  aus, 
2  Paßstationen  (Gr.  Bernhard  und  Bern  hard  in), 
5  aus  Hochthälern  (Be vers,  Sils,  Castasegna, 
Spltigen  Dorf,  Platta),  3  aus  tieferen  Lagen  am 
Nord-  und  Süd -Hang  der  Alpen  (RagaU, 
Marsohüns,  S.  Vittore).    Aus  den  Journalen  die* 


Coaz,  Lauinen  der  Schweizeralpen.  466 

ser  10  Stationen  berechnet  er  seinen  Mittelwerth 
von  442,55mm  (in  Schmelzwasser),  resp.  5363,7mm 
(in  Schneehöhe)   für    den  jährlichen  Schneefall. 
Daß  Coaz  aas  dem  Gotthard-Gebiet  selbst  keine 
Station   mit   in    seine   Rechnung    aufgenommen 
hat,  mag  seine  guten  Gründe   haben.     Aber  ob 
die  Aaswahl  der  in  die  Rechnung  aufgenomme- 
nen Stationen  für  den  vorliegenden  Zweck  durch- 
aus geeignet  war,  darf  wohl  bezweifelt  werden. 
In  der  Aaswahl   von  Coaz  überwiegen   die   tief 
liegenden  Stationen   mit  schwachem  Schneefall 
zu  stark  und  die  beiden  Paß-Stationen  kommen 
wegen  der  störenden  Wirkung  des  Windes,  der 
viel  Schnee  ungemessen  entführt,  nicht  zu  voller 
Geltung.    Ueberlegt  man  noch,   daß  die  ausge- 
dehnten Gipfel  Regionen   naturgemäß  gar  keine 
Vertretung  im  Beobacbtuugs-Material  haben,   so 
sagt  man  sich  leicht,  daß  der  gefundene  Durch- 
schnitt zu   niedrig  ausfällt  für   den    Schneefall 
des  Gotthard-Gebiets,  besonders  zu  niedrig  für 
die  Region,  in  welcher  die  meisten  Lauinen  los- 
brechen.   Die  Massen  des  im  Gotthard- Gebiete 
jährlich  fallenden  und  des  durch  die  zahlreichen 
Lauinen  in  Bewegung  gesetzten  Schnees  dürften 
erheblich  größer  sein,  als  Coaz  sie  veranschlagt. 
Nachdem  Coaz  noch  eine  gute  Beohachtungs- 
Beihe   von  Sils  über  das  Zusammensinken  des 
lagernden  Schnees    mitgetheilt,   wendet   er  sich 
im  zweiten  Capitel   zur  Bildung  der  Laui- 
nen.    Dabei  kommt  natürlich  sofort  die  Sonde- 
rung   verschiedener   Arten    von    Lauinen    zur 
Sprache.    Die  Terminologie  der  Lauinen  ist  seit 
lange  etwas  in  Verwirrung  gerathen   durch  den 
Mißgriff  der  meisten  Autoren,  verschiedene  Ein- 
theilangs-Principe  zu  vermengen.     Man  berück- 
sichtigt  gewöhnlich   bei   der   Classification  der 
Lauinen   1)   die  Temperatur,   bei   welcher   eine 


456  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15.16. 

Lauine  abgeht  und  die  davon  abhängige  Con- 
sistenz  ihrer  Schneemassen,  2)  die  größere  oder 
geringere  Vollständigkeit,  mit  der  ein  Lauinen- 
stnrz  die  Lehne,  ttber  welche  er  abgleitet,  ent- 
blößt, außerdem  wohl  auch  die  Bewegungs-Art 
nnd  die  Wirkungs-Weise  der  Lauine.  Dem  er- 
sten und  zweifellos  bedeutungsvollsten  Einthei- 
lungs-  Grunde  entspringt  der  Gegensatz  von 
avalanghe  fredde,  lavina  da  fraid  gegenüber  avar 
langhe  calde,  lavina  da  chod  (minder  treffend : 
Winter-  nnd  Frühlings-Lauinen).  Denselben  Ge- 
gensatz bringen  mit  Betonung  der  Beschaffen- 
heit des  Schnees  bei  verschiedener  Temperatur 
zum  Ausdruck  die  Bezeichnungen  avalanches  de 
poussiere,  Staublauinen  und  avalanches  solides  *), 
Schlaß-Lauinen.  Für  die  letztere,  nur  provincial! 
innerhalb  der  Schweiz  übliche  Benennung 
—  schla88,  schlasem,  schlesem  heißt  dialektisch 
er  feuchte,  gut  cohaerierende  Schnee  — )  zieht 
Coaz  nach  dem  Beispiel  von  Scheuchzer  n.  a. 
den  Namen  Grundlauinen  {avalanches  de  fand) 
vor.  Nun  muß  man  allerdings  anerkennen,  daß 
die  Begriffe  Schlaß-Lauine  nnd  Grand-Lauine 
wirklich  in  den  meisten  Fällen  sich  decken, 
daß,  um  Coaz'  (S.  26)  eigene  Worte  zu  brau- 
chen, die  Lauinen  feuchten  Schnees  „gewöhn- 
lich vom  Grund  weg  abrutschen41.  Aber  ganz 
unbedenklich  ist  die  Identification  der  beiden 
Begriffe  doch  nicht  Der  Name  Grundlauine 
führt  uns  in  eine  andere  Reihe  von  Begriffen 
über,  in  dieselbe  Reihe,  welcher  auch  die  von 
Coaz  sehr  passend  vorgeschlagene  Bezeichnung 
Ober-Lauine  angehört.  Man  versteht  darunter 
Abrutschungen  von  Neu-Schnee  auf  der  Firn- 

*)  Ob  diese  Bezeichnung,  die  z.  B.  Kaltbrunner,  Ma- 
nuel du  voyageur  p.  250  anwendet,  im  Volk  gebräuchlich 
ist,  weiB  ich  nicht.    Coaz  führt  sie  nicht  mit  auf. 


$ 


Coas,  Lauinen  der  Schweiieralpen.  467 

kniete  einer  älteren,  durch  den  Lauinensturz 
nicht  mit  in  Bewegung  gesetzten  Schneeschicht 
Jeder  Unbefangene  wird  die  Begriffe  Grand- 
laaine  and  Oberlaaine  für  sich  ausschließende 
Gegensätze  halten.  Diese  schlichte  naturge- 
mäße Auffassung  ist  dem,  welcher  mit  Goaz  alle 
Schlass-Lauinen  Grand  Lauinen  nennt,  verwehrt. 
Für  Coaz  giebt  es  (S.  142)  „Grund-Lauinen, 
die  ihren  Grand  auf  der  Eiskruste  des  alten 
Schnees  haben  und  als  Ober-Lauinen  abfahren". 
So  geht  der  wesentlichste  Inhalt,  der  Kern  eines 
Begriffes  verloren,  wenn  man  den  Umfang  zu 
weit  ausdehnt 

Offenbar  liegt  hier  eine  Vermengung  zweier 
thatsächlich  von  Grund  aus  verschiedener  Ein- 
theilungs-Principien  vor.  Beide  Scheidungen, 
die  auf  Grund  der  durch  die  Temperatur  be- 
dingten Beschaffenheit  des  abfahrenden  Schnees 
und  die  auf  Grund  der  vollständigen  oder  par- 
tiellen Entfernung  von  Schneelagern  durch 
Lauinensturz  sind  bedeutungsvoll  für  das  Stu- 
dium und  werth  neben  einander  in  der  Lauinen* 
Statistik  Berücksichtigung  zu  finden.  Damit 
sind  aber  aueh  die  wirklich  brauchbaren  Unter- 
scheidungen verschiedener,  wohl  charakterisier- 
ter Lauinen- Arten  erschöpft  Alle  die  anderen 
Doch  vom  Volksmund  genannten  oder  von  Ge- 
lehrten erklügelten  Species  kann  die  Wissen- 
schaft über  Bord  werfen.  Goaz  that  dies  still- 
schweigend mit  der  Bezeichnung  Wind-Lauinen ; 
ausdrücklich  lehnt  er  die  von  den  Gebr.  Schlag- 
intweit  in  die  Wissenschaft  eingeführten  Namen 
Roll-  und  Rutsch-Laainen  ab;  er  hätte  ebenso 
auch  den  volkstümlichen  Aasdruck  Schlag- 
Lauinen  bei  Seite  schieben  können  schon  um 
der  Mißverständnisse  willen,  die  an  ihn  sich 
knüpfen.    Die  Schlag-Lauinen  werden   von  Ber* 


458  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15.  16. 

lepsch  (Schweizerkande  S.  336)  als  besondere 
Kategorie  den  Staub-  and  Grund  Lauinen  voran- 
gestellt, dann  aber  in  confaser  Auseinander- 
setzung, welche  den  Namen  von  der  Entstehung 
mancher  Lauinen  durch  Einschlagen  abfallender 
Schnee-Bretter  (corniches  de  neige)  herleitet,  mit 
den  Staublauinen  (das  sind  offenbar  die  'Harein' 
der  Berner)  zusammengeworfen.  Die  Schlag- 
intweits  knüpfen  die  Deutung  des  Namens  nicht 
an  die  Entstehung,  sondern  an  die  Wirkungs- 
Weise  der  Lauinen,  erkennen  aber  in  Schlag- 
Lauinen  ebenfalls  Staub-Lauinen.  Schaubach 
(Deutsche  Alpen  I,  S.  107)  scheint  die  Schlag- 
Lauinen  für  eine  Mittel-Gattung  zwischen  Staub- 
und Schlass-Lauinen  zu  halten.  Sie  sind  indeß 
zweifellos  mit  letzteren  durchaus  identisch,  wie 
Goaz  und  vor  ihm  schon  Scheuchzer  richtig  er- 
kannt haben. 

Ohne  auf  diese  unerquicklichen,  aber  doch 
wohl  unerläßlichen  Begriffs-Abgrenzungen  tiäfer 
kritisch  einzugehen,  wendet  sich  Goaz  —  ein 
Mann,  dem  an  der  Sache  mehr  als  am  Namen 
liegt  —  zu  den  Ursachen  der  Lauinen-Bildung. 
Was  in  einem  30jährigen  Berufsleben,  in  stetem 
innigen  Verkehr  mit  der  Natur  das  scharfe  Auge 
des  erfahrenen  Forstmanns  erspäht,  tritt  hier  in 
lichtvoller,  treffender  Darstellung  uns  entgegen. 
Besonders  der  Nachweis  des  Einflusses,  weichen 
das  Relief,  die  geologische  Beschaffenheit,  die 
Bewässerung  und  die  Pflanzendecke  einer  Berg- 
lehne hemmend  oder  fördernd  auf  die  Entwicke- 
lung  von  Lauinen  ausübt,  muß  als  eine  Glanz- 
partie des  trefflichen  Buches  und  zum  Theil  als 
ein  kräftiger  Fortschritt  der  Lauinen-Kenntnift 
gelten. 

Das  dritte,  von  guten  Abbildungen  begleitete 
Capitel    schildert    die    Lauinenkegel,    die 


Coaz,  Lauinen  der  Schweizeralpen.  469 

Schattkegel  des  in  den  Thalsohlen  angehäuften 
Laninen-Schnees.  Die  Verdichtung,  welche  der 
Schnee  beim  Aufschlagen  der  Lauine  und  bei 
der  Bildung  des  Lauinenkegels  erleidet,  scheint 
in  der  Schweiz  noch  nicht  durch  exacte  Messun- 
gen festgestellt  zu  sein.  Bei  dem  großen  Laui- 
nensturz  zu  Bleiberg  in  Kärnthen  (25.  2.  1879) 
fand  man  das  Gewicht  des  Kubikmeters  Schnee 
aas  den  oberen  Lagen  des  Lauinenkegels  665 
kgr,  aus  den  unteren  Lagen  792  kgr,  während 
nengefallener  Schnee  per  Kubikmeter  nur  70,9 
kgr.  wog.  Es  wäre  von  Interesse,  wenn  ähn- 
liche Wägungen  auch  anderwärts  vorgenommen 
würden. 

Das  umfangreiche  vierte  Capitel  (S.  57 — 90) 
beschäftigt  sich  mit  der  Geschichte  und 
Verbreitung  der  Lauinen  in  den  Schwei- 
zer Alpen  und  reproduciert  geographisch  geord- 
net in  geschickter  Auswahl  aus  der  Menge  von 
Schilderungen  einzelner  Katastrophen  die  be- 
sonders instructiven,  so  auch  die  beste  Darstel- 
lung, die  je  von  einem  Lauinensturz  gegeben 
wurde,  den  Bericht  des  Ingenieurs  Gösset  über 
den  von  ihm  erlebten,  für  Tyndall's  Führer  ver- 
hängniflvollen  Schneebrueh  am  Haut  de  Cry 
(28.  2.  1864). 

Nach  zwei  kürzeren  Abschnitten  über  die 
Rettung  der  in  Lauinen  Verunglückten 
and  über  die  erschöpfend  dargelegten  Nach- 
theile der  Lauinen,  folgt  in  Capitel  7  und  8 
(S.  102 — 129)  die  Beschreibung  der  Schutz- 
mittel, welche  gegen  Lauinenzüge  sich  an- 
wenden lassen.  Während  man  früher  sich  be- 
gnügte, auf  eine  möglichst  schadlose  Ablenkung 
der  Lauinen  hinzuwirken,  indem  man  die  Ge- 
bäude bergseits  in  den  Boden  hineinbaute  oder 
durch  eine  Spaltecke  schützte,   die  Straßen   mit 


460  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

Galerien  überwölbte,  schreitet  man  jetzt,  wo  es 
wünschenswerth  und  möglich  ist,  dazu,  die  Bil- 
dung der  Lauinen  selbst  zu  verhüten.  Es  be- 
darf wohl  kaum  der  Versicherung,  daß  hier  bei 
der  Verbauung  der  Lauinenzttge  und  der  ihr 
folgenden  Aufforstung  der  Lehnen  der  Verf. 
wieder  ganz  in  seinem  Elemente  ist  und  aus 
einer  Fülle  feiner  Beobachtungen  wohlerwogene 
Rathschläge  für  diesen  schweren  Kampf  wider 
die  Lauinengefahr  ableitet. 

In  Capitel  9  werden  wir  über  den  Stand  der 
von  der  Schweiz  angeordneten  (auch  für  Italien 
in  Aussicht  genommenen)  Lauinen-Statistik 
unterrichtet,  die  dem  Verf.  künftig  noch  reichere 
Materialien  zur  Behandlung  des  interessanten 
Gegenstandes  an  die  Hand  geben  wird. 

Das  Schluß-Capitel  giebt  anhangsweise  eine 
Uebersicht  des  Vorkommens  von  Lauinen  in 
andern  europäischen  Gebirgen.  Auch 
die  deutschen  Mittel-Gebirge  werden  dabei  nicht 
vergessen.  Für  die  Vogesen  wird  das  Vorhan- 
densein von  Lauinen  in  Abrede  gestellt*).  Ans 
dem  Schwarzwald  dagegen  werden  (S.  139 — 142) 
eine  Reihe  höchst  interessanter  Daten  (26jährige 
Beobachtungsreihe  über  das  Sehwinden  des  letz- 
ten Scbneerests  am  Feldberg)  über  die  Schnee - 
anhäufung  und  über  Lauinenstürze  mitgetheilt 
Für  die  übrigen  deutschen  Mittel  Gebirge  bat 
dem  Verf.  das  Material  gefehlt.  Im  Riesen-Ge- 
birge verstreicht  wohl  kein  Winter,  ohne  daß  in 
die  oberen  Thälern  der  Aupa,  des  Weißwassers 
und  der  Elbe,  in  den  Kessel,  die  Schneegruben 
nnd  die  Teiche  Staub-  und  Schlass-Lauinen  nie- 
dergingen. Die  ständigen  Siedelungen  der  Berg- 
bewohner haben  sich  theils  nicht  bis  in  die  ge- 

*)  Schwerlich  mit  Recht,  vgl.  Collomb,  Preuves  de 
Texistence  d'anciens  glaciers  dans  les  Vosges.  Paris  1847 
p.  181. 


Coaz,  Lauinen  der  Schweiseralpen.  461 

fohrdetenThalstrecken  hinaufgewagt,  theils  nach 
einschüchternden  Erfahrungen  (wie  dem  Lauinen- 
Sturz,  der  15.  12.  1666  im  Riesengrunde  zwei 
Banden  sammt  ihren  Bewohnern  begrub)  daraus 
wieder  zurückgezogen.  So  beobachtet  fast  nur 
der  Forstmann  die  „Schneelehnen",  die  oft  ver- 
heerend bis  tief  in  den  Hochwald  hinab  ihre 
Straßen  ziehen.  Selten  nur  (so  1865,  1877) 
verursachen  Lauinenstürze,  die  einen  Bauden- 
Bewohner  oder  Waldarbeiter  überraschen,  Un- 
glücksfälle, welche  dann  vorübergehend  die  Auf- 
merksamkeit der  ganzen  Bevölkerung  auf  das 
auch  in  unserem  bescheidenen  Gebirge  keines- 
wegs fehlende  Phaenomen  der  Lauinenbildung 
hinlenken.  Wie  in  diesem  Punkte,  so  ist  wohl 
auch  in  anderen  das  Schluß-Capitel,  in  welchem 
der  Verf.  auf  Mittheilung  fremden  Materials  an- 
gewiesen ist,  noch  mancher  Ergänzung  und  Ver- 
besserung fähig.  Ueberall  wo  Coaz  auf  die  eigene 
nie  versagende  Beobachtungsgabe  sich  stützen 
kann,  hat  er  schon  jetzt  eine  mustergültige,  für 
unsere  Zeit  abschließende  Leistung  geschaffen. 
Breslau.  J.  Partsch. 


Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens  in 
Deutschland  von  Dr.  Karl  Roth,  Professor 
an  der  Universität  zu  München.  Berlin,  Wiegandt, 
Hempel  &  Parey  1879.    XVI  u.  678  S.    8°. 

Kein  Zweig  der  Volkswirtschaft  arbeitet  in 
so  großen  Zeiträumen,  wie  das  Forstwesen.  Der 
Umtrieb  des  Menschengeschlechtes  ist  kurz  im 
Vergleich  zu  demjenigen  des  Waldes.  Was  der 
Knabe  sät,  kann  er,  der  Segel  nach,  auch  in 
spätem  Greisenalter  nicht  erndten.  Daher  zielt 
in  unserer  auf  raschen  Erwerb  gerichteten  Zeit 
das  mächtige  Drängen  und  Treiben  im  Forst- 
wesen vor  Allem  auf  Abkürzung  der  Zeiträume, 
innerhalb  deren   die  forstlichen  Zwecke  seither 


462  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stüek  15. 16. 

erreicht  warden;  nnd  zwar  in  zwei  Richtungen, 
einesteils  durch  technische  Beschleunigung  und 
Verbesserung  des  Wachsthums,  der  Reife  und 
des  Werthes,  durch  Wohlfeilheit  und  daraus  sich 
ergebende  Anwendbarkeit  der  bezüglichen  Hülfe- 
mittel  im  Großen,  anderentheils  durch  Herab- 
setzung des  Umtriebs  zum  Zwecke  höchstmög- 
licher Verzinsung  der  Anlagecapitalien ,  auf 
Grund  der  Zinszinsrechnung.  Das  letztere  Prin- 
cip  wendet  sich  folgerecht  gegen  die  aus  der 
historischen  Entwicklung  hervorgegan- 
genen jetzigen  Thatbestände.  Je  tiefer  es  in 
das  Wohl  und  Wehe  der  deutschen  Nation,  zu- 
mal in  die  Interessen  der  ländlichen  Bevölke- 
rung eingreift,  desto  verdienstvoller  erscheinen 
die  mühsamen  Arbeiten,  welche  sich  die  Auf- 
gabe stellen,  die  Quellen  der  Geschichte  zu  er- 
öffnen und  nicht  allein  für  die  allgemeinen  cul- 
turhistorischen  Zwecke,  sondern  auch  für  die 
Beurteilung  der  materiellen  Tagesfragen  nutz- 
bar zu  machen.  Die  letzteren  sind  uns  hier  in 
erster  Linie  maaßgebend. 

Das  vorliegende  Werk  hat  in  der  fraglichen 
Beziehung  höchst  Dankenswerthes  ge- 
leistet. 

Es  ist  nicht  die  Absicht  des  Referenten,  die 
Schwächen  des  Werks  zu  verschweigen  oder  zu 
verdecken.  Was  zunächst  die  Form  betrifft,  so 
läßt  dasjenige,  was  man  in  der  Schriftstellern 
„Systematisierung"  nennt,  zu  wünschen  übrig. 
Vorausgegangene  forstliche  Geschichtsschreiber 
haben  auf  diesen  Gesichtspunkt  mehr  Werth 
gelegt.  Auch  hinsichtlich  des  Stoffs  ist  zu  be- 
merken,  daß  der  im  Ganzen  erstaunliche  Auf- 
wand von  Arbeit  nicht  gleich  vertheilt  ist,  die 
verschiedenen  Zeitabschnitte  nicht  mit  gleicher 
Liebe  behandelt,  insbesondere  die  älteren  Perio- 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    463 

den  relativ  reicher  bedacht  sind.  In  dem  Ab- 
schnitt Aber  die  forstliche  Gesetzgebung  fehlen 
die  französischen  Gesetze.  Ist  auch  der  Titel 
nur  auf  das  Forst- und  Jagdwesen  in  Deutsch- 
land gerichtet,  so  wird  die  Lücke  doch  em- 
pfanden, und  zwar  aus  zwei  Gründen,  erstens 
weil  von  Frankreich  die  systematische  und  grund- 
sätzliche Gesetzgebung  für  Forst-,  Jagd-  und 
Fischereiwesen  zuerst  ausgegangen  ist,  auch 
viele  deutsche  Gesetze  auf  jene  französischen 
gegründet  waren,  und  zweitens,  weil  die  fran- 
zösischen Gesetze,  in  Folge  politischer  Territo- 
rial-Veränderungen  auf  deutschen  Boden  über 
tragen  worden,  und  in  weiten  deutschen  Gebie- 
ten heute  noch  in  Uebung  sind.  Diese  Ein- 
drücke sind  jedoch  nicht  geeignet,  den  hohen 
Werth  des  Inhalts  insbesondere  der  vorderen 
Abschnitte  zu  beeinträchtigen. 

Die  große  Anzahl  der  bereits  vorhandenen 
forstlichen  Geschichts werke  (sie  beträgt,  abge- 
sehen von  dem  in  Zeitschriften  zerstreuten  Ma- 
terial, über  30,  von  denen  viele  freilich  nur  lo- 
cale Bedeutung  und  Tendenz  haben)  erleichtert 
zwar  die  Forschung  sehr.  Allein  dies  wird  bei 
dem  vorliegenden  Werke  nicht  fühlbar;  es  ist 
unverkennbar  das  Ergebniß  reinen  Original- 
studiums, frisch  und  gesund,  von  bleibendem 
Werth  für  alle  Zeiten,  mit  Bienenfleiß  gesam- 
melt, auf  Grund  tiefer  Kenntniß  der  alten  Spra- 
chen, namentlich  des  Lateinischen,  scharf  auf- 
gefaßt und  geistreich  dargestellt.  Die  Masse 
der  Excerpte  aus  Literatur,  Decreten,  Gesetzen, 
Verträgen,  Statuten,  Instructionen,  Weisthümern, 
Hark-  Wald-  und  Jagdordnungen,  gerichtlichen 
Urtheilen,  PräJudicien  u.  s.  w.  ist  ebenso  außer- 
ordentlich, wie  der  Fleiß  und  die  Gewissenhaf- 
tigkeit, womit  das  Mosaik  des  colossalen  Mate- 


464  Gott  gel.  Arne.  1881.  Stuck  15. 16. 

rials  zusammengefügt  ist.  Und  so  liegt  ein 
chronologisches  Bilderbuch  vor  uns,  welches,  von 
den  ältesten  Zeiten  der  deutschen  Geschichte 
beginnend  und  bis  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts gleichmäßig  vorschreitend  innerhalb  der 
selbstgesteckten  Grenzen  Reichthum  mit  Treue 
und  Zuverlässigkeit  vereinigt.  Dabei  ist  in 
hohem  Grade  die  Objectivität  überall  gewahrt: 
was  freilich  durch  den  Verzicht  auf  eingebende 
Beurtheilung  der  Neuzeit  wesentlich  erleichtert 
wurde.  Die  durchweg  waltende  Milde  des  Ur- 
theils  ist  sehr  wohlthuend.  Dieser  Grundzug  ist 
nicht  beeinträchtigt  durch  einen  hier  und  da 
einfließenden  liebenswürdigen  Sarcasmus,  wie 
z.  B.  pag.  558,  wo  das  Unkraut  „Humbugia 
silvaticatf  als  eine  in  der  neueren  deutschen 
Forstliteratur  üppig  wuchernde  botanische  Spe- 
cies bezeichnet  ist.  Hierdurch  kündigt  sich  je- 
doch nur  der  allgemeine  Standpunkt  des  Ver- 
fassers gegenüber  der  durchaus  materiellen  Rich- 
tung der  neueren  mathematischen  Schule  an. 
Mit  Befriedigung  darf  ausgesprochen  werden, 
daß  dieser  sein  Standpunkt  derselbe  ist,  wie 
derjenige  des  Gefühls  und  Gemüthes  im  Gegen- 
satze zu  der  herzlosen  Schablone  des  Rechnen- 
knechts, die  Achtung  vor  der  historisch  über* 
kommenen  die  Rechte  auch  der  Zukunft  wah- 
renden Anschauung  im  Gegensatze  zu  dem 
Eigennutze  der  Gegenwart;  des  conservativen 
und  nationalen  Elementes  und  sittlichen  Rechts- 
geftthls  im  Gegensatze  zu  den  destruetiven  Ten- 
denzen des  momentanen  Privatvortheils. 

Der  Verfasser  theilt  seine  Geschichte  in  drei 
Abschnitte,  von  denen  der  erste  bis  zur  Auf- 
lösung des  großen  Frankenreichs,  der  zweite 
von  da  bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  reicht, 
und  der  dritte  die  letzten  Jahrhunderte  umfaßt. 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    465 

Wie  dehnbar  die  deutsche  Forstgeschichte  in 
Beziehung  auf  solche  Grundeintheilung  ist,  und 
wie  wenig  greifbare  Anhaltspunkte  in  den  that- 
sächlichen  Verhältnissen  liegen,  ergiebt  sich  zur 
Genüge  daraus,  daß  die  zwei  bedeutendsten  Vor- 
gänger, Stieglitz  und  Bernhardt,  zwar 
ebenfalls  drei  Hauptabschnitte  unterscheiden, 
aber  zu  ganz  verschiedenen  Zeitpunkten  in  ihrer 
Einteilung  gelangen.  Stieglitz  begrenzt  die 
erste  Periode  mit  der  Entstehung  der  Bannforste 
(800  n.  Chr.),  die  zweite  mit  der  Ausbildung 
der  Landeshoheit  (um  1100  n.  Ghr)  und  die 
dritte  Abtheilung  seines  Werks  betrifft  die  nach 
Entwickelung  der  Landeshoheit  stattgefundenen 
Veränderungen. 

Bernhardt' s  1.  Band  enthält  die  Geschichte 
bis  1750,  der  2.  Band  geht  von  da  bis  1820, 
der  3.  bis  auf  die  neueste  Zeit.  Die  Grenze 
zwischen  dem  1.  und  2.  Abschnitt  Both 's  ist 
begründet  durch  Neubildung  des  Deutschen 
Reichs  als  Wahlreich,  Auflösung  der  Gauver- 
fassung, Uebergang  der  Grafenämter  in  feste 
erbliche  Hände,  Entwickelung  des  Lehenswesens 
u.  s.  w.,  die  Grenze  zwischen  dem  2.  und  3. 
durch  Aufhebung  des  Faust-  und  Fehderechts, 
Anbahnung  geordneter  Bechtszustände  mittelst 
des  Landfriedens,  durch  Neu- Organisation  des 
Reichskammergerichts  mit  Eintheilung  des  Beichs 
in  10  Kreise  behufs  des  Vollzugs  der  gegebenen 
Urtbeile.  Diese  drei  Abschnitte  sind  nicht,  wie 
in  den  zwei  ersten  Bänden  Bernhardts,  in  wei- 
tere Unterabschnitte  der  Zeit  nach  zerlegt,  son- 
dern sofort  nach  dem  einschlagenden  Material 
geordnet,  der  erste  Abschnitt  ohne,  die  beiden 
folgenden  mit  Zerlegung  in  „Capitel",  welche 
unter  besonderer  Ueberschrift,  mehrere  die  ein- 

30 


466  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15.  16. 

zelnen  Gegenstände  betreffende  resp.  schei- 
dende Paragraphen  umfassen. 

Erster  Abschnitt:  Bis  zur  Auflösung  desgroßen 
Frankenreichs.    63  §§  auf  100  Seiten. 

§§  1 — 14:  Aelteste  Zustände  nach  den  Auf- 
zeichnungen des  Cäsar  nnd  des  Tacit  a  8. 
Entwickelung  der  persönlichen  und  bürgerlichen 
Rechtsverhältnisse,  Freiheit  und  Unfreiheit  der 
Person,  Gliederung  der  Stände  vom  Leibeige- 
nen bis  zum  König,  ursprüngliche  Gemeinschaft 
des  (das  Jagdrecht  einschließenden)  Grund- 
eigenthums,  allmählige  Entwickeluug  von  Privat- 
besitz, Markgenossenschaft,  erblichen  und  zeit- 
lichen Colonats-  (Pacht-)verhältnissen  in  pa- 
rallelem Gange  der  verschiedenen  Stufen  des 
Standes  und  der  Rechtsfähigkeit  (Adelige,  Freie, 
—  Dienstgefolge  und  unabhängig  Freie —  Halb- 
freie und  Unfreie)  einerseits,  und  der  analogen 
Givilrechts-  und  Besitzverhältnisse  andererseits. 
Volksrechte  (Leges)  der  einzelnen  Volksstämme. 
Politische  Gliederung  der  Gaue,  innerhalb  der- 
selben Herzogtümer,  Grafschaften,  Marken  und 
Gente  mit  den  entsprechenden  Aemtern;  geist- 
liche Stifter  und  Grade  nach  Einführung  des 
Ghristenthums  u.  s.  w.  Mitwirkung  der  Wal- 
dungen und  Jagden  in  allen  diesen  Entwick- 
lungen. 

§  15:  Werth-,  Geld-  und  Münzverhältnisse 
während  des  I.  Zeitabschnitts. 

§§  16—22:  Gerichtswesen,  Gerichtsbeamten, 
Zuständigkeit  der  Gerichte  nach  Maaßgabe  der 
Verschiedenheit  des  Objectes  und  des  rechts- 
suchenden oder  denunciirten  S objectes,  Civil- 
und  Strafrechtspflege,  Strafenbezug,  Immunitäten 
bestimmter  Stände  und  der  Markgenossenschaf- 
ten, welche  in  ihrer  Eigenschaft  als  Grundherr- 
Schaft  bezüglich  des  gemeinschaftlichen  Grund- 


Both,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    467 

eigenthums,  eine  Ausnahme  von  der  Gerichts- 
barkeit der  öffentlichen  Beamten  besaßen.  Die 
Kirchen  suchen  gleiche  Immunität  durch  Privi- 
legien zn  erwerben.  Das  Grundeigenthum,  ins- 
besondere an  den  Waldungen,  bleibt  im  Uebri- 
gen  gemeinschaftlich  zur  Nutznießung  unter  den 
betheiligten  Bauerngütern  oder  zugehörigen 
Grundherrscbaften.  Gleichmäßig  bildet  sich  aus 
den  Beziehungen  der  Dienstgefolgschaften,  d.  h. 
ans  dem  persönlichen  Verhältniß  des  Vor- 
nehmeren zu  den  Dienstmannen,  das  dingliche 
Verhältniß  des  Lehens  aus,  wozu  auch  Wal- 
dungen oder  Nutzantheile  an  gemeinschaftlichen 
Waldungen  gehören. 

§§  23—31:  Schutz  des  Eigenthums,  insb. 
Wald-  und  Jagdeigenthums,  nach  Form  und  ur- 
sprünglichen Begriffen.  Eingriffe  in  dasselbe 
werden  ungleich  milder  beurtheilt,  als 
in  späterer  Zeit,  namentlich,  im  Gegensatz 
zn  Straßenraub,  Hoch-  und  Landesverrath,  nicht 
mit  Todesstrafe  oder  mit  Verstümmelung,  son- 
dern nur  mit  Geldstrafe  gesühnt.  Näheres 
Aber  die  Formen  des  forst-  und  jagdgerichtli- 
chen Prozesses  in  §  30. 

§§  32—48:  Jagdbetrieb,  Gegenstände  der 
Jagd,  Wildgattungen,  Werkzeuge,  Vorrichtungen 
und  Thiere  zur  Jagdausübung,  Abrichtung  der 
letzteren. 

§§  49—63:  Allmählige  Entstehung  und 
Ausbildung  der  Bann  forste,  und  des  Begriffs 
der  Einforstung,  als  eines  sowohl  von  dem 
Princip  der  Identität  des  Jagdeigenthums  mit 
dem  Grundeigenthum,  als  auch  von  dem  her- 
gebrachten markgenossenschaftlichen  Verhältniß 
wesentlich  abweichenden,  ja  in  diese  Rechte  ein- 
greifenden Ausnahmezustands. 

Die  alte  Bedeutung  des  Wortes  „Forst"  ist 

30* 


468  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

jedenfalls  in   der  Forstgeschichte  wichtig    und 
zur  Erklärung  vieler  Urkunden   und  Rechtsver- 
hältnisse nothwendig.    Sie  ist,    obwohl  vermöge 
des  in  neuerer  Zeit  ausgedehnten  Begriffs,   in 
ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  nicht  mehr  zwei- 
felhaft    Alle   Autoritäten  sind   darüber    einig, 
daß  darunter  ein  zwar  nicht  nothwendig   einge- 
zäunter, aber  doch  deutlich  und  bestimmt  abge- 
grenzter, vorzugsweise  Wald-,  aber  auch  Feld- 
areal umfassender  Grundbesitz  zu  verstehen  ist, 
innerhalb    dessen  irgend    einem    Rechtssubject 
(ursprünglich  nur   dem  König,   später  auch  an- 
deren Personen)  die  Nutzung  an  Waldproducten, 
Jagd  oder  Fischerei  vorbehalten  ist     Auch 
ist  kein  Zweifel,    daß  in   den   Bannforsten  dem 
König,  resp.  später  dem  Kaiser,  wenn  auch  nicht 
das   Waldeigenthum   und   Nutzungsrecht,    doch 
Wildbann  und   forstliche  Obrigkeit   (ein  in  die 
neuere   Zeit   hineingreifender   Begriff)    zustand. 
Dagegen  besteht  vielfache  Meinungsverschieden- 
heit über  die  Etymologie  des  Worts.    Dieser 
Streit  ist  insofern  unpractisch,  als  über  die  ur- 
sprüngliche  Bedeutung   selbst  nicht    mehr   ge- 
stritten wird.      Dagegen  ist   nicht  abzuläugnen, 
daß  die  Etymologie  mindestens  sehr  interessant 
ist,  schon  deshalb,  weil   viele   geistreiche  Män- 
ner sich  eingehend  mit  dieser  Frage  beschäftigt 
haben,   ohne   daß  das  um  dieselbe  noch  schwe- 
bende Dunkel  geklärt  worden  wäre.   Darin  mag 
wohl  auch  der  Grund  liegen,  weshalb  viele  forst- 
geschichtlichen  Schriftsteller  sich    mit    diesem 
kleinen  Worte  befassen,  und  aus  diesem  Grunde 
möge  das  Nachstehende  hier  eingeflochten  wer- 
den.   Bernhardt  widmet  der  Etymologie  des 
Wortes  fünf  Seiten  seines  Werks   (pag.   50—54 
des  I.  Bandes),  und  gelangt   zu  dem  auch  von 
Both  ausgesprochenen  Ergebniß,  daß  die  Frage 


s 


Roth,  Gesclüchte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    469 

unentschieden  sei.  Diejenige  Deutung,  welche 
von  zwei  bedeutenden  Autoritäten  der  deutschen 
Sprach-  und  Alterthumskunde  empfohlen  wird 
Schmitthenner  pag.  588  des  ersten  Bands 
er  12  Bücher  vom  Staat,  und  Grimm  Wörter- 
buch, und  Grammatik  1.  Band  pag.  416),  erklärt 
die  Abstammung  aus  dem  gothischen  foräha, 
die  Föhre,  Kiefer  oder  Tanne.  Roth  erwähnt 
ihrer  nicht,  wohl  aber  Bernhardt.  Weder 
Grimm  noch  Schmitthenner,  auch  Bern- 
hardt nicht,  citiert  die  eigentliche  Quelle  die- 
ser Deutung,  nämlich  Struve  Syntagma  juris 
feudalis,  Frankfurt  a./M.  1734.  Gap.  VI,  §  28. 
Unter  der  Ueberschrift;  cunde  forestum  dicatur1 
findet  sich  dort  folgende  Stelle:  'Descendit  fore' 
stum  forte  a  foro  vel  furu,  abiete,  ut  lingua 
Gothica  dicitur*.  Referent  hält  diese  Deutung 
—  obgleich  sie  Weigandt  (Wörterbnch)  ver- 
wirft und  die  Ableitung  von  dem  altromanisohen 
fork  (außerhalb)  vorzieht  —  für  die  richtige, 
and  zwar  aus  dem  von  Grimm  angegebenen 
Grunde,  weil  das  Wort  erst  von  der  Fränki- 
schen Zeit  her  vorkommt.  Wäre  foresta  altro- 
manischen Ursprungs  und  nicht  seoundär  latini- 
siert, dann  würde  es  sich  schon  in  der  vorde- 
ren Zeit  irgendwo  und  irgendwie  vorfinden. 

Zweiter  Abschnitt:  Von  Mitte  des  9.  bis  Mitte 
des  iß,  Jahrhunderts.     76  §§  auf  281  Seiten. 

1.  C  a  p  i  t  e  1 :  Allgemeiner  Ueberblick  der  Zu- 
stande.   §§  64—86. 

§§  64—71:  Theilung  des  Frankenreichs, 
Deutschland  wird  selbstständiges  Wahlreich;  in 
Folge  dessen  Rückgang  der  Macht  der  Krone 
und  Wachsthum  der  Standesrechte,  Auflösung 
der  Gauverfassung,  Entstehung  der,  oft  meh- 
rere untergeordnete  Graftschaften  umfassenden 
Herzogthllmer,  Fürstenthümer,  Mark-, 


470  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  16. 16. 

Land-  und  Pfalzgrafschaften.  Entfaltung 
des  Lehn 8 wesens,  der  befestigten  Städte  und 
der  Reichsstände.  Erblichkeit  und  Identität 
der  Reichs  am  ter  mit  dem  bezüglichen  Grund- 
besitz tritt  mehr  und  mehr  an  die  Stelle  der 
Verleihung,  die  Gliederung  der  weltlichen  und 
geistlichen  Stände,  die  Ei  gen th ums-  und  Rechts- 
verhältnisse gestalten  sich  unter  Mitwirkung  des 
inzwischen  eingedrungenen  römischen  Rechtes 
mannigfaltiger,  aber  durchweg  zum  Nachtheil 
des  freien  Grundbesitzes  der  kleinen  Leute  und 
der  Theilhaberscbaft  der  letzteren  an  den  Wal- 
dungen, Jagden  und  Fischereien  in  Eigenthum. 
Dagegen  bilden  sich  Genußrechte  auf  die  min- 
der werthvollen  Baumtheile  und  Holzarten,  auf 
„unfruchtbares"  Holz  im  Gegensatze  zu  dem 
fruchttragenden,  welches,  theilweise  auch  wegen 
der  Jagd,  vorzugsweise  jedoch  seines  höheren 
Geldwertes  wegen,  dem  Grundeigenthümer  ge- 
hörte ;  ferner  auf  Windfälle,  Mast,  Weide  u.  8.  w. 
Das  Streurechen  gehört  erst  der  spä- 
teren Periode  an.  Wesentlich  aus  diesem 
Grunde  sind  die  Waldungen  noch  weitaus  über- 
wiegend Laubholz.  Allmählig  entwickelt  sieb 
die  „Einhegung"  behufs  der  Verjüngung  uner- 
achtet  des  noch  durchweg  herrschenden  Fehmel- 
und  Plänterbetriebs,  Auszeichnung  und  Anwei- 
sung des  zu  schlagenden  Holzes  durch  Forstbe- 
dienstete, hier  und  da  Niederwaldbetrieb. 

§§  72—76 :  Rechtspflege  für  Civil-  und  Straf- 
sachen im  Allgemeinen. 

§  77 :  Münz-  und  Werthverhältnisse  im  Mit- 
telalter. 

§§78  -81:  Näheres  im  Bereiche  des  Forst- 
und  Jagdstrafwesens.  Steigende  Härte  der 
Strafen:  einerseits  Einschränkung  der  Geld- 
bußen,  andererseits  Ausdehnung  der  peinlichen 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    471 

Strafen  an  Leib  und  Leben,  beides  im  pa- 
rallelen Gange  der  Entwickelung  der  persönli- 
chen Freiheit,  da  die ,  nach  heutigen  Begriffen, 
sehr  hohen  Geldstrafen  der  alten  Zeit  in  den 
Gesetzen  nur  gegen  die  höher  Gestellten  gerich- 
tet waren.  Daß  die  Leibeigenen  nach 
Belieben  gestraf  t  wurden,  war  selbst- 
verständlich. 

§§  82—86:  Betrieb  der  Jagd,  Fischerei  und 
Bienenzucht. 

2.  Capitel:  Waldeigenthums-  und  Wald- 
nutmngsrechte.    §§  87—103. 

Das  hohe  Interesse,  welches  dieser  Theil  dar- 
bietet, würde  sich  noch  steigern,  wenn  der  Über- 
wältigende Reichthum  an  Stoff  gegenständlich, 
räumlich  und  zeitlich  mehr  geordnet  und  mit- 
telst Ueberschriften  geschieden  wäre.  Er  würde 
dann  dem  gewöhnlichen  Leser  besser  verständ- 
lich, und,  was  für  die  Philosophie  der  Geschichte 
die  Hauptsache  ist,  in  seinen  Endzielen  durch- 
sichtiger sein.  Der  Fleiß,  mit  welchem  die  Sa- 
chen zusammengeschafft  sind,  ist  außerordent- 
lich, und  die  Frische  der  Darstellung  vom  An- 
fang bis  zum  Ende  fesselnd. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  folgenden 

3.  Capitel:    Jagdrecht  und    Jagdnutzung. 
104—122  auf  83  Seiten. 

4.  Capitel:  Wdldbienen.    §§  123—126. 

5.  Capitel:  Forst-  und  Jagdpersonal,  §§ 
127 — 131,  —  eine  schöne  Sammlung  von  cha- 
racteristischen  Beispielen,  wie  die  Forst-  und 
(meistens  zugleich)  Jagdbeamten  gestellt,  ihre 
Befugnisse,  Verpflichtungen  und  Bezüge  organi- 
siert waren. 

6.  Capitel:  Strafrecht  in  Forst-,  Jagd'  und 
Fischereisachen.     §§  132—139. 

Es  ist  wunderbar,  wie  die  bezüglichen  sitt- 


472  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

liehen  Anschauungen  im  Laufe  der  hier  in  Frage 
stehenden  7  Jahrhunderte,  wenn  auch  für  ge- 
ringere Holzfrevel  nicht  selten  sich  mildernd, 
doch  im  Ganzen  und  Wesentlichen  nicht  allein 
nicht  gelinder  wurden,  sondern  sogar  sich  zu 
solcher  Barbarei  steigern  konnten,  daß  für  das- 
selbe Vergehen,  welches  in  alter  Zeit  mit  der 
Bezahlung  von  60  Solidi  =  ca.  150  Mark  heu- 
tigen Geldes,  gesühnt  wurde,  die  Strafandrohun- 
gen in  allen  möglichen  Gradationen,  und  ört- 
lich, je  nach  dem  Geschmacke  eines  zeitigen 
Gewalthabers,  außerordentlich  verschieden,  wuch- 
sen, bis  zu  100  Pfand  Gold,  bis  zum  Abhauen 
des  rechten  Daumens,  oder  der  rechten  Hand, 
bis  zum  Anbrennen  der  Füße,  (pag.  343)  ja  bis 
zum  Aushaspeln  der  Gedärme  (pag.  372),  zum 
Feuertod,  zum  Gottesgericht  des  kalten  Wassers, 
oder  (pag.  365)  zur  Hinrichtung  durch  Abschla- 
gen des  Kopfes  öffentlich  unter  der  Gerichts- 
oder Dorflinde,  wo  dann  der  gefrevelte  Stamm 
als  Richtblock  diente.  Mitunter  gingen  die  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  so  weit,  daß  der  Sün- 
der dem  „Herrn"  auf  Gnade  oder  Ungnade 
übergeben  wurde.  Massenhaft  werden  uns  die 
traurigen  Bilder  dieser  mit  dem  Einflüsse 
des  Christenthums  wachsenden,  ja  un- 
ter geistlichen  Herrschern  mitunter  recht  schroff 
hervortretenden  Entartung  im  Original  entrollt 
Sie  sind  nicht  wohlthuend. 

Dritter  Abschnitt:  Neuere  Zeit  von  der  zwei- 
ten Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  an.  §§  140—291.  Seite 
385-665. 

§§  140-143:  Einleitung:  Allgemein  Ge- 
schichtliches, Landfrieden,  Reichskammergericht, 
Eositive  Bestätigung  der  von  den  Reichsständen 
is  dahin  erworbenen  Landeshoheit,  Macht,  Wür- 
den, Ehren  und  Gewalt.  Daraus  sich  ergebende 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    473 

Gliederung  der  Nation  und,  für  den  vorliegen- 
den Zweck,  Entwickelung  der  Waldeigenthums- 
kategorieen   in  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt. 

Den  Werth-,  Geld-  und  Münzverhältnissen 
der  letzten  Geschichtsepoche  sind  wiederum  in 
§  144  eingehende  Erörterungen,  und,  im  Ver- 
laufe des  Abschnitts,  noch,  öftere  Notizen  ge- 
widmet, welche  ein  treues  Bild  der  bezüglichen 
Zustände  wiedergeben.  Ein  kleiner  Zweifel  pag. 
526  möge  kurz  berührt  werden.  Die  Gemsjagd 
bei  Tegernsee  wird  im  Jahre  1506  um  jährlich 
„zween  Ftixa  verpachtet  Das  beigefügte 
Fragezeichen  soll  wohl  sagen,  daß  Zweifel  be- 
stehn,  was  mit  diesem  Zins  gemeint  sei.  In  Er- 
mangelung eines  besseren  Schlüssels  wird  ge- 
stattet sein,  als  Autorität  Gustel  von  Blasewitz 
anzurufen,  welche  den  langen  Mußjö  Peter  von 
Itzehö  mit  der  Neckerei  begrüßt,  er  habe 

„.  .  .  seines  Vaters  goldene  Füchse 

„ durchgebracht 

„Zu  Glückstadt  in  einer  Instigen  Nacht." 

Hiernach  werden  unter  „Füx"  Goldgulden  oder 
die  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  ziemlich 
gleich werthi  gen  Ducaten  zu  verstehen  sein. 

1.  Capitel:  Forst-  und  Jagdhoheit,  §§  140 
—  150.  —  Begriffe  und  Unterschiede  von  Lan- 
deshoheit, Fischereiregal,  Forst-  und  Jagdhoheit, 
forstliche  Obrigkeit.  Die  letztere  bildet  sich  erst 
in  der  neueren  Zeit  aus.  Ihr  Ausfluß  sind  die 
Waldordnungen.'  Diese  sind,  insoweit  sie 
von  deutschen  Landesherrn  herstammen,  in 
§149  specificiert  verzeichnet.    Dann  folgt  im 

2.  Capitel,  §§  151—177,  ein  Panorama 
dieser  deutschen  Waldordnungenf  in  reicher  Ent- 
faltung des  Stoffs. 

3.  Capitel,  §§  178—183:  Der  Uebergang 
auf  die  jeteigen  Zustände. 

Obwohl  geordnet  auch   nach  den  einzelenn 


474  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15.  16. 

wirtschaftlichen  Gegenständen,  zeigen  diese  Ca- 
pitel  doch  nicht  scharf  auf  dasjenige  Endziel 
hin,  welches  in  heutiger  Zeit  den  Vordergrund 
aller  practischen  Betrachtung  ausfüllt:  die  Ei- 
genthumskategorie.  Nicht  etwa  soll  ge- 
sagt sein,  daß  sie  vernachlässigt  wäre:  die  be- 
züglichen Thatsachen  sind  genau  und  gewissen- 
haft verzeichnet.  Allein  die  historische  Ent- 
wicklung ist  nicht  auf  diesen  entscheidenden 
Gesichtspunkt  gerichtet,  und  deshalb  vermißt 
man  um  so  mehr  die  französische  Gesetz- 
gebung, welche  mit  der  für  die  damalige  Zeit 
unvergleichlichen  Colbert'schen  Ordonnance  von 
1669  beginnend,  im  Verlaufe  der  französischen 
Revolution,  Invasion  und  Occupation  in  die 
deutschen  Lande  bis  nach  Westphalen  und  Kur- 
hessen hin  eindringend,  heute  noch  in  die  deut- 
sche Forstgeschichte  scharf  eingreift.  Sie  kann 
unmöglich  entbehrt  werden,  ohne  daß  dem  Zeit- 
bild des  Ganzen  ein  wesentlicher  Character  be- 
nommen wird. 

Die  Waldeigenthum8kategorie  erfordert,  in- 
soweit die  staatliche  Obervormundschaft  in  Frage 
steht,  Beachtung  in  zwei  Hauptgesichtspunkten : 

1)  Bewirtschaftung  und 

2)  Schutz. 

Um  diese  beiden  Punkte  dreht  sich  in  heu- 
tiger Zeit  die  Frage  der  „Forsthoheit".  Sie 
unterscheiden  sich,  nach  heutiger  Anschauung 
der  Befugniß  und  Verpflichtung  des  Staats,  den 
Eigenthümern  Gesetze  vorzuschreiben,  in  fol- 
genden Beziehungen: 

Zu  1)  Bewirthschaftung. 

Privatwald  ist,  insoweit  nicht  örtliche  Ge- 
fahren von  Lawinen,  Wassern  etc.,  obwalten 
oder  staatlich  zu  überwachende  Fideicommisse 
eingreifen,    hinsichtlich    der    Bewirthschaf- 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    475 

tnng  frei;   dagegen    ist,   nicht   allein  Doma- 
nial-, sondern   auch  Communal-  und  Stif- 
tungswald   der   vom  Staat   überwachten  Be- 
wirtbschaftung dahin  unterworfen,  resp.  zu  unter- 
werfen,   daß,  grundsätzlich,  nicht  der  momen- 
tane Nutzen,   welcher   aus  dem    vorliegenden 
Waldobjeet    (durch    Veräußerung    der    älteren 
Holzbestände  oder  gar  des  unreifen  Holzes  oder 
schließlich    des  Bodens)   gezogen  werden  kann, 
sondern  vielmehr  derjenige  Nutzen  Endziel  sein 
und  bleiben   muß,   welchen  die  Gegenwart   mit 
aller  Zukunft  gleichberechtigt,  als  stetiges 
Maximum   in  dem  Falle   bezieht,   wenn  nach 
Maaßgabe  der  zeitlich  als   best  erkannten  tech- 
nischen Hülfsmittel  dem  Boden  aller  effective 
Werth   abgerungen    wird,  welcher  ihm  nach» 
baltig  stetig  und  möglicher  weise  abgerungen 
werden    kann.     Dieses  Maximum    von   Werth 
wird  aber  nur  dann  erzielt,   wenn   ein  entspre- 
chender Holzvorrath,  abgestuft  nach  Alters- 
klassen,  vorhanden  ist,  und   stetig  in  Vorrath 
gehalten  wird;  wenn  insbesondere  die  älteren 
Holzvorräthe,  selbst  für  den  Fall  ihrer  Verwerth- 
barkeit  zu  laufendem  Preiß,  nicht,  zum  Zwecke 
des  früheren  und  höheren  Capital-  und  Zinsen- 
genusses, abgeschlachtet,  sondern  in   gerechter 
Würdigung  des  gleichen  Anrechts  der  künftigen 
Generation,  je  so   lange   in  Zuwachs   erhalten 
werden,   bis   das   effective  bei  stetig   nach- 
haltigem   organischem    Zusammenwirken   aller 
Altersklassen,  unabhängig  von  Zinszins- 
rechnung für  den  Einzelbestand,  stän- 
dig alljährlich  erreichbare  Werthmaximum  erzielt 
ist;  wenn  ferner  die  Bodenkraft  durch  Schonung 
vor  Streunutzung  u.  s.  w.  erhalten  wird  —   ein 
Gesichtspunkt,   den  der  Verfasser  mehrfach  mit 
Wärme  betont.    Also  folgt,  als  Richtpunkt  einer 


476  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

vernünftigen  Forsthoheit  über  Staats-  und  Com- 
munalwald  in  dem  historisch  überkommenen 
Sinne,  die  Obsorge  des  Staates  dahin,  daß  je- 
nem Zweck  Genüge  geschieht.  Und  diesem 
Sinne  entsprechend  ist  die  Forsthoheit,  insoweit 
sie  ad  1  insbesondere  für  Communalwald 
in  Frage  steht,  zu  definieren  als: 

„die  Mittelwirkung  oder  Kesultirende  aus 
„einerseits  der  staatlichen  Ober  Vormundschaft 
„über  das  Gemeindewesen,  andererseits  aus  der 
„von  der  letzteren  für  den  Wald  nothwendig  zu 
„bedingenden,  resp.  anzuordnenden  wissenschaft- 
lich technisch  gebildeten  Leitung  und  Bewirth- 
„schaftung  durch  staatlich  bestellte  Organe". 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Begriffe, 
auf  welche  sich  diese  heutigen  Anschauungen 
oder  forstwirtschaftlichen  Grundsätze  stützen, 
dermalen  ungleich  klarer  sind,  als  vor  200  und 
mehr  Jahren.  Die  wichtigste  Aufgabe  einer  auf 
die  beutigen  Zustände  bezogenen  Forstgeschichte 
wird  also  dahin  gehen,  herauszufinden  und  fest- 
zustellen, ob  und  wie  weit  der  vorstehend  defi- 
nierte Grundgedanke  nicht  blos  in  abstracten, 
sondern  auch  in  den  historisch  überkommenen 
Gedanken  des  deutschen  Volkes  wurzelt. 

In  der  französischen  Geschichte  liegt  die 
Sache  klarer.  Die  französische  Gesetzgebung, 
insbesondere  die  Ordonnance  von  1669  zeichnet 
sich  vor  den  gleichzeitig  und  später  bis  zu  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  erschienenen  deutschen 
Verordnungen  aus  durch  weitaus  schärfere  Lo- 
gik, tieferes  Eingehen  auf  die  einzelnen  wirth- 
schaftlichen  Gesichtspunkte  und  insbesondere  auf 
die  Eigenthumskategorien.  Die  Revolution  der 
1790er  Jahre  beseitigte  die  bewirthschaftende 
Staatsobervormundschaft  für  Privatwald,  allein 
durchaus    nicht    für    Communalwald. 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    471 

Wenigstens  wurden  anter  dem  Consultate,  na- 
mentlich durch  die  Gesetze  vom  9.  Flor,  IX., 
19  Ventose  X  und  9/19  Flor.  XI,  die  durch  das 
1790  94r  wildeste  Treiben  der  Revolution  ge- 
lockerten Bande  wieder  gut  zusammengeleimt; 
übrigens  war  dies  keine  sehr  schwierige  Auf- 
gabe; denn  selbst  die  in  der  äußersten  Revolu- 
tion gegebenen  Gesetze  vom  15/19.  Sept.  1791, 
14  Aug.  1792,  10/11.  Juni  1793  u.  s.w.  hielten 
den  Grundsatz,  daß  die  Communal  Waldungen 
unter  staatlicher  Controle  und  Bewirt- 
schaftung (durch  Staatsoberförster) 
stehen,  in  ganzer  Kraft  aufrecht. 

In  den  deutschen  Staaten   liegt  dieser  Gang 
ihrer  Vielfachheit  wegen,   ungleich  verschwom- 
mener.   Gleichwohl  ist  auch  in  Deutschland  die 
für  die  Nachwelt  genau  ebenso  wie  für  die  Ge- 
genwart besorgte  Forsthoheit  (staatlich  forstliche 
Bewirtschaftung,  forsteiliche  Staatsobervormund- 
schaft) ein  Grundton   der  Waldordnungen,   eine 
historisch  begründete  und  entwickelte,  zwar  für 
Privatwald  nach  und  nach  obsolet  gewordene, 
aber   für   Communalwald,   wenn    auch   hier 
nnd  da  in  noch  heilbarem  Grade  abgeschwächt, 
fortbestehende,   nicht   ohne  Unrecht   gegen  die 
Zukunft   abzuläugnende  oder    wegzuescamottie- 
rende  Thatsache,   welche  in   dem   vorliegenden 
Capitel  unseres  Werkes   durch  eine  Masse  von 
Belegein    außer    allen    Zweifel     gestellt    wird. 
Hierin  ist  wohl  ein  Hauptverdienst  der  mühsa- 
men Arbeit  zu   erkennen.    Nur  hätte  die  Frei- 
gabe  der  Privatwaldungen  näher  im  Einzelnen 
verfolgt  werden   müssen.     Aus  den  Nachweisen; 
des  Verfassers  ist  ersichtlich,  daß  die  Annahme, 
als  seien  die  Waldordnungen  vorzugsweise  oder 
nur  im  Interesse  der  Jagd  und  des  Jagdregals 
erlassen   worden,   nicht   zutreffend  ist,    obwohl 


478  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

zugestanden  wird,  daß  die  Sorge  für  den  Wild- 
stand zur  pfleglichen  Behandlung  auch  der  nicht 
domanialen  Waldungen,  wesentlich  beigetragen 
hat.  Die  landesväterliche  Obsorge  für  nachhal- 
tige Benutzung  der  Waldungen  tritt  sehr  deut- 
lich hervor.  Besonders  interessant  ist  die  Mit- 
theilung §  159  und  160,  daß  das  Reichs- 
kammergericht zu  Wetzlar  eine  gegen  diese 
Obsorge  gerichtete  Klage  der  Waldeigenthtimer 
mit  Entschiedenheit  verwarf  (1762)  und  sogar 
(1768)  die  landesherrliche  Forsthoheit  in  dem 
auf  die  Waldungen  der  adeligen  Landsassen 
ausgedehnten  Rechte  der  Holzanweisung  schützte. 
Zur  Ergänzung  der  vom  Verfasser  citierten  Be- 
lege möge  der  nachstehende  Wortlaut  des  §  26 
der  „Verwaltungsordnung  für  den  Oberforst 
Darmstadt"  vom  20.  April  1776  hier  eine  Stelle 
finden. 

26.    Aufsicht  auf  die  Gemeinde-Waldungen  und  jährlicher 

Holz-Bericht  von  denselben. 

„So  wie  Unsere  Besoldungen  überhaupt  kein  Moses 
Wartgeld  seyn,  sondern  Wir  vor  dieselbe  Arbeit,  und 
zwar  ganze  Arbeit,  und  eine  treue  und  eifrige  Dienst- 
leistung verlangen ,  also  reichen  Wir  sie  denen  Forst- 
Bedienten  in  deren  Forsten  Gemeinde-  oder  Privat-Wal- 
dungen  sind,  nahmentlich  auch  vor  dieselbe  mit,  und 
wollen  daß  gute  und  ohneigennützige  Aufsicht  auf  diese 
Waldungen  gehalten  werde;  und  damit  Unsere  Unter- 
thanen  ihres  Eigenthums  auch  froh  werden,  und  nicht 
vor  jedes  Scheit  Holtz  das  sie  nöthig  haben,  mit  ohn- 
nöthigem  Lauffen  und  Suppliciren  geplagt  werden  mö- 
gen, so  befehlen  Wir,  daß  jeder  Ober-Förster,  in  dessen 
Forsten  dergleichen  Waldungen  sein,  über  die  Bedürf- 
nisse der  Eigenthümer,  nach  dem  weiters  beiliegenden 
Formular  so,  wie  von  Unsern  eigenen  Waldungen,  und 
mit  diesem  zugleich  auch  jährlich  einen  Holtz-Bericht 
einsende,  und  wann  derselbe  von  Unserem  Ober-Jäger- 
meister decretiret  worden,  die  Anweisung  darnach  thue; 
es  soll  aber  dieser  Bericht  völlig  ohnentgeltlich  erstattet 
werden,  und  von  Niemand,  er  habe  Nahmen  wie  er  wolle, 


Both,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    479 

weder  vor   dessen  Einsendung   noch  Decretur  etwas  ge- 
fordert oder  angenommen  werden". 

Der  Erlaß  dieser  denkwürdigen  Verordnung 
geschab  unter  dem  Regiment  des  Freiherrn 
Friedrich  Karl  von  Moser,  Sohn  des  be- 
rühmten Stuttgarters,  welcher  seinen  Freimuth 
5  Jahre  lang  (1759—1764)  auf  dem  Hohentwiel 
büßte.  Ein  schönerer  Edelstein  in  der  forstli- 
chen Gesetzgebung  des  18.  Jahrhunderts  wird 
sich  nicht  finden.  In  dem  größten  Theile  des 
westlichen  Deutschlands  herrschen  bezüglich 
der  Gemeinde  Waldungen  heute  noch  die  glei- 
chen (für  den  Domanialwald  selbstverständlichen) 
Anschauungen.  Daß  in  Preußen,  unter  dem 
Einfluß  der  ungeheuren  Opfer,  welche  dem  Preu- 
ßischen Volke  in  Folge  der  Ereignisse  von  1806 
auferlegt  werden  mußten,  die  Gemeinden  in  Be- 
ziehung auf  Bewirtschaftung  ihrer  Waldungen 
(ja  sogar  auf  beliebige  Theilung  unter  die  Orts- 
einwohner zu  Privateigenthum,  zu  Ackerland 
und  Wiesen  in  den  Fällen,  wo  es  sich  um  Ge- 
meinheitstheilnngen  im  Sinne  des  Gesetzes  vom 
7.  Juni  1321  §  108  und  109  handelt;  conf.  auch 
§  4  des  Edicts  vom  14,  Sept.  1811)  nahezu  frei- 
gegeben wurden,  und  diese  in  Folge  davon  weit 
mehr  zurückgegangen  sind,  als  selbst  in  den 
dem  directen  französischen  Regiment  unterworfen 
gewesenen  deutschen  Landen,  wird  von  dem 
Verfasser  nicht  hervorgehoben,  ist  aber  eine 
traurige  Thatsache,  deren  Remedur  die  preußi- 
schen Staatsmänner  in  neuester  Zeit  um  so  mehr 
beschäftigt,  als  ihnen  durch  die  Annexion  von 
Hannover,  Kurhessen,  eines  Theils  vom  Groß- 
herzogthum  Hessen,  Nassau,  sowie  auch  durch 
die  näheren  Beziehungen  der  preußischen  Re- 
gierung zu  Elsaß-Lothringen  diejenigen  besse- 
ren Zustände  näher  getreten  sind,   welche  sich 


480  Gott.  gel.  Anz.  18RI.  Stück  15. 16. 

in  den  bezeichneten  Landen  in  Folge  der  dort 
strengeren  Handhabung  der  forsteilichen  Be- 
wirtschaftung nicht  allein  erhalten,  sondern  so- 
gar, unter  Zuthun  der  forstwissenschaftlichen 
Fortschritte,  außerordentlich  gehoben  haben.  Es 
gereicht  den  jetzt  leitenden  Organen  des  Preu- 
ßischen Forstwesens  zur  höchsten  Ehre,  daß  sie, 
unbekümmert  um  die  wissenschaftlichen  Nörge- 
leien und  Gegenzänkereien,  diejenigen  Schäden 
und  Fehler  wieder  auszumerzen  streben,  welche 
Folge  des  harten  Schlags  von  Tilsit  waren,  und 
sich  in  enormem  Ertragsausfall,  im  Vergleich 
zu  den  besser  bewirtschafteten  westdeutschen 
Gommunalwaldungen ,  darstellen.  Die  erste 
Frucht  dieses  Strebens  ist  das  für  die  östlichen 
Provinzen  erlassene  Gesetz  vom  14.  August  1876. 
(Ges.  Samml.  1876  pag.  373). 

Dagegen  ist,  für  ganz  Deutschland,  eine 
trostlose  Thatsache  weder  zu  verschweigen  noch 
in  ihrem  Fortgang  zu  hindern:  die  Privat- 
waldungen gehen  zurück.  Diejenigen  II. 
Klasse  sind  am  Sterben,  das  noch  in  frischem 
Grün  blühende  Leben  der  I.  Klasse  wird  nur 
durch  die  Familienfideicommisse  ge- 
fristet. Die  historische  Darlegung  auch  die- 
ses wichtigen  Gesichtspunktes  würde  den  Werth 
des  Werks  wesentlich  erhöht  haben,  zumal  sich 
bedeutende  Fragen  der  Neuzeit  daran  reihen. 
Die  großen  Waldflächen,  welche  dermalen  fidei- 
commissarisches  Eigenthum  Standes-  und  patri- 
monialgericbtsberrlicher  Familien  sind,  waren 
meistens  noch  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
Domanialwald.  Die  Sou verainität  der  klei- 
nen Fürsten  wurde  aufgehoben,  die  Domänen, 
aus  deren  Erträgnissen  vordem  die  jetzt,  iifi 
Schwerpunkte,  auf  der  Steuerkraft  ruhenden  Ko- 
sten der  Regierung  großenteils  bezahlt  worden, 


Roth,  Geschichte  .des  Forst-  and  Jagdwesens.    481 

sind  Privaieigenthum.  Für  Nassau,  Kurhessen, 
Hannover  etc.  hat  man  diese  Fehlsicht  nicht 
mehr  begangen.  In  der  That  ist  der  Uebergaug 
des  in  Folge  der  Mediatisiernngen  den  großen 
Familien  zugewachsenen  enormen  Grundbesitzes 
in  die  Kategorie  des  Privatbesitzes,  eine  hi- 
storische Thatsache  von  höchster  Bedeutung  für 
das  ganze  staatswirthschaftliche  Gebäude  von 
Deutschland;  denn  sie  hat  die  frühere  Gestal- 
tung der  Gesammt-  und  der  Sonderinteressen 
und  die  bezüglichen  Anschauungen  wesentlich 
verschoben*). 

Die  agrarische  Bewegung  der  Neuzeit  hat 
einen  hohen  Zuwachs  erhalten,  welcher  sich 
bei  den  Reichs-  und  Landtagsverhandlungen 
über  die  Holzzölle,  über  den  Beeren-  und  Pilz- 
paragraphen etc.  frappant  erwiesen  hat.  Aber 
auch  hinsichtlich  des  eigentlich  forstlich 
technischen  Momentes  ist  diese  Thatsache 
von  der  größten  Tragweite,  und  ihre  Würdi- 
gung dürfte  in  einer  Geschichte  des  Forstwesens 
nicht  fehlen;  denn  das  Drängen  zu  Nutzholz- 
zucht, an  Stelle  der  seither  vorzugsweise  ange- 
strebten Brennholzwirthschaft  beruht  wesentlich 

*)  So  z.  B.  finden  wir   bei  Wagener   (standes- 
herrlichem Forstmeister  zu  Castell),  pag.  24  seiner  „An- 
leitung zur  Regelung  des  Forstbetriebs"  folgenden  Satz: 
„Unter  den  Consumenten  können  diejenigen  Staats- 
Angehörigen  etc.,  welche   die  kostspieligen  Waldpro- 
ducte  verbrauchen,  die  sog.  menge-  und  gütereichste 
Production  allerdings  aus  Eigennutz  befürworten, 
wenn  sie  eine  Uebervortheilung  ihrer  Mitbesitzer  be- 
absichtigen." 
Im  Hinblick  auf  die  Art,  wie  die  Standesherrn  die 
Wälder  zu  Privateigenthum   erworben  haben,   und  was 
die  Souyerainität  heute  werth  wäre,  wird  wohl  die  Frage 
zulässig  sein,    ob  die   Souveränität  ein   „kostspieliger" 
Taaschpreis  war? 

31 


482  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

in  der  richtigen  Erkenntniß  Seitens  der  großen 
Privatwaldbesitzer,  daß  ihre  Hocbwalduhgen, 
vermöge  der  Concurrenz  der  Steinkohle  sowohl 
für  den  Hüttenbetrieb  als  anch  für  den  Privat- 
brand, in  Zukunft  nur  dann  den  höchstmöglichen 
Geldertrag  liefern  werden,  wenn  die  ganze 
Wirthschaft,  von  der  Bestandsbegründung  an 
bis  zu  dem  Abtrieb  mehr  als  seither  auf  Nutz- 
holzzucht gerichtet  wird.  Es  liegt  klar  am 
Tage,  daß  hierdurch  die  leitenden  wirtschaft- 
lichen Gesichtspunkte  eine  gänzliche  Umgestal- 
tung erfahren  müssen. 

Auf  die  Freigabe  der  Privat  Waldungen 
von  der  forsteilicben  Bewirtschaftung  hat  die 
französische  Gesetzgebung  wesentlich  mitge- 
wirkt. Der  Verfasser  erwähnt  dies  §  182,  ohne 
jedoch  des  Näheren  darauf  einzugehen,  nament- 
lich ohne  der  Thatsache  zu  gedenken,  daß, 
wenigstens  nach  dem  Buchstaben  der  Gesetze, 
die  Communal  Waldungen  in  Frankreich  heute 
noch  unter  ungleich  schärferer  Controle  seitens 
der  Forstbehörden  bewirthschaftet  werden,  als 
in  manchen  deutschen  Staaten,  z.  B.  in  Alt- 
preußen (den  östlichen  Provinzen),  selbst  nach 
dem  Gesetze  vom  14.  Aug.  1876,  denn  dieses 
Gesetz  leistet  für  wirklich  gute  nachhaltige 
Forstwirtschaft  noch  keineswegs  hinreichende 
Gewähr.  Möchte  für  vollständige  Gleichstellung 
mit  Kurhessen,  Nassau  u.  s.  w.  baldige  Sorge 
getragen  werden! 

Zu  2)  Schutz. 

a)  Erhaltung  der  Substanz  und  zwar 
einestheils  in  der  Eigenschaft  als  Wald  (Verbot 
der  Waldrodungen),  anderenteils  in  derjenigen 
Größe,  welche  eine  forstmäßige  Benutzung  er- 
möglicht (Verbot  der  Waldtheilung  und  Be- 
stimmung der  Flächen-Minimalgrenzen,  beides  in 


Both,  Geschichte  des  Forst-  and  Jagdwesens.    483 

zweierlei  Richtung:  erstens  hinsichtlich  der 
Befugniß  der  Marken  und  der  Gemeinden,  ihre 
Waldangen  in  Privatbesitz  zu  vertheilen,  und 
zweitens  hinsichtlich  derBefugniß  des  Privat- 
manns, seinen  Wald  weiterhin  durch  Theilung 
in  kleinere  Stücke  zu  zerlegen). 

b)  Erhaltung  der  Bodenkraft  und  Fruchtbar- 
keit (Verbot  der  excessiven  Weide,  der  Streu- 
nutzung etc.). 

In  beiden  Beziehungen  constatiert  der  Ver- 
fasser mit  Unmuth  den  Rückgang  der  Forst- 
hoheit in  den  Gemeinde-  und  mehr  noch  den 
Privatwaldungen.  Referent  kann,  obwohl  im 
Wesentlichen  vollkommen  einverstanden ,  doch 
zu  b)  nicht  umhin,  den  Ausspruch  pag.  462 
und  561,  daß  das  Streurechen  unbedingt 
schädlich  und  in  Communalwald  unbedingt 
alles  Streurechen  zu  verbieten  sei,  als  zu  weit 
gehend  zu  bezeichnen.  Selbst  im  Doeianialwald 
würde  dies  verfehlt  sein,  da  der  Wald  durch 
Streuabgabe  der  Landwirtschaft  zu  Zeiten  der 
Noth  unendlichen  Nutzen  oft  ohne  Schaden,  ja 
sogar  mitunter  zum  Nutzen  der  Forstcultur 
oder  doch  wenigstens  ohne  verhältnißmäßigen 
Schaden  bieten  kann,  und  es  somit  Pflicht  der 
Forstverwaltung  ist,  das  Richtige  abzuwägen, 
und  zu  gewähren,  was  sie  ohne  effectiven 
Schaden  gewähren  kann.  Hat  sie  das  Recht, 
Art,  Ort  und  Maaß  zu  bestimmen,  dann  steht  die 
Sache  schon  recht.  In  Privatwald  ist  von  Sei- 
ten der  Forsthoheit  wohl  nichts  zu  machen,  es 
sei  denn  hinsichtlich  der  Streuberechti- 
gungen in  fremdem  Walde,  so  lange  diese 
Doch  bestehen.  Hier  vermissen  wir  die  Erwäh- 
nung des  für  das  Großherzogthum  Hessen  er- 
lassenen dem  Kopfe  v.  Wedekind's  entsprun- 
genen Gesetzes  vom  2.  Juli  1839,  wonach  alle 

31* 


484  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

Streu,  welche  im  Communalwald,  oder,  auf  Grund 
von  Berechtigung,  in  fremdem  Wald  zu  erndten 
ist,  in  der  Regel  wie  da»  Holz  durch  Lohn- 
arbeiter in  Verkaufsmaaße  aufgearbeitet,  aber 
nicht  in  Natnr  verabfolgt,  sondern  meistbietend 
versteigert  und  der  Geld -Bein  erlös  zu  glei- 
chen Theilen  nnter  die  Bezugsberechtigten 
vertheilt  werden  muß.  Dieses  Gesetz  bat  des 
Nagel  auf  den  Kopf  getroffen,  und  innerhalb 
des  Bereichs  seiner  Geltung  seit  den  40  Jahren 
seines  Bestehens  unendlich  segensreich  gewirkt, 
denn  es  beschränkt  die  Gonsumtion  auf  den 
wirklichen  dringenden  Bedarf,  weil  Niemand 
baares  Geld  für  Streu  hingiebt,  wenn  sie  ihm 
nicht  absolut  unentbehrlich  ist.  Jeder  aber  kann 
sie  haben,  wenn  er  das  Geld  dafür  ausgiebt. 

c)  Organisation  des  Schutzdienstes. 
Die  Frage,  wie  die  Grenze  zwischen  dem  ver- 
waltenden (Oberförsters-)  Dien  st  einerseits  und 
dem  eigentlichen  Forstschutzdienst  andrerseits 
zu  ziehen  sei,  und  welche  Bolle  hierbei  die  ein- 
zelnen Eigenthumskategorien  spielen,  welcher 
wissenschaftliche  Bildungsgrad  für  die  einzelnen 
Stufen  des  Dienstes  zu  fordern  sei  n.  s.  w.  ist 
nicht   im  Zusammenhang  erörtert;   ebensowenig 

d)  die  Befugniß  der  Waldeigenthttmer,  mit- 
zuwirken bei  Präsentation^  Ernennung  der  Forst- 
diener, Bestimmung,  resp.  Bewilligung  der  Ge- 
halte oder  Gehaltszulagen,  ferner  bei  der  Bil- 
dung der  Dienstbezirke,  seien  dieselben  nun  aas 
einer  oder  aus  mehreren  Waldeigenthumskate- 
gorien  zusammengesetzt. 

In  solchen  Fragen  ist  wiederum  die  franzö- 
sische Gesetzgebung  vorleucbtend  gewesen,  ins- 
besondere ist  hervorzuheben,  daß  zu  Zeiten  der 
ersten  Bepublik  durch  das  Gesetz  vom  9.  Flor&l 
an   XI   äußerst  zweckmäßige    und   umfassende 


Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    485 

Bestimmungen  getroffen  wurden,  welche  sich  auf 
die  deutschen  Rbeinprovinzen  übertrugen  und, 
nebst  den  von  dem  Interregnum  (Grüner  etc.) 
in  den  Jahren  1814  und  1815  erlassenen  sehr 
guten  Gesetzen,  großenteils  heute  noch  in  Ue- 
bung  sind.  Unser  vorliegendes  Gescbichtswerk 
steht  in  diesen  Beziehungen  zurück  hinter  dem 
von  Moritz  Mohl  verfaßten  vortrefflichen  Aus- 
sebußbericht  an  die  Würtembergische  Stände* 
kammer  vom  16.  Juli  1879  (ca.  24  Druckbogen). 
Mit  tiefer  Kenntnis)  des  ganzen  Bereichs  der 
bezüglichen  Geschichte,  Literatur,  Gesetzgebung 
und  der  Sache  selbst,  vertfaeidigte  dieser,  die 
Forstpolizei  innerhalb  der  letzten  ca.  200  Jahre 
eingehend  behandelnde  ebenso  geistreiche  als 
überzeugungstreue  Schriftsatz  die  der  laxeren 
Anschauung  der  Regierung  und  der  Kammer- 
majorität entgegenstehenden  Bedenken ,  blieb 
aber  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  Stimme 
des  Predigers  in  der  Wüste.  Schwerlich  ist  im 
Verlauf  der  letzten  Jahrzehnde  über  die  ein- 
schlagenden Fragen  etwas  Besseres  geschrieben 
worden. 

Aus  dem  weiteren  Inhalte  der  drei  Capi- 
tel  von  der  Forst hoheit  wird  noch  das  Ab- 
lösungswesen und  die  Forstgerichts- 
barkeit hervorzuheben  sein.  Ersteres  ist  als 
eine  Hauptfrage  heutiger  Zeit  hier  und  da  er- 
wähnt, z.  B.  pag.  462  und  464.  Der  auf- 
fallende Bückstand  der  bezüglichen  Gesetz- 
gebung, im  Vergleich  zu  der  Ablösung  der  land- 
wirtschaftlichen  Grundlasten,  sowie  die  stief- 
mütterliche Behandlung  wird  gerügt,  unter  wel- 
chen das  deutsche  Forstwesen  im  Gegensatz  zu 
der  längst  befreiten  Landwirtbschaft  noch  seufzt 

Die  Forst gerichtsbarkeit  wird  durch 
die  einzelnen  Waldordnungen  hindurch  eingebend 


486  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

verfolgt.  Die  lange  Reihe  von  anziehenden  Bil- 
dern, welche,  hinsichtlich  sowohl  der  Strafbe- 
stimmungen als  auch  des  Strafprozesses  entrollt 
werden,  bietet,  anschließend  an  die  Gitate  des 
2.  Abschnitts  einen  Blick  in  die  Willkürherr- 
schaft, welche,  zumal  in  den  kleineren  deutschen 
Staaten,  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen 
Jahrhunderts  waltete.  Schade,  daß  der  Verfas- 
ser keine  Eenntniß  gehabt  hat  von  dem  nach- 
stehenden §  44  der  Erbach  -  Fürstenauischen 
„Forst-,  Wald-  und  Jagdordnung"  vom  22.  Febr. 
1770,  unter  der  Ueberschrift 

»Sollen  alle  Unter thanen  auf  dem  Bulltag  er- 
scheinen« 
lautend  wie  folgt: 
„sollen  sowohl  alle  Bußfällige  als  auch  andere  Unter- 
„thanen  auf  dem  Bußtag  erscheinen,  und  sowohl  ihre 
„Bestrafung  als  auch  ernstliche  Verwarnung,  sich 
„künftig  vor  Schaden  zu  hüten,  von  Unserem  Forst- 
„Amt  anhören". 

Ein  zärtlicheres  Beispiel  landesväterlicher 
Für-  und  Vorsorge  wird  wohl  nicht  in  deutschen 
Landen  bestanden  haben.  Das  Gerichtswesen 
der  heutigen  Zeit  macht  alles  dies  obsolet, 
Strafgesetz,  Strafproceß,  Civilproceß  u.s.w.  sind 
in  Reichsgesetzen  geordnet,  das  Givilgesetz  wird 
nicht  zurückbleiben.  — 

4.  u.  5.  C  a  p  i  t  e  1 :  Jagdrecht  und  Jagdpolisei. 
Jagdbetrieb  und  Jagdpersonal.     §§  184  bis  242. 

Diese  Gapitel  geben  eine  ebenso  reiche  als 
vollständige  Darstellung  aller  bezüglichen  Ver- 
hältnisse in  den  verschiedenen  Epochen  der 
neueren  Geschichte,  und  sind  eine  höchst  dan- 
kenswerte Gabe  an  alle  diejenigen,  welche  sich 
für  die  Culturgeschichte  und  für  die  Geschichte 
der  Jagd  insbesondere  interessieren.  Auf  nähe- 
res Eingehen  wird  um  so  mehr  verzichtet  wer- 
den   können,    als  die   bis  zum  Jahre  1848  be- 


i  Roth,  Geschichte  des  Forst-  und  Jagdwesens.    487 

standenen  Jagdverhältnisse  von  diesem  Zeit- 
punkte an  mehr  oder  weniger  verschwan- 
den sind. 

6.  u.  7.  Gapitel:  Anfänge  der  Forstliteratur 
und  fortschreitenden  Ausbildung  der  Forstwirth- 
schafl    §§  243-291. 

|         Beide  Gapitel  sind,  abgesehen  von  den  vor- 

|  dersten  §§,  etwas  cursorisch  behandelt.  Bereits 
Eingangs  ist  dies  angedeutet.    Der  Verfasser  ist 

j  oft  zurückhaltend  mit  seinem  Urtheil  und  be- 
gnügt sich  hier  und  da  mit  Verzeichnung  der 
Namen  und   der  bezüglichen  Schriften.     Insbe- 

i  sondere  ist  der  neueren  und  neuesten  Literatur 
und  Wissenschaft  keine  tiefere  Beachtung  ge- 
widmet. 

Die  häufige  Verweisung  bezüglich  des  Nähe- 
ren auf  Bernhardt  hinterläßt  den  Eindruck, 
als  sei  der  Verfasser  von  der  Forstgeschichte 
Bernhardt' s  zu  der  Zeit  überrascht  worden, 
wo  er,  mit  den  älteren  Perioden  nahezu  fertig, 
gerade  im  Begriffe  stand,  seine  neueste  Periode 
in  Angriff  zu  nehmen,  und  habe  aus  Besorgniß, 
Wiederholungen  zu  bringen,  auf  detailirtere 
Ausarbeitung  des  letzten  Zeitabschnittes  verzich- 
tet. Dies  hat  auch  seine  Berechtigung;  allein 
man  kann  einwenden:  erstens,  daß  in  solchem 
Falle  eine  modificierte  Oeconomie  des  ganzen 
Werks  angezeigt  gewesen  wäre,  und  zweitens, 
daß  Bernhardt,  in  Beziehung  auf  ruhiges 
objectives  Urtheil,  nicht  unbedingt  und  überall 
als  Autorität  in  dem  Grade  anzuerkennen  ist, 
wie  es  bei  dem  Reichthum  seines  Geistes  wün- 
schenswerth  gewesen  wäre*). 

*)  Beispielsweise  möge  das  Urtheil  Bernhardts 
über  v.  Wedekind  (auf  der  von  Roth  citierten  pag. 
87)  angeführt  werden.  Neben  mancher  Anerkennung  ist 
Folgendes   ausgesprochen:   »Wedekind  besaß   einen   nur 


488  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

Gleichwohl  ist  unschwer  der  bereits  im  Ver- 
laufe des  ganzen  Werks  durch  vielfache  Andeu- 
tungen kundgegebene  Grundton  zu  erkennen, 
der  sich  in  dem  Schlüsse  §  291  am  deutlichsten 
ausspricht,  wie  folgt: 

Vom  Staatswaldverkauf  ist  jetzt  keine  Rede  mehr, 
dagegen  spuckt  ein  anderer  böser  Geist,  vom  Gelehrten- 
sessel ausgegangen,  genannt  das  Rentabilitätsprincip, 
welches  niedrige  Umtriebszeiten  und  dem  Zinsruß  des 
Capitals  mehr  entsprechende  Procente  auch  in  Staats- 
waldungen verlangt;  im  Widerspruch  mit  gesunden  na- 
tionalwirth schaftlichen  Anschauungen.  Fände  dies  Prin- 
cip  Eingang,  so  stände  abermals  der  Ruin  der  Staats- 
waldungen vor  der  Thür.  Gefährlich  und  verführerisch 
ist  dasselbe  immerhin,  weil  bisher  höhere  Umtriebszeiten 
bestanden,  und  der  Herabgang  auf  niedrigere  eine  Ab- 
minderung  des  Materialstocks  mit  sich  bringt,  daher  auch 


mittelmäßigen  Verstand«  etc.  Wären  nicht  die  vielen  durch 
und  durch  originellen  Schöpfungen  Wedekinds  ein  leben- 
diges Zeugniß  gegen  dieses  Urtheil,  so  würde  sich  die 
Ungerechtigkeit  desselben  allein  aus  folgender  Anecdote 
ergeben,  v.  Wedekind  war  in  der  Ständekammer  an- 
wesend gelegentlich  der  Besprechung  des  Forstbudgets. 
Mehrere  Abgeordnete  ergingen  sich  in  den  bekannten 
Phrasen,  über  die  geringe  Rentabilität,  Unduldsamkeit, 
Zurückhaltung  etc.  der  Forstwirthschaft.  Er  verließ  die 
Sitzung  gegen  Mittag,  besprach  sich  sofort  mit  seinem 
Buchdrucker,  begab  sich  nach  Hause,  fing  an  zu  schreiben, 
ein  Blatt  nach  dem  andern  wanderte  frisch  aus  der  Fe- 
der in  die  Druckerei,  und  Abends  10  Uhr  stand  der  Sate 
des  ausgezeichneten  Schriftchens  „Ueber  Popularität  und 
Liberalität  in  Forstsachen",  welches  die  Reden  vom 
Vormittag  mit  schneidender  für  alle  Zeit  wahrer  und 
bleibender  Logik  abführte.  In  der  Nacht  erfolgte  die 
Correctur,  früh  Morgens  der  Druck  und  um  9  Uhr  hatte 
der  Portier  die  Brochure  zur  Behändigung  an  jedes  der 
zur  Sitzung  eintretenden  Ständemitglieder.  Solcher  Lei- 
stung ist  nur  ein  genialer  Geist  fähig,  v.  Wedekind 
hat  sich  durch  seine  Werke  ein  Denkmal  gesetzt,  wel- 
ches dasjenige  Beruh ardt's  —  allen  Respect  vor  des- 
sen Leistungen  —  weit  überragt. 


Roth,  Geschichte  des  Porst-  und  Jagdwesens.    469 

in  kurzer  Zeit  viel  Geld,  freilich  auf  Kosten  der  Nach- 
kommenschaft, die  sich  mit  einem  viel  geringeren  Mate- 
rialertrag behelfen  und  viel  höhere  Preise  für  das  Holz 
bezahlen  müßte. 

Referent  constatiert  mit  hober  Befriedigung, 
daß  Roth  hier  einen  ungleich  freieren  Blick 
zeigt,  als  Bernhardt,  welcher  pag.  309  des 
3.  Bandes  seines  Werks,  mit  der  Bodenreiner- 
tragstheorie liebäugelnd,  sagt:  „der  Streit  hat 
sein  Ende  noch  nicht  erreicht".  Dies  ist  un- 
genau. Der  Streit  ist  grundsätzlich  entschieden. 
Wie  Roth  richtig  sagt,  fragt  es  sich  nur,  ob 
man  das  nachhaltige  Maximum  der  Werther- 
zeugung  auf  10  Millionen  Beetaren  deutschen 
Waldes  ferner  festhalten  will  oder  ob  nicht. 
0.  Hey  er  hat  pag.  61  und  63  pos.  II  seiner 
„Statik"  ausgesprochen,  daß  er  dies  nicht  will; 
denn  er  erklärt  das  System  der  arithmetisch  er- 
mittelten nachhaltig  höchstmöglichen  Durch- 
schnittsgeldsreinertrag pro  Flächeneinheit  für 
„unwirtschaftlich";  er  hat  ferner  pag. 74 
ausgesprochen,  daß  er  die  für  Privatforstwirth« 
ßcbaft  gültigen  Grundsätze  auch  für  die  Staats- 
forstwirt bsebaft,  maaßgebend  erachtet  Referent 
ist  mit  dem  Verfasser,  mit  Hagen,  Helfe* 
rieh,  Schaff le,  Held  u.  8.  w.  dahin  einver- 
standen, daß  die  Staatsforst wirthschaft ,  incl. 
Communalwald  das  Maximum  an  Wertbproduc- 
tion,  d.  h.  das  Hartig'sche  Programm 
festhalten  muß.  Für  Privatwald  wird  das- 
selbe, abgesehen  von  Familienfideicommissen, 
nicht  aufrecht  zu  erbalten  sein. 

Der  Verfasser  schließt  mit  dem  Wunsche, 
jener  oben  citierte  „böse  Geist"  nicht  Herr 
werden,  auch  für  die  Jetzt  extrem  deprimirten 
<togdverhältnisseu  eine  bessere  Zukunft  erblühen 
möge.     Ist   auch    dem  letzteren   Wunsche   ein 


490  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

günstiges  Prognosticon  schwerlich  zu  stellen,  so 
liegt  doch  die  volle  Berechtigung  des  ersteren 
allzusehr  auf  flacher  Hand,  als  daß  nicht  von 
der  Zukunft  die  Zurückverweisung  des  Renten- 
princips  auf  den  Lehrstuhl,  dem  es  behufs  der 
Fest-  und  Klarstellung  der  Begriffe  unentbehr- 
lich ist,  und  als  daß  nicht,  was  die  Praxis  be- 
trifft, die  Beschränkung  des  Rentenprincips  auf 
Privatwald,  jedoch  auch  hier  nicht  ohne  Beob- 
achtung vernünftiger  die  Rechte  der  Nachwelt 
achtender  Grenzen,  mit  Zuversicht  erwartet  wer- 
den dürfte. 

Die  äußere  Ausstattung  des  Werks  ist  in  je- 
der Beziehung  sehr  gut. 

Darmstadt,  Sept.  1880.  Braun. 

Lamprecht  von  Regensburg.  Sanct Francisken 
Leben  und  Tochter  Syon,  zum  ersten  Mal  herausge- 
geben nebst  Glossar  von  Karl  Weinhold.  Pader- 
born, Druck  und  Verlag  von  Ferd.  Schöningh,  1880. 
645  SS.    8°. 

Zu  den  mannigfachen  und  bleibenden  Ver- 
diensten, die  sieb  Weinhold  um  unsere  Mutter- 
sprache erworben  hat,  gesellt  sich  nun  auch  das 
Verdienst,  daß  er  die  Dichtungen  Lamprechte 
von  Regensburg  ans  Licht  gezogen  und  zugleich 
mit  alle  dem  versehen  hat,  was  dazu  dient,  die- 
selben zu  erläutern  und  nach  ihrem  literarischen 
Werthe  wie  nach  ihrer  kulturhistorischen  Bedeu- 
tung zu  würdigen.  Alles,  was  man  bisher  davon 
kannte,  beschränkte  sich  nur  auf  kurze  Auszüge, 
welche  theils  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern 
und  in  Hoffmanns  Fundgruben,  theils  in  Wein- 
holds  Mhd.  Lesebuche  und  in  Franz  Pfeiffers 
Altd.  Uebungsbuche  mitgetheilt  waren. 

Schon  die  dort  gegebenen  Mittbeilungen  lie- 
ßen erkennen,  daß  Lamprechts  Werke  nicht  ohne 
Bedeutung  waren,  und  regten  vielseitig  das  Ver- 


Lamprecht  v.  Regensburg,  herausg.  v.  WeinholcL    491 

langen  nach  näherer  Kenntniß  derselben.  Die- 
sem Verlangen  hat  die  vorliegende  erste  kriti- 
sche Ausgabe  vollkommen  entsprochen.  Aus 
ihr  ersehen  wir  nun  deutlicher,  daß  der  Dichter 
einer  Bekanntmachung  werth  war.  Denn  seiner 
Sprache  wie  seiner  Verskunst  nach  gehört  er 
durchaus  nicht  zu  den  Spätlingen;  sein  Leben 
des  Heiligen  Franciskus  zeigt  sich  als 
die  älteste  deutsche  Bearbeitung  dieses  Heiligen ; 
sie  schließt  sich  auf  das  engste  an  die  von 
Thomas  von  Celano  in  den  Jahren  1228  bis 
1230  auf  Befehl  Pabst  Gregors  IX.  verfaßte 
vita  S.  Frcmcisci\  nicht  minder  gehört  sein 
zweites  Werk,  die  Tochter  Syon  oder  die 
Liebe  der  Seele  zu  dem  himmlischen  Bräuti- 
gam, zu  den  ausführlichsten  und  bedeutendsten 
deutschen  Gedichten  über  diesen  Gegenstand 
der  Mystik ;  es  gewährt  namentlich  einen  merk- 
würdigen Einblick  in  die  Bildung  der  deutschen 
Minoriten  aus  der  Zeit  Davids  von  Augsburg 
uud  Bertholds  von  Regensburg,  mit  denen  der 
Dichter  in  engem  Verkehre  stand. 

Zur  Herstellung  des  Textes  hat  der  Heraus- 
geber die  vorhandenen  Handschriften  alle  zu 
Rathe  gezogen ;  für  das  Leben  des  H.  Francisk, 
das  wohl  am  wenigsten  bekannte  Werk  des 
Dichters,  stand  ihm  nur  eine  Hdschr.  zu  Ge- 
bote, für  die  Tochter  Syon  dagegen  drei.  Sie 
sind  in  der  besondern  Einleitung,  welche  jedem 
Gedichte  voraufgeht,  mit  Rücksicht  auf  ihren 
sprachlichen  und  kritischen  Werth  vom  Herausg. 
näher  besprochen  worden. 

Dem  Ganzen  ist  eine  allgemeine  Einleitung 
vorausgeschickt,  welche  von  den  Lebensverhält- 
nissen des  Dichters,  von  seinem  Stil  und  von 
seiner  Darstellung,  schließlich  von  seiner  Vers- 
kunst und  von  seinen  Reimen  handelt. 


492  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stock  15.  16. 

Die  Zeit  von  Lamprechts  dichterischer  Thä- 
tigkeit  setzt  der  Heraosg.  mit  guten  Gründen  in 
die  Jahre  1240 — 1255,  während  Koberstein  und 
Bartsch  dieselbe  noch  „vor  den  Schluß  des  13. 
Jahrhunderts",  Wackernagel  und  Martin  an  die 
„Scheide  des  13.— 14.  Jahrb."  rücken  zu  dürfen 
glaubten*).  Bestimmteres  läßt  sich  darüber 
erst  sagen,  wenn  die  Amtszeit  des  Provinzial- 
mini8ters  der  Franziskaner,  des  Bruders  Ger- 
hard, ermittelt  ist,  der  zur  Tochter  Syon  dem 
Dichter  den  Stoff  überlieferte. 

Ueber  die  Quellen,  welche  beiden  Dichtungen 
zu  Grunde  liegen,  ist  in  den  besondern  Einlei- 
tungen dazu  die  Bede.  In  dem  älteren  Werke, 
das  der  Dichter  noch  als  knappe  und  vor 
seinem  Eintritt  in  den  Hinoritenorden  geschrie- 
ben, schließt  er  sich  genau  an  seine  Vorlage, 
an  Thomas  von  Celaeno  an;  in  der  Tochter 
Syon  nimmt  er  eine  freiere  Stellung  ein  gegen- 
über seiner  ihm  mündlich  von  Br.  Gerhard  vor- 
getragenen Quelle,  einem  lateinischen  Traktat, 
den  Weinhold  S.  285—291  nach  einem  Codex 
der  Wiener  Hofbibliothek  hat  abdrucken  lassen. 
Anf  diesen  Traktat  läßt  der  Herausg.  eine  ge- 
naue Inhaltsangabe  der  Tochter  Syon  folgen 
und  handelt  dann  von  der  Entstehung  dieser 
Allegorie  und  ihrer  weiteren  Verbreitung. 

*)  Wäre  die  schriftstellerische  Wirksamkeit  Lamp- 
rechts so  spät  zu  setzen  —  was  man  nach  der  Darstel- 
lung Weinholds  kaum  mehr  annehmen  kann  -  dann 
könnte  man  vielleicht  auch  Heinrich  Frauenlob  wegen 
seines  Spruches  no.  255  ed.  Ettmüller,  in  welchem  dieser 
den  Minoriten  Simonie  und  Gleißnerei  vorgeworfen  hat, 
mit  unter  die  Angreifer  zählen,  gegen  welche  Lamp- 
recht im  Leben  des  Franciskus  V.  1738  folg.  den  Orden 
vertheidigt.  Eher  bezog  sich  wohl  Frauenlob  auf  die 
Vorfälle,  welche  in  Closeners  Chronik  S.  50—51  (Chro- 
niken der  D.  St.  VIII)  aus  dem  Jahre  1287  berichtet 
werden. 


Lamprecht  v.  Regensburg,  herausg.  v.  Weinhold.    493 

Bieten  sonach  die  Einleitungen  schon  ein 
reiches  nnd  übersichtlich  geordnetes  Material 
zum  Verständniß  des  Schriftstellers  wie  zur 
Orientierung  über  denselben,  so  gewähren  noch 
überdies  die  beigefügten  Anmerkungen  schätz- 
bare Beiträge  zur  Erklärung  schwieriger  Stel- 
len und  suchen  namentlich  die  Beziehungen  des 
Dichters  zu  seinen  Quellen  im  Einzelnen  näher 
zu  bestimmen.  Das  Ganze  beschließt  ein  sorg- 
fältig zusammengestelltes  Glossar. 

Die  Bemerkungen,  welche  Bec.  hier  folgen 
läßt,  sind  nicht  im  Geringsten  dazu  angetban, 
den  Werth  des  vortrefflichen  Buches  irgendwie 
herabzusetzen,  sondern  betreffen  nur  einzelne 
Stellen,  in  denen  er  von  der  Auffassung  und 
Erklärung  des  Herausg.  abweichen  zu  müssen 
glaubt. 

Zu  Franoiskus  22  ich  bin  in  dem  kriege,  |  daz 
diu  werlt  wip  noch  man  |  triuget:  dieselbe  Re- 
densart findet  sich  auch  bei  Ottocar  in  Maß- 
manns  Eaiserchron.  II,  667,  93  ich  bin  des  im- 
mer in  kriege,  daz  der  diu  Hute  betriege  u.  8.  w. 

Zu  Franc.  489 :  hier  muß  es  heißen  in  dühte, 
do  er  was  entsläfen,  wie  sin  hüs  waer  vol  riter- 
wäfen ;  im  Texte  ist  das  Komma  nach  do  statt 
vor  dasselbe  gesetzt. 

Zu  Franc.  673:  sin  leben  an  werden,  wie  die 
Handschr.  hat,  war  zu  belassen  mit  Bücksicht 
auf  die  im  Glossar  S.  548b  verzeichneten  Bei- 
spiele; vergl.  noch  Berthold  v.  Begensburg 
319,  20  und  27 ;  469,  8 ;  Schwabenspiegel  ed. 
Wackernagel  10,  lö;  23,  2;  Germania  111,366, 
Z.  11  von  unten;  Stadtbuch  von  Augsburg  ed. 
Meyer  S.  140,  Z.  18  und  28. 

Zu  Franc.  874:  vingerbar^  wie  ein  Finger 
oder  ganz  bloß,  fehlt  im  Glossar  sowie  bei 
Lexer;  es  steht  noch  Eolmar.  Liederb.  75, 106; 


494  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

vergl.  auch  Herant  v.  Wildonie  26,  306  sin  Up 
ist  als  ein  vinger  bar,  so  wie  vingerblöz  im  Oren- 
del  ed.  Ettmüller  IV,  9. 

Zu  Franc.  925:  kuchengar  zun  ist  im  Glossar 
nachzutragen. 

Zu  Franc.  988 :  gerliche  bedeutet  hier  so  wie 
V.  1064  und  3545  nach  meiner  Auffassung  nicht 
„begierig,  freudig",  sondern  gänzlich  =  garliche. 

Zu  Franc.  1307  ist  unkunde  gedruckt  statt 
Urkunde;  ebenso  V.  1363  besazt  für  besaz. 

Zu  Franc.  2336  folg.  im  was  zer  marter  also 
gdchy  |  daz  er  sinen  geverten  nach  |  eteswenne 
verre  lie,  \  so  snelliche  er  vüre  gie:  deutlicher 
scheint  mir  der  Plural,  sine  geverten,  da  der 
Sinn  ist:  er  war  so  auf  die  Marter  erpicht,  daß 
er  seine  Gefährten  zuweilen  weit  hinter  sich 
zurück  ließ. 

Zu  Franc.  2362  da  die  heiden  und  die  kristen  \ 
mit  urliuge  ensament  kristen;  statt  eines  unge- 
nauen Reimes  möchte  ich  hier  lieber  einen  rüh- 
renden R.  annehmen,  wie  solche  S.  31— 32  vom 
Herausg.  angemerkt  sind,  demnach  kristen  schrei- 
ben als  Pluralform  zu  dem  ind.  praet.  kreist; 
über  die  starke  Flexion  von  kristen  vergl.  das 
Präteritum  verkristen  beim  Pfaffen  Lamprecht 
Alex.  4520  und  Hildebrand  im  D.  W.  V,  2162. 

Zu  Franc.  2454  ich  bin  daz  wol  gelonbet: 
hier  nimmt  der  Herausg.  an,  daß  gelouben  einen 
doppelten  Accusat.  regiere  in  der  Bedeutung: 
einem  etwas  glaubwürdig  versichern;  das  wird 
kaum  nachweisbar  sein;  der  doppelte  Acc.  wie 
im  J.  Titurel  4152,  2—3,  hat  bei  diesem  Zeit- 
worte einen  andern  Sinn;  ich  schlage  daher  vor 
zu  ändern  in  ich  bin  derz  wol  geloubet.  Diese 
Ausdrucksweise  ist  namentlich  in  hofischen  Ge- 
dichten nicht  selten,  wie  z.  B.  im  Parz.  555,  4; 
in    Ulrichs    v.   Türheim   Rennewart    ed.    Roth 


Lamprecht  v.  ftegensburg ,  herausg.  v.  Weinhold.    495 

S.  47,  13;  MSFr.  140,  30;  168,  24;  188,  28; 
GAbent.  I,  91,  78;  J.  Tit  3732,  1;  4218,  4. 

Zu.  Franc.  2613  unlange  sAt  werte  daz\  in 
der  Handßchr.  steht  vil  lange;  es  könnte  auch 
borlange  im  Original  gestanden  haben. 

Zu  Franc.  3005—7  den  (mantel)  hat  im 

ein  guoter  man gelihen  an;   ebenso    bei 

David  von  Augsburg  im  Spiegel  der  Tugend 
333,  1  daz  ander  ist  uns  alles  an  gelihen  als 
der  seinem  spüe  ein  vremdez  kleit  entmint. 

Zu  Franc.  3172  ein  metwahsen  man,  derselbe 
seltene  Ausdruck  auch  im  Cod.  Stutgart.  theol. 
et  philos.  no.  64  (vom  J.  13^3)  fol.  48b:  er  ist 
ein  metwahsen  man  unde  hatswarzez  här;  vergL 
Lassberg  LS.  I,  161,  16  mittdwahsen  unde  ran. 

Zu  Franc.  2185  da*  er  \  umbe  sines  hälses 
ric  |  bunde  eines  seiles  stric ;  hier  soll  der  Aus- 
druck ric   nach   dem  Glossar  so  viel  als  „Ge- 
stelle"   bedeuten.      Es  sind    aber  noch  andere 
Stellen  vorhanden,   in  denen  das  Wort  in  ganz 
ähnlichem  Zusammenhange   steht   und    zugleich 
eine  bestimmtere  Bedeutung  erfordert.    So  wird 
in  Wackernagels  Predigten   S.   387    aus  einer 
Handschrift  folgender  Bibelspruch  citiert :  swenne 
ir  den  minnesten  geboiseront,   der  an   mich  ge- 
loubit,  so  wer  iu  bezzvr,  daz  iu  ain  mülistainan 
den  ric  were  gehenkit^  wo   also  mit  ric  das  Col- 
lum der  Vulgata  in  Matth.  18,  6,  Marc.  9,  42, 
Luc.  17,  2  wiedergegeben  ist.    Ebenso  verstehe 
ich  Konrads  Trojanerkr.  36220  folg.  traf  in  der 
stolze  degen  zier  \  und  schriet  im  abe  der  collier 
|  enewei  der  bintriemen  stric;  \  daz  er  im  niht 
ab  stach  den  r%c\  \  daz  was  ein  michel  saelekeit ; 
mit  bintriemen   stric   hier   ric   zu  identificieren, 
wie  es  Lexer  imHandw.II,  415  gethan,  erlaubt 
schon  näher  besehen  der  Zusammenhang  nicht; 
ric  ab  stechen  ist  hier  synonym  mit  hals  abstechen 


496  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  16. 16. 

oder  h.  abstözen.  Endlieh  gehört  hierher  eine 
Stelle  aas  Konrads  Liedern  I,  149  ed.  Bartsch: 
din  sun  den  ric  \  verschriet  im  (=  dem  slangen) 
und  des  mundes  giel. 

Zu  Franc.  3198  er  was  —  gemachsam  und 
gewänne;  „behaglich  im  Umgänge"  scheint  die 
Bedeutung  von  gemachsam  nicht  genau  wieder- 
zugeben; es  ist  hier  wohl  =  facilis,  habüis 
commodus,  sich  anbequemend,  vergl.  Pfeiffers 
Glossar  zu  Eonrad  v.  Megenberg,  Niclas  v.  Wyle 
Translat.  129,  31. 

Zu  Franc.  3247  statt  ze  dienen  würde  ich 
lieber  ze  dienne  geschrieben  haben,  wie  es  V. 
3662  geschehen  ist ;  in  der  Handschr.  beide  Mal 
dinne. 

Fr.  3523  verstehe  ich  unter  unbesihteheit  Un- 
achtsamkeit, Sorglosigkeit,  mit  Bezug  auf  V. 
3520;  „Augenleiden"  kann  es  kaum  bedeuten; 
in  den  Sieben  Todsünden  bei  Mone  Schausp.  1) 
333  wird  unbesihteheit  deutlich  von  bUntheü 
unterschieden. 

Fr.  3783  daz  im  sin  kraft  wart  gelegen  kann 
nicht  heißen:  daß  seine  Kraft  „zu  erliegen  be- 
gann", wie  im  Glossar  angegeben  ist;  wartmri 
man  wohl  in  was  zu  ändern  haben,  vergl  Gre- 
gor 96  und  Erec  9065. 

Fr.  3993  unverborgenliche  ist  im  Glossar  an- 
vermerkt geblieben,  desgleichen  bei  Lexer;  es 
findet  sieb  aber  noch  in  der  Martina  185,  63; 
212,  23.  Ebenso  vermisse  ich  im  Glossar  das 
Wort  wundenmäl  aus  V.  4060,  ebenfalls  bei 
Lexer  nicht  aufgeführt;  es  steht  noch  in  der 
Martina  234,  35. 

Fr.  4150  und  4196  Seraphin  (:  hin)  und  &■ 
raphinne  (:  inne);  ebenso  reimt  Muscatblut  32, 8 
finne:  Seraphmne, 

Fr.   4612   zu    dem  seltenen   Ausdruck    die 


Lamprecht  v.  Regenribiurg,  herausg.  v.  Weinhold.    497 

spräche  verlegen,  die  Sprache  verlieren,  vergl. 
Neumanns  Serap.  XXVIII,  312  (a.  1395)  spre- 
chend machen  einen  siechen  der  die  sprach  ver- 
legt hast;  gewöhnlicher  war  die  spräche  legen>  so 
Job.  Hanpt  Arzneib:  S.  95  [543]  ob  ein  siecher 
mensch  die  sprach  gelegt  hat ;  GAbent.  III,  67, 
899  des  wart  er  also  mxbvelhaft,  dag  er  die 
spräche  legte;  Nicolaos  von  Jerosch.  17350  die 
spr.  legte  er  zuhant\  Denifle,  Die  Schriften  von 
Sense  I,  418. 

Zu  Syon224  dem  mac  versmähen  harte  |  di- 
ser  werlde  wolenste  (:  gespenste) ;  im  Glossar  S. 
569  8.  v.  versmähen  ist  wolenste  als  Genetiv  ge- 
faßt und  daher  S.  642  wolanst  als  Nominativ 
angesetzt  Allein  der  Genetiv  nach  versmähen 
wäre  doch  gegen  die  Gewohnheit;  überdies 
läßt  sich  wolenst[e~]  als  Nominativ  bei  Heinrich 
von  Neustedt  nachweisen,  vergl.  Zarncke  Lit. 
Centralbl.  a.  1875,  S.  1615. 

Syon  488  ist  invar  unerklärt  geblieben,  auch 
im  Glossar  nicht  erwähnt. 

S.  620  süejse  frowe%  riht  dich  üf  \  und  lein 
dich  her  an  mine  huf!  sägt  die  Spes  zur  ohn- 
mächtig vor  ihr  liegenden  Tochter  Syon.  Ich 
meine,  es  maß  huf,  Hüfte,  heißen;  nur  damit, 
nicht  mit  der  Wange,  kann  man  eine  Ohnmäch- 
tige stützen.  Man  wird  auch  hier  ungenauen 
Reim  anzunehmen  haben  oder  eine  der  mittel- 
deutschen }  ähnliche  Aussprache  des  Dichters,  die 
es  gestattete!  ]uf  auf  huf  zu  reimen  wie  bei  Otte 
im  Eraclins  3684  oder  dem  König  vom  Oden- 
walde  VII,  49  und  in  Pfeiffers  Uebung.  157, 84, 
um  die  Fälle  im  Passional  nicht  zu  erwähnen. 

S.  639  nie  ougensehen  wart  so  lieht;  darnach 
im  Glossar  ougensehen  n.  „das  Sehen  mit  den 
Augen";  ich  glaube,  man  hat  ougensehe  enwart 
zu  schreiben  und  ougensehe  f.  pupilla,  oculorum 

32 


498  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

acies  anzusetzen;  vergl.  J.  Tit  4787, 4  ein  stein, 
der  tuot  den  ougensehen  widerbiete;  Laßbergs 
LS.  II,  203,  102  wie  man  die  minen  ougensehen 
(:  beschehen)  mit  Mute  gar  verspannet;  Barlaam 
,  ed.  Pfeiffer  144,  40;  das  Compositum  fehlt  bei 
Lexer. 

S.  682  däzuo  mäht  du  tool  wizzen  \  in  dines 
herzen  vizzen  —  hier  scheint  die  nach  L  in  den 
Text  gesetzte  Wortform  vizzen  sehr  gewagt, 
nicht  nur  weil  ihr  Reim  auf  wizzen  eine  von 
fitz  zu  weit  abliegende  Aussprache  bedingt  und 
weil  sie  sonst  auf  deutschem  Boden  nicht  nach- 
weisbar ist;  die  beiden  andern  Handschriften 
bieten  dafür  die  Lesarten  gemzzen,  gewissen 
und  in  V.  807  kehrt  dieselbe  Ausdrucksweise 
wieder:  intelligentia  verstandenheit ,  diu  dines 
herzen  gewizzen  treit  und  zwar  nach  überein- 
stimmender Ueberlieferung.  Es  scheint  daher 
gerathener  wizzen  für  vizzen  zu  setzen  und  wie 
so  oft  bei  Lamprecht  (vergl.  S.  31  —  32)  auch 
hier  einen  rührenden  Reim  zu  statuieren. 

S.  1271  got  ist  guot,  er  ist  ouch  reht,  de- 
weder z  im  anz  anders  jeht\  der  zweite  Vers  ist 
nur  in  einer  Handschr.  überliefert,  wo  noch  dazu 
reht  für  jeht  steht ;  gewagt  bleibt  es,  dem  Dich- 
ter diese  Verbalform  zuzutrauen ;  ich  würde  vor- 
ziehen zu  lesen:  dewederz  ir  anz  ander  seht 
wie  in  V.  1669  steht 

S.  1561  stritwort}  das  Lexer  noch  nicht 
kennt,  findet  sich  auch  bei  Schönhuth  Ordensb. 
23,   Z.  5   von  unten:  dikein  übel  rede  (bs.  rete) 

an  stritworten  oder  itelen  worten  sol  gen 

uz  dikeines  brüderes  munde. 

S.  1695  er  muoz  in  relUer  mäzen  \  üf  hengen 
unde  nider  läzen;  in  der  Anmerkung  dazu  ist 
üf  hengen  wohl  richtig  erklärt  mit :  den  Flug  in 
die  Höhe  nehmen  (lassen);  im  Glossar  dagegen 


Lamprecht  y.  Regensburg,  lierausg.  v.  Weiabold.    499 

heißt  es  S.  588  „die  Zügel  anziehen  im  Gegen- 
satz zu  niederlassen".  Beide  Ausdrücke,  hengen 
und  läzen  sind  hier  sicher  von  der  Jagd  und 
zwar  von  der  Vogelbeize  entlehnt;  auch  bei 
Hadamar  v.  Laber  haben  sie  eine  gleiche  bild- 
liche Verwendung  gefunden  43  und  486 ;  vergl. 
auch  Osw.  von  Wolkenstein  28,  1,  1  und  zu 
wwfer  läzen  Gregor  1507. 

S.  2338  ez  enwart  nie  dehein  putze  so  an- 
gestlich  alsam  der  Up;  an  dieser  Stelle  bedeutet 
putze  wohl  schwerlich  „Pfütze",  wie  im  Glossar 
609  angegeben  ist;  ich  verstehe  der  putze,  die 
Schreckgestalt,  das  Scheusal,  wie  schon  in  den 
Fundgr.  I,  362  und  bei  Zarncke-Müller  I,  287a 
die  Stelle  aufgefaßt  ist. 

S.  2461  folg.  ist  in  den  Text  gesetzt:  ich 
hoer  des  den  eddn  vögeln  jehen,  sie  ezzen  kerne 
vil  gerne;  die  Handschriften  lesen  aber  herze 
für  kerne.  Da  man  unter  den  edeln  vögeln  nach 
weidmännischem  Sprachgebrauch  nur  Jagdvögel 
verstehen  kann,  keine  Tauben,  so  ist  die  Aende- 
rung  unstatthaft.  Ueber  den  hier  in  Kede  stehen- 
den Leckerbissen  der  „edeln  Vögel"  vergl.  Hein- 
rich Mynsinger  7:  der  sackerfalke  —  —  will 
auch  geatzet  sein  gar  zärtlich  von  frischen  her- 
tzen  und  hirn  der  ander  vogel\  S.  9:  die  weil 
der  girofalke  wild  ist}  so  isset  er  von  der  peiß 
(Jagdbeute)  nit  anders  dann  das  hertz  und  das 
fleisch  das  gen  dem  rechten  flügel  nächet  bi  dem 
hertzen  gestanden  ist;  S.  35:  ob  si  (die  häbich 
und  die  sperber)  von  dem  vogel  in  der  peisse,  den 
si  erflogen  haben,  begern  zu  essen,  so  begernt  si 
forderlich  das  herz  davon,  und  darumb  dievogel, 
die  herfliegen,  öffnen  sie  an  den  Seiten,  das  si 
das  hertz  davon  genemen  mögen. 

S.  2492  folg.  daz  waen  ich  nieman  gerne  tuo. 
I  Swer   in  hat,   der  habe  zuo,   \  daz   er  im  niht 

32* 


500  Gott,  gel.  Adz.  1881.  Stuck  15. 16. 

entvar;  für  nieman  sagte  wohl  in  dieser  Verbin- 
dung der  Dichter  ieman,  ebenso  wohl  im  folgen* 
den  Verse  iht  für  niht;  vergl.  V.  67  und  das 
Glossar  s.  v.  iht. 

S.  2640  zehant  so  man  in  (den  Wein)  gelist 
unde  die  wile  er  gist ;  im  Glossar  dazu  ist  aus 
Versehen  angesetzt:  gissen  st.  Zw.  gähren"; 
richtiger  war  auf  jesen  zu  verweisen;  vergl. 
Frauenlob  Spr.  133,  6,  wo  die  md.  Form  gest 
das  ursprüngliche  zu  sein  seheint. 

S.  3187  vürwert  kann  nicht  gut  „vorwärts" 
an  dieser  Stelle  bedeuten;  deutlicher  wäre  ge- 
wesen vüre  wert  oder  vür  in  wert,  höher  an 
Werth,  mehr  werth. 

S.  3820  ir  suit  iuch  üz  machen  mit  den  juno 
frowen  allen,  im  Glossar  601 :  üzmachen,  auf  den 
Weg  machen" ;  richtiger  wohl :  ausrüsten,  schmü- 
cken, putzen;  vergl.  meine  Bemerkung  zu  Erec 
2968  und  Schiller-Ltibben  V  8.  v.  ütmaken. 

S.  3837  gein  einem  halben  häre,  vergl.  dazu 
Wartburgkrieg  ed.  Simrock  54,  9  niht  als  umb 
ein  halbez  här. 

S.  3981  folg.  Frou  Karitas  zir  frowen  sprach: 
schöne  frowe  schöne,  frou  tohter  von  Syöne,  ir 
müezet  btten  eine  wile.  Hier  ist  schöne  vom 
Herausg.  S.  265  und  615  als  unumgelantetes 
Adjektiv  gefaßt  und  demgemäß  die  Interpunktion 
gesetzt,  vergl.  auch  S.  405.  Dem  widerstreitet 
aber  der  Zusammenhang,  wie  der  sonstige  Ge- 
brauch. Denn  man.  lese  z.  B.  Berthold  von  Re- 
gensburg  484,  8  ir  vogel,  ir  riehen  Hute,  schon, 
herre7  schöne!  unde  verdrücket  daz  arme  vische- 
lech  nicht  mit  unrechtem  gewalte ;  11,101,35;  190, 
23;  oder  Hadamar  60,5  ich  sprach:  schona,  ge- 
selle lieber,  Ute !  und  Stejskals  Anm. ;  62,  6  ich 
sprach:  schöna,  geselle, — du  muostdich  eben  Mieten! 


Aristophanis  Thesmophoriazasae,  ed.  Blaydes.    501 

Danach    ist  schone   Imperativ   oder  Adverbium 
mit  der  Bedentang :  halt  ein !  gemach !  ruhig ! 
Zeitz,  Sept.  1880.  Fedor  Becb. 


Aristo  phjkn  is  Thesmophoriazusae,  ad&o- 
tatione  cfftica,  commentario  exegetico,  et  scholiis  grae- 
cis  instruxit  Fredericus  H.  M.  Blaydes,  aedis 
Christi  in  universitate  oxoniensi  quondam  alumnus. 
Halis  Saxonum,  in  orphanotrophei  librariaMDCCCLXXX. 
pag.  IX  et  271.    8°. 

Die  Thesmophoriazusen  bilden  den  ersten 
Band  einer  neuen  Ausgabe  des  Aristophanes  von 
Blaydes,  von  der  inzwischen  auch  bereits  der 
zweite  Band,  die  Lysistrata  enthaltend,  erschienen 
ist.  Daß  der  Herausgeber,  welcher  bekanntlich 
auch  den  Sophokles  herausgegeben  hat,  zu  einer 
solchen  Ausgabe  des  Aristophanes  sehr  wohl  be- 
fähigt ist,  haben  schon  seine  früheren  Arbeiten, 
in  denen  er  die  Constituierung  des  Textes  na- 
mentlich in  den  Acharnern  erheblich  gefördert 
bat,  hinlänglich  dargethan.  Und  auch  die  vor- 
liegende Ausgabe  der  Thesmophoriazusen  bietet 
des  Guten  und  Dankenswerthen  genug  und  ver- 
dient auch  bei  uns  in  Deutschland  die  ernste 
Beachtung  aller  derer,  welche  sich  mit  der  Kri- 
tik und  Erklärung  des  Aristophanes  beschäftigen. 
Der  Herausgeber  ist  im  Aristophanes  selbst, 
ebenso  wie  in  den  Tragikern  vorzüglich  bewan- 
dert, und  die  Fülle  von  meistens  trefflich  ausge- 
wählten Parallelstellen  aus  beiden  Gebieten  ist 
für  die  Erklärung  unseres  Stückes  sehr  förder- 
lich. Dabei  hat  er  sich  ein  feines  Gefühl  für 
die  Ausdrucksweise  des  scenischen  und  im  Be- 
sondern des  komischen  Dichters  erworben,  und 
gerade  nach  dieser  Seite  hin  sind  seine  Bemer- 
kungen zu  einem  großen  Tbeile  sehr  beachtens- 


502  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

werth.  Auch  hat  Blaydes  offenbar  eine  unge- 
wöhnliche Begabung  für  die  Conjectural-Kritik. 
Die  Conjecturen  strömen  ihm  leicht  massenweise 
zu.  Unter  diesen  Conjecturen  befinden  sich  nicht 
wenige  treffliche  Emendationen,  während  freilieb, 
wie  kein  besonnener  Kenner  des  ^istophanes 
sich  verhehlen  kann  und  hier  auclftiicht  ver- 
schwiegen werden  darf,  die  große  Masse  des  fast 
erdrückenden  Gewimmels  von  Conjecturen,  mit 
denen  Blaydes  seine  nach  dieser  Seite  hin  wirk- 
lich beklagenswerthen  Leser  förmlich  überschüt- 
tet, den  Stempel  eines  leichtfertigen  und  ober- 
flächlichen Fabrikates  nur  zu  deutlich  an  sich 
trägt.  Ich  will  nun  die  Ausgabe  nach  den  drei 
Seiten  der  handschriftlichen  Grundlage,  derCon- 
stituierung  des  Textes  und  der  Erklärung  etwas 
näher  beleuchten. 

Es  ist  bekannt,  daß  in  den  früheren  Ausgaben 
des  Aristophanes  der  handschriftliche  Apparat 
sehr  ungenügend  ist.  Leider  muß  constatiert 
werden,  daß  im  Wesentlichen  dasselbe  auch  bei 
dieser  neuen  Ausgabe  der  Thesmophoriazusen 
der  Fall  ist.  Wenn  der  Herausgeber  noch  im- 
mer von  einem  codex  Urlinas  spricht,  der  der 
Juntina  zu  Grunde  gelegen  hätte,  so  mögen 
diese  Frage  Andere  entscheiden.  Aber  das 
durfte  Blaydes  freilich  nicht  begegnen,  daß  er 
in  dem  Ravennas  von  den  Correcturen  einer 
ganz  späten  Hand  in  unserem  Stücke  gar  Nichts 
bemerkte,  während  dieselbe  sich  doch  in  der 
Schrift,  der  Farbe  der  Dinte  u.  8.  w.  sonnenklar 
von  der  Hand  des  ersten  Schreibers  unterscheidet 
Und  doch  hat  diese  Hand  (es  ist  die  des  Euphro- 
synus  Boninus,  der  den  Druck  der  Juntina  lei- 
tete) an  hunderten  von  Stellen  den  Text  unseres 
Stückes  corrigiert,  und  zwar  nur  aus  eigenem 
Gutdünken  ohne  Hülfe  irgend  einer  Handschrift. 


Aristophanis  Thesmophoriazusae,  ed.  Blaydes.    603 

Alle  diese  Correcturen  aus  dem  sechzehnten 
Jahrhundert  ftlhrt  Blaydes  als  Lesarten  der  er- 
sten Hand  an.  Es  ist  demnach  nicht  fraglich, 
daß  Wer  in  Fragen  der  handschriftlichen  Ueber- 
lieferung  seine  Schlösse  auf  den  Apparat  der 
Auggabe  des  Herrn  Blaydes  gründet,  sein  Haus 
auf  Sand  gebaut  hat. 

Abgesehen  davon,  daß  an  vielen  Stellen  bei 
Blaydes  die  Angaben  über  die  Lesarten  des  Ra- 
vennas auf  ungenauer  Lesung  beruhen,  führt  er 
selbst  bisweilen  neben  seiner  eigenen  Collation 
die  Angaben  aus  der  Ausgabe  von  Immanuel 
Bekker  an,  und  in  diesen  Fällen  hat  meisten - 
theils  Bekker  Recht  und  Blaydes  Unrecht. 

Für  den  Augustanus  hat  Blaydes  keine  neue 
Collation,  sondern  bringt  nur  wieder  die  alte, 
welche  seiner  Zeit  Bernhard  Thiersch  besorgt 
hatte.  Ohne  Schaden  für  die  Text -Kritik 
konnte  Blaydes  den  ganzen  Augustanus  unbe- 
achtet lassen,  der  ohne  Frage  aus  dem  Ravennas 
abgeschrieben  ist.  Aber  die  Collation,  welche 
er  bringt,  ist  ganz  ungenügend,  ja  schädlich, 
denn  wenn  man  über  die  Lesarten  dieses  Codex 
bei  Blaydes  Schlüsse  ex  silentio  macht,  so  kommt 
man  an  einer  großen  Zahl  von  Stellen  (diesel- 
ben sind  nach  hunderten  zu  zählen)  zu  ganz 
falschen  Resultaten. 

Die  Thesmopboriazusen  sind  uns  aber  nur  in 
zwei  Handschriften,  dem  Ravennas  und  dem 
Augustanus,  erhalten.  Für  den  handschriftlichen 
Apparat  bei  Blaydes  würde  sich  also,  was  ich 
nicht  gern  sage,  aber  doch  nicht  verschweigen 
darf,  das  unerfreuliche  Resultat  ergeben,  daß 
derselbe  ungenügend,  ja,  offen  gesagt,  ganz  un- 
brauchbar ist. 

Was  nun  die  Gestaltung  des  Textes  betrifft, 
so  strömen  dem  Herausgeber  die  Conjecturen  in 


504  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  16.  16. 

der  üppigsten  Fülle  zu.  Oft,  sehr  oft,  macht  er 
zu  einer  Stelle  vier  bis  sechs  verschiedene  Con- 
jectures Es  wäre  wirklich  ungebührlich,  wenn 
man  verlangen  wollte,  daß  dieser  ganze  Schwann 
von  Einfällen  vortrefflich  wäre,  aber  so  viel 
dürfte  der  Leser  von  Herrn  Blaydes  dooh  wohl 
erwarten,  daß  er  nicht  gerade  jeden  oberfläch- 
lichen Gedanken  in  seiner  Ausgabe  niederlegte, 
sondern  unter  seinen  Einfällen  einige  Umschau 
hielte  und  denjenigen  keinen  Platz  in  dem  Buche 
gönnte,  welche  sich  sofort  als  baar  unmöglich 
erweisen,  wenn  man  sie  nur  einigermaaßen  ernst- 
lich in's  Auge  faßt.  Und  doch  finden  sich  solche 
offenbar  nur  ganz  oberflächlichen  und  völlig  un- 
möglichen Einfälle  unter  den  Conjectnrep  des 
Herausgebers  so  ziemlich  auf  jeder  Seite  seiner 
Ausgabe.  Wenn  nun  aberBJaydes  pei  einer  nur 
zu  großen  Zahl  seiner  Vermutbungen  gerade  das, 
was  ihm  bei  der  Lesart  der  Handschriften  an- 
stößig ist,  in  seiner  eigenen  Conjectur  wieder 
anbringt,  so  heißt  das  doch  ein  leichtfertiges 
Spiel  mit  der  Gednld  des  Lesers  treiben. 

Ueberbanpt  aber  scheint  das  ganze  Buch  eil- 
fertig zum  Drucke  befördert  zn  sein.  Oft  stim- 
men die  Angaben  in  der  adnotatio  critic*  unter 
dem  Text  oder  in  dem  Gommentar  gar  nicht  mit 
dem  Texte  selbst  überein.  In  den  addendis  fin- 
den sich  viele  Conjecturen  dps  Herausgebers 
oder  erklärende  Parallelstellen  angeführt,  welche 
genau  ebenso  schon  in  der  adnotatio  critica  oder 
in  dem  Gommentare  zu  der  betreffenden  Stelle 
vorgebracht  sind,  ja  gar  nicht  selten  wird  am 
Schlüsse  einer  Anmerkung  dieselbe  Notiz  noch 
einmal  aufgetischt,  welche  sich  wenige  Zeilen 
vorher  im  Eingange  findet.  Es  sind  dies  Spa- 
ren einer  Hast  und  Eilfertigkeit  in  d$r  Arbeit, 
welche    einen    recht   unangepelffpen    Eindrück 


Aristophanis  Tbesmophoriazusae,  ed.  Blaydes.    506 

machen  and  dem  mancherlei  Guten  und  Treff- 
lichen, was  die  Ausgabe  bietet,  erheblichen  Ein- 
trag tbun.  So  hat  Blaydes  die  Textkritik  in 
nnserm  Stück  tbeils  durch  Billigung  von  Emen- 
dationen  Anderer,  theils  durch  eigene  treffliche 
Conjeeturen  gefördert.  In  die  erstere  Classe 
gehören  Stellen  wie  v.  281  in  den  addendis, 
wo  er  mit  Recht  Reiske  zustimmt,  der  schreiben 
will :  oaov  vo  XQW'  dv^Q%Bta§  tijg  Xiyvvog.  v.  758 
erklärt  Blaydes  mit  Recht  für  eine  Interpola- 
tion: MN*  toviI  %o  &4qpi*  %r\g  Uoeiag  ylyvsxa* 
,(aue  den  addendis  sieht  man,  daß  er  darin 
Bakiraysen  folgt),  v.  873  schreibt  er  richtig  nach 
Lenting  xapdvtctg  (statt  xdpvoptag).  v.  1003 
folgt  er  demselben  mit  Recht,  indem  er  dg&ff 
at»  <^aa*  (statt  S^dtf)  schreibt,  ebenso  v.  1129 
dXXf  ov  r&Q  dp  di^ano  (Lenting  hat  das  y&t> 
angesetzt).  In  v.  1050  billigt  Blaydes  mit 
Recht  die  Emendation  Herwerdens  dtosgonfitifc 
(statt  cU&iqog  adzfe).  y.  204  behält  Blaydes 
mit  Recht  pvxuQtina  (statt  vvx&qij<jkx)  bei,  in* 
dem  er  darauf  hinweist,  daß  wxteQekti*  mit 
einem  absichtlichen  Anklang  an  ig^tSar  gebil- 
det ifct.  Mit  demselben  Rechte  hält  er  v.  1006 
an  dem  ßvvkg  der  Handschriften  (statt  ßoph) 
fest.  (Der  Hiatus  nach  ßovfo  ist  unerträglich. 
v.  1218  ist  zu  schreiben:  val  val7  aif  /  stdsg 
otJrrf;  und  v.  1225  xaxoScupov  dlld  tq4&  ****  | 
\jQtapov%ia.  In  der  Lüeke  ist  etwa  ausgefallen : 
päXXo  tfjd'  iym.) 

Von  den  eigenen  Emendationen  des  Heraus- 
gebers mögen  folgende  als  besonders  beachtens- 
wert hervorgehoben  werden :  v.  34  in  den  ad- 
dendis pa  %6v  Ji*  oidtnco  y\  ooa  ye  xap1  eld4vm7 
v.  248  in  den  addendis  Song  (statt  des  elg  der 
Handschriften),  v.  361  vdftovg  (statt  v6(A0y\ 
v.  457  da  ydq  p"  (statt  dtt  yaQ),  v.  687  vvv 
(statt  neos),  v.  885  «Mbf**;-  (statt  T€*fh>ijx6.)}  v. 


506  Gott.  gel.  Abz.  188).  Stück  15. 16. 

1013  in  den  addendig  td  dtöp  irrdqx^  tavta* 
drjXov  ovv  on,  v.  1108  <rt/';  (statt  et;.),  v.  1119 
neQisGTQapfitv'1  yv  (statt  nsQMOiQappivov),  v.  1120 
odx  into 'vtjo*  äv  <r'  (statt  oix  intuvycd  <f)  v. 
1214  stellt  Blaydes  im  Anschluß  an  Aves  1648 
richtig  das  Medium  her,  indem  er  schreibt: 
diißaXo  (i'}  co  yQci1. 

Ebenso  schätzenswerth  ist  eine  ganze  Reibe 
von  erklärenden  Bemerkungen,  welche  der  Com- 
mentar  enthält.  In  denselben  ist  namentlich  die 
reiche  Fülle  von  meistens  ganz  passenden  Pa- 
rallelstellen hervorzuheben.  So  v.  57  zu  xoavevs*, 
V.  81  zu  TOtV  aitd,  v.  131  zu  xatsyXmtttafiivov 
(in  dem  zu  diesem  Verse  gehörenden  Scholion 
ist  übrigens  zu  schreiben:  S<m  cfö  efdog  cpiXijpa- 
tog  naqd  td  talg  (statt  noXXatg)  yXmtta$g  p$- 
fuypivov.  In  dem  zu  v.  773  angeführten  Scho- 
lion zu  Nubes  830  ist  zu  schreiben:  xai  nom 
tpaxdv  iv  dyyeito  tw  nvqi  im&sig  (statt  xai  not$) 
(pettily^  iv  navdoxsltp  svqefoig).  Auch  das  Scho- 
lion zu  v.  1098  in  unserm  Stücke  ist  ganz  ver- 
stümmelt. Ich  vermuthe,  daß  es  gelautet  hat: 
£2?  *Avdqopidag  tqla  td  nQwta  xai  [zov  tstdqtov 
td  ig  vavtftoX&v,  td  d&]  Xandv  ini&v%s[)>  mg 
xai]  td  i£yg.)9  v.  206  zu  Idov  ys  xXintuv,  v. 
265  zu  sloxvxXqödtM,  v.  283  zu  dya&jj  tdxfl*  y- 
287  zu  noXXd  noXXdxtg,  v.  292  iv  xaXai,  v.  413, 
v.  427  zu  OQimjoeat'  (hier  und  ebenso  v.  1205 
zu  Stav  td%Mta  tritt  in  der  reichen  Auswahl 
guter  Parallelstellen  die  ausgedehnte  Belesen- 
heit des  Herausgebers  besonders  glänzend  her- 
vor), v.  449  zu  time:  in  der  Bedeutung  nqouqovy 
v.  468  zu  imfytv  t^v  %oXtfv,  v.  472  zu  otdtpf' 
ixqioqd  Xoyov,  v.  476  zu  £t>Vo*<f  ipavty  dttvd 
noXXd,  v.  495  zu  and  tfixovg,  y.  617  zu  xaoda- 
pi&ic,  v.  619  zu  tig  ioi?  dvqq  (To*; ,  v.  704  %i\v 
äyav  ati&adiav,  v.  805  zu  xai  ptv  df/  xai}  v.  828 
zu  tv  taXg  ctqauatg,   v.  846  zu   6  <P  ovdtna,  V« 


feelmi,  Ricerca  del  fosforo  delle  urine  etc.       507 
887    zd    ndfolst  rJ   ius    v.    1064    zu    ipol   — 

UtVlCt    y\ 

Vortrefflich  ist  ferner  die  Bemerkung  des 
Herausgebers  zu  v.  1080  und  v.  1085,  daß  es 
heißen  müßte:  %t  %6  xaxöv*  statt:  tl  xaxov. 
Beide  Verse  sind  Interpolationen,  welche  die 
Steigerung  des  Ausdrucks  ganz  unpassend  unter- 
brechen. Zu  y.  692  wird  die  Parodie  aus  dem 
Telephus  tiberzeugend  nachgewiesen.  Richtig 
bat  zu  v.  936  Blaydes  auf  das  Wortspiel  zwi- 
schen jtQvtavig  und  7iqotsLvsiv  hingewiesen.  Sehr 
wahrscheinlich  erscheint  mir  auch  die  Vermu- 
tbang, welche  er  in  den  addendis  zu  v.  429 
ausspricht,  es  wäre  statt  äpaKty4n<o$  zu  schrei- 
ben äpioifyinoQ. 

Saarbrücken.  Ad.  von  Velsen. 


Ricerca  del  fosforo  delle  urine  in  caso  di 
avvelenamento  e  prodotti  che  vi  si  riscontrano.  E  s  a  m  e 
•dell '  urina  di  un  itterico  grave  in  corre- 
lazione  coll'  esame  di  una  urina  fosforata.  Sulla 
fallacia  del  reattivo  di  Van  Deen  per 
determinare  le  macchie  di  sangue.  Sopra  due  a r- 
sine  formatesi  in  uno  stomaco  di  maiale  salato  coli* 
anidride  arseniosa.  Memorie  e  note  del  Prof.  Fran- 
cesco Selmi  Bologna.  Tipografia  Gamberini  e 
Parmeggiani.  1880.  33  S.  in  gr.  Quart.  Mit  einer 
Steindrucktafel. 

Der  um  die  Toxikologie  und  gerichtliche 
Chemie  hochverdiente  italiänische  Chemiker  hat 
wiederum  vier  kleinere  Abhandlungen,  welche  er 
im  Laufe  dieses  Jahres  in  den  Sitzungen  der 
Academie  der  Wissenschaften  in  Bologna  vor- 
trug, zu  einem  Buche  vereinigt,  das  die  Beach- 
tung der  Gerichtschemiker  auch  außerhalb  Ita- 
liens in  hohem  Maße  verdient. 

Besondere  toxikologische  Bedeutung ,  und 
zwar  auch  für  die  medicinische  Seite  dieser  Dis- 
ciplin,  haben  die  beiden  ersten  Abhandlungen, 
welche  in   Bezug  auf  den   behandelten  Gegen- 


508  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  15. 16. 

stand  mit  einander  in  inniger  Verbindung  stehen, 
während  die  dritte  nnd  vierte  weder  mit  ihnen 
noch  anter  einander  eng  zusammenhängen. 

Die  erste  Abhandlung,  unstreitig  die  wich- 
tigste des  vorliegenden  Heftes,  behandelt  das 
vom  Verf.  schon  wiederholt  in  Angriff  genom- 
mene Thema  der  Wichtigkeit  der  Harnunter- 
suchung zum  forensischen  Nachweise  des  Phos- 
phorismus acutus.  Ich  habe  bereits  früher  bei 
Besprechung  einer  von  Selmi  inspirierten  Ar- 
beit von  Pesce  und  Stroppa  in  diesen  Blät- 
tern daraufhingewiesen,  daß  Selmi  wiederholt 
die  Beobachtung  gemacht  hat,  daß  bei  niedriger 
Temperatur  aus  dem  Harn  mit  Phosphor  ver- 
gifteter Menschen  und  Thiere  eine  Verbindung 
sich  verflüchtigt,  welche  darüber  aufgehängtes 
Silbersalpeterpapier  bräunt,  ohne  Bleicetatpapier 
zu  afficieren.  Pesce  und  Stroppa  constatier- 
ten  auch  die  Anwesenheit  einer  phosphorbaltigen 
Substanz,  vermuthlich  einer  niederen  Oxydations- 
stufe des  Phosphors,  welche  P  an  nascierenden 
Wasserstoff  abgiebt  Beide  Facta  hat  Selmi 
bei  der  Untersuchung  des  von  einem  Selbstmör- 
der im  Laufe  des  ersten  Tages  entleerten  Harns 
in  vollem  Maße  bestätigt  und  damit  den  Nach- 
weis geliefert,  daß  wir  in  solchem  ein  sehr  wert- 
volles Material  zur  Constatierung  des  Vorhan- 
denseins einer  Phosphorvergiftung  in  günstig 
verlaufenen  Fällen  besitzen.  In  diesen  Bestäti- 
gungen liegt  aber  keineswegs  der  Schwerpunkt 
der  ersten  Selmi'gchen  Abhandlung.  Derselbe 
liegt  in  weiteren  chemischen  Studien,  welche  den 
allerdings  durch  das  bekannte  Auftreten  von 
Leucin  und  Tyrosin  im  Phosphorvergiftungsharn 
wahrscheinlichen  verändernden  Einfluß  des  Phos- 
phors auf  die  Albuminate  des  Tbierkörpers  stur 
Evidenz  darthut.  Es  ist  Selmi  gelungen,  Dicht 
allein  im  Harn  des  ersten,  sondern  auch  in  dem 


Selmi,  Bicerca  del  fosforo  delle  urine  etc.       509 

der  beiden  folgenden  Tage  mehrere  fluchtige  and 
feste  organische  Basen  nachzuweisen,  von  denen 
einzelne  einen  hohen  Gebalt  an  Phosphor  zeig- 
ten. Der  Beschreibung  dieser  Basen  und  ihres 
Verhaltens  gegen  verschiedene  Reagentien  ist 
der  größte  Theil  der  ersten  Abhandlung  gewid- 
met und  auf  sie  bezieht  sich  auch  die  beige- 
fügte Tafel.  Das  Auftreten  dieser  Körper  und 
besonders  auch  des  im  Harne  des  ersten  Tages 
aufgefundenen  Coniins  macht  die  früher  von 
Schnitzen  und  Riesa  aufgestellte  Hypothese, 
daß  der  in  das  Blut  eingedrungene  Phosphor, 
soweit  derselbe  nicht  mit  Sauerstoff  sich  verbin- 
det, nach  Art  eines  Ferments  auf  die  organischen 
Substrate,  in  specie  die  Albuminate,  wirke,  zu 
einer  ausgebildeten  Theorie,  für  welche  ja  auch 
das  Vorkommen  von  Leucin  nnd  Ty rosin,  die 
wiederholt  bei  Phosphorismus  acutus  aufgefunden 
wurden,  spricht.  In  der  That  treten  derartige 
Basen  nach  früheren  Versuchen  Selmi's  bei  Ei- 
weißzersetzung in  niederer  Temperatur  auf  nnd 
es  gewinnt  durch  ihren  Nachweis  die  acute  Phos- 
phorvergiftung eine  Stellung  in  der  unmittelbaren 
Nähe  der  putriden  Processe,  bei  denen,  wie 
Selmi  betont,  die  Untersuchung  des  Harns  sich 
ebenfalls  auf  jene  Basen  richten  sollte.  Ich  möchte 
hinzufügen,  daß  man  auch  Grund  hat,  nach  ihnen 
bei  einer  Reibe  von  Vergiftungen  zu  suchen, 
welche  in  ihrem  Symptomencomplexe  und  na- 
mentlich in  den  dadurch  hervorgerufenen  ana- 
tomischen Veränderungen  dem  Phosphorismus 
nahe  stehen,  besonders  bei  Intoxicationen  mit 
Arsenik,  und  Antimon.  Jedenfalls  wird  es  zu- 
nächst unerläßlich  sein,  dieselben  specieller  beim 
Phosphorismus  an  Thieren  experimentell  zu  stu- 
dieren, wozu  ein  den  Einfluß  der  Wärme  auf 
jene  leicht  zersetzlichen  Körper  vermeidendes 
Verfahren  von  Selmi  bereits  angegeben  ist 


510  Gott.  gel.  Anz.  18dl.  Stück  15.  16. 

Schon  in  seiner  ersten  Abhandlung  hebt  Selmi 
hervor,  daß  das  Vorhandensein  der  von  ibm 
constatierten  Harnveränderungen  nach  Einführung 
von  Phosphor  möglicherweise  im  Stande  sei,  die 
differentielle  Diagnose  des  Phosphorismns  und 
jener  rätbselhaften  Affection,  die  wir  als  Icterus 
gravis  oder  acute  Leberatrophie  bezeichnen,  zu 
begründen.  Die  zweite  Abhandlung  bringt  einen 
positiven  Anhaltspunkt  dafür,  indem  Selmi  in 
dem  ihm  von  Professor  Brugnoli  in  Bologna, 
dem  italiänischen  Monographen  der  Itterizia 
grave  maligna,  übergebenen  Harn  eines  an  die- 
ser Affection  Leidenden  keine  Spur  von  phos- 
phorhaltigen  Basen  aufzufinden  vermochte.  Die 
gasförmige  Phosphorverbindung  im  frischen  Harn 
mit  Phosphor  Vergifteter  kann  hier  nicht  zur 
Unterscheidung  benutzt  werden,  weil  dieselbe 
anscheinend  nur  in  den  ersten  24  Stunden 
nach  der  Vergiftung  existiert;  wenigstensn  war 
sie  in  Sei  mi's  Falle  am  zweiten  und  drit- 
ten Tage  nicht  mehr  vorhanden.  Inwieweit  da- 
bei die  eingeleitete  Terpenthinölcur  zum  Ver- 
schwinden beigetragen,  muß  vorläufig  dahinge- 
stellt bleiben. 

In  der  dritten  Abhandlung  bespricht  Selmi 
die  neuerdings  wieder  von  Ferry  an's  Tages- 
licht gezogene  Reaction  von  Blutflecken  mittelst 
Guajakharz  und  ozonisierten  Terpenthinöls.  Die 
Unzuverlässigkeit  dieses  Reagens,  welche  Selmi 
schon  1870  bei  Gelegenheit  einer  von  ihm  aus- 
geführten gerichtlichen  Untersuchung  erkannte, 
ist  in  Italien  von  V  i  t  a  1  i  bereits  dargelegt  wor- 
den und  ist  dasselbe  dort  ebenso  wie  bei  nns 
längst  verlassen.  Immerhin  ist  es  von  Interesse, 
zu  erfahren,  daß  die  Chlorverbindungen  der  Al- 
kalien die  Uebertragung  des  Ozons  vom  Ter- 
pentbinöl  auf  das  Guajakharz  in  hervorragender 


Selmi,  Ricerca  del  iosforo  delle  urine  etc.       511 

Weise  bewirken,  während  Sulfate  das  Eintreten 
der  Blaufärbung  verhindern  und  die  bereits  ein- 
getretene Reaction  vernichten. 

Die  vierte  Abhandlung  Selmi's  schließt  sich 
an  die  bekannten  Untersuchungen  desselben  über 
Ptomaine  und  speciell  an  eine  im  Jahre  1878 
der  Accademia  dei  Lincei  gemachte  Mittheilung 
über  ein  giftiges  krystallinisches  PtomaYn,  wel- 
ches von  ihm  mittelst  Aether  aus  den  Einge- 
weiden zweier  exhumirter  Leichname,  in  denen 
eine  große  Menge  von  Arsenik  gefunden  wurde, 
extrahiert  war.  Selmi  sprach  damals  die  Ab- 
sicht aus,  die  fragliche  Bildung  von  Alkaloiden 
an  mit  Arsensäureanhydrid  versetztem  und  ver- 
grabenem Thierfleische  studieren  zu  wollen  und 
theilt  nun  die  von  ihm  bisher  ausgeführten  Unter- 
suchungen an  einem  im  Arsenikpökel  längere 
Zeit  befindlich  gewesenen  Schweinsmagen  mit. 
Die  in  einer  kurzen  Notiz  schon  früher  der  Acca- 
demia delle  Scienze  mitgetheilte  Entdeckung  von 
zwei  giftigen  Arsenbasen  wird  hier  in  ausführ- 
licher Weise  dargestellt  und  die  Details  der  von 
Professor  Vincenzo  Giaccio  am  Frosche 
ausgeführten  Versuche  mitgetheilt.  Es  erhellt 
daraus,  daß  die  beiden  chemisch  sich  leicht  dif- 
ferenzierenden Arsine  (das  eine  ist  flüchtig,  das 
andere  fix)  auch  ausgesprochene  Verschiedenheit 
ihrer  physiologischen  Wirksamkeit  zeigen,  indem 
die  eine  flüchtige  Base  zu  24  Mgm.  ihres  chlor- 
wa8serstoffsauren  Salzes  den  Tod  unter  tetani- 
foimen  Erscheinungen  bewirkt,  während  die  an- 
lere lähmend  auf  die  Nervencentra  und  das  Herz 

einwirkt,  welche  beiden  Actionen  übrigens  bekanntlich 
kuch  anderen  Ptomalnen,  welche  keinen  Arsenik  enthal- 
ten, zukommen.  Die  Untersuchung  hat  auch  einen  histo- 
rischen Werth,  indem  angeblich  ein  Rival  der  Aqua  Tof- 
W  in  den  Zeiten  der  Giftmischerei,  die  sogenannte 
Lcquetta  di  Perugia,  nach  der  Tradition  in  einer  Weise 
weitet  wurde,  bei  welcher  an  die  Bildung  der  genannten 


512  [Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  16.  16. 

Arsine  wohl  gedacht  werden  kann.  Der  Sage  nach  wurde 
das  Giftmischerpräparat  so  erhalten,  daß  man  Stücken 
eines  getödteten  Schweins  mit  weißem  Arsenik  einrieh 
und  die  abträufelnde  Brühe  sammelte,  welche  angeblich 
weit  heftigere  Wirkung  als  eine  Lösung  von  Arsenig- 
säureanhydrid  haben  sollte.  Allerdings  ließe  sich  letz- 
terer Umstand  auch  in  der  Weise  erklären,  daß  sich  bei 
dieser  Procedur  unter  dem  Einflüsse  des  Fleischsaftes 
arsenigsaures  Alkali  bildete. 

Man  erkennt  aus  dieser  kurzen  Inhaltskizze  der  vor- 
liegenden Abhandlungen  leicht  das  wissenschaftliche  und 
praktische  toxikologische  Interesse,  welches  sich  an  die- 
selben knüpft.  Man  sieht  wiederum,  daß  die  forensische 
Chemie  und  Toxikologie  noch  keineswegs  als  wissen- 
schaftlich völlig  erschlossenes  Gebiet  anzusehen  ist,  fur 
welches  man  sie  in  den  meisten  europäischen  Ländern  zu 
halten  scheint.  Bei  jedem  bedeutenderen  Giftmordspro- 
cesse  macht  man  dann  freilich  die  Erfahrung,  daß  un- 
endliche Lücken  vorbanden  sind,  welche  im  Interesse  des 
öffentlichen  Rechts  ausgefüllt  werden  müssen.  Es  ist  das 
überaus  bedauerlich,  da  nirgendwo  anders  die  Ignorierung 
bestimmter  Facta  einerseits  und  die  mangelhafte  Jfrkennt- 
niß  derselben  andererseits  so  viel  Unheil  zu  schaffen 
vermag  als  in  der  forensischen  Chemie.  Ein  mangelhaf- 
tes Abscheidungsverfahren  kann  einem  Verbrecher  seiner 
Strafe  entziehn,  die  Überschätzung  des  vermeintlichen 
Werths  einer  Reaction  einen  Unschuldigen  zum  Giftmör- 
der stempeln.  Bei  uns  beruhigt  man  sich  bei  diesem  Zu- 
stande; die  theoretischen  Speculationen  haben  die  Ver- 
treter der  Chemie  zumeist  der  früheren  praktischen  Rich- 
tung entfremdet,  und  der  Staat  vertraut  auf  den  Instao- 
zenzug  der  wissenschaftlichen  Arbitrien  und  Subarbitrien, 
die  einander  ergänzen  und  bestätigen  oder  berichtigen 
sollen,  in  Wirklichkeit*  aber  oft  genug  contradictorisch 
und  trotzdem  mitunter  sämmtlich  von  der  Wahrheit  ent- 
fernt sind.  In  Italien  denkt  man  anders;  das  specielle 
Studium  der  forensischen  Toxikologie  blüht  und  der  ein- 
sichtige Minister  der  Justiz  hat  derselben  einen  beson- 
dern Sporn  durch  die  Errichtung  einer  Specialcommisston 
aus  den  angesehensten  Fachmännern  zur  Prüfung  und 
Entscheidung-  der  derzeitig  vorliegenden  toxikologische» 
Streitfragen  unter  dem  Präsidium  Sei  mi's  gegeben. 

Sept.  1880. Th.  Hussmann, 

Fftr  die  Redaction  verantwortlich:  F.  Btchtd,  Director  d.  GÖtt.  gel.  Am- 
Verlag 'der  DUUricKichm*  Ytrlag*- Buchhandlung. 
Druck  der  tHtürtch*  sehen  Unit,-  Buchdruck**  (W.  fr.  Kernt**). 


613 

Grö  tti  ng ische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschafte«. 

Stück  17.  27.  April  1881. 


Inhalt :  Drei  ethnologische  Pnblioationen  ans  und  über  Australien. 
Von  ff.  Oerlcmd.  —  J.  D.  Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  captivity. 
Ton  R.  FauU.  —  G.  Mihalkovics,  A'ltalanoe  Boncztan  (Allge- 
meine Anatomie).    Yon  W.  Kraust. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Drei  ethnologische  P  ublicationen  aus 
und  über  Australien. 

1)  The  Native  Tribes  of  South  Australia, 
comprising  the  Narrinyeri  by  the  Rev.  George  Taplin; 
The  Adelaide  Tribe  by  Dr.  W  y  a  1 1 ;  The  Encounter 
Bay  Tribe  by  the  Rev.  A.  Meyer;  The  Port  Lincoln 
Tribe  by  the  Rev.  C.  W.  Schürmann;  The  Dieyerie 
Tribe  by  S.  G  a  s  o  n ;  Vocabulary  of  Woolner  District 
Dialect  (northern  Territory  by  John  Wm.  Ogilvie  Ben- 
nett with  an  introductory  Chapter  by  J.  D.  Woods. 
Adelaide,  E.  S.  Wigg  and  Son,  Rundle  Street.  1879. 
XLIV.   331  S.    8°. 

2)  The  Folklore,  manners,  customs  and  lan- 
guages of  the  South  Australian  Aborigines  : 
gathered  from  inquiries  made  by  authority  of  South 
Australian  government.  Edited  by  the  late  Rev.  G. 
Taplin,  of  Point  Macleay.  First  series.  Adelaide: 
by  authority,  E.  Spiller,  Governm.  printer,  North- 
terrace.  1879.  VHI.  174  S.  8°.  (Addendum:  Gram- 
mar of  the  Narrinyeri  Tribe  of  Australian 
Aborigines.  By  the  Rev.  G.  Taplin,  Aborigines' 
Missionary,  Point  Macleay.  Adelaide,  printed  by  W. 
C.  Cox,  Government  printer,  North-Terrace.  1878. 
28  S.    XII  S.  Facs. 

33 


514  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

Beide  Werke  sind  für  unsere  Kenntniß  der 
Eingeborenen  Stidaustraliens  sehr  wichtig;  eine 
zusammenfassende  Besprechung  derselben  ist  in* 
haltlich  abef  auch  dadurch  gerechtfertigt,  daß 
der  leider  zu  früh  verstorbene,  hochverdiente 
Missionar  Taplin  —  er  starb  47  Jahre  alt  am 
24.  Juni  1879  —  bei  beiden  als  Verfasser  oder 
als  Herausgeber  in  erste  Linie  tritt.  —  In  dem 
introductory  chapter  des  ersten  Werkes  (S.  I— 
XLIV)  giebt  J.  D.  Woods  eine  allgemeine,  nicht 
uninteressante  Schilderung  der  Sitten  der  Einge- 
borenen Australiens  und  geht  dabei  in  ausführ- 
licherer Besprechung  auf  die  Gründe  ein,  welche 
das  Hinschwinden  der  australischen  Stämme  be 
dingen.  Ausgestorben  sind  nach  ihm  schon  der 
Port  Adelaide-Stamm,  der  Gawler-,  der  Kapunda- 
Stamm,  die  Burra,  Rufu  u.  s.  w.,  andere  oder 
eigentlich  alle  nach  seiner  Ansicht  dem  Aus- 
sterben nahe.  Neues  über  diese  so  wichtige 
Frage,  sei  es  an  Material  oder  an  Auffassung 
und  Erklärung  bringt  Woods  nicht;  ja  er  be- 
handelt den  Gegenstand  ohne  seine  eigentliche 
Bedeutung  ganz  zu  würdigen;  und  gleich  der 
Autor  der  ersten  Abhandlung  seines  Bandes  wi- 
derspricht ihm.  Es  ist  dies  zugleich  die  um- 
fangreichste Arbeit  des  Bandes,  von  George 
Taplin:  The  Narrinyeri,  an  account  of  the  tribes 
of  South  Australia,  inhabitating  the  country 
around  the  Lakes  Alexandrina,  Albert  and 
Coorong  and  the  lower  Part  of  the  river  Murray, 
their  manners  and  customs  and  an  account  of 
the  Mission  at  Point  Macleay,  S.  156,  mit  5 
Tafeln  Abbildungen.  Taplins  Arbeit  erscheint 
hier  in  2.  Auflage;  allein  die  erste  (1873)  ist  in 
Europa  wenig  bekannt  geworden  und  dazu  ent- 
hält diese  zweite  eine  ganze  Reibe  wichtiger 
Zusätze.    Das  1.  Cap.  bespricht  den  Stamm  als 


Ethnologische  Publicationen  aus  u.  über  Australien.    515 

solchen,  zählt  die  18  Unterabtheilungen  dessel- 
ben auf  mit  ihren  (meist  thierischen)  Totems 
oder  Ngaitye,  schildert  in  einzelnen  besonders 
interessanten  Zügen  den  Charakter  desselben 
und  schließt  mit  dem  Nachweis,  daß  die 
Narrinyeri  keineswegs  aassterben,  vielmehr  durch 
die  christliche  Civilisation  gehoben  werden.  Im 
2.  Capitel  (social  customs)  ist  die  Darstellung  der 
Ceremonien  der  Mannesweihe  sowie  der  Todten- 
gebräuche  der  werthvollste  Theil;  das  3.  Cap. 
handelt  von  verschiedenen  Zaubergebräuchen, 
das  4.  aber,  die  politischen  Einrichtungen  des 
Stammes  schildernd,  ist  von  ganz  besonderem 
Interesse.  Jede  der  18  Clanschaften,  in  welche 
die  Narrinyeri  zerfallen,  hat  einen  Häuptling, 
Rupulle,  d.  h.  Landbesitzer  genannt,  der  nicht 
erblich  ist,  vielmehr  von  den  Familienhäuptern 
des  Clans  gewählt  wird  und  den  Clan  nach 
außen  hin  vertritt.  Noch  merkwürdiger  ist  die 
Institution  der  Ngia-ngiampe ,  d.  b.  Männer, 
welche,  verschiedenen  Clanen  angehörig,  von 
Geburt  an  durch  ihre  Väter  in  ein  eigentüm- 
liches Tabuverhältniß  gebracht  und  später  die 
Handelsagenten  ihrer  beiden  Stämme  sind,  wenn 
diese  unter  einander  Waaren  austauschen  wol- 
len :  das  Mitglied  des  einen  Stammes  bringt 
dann  dieselben  seinem  Ngia-ngiampe  im  ande- 
ren Stamm  und  dieser  bringt  ihm  die  Tausch- 
waaren  seines  Stammes.  Dabei  aber  vermeiden 
die  Ngia-ngiampe,  mit  einander  sonst  nirgend- 
wie  zu  verkehren,  ja  sich  nur  zu  sehen.  Ueber 
den  eigenthümlichen  Senat  eines  jeden  Einzel- 
stammes, welcher  aus  den  ältesten  Mitgliedern 
desselben  gebildet  wird  und  Tendi  heißt,  berichtet 
Taplin  hier  zuerst.  Er  ist  die  oberste  Rechts- 
behörde des  einzelnen  Clanes;  doch  können 
auch  mehrere  Stämme  zu  einem  Tendi  zusam- 

33* 


516  Gott.  gel.  Aoz.  1881.  Stück  17. 

menkommen.  Seine  und  der  Rupulle  Macht  ist 
nicht  unbedeutend,  wie  überhaupt  die  Eingebo- 
renen streng  an  ihren  Gesetzen  halten  (S.  136). 
Wichtig  ist  dann  ferner  die  Auseinandersetzung 
der  sehr  verwickelten  und  schwierigen  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse (Cap.  6),  weiche  Taplin 
ganz  ebenso  beim  Meru-Stamm  (den  Narrinyeri 
benachbart,  am  Murray)  vorfand.  Kinder  von 
Brüdern  gelten  für  den  Bruder  als  eigene  Kin- 
der, ebenso  Kinder  von  Schwestern  für  die 
Schwester,  daher  umgekehrt  alle  Vaters-Brüder 
Väter,  alle  Mutter-Schwestern  Mütter  der  Kinder, 
Vaters- Schwestern  und  Mutter-Brüder  Onkel  und 
Tanten  sind.  Dies  Verwandtschaftssystem,  für 
welches  Taplin  nur  die  tamulischen  Analogien 
heranzieht,  findet  sich  bei  anderen  Völkern 
gleichfalls  entwickelt;  für  die  ethnologische  Un- 
tersuchung der  Familienentwickelung  bei  den 
verschiedenen  Völkern  bringt  dies  Gapitel  also 
sehr  beachtenswerthes  Material.  Dasselbe  ist 
um  so  schätzenswerther,  weil  Taplin  für  diese 
praktisch  vom  Volke  sehr  ins  Einzelne  ausge- 
arbeiteten Beziehungen  sämmtliche  einheimische 
Namen  verzeichnet.  Cap.  7  behandelt  die  Mytho- 
logie des  Stammes,  und  die  mannigfachen  neuen 
Mittheilungen  über  die  einschlagenden  Anschau- 
ungen der  Eingeborenen  sind  bei  unserer  man- 
gelhaften Kenntniß  derselben  von  großer  Wich- 
tigkeit. So  über  den  Hauptgott  der  Narrinyeri, 
der  Alles  geschaffen  hat  und  im  Himmel  lebt, 
dessen  Stimme  der  Donner,  dessen  Pfad  der 
Regenbogen  ist.  Taplin  erzählt  eine  Menge 
Legenden  von  ihm,  auch  eine  Sündfluthlegende, 
einige  nach  der  Arbeit  des  Rev,  6.  H.  A.  Meyer, 
die,  in  Deutschland  ebenfalls  wenig  bekannt, 
uns  noch,  weil  sie  ebenfalls  dem  vorliegenden 
Band  einverleibt  ist,  begegnen  wird.    Eine  Reihe 


Ethnologische  Publication  en  aus  u.  über  Australien.     517 

von  Mythen   über   andere   Götter    und   Geister 
schließen   sich    an.     Auch  die  Berichte  Taplins 
über  seine   eigenen  Erlebnisse  so  wie  die  Ge- 
schichte der  Mission  zu  Point  Macleay  (Gap.  8) 
enthalten  eine  Menge  werthvoller,  weil  sehr  cha- 
rakteristischer Züge  für   die  Eigenart  der  Ein- 
geborenen,  die  z.  Th.  wirklich  ergreifend  sind ; 
ebenso  das  Supplementcap.  11,  welches  einzelne 
illustrative  Anecdoten    enthält,    die  zugleich  für 
Sitten,   Charakter   (warme   Familienanhänglich- 
keit) und  mythische  Anschauungen  derNar.  be- 
deutend sind.    Das  Schlußcapitel  1 2  handelt  von 
der  Zukunft  der  Eingeborenen  und  ihrer  Fähig- 
keit fürs  Christenthum ;  hier  weist  Taplin,  ganz 
im  Gegensatz  zu  Woods,  die  Fortschritte  nach, 
welche   das  Christenthum  und   mit  ihm  die  Bil- 
dung unter  den  Eingeborenen  gemacht   hat  und 
spricht  die  Zuversicht   aus,   die  letzteren   wür- 
den,  wenn   richtig   und  nach  Recht   behandelt, 
keineswegs  aussterben,  vielmehr  sich  neben  und 
unter  der   weißen    Bevölkerung  halten  können. 
Cap.  X  behandelt  die  Sprache,  und  hier  müs- 
sen wir  gleich  den  Anhang  des  zweiten  Werkes 
mit  heranziehen,  in  welchem  der  Verf.  ebenfalls 
eine  Grammatik   derselben   giebt.     Letztere   ist 
natürlich  ausführlicher,  als  Cap.  X,  in  welchem 
z.  B.  die  Verba  fast  ganz ,  die  Adjektiva  und  a. 
ganz   fehlen.     Dagegen   bietet  dasselbe  wieder 
anderes,  was  der  Grammatik  fehlt,  nämlich  ein 
vergleich.   Wortverzeichniß    von    71   Kummern, 
eine   Reihe   von  Ortsnamen   in  der  Narrinyeri- 
sprache,  ferner  einige  Phrasen  sowie  syntaktische 
und  sonstige  Bemerkungen,  welche  der  Gramma- 
tik fehlen.    Beide  Arbeiten    ergänzen  einander. 
Aber  sie  widersprechen  sich  auch:   die  Formen 
der   Deklination,   welche  die  Grammatik   giebt, 
sind  z.  Th.  abweichend  von  denen  des  Cap.  X, 


518  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

ohne  daß  Taplin  irgendwie  darauf  Rücksicht 
nimmt.  Sachlich  ist  hier  kaum  zu  entscheiden: 
man  wird  sich  indeß  am  besten  an  die  Gram- 
matik halten,  da  diese  später  erschienen  and 
gerade  die  Deklination  hier,  wie  Verf.  sagt,  nach 
sorgfältiger  Ueberlegung  von  ihm  niederge- 
schrieben ist.  Sehr  interessant  ist  die  Bemer- 
kung, daß  die  „Wilden"  ihre  Sprache  werth  hal- 
ten und  gegen  Sprachfehler  empfindlich  sind. 
Es  folgt  nun  in  Woods'  Sammelband  eine  kür- 
zere Arbeit:  some  account  of  the  manners  and 
superstitions  of  the  Adelaide  and  Encounter  Bay 
aboriginal  tribes,  with  a  vocabulary  of  their 
languages,  names  of  persons  and  places  etc. 
principally  extracted  from  his  official  reports  by 
William  Wyatt  (formerly  protector  of  the  abori- 
gines, South  Australia).  S.  157 — 181.  Sie  gilt 
hauptsächlich  dem  Adelaide-Stamm  und  hat  vor- 
zugsweise durch  Spezialmittheilungen  über  Be- 
gräbnißsitten  u.  dergl.  so  wie  namentlich  über 
Mythologie  Werth.  So  erzählt  Wyatt  von  Monain- 
cherloo  oder  Teendo  yerle,  d.  h.  Sonnenvater,  den 
Schöpfer  des  Himmels  und  aller  Dinge,  vomMo- 
nana,  der  in  den  Himmel  aufstieg  (aber  gewiß 
kein  vergötterter  Mensch  ist,  wie  Wyatt  meint), 
von  der  Sonne  (weibl.  gedacht)  und  ihren  bösen 
Schwestern,  von  dem  (meist  männL)  gütigen 
Mond  u.  s.  w.  Das  Vokabular  enthält  auch 
Worte  der  Stämme  von  Encounter-  und  Rapid- 
bai (südl.  von  Adelaide,  Hindmarsh-Halbinsel), 
um  die  gänzliche  Verschiedenheit  des  Sprach- 
schatzes dieser  so  nahen  Nachbarn  zu  erweisen. 
Einige  Sprachproben  machen  den  Schluß.  — 
Die  schon  erwähnte  Abhandlung  von  H.  E.  A. 
Meyer,  die  nun  folgt,  manners  and  customs  of 
the  aborigines  of  the  Encounter  Bay  tribe,  South- 
Australia  (195—206)  ist  schon   1876  gedruckt, 


r 


Ethnologische  Publicationen  aus  u.  über  Australien.     519 

in  Europa  aber  kaum  bekannt  geworden.  Sie 
ist  dadurch  besonders  beachtenswerth,  daß  Meyer 
schon  längere  Zeit  unter  dem  Stamme  gelebt 
hatte,  ehe  der  letztere  in  nähere  Berührung  mit 
den  Weißen  kam.  Außer  den  merkwürdigen 
mythol.  Berichten  (welche  Taplin  wie  manche 
andere  Mittheilungen  Meyers  benutzt  hat  und 
die  dem  Leser  des  Bandes  zweimal  geboten 
werden)  bietet  sie  auch  sonst  noch  eine  Reihe 
unbekannter  Einzelnheiten  z.  B.  für  Erziehung 
der  Knaben  und  Jünglinge,  Behandlung  der 
Todten  u.  a.,  so  daß  der  Wiederabdruck  des 
seltenen  Heftes  gewiß  sehr  dankenswerth  ist. 

Es  folgt  des  bekannten  Missionar  C.  W. 
Schürmann  Arbeit  über  die  Port  Lincoln-Stämme : 
The  aboriginal  tribes  of  Port  Lincoln  in  South 
Australia,  their  mode  of  life,  manners,  customs, 
etc.  by  C.  W.  Schürmann,  of  the  Lutheran  Mis- 
sion. Soc,  Dresden.  (S.  209 — 251).  Sie  ent- 
hält viel  neues,  z.  Tb.  sehr  interessantes  Mate- 
rial über  die  verschiedenen  Stämme,  ihre  sprach- 
lichen und  Verkehrs  Verhältnisse,  so  wie  ferner 
über  einzelne  merkwürdige  Sprachformen,  die 
verschiedenen  Weihen  der  Jünglinge  (im  15.  17. 
und  18.  Jahre)  und  manchen  wichtigen  Zug  aus 
der  Mythologie,  dem  Aberglauben,  Familienleben 
u.  s.  w.  Dies  ist  um  so  mehr  zu  betonen,  als 
Schürmanns  Abhandlung  uns  eine  Ueberraschung 
bereitet:  auch  sie  ist  der  Hauptsache  nach  schon 
gedruckt,  aber  freilich  unter  anderem  Namen. 
Sie  ist  z.  Tb.  identisch  mit  einer  Abhandlung 
von  Dr.  Charles  Wilhelmi  „manners  a.  customs 
of  the  Austral,  natives",  die  1862  in  Melbourne 
and  dann  in  etwas  verkürzter  Uebersetzung  in 
der  Zeitschr.  „Aus  allen  Welttheilena  Jahrgang 
1870  erschienen  ist.  Wilhelmi  sagt  selber,  daß 
er  Schürmann  viel  verdanke;  jedenfalls  hat  er 


520  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

auf  seinen  eigenen  längeren  (botanischen)  Wan- 
dernngen  durch  Südaustralien,  während  welcher 
er  auch  Port  Lincoln  zweimal  besuchte,  von 
dem  Missionar  ein  Heft  mit  Aufzeichnungen 
empfangen,  welches  jetzt  mit  bedeutenden  Zu- 
sätzen Schürmann  selbst  herausgegeben  hat. 
Doch  hat  auch  Wilhelmi  manches,  was  bei  letz- 
terem fehlt,  obwohl  demselben  das  meiste  ange- 
hört, was  W.  gebracht  hat.  Sprachlich  ist  na- 
türlich Schürmann  genauer,  ja  einzelne  direkte 
Sprachfehler  bei  Wilhelmi  erledigen  sich  durch 
die  vorliegende  Originalarbeit. 

Der  bei  Woods  folgende  Anfsatz  führt  den 
endlosen  Titel:  The  Manners  a.  Customs  of  the 
Dieyerie  tribe  of  Australian  Aborigines.  Embra- 
cing an  account  of  the  character  of  the  race; 
the  country  it  inhabits;  its  rites,  ceremonies, 
and  superstitions,  its  social  usages  and  laws, 
the  diseases  peculiar  to  it.  A  catalogue  of  ani- 
mals, plants,  weapons  and  ornaments,  accom- 
panied by  the  native  names,  together  with 
examples  of  the  construction  of  the  dialect,  and 
a  complete  vocabulary.  By  Samuel  Gason,  Po- 
lice Trooper,  edited  by  George  Isaacs.  (S.  257 
-  307).  Die  höchst  interessante  Arbeit  ist  in 
Deutschland  durch  die  Auszüge  bekannt,  welche 
Bastian  (Zeitscbr.  für  Ethnol.  1874)  aus  ihr 
gegeben  hat.  Hier  liegt  sie  nun  ganz  vor,  sehr 
werthvoll  durch  eine  Menge  von  Mittheilungen  über 
Mythologie,  über  Verfassung  und  Becht,  Todten- 
gebräuche,  Gannibalismus ,  Zauberei  u.  dergl. 
Unter  dem  sprachlichen  Material  des  Verf.  sind 
besonders  die  Liste  der  Names  given  according 
to  age  and  relationship  zu  betonen,  sowie  die 
verschiedenen  Stern-  und  sonstigen  astronomi- 
schen Benennungen.  Das  Vocabular  ist  sehr 
reich;  man   muß  es  combinieren  mit  der  Liste 


Ethnologische  Publicationen  aus  u.  über  Australien.    521 

der  Thier-  und  Pflanzennamen,  sowie  der  Gerätbe, 
Waffen,  Schmuckgegenstände,  welcher  letzterer 
genaue  Beschreibung  auch  ethnologisch  recht 
werthvoll  ist.  —  Als  Schluß  der  Sammlung  folgt 
dann  noch  311  —  316  ein  Vokabulary  of  the 
Woolner  District  Dialect,  Adelaide  River,  Northern 
territory,  by  John  Will.  Ogilvie  Bennett.  Der 
Dialekt,  ttber  den  wir  außer  einer  Wortsamm- 
hing  von  etwa  240  Worten  und  einigen  Orts- 
namen leider  nichts  erfahren,  ist  um  so  inter- 
essanter, als  er  im  äußersten  Norden  des  Fest- 
lands der  Insel  Melville  gegenüber  gesprochen 
wird  und  wir  von  Nordaustralien  nur  sehr  we- 
nig sprachliches  Material  haben. 

Das  zweite  oben  genannte  Werk  verdankt 
dem  verstorbenen  Dr.  Bleek,  dem  bekannten 
Erforscher  der  südafrikanischen  Sprachen  seinen 
Ursprung.  Derselbe  war  Bibliothekar  der  Biblio- 
thek Sir  George  Grey's,  welche  auch  für  die 
Sprachen  der  Bewohner  Ozeaniens  von  so  hoher 
Bedeutung  ist.  Als  solcher  bat  er  1874  den 
Governor  der  stidaustr.  Colonie,  Sir  A.  Mus- 
grave  um  genaue  Aufzeichnungen  über  die  Ein- 
geborenen Südaustraliens  hinsichtlich  ihrer  Sit- 
ten und  Gebräuche  und  namentlich  ihrer  Volks- 
überlieferungen. Das  Gouvernement  der  Colonie 
ging  auf  diese  Bitten  ein ;  auf  Taplins  Vorschlag 
wurden  Fragebogen  angefertigt  und  diese  weit- 
hin versandt,  auch  nach  Northern  Territory ;  die 
Antworten,  wie  die  zurückkommenden  Bogen 
sie  enthielten,  sind  hier  zusammengestellt.  Die 
Fragen,  48  an  der  Zahl,  bezogen  sich  auf 
Namen,  Verfassung,  Totem,  Recht  und  Gericht, 
Erbrecht  der  Stämme,  auf  ihre  Ehegesetze,  Ver- 
wandtschaftsbezeichnungen (die  besonders  be- 
tont werden),  ihre  Todtengebräuche ,  religiösen 
Anschauungen ,    früheren  Zustände ,   auf  Canni- 


522  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

balismus,  Waffen,  Geräthe,  Sprache  (sehr  ,  im 
einzeln  ausgeführt,  15  Fragen)  Krankheiten  und 
Heilverfahren,  Feste,  Mannesweihe,  Zahnaus- 
schlagen,  Besehneidnng  u.  s.  w.  In  einer  Ein- 
leitung spricht  auch  hierTaplin  sich  dahin  aas, 
daß  die  Eingeborenen  keineswegs  ausstürben; 
daß  ihr  Hinschwinden  oft  nur  scheinbar  (Ver- 
schwinden durch  Wegziehen,  Vermischen  mit 
anderen  Stämmen  n.  s.  w.)  gewesen  sei  und  be- 
hauptet dies  für  die  Gegenden  und  Stämme,  die 
er  persönlich  kennt,  auf  das  allersicherste.  Er 
macht  dann  ferner  einige  Bemerkungen  über  die 
Ethnologie  der  Südaustralier;  wenn  er  aber  der 
Ansicht  ist,  die  Australier  müßten  für  gemischt 
aus  zwei  Stämmen  angesehen  werden,  deren 
einer  von  Indien,  der  andere  aus  der  ozeani- 
schen Inselwelt  gekommen  sei,  weil  sich  bei  den 
Australiern  Sitten  fänden,  die  theils  unter  den 
Dravida  Stämmen,  theils  auch  bei  den  Poly- 
und  Melanesiern  wiederkehrten,  so  können  wir 
diesen  Satz  nicht  gelten  lassen,  da  die  betref- 
fenden Sitten  und  (religiösen)  Anschauungen, 
auf  welche  er  seine  Behauptung  stützt,  über  den 
ganzen  Erdball  verbreitet  sind,  für  Spezial?er- 
wandtsch^ften  also  keine  beweisende  Kraft  be- 
sitzen. Darin  aber  bat  Taplin  ganz  sieber 
Hecht,  daß  die  Australier  nicht  Autochthonen  sind. 
In  den  Antworten  sind  nun  behandelt  1)  der 
„Marruraa-Stamm  (unt.  Darling)  v.  Rev.  W.  Hol- 
den, sehr  ausführlich,  mit  Wortverzeichniß;  2) 
der  Overland  Corner-Stamm,  Murray;  3)  der 
Moorundee-Stamm ,  Murray ,  sprachlich  ziem- 
lich reich;  4)  die  Narrinyeri,  v.  Taplin,  sehr 
ausführlich,  die  schon  erwähnten  Arbeiten  des 
Verf.  wesentlich  ergänzend ,  mit  werthvollen 
Photographien,  darunter  4  sehr  gute  und  inter- 
essante Porträts,  und   einer  Reihe  sehr  genauer 


Ethnologische  Publicationea  aus  u.  über  Australien.    523 

anthropol.  Messungen.  Der  Goolwa  Clan  ist  be- 
sonders behandelt  v.  Moriarty  (Police-trooper),  5) 
Die  Tatiara-  und  Südost-Stämme ;  6)  der  Padtha- 
way-Stamm;  7)  die  Naracoorte  und  Stidost- 
ktisten  Stämme  (5 — 7  an  Encounterbai  wohnend); 

8)  die  Wallaroo,  Halbinsel  York,  zwischen  St. 
Vincent-  und  Spencergolf,  mit  kurzem  Vokabular ; 

9)  der  Stamm  an  Flinders  Bange  (westl.  v.  L. 
Torrens);  10)  der  Stamm  v.  Mount  Remar- 
kable", an  der  Nordostküste  des  St.  Vincentgolf, 
beide  vom  fernen  Norden  nach  Taplin's  Ansicht 
herabgedrängt,  jetzt  recht  tief  stehend;  11)  der 
Bericht  über  den  Dieyerie-Stamm  ist  von  6a- 
son  und  ergänzt  sein  oben  besprochenes  Werk 
sehr  reichlich,  dem  andererseits  vieles  hier  ent- 
lehnt ist.  Bemerkungen  von  Taplin,  namentlich 
sprachliche,  schließen  sich  an,  so  ferner  Notizen 
über  die  Eingeborenen  nach  Lake  Eyre  hin, 
von  F.  W.  Andrew;  12)  der  Nimbalda-Stamm 
am  Mt.  Freeling  (südl.  v.  L.  Gregory) ;  13)  der 
Antakerrinya-Stamm  in  Gentralaustralien,  Char- 
lotte Water,  Nordgrenze  v.  Südaustralien.  Ein 
paar  Bemerkungen  folgen  dann  14)  über  den 
Stamm  von  Port  Darwin  Halbinsel  und  end- 
lich werden  ausführlich  15)  die  Stämme  des 
West  -  Distrikts  Südaustraliens  (Port  Lincoln  — 
Fowlerbai)  behandelt.  Unter  den  Beigaben  ist 
eine  Abhandlung  über  die  Zähne  der  Eingebo- 
renen von  Interesse,  namentlich  aber  eine  Reihe 
Briefe  Moorhouse's,  des  früheren  Protektors  der 
Eingeborenen,  aus  1840 — 42,  welche  ethnolo- 
gisch einen  hohen  Werth  haben ;  das  Narrinyeri- 
Vokabular,  welches  auf  S.  125—141  folgt,  ist 
sehr  reich,  während  Taplin  im  Cap.  X  des  erst- 
genannten Werkes  nur  wenige  Worte  zur  Ver- 
gleichung  mit  anderen  Sprachen  auswählt.  Lei- 
der   stimmen    beide  Listen    oft   nicht    tiberein, 


524  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

z.  B.  heavens  1)  wyirrewarre,  2)  in  heaven 
waiiriwar;  tree  1)  lamatyeri,  2)  yape;  hill  1) 
ngurle,  2)  ngnrli ;  house  1)  manti,  2)  mante 
u.  8.  w.  Einige  dieser  Abweichungen,  die  Taplin 
nicht  erklärt,  mögen  dialektisch  sein.  Wohl  zu 
beachten  sind  die  vielen  Synonyma  des  Verz.  2, 
welche  der  Sprache  das  Ausfallen  der  Tabu- 
worte, welches  auch  hier  in  Anwendung  kommt, 
erst  ermöglicht.  Uebrigens  bietet  auch  Verz.  1) 
manches  Wort  zur  Ergänzung  von  2).  Auch 
die  Vergleichung  von  70  Worten  in  43  austral. 
Dialekten  ist  dankenswerth ;  eine  reichhaltige 
vergleichende  Zusammenstellung  der  Verwandt- 
schaftsbezeichnungen und  ihre  Besprechung  (S. 
156—174)  macht  den  Schluß  des  merkwürdigen 
Bandes.  Derselbe  bringt  ein  außerordentlich 
reiches  Material  in  einer  Fassung,  welche  durch 
die  stets  wiederkehrenden  Fragen  trotz  der  vielen 
Zwischen -Aufsätze  bequem  und  übersichtlich  wird. 
Er  ist  eine  der  bedeutendsten  Bereicherungen 
unseres  Wissens  und  daher  ist  dringend  zu  wün- 
schen, daß  Taplin's  Verheißung,  dieser  Band  sei 
nur  der  erste  in  einer  Reihe  weiterer  Veröffent- 
lichungen, durch  den  Tod  des  so  eifrigen  und 
einsichtigen  Herausgebers  nicht  unterbrochen 
werde.  Nächst  ihm  verdient  übrigens  auch  die 
Regierung  Südaustraliens  für  den  Eifer  und  die 
Umsicht,  mit  welcher  sie  das  Unternehmen  ge- 
fördert hat,  den  lebhaften  Dank  aller  derer,  die 
sich  für  die  Eingeborenen  interessieren.  In  ihrer 
Hand  wird  es  stehen,  daß  die  folgenden  Bände 
erscheinen,  und  auch  hier  gilt  der  Spruch:  'bis, 
qui  cito!' 

8)  The  Aborigines  of  Victoria:  with  notes 
relating  to  the  Habits  of  the  natives  of  other  parts  of 
Australia  and  Tasmania.  Compiled  from  various 
sources  for  the  government  of  Victoria  by  R.  Br  o  ugh 


Ethnologische  Publicationen  aus  u.  über  Australien.    525 

Smyth.  By  authority:  John  Ferres.  Governm.  printer. 
Publish,  also  by  George  Robertson,  Melbourne.  —  London. 
Trübner  and  Co. ;  and  G.  Robertson  1878.  4°.  Vol.  I. 
LXXKL  483.  Map  showing  approzimataly  some  of  the 
areas  occupied  by  the  Aborig.  tribes  of  victoria  com- 
piled by  R.  Brough  Smyth.  Vol.  II:  VI,  456.  Map: 
Australia  includ.  Tasmania. 

Hier  haben  wir  eine  höchst  stattliche  Publi- 
kation der  Nachbar-Regierang,  der  Regierang 
von  Viktoria,  and  dem  Aeußeren  des  Baches 
entspricht  das  Innere:  auch  dies  Werk  ist  in- 
haltlich höchst  bedeutend,  es  ist  grundlegend, 
ja  nach  manchen  Seiten  hin  erschöpfend  (soweit 
dies  überhaupt  möglich  ist)  für  die  Eingebore- 
nen Viktorias  und  zugleich  auch  wichtig  für  das 
ethnologische  Studium  des  Continents  überhaupt. 
Denn  gleich  die  Introduction  bringt  eine  aus- 
führliche ethnologische  Gesammtschilderung  der 
Australier,  bei  welcher  allerdings  die  Stämme 
des  Viktorialandes  im  Vordergrund  stehen,  die 
aber  durch  manches  neue  Material  and  dann 
durch  die  reiche  Zusammenstellung  einzelner 
Züge  des  äußeren  Lebens  werthvoll  wird.  Man- 
ches freilich  ist  nicht  zu  billigen,  so  die  Be- 
hauptung, daß  die  Beschneidung  durch  malai- 
scbe  Trepangtiscber  nach  Australien  gekommen 
sei,  so  ferner  die  Vermutbungen  über  Zusammen- 
hänge der  australischen  und  der  arischen  Sprache, 
Zusammenstellung  gleichklingender  Worte  aus  bei- 
den u.  s.  w.  Derartige  linguistische  Ungeheuer- 
lichkeiten sind  übrigens  bei  den  Engländern  be- 
liebt; im  2.  Band  kehren  sie  wieder  und  auch 
Taplin  hat  dergleichen. 

Zunächst  werden  nun  die  Eingeborenen  des 
Viktorialandes  sehr  ausführlich  nach  ihren  phy- 
sischen Eigenthümlichkeiten  besprochen.  Eine 
Reihe  von  Körpermessungen  (die  eingehender 
sein   könnten)  beginnen  die  Schilderung,  Haar 


526  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

and  Haut,  Hantgerach,  Sinne,  Kraft,  Gebrauch  der 
Füße  und  Zehen  werden  besprochen  and  dann  über 
die  Kassen  gehandelt,  d.  b.  über  die  Abweichun- 
gen vom  gewöhnlichen  aastral.  Typus,  welche 
sich  hier  and  da  im  Continent  finden.  Auch 
hier  möchte  man  reicheres  Material  wünschen; 
die  Vergleichungen  mit  anderen  Rassen  (selbst 
mit  Chinesen)  sind  nicht  besonders  lehrreich  und 
die  Zusammenstellungen  verschiedener  Schilde- 
rungen anderer  Schriftsteller  geben  nar  bekann- 
tes. Interessant  sind  die  Bemerkungen  über  die 
Mischlinge;  sehr  werthvoll  sind  die  Schilderun- 
gen der  psychischen  Eigenthümlichkeit  der  Vik- 
toria-Australier, sowie  die  Besprechung  ihrer 
Verbreitung  und  Volkszahl,  die  eingehend  und 
durchaus  lehrreich  ist.  Hierauf  wird  (46 — 97) 
über  Geburt  und  Erziehung  der  Kinder  gehan- 
delt und  alle  eigenthümlichen  Sitten  der  Vik- 
toriastämme (auch  anderer  Stämme,  welche  indeß 
meist  aus  den  Quellen  schon  bekannt  sind)  hin- 
sichtlich der  Kinderbehandlung,  ferner  der  Be- 
schneidung, der  Mannesweihe  geschildert ;  ebenso 
werden  die  verschiedenen  Ehegebräuche,  die 
Internuptialgesetze ,  die  Verwandtschaftsverhält- 
nisse u.  s.  w.  besprochen,  wobei  für  Viktoria- 
Land  viel  neues  Material  sich  ergiebt  Es  folgt 
(98—122)  die  Behandlung  der  Todten,  die  Be- 
schreibung des  täglichen  Lebens  (123—182),  der 
Nahrungsmittel  (183 — 252),  der  Krankheiten  und 
ihrer  Behandlung  (253-269),  hierauf  der  Klei- 
dung, des  Putzes,  ( — 282)  dann  der  Kunstleistun- 
gen und  des  regen  Kunstsinns  der  Eingebore- 
nen und  ist  diese  letztere  Besprechung  ganz  be- 
sonders lehrreich.  Die  Beschreibung  von  Waf- 
fen, Geräthen  und  Kähnen  ist  sehr  aasgedehnt, 
(299—422);  dann  folgt  eine  sehr  werthvolle 
Sammlung  australischer  Mythen,  welche  bei  gro- 


Ethnologische  Publicationen  aus  u,  über  Australien.    52? 

ßem  Reichthum  viel  neues  und  unschätzbares  Ma- 
terial bringt,  darunter  einiges  Wichtige  auch  für 
Tasmanien.  Der  Werth  des  Bandes  wird  erhöht 
durch  eine  Menge  vortrefflicher  Holzschnitte,  un- 
ter denen  freilich  die  Portraits  am  wenigsten 
gut  gerathen  sind.  Bei  dem  Kapitel  über  Krank- 
heiten wünschte  man  noch  manchen  weiteren 
Aufschluß,  z.  B.  über  den  Verbreitungskreis, 
Procentsatz  der  Erkrankungen  und  namentlich 
über  die  eingeschleppten  Epidemien  genauere 
Zahlenangaben,  die  so  äußerst  wichtig  wären. 
Doch  begreift  es  sich,  daß  dieselben  äußerst 
schwierig  oder  auch  gar  nicht  zu  geben  sind. 
Die  ethnographische  Karte ,  welche  auch  die 
kleineren  Stämme  und  Glanschaften  und  bei  den 
größeren  den  Wanderbezirk  angiebt,  ist  eine 
wichtige  Beigabe  zu  dem  Bande. 

Der  zweite  Band  zerfällt  in  drei  Theile,  de- 
ren letzter  (379 — 439)  eingehend  die  Tasma- 
nier  behandelt:  wichtig  ist  diese  Behandlung 
deshalb,  weil  sie  z.  Th.  aus  schwer  zugängli- 
chen Quellen  schöpft  und  viel  Material,  auch 
manche  noch  nicht  veröffentlichte  Mittheilungen 
bringt.  Von  S.  410  an  handelt  Jos.  Milligan 
über  die  Sprachen  der  Tasmanier  und  ihre  Art 
zu  sprechen  und  giebt  hierauf  ein  sehr  reich- 
baltiges  Wortverzeichniß  dreier  Dialekte  (wohl 
das  reichhaltigste,  was  vorhanden  ist)  sowie 
kurze  Phrasen  aus  der  „native  language",  ohne 
Angabe  des  Dialects  (wie  es  scheint,  aus  ver- 
schiedenen Dialecten)  und  sprachlich  keineswegs 
genau  aufgefaßt,  da  sie  von  den  Vokabularen 
nicht  selten  (und  keineswegs  etwa  dialektisch) 
abweichen.  Tasmanische  Orts-  und  Personen- 
namen so  wie  einige  Lieder  (zu  Tänzen  ge- 
gangen) in  tasman.  Sprache  folgen.  —  Der  2te 
Theil    umfaßt  eine  Reihe    Appendices.     Zuerst 


528  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

notes  and  anecdotes  of  the  aborigines  of  Australia 
(221—284)  von  Phil.  Chauncy,  der,  seit  1839  in 
Australien,  seit  1841  District  surveyor  war  und 
seine    Bemerkungen    sind    da   von   wirklichem 
Quellenwerth ,   wo   sie,    frei    von   literarischer 
Gelehrsamkeit,  direkt  aus  der  eigenen  Beobach- 
tung, aus  dem  Lebep,  dem  Verkehr  mit  den  Ein- 
geborenen entnommen   oder  veröffentlichte  Be- 
richte anderer  Personen  sind,   die  im  unmittel- 
baren Verkehr  mit  jenen  standen.   So  geben  sie 
für  die  jüngste  Geschichte,  dann  aber  auch  für 
das  Wesen  der  Eingeborenen  manchen  Aufschluß. 
Interessant  sind  auch  bei  ihm  (wie  auch  Taplin 
solche   moderne   australische  Zeichnungen  ver- 
öffentlicht) die  Holzschnitte  nach  austral.  Origi- 
nalzeichnungen ,   welche   z.  Tb.   Engländer  mit 
ihren   charakteristischen    Kleidern    und   Gesten 
sehr  gut  darstellen.   Auch  Briefe  christianiserter 
Eingeborenen  giebt  er  wie  Taplin  (the  Folklore 
u.  s.  w.);    über    die  Thätigkeit  und  den  Erfolg 
der  Missionare  äußert  er  sich  sehr  günstig.  Was 
er  ferner  über  Customs   and   Superstition    sagt 
(267  f.)  enthält  werthvolles  neues  Material,  wel- 
ches sich   z,  Th.,  wie  auch    der   folgende  Ab- 
schnitt über  die  Moral  Condition  der  Eingebore- 
nen, auch   auf  Westaustralien  bezieht,  wo  der 
Verf.   12  Jahre  ebenfalls   als   surveyor    gelebt 
hat.    Gerade  über  Westaustralien  haben  wir  ver- 
hältnismäßig wenig  Material  und  ist  jeder  neuer 
Zuwachs    doppelt    erwünscht.      Die    folgenden 
tradition  of  the  Austral  Aborigines  on  the  Namoi, 
Barwan  an  other  tributaries  of  the  Darling  von 
Rev.  Will.  Ridley  enthalten  einige  Ergänzungen 
zu  den  früheren  Veröffentlichungen  Ridleys;  die 
notes  on  the  natives  of  Australia  von  Albert  Le 
Souef  (289-299)  und  John  Moore  Davis  (310— 
322)  und  mehr  noch  die  über  die  Eingeborenen 


Ethnologische  Publicatiouen  über  u.  aus  Australien.    529 

vein  Cooper's  Creek  von  Alfr.  V.  Howitt  (300— 
309),  femer  die  Bemerkungen  Will.  Locke's  ttber 
Sprache  und  Sitten  des  Stammes  von  Kotupna 
(333 — 339)  enthalten  manche  charakteristische 
Züge,  welche  die  genannten  Verf.  aus  ihrem 
persönlichen  Verkehr  mit  den  Eingeborenen  auf- 
gezeichnet haben ;  besonders  interessant  sind  die 
Bemerkungen  Howitts  ttber  die  Zeichensprache 
der  Eingeborenen  und  die  Mittheilungen  einiger 
Corrobori-texte  durch  Locke.  Das  ist  eben  ein 
großes  Verdienst  der  Arbeit  Smyth's,  daß  sie 
solche  einzelnen,  an  sich  sehr  werthvollen,  aber 
leicht  verloren  gehenden  Aufzeichnungen  gesam- 
melt und  zugänglich  gemacht  hat.  Howitt  giebt 
noch  ausführliche  notes  on  the  system  of  con- 
sanguinity and  kinship  of  the  Brabrolong  tribe, 
North  Gippsland  (323—332),  welche  zu  Taplins 
Arbeiten  eine  erwünschte  Ergänzung  bilden,  in- 
dem sie  ganz  ähnliche  Verwandtschaftsverhält- 
nisse und  Verwandtschaftsnamen  im  südöstlichen 
Viktorialand  schildern,  wie  jener  aus  Südaustra- 
lien. So  weit  die  Appendices  A— 6.  Appendix 
H,  hunting  the  Blacks  (by  the  honorable  A.  F. 
A.  Greeves)  giebt  traurige  Beiträge  zu  dem  ÄGe- 
setzu  des  Aussterbens  der  Schwarzen  vor  der 
Cultur  der  Weißen;  ähnliches,  nur  noch  Schreck- 
licheres berichtet  Hull  (383  f.)  in  Bezug  auf  die  Tas- 
manier  —  es  sind  dies  nur  neue  Beispiele  für 
die  bekannte  Thatsache,  wie  die  cultivierten 
Engländer  friedliche  Eingeborene  überfallen  und 
abgeschlachtet  haben,  oft  mit  der  unmenßchlicb- 
sten  Rohheit.  Den  letzten  Appendix  bildet  die  Ab- 
handlung von  George  Haiford,  Prof.  der  Ana- 
tomy u.  Physiol,  an  der  Universität  Melbourne, 
über  die  Crania  der  Eingeborenen,  in  welcher  5 
austral.  Schädel  von  verschiedenen  Seiten  abge- 

34 


530  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

bildet  werden;  eine  Reihe  van  Maaßen  folgt  in 
engl.  Zollangaben. 

Der  erste  und  hauptsächlichste  Theil  des  Ban- 
des aber  bandelt  über  die  Sprachen  (1—220). 
Er  ist  aus  23  (hier  wohl  zuerst  gedruckten)  pa- 
pers von  verschiedenen  Autoren  zusammenge- 
stellt und  umfaßt  die  Sprachen  der  Eingeborenen 
von  Lake  Tyers,  der  Brabrolong  (beide  in  Gipps- 
land);  der  Stämme  von  Lake  Hindmafsh  und 
noch  zahlreicher  anderer  Stämme  aus  dem  Wim- 
mera- Gebiet  —  natürlich  die  reichste  Material- 
sammlung für  Viktorialand,  welche  vorhanden 
ist.  Besonders  werthvoll  sind  die  Arbeiten  von 
Rev.  John  Bulmer  über  die  Sprache  von  L.  Tyers 
(24—39),  welcher  u.  a.  mehrere  austral.  Erzäh- 
lungen mit  engl.  Interlinearversion  giebt ;  ferner 
die  des  Rev.  Hagenauer  über  den  Nord-Wimmera- 
Dialekt,  der  Missionäre  Hartmann  und  Spieseke 
von  der  Sprache  des  Lake  Hindmarsh  (S.  50— 
59  u.  a.  verschied.  Stellen),  Green's  Vokabular 
und  Phrasen  der  Anwohner  desYarra  (99 — 115), 
Thomas'  Grammatik  und  Vokabular  der  zwei 
Melbourne -Stämme  (118—133)  nebst  vielen 
Sprachproben,  das  Vokabular  der  „Eingeborenen 
in  Viktorialand"  (wahrschein].  Yarra-  und  Kü- 
stenstämme) S.  133 — 153 ;  der  Dialekt  der  „ Ja- 
jow-er-ong-Rassea  (Loddon.  ihre  Westgrenze  die 
Pyrenäen)  von  Jos.  Parker  (154— 165);  Ebenfalls 
merkwürdig  ist  die  Sammlung  von  einheimischen 
Pflanzen-  und  Ortsnamen*  wie  dieselben  in  ver- 
schiedenen Sprachen  des  Viktorialandes  vorkom- 
men (169—220);  Wo  es  ging,  ist  bei  letztem 
die  wörtliche  Bedeutung  des  Namens  in  engl. 
Uebersetzung  beigefügt. 

Dies  reiche  Material  ist  jedenfalls  sehr  dan- 
kenswertb,  aber  es  ist  eben  auch  weiter  nichts 
als  eine  Anhäufung  von  Material,  wie  es  gerade 


Ethnologische  Publicationeii  über  u.  aus  Australien.     531 

einkam,  ohne  eine  Spnr  von  zusammenfassender 
Durcharbeitung,  ja  auch  nur  von  Ordnung;  zu 
verschiedenen  Dialekten  muß  man  die  Beiträge 
hier  and  da  aufsuchen.  Ein  gutes  Register  er- 
leichtert freilich  diese  Arbeit ;  aber  dasselbe  war 
auch  unentbehrlich.  Was  aber  noch  schlimmer 
ist,  und  was  die  Sprachproben  bei  Woods  ebenso 
betrifft,  wie  die  in  dem  offiziellen  Band,  den 
Taplin  herausgegeben,  sämmtliches  Sprachmate- 
rial (in  Smyth's  Werk  mit  der  einzigen  Aus- 
nahme des  vom  Missionar  J.  W.  Spieseke  von 
Lake  Hindmarsh  gesammelten)  ist  in  englischer 
Orthographie  geschrieben !  Ja  Smyth  giebt  nicht 
einmal  irgend  welche  bestimmte  Interpretation 
der  von  ihm  verwendeten  Buchstaben,  wie  man 
dieselbe  doch  in  den  beiden  erstgenannten  Wer- 
ken findet.  Zunächst  verlangt  daher  die  Be- 
nutzung des  Materials  eine  Menge  sehr  lästiger 
Vorarbeiten,  die  sachlich  ganz  unnütz  sind,  und 
manche  Lauteinzelnheit  bleibt  dennoch  unauf- 
geklärt, trotz  des  im  ganzen  ja  einfachen  Laut- 
systems der  australischen  Sprachen.  Dies  ist  bei 
der  ganzen  Lage  der  Dinge  sehr  zu  beklagen; 
um  so  mehr,  als  so  viele  Eigennamen  vorkom- 
men, und  als  wir  auch  nicht  selten  je  nach  den 
verschiedenen  Quellen  dasselbe  Wort  verschieden 
geschrieben  finden.  Wem  soll  man  glauben? 
Und  um  so  unbegreiflicher  ist  diese  Art  der 
Herausgabe,  als  doch  andere  sprachliche  Arbei- 
ten, welche  auf  Veranlassung  der  Regierung  des 
Viktoria-Landes  herausgegeben  wurden,  nach 
Ellis'  Ethnical  Alphabet  geschrieben  sind,  die 
Vokabularies  of  Dialects  spoken  by  aboriginal 
natives  of  Australia  nämlich,  die  zur  Intercolonial 
exhibition  1866  gedruckt  und  1867  in  Melbourne 
erschienen  sind.  Leider  sind  in  dem  linguistisch 
unbrauchbaren  englischen  Schriftsystem  auch  die 

34* 


532  Gott.- gel.  Auz.  1881.  Stück  17. 

offiziellen  sprachlichen  Erhebungen  niederge- 
schrieben, welche  die  Regierung  von  Neu-Süd- 
Wales  an  die  anthropologische  Gesellschaft  von 
Großbritan.  u.  Irl.  eingesendet  hat  und  die  in  dem 
Journal  derselben  (Bd.  VII,  232— 74)  abgedruckt 
sind.  Auch  sie  zeigen  dieselben  Vorzüge  wie 
Smyth's  gewaltiges  Werk,  vor  allem  große  Reich- 
haltigkeit, aber  auch  den  gleichen  Fehler  der 
Ungeordnetheit. 

Fassen  wir  nun  unser  Urtheil  über  Smyth's 
beide  Bände  zusammen,  so  vermissen  wir  strenge 
Ordnung  und  trotz  manchen  Ansätzen  zu  weite- 
rer Bearbeitung  wissenschaftliche  Bewältigung 
des  Stoffes,  dem  der  Verfasser  nicht  gewachsen 
war,  und  da  er  ursprünglich  Geologe  ist,  nicht 
gewachsen  sein  konnte.  Dieser  Stoff  aber  ist 
ganz  außerordentlich  reich;  was  zusammen  zu 
bringen  war,  ist  mit  dem  größten  Fleiß  zusam- 
mengebracht. Wir  haben  daher  volles  Recht, 
die  Bände,  wie  wir  vorhin  thaten,  grundlegend 
für  das  ethnologische  Studium  Australiens  in 
gewissem  Sinne  erschöpfend  und  doch  uner- 
schöpflich zu  nennen.  Hierfür  gebührt  natürlich 
Smyth,  wie  bei  den  beiden  anderen  Werken 
Taplin  und  Woods  der  lebhafteste  Dank,  aber 
gewiß  nicht  minder  auch  den  Regierungen,  für 
welche  die  beiden  ersteren  arbeiteten.  Es  ist  eine 
durchaus  beachtenswerte  und  erfreuliche  Er- 
scheinung, daß  wir  die  Regierungen  dreier 
Territorien  mit  derartigen  Veröffentlichungen  be- 
schäftigt sehen.  Hoffentlich  fahren  sie  in  die- 
ser Thätigkeit  fort  und  schließen  auch  die  noch 
weniger  bekannten  Gebiete  des  Continents  in 
den  Kreis  derselben  ein. 

Straßburg  Nov.  1880. 

Georg  Gerland. 


Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  captivity.      533 

Mary  Queen  of  Scots  in  captivity:  A 
narrative  of  events  from  January  1569  to  December 
1584,  whilst  George  Earl  of  Shrewsbury  was  the 
guardian  of  the  Scottish  queen,  by  John  Daniel 
Leader,  fellow  of  the  Society  of  Antiquaries. 
Sheffield :  Leader  <fe  Sons.  London :  George  Bell  &  Sons, 
York  Street,  W.C.     1880.    (XXXVI.    644).    8°, 

Die  unendliche  Litteratnr  über  Maria  Stuart 
wächst  immer  noch  Jahr  ans  Jahr  ein  gleich 
einer  Fluth,  weil  eben  der  Stoff  und  das  Inter- 
esse an  ihm  unendlich  ist.  Zu  den  nicht  gerade 
häufigen  dankenswerthen  Erscheinungen  gehört 
aber  ohne  Frage  das  vorliegende  Buch.  Schon 
äußerlich  zeigt  es  sich  ungewöhnlich  in  Einband 
und  Druck.  Ein  wissenschaftliches  Werk  aus 
Sheffield  als  Verlagsort  zumal  gehört  in  der 
That  zu  den  Seltenheiten.  Auf  Subscription 
herausgegeben  ist  ihm  in  dieser  beinah  veralte- 
ten Weise  die  Liste  der  Subscribenten  vorge- 
druckt. Indeß  schon  die  artistischen  Zuthaten, 
photographische  Abbildungen  eines  gegenwärtig 
dem  Herzoge  von  Devonshire  in  Hardwicke  Hall 
gehörenden  Porträts  der  Schotten  königin  und 
einiger  anderer  hervorragenden  Persönlichkeiten, 
vor  allen  aber  die  reichen  Belege  in  den  Noten 
erwecken  Aufmerksamkeit  und  Vertrauen,  die 
denn  auch  nicht  unbelohnt  bleiben.  Der  Ver- 
fasser, welcher  als  Redacteur  eines  Tagesblatts, 
Tbe  Sheffield  and  Rotherham  Independent,  die 
Zeit  für  historische  Arbeiten  wahrlich  sehr  zu 
Rathe  halten  muß,  bittet  seine  Leser  beschei- 
den um  Entschuldigung,  wenn  er  sich  an  einen 
so  sehr  schon  zum  Ueberdruß  bearbeiteten  Stoff 
wagt  Mit  Recht  aber  hebt  er  hervor,  daß  alle 
Welt  sich  vorwiegend  doch  nur  um  die  auf- 
regenden Hergänge  während  Maria's  Eönigtbum 
in  Schottland,  ihre  Flucht  von  dort  oder  um  die 


534  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

tragische  Schlußkatastrophe  in  Fotheringhay  zu 
bekümmern  pflegt,  während  die  fast  achtzehn- 
jährige Gefangenschaft,  obwohl  es  auch  über 
diese  Periode  an  Materialien  wahrhaftig  nicht 
gebricht,  weit  geringere  Aufmerksamkeit  erregt. 
Von  dieser  langen  Zeit  aber  sind  an  vierzehn 
Jahre  entweder  auf  dem  Schloß  in  Sheffield 
oder  in  anderen  nicht  fern  abgelegenen  Orten 
verbracht  worden,  so  daß  also  zunächst  die  lo- 
calen  Beziehungen  den  Verfasser  auf  den  Ge- 
genstand gebracht  haben,  dessen  Erforschung 
er  mit  einem  durchdringenden  Fleiß  obgelegen 
hat  und  dessen  Ausführung  in  klarer,  an- 
spruchsloser Darstellung,  die  vielleicht  hier  und 
da  von  Wiederholung  nicht  ganz  frei  ist,  der 
Sache  durchaus  entspricht. 

Was  die  Quellen  betrifft,  so  stehen  ja  auch 
für  den  in  Betracht  kommenden  Lebensabschnitt 
Maria's  die  beiden  stattlichen  Urkundenwerke 
des  rassischen  Fürsten  Labanoff  und  des  Fran- 
zosen Teulet  zur  Verfügung,  die  überhaupt  zu 
den  hervorragendsten  Beweismitteln  für  die  Ge- 
schichte in  der  zweiten  Hälfte  des  seohszehnten 
Jahrhunderts  gehören.  Anderes  wird  aus  eini- 
gen viel  kritikloseren  Arbeiten  wie  Th.  Wright's 
Queen  Elizabeth  and  her  times  oder  Miss  Strick- 
land's Letters  of  Mary  Queen  of  Scots,  sehr  viel 
Wesentliches  über  den  Grafen  von  Shrewsbury, 
dessen  Hut  Maria  während  der  längsten  Zeit 
anvertraut  war,  und  seinen  Familienverbindan- 
gen  aus  Lodge,  Illustrations  of  British  History 
entnommen.  Der  Verfasser  hat  aber  nicht  allein 
von  diesen  und  ähnlichen  Sammlungen  den  be- 
sten Gebrauch  gemacht,  sondern  es  sich  nicht 
verdrießen  lassen  die  großen  Aktenstöße  des 
Staatsarchivs  und  die  Oottonschen  Handschrif- 
ten im  Britischen  Museum,  Materialien,  die  sieh 


Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  captivity.       586 

zu  Händen  der  englischen  Regierung  ansammel- 
ten, nach  den  Correspondenzen  Burleigh's  und 
Walsinghain's  und  den  zahllosen  von  ihren  Agen- 
ten aufgegriffenen  Briefen  Maria's,  welche  schließ- 
lich für  den  erschütternden  Hoohverrathsproceß 
als  schwer  lastende  Zeugnisse  dienten,  von 
Neuem  auf  das  Sorgfältigste  und  mit  bestem 
Erfolg  durchzusehn  Davon  gewähren  die  aus* 
fahrliehen  und  genauen  Mittheilungen  in  den 
Noten  so  wie  die  Kritik  den  besten  Beweis,  die 
er  an  einigen  seiner  Vorgänger,  namentlich  an 
Fronde  übt.  Es  ergiebt  sich  auch  an  dieser 
Stelle  wiederholt,  daß  Froude's  Auszüge  aus 
ungedruckten  Quellen  der  Revision  gar  sehr 
bedürfen.  Leader,  wie  jeder  gewissenhafte  For- 
scher sieht  sich  genöthigt,  vor  der  unhistori- 
sehen  Imagination  ernst  zu  warnen,  welche  das 
in  England  wegen  Beines  fesselnden  Stils  Über 
die  Gebühr  bewunderte  Geschichtswerk  Fronde'* 
beherrscht.  Selbst  bei  Labanoff  konnten  hier 
und  da  einige  Lücken  ausgefüllt  werden.  Für 
loeale  Zwecke  than  Hunter's  Hallamsbire  und 
gelegentlich  selbst  die  alten  Stadtrechnungm 
von  Sheffield  guten  Dienst.  Der  Verfasser 
hat  die  großen  Gruppen  der  einschlagenden 
Correspondenzen  mit  historischem  Sinn  na* 
mentlich  auch  dahin  geprüft,  um  zu  erkunden, 
weshalb  die  einen  ergiebiger  fließen  oder 
weniger  zuverlässig  sind  als  die  anderen,  wes- 
halb z.  B.  die  Berichte  des  französischen  Ge- 
sandten La  Motte  besser  erbalten  sind  als  die 
seines  Nachfolgers  Manvissi&e.  Die  Beweise 
von  der  Echtheit  der  in  französischer  und  eng- 
lischer Version  erhaltenen  Mitteilungen  von 
dem  Bekenntniß,  das  Graf  Bothwell  vor  seinem 
Ende  im  Kerker  zu  Malmoe  abgelegt  haben  soli, 
aus  welchem  Maria  in  ihrer  Haft  großen  Trost 


536  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

zu  schöpfen  erklärte,  findet  er  mit  Recht  unzu- 
reichend. Dagegen  steht  er  nicht  an,  den  be- 
rüchtigten Schmähbrief,  welchen  Maria  im  Jahre 
1584  an  Elisabeth  richtete,  der  unter  Burleigh's 
Papieren  in  Hatfield  House  aufbewahrt  wird,  als 
authentisch  anzuerkennen,  was  freilich  auch  La- 
banoff im  Widerspruch  mit  allen  ultramontanen 
Verfechtern  der  unrettbaren  Königin  schon  vor 
ihm  gethan  hat,  indem  er  nur  Zweifel  hegt,  ob 
ein  Schreiben  mit  so  indecenten  Ausfällen  wirk- 
lich jemals  abgegeben  sein  könnte.  Endlich  mag 
noch  erwähnt  sein,  daß  aus  dem  Umstände,  daß 
Maria  im  Jahre  1575  für  ihre  Freunde  vier  in 
Gold  gefaßte  Miniaturporträts  in  Frankreich  an- 
fertigen ließ,  mit  gutem  Grund  die  zahlreichen, 
so  unendlich  verschieden  aussehenden  Gemälde 
hergeleitet  werden,  die  sich  von  ihr  in  den  al- 
ten Schlössern  Englands  befinden,  wogegen  das 
sog.  Sheffield  Picture  in  Hardwicke  Hall  vom 
Jahre  1578  die  deutlichen  Spuren  unmittelbarer 
Aufnahme  trägt  und  das  Original  des  in  Hat- 
field befindlichen  und  einiger  ähnlichen  Copien 
zu  sein  scheint. 

Mit  Auffassung  und  Urtheil  über  Maria  wäh- 
rend der  von  ihm  speciell  untersuchten  Zeit  hält 
Leader  keineswegs  zurück.  Auf  die  Frage,  ob 
die  Ca8settenbriefe,  die  einst  Bothwell  abge- 
nommen sein  sollten  und  als  Beweise  in  dem 
von  ihren  schottischen  Gegnern  gegen  die  nach 
England  entwichene  Königin  angestrengten  Pro- 
ceß  gedient  haben,  echt  oder  gefälscht  gewesen, 
geht  er  als  außerhalb  seiner  Aufgabe  liegend 
nicht  näher  ein.  Er  bezeichnet  vielmehr  die 
Schrift  Buchanan's,  welche  diese  Briefe  zuerst 
publicierte  und  welche  gleich  bei  ihrem  Er- 
scheinen im  Jahre  1571  auch  von  Maria  in 
Sheffield  mit  großem  Unwillen   gelesen  wurde, 


Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  captivity.       537 

als  eine  gemeine  Parteischrift,  die  mit  niehten 
als  historische  Quelle  dienen  könne.  Er  ist  über- 
dies sehr  geneigt  sich  den  geschickten  Gegen- 
beweisen Hosack's  anzuschließen,  der  unter  den 
Neueren,  wie  man  bereitwillig  zugeben  wird,  als 
der  bei  weitem  wirkungsvollste  Sachwalter  für 
Maria's  Unschuld  an  der  Ermordung  Darnley's 
aufgetreten  ist.  Leader  selber  aber  tritt  nicht 
minder  mit  der  erforderlichen  Uneingenommen- 
heit  an  seinen  Gegenstand  heran  und  kann  ge- 
rade deshalb  nicht  anders  als  auf  jeder  Seite 
seiner  gediegenen  Arbeit  den  unumstößlichen 
Nachweis  liefern,  daß  das  ganze  Leben  Marias 
eine  einzige  Conspiration,  ein  unentwirrbares 
Netz  von  verräterischen  Intrigen  und  sie  selber 
mit  eben  so  endlosen  Versicherungen  ihrer  Auf- 
richtigkeit und  Ergebenheit,  zu  denen  die  eigen- 
bändigen Urkunden  das  Gegentheil  bezeugen, 
eine  vollendete  Schauspielerin  und  Heuchle- 
rin war. 

Indem  nun  Leader  bis  in  die  kleinste  Ein- 
zelheit ihrem  traurigen  und  immer  unerträglicher 
werdenden  Dasein  nachgeht,  weiß  er  doch  ener- 
gisch die  großen  Fäden  zusammen  oder  aus- 
einander zu  halten,  die  sieb  durch  das  Gewebe 
hindurch  ziehn.  Niemals  hatte  Maria,  auch 
nachdem  sie  hilfeflehend  und  anfänglich  als  Gast, 
als  Souveränin  über  die  englische  Grenze  ge- 
kommen, eingewilligt,  den  ihr  im  Vertrage  von 
Edinburgh  schon  acht  Jahre  zuvor  auferlegten 
Eid  zu  leisten,  daß  sie  Titel  und  Wappen  von 
England,  die  sie  einst  als  Königin  in  Frankreich 
angelegt,  entsage,  bis  sie  auf  natürlichem  Wege 
Elisabeth  beerben  würde.  Selbstverständlich 
richteten  daher  auch  in  England  alle,  welche 
als  Anhänger  des  alten  Glaubens  oder  aus  an- 
deren Grttnden  dieser  grollten,  ihre  Augen  auf 


538  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stock  17. 

die  schöne  flüchtige  Königin,  welche  in  den  er- 
sten Jahren  immer  noch  als  Fürstin  von  glei- 
•  ehern  Bang  behandelt  wurde.  Bis  1571,  bis  zu 
dem  mit  dem  Herzoge  von  Norfolk  angezettel- 
ten Com  plot,  welches  auf  Spanien  bauend  den 
Aufstand  in  England,  die  Ermordung  Elisabeth's 
und  die  Thronerhebung  Maria's  bezweckte,  hatte 
die  Königin  von  England  denn  auch  den  Ge- 
danken keineswegs  fahren  lassen,  jene  nach 
Schottland  zurückzufuhren.  Am  Allerwenigsten 
hätte  sie  sich  entschließen  können  wie  den  vor- 
nehmen Peer  ihren  Untenthan  auch  die  gesalbte 
Königin  eines  anderen  Beiebs  für  den  begange- 
nen Hochverrath  mit  der  Strafe  an  Leib  und 
Leben  verantwortlich  zu  machen  und  damit  das 
göttliche  Recht  der  Krone,  welches  sie  selber 
so  hoch  hielt,  anzutasten.  Daß  sie  ihr  aber  die 
Freiheit  nicht  wieder  gewähren  durfte,  stand 
fortan  fest.  In  der  ganzen  Zeit  von  1572  bis 
1586  ist  daher  Maria's  Befreiung,  wie  oft  auch 
von  beiden  Seiten  ein  Vertrag  in  Anregung  kam 
und  selbst  verhandelt  wurde,  ernstlich  nicht  mehr 
in  Erwägung  gezogen  worden.  Es  war  Maria's 
Verhängniß,  daß  sie  den  Ausgang,  der  eine 
Weile  für  ihre  Nachfolge  in  England  entschieden 
günstig  gestanden,  nicht  in  Geduld  erwarten 
konnte.  Ihre  Hitze  und  Leidenschaft,  die  Ver- 
wegenheit ihrer  Anhänger  in  England  und  Schott- 
land, der  Rückhalt,  den  sie  an  Frankreich  wie 
an  Spanien  zu  haben  meinte,  die  doch  unter 
einander  niemals  einig  werden  konnten,  der 
Papst  und  seine  Jesuiten,  Alles  wirkte  zusam- 
men, so  daß  sie  zu  einem  Werkzeug  der  ent- 
gegen gesetztesten  fremden  Zwecke  gerade  mit 
ihren  ewigen  Verschwörungen,  die  doch  stets  von 
Neuem  auf  Ermordung  der  exeommunicierten 
Königin  von  England  abzielten,  schließlich  in 
das  Verderben  rann. 


Leader,  Mary  Queen  of  Scots  in  captivity.      539 

Ohne   dem  Autor,  der  sich  streng  am  chro- 
nologischen Faden  hält  and  häufig  die  mangelnde 
Zeitbestimmung   seiner  Documente  glücklich  zu 
lösen  versteht  bis  ins  Einzelne  zu  folgen ,   wird 
es  dem   Referenten,   falls   er  nicht   ganze  Ab- 
schnitte aussehreiben  will,  fast  unmöglich  einer 
so  tüchtigen  Leistung  gerecht  zu   werden.    Er 
muß  sich  damit  begnügen  Dies   und  Jenes  be- 
sonders herauszuheben,  wo,  wie  ihm  scheint,  das 
Verständnift   der   oft   recht   verwirrten  Verhält- 
nis8e  vorzugsweise   gefördert  worden   ist.     In- 
sonderheit ist  es   dem  Verfasser  gelungen   das 
enge  Stillleben    Maria's,    das  immer   mehr    in 
strenges  GefiLngniß  auswächst   und  das   er  mit 
der   den  Engländern   eigenen  Meisterschaft  der 
Kleinmalerei  schildert,  in  die  richtige  Beziehung 
zu  bringen  mit  der  gewundenen  Politik  der  eng- 
lischen Regierung   und   dem  universal  europäi- 
schen   Hintergrunde,   auf  welehem  sich  in  der 
Kirche  wie  in  den  Großreichen  der  Zeit  Refor- 
mation   und    Gegenreformation    in    wüthender 
Feindschaft  gegenüber  standen.    Wer  liest  nieht 
mit  Tbeilnahme   von   den  Beschäftigungen,   Er- 
holungen,  Tändeleien   dieser  Gefangenen,  ihrer 
Stickerei,  den    selbst   gearbeiteten  Geschenken, 
die  sie   damit,-  namentlich    auch   an   Elisabeth 
machte,    ihren  Aufträgen   in  Paris  und  London. 
Wie  ernstlich  leidend  sie  oft  war,  wird  vor  Allem 
dadurch  bestätigt,   daß  ihr  im  Sommer  wieder- 
holt der  Besuch  der  warmen  Quellen  von  Buxton 
gestattet  werden  mußte.    Andererseits   aber  er- 
krankte   sie    nachweislich  jedesmal    besonders 
heftig  und  suchte  sich  selbst  dem  zum  Bedürf- 
niß  gewordenen  Umgange  mit  ihrer  Umgebung 
zu  entziehen,  wenn  sie  entweder,  wie  öfter  ge- 
schah, auf  einem  der  vielen  geheimen  Anschläge 
ertappt   worden   war  oder   den   Sendboten  der 


540  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  17. 

Regierung  ausweichen  wollte,  die  mitunter  zu 
Conferenzen  und  Untersuchungen  bei  ihr  ein- 
trafen. 

Gegenüber  der  Spürkunst  der  letzteren  und 
der  immer  schärferen  Einsperrung  ist  es  geradezu 
erstaunlich,  daß  doch  auch  immer  neue  Mittel 
und  Werkzeuge  gefunden  wurden  um  die  Cor- 
responded, meist  mit  großem  Raffinement  ver- 
steckt, hin  und  her  zu  befördern.  War  ihr  doch 
bis  zuletzt  ein  Rest  eigener  Dienerschaft  ver- 
blieben. Bestechung  und  Künste  aller  Art  hal- 
fen andere  gewinnen,  und  selbst  die  Diener  de- 
rer, die  sie  zu  Falle  bringen  wollten,  trugen  ge- 
schäftig zu  dem  geheimen  Verkehr  bei.  Wer 
wollte  es  leugnen,  daß  Elisabeth  sie  hartherzig, 
erbarmungslos,  besonders  aber  überaus  knauserig 
behandeln  ließ.  Jahre  lang  schwankte  sie,  hielt 
jeden  Entschluß  zurück,  so  daß  ein  rasches, 
blutig  abschließendes  Verfahren,  wie  es  ihre 
Räthe  und  bald  auch  die  englische  Nation  for- 
derten, statt  des  langen  Märtyrerthums  fast  eine 
Wohlthat  gewesen  wäre.  Aber  man  staunt  doch 
nicht  minder,  wenn  man  aus  Maria's  eigenen  Brie- 
fen die  Ueberzeugung  gewinnt,  daß,  wie  sie  we- 
der jemals  einwilligte,  daß  ihr  Sohn  vor  ihr 
oder  ohne  sie  König  in  Schottland  sei,  oder  wie 
sie  Alles  aufbot,  um  der  Brautwerbung  Alen$on'8 
um  die  Hand  Elisabeth's  und  der  Möglichkeit 
einer  Descendenz  derselben  zu  begegnen,  sie 
doch  von .  den  eigenen  Helfershelfern  sehr  übel 
und  geradezu  verrätherisch  bedient  wurde.  Ver- 
trauensselig, trotz  aller  Bedrängniß  fest  in  ihrer 
dynastischen  und  confessionellen  Ueberzeugong, 
umstrickte  sie  von  ihrer  Haft  aus  gelegentlich 
noch  immer  junge  Männer  mit  hexenartigem 
Zauber.  Aber  es  ist  doch  eine  eben  so  auf- 
fällige Thatsacbe,  daß  der  Bischof  von  Roß  wie 


Leader,  Macy  Queen  of  Scots  in  captivity.       541 

der  Bischof  von  Glasgow,  welche  draußen  nach 
einander  Jahre  lang  ihre  Bevollmächtigten  wa- 
ren, durch  deren  Hände  die  allergeheiirsten  An- 
zettelungen liefen,  im  Factionstreiben  der  Mächte 
oder  geradezu  bestochen  Untreue  an  ihr  be- 
giengen,  daß  ihr  eigener  Oheim,  der  Cardinal 
von  Guise,  ein  hervorragender  Wortführer  rück- 
sichtsloser Orthodoxie  selbst  über  Frankreich 
hinaus,  gleich  anderen  hochgeborenen  Herren 
dort  sich  an  dem  französischen  Witthum  Maria's 
vergriff,  aus  welchem  diese  nach  Elisabeth's 
wiederholter  Forderung  einzig  und  allein  ihre 
Kerkerhaft  bestreiten  sollte.  Und  haben  ihre 
Schwäger,  zwei  Könige  von  Frankreich  hinter 
einander,  hat  die  alte  Königin  Katharina,  bat 
Philipp  IL,  der  die  Durchführbarkeit  oder  Un- 
möglichkeit seiner  Pläne  über  alle  Begriffe  be- 
dächtig und  langsam  zu  prüfen  pflegte,  die  arme 
unselige  Fürstin  anders  als  einen  Spielball  in 
dem  gewaltigen  Wettkampf  der  Zeit  behandelt? 
Schließlich  muß  noch  auf  die  nicht  am  We- 
nigsten bedeutende  Seite  des  Buchs,  die  genaue 
Erörterung  der  mit  dem  ganzen  Hergange  eng 
verschlungenen  Verhältnisse  des  Grafen  von 
Shrewsbury  hingewiesen  werden.  Aus  dem 
ruhmvollen  Geschlecht  der  Talbots,  der  größte 
Grundherr  in  Yorkshire,  ein  Ehrenmann  von 
etwas  melancholischem  Temperament,  war  er 
während  dieser  Epoche  mit  der  Hut  der  Ge- 
fangenen meist  in  seinen  eigenen  Häusern  mit 
kostspieliger  Verwendung  seiner  Leute  und  Geld- 
mittel betraut  worden  und  gerieth  nun  zwischen 
die  Intrigen,  die  Berechnungen,  den  niemals 
rastenden  Argwohn  der  beiden  Königinnen  nicht 
nur,  sondern  zumal  unter  den  »bösen  Bann  und 
den  maßlosen  Ehrgeiz  der  Gemahlin,  der  er  in 
zweiter  Ehe  angetraut  worden.   Als  deren  Toch- 


542  Gott.  gel.  Anz.  1*81.  Stück  17. 

ter  sich  mit  dem  Grafen  Lennox,  einem  Brnder 
des  ermordeten  Darnley,  vermählt  und  die  kleioe 
Arabella  Stuart  geboren  hatte,  die  Gräfin  von 
Shrewsbury  aber  für  dieses  Kind  auf  die  um- 
strittenen Throne  von  England  und  Schottland 
zu  sinnen  begann,  da  fiel  nicht  nur  ein  neuer 
Zankapfel  in  den  unheilbaren  Streit  der  beiden 
gekrönten  Weiber,  sondern  erfuhr  der  Graf  außer 
dem  gesteigerten  Mißtrauen  derselben  und  den 
niemals  endenden  Klagen,  welche  er  in  seinen 
Briefen  an  Burleigh  vorzubringen  hatte,  noch 
den  ärgsten  Unfrieden  im  eigenen  Hause.  Um 
so  mehr  sprechen  alle  Zeugnisse,  besonders  die 
immer  noch  menschliche  Behandlung  für  ihn, 
welche  er  Maria  Stuart  angedeihen  ließ.  Elisa- 
beth hat  nicht  umhin  gekonnt,  ihm  nach  Nor- 
folk's Untergang  die  hohe  Würde  des  Earl  Mar- 
shall von  England  zu  verleihen,  aber  nicht  min- 
der von  ihm  gefordert,  daß  er  als  Lord  Steward 
dessen  Proceß  leitete  und  späterhin  einer  der 
Strafrichter  der  Schottenkönigin  war.  Aber 
glücklich  schätzte  er  sich  doch,  daß  endlich, 
nachdem  Throgmorton's  Verschwörung,  hinter 
welcher  der  spanische  Gesandte  Mendoza  and 
englische  Jesuiten  steckten,  im  Jahre  1584  an 
den  Tag  gekommen  war,  ihm  sein  schweres, 
unerquickliches  Amt,  dem  er  fünfzehn  Jahre, 
die  besten  seines  Lebens,  hatte  opfern  müssen, 
abgenommen  wurde  und  er  sich  nach  langen, 
vergeblichen  Versuchen  persönlich  mit  glänzen- 
dem Erfolg  bei  Hofe  rechtfertigen  konnte.  Be- 
,  kanntlich  hat  ihn  Sir  Amyas  Paulet,  der  strenge 
Puritaner,  für  den  Best  der  Leidenszeit  Maria's 
abgelöst,  ein  Abschnitt,  dessen  Darstellung  sich 
Leader  mit  Recht  erspart  hat,  da  ihm  vor  eini- 
gen Jahren  dureh  die  urkundlichen  Mittheilan- 


Mihalkövics,  Allgemeine  Anatomie.  543 

gen  des  Jesuiten  Morris  eine  sehr  willkommene 
Beleuchtung  zu  Theil  geworden  ist 

R.  Pauli. 

A'lt&länos  Boncztan  (Allgemeine  Anatomie)  irta 
G.  Mihalkövics.  Budapest ,  Franklin-Tärsulat 
Könyvnyomdäja.  1881.  VDI  und  740  S.  in  Octav. 
Mit  544  Figuren  in  Holzschnitt. 

Die  Einigung  Deutschlands  hat  dazu  beige- 
tragen, dem  Königreich  Ungarn  einen  hohen 
Grad  von  politischer  Selbständigkeit  zu  ver- 
schaffe«, deren  Früchte  anoh  auf  dem  Gebiet 
eigener  wissenschaftlicher  Forschung  allmählich 
reif  werden.  Eine  erste  Forderung,  nämlich 
der  Besitz  von  Lehrbüchern,  die  in  ungarischer 
Sprache  verfaßt  sind,  ist  von  dem  Verf.  in  Be- 
treff der  allgemeinen  Anatomie  auf  ausgezeich- 
nete Weise  erfüllt  worden.  Ref.  kann  freilich 
nur  nach  den  zahlreichen  und  vortrefflich  aus« 
geführten  Holzschnitten  urtheilen;  diese  reden 
aber,  eine  für  das  Auge  des  Anatomen  sehr 
verständliche  Sprache  und  glücklicherweise  ist 
der  Bau  des  menschlichen  Körpers  im  Lande 
der  Magyaren  ganz  derselbe  wie  anderswo, 
eventuelle  Differenzen  der  Raeenschädel  selbst* 
verständlich  ausgenommen.  Begegnet  man  zwi- 
schen den  Abbildungen  auch  manchen  guten 
Bekannten,  unter  denen  Ref.  zahlreiche  Gopieen 
seiner  eigenen  Holzschnitte  mit  besonderer 
Freude  begrüßen  konnte,  so  hat  der  Verf.  doch 
eine  hinreichende  Anzahl  von  eigenen  neuen 
Bildern  gegeben,  um  die  Aufmerksamkeit  der 
anatomischen  Welt  auf  sie  zu  ziehen.  —  Be- 
kannt ist  der  Verf.  von  früher  her  durch  Ar- 
beiten, die  unter  Ludwig's  Leitung  in  Leipzig 
und  bei  Waldeyer  in  Straßburg  ausgeführt,  in 
deutscher  Sprache  gedruckt  worden  und  deren 


544  Gott.  gel.  Anz.   1881.  Stück  17. 

Resultate  bereits  in  die  deutschen  Lehrbücher, 
jedenfalls    in    das    vom   Ref.    herausgegebene 
Handbach    der   menschlichen  Anatomie   (Bd.  I, 
1876;  Bd.  II,  1879,  Bd.  III,  1880)   übergegan- 
gen  sind.     Nur  der  Iste  eben  genannte  Band 
(Allgemeine  und  microscopische  Anatomie)  hat 
vom  Verf.  benutzt  werden  können.  —  Die  Aus- 
wahl   der    Holzschnitte    ist    vortrefflich,    ihre 
Schönheit   hebt  sich    durch  das   glatte  Papier, 
wie   überhaupt   die   Ausstattung  nur   zu   loben 
ist.    Wenn  der  vom  Verf.  in  Aussicht   gestellte 
zweite   Band,   welcher   die   specielle  Histologie 
enthalten  soll,   entsprechend  aasfallt,    so  wird 
man  den   ungarischen    Studenten    der  Medicia 
zum   Besitz    ihres    ersten   und    einzigen   Lehr- 
buches  der  Histologie   incl.  Entwickelung    der 
Gewebe  gratulieren   dürfen.     Für  den  selbstän- 
dig Forschenden  können  sich  die  jedem  Gapitel 
angehängten    Literatur- Verzeichnisse    förderlich 
erweisen;   sie   umfassen   zwar   nur   die   letzten 
Jahre  (seit  1870),  was  auf  den  ersten  Blick  son- 
derbar  aussieht,   indessen   seine   Erklärung  in 
folgenden  Umständen  findet.   Erstens  sind  wich- 
tigere Arbeiten  früherer  Zeit  gelegentlich  in  No- 
ten citiert  und  zweitens  ist  im  letzten  Decenninm 
eine   moderne   Histologie  in   Deutschland    ent- 
standen, welche  vermöge  der  Verbesserang  der 
Hülfsmittel,  die  erst  seit  jener  Zeit  etwa  Allge- 
meingut geworden  sind,  in  der  That  eine  neue 
Epoche  repräsentiert.     Letztere  dürfte  nicht  so 
rasch  vorübergehen  wie  manche  scheinbar  neue 
Aera,  die  in  Wahrheit  als  von  etwas  ephemerer 
Natur  sich  herausgestellt  bat 

W.  Krause. 


Für  die  Redaction  rerantwortlich :  F.  Bechtd,  Director  d.  Gott.  gel.  Abi. 
Verlag  der  DittericK  sehen  Verlags-  Buchhandlung. 
.  Druck  dir  Meterich'schm  Univ.-  Buchdruck*«  ( W.  Fr.  Xtmtnmrl 


546 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  18. 19.  4.  u.  1 1.  Mai  188 1. 


Inhalt:  0.  Kaufmann,  Deutsche  GescMehte  bis  auf  Karl  den 
Grotten.  Von  Jl  Mtüttm.  —  U  BL  Zote  ab  erg,  La  ehrontyne  de 
Jean  eVeque  de  Nikiou.  Von  Tk.  Nöldek*.  —  T  h.  Schreiber,  Die 
antiken  Bildwerke  der  Villa  IadorUL    Yon  A.  MiduuUa. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  ton  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  rerboten  s 

Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  den  Gro- 
ßen. Von  Georg  Kaufmann.  Bd.  I. :  Die  Ger- 
manen der  Urzeit.  Leipzig,  Duncker  und  Humblot. 
1880.    860  S.    8°. 

Georg  Kaufmann  in  Straßburg  verdanken  wir 
schon  eine  erhebliche  Anzahl  Monographien  über 
Episoden  der  römischen  Kaiserzeit,  des  deut- 
schen Alterthums  und  der  frühen  Kircbenge- 
schicbte.  Zur  Kaiserzeit  hat  er  mehrere  Unter- 
suchungen über  Theodosius  den  Großen,  über 
Apollinaris  Sidonius,  fiber  die  Fasten  der  späte* 
ren  Kaiserzeit  als  Mittel  zur  Kritik  der  west- 
römischen Chroniken,  über  die  Stellung  der  Bö* 
mer  in  den  Staaten  der  Völkerwanderung,  das 
Föderatverhältniß  des  Tolosanischen  Reichs  zu 
Rom,  den  Combinator  Prosperi  u.  a.  geführt. 
Zur  deutschen  Geschichte  gab  er  kritische  Erör- 
terungen über  die  Burgunder  in  Gallien,  über 
den  Verfasser  der  lex  Salica,  die  Entstehung 
des  deutschen  Königthums  und  der  Vassalität  und 
über  die  Säcularisation  des  Kirchenguts  durch 

35 


646  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18. 19.. 

die  Söhne  Karl  Martells.  Zur  kirchlichen  Ent- 
wickelung  aber  behandelte  er  namentlich  den 
heiligen  Martin  von  Tours  und  als  Bilder  der 
heidnischen  nnd  der  christlichen  Kultur  während 
des  5.  und  6.  Jahrhunderts  die  Rhetorenschulen 
und  Klosterschulen. 

Jetzt  macht  er,  wie  er  sagt,  nicht  ohne  Za- 
gen in  dem  vorliegenden  Werke  den  Beginn 
mit  einer  Gesammtdarstellung  der  altern  deut- 
schen Geschichte,  die  er  bis  auf  Karl  den  Gro- 
ßen herabzuführen  beabsichtigt.  Er  will,  laut 
der  Widmung  an  Rudolf  Sohm,  nachdem  er  sich 
seit  mehr  als  zehn  Jahren  mit  diesem  Gedanken 
getragen  und  immer  wieder  zur  Monographie 
zurückgekehrt  ist,  nun  er  seinen  Entschluß  ge- 
faßt, den  Blick  unverrückt  auf  das  Ganze  rich- 
ten, und  es  soll  ihm  ein  geringerer  Kummer 
sein,  wenn  ihm  bei  Benutzung  der  theilweise 
vor  vielen  Jahren  angestellten  Untersuchungen 
oder  fremden  Forschungen  ein  Irrthum  im  Ein- 
zelnen unterläuft,  als  wenn  er  fehlgreife  in  der 
Erfassung  des  Zusammenhanges,'  in  welchem  die 
Thatsachen  mit  einander  stehn.  Dabei  erklärt 
er  die  Darstellung  ohne  gelehrte  Begründung 
geben  zu  wollen,  denn  solle  das  nicht  blos  zum 
Scheine  geschehen,  so  müsse  sich  das  Buch  in 
ein  Bündel  von  Monographieen  auflösen.  Er 
will  deshalb  mit  wenigen  Ausnahmen  vermeiden, 
sich  mit  den  früheren  Bearbeitungen  auseinan- 
derzusetzen oder  die  Schriften  aufzuzählen,  denen 
er  da  folgte,  wo  er  nicht  selbst  die  Unter- 
suchung führte.  Auch  über  seine  Gesammtan- 
schauung  von  der  Periode,  die  er  behandeln 
will,  spricht  er  sich  Sohm  gegenüber  aus. 

In  der  Zeit,  in  der  sich  das  römische  Kai- 
serreich mit  den  Germanen  berührte,  sieht  er 
an  und  für  sich  keinesweges  eine  Periode  des 


6.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    547 

Rückschrittes.      Das   römische  Volk   vollendete 
in  der  Form    des  Kaiserstaates  seine    eigene 
Entwicklung   und    erschloß  der  Kultur    neue 
weite  Gebiete.     Aber   bei    kultivirten   Völkern 
ist  aller  Despotismus   kurzlebig  und   ohne  eine 
gesunde  Verkeilung   der  Güter  kann  vollends 
kein  Staat  bestehen.    Deshalb  war  das  römische 
Reich  bereits  im  4.  Jahrhundert  zur  Ruine  ge- 
worden, längst  ehe  es  die  Germanen  zerstörten. 
Rom  hatte  noch  immer  eine  Fülle  von  gelehr- 
ten und  in  jedem  Zweige  einer  höheren  Cultur 
erfahrenen  Menschen;  es  fehlte  ihm  auch  nicht 
an  kriegerischen  Talenten   und  an  dem  Muthe, 
der  für  seine  Ueberzeugung  freudig  das  Leben 
läßt    Dazu  kam  der  Reichthum  an  Capital  je- 
der Art,  ein  Schatz   geschichtlicher   Erinnerun- 
gen, die  selbst  in  schlaffen  Seelen  Begeisterung 
weckten,   und   endlich  eine  gewaltige  Erneue- 
rung des  religiösen  Lebens.    Aber  es  war  alles 
vergebens.    Hoffnungslos  und   rettungslos    ver- 
brauchten sich  alle  diese  Kräfte  und  Gaben  in 
gegenseitiger  Vernichtung.    Wer  sich  die  Augen 
nicht  verschließt,  muß   hier   begreifen    lernen, 
daß   der  Staat    die    unentbehrliche   Grundlage 
alles  gesitteten  Daseins  bildet.    Der  Staat  muß 
den  Menschen  erst  herausheben  und  sicher  stel- 
len vor  den  Flut  hen  gemeiner  Leidenschaften, 
dann  mag  Kunst  und  Religion  das  Werk  voll- 
enden.    Aber   ohne  ihn  vermögen  sie    nichts, 
ohne  ihn  erzeugen  sie  nur  rasch  welkende  Bltt- 
then,  denen  das  Gebäude  fehlt,  das  sie  schmücken 
sollen.    Die  Völkerwanderung  ttberfluthete  diese 
Welt  der   alten    Kultur  mit   barbarischen  Völ- 
kern :  der  Osten  mit  Slaven,  das  Abendland  mit 
Germanen.     Die  alte   Kultur  sank    in  Staub. 
Aber  wo  Germanen   zerstört  hatten,  da  wuchs 
lin  frischer  Wald  von  jungen  Völkern   aus  den 

35* 


648  €kttt.  gel.  Ans.  1881.  Stück  ia  19. 

Ruinen.  Freiheitssinn ,  Arbeitskraft  und  «nt- 
wiokelungsföhige  Anfänge  einer  neuen  staat- 
lichen Ordnung  haben  sie  als  Saat  eingestreut 
in  den  von  den  Arbeitsresultaten  vieler  Jahr- 
hunderte gesättigten  Boden. 

In  dieser  seiner  Auffassung  bestreitet  der 
Verfasser  lebhaft,  daft  man  über  diese  Periode 
nichts  wissen  könne,  was  sich  zu  wissen  lohne. 
Allerdings  blieben  uns  mit  Ausnahme  der  Hel- 
den der  Kirche  die  handelnden  Personen  meist 
fern  und  fremd;  oder  es  treten  doch  nur  ein- 
zelne Züge  ihres  Wesens  hinreichend  scharf 
hervor.  Man  müsse  zufrieden  sein,  wenn  es 
gelinge,  den  Platz  zu  bezeichnen,  auf  dem  der 
Mann  stand,  die  Aufgabe,  die  er  erfüllte.  Wolle 
man  näher  eindringen  in  das  Geheimnis,  wie 
sich  seine  Persönlichkeit  gestaltete  und  verhielt 
in  dem  Kampfe  mit  den  sie  umgebenden  Not- 
wendigkeiten, so  müsse  man  das  Urtheil  fast 
immer  auf  Grund  von  zerstreuten  Blättern  spre- 
chen, die  gerade  zufällig  aus  den  Akten  seines 
Lebens  erhalten  sind.  Aber  das  sei  ja  auch 
nicht  die  einzige  Aufgabe  der  Geschichte,  wenn- 
gleich die  reizvollste.  Die  Geschichte  werde  in 
erster  Linie  nicht  für  die  Todten  geschrieben, 
nicht  um  ihnen  Gerechtigkeit  zu  verschaffen, 
sondern  für  die  Lebenden ;  bei  aller  Dürftigkeit 
sei  die  Ueberlieferung  dieser  Periode  doch  reich 
genug,  um  einen  Ueberblick  über  dieEntwicke* 
lung  der  Gesellschaft  zu  gewähren  und  ein  er- 
schütterndes Bild  von  dem  Werden  und  Ver- 
gehen menschlicher  Lebensordnungen. 

Man  muß  anerkennen,  daß  der  Verfasser  die- 
ser Anschauung  von  den  Anforderungen  an  den 
Geschichtsschreiber  in  erfreulichem  Maße  gerecht 
wird.  Mit  steigendem  Vergnügen  und  Interesse 
wird  Jeder  der  lebensvollen  bewegten  Darotel- 


6.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Or.    649 

long  der  Persönlichkeiten  folgen,  ans  deren  Cha- 
rakter und  Handlungsweise  wir  das  Wesen  des 
Volkslebens  und  die  Motive  der  Zeitereignisse 
verstehen  lernen.  Der  Verfasser  ist  für  fesselnde 
historische  Schilderung  ungewöhnlich  begabt 
and  übt  sie  mit  sehr  gewandter,  leichter  und 
klarer  Feder. 

Der  vorliegende  1.  Band  enthält  nach  einer 
Einleitung,  die  die  gesäumte  Entwicklung  kurz 
überblickt,  im  ersten  Buch  die  Geschichte  der 
Germanen  bis  375  n.  Chr.  Fünf  Kapitel  er- 
zählen die  Vorgänge  der  vorgeschichtlichen  Zeit, 
die  Kämpfe  der  Germanen  und  Römer  bis  16 
?.  Chr.,  den  Aufstand  des  Civilis,  die  Bildung 
des  Zehntlandes  und  den  Markomannenkrieg, 
endlich  die  Völkerwanderung  in  ihren  alaman- 
niöohen  und  ihren  gothiscben  Vorstößen. 

Das  2.  Buch  schildert  die  Zustände,  das 
Land,  das  Volk,  seine  Zahl  und  Gliederung, 
den  Geschlechterstaaft,  die  Stände,  die  Heeres- 
verfassung, die  Volkswirthschaft ,  die  Gefolg- 
schaften, den  Staatsverband,  die  Landsgemeinde, 
die  Hnndertschafte  und  den  Rath  der  Großen, 
ferner  das  Königthnm,  die  Gesammt-  und  die 
Theibtaaten ,  Fehderecht  und  Blutrache,  Recht 
und  Gericht,  Leben  und  Sitte,  endlich  auch 
Poesie,  Runen,  Religion  und  Volkscharakter. 
Dazu  werden  als  Anbang  ein  Exkurs  über  den 
Stamm  der  Sueben,  ein  Sttbnevertrag  oder  eine 
„Liebliche  Richtung"  zwischen  den  Sippen  des 
Todtschlägers  und  des  Getödteten,  aufgerichtet 
im  Jahre  1587  zu  Appenzell,  und  eine  Abhand- 
lung Aber  die  Runen  und  das  lateinische  Alpha- 
bet beigegeben. 

Das  3.  Buch  behandelt  die  Zeit  des  Ueber- 
ganges,  die  Westgothen  von  375  bis  419,  und 
führt  uns  das  geistige  Leben  des  vierten  Jahr- 


550  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18.19. 

hunderte,  Ulfila  and  die  Bekehrung  der  Gothen, 
die  Germanen  im  römischen  Reiche  und  das 
Eingreifen  |der  Hunnen,  dann  die  Westgothen 
nnd  das  römische  Reich  bis  zur  Schlacht  bei 
Adrianopel,  die  Zeit  des  Theodosius  nnd  die 
Westgothen,  endlich  die  beiden  großen  Figoren 
des  Alarich  nnd  Stilicho  vor.  Ein  Anhang  ver- 
breitet sich  über  die  Auffassungen  der  älteren 
deutschen  Geschichte  von  Moser  bis  auf  Roth 
und  Sohm.  — 

Seinem  ausgesprochenen  Zwecke  nach  kann 
der  Verfasser  beanspruchen,  daß  vor  allem  auf 
seine  Darstellungsweise  Werth  gelegt  werde. 
Es  kommt  ihm  in  erster  Linie  auf  wirkungsvolle 
Vorführung  der  Momente  an,  welche  entschei- 
dend für  den  Gang  der  Ereignisse  und  damit 
für  die  Entwickelung  der  Volksgeschichte  waren. 

Wir  stehen  davon  ab  zu  zeigen,  wie  er  uns 
das  große  Drama  des  Kampfes  der  Römer  um 
Germanien  entrollt.  Kein  Geschichtsschreiber 
wird  dem  Griffel  des  Caesar  und  Tacitus  neue 
Züge  beifügen  wollen,  er  kann  nur  streben,  den 
Scenen  ihren  vollen  Werth  zu  lassen,  die  diese 
Meister  als  die  ergreifenden  Wendepunkte  em- 

E fanden.  Kaufmann  zeigt  uns  deshalb  mit  le- 
endiger  Anschaulichkeit  Caesar  mit  seinen  zit- 
ternden Römern  dem  Ariovist  gegenüber,  der  in 
seinem  barbarischen  Stolze  an  dem  wiederer- 
weckten Selbstvertrauen  des  Kulturvolkes  su 
Grunde  geht.  Auf  die  Tbaten  Caesars  in  Gal- 
lien folgen  die  Züge  des  Drusus  und  Tiberius 
in  Germanien,  das  Verbalten  des  Varus  und 
der  Freiheitskampf  Armins.  Die  Varusschlacht 
schildert  der  Verfasser  mit  packenden  doch  nir- 
gend pathetischen  Zügen.  Den  Forschungen 
über  die  Oertlichkeit  gegenüber  verhält  er  sich 
sehr  skeptisch.    In  gleich  ruhiger  und  doch  von 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    661 

frischer  Empfindung  durchdrungener  Auffassung 
der  Quellen  werden  die  Kämpfe  des  Germani- 
cu8,  der  Rückzug  des  Gaecina  und  endlich  der 
letzte  Zusammenstoß  mit  Armin  erzählt.  Mit 
voller  Lebendigkeit  spielt  sich  das  Ringen  um 
die  Entscheidung  vor  uns  ab,  in  welchem  alle 
Siege  der  Römer  nur  Rettungen  vor  dem  äußer* 
8ten  Untergange,  alle  Niederlagen  der  Deut- 
schen nur  Zeugnisse  ihrer  Unüberwindlichkeit 
waren.  Diese  Unüberwindlichkeit  besiegelte 
Tiberius  mit  seinem  Entschlüsse,  der  Rhein  solle 
die  Grenze  sein,  und  erkannte  damit  an,  daß 
Armin  in  der  That  der  Befreier  Deutsch- 
lands war. 

Daran  schließt  sich  der  Verlauf  des  batavi- 
schen  Aufstands,  des  Markomannenkrieges  und 
die  alamannische  und  die  gothische  Periode  der 
Völkerwanderung.  Letztere  führt  der  vorliegende 
Band  nur  bis  zu  dem  Abzüge  der  West- 
gothen  fort. 

Wir  glauben  aus  diesem  Gange  der  Dar- 
stellung einige  Episoden  herausgreifen  zu  sollen, 
um  zn  zeigen,  wie  der  Autor  seinen  Stoff  be- 
handelt. Ueberall  tritt  mit  Recht  die  Persön- 
lichkeit, als  der  wahre  Inhalt  der  Geschichts- 
erzählung in  den  Vordergrund. 

Nach  der  Schlacht  bei  Naissus  an  der  Morawa 
269  schrieb  der  Kaiser  Claudius:  „320,000  Go- 
then habe  ich  vernichtet,  auch  ihre  2000  Schiffe 
versenkt,  die  Flüsse  sind  mit  Schildern  bedeckt 
und  das  ganze  Küstenland  mit  Schwertern  und 
Lanzen.  Man  kann  den  Boden  nicht  sehen  vor 
der  Masse  der  Leichen".  Der  Brief  ist  ein  Sie- 
gesbulletin, der  auf  die  Stimmung  wirken  soll. 
Die  Römer  wurden  nicht  übermttthig  durch  den 
Erfolg.  Gerade  in  dem  Jahr  nach  jener  Schlacht 
überließ  Claudius  trefflicher  Nachfolger  den  Ger- 


562  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  16.19. 

then  das   ganze  so   hartnäckig  umstrittene  Ge- 
biet jenseit  der  Donau. 

Es  war  der  gewaltige  Krieger  Aurelian,  der 
sich  dazu  entschloß.  „Hand  am  Schwert"  nanu- 
ten  ihn  die  Soldaten,  als  er  noch  Tribun  war, 
und  erzählten  Wunderdinge  von  seiner  Tapfer- 
keit. Im  Sarmatenkriege  habe  er  an  einem 
Tage  48  Barbaren  mit  eigener  Hand  getödtet, 
im  Ganzen  aber  fiber  950.  Von  den  Soldaten 
kam  die  Kunde  ins  Volk,  und  die  Knaben  san- 
gen davon  ein  Lied  beim  Soldatenspiel: 

Tausend,  Tausend,   Tausend,  Tausend.  Tausend  habe 

ich  erschlagen, 
Ich  allein,  ich  habe  Tausend,  Tausend,  Tausend  Mann 

erschlagen, 
Tausend,  Tausend  Jahr   soll  toben  der,  der  Tausend, 

Tausend  schlug; 
So  viel  Wein  im  Faß  hat  Keiner,  als  der  Eine  Blut 

vergoB. 

So  furchtbar  er  sich  den  Feinden  machte,  so 
streng  hielt  er  die  Soldaten  im  Zaum.  Er  war 
eines  Bauern  Sohn  aus  den  Donaulanden,  hatte 
von  unten  auf  gedient  und  wußte,  was  Notjj  thai 

„Willst  Du  Tribun  sein ,  ja  wenn  Du  über- 
haupt am  Leben  bleiben  willst",  schrieb  er  sei- 
nem Stellvertreter,  „so  halte  die  Soldaten  in 
Zucht.  Niemand  r$ube  auch  nur  einen  Hahn 
oder  ein  Ei,  Niemand  reiße  eine  Traube  vom 
Stock,  oder  zertrete  die  Saat.  Keiner  fordere 
Salz,  Oel  oder  Holz,  Jeder  sei  zufrieden  mit 
seiner  Lieferung.  Von  der  Beute  bereichere 
sich  der  Soldat,  nicht  von  den  Thränen  der 
Bürger.  Die  Waffen  müssen  rein,  das  Eisen 
muß  geputzt,  das  Schuhwerk  stark  sein.  Er 
gehe  reinlich,  verthue  seinen  Sold  nicht  in  der 
Schenke,  sondern  bewahre  ihn  in  seinem  Gttrtd. 
A<?  4rme  gl*ta?e  die  Refte,  pn<l  aw  Finger  der 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    553 

Ring.  Er  striegele  das  Saumthier  and  verkaufe 
das  Futter  nicht  Einer  diene  dem  andern.  Wer 
erkrankt,  soll  von  den  Aerzten  unentgeltlich  be- 
handelt werden;  aber  an  die  Wahrsager  sollen 
sie  ihr  Geld  nicht  wegwerfen.  In  den  Quartie- 
ren halte  sich  jeder  anständig,  und  wer  Streit 
anfängt,  soll  mit  Schlägen  bestraft  werden". 

Fünf  Jahre  kanm,  270—275,  war  Aurelian 
Kaiser;  aber  in  diesen  fiinf  Jahren  hat  er  an 
der  Donan  mit  den  Gothen  gestritten,  am  Po 
mit  den  Atanunen,  in  Gallien  mit  einem  Usur- 
pator, in  Aegypten  einen  Aufetand  gebindigt 
nnd  in  Syrien  die  stolze  Zenobia  besiegt,  ihre 
feste  Stadt  Palmyra  erstürmt  und  die  zahllosen 
Schaaren  der  Araber  und  Perser  zerstreut,  die 
ihr  zu  Hülfe  zogen.  Eben  war  er  von  diesem 
syrischen  Fetdznge  wieder  in  Enropa  angelangt, 
da  kam  die  Nachricht,  daft  die  Palmy  rener  den 
Vertrag  gebrochen  nnd  den  Aufstand  erneuert 
hätten.  Sofort  kehrte  er  um  nnd  strafte  die 
Stadt  mit  furchtbarer  Strenge.  Er  achtete  we- 
der Entfernung  noch  Ermüdung.  Von  einem 
Ende  des  Reiches  eilte  er  zum  andern,  immer 
kämpfend,  strafend,  sichernd  and  in  allen  Käm- 
pfen schließlich  siegreich.  Sein  Triumphing 
zeigte  den  Körnern  die  mit  Gold  nnd  Edelsteinen 
in  zierlichster  Kunst  geschmückten  Hofwagen 
ans  Palmyra  nnd  das  einfache,  von  vier  ge* 
zähmten  Hirschen  gezogene  Gefährt  eines  gothi- 
schen  Königs.  Die  gelehrte  Königin  Zenobia 
ging  in  dem  Zage,  mit  goldenen  Ketten  gefes- 
selt, nnd  zehn  gothische  Weiber,  die  in  Männer- 
traeht  im  Männerkampfe  mitgestritten  hatten. 
Ans  allen  Enden  der  Erde  brachte  er  die  Zeu- 
gen seiner  Siege,  er  war  in  Wirklichkeit  der 
Erneuerer  des  römischen  Reiches.  Und  dieser 
gewaltige  Held  entschloß  sich  dazu,  den  Gothen 


564  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  18. 19. 

das  linke  Donauufer  Preis  zu  geben;  kein  Zwei- 
fel, daß  es  nicht  zu  behaupten  war.  — 

An  die  wildbewegte  Periode  des  Diocletian 
und  Constantin  knüpft  das  dritte  Buch  die 
Schilderung  der  Vorgänge  von  Constantin  bis 
znm  Einbruch  der  Westgothen  und  deren  Schick* 
sale  bis  419. 

Das  vierte  Jahrhundert  ist  die  Zeit  der  Rhe- 
toren  Libanius  und  Themistius,  der  Kaiser  Con- 
stantius  und  Julianus,  der  Theologen  Äthans- 
sins,  Arias  und  der  großen  Cappadocier.  Um 
den  Unterschied  unbegreiflicher  Begriffe  stritt 
anf  den  Straßen  der  Pöbel  mit  dem  Knittel  und 
in  den  Kirchen  stritten  die  Bischöfe  in  zahl- 
losen Concilien ,  Audienzen ,  Gerichtsversamm- 
langen. 

Die  Bbetoren  werden  mit  Fng  zuerst  ge- 
nannt ;  denn  sie  gaben  der  Zeit  den  Charakter. 
Julian  war  der  Rhetor  auf  dem  Throne,  und  der 
Streit  der  Bischöfe  war  eine  Fortsetzung  des 
Streites  der  Rhetoren.  Wohl  lebte  in  dem  kai- 
serlichen Helden  und  in  dem  Stolze  der  Bischöfe 
noch  etwas  anderes;  aber  nie  hätten  sie  diese 
Wege  eingeschlagen,  wären  sie  nicht  von  der 
Rhetorenschule  her  gewohnt  gewesen,  Alles  mit 
ihren  Worten  zu  meistern.  Es  gab  nichts,  das 
man  auf  sich  beruhen  ließ,  das  man  einfach 
anerkannte,  weder  ein  Recht  der  Menschen  oder 
eine  Einrichtung  der  Väter,  noch  ein  Gebeimniß 
des  Herzens.  Mit  allem  spielte  die  kecke  Zange 
oder  die  allmächtige  Hand,  mochte  sie  nun  ge- 
leitet sein  von  ehrlicher  Ueberzengung  oder  von 
Laune  und  Leidenschaft.  Es  stand  nichts  fest. 
Der  Mensch  war  das  Maß  aller  Dinge.  So  ver- 
schieden die  Ziele  sind,  denen  die  Einzelnen 
nachgehen,  darin  erweisen  sie  sich  doch  alle 
als  Kinder  der  Zeit,   und  der  Eindruck  ist  sei- 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    555 

ten  erhebend:   auch   gut  angelegte  Naturen  er- 
scheinen in  widerlicher  Mischung. 

Constantius,  der  Mann  der  Pflicht,  der  am 
schwelgerischen  Hofe  mäßig  lebte,  den  Schlaf 
jederzeit  der  Arbeit  opferte  nnd  selbst  auf  die 
kleinen  Behaglichkeiten  des  Lebens  verzichtete, 
um  der  Würde  seiner  Stellang  nichts  zu  ver- 
geben —  dieser  Mann  der  Pflicht  ward  znm 
scheußlichen  Despoten.  Er  mordete  seine  Ver- 
wandten nnd  jeden  Andern,  der  seinen  Verdacht 
erregte,  nnd  knechtete  die  Gewissen  auf  die  un- 
erhörteste Weise.  Er  wollte  das  Beste  der 
Kirche,  der  Streit  sollte  aufhören,  die  Wahrheit 
an  den  Tag  kommen,  aber  er  endete  mit  will- 
kürlicher Anordnung.  Grade  je  schroffer  er 
auftrat,  je  mehr  ward  er  zum  Werkzeuge  An- 
derer und  erntete  nur  den  Spott,  daß  er  die 
kaiserliche  Post  ruiniert  habe  durch  die  ewigen 
Reisen  der  Bischöfe  von  einem  Concilium  zum 
andern. 

Sein  Nachfolger  Julian,  360  bis  Juni  363, 
war  in  der  ganzen  Erscheinung  das  Gegentheil 
von  ihm.  Constantius  ging  glatt  rasiert,  Julian 
mit  langem,  struppigem  Bart.  Jener  war  steif, 
dieser  voll  Lebhaftigkeit,  jener  ängstlich  seiner 
Würde  etwas  zu  vergeben,  dieser  setzte  sie  ab- 
sichtlich hintenan.  Constantius  verachtete  das 
Urtbeil  des  Volkes,  Julian  haschte  nach  Popula- 
rität. Constantius  war  ein  mittelmäßig  begabter 
Mann,  der  aber  in  seiner  Bildung  fertig  war, 
Julian  eine  geniale  Natur,  aber  voll  jugendli- 
cher Unruhe  und  kleinlicher  Schwäche.  Con- 
stantius endlich  war  eifriger  Christ  und  Julian 
ein  eifriger  Heide  —  Trotzdem  zeigte  gerade 
ihre  Stellung  zur  Religion  eine  auffallende  Aehn- 
lichkeit,  und  bei  dem  sonstigen  Gegensatz  der 
Personen  tritt  darin  die  Gewalt  der  die  Zeit  be- 


556  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  18. 19. 

herrschenden  Richtung  um  so  stärker  hervor. 
Beide  hatten  ein  starkes  religiöses  Bedürfnis, 
and  beide  glaubten  berufen  zn  sein,  die  religiöse 
Wahrheit  durch  ihren  Willen  festzustellen:  nur 
daß  Gonstantius  an  den  christlichen  Dogmen 
berumformte  und  Julian  an  den  heidnischen  My- 
then. Dem 'einen  wie  dem  andern  fehlte  die 
ruhige  Ergebung ,  die  einfache  Frömmigkeit 
Die  Religion  war  ihnen  nichts  Gegebenes,  son- 
dern sie  suchten  darnach,  Gonstantius  auf  den 
neugebahnten  Wegen,  Julian  in  den  verfallenen 
Schachten,  aus  denen  die  Alten  einst  Gold  ge- 
wonnen hatten. 

Julian  war  nieht  blos  der  Begabtere,  er  war 
auch  der  Empfänglichere;  in  ihm  spiegeh  sich 
die  Zeit  deutlicher.  Sechs  Jahr  war  Julian  alt, 
als  Constantin  starb  und  wenige  Monate  später, 
im  September  337,  die  drei  Söhne  das  Testa- 
ment ihres  Vaters  umstießen  und  alle  ihre  männ- 
lichen Verwandten  ermorden  ließen,  um  allein 
zu  herrschen.  Von  der  großen  Familie  blieben 
nur  zwei  Knaben,  Julian  und  sein  zwölfjähriger 
Bruder  Gallus,  am  Leben.  Aber  ihr  Dasein  war 
trostlos  und  beständig  bedroht  von  dem  Miß- 
trauen ihres  Vetters  Gonstanttns.  Gallus  ward 
auch  wirklich  getödtet  und  Julian  entging  dem 
Tode  nur  durch  die  Fürbitte  der  Kaiserin. 
Seine  Erziehung  war  in  der  Hand  der  Hoftbeo- 
logen.  Sie  zwangen  den  Knaben,  ascetisehe 
Uebungen  mitzumaehen,  die  befohlenen  Formeln 
nachzubeten  und  die  verfluchten  zu  verfluchen. 
Deren  waren  gar  viele.  Die  Synode  von  An- 
cyra  (358)  hat  allein  achtzehn  verschiedene  An- 
sichten über  das  Verhältniß  von  Gott  Vater  und 
Gott  Sohn  verflucht,  und  das  waren  noch 
nicht  alle. 

Julian  kannte  den    Hof  und  die  Hoftbeolo 


0.  Kaufman»,  Dtatsol*  Qescbichte  bi»  apf  Karl  d.  Gr.    5*7 

gen;  er  sah,  wie  oft  die  Begeisterung  für  die 
Wahrheit  nur  Geschäft,  wie  der  feierliche  Ernst 
nur  Maske  war.  Zorn  Spötter  gebore«,  mußte 
er  die  Schwächen  der  verhaßten  Peiniger  durch- 
schauen und  maßte  sich  ihnen  dennoch  gehorsam 
beugen.  Das  Cbristentbnm  zeigte  sich  ihm  Ton 
der  verächtlichsten  Seite.  Im  Gegensatz  dazu 
erschienen  ihm  die  hohen  Alten  im  idealen 
Lichte  nnd  mit  schwärmerischer  Begeisterung 
wandte  er  sich  ihnen  au.  In  dieser  Stimmung 
ward  ihm  gestattet,  in  Athen  zu  studieren,  wo 
damals  der  Neuptatoniker  Maximns,  der  die  My* 
then  der  Alten  und  ihre  philosophischen  Ideen 
an  einer  Art  Religion  vermengte,  der  berühm- 
teste Lehrer  war.  Sein  Einfluß  war  um  so  gfö- 
ßery  weil  er  zugleich  als  Prophet  erschien.  Sein 
Geist  ward  bewundert  und  sein  Gebet  verehrt; 
man  zweifelte  nicht,  daß  er  auch  Wunder  thun 
könne.  Julian  ward  sein  Schüler.  Er  fastete 
nnd  betete,  ließ  den  Bart  wachsen,  ging  im 
schmutzigen  Philosophenmantel  und  verachtete 
die  Schätze  und  die  Freuden  dieser  Welt  Da 
rief  ihn  ein  Befehl  des  Constantius  nach  Mai» 
land.  Er  ward  rasiert,  in  den  Purpur  gesteckt 
and  den  Soldaten  als  Cäsar  vorgestellt,  als  der 
Gehülfe  und  einstige  Nachfolger  des  Kaisers. 

Die  Schilderung  Julians  nach  Bestrebungen 
nnd  Eigentümlichkeiten  ist  vortrefflich. 

Von  einem  geistreichen  Manne  ist  Julian  der 
Romantiker  auf  dem  Throne  der  Gaesaren  ge- 
nannt worden,  allein  trotz  des  sonderbaren  nnd 
haltlosen  Gemenges,  aus  dem  seine  Religion  be» 
stand,  war  er  doch  selbst  auf  religiösem  Ge- 
biete nicht  blos  ein  romantischer  Träumer,  Er 
war  zugleich  der  Mund,  durch  den  das  Heiden- 
thtun  noch  einmal  zu  Worte  kam,  ehe  es  unter- 
lag.    Was    in   dieser  Beziehung  nach  ihmgc* 


55«  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stftck  18. 19. 

schab  von  Dichtern  and  Philosophen,  waren  nur 
Seufzer;  er  führte  dagegen  noch  einen  wirkli- 
chen Kampf  mit  dem  siegenden  Christentum, 
und  trotz  der  verfehlten  Streitschriften  einen 
sehr  geschickten  Kampf.  Er  hütete  sich,  eine 
Verfolgung  zu  beginnen  und  Märtyrer  zu  schaf- 
fen, obgleich  die  Christen  ihn  auf  das  Heftigste 
reizten.  Selbst  den  Bischof  Markus  verbot  er 
hinzurichten,  der  einen  prächtigen  Tempel  zer- 
stört hatte  und  so  dem  bürgerlichen  Gesetze 
verfallen  war.  Er  wollte  es  den  Christen  über- 
lassen, sich  selbst  zu  vernichten :  er  kannte  den 
fanatischen  Haß  ihrer  Parteien. 

So  gewährte  er  denn  Religionsfreiheit.  Die 
um  ihres  Glaubens  willen  Verbannten  durften 
zurückkehren,  und  das  gab  den  kirchlichen 
Kämpfen  eine  neue  Wendung  und  zugleich 
neue  Nahrung.  In  Afrika  kehrten  die  Donati- 
sten,  im  Orient  kehrten  die  Orthodoxen  zurück 
und  nahmen  die  Kirchen  wieder  ein,  die  ihnen 
einige  Jahr  zuvor  entrissen  waren.  Die  Gegner 
wehrten  sich  und  erhoben  ein  lautes  Wehge- 
schrei: „Schämt  ihr  euch  nicht,  demjenigen  die 
Freiheit  zu  verdanken,  der  Christum  haßt?" 
Mit  Behagen  sah  Julian  diesem  Treiben  zu,  und 
noch  größere  Genugthuung  gewährte  ihm  ein 
Sühneversuch.  Er  versammelte  die  Häupter  der 
verschiedenen  Sekten  in  seinem  Palaste  und  er- 
mahnte sie,  sich  gegenseitig  zu  dulden.  Er 
habe  ihnen  ja  das  Beispiel  der  Toleranz  ge- 
geben. Aber  da  begann  ein  wilder  Wortkampf : 
die  einen  verfluchten  die  andern.  Julian  wollte 
die  Buhe  wieder  herstellen  und  donnerte  sie 
an:  .Hört  mich,  die  Franken  und  die  Alaman- 
nen  haben  mich  gehöret".  Allein  die  Bischöfe 
tobten  wilder  als  die  Barbaren  und  höreten  ihn 
nicht 


Q.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    569 

Gerechter  Spott  liegt  in  dem  Gesetze,  durch 
welches  er  den  Christen  die  Stellen  von  She« 
toren  und  Grammatikern  zu  bekleiden  verbot. 
Nach  der  Lehre  der  heiligen  Eiferer  gehörte 
das  Heidenthum  den  bösen  Geistern,  waren 
streng  genommen  auch  Homer  und  Sophokles 
Diener  des  Teufels :  die  Frommen  mußten  also 
eigentlich  dem  Julian  dankbar  sein/  daft  er  den 
Christen  verbot,  aus  ihrer  Erläuterung  einen 
Lebensberuf  zu  machen.  Aber  die  Kirche  konnte 
auch  wieder  die  Bildung  nicht  entbehren,  die 
bis  dahin  allein  in  den  Rhetorenschulen  zu  ge- 
winnen war.  Sie  hätten  ohne  das  alle  Fühlung 
verloren  mit  den  höheren  Schichten  der  Gesell- 
schaft. Das  Edict  war  völlig  berechtigt,  trug 
durchaus  nicht  den  Charakter  einer  Verfolgung 
der  Christen  und  war  doch  sehr  wirksam  ge- 
gen sie. 

Julian  war  in  mancher  Beziehung  nicht  zum 
Regenten  geschaffen;  er  war  von  Hause  aus 
eine  zu  weiche  und  reizbare  Natur,  und  konnte 
seine  Gefühle  oft  nur  schwer  beherrschen.  Bei 
der  Ankunft  seines  verehrten  Lehrers  Maximus 
sprang  er  in  voller  Gerichtssitzung  von  seinem 
Sitze  auf  und  küßte  ihn.  Gregor  von  Nazianz 
verhöhnte  ihn,  daß  er  Nachts  aufgestanden  sei, 
um  ein  Urtheil  umzustoßen,  das  er  am  Tage 
vorher  gefällt  hatte.  Man  darf  daraus  nicht 
schließen,  daß  es  Julian  an  der  nöthigen  Ent- 
schlossenheit gefehlt  habe,  dem  Gesetze  seinen 
Lauf  zu  lassen ;  Ammian,  der  seinen  Liebling 
scharf  controliert  und  manches  an  ihm  sogar 
ohne  Grund  tadelt,  lobt  gerade  die  Rechtspflege 
Julians.  Liegt  der  Erzählung  Gregors  überhaupt 
irgend  ein  Vorgang  zu  Grunde,  so  war  er  sicher 
der  Art,  daß  Gregor  ihn  bei  einem  orthodoxen 
Kaiser  zum  Beweise  der  unermüdlichen  Sorgfalt 


560  Gott.  *»!.  Ahm.  1*81.  Stttofc  10. 19, 

benutzt  und  den  Fürsten  mit  allen  Blumen  über- 
schattet haben  würde,  welche  ihm  die  olasw- 
gehen  Autoren  und  die  Sprache  der  Bibel  za 
liefern  vermochtet». 

„Diese  ängstliche  Sorgfeit  nnd  reizbare  Em- 
pfänglichkeit mußten  dem  jungen  Kaiser  viel- 
fach schwere  Kämpfe  bereiten;  aber  nnr  nm  so 
höher  ist  es 'anzuschlagen,  daß  er  sieh  in  allem 
Wesentlichen-  fest  zeigte.    Er  schenkte  gern,  ms 
Gutherzigkeit   wie   ans  Eitelkeit;   aber  er  war 
doch  sparsam  mit  Steaernachlässen.  Er  bestand 
darauf,  daft  geleistet  werde,  was  vorgeschrieben 
sei;  nur  die  Bedrückung  suchte  er  zu  hemmen, 
die  übermäßigen  Forderungen  setzte  er  herab. 
Eine  sparsame  Verwaltung  sollte  den  Ausfall 
decken,  und  bei  dem  Throne  selbst  anfangend 
säuberte  er  den  Hof  von  einem  endlosen  Beam 
tentrosse.    Auf  diesem  Gebiete  verdient  er  nn 
getheilte  Bewunderung.    Die  Grundsteuer  Gal 
liens  setzte  er  von  25  auf  7  vom  Tausend  herab 
nnd  mit  diesen  beschränkten  Mitteln  führte  er 
seine   glänzenden  Feldzüge   und   reorganisierte 
die  Verwaltung  der  lange  Jahre  von  den  Fein- 
den zerrissenen  Provinz.     Aehnlicb   verfuhr  er 
im   übrigen   Reiche.     Noch   größer  war  er  als 
Feldherr.    Der  kühnste  Entschluß  war  ihm  reebt, 
und  nie  war  er  verlegen  am  das,  was  zunächst 
zu  thun   sei.     Auch  hier  waren  die  gelehrten 
Erinnerungen  an  Alexander  und  an  Cäsar  nicht 
ohne  Einfluß  auf  ihn,  auch  hier  war  er  nicht 
frei  von  Eitelkeit;   aber  er  war  der  Held,  der 
sein   Heer   begeisterte   und  von  Sieg  zu   Sieg 
führte.     Zwar  sein  letzter  Feldzug  mißglückte, 
über  der  schmähliche;  Friede,  der  nach  seineitf 
Tode  mit  den  Persern  geschlossen  ward,  fällt 
ihm  nicht  zur  Last:  er  würde  aliens  Anseheine 
naeb  das  Heer  ohne  wesentlichen  Verlust  zurück- 
geführt haben. 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    561 

Er  starb  auf  der  Höbe  seines  Ruhmes ;  nicht 
dieRhetoren  weinten  ihm  nach  —  die  wil- 
den Bataver  zerrissen  den  Boten,  der  ihnen  sei- 
nen Tod  meldete. 

Die  Charakteristik  geht  noch  in  viele  ein- 
zelne Züge  ein,  and  schließt  endlich  mit  der  er- 
greifenden Schilderung  des  Heldentodes  des 
Kaisers.  — 

Aehnlich  scharf  eindringende  Darstellungen 
werden  von  den  Männern  gegeben,  welche  da- 
mals für  die  Entwickelung  der  christlichen 
Kirche  entscheidend  wurden.  Ambrosius,  Arius, 
Augustin,  Martinus,  Gregor  von  Nyssa,  Hierony- 
mu8,  Gregor  von  Nazianz,  Basilius  werden  mit 
oft  nur  wenigen  aber  klaren  und  entscheiden- 
den Strichen  gezeichnet.  So  charakterisiert  eine 
Erzählung  die  letzteren  beiden. 

Beim  Tode  seines  Bischofs  370  war  Basilius 
Presbyter  und  trachtete  danach,  das  Bisthum 
zu  gewinnen,  denn  Caesarea  war  damals  einer 
der  wichtigsten  Sitze  des  Orients.  Er  hatte 
großen  Anhang,  aber  auch  viele  Gegner,  und 
wünschte  für  den  Wahlkampf  den  Rath  und 
Beistand  seines  Freundes  Gregor  von  Nazianz. 
Aber  dergleichen  Agitationen  waren  nicht  nur 
regelmäßig  sehr  ärgerlich  und  aufregend,  son- 
dern auch  für  den  Ruf  eines  angehenden  Heili- 
gen bedenklich.  Basilius  kannte  Gregor  genau 
genug,  um  zu  wissen,  daß  er  nicht  kommen 
werde,  wenn  er  ihm  schreibe,  um  was  es  sich 
handele ;  und  so  schrieb  er  ihm,  er  sei  todtkrank 
und  bitte  ihn  zu  kommen,  damit  er  ihn  vor  sei- 
nem Ende  noch  einmal  sehe.  Gregor  rüstete 
sich  in  seiner  Sorge  alsbald  zur  Reise  und 
überlegte  schon  alle  möglichen  Themata  und 
schöne  Wendungen  für  die  Leichenrede;  da 
hörte  er,  der  Bischof  von  Cäsarea  sei  todt,  und 

36 


562  0**t,  gel.  Adz.  1881.  Stück  18. 1ft, 

die  Bischöfe  der  Provinz  strömten  nach  Cäsarea 
zur  WahL  Alsbald  durchschaute  er  die  Intrigue 
des  „heiligen"  Basilius,  blieb  zu  Hause  und 
schrieb  ihm  einen  strafenden  Brief.  Nichte 
des  to  weniger  unterstützte  er  mit  seinem  Vater 
zusammen  die  Partei  des  Basiliua  auf  das  Kräf- 
tigste, und  sein  Vater  reiste  zuletzt  trotz 
Schwäche  und  Krankheit  noch  selbst  nach  C&- 
sarea»  die  Wahl  zu  entscheiden, 

Der  Vorgang  bat  ein  doppeltes  Interests. 
Einmal  muß  der  heilige  Basiliua  dergleichen 
Feinheiten  schon  öfter  begangen  haben,  da  ihn 
Gregor  gleich  durchschaute,  sobald  er  nur  tob 
der  Wahl  borte»  und  sodann :  der  heilige  Gregor 
bat  die  Wahrhaftigkeit  nicht  als  eine  unent- 
behrliche Eigenschaft  für  einen  Bischof  ange- 
sehen. 

Uebrigeus  ^ar  Gregorys  Spürsinn  auch  noch 
durch  eine,  besondere  Beimischung  verschärft, 
dutch  eine  Regung  von  Rivalität,  die  freilich 
sehr  natürlich  war.  Basiliua  und  Gregor  waren 
Jugendfreunde  und  Studiengenossen,  hatten  sich 
beide  vor  den  übrigen  durch  hervorragende  Be- 
gabung ausgezeichnet  und  suchten  nun  auf  dem- 
selben Felde  und  mit  denselben  Mitteln,  durch 
Beredsamkeit  und  Heiligkeit,  zu  wirken  und  zu 
glftnzen.  So  waren  sie  trotz  aller  Freundschaft 
zugleich  Rivalen  und  Gregor  hielt  es  für  eine 
starke  Zumuthung,  daß  er  ohne  Weiteres,  sich 
selbst  von  der  Wahl  ausschließen  und.  für  Basir 
lin&  wirken  sollte.  „Du  hättest  auch  bedenken 
müssen,  daß  wir  in  allem  gleich  sind  und  die- 
selben Ansprüche  haben",  schreibt  er  ihm  in 
jenem  Strafbriefe.  Die  Entrüstung  über  die 
Unwahrheit  konnte  dieses  persönliche  Interesse 
nicht  zurückdrängen. 

Indeft  sah   Gregor  doch   ein,   daß  hier  die 


G.  Kaufman»,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    563 

Verhältnisse  für  Basilhis  ungleich  günstiger  la- 
gen, und  daß  er  nicht  in  Frage  komme,  und  da 
auch  sein  Vater  energisch  für  Basilius  war,  so 
wurde  jene  Regung  überwanden,  aber  nur,  um 
kurz  darauf  um  so  leidenschaftlicher  hervorzu- 
b  rechen. 

Basilius  ward  zum  kirchlichen  Haupt  der 
ganzen  Provinz  erwählt;  Gregor  aber  blieb  „der 
interessante  junge  Mann"  von  großer  Begabang, 
der  jedoch  trotz  seiner  40  Jahre  ohne  Amt  and 
Würde  in  seines  alten  Vaters  Hanse  saß*  und 
ihn  hier  und  da  in  seinen  bischöflichen  Func- 
tionen vertrat.  Der  Vater  forderte,  er  sollte 
ein  kirchliches  Amt  übernehmen,  und  mit  ihm 
drängte  Basilius  als  Freund  und  als  Gebieter. 
Gregor  mußte  nachgeben,  und  da  weibete  ihn 
Basilius  zum  Chorbisehof  von  Sasima  372.  Gre- 
gor kam  hin  und  war  außer  sich,  als  er  das 
Nest  sab,  in  welchem  seine  glänzenden  Gaben 
vergraben  werden  sollten.  Noch  viele  Jahre 
später,  da  er  vor  der  auserlesenen  Gesellschaft 
der  Hauptstadt  die  Triumphe  erlebt  hatte,  nach 
denen  seine  Seele  dürstete,  begann  ihm  das 
Blut  zu  wallen,  als  er  in  dem  Gedichte  „lieber 
sein  Leben44  an  diesen  Abschnitt  kata* 

„Das  ist  keine  Stadt,  das  ist  nur  eine  große 
Poststation.  Kein  Freigeborener  hält  siob  hier* 
auf  in  diesem  Staub  und  diesem  Wagengerassel. 
Keinerlei  Anregung  ist  hier  für  einen  gebilde- 
ten Menschen;  hier  giebt  es  nur  Postkneefete 
und  Steoerexecutoren,  nur  Peitschenhiebe  und! 
Jammergeschrei.  Hat  mich  dazu  Athen  erzogen, 
um  hier  den  Staubwolken  zu  predigen  und  dem 
verständnislosen  Pöbel?  Fünfzig  Chorbisehöfe 
hast  Du  zu  ernennen,  und  da  stiebst  Der  mir 
ein  seiches  Loch  aus!  Wir  sind  in  unserem 
Bildungsgang  und  in  unseren  Leistungen  immer 

36* 


664  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18. 19. 

gleich  gewesen,  und  früher  wenigstens  hast  Da 
Dich  auch  nie  zu  überheben  gewagt;  hättest 
Du  es  aber  gewagt,  so  wärest  Du  von  jedem 
Unparteiischen  zurückgewiesen  worden".  Das 
sind  die  Gedanken,  welche  das  spätere  Gedicht 
wie  die  gleichzeitigen  Briefe  Gregors  erfüllen. 
Es  erschien  ihm  als  eine  Verrätherei,  als  eine 
Böswilligkeit  des  falschen  Freundes,  der  den 
Rivalen  aus  der  Welt  schaffen  wollte. 

Gregor  ertrug  dies  nicht  lange;  er  empfand 
plötzlich  ein  unwiderstehliches  Verlangen,  fern 
von  der  Welt  in  mönchischer  Uebung  zu  leben, 
und  verließ  den  verwünschten  Ort.  Basilius  be- 
zeichnete dies  als  Verrath  an  Glauben  und 
Kirche;  er  wußte  ganz  genau,  daß  diese  Sehn- 
sucht nach  der  Einsamkeit  nur  verletzte  Eitel- 
keit war.  Gregor  antwortete  im  Tone  der  be- 
leidigten Unschuld,  und  dabei  bemerkt  man  in 
jeder  Zeile,  wie  unerträglich  es  ihm  war,  den 
alten  Jugendfreund  und  Studiengenossen  als 
Vorgesetzten  auftreten  zu  sehen.  „Wie  ausge- 
lassen und  wild  geberdest  Du  Dich  in  Deinem 
Briefe  gleich  einem  jungen  Füllen!  Doch  frei- 
lich, es  ist  nicht  zu  verwundern.  Du  bist  ja 
kürzlich   zu    hohen  Ehren   gekommen  und  nnn 

spreizest  Du  Dich  auf  Deinem  Throne 

Ich  soll  den  Glauben  und  die  Kirche  schädigen 
durch  mein  Verhalten?  Ich  trage  still  die  mir 
widerfahrene  Beleidigung,  und  wenn  Alle  mei- 
nem Beispiele  folgen  würden,  dann  würde  der 
Glaube  nicht  geschädigt  durch  diesen  Streit; 
allein  es  ist  ja  gewöhnlich,  daß  der  Glaube 
mißbraucht  wird  als  Waffe  in  Privathändeln".  — 

Auch  die  Charakteristik  des  Ulfila  glauben 
wir  wiedergeben  zu  sollen. 

Ulfila  ist  im  Gothenlande  geboren,  ist  mit 
der  gotbischen  Jugend  aufgewachsen  unter  Zel- 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    665 

ten  und  Wagen,  bei  Jagd  und  Krieg  and  halb- 
nomadischem  Leben.  Seinen  Ohren  and  Augen 
blieben  die  Sorge  and  die  Klage  über  den  Druck 
der  Steuer  and  die  ungerechten  Gerichte  der 
Statthalter  fern.  Die  Männer  und  Jünglinge, 
zu  denen  der  Knabe  hinaufsah,  drückten  sich 
und  bückten  sich  nicht  um  Würden  und  Ehren; 
sie  lebten  lässig  dahin,  nahmen  den  Tag  wie 
er  kam,  waren  rauh  und  roh,  aber  stark  und 
stolz.  Vor  allem,  er  blieb  frei  von  dem  Oden 
Treiben  und  kleinlichen  Wesen  der  Rhetoren- 
schulen;  denn  dergleichen  gab  es  nicht  im  Go- 
thenlande. 

Ulfila  war  trotzdem  später  ein  gelehrter 
Mann,  gelehrter  als  die  meisten  Römer.  In 
drei  Sprachen  hat  er  zahlreiche  Abhandlungen 
geschrieben,  griechisch,  gothisch  und  lateinisch, 
während  die  römischen  Gelehrten  meist  nur  die 
eigene  Sprache  verstanden,  selten  zwei.  Grie- 
chisch und  gothisch  redete  Ulfila  als  Mutter- 
sprachen und  seine  sonstige  Bildung  wird  er 
einem  Priester  danken,  der  ihn  als  seinen  künf- 
tigen Gehülfen  erzog,  sowie  er  später  den 
Auxentius.  Dieser  Unterricht  war  naturgemäß 
überwiegend  kirchlich.  Versprengte  Gemeinden 
sind  immer  sorgsam  in  der  Pflege  ihres  Glau- 
bens, und  die  Gappadocier  genossen  damals 
zwar  Glaubensfreiheit  bei  den  Gothen,  aber  sie 
bildeten  doch  eine  Diaspora  unter  den  Heiden 
und  werden  auch  den  stärkenden  Einfluß  sol- 
cher Notblage  nicht  entbehrt  haben. 

Die  Eltern  und  Lehrer  des  Ulfila  zählten  zu 
den  Arianem;  denn  Ulfila  sagt  in  seinem  Te- 
stament ausdrücklich,  er  sei  stets  Arianer  ge- 
wesen, und  zur  Zeit  des  Goncils  von  Nicäa  war 
er  noch  zu  jung,  um  sich  selbständig  zu  ent- 
scheiden.    Sein   Arianismu8    beweist    für   den 


£66  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  1&  19. 

Arianismus  derjenigen,  welche  ihn  erzogen. 
Vielleicht  zerriß  auch  der  Streit  seine  Familie; 
vielleicht  erfahr  er  schon  als  Knabe  die  ganze 
Bitterkeit  des  Kampfes,  der  ihn  bis  an  seinen 
Tod  begleitet  hat ;  doch  wie  dem  auch  sei,  so 
viel  bleibt  gewiß,  daß  er  in  arianischer  Lehre 
erwachsen  ist. 

Die  Ootben  hatten  mit  dem  Kaiser  Licinius 
gegen  Constantin  gekämpft  und  schwere  Nieder- 
lagen erlitten;  dann  machten  sie  Frieden  mit 
ihm  und  traten  als  Foederate  in  sein  Heer.  In 
diesen  Angelegenheiten  gingen  mehrfach  gothi- 
sche  Gesandte  an  den  Hof,  und  einer  solchen 
Gesandtschaft,  etwa  nm  330,  ward  auch  der 
junge  Ulfila  beigegeben,  der  als  Dolmetscher 
dienen  konnte.  So  trat  er  früh  in  unmittelbare 
Berührung  mit  der  römischen  Welt  und  ohne 
Zweifel  vor  allem  mit  den  Häuptern  des  Aria- 
nismus,  denen  er  Kunde  brachte  von  der  klei- 
nen Kirche  im  Gothenlande.  Diese  Verbindung 
ist  dann  immer  enger  geworden.  Als  Jüngling 
trat  er  schon  in  den  Dienst  der  Kirche  und 
ward  Lector,  wahrscheinlich  bei  einer  ariani» 
sehen  Gemeinde  seiner  Heimath.  In  dieser 
Eigenschaft  begab  er  sich  341  nach  Antiochien 
und  ward  hier  auf  einer  Versammlung  der  Aria* 
ner  von  Eusebiue  von  Nikomedien  zum  Bischof 
geweiht.  Er  war  damals  dreißig  Jahre  alt.  Ab 
£)iöceae  ward  ihm  das  Volk  der  Gothen  be- 
stimmt. 

Es  war  eine  Mission,  ein  Apostolat,  nicht 
die  Bestellung  für  einen  fertigen  Sitz;  nur  we- 
nige Gothen  waren  bis  dahin  bekehrt;  die  Ge- 
meinde sollte  er  erst  schaffen,  die  Kirehe  erst 
gründen.  Aber  die  Predigt  der  Cappadocier 
und  die  der  Audianer  hatten  ihm  vorgearbeitet, 
so  feindlich  sie  ihm  waren.     Er  kam  zur  Zeit 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    86T 

der  Ernte,  and  er  kam  als  der  rechte  Mann, 
ä^ine  Erfolge  waren  bo  groß,  daß  sie  den  Zorn 
de*  Goifcenfürsten  erregten.  Ble  batten  das 
Christentum  geduldet,  so  lange  nichts  von  ihm 
zn  fürchten  war.  Aber  Ulfila  gewann  Taugende, 
nnd  er  lehrte  sie  nicht  nur,  er  wandelte  auch 
ihr  Leben.  Ruhm  nnd  Sieg  nannte  er  eitle 
Dinge.  Von  dem  Kampfe  mit  den  Feinden 
wies  er  sie  anf  den  Kampf  mit  den  unsicht- 
baren Mächten,  von  der  römischen  Beute  auf 
das  ewige  Leben.  Und  er  sagte  dais  alias  so, 
daß  es  Eindrück  machte.  ^Die  Gothen  hingen 
an  seinem  Worte,  sie  thaten  alleä,  w&fe  vi  sagte, 
sie  konnten  nicht  denken,  daß  etwas  fturecht 
sei,  was  er  empfahl".  80  schildern  ihh  seine 
orthodoxen  Gegner,  nnd  seine  Freunde  vergbt* 
terten  ihn.  Der  Kaiser  Gonstantins  fiahhte  ihh 
den  Moses  seiner  Zeit. 

Aber  was  sollte  werden,  wenn  er  die  Mas§6 
des  Volkös  gewann  ?  Wo  blieb  die  kriegerische 
Kraft  des  Stammes?  Wie  weit  dergleichen  all- 
gemeinfe  Erwägungen,  wie  weit  der  persönliche 
Gegensatz  eines  hervorragenden  Ftthrert  die 
Entscheidung  gab,  läßt  öich  nibht  nntertnctrtftt; 
wir  sehen  nur,  daß  die  Aühähger  Ulfilafc  Hb 
341—48  von  gothisehen  Häuptlingen  verfolgt 
warden.  Ulfila  selbst  bestand  tausend  Gefabren, 
nnd  viele  seiner  Gothen  starben  für  den  Glad  be  11. 

Sieben  Jahre  hielt  Ulfila  ans;  dann  flog  4r 
348  über  die  Donau,  wo  ihm  der  Kaiser  Cöfl- 
afcantins  die  Berglandschiften  Mösiens  angele- 
sen hatte,  die  Thäler  nnd  Hügel  nid  HikopAlift 
nnd  Flewna.  So  ward  die  Gemeinde  äü  eniem 
Staat.  Ulfila  war  ihr  Bischof  nnd  ihr  Fürst  tb- 
gleich.  Sie  traten  Unterthanen  Rom«,  t&gi&rtm 
sich  aber  Selbst  nnd  lebten  nach  ihren  SHten 
nnd  Gesetzen.    Viehzucht  war  ihr  Geschäft,  tfflfl 


568  .  Gott,  gel.  Anz.  1881.  Stück  18;  19. 

die  Religion  beherrschte  ihre  Gedanken.  Das 
kriegerische  Leben  war  abgethan,  und  nicht 
bloß  solange  Ulfila  lebte.  Noch  nm  die  Mitte 
des  sechsten  Jahrhunderts,  also,  nach  200  Jah- 
ren, saßen  sie  in  ihren  Bergen  als  ein  friedli- 
ches Hirtenvolk.  Still  lebten  sie,  während  West- 
gothen,  Ostgothen  und  andere  verwandte  Stämme 
in  furchtbaren  Haufen  an  ihnen  vorbeizogen,  die 
Halbinsel  beherrschten,  und  unermeßliche  Beute 
machten. 

Diese  Umwandlung  des  kriegerischen  Vol- 
kes ist  ein  redendes  Zeugniß  für  die  Macht  der 
Persönlichkeit  Ulfila's,  aber  auch  ein  Beweis  für 
die  Noth wendigkeit  seiner  Vertreibung  aus  dem 
Gotbenland.  Das  Volk  hätte  sich  selbst  auf- 
geben müssen,  wenn  es  Ulfila  folgen  wollte, 
Dreiunddreißig  Jahre  hat  er  in  Mösien  regiert 
und  gepredigt.  Es  war  die  glücklichste  Zeit 
des  Arianismus. 

Ulfila  starb  gerade  als  die  Verfolgung  be- 
gann. Theodosius  hatte  den  arianischen  Bischof 
von  Gonstantinopel  bereits  abgesetzt,  aber  ge- 
gen den  alten  Gothenbischof  verfuhr  er  nocb 
rücksichtsvoll.  Politische  und  persönliche  Gründe 
forderten  dies.  Im  December  380  entbot  er  ihn 
mit  einigen  anderen  Bischöfen  nach  Gonstanti- 
nopel, um  die  Secte  des  „Zuckerbäckers"  zu 
beruhigen,  welcher  eine  neue  Distinction  in  dem 
Dogma  vom  Wesen  des  Sohnes  aufgebracht 
hatte  und  viele  Anhänger  unter  den  Gothen 
zählte.  Aber  wenige  Tage  nach  seiner  Ankunft 
in  Gonstantinopel  erkrankte  Ulfila  und  starb.— 

Die  Schilderung  führt  dann  zum  Einfall  der 
Hunnep  und  der  Erscheinung  des  Attila,  dem 
der  Verfasser  nicht  weniger  gerecht  wird. 

Er  war  der  gewaltigste  unter  allen  Kriegs 
fürjsten  der  Völkerwanderung,  und  er  hat  nichts 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    569 

gegründet ,  das  Dauer  hatte,  oder  als  Aussaat 
für  die  Zukunft  gelten  könnte.  Sein  Thun  war 
Zerstörung.  In  ibm  gipfelten  die  Fluthen  der 
Barbarei,  welche  sieb  verwüstend  über  die  alte 
Cnlturwelt  ergossen. 

Aber  auch  nur  in  diesem  Hauptpunkte  hat 
die  gemeine  Vorstellung  Recht.  Den  Schmutz 
und  die  Gemeinheit  des  alten  Hunnen  hatte 
Attila  abgelegt.  Nur  der  Typus  der  Race,  der 
große  Kopf  mit  den  kleinen  Augen,  die  aufge- 
stülpte Nase  und  der  dünne  Bart  verriethen 
seine  Herkunft.  Im  Auftreten  bewahrte  er 
große  Würde  und  hielt  auf  ehrfurcbsvolle  Eti- 
kette. Beim  Einzug  in  das  Dorf,  wo  er  resi- 
dierte, empfingen  ihn  lange  Reihen  von  jungen 
Mädchen,  die  unter  zeltartig  ausgespannten 
Leintüchern  einherschritten,  mit  feierlichen  Ge- 
sängen. Er  wohnte  in  einem  sorgfältig  gebau- 
ten Hause ;  bei  Tafel  war  sein  Sitz  erhöht ;  sein 
Sohn,  der  neben  ihm  saß,  wagte  nicht,  zu  ihm 
aufzuschauen.  Nach  jedem  Gange  mußten  sich 
die  Gäste  erheben  und  einen  Becher  auf  das 
Wohl  des  Königs  leeren.  Bei  alledem  verfiel  er 
doch  nicht  in  Prunksucht,  sondern  blieb  einfach 
und  mäßig.  Nicht  einmal  an  seinen  Waffen 
und  seinem  Sattelzeuge  duldete  er  einen  Zier- 
rath  von  edlen  Steinen,  wie  ihn  die  anderen 
Häuptlinge  der  Hunnen  gern  trugen.  Bei  Tafel 
ließ  er  den  Gästen  goldene  Becher  reichen;  er 
selbst  trank  aus  dem  Holzbecher  wie  seine  Ah- 
nen. Auch  in  der  Kost  bewahrte  er  die  alte 
Sitte.  Er  genoß  nur  Fleisch,  während  er  den 
Gästen  von  römischen  Köchen  ausgesuchte  Spei- 
sen bereiten  ließ.  Merkwürdig  war  sein  ehe- 
liches Leben  geordnet.  Er  hatte  zahlreiche 
Frauen,  aber  sie  wohnten  in  verschiedenen  Or- 
ten.   Hier  hielten   sie  Hof,  umgeben  von  einer 


570  Gott.  gel.  Ane.  1881.  Stück  18. 19. 

Schaar  von  Dienerinnen,  die  aus  allen  Völkern 
stammten  und  die  Fertigkeiten  kunstvoller  Hand- 
arbeit mit  einander  austauschten.  In  seinen 
Diensten  standen  auch  viele  Römer  und  Grie- 
chen; namentlich  bildeten  sie  eine  regelmäßig 
arbeitende  Kanzlei.  Sie  führten  sogar  Listen 
über  die  Flüchtlinge  und  Ufeberläufer,  die  über 
die  römische  Grenze  entkommen  waren. 

Allein  trotz  aller  dieser  Anfänge  and  For- 
men eines  gebildeten  Lebens,  die  er  tbeils  Von 
den  Gothen,  theils  von  den  Rötnern  übernommen 
hatte,  war  Attila  doch  ein  Barbar  und  er  fühlte, 
daß  er  es  war.  So  höhnisch  er  Rom  behandelte, 
im  Geheimen  gestand  er  ihm  einen  unähdliohen 
Vorrang  zu ;  aber  er  beugte  sieb  nicht  vor  die* 
ser  Cultur,  wie  die  großen  Germanenfürsten  de* 
Jahrhunderts,  sie  erbitterte  ihn  eher.  Konnte 
er  sich  mit  seinem  Volke  nieht  zu  ihrer  Höhe 
erheben,  so  sollten  die  Römer  um  so  härter 
seine  Gewalt  fühlen.  Sein  Stolz  arid  Uebermüth 
kannten  so  wenig  eine  Grenze  wie  seine  un- 
ruhige Tbatensucht.  Sonst  verstand  er  feerne 
Leidenschaften  zu  beherrschen:  so  stark  sife 
waren,  so  durften  sie  seine  Pläne  doch  nicht 
stören;  allein  der  wahnwitzige  Gedaüke  einer 
Weltherrschaft  narrte  auch  diesen  in  politischen 
Dingen  sonst  so  nüchternen  Geist.  — 

Daran  schließt  sich  das  ergreifende  Schick- 
sal des  Valens  aus  der  Zeit  des  Tbeodosius. 

Wenn  man  den  Natneh  Tbeodosius  des  Gro- 
ßen nennt,  so  steigt  das  Bild  eines  gewaltigen 
Kaisers  auf,  der  dem  Erdreiche  die  Ruhe  wie- 
dergab und  auf  eine  Reihe  tob  Jahren  sicherte, 
so  etwa,  wie  Ranke  das  Bild  KaHs  des  Gfoßen 
zeichnete«  Vor  ihm  und  nach  ihm  große  Un- 
ruhe und  Auflösung,  unter  ihm  Friede  und  Si- 
cherheit.   Aber   dieses  Bild   entsteht  nur  dnreb 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    67 1 

den  Vergleich  der  grenzenlosen  und  hoffnungs- 
losen Verwirrung,  die  nach  seinem  Tode  anhob. 

Friede  und  Buhe  sah  das  Reich  auch  unter 
Theodosius  wenig,  und  in  den  kurzen  Friedens- 
jahren wenig  Glück.  Kein  Jahr  ohne  Bürger- 
krieg oder  ohne  die  Erwartung  seines  Aus- 
braches, ganz  abgesehen  davon,  daß  auch  die 
Verhandlungen  mit  den  Persern  nnd  den  un- 
ruhigen Barbaren  beständig  als  drohende  Wol- 
ken an  dem  politischen  Himmel  hingen.  Diese 
Kriegsnoth  war  aber  noch  nicht  das  Schlimmste. 
Schlimmer  als  die  Kriege  selbst  war  die  trau- 
rige Thateache,  daß  sie  alle  mit  Verrath  be- 
gonnen oder  beendet  waren.  Die  römischen 
Truppen  haben  sich  dessen  schuldig  gemacht 
und  ebenso  die  germanischen,  und  die  Verhält- 
nisse lagen  so,  daß  man  beinahe  kein  Recht 
hat  sie  deshalb  zu  tadeln.  Man  wußte  kaum 
noch,  wer  Kaiser  war,  so  rasch  und  leicht  ward 
aus  einem  Usurpator  ein  legitimer  Herrscher, 
and  wenn  man  heute  an  dem  bedrohten  Kaiser 
festhielt^  so  konnte  man  morgen  von  dem  dann 
legitimen  Kaiser  als  Rebell  und  Aufruhrer  ge- 
köpft werden.  Hatte  doch  Theodosius  selbst 
den  Maximus  anerkannt,  und  der  beilige  Am- 
brosias sehrieb  an  den  Usurpator  ßugenius  mit 
den  feierlieben  Titeln  der  kaiserlichen  Majestät. 
Dazu  kam  noch  ein  anderes  Moment.  Der  Ver- 
rath oder  die  Treue  der  HeereBtheile  hingen 
fast  ganz  ab  von  der  Haltung  ihrer  Generale. 
Die  Kaiser  wechselten  rasch,  häufig  wurden 
Kinder  zu  dieser  Würde  erhoben,  und  oft  wa- 
ren vier  und  fünf  legitime  Kaiser  neben  einan- 
der zu  verehren.  Da  mußte  das  Verhältnis  der 
Truppen  zum  Kaiser  zurücktreten,  der  General 
aHein  war  maßgebend  für  das  Corps. 

Diese  Generale  hatten  aber  einen  vollen  Ein- 


572  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18.  19. 

blick  in  das  Chaos  von  Intriguen,  das  den  Hof 
beherrschte.  Sollten  sie  weichen,  wenn  die 
Kämmerlinge  nnd  Eunuchen  den  Kaiser  über- 
redeten, sie  zu  verbannen  oder  zn  tödten?  Es 
war  natürlich,  daß  sie  sich  leicht  mit  Gewalt 
dagegen  setzten. 

Kein  Engel  und  kein  Held  hätten  sich  aus 
dem  Gewebe  von  Klagen  nnd  Verklagen  los- 
machen können,  dessen  Fäden  von  allen  Städten 
nnd  Posten  des  Reiches  zum  Palaste  des  Herrn 
liefen  unerreichbar  nnd  unverfolgbar.  So  gut  es 
ging,  suchte  man  sich  zu  schützen  oder  zu  rä- 
chen, ein  Jeder  mit  seinen  Waffen.  Die  Gebil- 
deten fanden  sich  mit  einigen  Phrasen  ab,  wenn 
sie  Unrecht,  Recht  nannten.  Und  ihr  durch  die 
Kenntniß  der  großen  Alten  wachgehaltenes  Be- 
darf niß  nach  politischer  Ehre  und  vaterländi- 
schem Stolze  befriedigten  sie  dnrch  eine  krank- 
haft gesteigerte  Bewunderung  der  Vorzeit  und 
deren  spielenden  Vertauschung  mit  der  Gegen- 
wart. Der  Pöbel,  und  es  war  ein  sehr  ver- 
wöhnter Pöbel,  machte  sich  Luft,  indem  er  durch 
sein  Beifallgescbrei  oder  sein  Zischen  den  Statt- 
halter oder  den  Kaiser  selbst  beeinflußte. 

Von  Zeit  zu  Zeit  empfand  der  Pöbel  das 
Bedürfniß  einer  etwas  stärkeren  Aufregung, 
dann  prügelte  er  die  kaiserlichen  Beamten,  zer- 
störte ihren  Palast,  zündete  ein  paar  Häuser  an 
oder  tumnltuierte  sonstwie.  Solche  Aufstände 
waren  auch  unter  Theodosius  nicht  selten  und 
einer  davon  erlangte  eine  traurige  Berühmtheit. 

Der  Commandant  von  Thessalonich,  ein  Ger- 
mane Namens  Botherich,  hatte  einen  beliebten 
Wagenlenker  gefangen  gesetzt,  Beim  nächsten 
Rennen  verlangte  das  im  Circus  versammelte 
Volk  stürmisch  seine  Freilassung  von  dem  Com- 
mandanten.     Botherich   blieb    aber   fest,  reizte 


6.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    57U 

vielleicht  auch  den  Pöbel  noch,  oder  einige 
Demagogen  entflammten  den  Haß,  den  die  Rö- 
mer auf  alle  Barbaren  hatten,  welche  so  stolz 
and  mächtig  über  sie  dahinschritten :  genug, 
plötzlich  erhob  sich  die  Masse  im  Aufstände 
and  erschlag  den  Botherich  nebst  mehreren  an- 
deren hohen  Beamten.  Theodosias  war  außer 
sich  vor  Zorn.  Dem  heiligen  Ambrosius  gelang 
es  zwar,  ihn  zu  beschwichtigen;  aber  bald  dar- 
auf gewann  der  Zorn  wieder  die  Oberhand  und 
riß  ihn  fort  zu  einer  That,  die  nicht  bloß  ihn 
selbst  für  alle  Zeiten  brandmarkt,  sondern  auch 
die  fluchwürdige  Bohheit  dieses  ganzen  Regi- 
ments aufdeckt.  An  die  Behörde  erging  der 
Befehl,  das  Volk  zu  einem  Wagenrennen  in  den 
Circus  zu  rufen,  in  dem  Botherich  erschlagen 
war.  Das  Volk  glaubte,  der  Kaiser  habe  gnä- 
dig verziehen,  und  der  Circus  füllte  sich;  auch 
aus  der  Umgegend  strömte  es  herbei.  Als  nun 
aber  Alt  und  Jung  sich  auf  den  Sitzen  drängte, 
da  erschienen  statt  der  Rosse  und  Wagen  Schaa- 
ren  von  Soldaten  und  begannen  ein  schonungs- 
loses Gemetzel.  Niemand  konnte  entrinnen;  die 
Ausgänge  waren  besetzt.  Drei  Stunden  währte 
das  Morden;  nach  der  geringsten  Angabe  sollen 
sieben  Tausend  erschlagen  sein.  Die  Welt  war 
in  stummem  Entsetzen  gefesselt.  Wer  sollte  es 
wagen,  den  fürchterlichen  Herrn  zur  Rechen- 
schaft zu  ziehen? 

Da  sich  der  Kaiser  in  Mailand  aufhielt,  so 
zweifelte  Ambrosius  nicht,  daß  es  seine  Pflicht 
sei,  es  zu  thun,  und  er  verfuhr  dabei  mit  Klug- 
heit und  unerschütterlicher  Festigkeit.  Er  ver- 
mied es  zunächst,  ihn  zu  sehen,  und  schrieb 
ihm  einen  mahnenden  Brief.  Er  erinnerte  an 
Davids  Sünde  und  an  Davids  Buße.  „Kein 
Engel,  kein   Erzengel   vermag  eine  Sünde   zu 


574  Gott.  *•).  Abi.  1881.  BMok  18. 19. 

vergeben;  nur  denen  vergiebt  der  Herr,  die 
Buße  thunu<  Als  dann  Theodosius  zur  Zeit  dei 
Gottesdienste*  ganz  wie  gewöhnlich  die  Kirche 
besuchen  wollte,  da  trat  ihm  Ambrosias  in  der 
Vorhalle  entgegen  nnd  wies  ihn  zurück.  „Es 
scheint,  ,o  Kaiser",  sprach  er,  „daß  Da  die  HD- 
geheure  Größe  de»  Mordes,  den  Da  verübt  bast, 
selbst  jetzt  noch  nicht  erkennst,  nachdem  Deine 
Leidenschaft  sich  gelegt  hat.  Der  Glanz  Deiner 
Krone  Wendet)  wohl  Dein  Auge  nnd  verdunkelt 
Deine  Vernunft.  Aber  bedenke,  daß  der  Mensch 
gebrechlich  ist  und  gar  bald  dabin  geht  Aas 
Staub  sind  wir  gemach^  and  za  Staub  werden 
wir  wieder  werden.  Da  bist  davon  nicht  aus* 
genommen.  Du  bist  niohts  andere»  als  die  Men* 
sehen,  die  Du  gemordet  hast.  Wir  sind  alle 
Mitknechte  eine»  Meisters  und  Königs.  Kannst 
Da  die  Augen  aufschlagen  zum  Tempel  dieses 
Dir  und  ihnen  und  una  allen  gemeinschaftlichen 
Herrn?  Wie  willst  Du  die  Hände  aufbeben 
zum  Gebete,  die  da  triefen  vom  Blute  der  un- 
schuldig gemordeten?  Willst  Da  mit  diesen 
Händen  den  hochheiligen  Leib  des  Herrn  em- 
pfangen ?  Willst  Du  sein  kostbares  Blut  in  Dei- 
nen Mund  nehmen?  Entferne  Dieb  von  hier 
und  vermiß  Dich  nicht,  Frevel  auf  Frevel  so 
hänfen.  Thue  Buße,  um  die  Gnade  wieder  an 
erlangen". 

Acht  Monate  lang  blieb  Theodosius  in  dem 
Banne ;  dann  that  er  in  dec  Kirche  vor  ver- 
sammelter Gemeinde  öffentliche  Buße.  Unter 
Tiuräaen  und  Seufaern  flehte  er  um  Gottes.  Ver- 
gebung und  gehorchte  dem  Ambrosias,  der  3m 
ermahnte,  ein  Gesetz  zu  erlassen:  da&  Tods»' 
wtheile  öiwt  30  Tag»  nach  dem  Aussprach 
peebtejkräftig  and  voUäiehhar  sein  sollten.  Die* 
aes  Ende  wirkt  venttbaend.    Ei  ifit  ja  herolkb) 


G.  Kaufmann,  Deutsch*  Geschichte  bia  auf  Karl  d.  Gr.    575 

daß  sich  ein  Mann  fand,  der  den  Math  hatte, 
einen  solchen  Kaiser  zur  Buße  zu  zwingen; 
aber  was  ist  daa  für  ein  Staat,  in  welchem  ein 
tüchtiger    Kaiser    solche    Gewaltthat    begehen 

konnte !  — 

Endlich  werden  uns  Stiliebo  and  Alariob  mit 
lebhaften  Strichen  gezeichnet. 

Stilicho  war  der  Sohn  eines  Vandalen,  der 
unter  den  Kaiser  Valens  (f378)  eine  Abtei- 
lung germanischer  Reiter  befehligte.  Geboren 
um  360  wachs  er  in  überwiegend  römischer  Um- 
gehung auf,  ohne  sieh  dam  germanischen  We- 
sen  ganz  zu  entfremden.  Seine  Feinde  unter 
den  Römern  schalten  ihn  einen  Barbaren;  der 
spitzige  Hieronymus  nannte  ihn  einen  Semibar» 
taurus»  und  noch  am  Ende  seines  Lebens  hatten 
die  barbarischem  Truppen  ein  näheres  Verhält- 
nis zu  ihm:  aber  sein  Vaterland  fand  er  in 
Born.  Nichts  ist  ungerechter  als  die  Verleum- 
dung, daß.  er  das  Reich  den  Barbaren  verrathen 
habe«  Die  Behauptung  ist  auoh  sinnlos :  es  gab 
gab  keine  barbarische  Macht,  an  deren  Förde» 
rung  Stilicho.  ein  irgendwie  denkbares  Interesse 
b&tte  nehmen  können.  Mit  seinen  persönlichen 
Interessen,  sogar  mit  seiner  Familie  war  er  an 
das  kaiserliche  Haus  geknüpft,  und  seine  ganze 
Kraft  hall  er  treu  in  Roms  Dienste  gestellt  Im 
römischen  Reiche  der  Erste  zu  sein  nach  dem 
Kaiser,  das  war  sein  Ehrgeia  und  das  Ziel  sei- 
ner Wttnseha.  Er  halte  es  früh  erreicht.  Von 
gebietender  Gestalt  und  begaht  mit  klarem, 
sicherem  Geiste  stieg  er  schnell  von  Stufe  zu 
Stufe.  Als  Offizier  wie  als  Diplomat  mit  Aus- 
zeichnung genannt,  war  er  bald  der  erklärte 
Liobliög  de«  Theodosius,  der  ihm  sogar  seine 
Adoptivtochter  Serena  zur  Frau  gab.  Schon 
385,  ehe  er  noch  dreUKg  Jahre  alt  war,  erhielt 


576  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18.  19. 

er  ein  selbständiges  Commando  und  392  die 
Würde  eines  magister  militnm,  die  höchste  mi- 
litärische Würde,  die  das  Reich  kannte.  Bei 
seinem  Tode  übergab  ihm  Theodosins  das  Ober- 
commando  über  die  vereinigten  Armeen  der  bei- 
den Reiche  and  legte  ihm  an's  Herz,  über  beide 
Söhne  väterlich  zu  wachen.  Keinem  besseren 
Manne  konnte  sie  Theodosins  empfehlen« 

Dreizehn  Jahre  hindurch  hat  Stilicho  dar- 
nach das  Westreich  regiert  und  in  der  kirchli- 
chen Frage  wie  in  der  Behandlung  der  Germa- 
nen nach  den  Grundsätzen  seines  Meisters  und 
Vorbildes  Theodosius  regiert,  aber  ohne  dessen 
leidenschaftlichen  Zorn  und  den  Germanen  gegen- 
über mit  größerer  Vorsicht  Was  ein  Mann 
thun  konnte  das  Land  zu  retten,  das  hat  Stilicho 
gethan.  Nach  der  Schiacht  am  Frigid  us  hatten 
zwar  die  Truppen  des  Eugenius  dem  Theodosius 
gehuldigt,  und  die  Legionen  des  Ostens  und 
Westens  waren  wieder,  was  sie  sein  sollten, 
Truppen  eines  Reiches,  die  nur  zufällig  theils 
hierhin,  theils  dorthin  commandiert  waren.  Allein 
sie  hatten  doch  mit  einander  gefochten.  Die 
Donauarmee  hatte  die  Rheinarmee  besiegt;  das 
konnte  keiner  vergessen.  Neckereien  begannen, 
wo  immer  die  Leute  sich  trafen,  in  dem  Zelte 
des  Marketenders  wie  beim  Schwemmen  der 
Pferde.  Von  Worten  kam  es  dann  oft  zu  Schlä- 
gen, und  gerade  in  der  Zeit,  da  Theodosius 
starb,  drohten  diese  Schlägereien  in  Schlachten 
auszuarten.  Stilicho's  Klugheit  gelang  es,  diese 
Aufregung  zu  beruhigen.  Dann  machte  er  sich 
an  die  noch  schwerere  Arbeit,  die  in  Folge  des 
Bürgerkrieges  über  Tausenden  schwebende  Rechts* 
Unsicherheit  zu  beseitigen.  Er  bestätigte  die 
Gültigkeit  der  unter  Eugenius  vollzogenen  Rechts- 
geschäfte, gab  Denjenigen,   die  durch  den  Ty- 


0.  Kaufmann,  Deutsehe  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    577 

rannen  an  Amt  und  Ehre  geschädigt  waren,  ihre 
ehemalige  Stellung  zurück  and  bestimmte,  daß 
auch  die  Beamten,  welche  in  den  Dienst  des 
Eugenius  getreten  waren,  keinen  Makel  and 
keine  Strafe  erleiden  sollten.  Nur  verloren  sie 
die  höheren  Posten,  die  ihnen  Eugenia«  etwa 
verliehen  hatte,  und  traten  in  ihre  frühere  Stel- 
lang zurück. 

Die  gleiche  Milde  and  Gerechtigkeit  athme- 
ten  alle  seine  Erlasse;  selbst  in  den  bösen 
kirchlichen  Kämpfen  wußte  er  sie  za  bewahren. 
Uneingeschränkte  Cnltusfreiheit  konnte  er  frei- 
lich nicht  gewähren.  Das  wäre  damals  die 
Entfesselung  des  Krieges  Aller  gegen  Alle  ge- 
wesen. Er  hielt  den  Grundsatz  des  Theodosias 
fest:  es  soll  nur  eine  katholische  Kirche  geben, 
nur  eine  Heilsanstalt,  nnd  das  soll  die  Kirche 
sein,  welche  den  Sohn  dem  Vater  gleich  ehrt, 
die  Kirche  des  Athanasius  und  Ambrosias.  Den 
anderen  Parteien  schloß  er  die  Tempel  and  die 
Kirchen  and  untersagte  ihnen  auch  die  private 
Aasübung  des  Callas;  abär  persönlich  blieben 
sie  unangefochten.  Die  Ehren  und  Aemter  des 
Staates  standen  dem  Heiden  and  Sectirer  ebenso 
gut  offen,  wie  dem  Anhänger  des  Nicäischen 
Bekenntnisses.  Den  Heißspornen  der  Partei  ge- 
nügte er  damit  nicht;  aber  der  heilige  Augusti- 
nus, der  damals  so  recht  in  der  Kraft  seiner 
Jahre  stand,  war  des  Lobes  voll  und  schrieb 
gewissermaßen  das  Programm  der  kirchlichen 
Politik  Stilicho's:  „Niemand  soll  zur  Annahme 
der  wahren  katholischen  Lehre  gezwungen  wer- 
den ;  nur  der  soll  sie  bekennen,  der  es  freiwillig 
that  and  ohne  Furcht.  Sonst  füllen  wir  unsere 
Kirche  mit  Heuchlern".  — 

A 1  a  r  i  c  h  war  auf  der  Donauinsel  Peace  ge- 
boren, etwa  am  370,  von  gothisehen  Eltern,  die 

37 


578  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stuck  18, 19« 

dem  edlen  Geschlechte  der  Balthen,  d.  h.  der 
Kühnen,  angehörten.  Er  wuchs  in  den  Kriegen 
auf,  die  seit  dem  Hunnenangriffe  alle  gothischen 
Völker  beschäftigten,  und  er  wußte  es  nicht  an- 
ders, als  daß  ein  tapferer  Gothe  entweder  im 
Dienste  Roms  oder  im  Kampfe  gegen  Born 
Ruhm  und  Macht  erwerben  müsse.  Genannt 
wird  er  zum  ersten  Male  in  dem  Heere,  das 
Theodosius  gegen  Eugenius  rüstete  (393/94). 
Er  führte  in  demselben  nicht  bloß  sein  Gefolge 
oder  die  Männer  seines  Gaues,  sondern  er  hatte 
von  Theodosius  ein  größeres  Commando  erhal- 
ten; doch  auch  so  zählte  er  immer  nur  noch  zu 
den  Offizieren  dritten  Ranges.  Das  genügte  ihm 
nicht,  und  als  er  unter  den  von  Stilicho  dem 
Ostreiche  zugetheiiten  Truppen  nach  Constanti- 
nopel  kam,  da  forderte  er  von  Rufin  einen 
höheren  Rang.  War  er  schon  König,  als  er 
diese  Forderung  erhob,  oder  trieb  ihn  der  ge- 
kränkte Ehrgeiz  auf  die  Bahn  des  Agitators) 
die  schlummernde  Begierde  seines  Volkes  zu 
wecken  und  den  ungeheuren  Kampf  zu  begin- 
nen? Ungern  bescheiden  wir  uns,  so  fern  zn 
bleiben  dem  Geheimnisse  des  persönlichen  An- 
theils,  den  der  Führer  an  der  Bewegung  hatte; 
denn  so  wenig  wir  von  Alarich  wissen,  so  ver- 
breitet doch  dies  Wenige  einen  Glanz  von  so 
jugendlicher  Frische  und  männlicher  Sicherheit 
um  ihn,  daß  man  sein  Bild  deutlicher  fassen 
möchte. 

Sein  erster  Kampf  um  Rom  wird  geschil- 
dert, die  Hülfe,  die  Stilicho  der  Stadt  bringt, 
das  Leben  und  der  Wechsel  der  Günstlinge  am 
Hofe  des  Arcadius  und  Honorius,  der  Sieg  des 
Stilicho,  sein  Vertrag  mit  Alarich  und  seine  Er- 
mordung in  Ravenna;  dann  das  Wiederauftreten 
des   Alarich,   die    Belagerung  Roms   und  seine 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    579 

unterwürfigen  Verhandlangen  mit  Honorius,  die 
Episode  des  Attalus,  und  der  nochmalige  ver- 
gebliche Versach  mit  Honorius  tiberein  zu 
kommen. 

Nun  war  seine  Geduld  am  Ende.  Der  Kai- 
ser selbst  war  freilich  unangreifbar  in  der 
sumpfumgebenen  Festung,  aber  Rom  war  wieder 
seine  Stadt  und  sollte  für  ihn  büßen.  Mit  die- 
sem Gedanken  zog  Alarich  zum  dritten  Male 
vor  Korn.  Durch  die  erste  Belagerung  hatte  er 
den  Senat  gezwungen,  seine  Verhandlungen  mit 
Honorius  zu  unterstützen.  Da  sie  nicht  zum 
Ziele  führten,  zwang  er  die  Stadt  durch  die 
zweite  Belagerung,  von  Honorius  abzufallen  und 
sich  mit  ihm  zur  Aufstellung  eines  Gegenkaisers 
zu  verbinden.  Jetzt  kam  er  vor  die  Stadt,  um 
sie  zu  plündern.  War  sie  nicht  stark  genug, 
um  als  Bundesgenossin  zu  nützen,  so  war  sie 
doch  reich  genug,  berühmt  und  geliebt  genug, 
um  in  ihr  den  römischen  Gegner  empfindlich  zu 
züchtigen. 

Es  war  kein  leichter  Entschluß.  So  manche 
Stadt  hatten  seine  Gothen  in  Flammen  auf- 
gehen lassen;  aber  Rom  war  eine  ganz  beson- 
dere Stadt  Ihr  Name  war  Macht  und  Herr- 
lichkeit In  ihr  verehrte  und  bewunderte  die 
Welt  den  Ursprung  des  gewaltigen  Reiches,  das 
auch  in  seinem  augenblicklich  so  jammervollen 
Zustande  dem  klugen  Barbarenfürsten  als  das 
einzige  wirkliche  Reich  galt  Wer  durfte  es 
wagen,  sich  an  dieser  Stadt  zu  vergreifen? 
Dunkele  Sagen  gingen,  daß  jeder  sterben  müsse, 
der  es  wage.  Andere  Prophezeihungen  waren 
noch  schrecklicher.  „Einst  wird  der  Tag  kom- 
men, wo  dieses  Haupt  der  Welt  im  Feuer  ver- 
geht; aber  das  ist  das  sichere  Zeichen,  daß  der 
Untergang  der  Welt  bevorsteht".    Aber  je  sei- 

37* 


680  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18. 19. 

teuer  die  Frucht,  desto  mehr  reizt  sie.  „Nicht 
aus  eigenem  Willen  ziehe  ich  gegen  Rom.  Ein 
Dämon  treibt  mich,  eine  innere  Stimme.  Un- 
aufhörlich ruft  sie  mir  zu:  Mache  dich  auf, 
zaudere  nicht  und  zerstöre  Rom".  So  ließen 
die  Römer  den  Alarich  sprechen,  und  sie  trafen 
damit  ohne  Zweifel  den  Grundzug  seiner  Stim- 
mung; nur  haben  sie  ihn  in  das  Sentimentale 
und  Mystische  gesteigert.  Alarich  blieb  der 
ruhig  überlegende  Feldherr  und  der  maßvolle 
Mann.  Er  entschloß  sich  zur  Eroberung  Roms, 
als  er  den  Trotz  des  Honorius  nicht  anders 
strafen  konnte  und  er  keinen  Grund  mehr  hatte, 
seinem  Heere  die  Plünderung  der  Stadt  zu  ver- 
sagen, von  deren  Ungeheuern  Schätzen  die  ans* 
schweifendsten  Vorstellungen  im  Umlauf  waren. 
Aber  auch  bei  der  Eroberung  überließ  er  sich 
nicht  der  blinden  Zerstörungswut^ 

Mitte  August  des  Jahres  410  lagerte  er  vor 
den  Thoren  Roms,  nahm  die  Stadt  nach  kurzer 
Belagerung  und  gab  sie  seinen  Gothen  auf  drei 
Tage  zur  Plünderung  preis.  Es  war  die  Nacht 
des  24.  August,  als  die  Gothen  eindrangen. 
Sie  warfen  Feuer  in  die  Häuser  am  Thore,  nnd 
beim  Scheine  des  Brandes,  der  die  nächsten 
Straßen  (das  schöne  Quartier,  der  „Gärten  des 
Sali ustu)  verzehrte ,  jagten  sie  die  Einwohner 
Tor  sich  her  und  brachen  in  die  Häuser  ein, 
wo  es  einem  Jeden  gefiel  Es  waren  drei 
schreckliche  Tage;  und  doch,  wenn  man  das 
Schicksal  anderer  eroberter  Städte  und  andere 
Eroberungen  Roms  vergleicht,  so  muß  man  die 
Schonung  bewundern,  welche  die  Gothen  übten. 
Zwar  wurden  Viele  erschlagen  und  viel  Mehrere 
mißhandelt  und  in  Knechtschaft  geführt,  aber  es 
war  kein  allgemeines  Morden  und  keine  allge- 
meine Verknechtung.     Alarich   hatte    befohlen, 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    581 

die  Menschen  zu  schonen  und  nur  das  Gut  zu 
rauben.  Es  war  endlich  auoh  kein  wüstes  Zer- 
stören nnd  Verbrennen.  An  und  für  sich  waren 
die  Gothen  nicht  mild  und  schonend.  Die  Raub* 
fahrten  des  dritten  Jahrhunderts,  die  Verwüstung 
spanischer  Städte  im  fünften  Jahrhundert  zer- 
stören jeden  derartigen  romantischen  Traum. 
Aber  hier  waren  sie  mitten  in  der  Plünderung, 
ich  möchte  wohl  sagen,  gehalten.  Zwei  Mächte 
waren  es,  die  sie  hemmten,  der  Wille  ihres  Kö- 
nigs und  das  Christentum. 

Die  Gothen  waren  Arianer  und  deshalb  in 
Glaubensfeindschaft  iflit  den  Priestern,  die  in 
Born  die  Kirche  vertraten;  aber  die  Arianer 
fühlten  sieh  nicht  als  Secte,  sondern  als  allge- 
meine Kirche.  Es  galt  ihnen  nur  als  vorüber- 
gehendes Mißgeschick,  daß  in  mehreren  Orten 
die  Bischöfe  der  feindlichen  Lehre  von  Nicäa 
herrschten.  Die  heiligen  Orte  der  christlichen 
Tradition  waren  alle  auch  ihnen  heilig.  Nächst 
Jerusalem  und  Bethlehem  war  aber  kein  Ort 
heiliger  als  Rom,  keine  Kirche  geehrter  als  die 
de»  heiligen  Petrus  und  des  heiligen  Paulus. 
Mitten  in  ihren  leidenschaftlichen  Klagen  über 
die  Zerstörung  der  Stadt  und  in  ihren  Wuth- 
ausbrüchen über  die  Barbaren  konnten  deshalb 
die  Zeitgenossen  doch  eine  Reihe  von  Beispie- 
len auffallender  Milde  nicht  verschweigen.  In 
ihrem  reichen  Hause  auf  dem  Aventin  ergriffen 
einige  Gothen  die  fromme  Marcella  und  schlugen 
sie  in  roher  Weise,  damit  sie  die  Schätze  an* 
zeige,  die  sie  verborgen  glaubten.  Als  aber 
die  Heilige  unto*  allen  Qualen  nur  darum  bat, 
ihre  Pflegetochter  vor  Gewalt  zu  schützen,  da 
wurden  die  Krieger  von  Ehrfurcht  erfüllt  und 
führten  die  beiden  Frauen  in  die  Kirche  des 
heiligen   Paulus.     Einen  unauslöschlichen  Ein- 


582  Gott,  gel  An«.  1881.  Stück  18.  19. 

druck  machte  vor  Allem  die  Rettung  der  heili- 
gen Gefäße  ans  der  Kirche  von  St  Petras. 
Man  hatte  dieselben  in  ein  entlegenes  Hans  ge- 
schafft nnd  eine  fromme  Jnngfran  als  Wächterin 
dazu  gesetzt.  Aber  ein  Gothe  fand  das  Ver- 
steck. Schon  war  er  im  Begriff,  sich  voll  Gier 
auf  den  kostbaren  Schatz  zu  stürzen;  da  sagte 
die  Wächterin:  „Diese  Gefäße  sind  Eigenthum 
des  heiligen  Petrus.  Willst  Du  sie  rauben,  so 
kann  ich  Dich  nicht  abhalten ;  aber  der  Heilige 
wird  den  Frevler  an  seinem  Eigenthum  zu  tref- 
fen wissen a.  Das  Mädchen  war  wehrlos;  doch 
sie  fühlte  sich  sicher,  uncf  was  ihr  Kraft  gab, 
das  lähmte  den  Krieger,  der  vor  ihr  stand. 
Scheu  zog  er  sich  zurück  und  meldete  Alarich, 
was  er  gefunden  und  was  er  gethan  habe. 
Alarich  befahl  ihm ,  mit  einer  genügenden 
Scbaar  zurückzukehren  und  die  heiligen  Ge- 
fäße sammt  ihrer  Wächterin  sicher  in  die  Kirche 
zu  geleiten.  Als  der  sonderbare  Zug  das  Haus 
verließ,  Gothenkrieger  in  friedlicher  Haltung, 
die  goldenen  Gefäße  nicht  als  Beute  fortschlep- 
pend in  Säcken  und  Körben,  wie  der  Augen- 
blick sie  bot,  sondern  in  geordnetem  Zuge  ehr- 
fürchtig tragend;  da  eilten  von  allen  Seiten 
Flüchtlinge  herzu  Greise  und  Kinder,  Männer 
und  Weiber  bildeten  eine  Procession,  die  sich 
mit  jedem  Schritte  verlängerte  und  feierliche 
Hymnen  singend  der  Kirche  zuging.  Auch  Go- 
then  kamen  herbei,  auch  Heiden  schlössen  sich 
an,  —  es  war  ein  Schauspiel,  wie  es  die  Welt 
wohl  nie  sonst  gesehen.  DieWuth  plündernder 
Barbaren  und  der  Fanatismus  feindlicher  Cod- 
fessionen  wurden  in  Andacht  gebändigt.  Es 
war  ein  schöner  Triumph  der  Religion. 

Aber  die  Scheu  vor  der  Religion  allein  hätte 
doch  nicht  ausgereicht,   die   dreitägige   Plünde- 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    688 

rung  in  solchen  Sehranken  zu  halten.  Der 
Wille  des  Königs  hielt  die  Ordnung  aufrecht. 
Er  muß  eine  starke,  auserlesene  Schaar  zusam- 
mengehalten haben,  um  sich  in  jedem  Augen- 
blicke  Gehorsam  zu  erzwingen.  Lose  war  das 
Band,  das  die  Leute  zusammenhielt,  die  ihn  als 
ihren  König  ehrten,  und  außerdem  waren  dabei 
Haufen  von  Hunnen,  entlaufene  Sklaven,  Ban* 
den  von  allerlei  germanischen  Stämmen,  die 
sich  erst  kürzlich  angeschlossen  hatten  und 
ebenso  leicht  wieder  ablösten  und  zu  den  Rö- 
mern gingen.  Es  bedurfte  einer  überlegenen 
Kraft,  um  sie  im  Zaume  zu  halten  und  sie  zu 
zwingen,  die  Stadt  schon  nach  drei  Tagen  wie- 
der zu  verlassen.  Mehr  als  alle  seine  Siege 
zeigen  diese  Tage  die  Größe  des  Helden. 

Am  28.  August  verließ  Alarich  die  Stadt. 
Durch  Campanien  zog  er  an  die  Meerenge  von 
Messina,  um  nach  Sizilien  überzusetzen  und  von 
da  nach  Afrika.  Durch  Afrika  wollte  er  Hono- 
ring zwingen,  seine  mäßigen  Bedingungen  zu 
erfüllen.  Aber  ein  Sturm  zerstreute  die  Schiffe, 
welche  die  erste  Abtheilung  der  Gothen  über 
die  Meerenge  setzen  sollten,  und  bald  darauf 
starb  Alarich  in  der  Blüthe  seiner  Jahre,  inmit- 
ten einer  großartigen  Laufbahn.  Fünfzehn  Jahre 
hindurch  hatte  er  als  König  an  der  Spitze  der 
Gothen  gestanden  und  diese  ganze  Zeit  hindurch 
den  Plan  verfolgt,  im  Reiche  des  Kaisers  eine 
rechtlich     gesicherte     Stellung     zu     gewinnen. 

Athaulf  war  sein  würdiger  Nachfolger.  Ge- 
gen einen  vornehmen  Römer  sprach  dieser  sich 
bei  der  Hochzeitsfeier  mitPlacidia  zu  Narbonne 
wiederholt  und  mit  leidenschaftlichem  Ausdruck 
über  seine  Pläne  aus.  „  Anfangs  dachte  ich 
Rom  zu  vertilgen",  sagte  er,  „um  ein  Gothen- 
reich  an  seine  Stelle  zu  setzen,  der  Stifter  einer 


584  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  18. 19. 

neuen  Weltherrschaft  zu  werden,  wie  es  dereinst 
Augustus  war.  Aber  im  Laufe  der  Zeit  er- 
kannte ioh,  daß  es  nicht  möglich  sei,  daß  sich 
die  Gothen  der  ruhigen  Ordnung  des  Gesetzes 
nicht  fügen  würden«  -  Seitdem  habe  ich  mir  das 
als  Aufgabe  gesetzt,  daß  ich  mit  der  Kraft  mei- 
ner Gothen  das  römische  Reich  schütze  und 
schirme". 

Wallia  endlich  schloß  den  Frieden  mit  Ho- 
norius,  wie  ihn  Athaulf  gewünscht  hatte.  Aber 
wenige  Jahre  nur  währte  es,  da  war  der  Ver- 
trag zerrissen  und  das  Volk  der  Westgotbeo 
trat  als  selbstständiges  Reich  neben  Rom1,  das 
erste  germanische  Reich  auf  römischem  Boden, 
der  erste  Kulturstaat  der  Germanen.  Er  bildete 
die  Schwelle  zu  einer  neuen  Periode  der  Welt- 
geschichte. — 

Wir  glauben  mit  diesen  Bruchstücken  hin- 
reichend gezeigt  zu  haben,  daß  der  Verfasser  is 
ungewöhnlich  anschaulicher  und  überzeugender 
Weise  seinen  Stoff  zu  y erarbeiten  vermag,  nod 
daß  seine  Quellenstudien  ihn  zu  voller  Klarheit 
über  denselben,  zu  der  Gegenwärtigkeit  und  Be- 
herrschung der  innern  Beziehungen  der  Ereig- 
nisse und  der  handelnden  Menschen  erhoben 
haben,  welche  die  unentbehrliche  Voraussetzung 
der  Geschichtsschreibung  ist  und  bleibt. 

Wir  wollen  aber  auch  nicht  damit  zurück- 
halten, daß  wir  dieses  ungetheilte  Lob  auf  die- 
jenigen Theile  des  Buches  beschränken  zu  müs- 
sen glauben,  für  welche  reiche  und  in  den 
Hauptsachen  wenig  anfechtbare  Quellen  den  ge- 
wissermaßen aus  dem  eignen  Innern  reprodu- 
zierten vollen  Fluß  epischer  Geschichtsschreibung 
erlauben. 

Für  die  mehr  dogmatischen  Abschnitte  and 
Ausführungen,   wie   namentlich   für    das   ganze 


G.  Kaufmann,  Deutsche  Geschichte  bis  auf  Karl  d.  Gr.    566 

zweite  Buch  vermögen  wir  dem  Verfahren  nnd 
den  Zielen  des  Verfassers  nicht  durchaus  bei- 
zustimmen. 

Er  ist  darin  zwar  nicht  ganz  seiner  Absicht 
treu  geblieben,  keinerlei  gelehrte  Begründung 
zu  geben.  Eine  gewisse  Anzahl  Belegstellen 
beizufügen,  hat  er  sich  gleichwohl  nicht  ent- 
brechen  können.  Aber  wenn  man  bedenkt,  daß 
in  einem  solchen  Abschnitte  kaum  eine  einzige 
Seite  ohne  Behauptungen  bleiben  kann,  welche 
aus  immerhin  wenigstens  beach  tens  wert  hen  Grün- 
den bestreitbar  sind  oder  doch  anders  aufgefaßt 
werden  dürfen,  und  man  andrerseits  dem  Verfasser 
auch  gewiß  nicht  zumuthen  will,  alle  diese  be- 
strittenen Verhältnisse  als  zweifelhafte  in  seine 
Darstellung  einzuführen,  so  kann  man  nicht  um- 
hin zu  fragen,  ob  das  Material,  wie  es  zur  Zeit 
noch  liegt,  eine  Geschichtsschreibung,  wie  sie 
der  Verfasser  zu  üben  wünscht,  in  der  That 
verträgt. 

Wir  haben  keine  rechte  Vorstellung  von  dem 
Publikum,  an  welches  sich  der  Verfasser  mit 
diesen,  an  sich  sehr  interessanten  und  mit  man- 
cherlei neuen  Gedanken  ausgestatteten  Ausfüh- 
rungen wendet.  Populär  sind  dieselben  trotz 
der  leichten  und  ansprechenden  Schreibweise 
so  wenig,  als  die  erzählenden  Darstellungen. 
Der  Verfasser  wird  auch  schwerlich  wünschen, 
daß  die  Behandlung  als  eine  populäre  betrach- 
tet werde. 

Die  historische  Erzählung,  wie  sie  Kaufmann 
giebt,  wird  gerade  der  hinreichend  Sachkundige 
würdigen,  er  sucht  die  Subjektivität  in  ihr,  und 
fordert  nur,  daß  der  Historiker  aus  den  Quellen 
das  gebe,  was  ihm  nach  seiner  wohlgeprüften 
aber  gleichwohl  individuellen  Ueberzeugung  als 
Wahrheit  erscheint.     Kaufmann  bat  selbst  ein- 


586  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18.  19. 

foal  das  Thema  behandelt:  „In  wie  weit  darf 
die  Geschichte  subjektiv  sein?"  Den  Geschichts- 
schreiber macht  das  Herz,  er  schildert  vor  allem 
die  hervorragenden  Menschen  in  ihrem  Streben 
und  Handeln,  und  daftir  ist  der  Maßstab  neben 
den  immer  zweifelhaft  bleibenden  Ueberlieferun- 
gen,  wesentlich  das  eigne  Innere. 

Wo  es  sich  aber  gar  nicht  um  den  dramati- 
schen Verlauf  innerer  Vorgänge,  sondern  um 
Thatsachen  der  Ethnographie  und  des  Staats- 
rechts handelt,  aus  deren  Feststellung  erst 
Grundlagen  für  Urtheile  historischer  Natur  ge- 
wonnen werden  sollen,  da  sind  die  Forderungen 
des  Sachkundigen  offenbar  andre.  Eine  subjek- 
tive von  der  seinigen  abweichende  Auffassung 
wird  jeden  Geschicbtsfreund  gewiß  interessieren, 
aber  doch  nur,  wenn  er  ihre  Gründe  ohne  we- 
sentlichen Zeitverlust  zu  erkennen  und  kritisch 
zu  beurtbeilen  in  den  Stand  gesetzt  wird.  Ohne 
Begründung  hingestellte  Behauptungen  werden 
den  Leser  schwerlich  veranlassen,  völlig  die 
Mühe  der  Prüfung  zu  übernehmen,  und  sie  wer* 
den  ihren  Zweck  um  so  weniger  erfüllen  kön- 
nen, je  mehr  ihr  Inhalt  vom  bekannten  Gleise 
abweicht,  und  je  geringere  Hoffnung  er  läßt, 
Sicherheit  über  den  Gang  der  Schlußfolgerungen 
des  Verfassers  zu  erlangen. 

Deshalb  glauben  wir,  daß  sich  auch  Kauf- 
mann trotz  seines  anerkennenswerthen  Strebens 
und  Talentes,  seinem  Leser  ganz  unmittelbar 
gegenüberzutreten,  darein  wird  fügen  müssen, 
die  Darstellung  der  staatlichen  und  wirtschaft- 
lichen Zustände  unserer  Vorzeit  entweder  in  ge- 
wohnter Weise  als  Zusammenfttgung  von  Mate- 
rialien zu  behandeln,  oder  sie,  was  uns  seinem 
Zwecke  am  besten  zu  entsprechen  schiene,  über- 
haupt nur  mit  dem  Faden  seiner  Gescbichtser- 


Zotenberg,  La  chronique  de  Jean  e>eque  de  Nikiou.    587 

Zählung  soweit  erforderlich  zu  verknüpfen,  und 
dabei  von  Allem  abzusehen,  was  nicht  im  We- 
sentlichen allgemein  anerkannt  ist,  und  mehr 
als  Hindeutungen  bedarf. 

Wir  wttnschen  lebhaft,  daß  er  in  seiner  glück- 
lich angelegten  schriftstellerischen  Individualität 
uns  bald  auch  die  Kette  bedeutsamer  Persön- 
lichkeiten, die  von  Alarich  bis  auf  Karl  den 
Großen  unsere  Geschichte  bestimmen,  in  ihren 
nach  Charakter  und  Umständen  selten  anders 
als  tragischen  Schicksalen  lebensvoll  vorführe. 

A.  Meitzen. 

La  chronique  de  Jean  e^v^que  de  Nikiou. 
Notice  et  extraits  par  M.  H.  Z  o  t  e  n  b  e  r  g.  Paris. 
Imprimerie  Nationale  1879.  (Extrait  du  Journal  asia- 
tique.    1877.   no.  15).     264  S.  in  8°. 

Die  erste  dürftige  Notiz  über  die  Chronik 
des  Johannes  von  Nikiu  bat  meines  Wissens 
d'Abbadie  gegeben  im  „Catalogue  raisonng  de 
man.  Ethiop."  8.  38  ff.  Genaueres  erfahren  wir 
durch  die  äthiopischen  Kataloge  von  Wright  (S. 
300  ff.)  und  von  Zotenberg  (S.  223  ff.).  Außer 
den  3  Handschriften  d'Abbadie's,  des  Brit.  Mus. 
und  der  Pariser  Bibliothek  ist  keine  weitere 
bekannt.  In  der  vorliegenden  Schrift  bekommen 
wir  nun  durch  Zotenberg  die  eingehende  Dar- 
stellung und  Würdigung  des  merkwürdigen  Ge- 
sehichtswerkes.  Ref.,  der  gern  einem  Kundige- 
ren die  Besprechung  dieser  Schrift  überlassen 
hätte,  kann  hier  nur  im  Wesentlichen  Zoten- 
berg's  Resultate  wiedergeben,  thut  das  aber  mit 
gutem  Gewissen,  da  derselbe  mit  großer  Sorg- 
falt und  Umsicht  gearbeitet  hat,  unterstützt  von 
einer  Gelehrsamkeit,  wie  sie  schwerlich  einem 
andern  Pariser  Semitisten  zu  Gebote  stände ;  er 
hat    nicht    bloß   die  einschlägige  byzantinische 


568  Gott.  gel.  Abs.  1881.  Stock  16. 19. 

and  römische  Literatur  in  weitestem  Umfange 
herangezogen,  sondern  auch  die  gedruckte  und 
ungedruckte  christlich-arabische,  syrische  und 
koptische.  Freilich  kann  man  von  ihm  sagen: 
„an  der  Quelle  saß  der  Knabe"!,  aber  wohl 
Wenige  hätten  die  Aufopferung  gehabt,  im  Inter- 
esse der  Wissenschaft  sich  gerade  diese,  durch- 
weg unerquicklichen  Sachen  aus  den  Schätzen 
der  Pariser  Bibliothek  zum  Studium  auszu- 
wählen. 

Johannes  von  Nikiu  in  Unterägypten  schrieb 
gegen  700  n.  Chr.  eine  griechische  Weltchronik. 
Von  den  letzten  Abschnitten  des  sehr  schlecht 
redigierten  Werkes  hält  Zotenberg  es  für  mög- 
lich, daß  sie  koptisch  abgefaßt  waren,  worüber 
ich  kein  Urtheil  fallen  kann,  da  ich  dieser 
Sprache  unkundig  bin.  Die  Chronik  wurde 
später,  ungewiß  wann,  in's  Arabische  übersetzt 
Leider  besaß  der  Araber  nur  ungenügende  Kennt- 
niß  des  Griechischen;  er  verwechselte  z.  B.  *o- 
(kfjq  mit  ««7*7?  (S.  147)  und  wieder  xo^tijg  mit 
xoftfjg  (S.  142)  und  leitete  die  nqdaivoi  („die 
Grünen"  als  Partei)  von  nqaoew  ab.  Dabei 
verkürzte  er  seine  Vorlage  stark  und  zwar  oft 
in  recht  unverständiger  Weise.  Diesen  arabi- 
schen Text  übertrug  im  Jahre  1602  ein  ans 
Aegypten  gebürtiger  Geistlicher  in's  Aethiopische, 
treu  und  sorgfältig,  wie  es  scheint,  aber  ohne 
Sacbkenntniß,  daher  er  natürlich  Manches  un- 
richtig auffaßte.  Ueber  den  Verfasser  hat  Zoten- 
berg aus  arabischen  Handschriften  einige  wenige 
Nachrichten  aufgetrieben.  Derselbe  war  Bisehof 
von  Nikiu  und  Regens  der  Klöster  (daher  sein 

Name  Medabber  yJ^);  er  wurde  aber  abge- 

setzt,  weil  er  einen  Mönch,  der  Unzucht  ge- 
trieben, ro  fürchterlich  hatte  prügeln  lassen,  daft 


Zotenberg,  La  chronique  de  Jean  e>eque  de  NUriou.    589 

er  nach  zehn  Tagen  starb;  beiläufig  ein  Beleg 
dafür,  wie  wenig  Rieh  die  muslimische  Regierung 
in  die  inneren  Angelegenheiten  der  Geistlichkeit 
mischte! 

Wer  sich  nur  einmal  den  Malalas  angesehn 
hat,  dem  muft  schon  ans  den  Capitelttberschrif- 
ten  die  Aehnliehkeit  des  Johannes  von  Nikiu 
mit  diesem  Chronographen  auffallen.  In  der 
That  weist  denn  auch  Zotenberg  nach,  daft  ein 
großer  Theil  nnsres  Buches  in  engster  Beziehung 
zu  Malalas,  Johannes  von  Antiochia  und  ähnli- 
chen Autoren  steht  Wir  finden  dieselbe  Pseudo- 
historie  und  euhemeristische  Mythenerzählung, 
dieselben  Fabeln  über  Geschichtliches,  worunter 
sich  erst  für  spätere  Zeiten  mehr  wirklich  histo- 
risches mischt.  Auch  die  christlichen  Orakel- 
sprüche und  die  characteristischen  Quellencitate 
fehlen  nicht;  der  heitere  Ovid  hat  es  sich 
wohl  nicht  träumen  lassen,  daß  er  so  als  „  Aude- 
jös,  der  Weise  der  Heiden"  noch  einmal  einen 
testis  veritatis  in  der  äthiopischen  Mönobslite- 
ratnr  abgeben  werde  (S.  17).  Die  Ueberein- 
stimmung  ist  sehr  oft  ganz  oder  nahezu  wört- 
lich. Freilich  fehlen  bei  Johannes  von  Nikiu 
gerade  manche  für  uns  wichtigere  Angaben  je- 
ner Byzantiner.  Bei  der  Art,  wie  diese  Leute 
einander  abschrieben,  und  bei  der  starken  Ver- 
kürzung unseres  Buches  wird  es  sehr  schwer 
sein,  das  Verhältnis  der  Texte  genauer  festzu- 
stellen. Der  Zeit  nach  hätte  Johannes  von 
Nikiu  den  Malalas  allerdings  selbst  benutzen 
können,  denn  es  darf  jetzt,  zumal  nach  den  Er- 
mittlungen K.  J.  Neumann's  über  den  ursprüng- 
lichen Umfang  der  Malalas-Handschrift  (Hermes 
XV,  356  ff.),  als  sicher  angenommen  werden,  daß 
dieser  Autor  bald  nach  Justinian's  Tod  geschrie- 
ben hat    Daft  der  äthiopische  Text  zuweilen  et- 


690  Gott.  gel.  Aüz.  1881.  Stück  18. 19. 

was  besser  and  vollständiger  ist  als  der  unsres 
Malalas,  ließe  sich  vielleicht  damit  erklären, 
daß  der  Bischof  von  Nikin  eben  eine  noch  bes- 
sere Handschrift  vor  sich  gehabt  hätte  als  die, 
immerhin  nicht  üble,  Oxforder.  Doch  mag  es 
näher  liegen,  die  Uebereinstimmnng  aus  einer 
gemeinschaftlichen  Quelle  abzuleiten.  An  histo- 
rischem Urtheil  übertraf  der  Bischof  den  braves 
Antiochener  keineswegs.  Wie  aber  für  diesen 
Antiochia,  so  ist  für  jenen  Unterägypten  und 
besonders  Nikin  der  Mittelpunkt  seines  Inter- 
esses. Historischen  Werth  hat  sein  Buch  kaum 
irgend  bis  zu  der  Darstellung  ziemlich  später 
Zeitendes  oströmischen  Reichs.  Daß  die  eigen- 
tümlichen Angaben  über  die  Geschichte  Aegyp- 
tens  unter  den  Achämeniden,  welche  uns  Zoten- 
berg auch  im  äthiopischen  Text  mittheilt,  we- 
nigstens zum  kleinen  Theil  auf  gute  selbständige 
Nachrichten  zurttckgehn  könnten,  möchte  ich  doch 
noch  bezweifeln.  —  Der  Gelehrte,  welcher  end 
lieh  eine  gute  Ausgabe  des  Malalas  veranstal 
tet,  wird  allerdings  wohl  thun,  zu  anderen  Pa 
rallelschriftstellern  auch  unseren  heranzuziebn 
freilich  darf  er  das  nicht  ohne  Hülfe  eines  ge 
wiegten  Orientalisten  thun,  da  dazu  gründliche 
Kenntnisse  des  Aethiopischen  und  Arabischen 
gehören.  Leider  scheint  die  Hoffnung  geling, 
daß  wir  den  arabischen  Text  wiederfinden  wer- 
den, der  uns  wenigstens  etwas  weiter  bringen 
würde  als  der  äthiopische,  oder  gar  den  voll- 
ständigen griechischen  Urtext. 

Weit  mehr  entbehren  wir  diesen,  griechischen 
oder  koptischen,  Urtext  noch  für  den  letzten 
Theil  des  Werkes,  welches,  im  Gegensatz  an 
den  früheren,  von  großem  directen  Werthe  ist 
Der  Verfasser  erzählt  hier  auf  Grund  schrift- 
licher  und  mündlicher  Nachrichten,   zum  Theil 


Zotenberg,  La  chronique  de  Jean  Iveque  de  Nikiou.    591 

sogar  eigner  Erlebnisse,  was  im  letzten  Jahrhun- 
dert in  Aegypten  und  in  Gonstantinopel  gesohehn 
war.  Freilich  ist  Alles  bracbstttckartig  und  viel- 
fach verwirrt,  theilweise  durch  Schuld  des  ara* 
bischen  Uebersetzers ,  theil  weile  gewiß  aber 
schon  durch  die  des  Verfassers,  allein  der  kriti- 
sche Benutzer  kann  auch  aus  dem,  was  uns  Zo- 
tenberg (in  französischer  Uebersetzung)  vorlegt, 
viel  für  die  Geschichte  jener  Zeit  lernen.  Mir 
waren  besonders  die  genauen  Nachrichten  über 
die  Ereignisse  von  großem  Interesse,  welche  den 
HerakHns  auf  den  Thron  führten.  Wir  sehen 
hier,  welch  langen  Kampf  es  der  aufständischen 
Partei  kostete,  zuerst  Aegypten  zu  erobern  als  Ba- 
sis für  die  Gewinnung  des  ganzen  Reichs.  Das 
vom  älteren  Heraklius  geleitete  Unternehmen 
gegen  den  scheusliohen  Phokas  trägt  hier  gar 
nicht  mehr  den  Stempel  des  Abenteuerlichen. 
Wie  elend  das  Reich  durch  und  durch  war, 
zeigen  solche  provinzielle  Aufzeichnungen  erst 
recht.  Dem  jüngeren  Heraklius,  gewiß  dem 
bedeutendsten  Kaiser  seit  Constant! n  und  Julian, 
war  eben  eine  Sisyphusarbeit  zugefallen,  als  er 
das  Reich  innerlich  und  äußerlich  wiederher- 
stellen sollte.  Noch  greller  beleuchtet  dessen 
Zustände  die  Erzählung  von  der  Einnahme 
Aegyptens  durch  die  Araber;  dieselbe  ist  zwar 
sehr  verwirrt,  giebt  aber  eine  recht  brauch* 
bare  Ergänzung  der  muslimischen  Nachrichten 
ab.  Ferner  erhalten  wir  allerlei  Angaben  über 
die  Verhältnisse  Aegyptens  in  der  ersten  arabi- 
schen Zeit,  Angaben,  die  allerdings  nicbts  weni- 
ger als  unparteiisch  sind.  Wie  weit  die  Dar- 
stellung, welche  der  Chronist  von  der  Geschichte 
der  Nachkommen  des  Heraklius  giebt,  eine  Ver- 
vollständigung des  sonst  Feststehenden  bildet, 
vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Aber  auf  alle  Fälle 


592  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  18. 19. 

verdiente  wenigstens  dieser  ganze  letzte  Theil 
vollständig  im  äthiopischen  Texte  herausgegeben 
zu  werden.  Schwerlich  giebt  es  ja  in  der  äthio- 
pischen Literatur  noch  ein  anderes  Bach,  so« 
welchem  wir  auch  nur  annähernd  so  viel  über 
die  Geschichte  nicht  -  abessiniseher  Länder 
lernten. 

Jobannes  von  Nikin  ist  ein  strenger  Mono- 
pbysit,  mit  dem  ganzen  fanatischen  Eifer,  den, 
wenn  ich  mich  nicht  tausche,  diese  Partei  in 
noch  höherem  Grade  entwickelt  hat  als  die  s.g. 
orthodoxe.  Natürlich  wirkt  seine  kirchliche 
Parteistellung  stark  auf  die  Darstellung  ein ;  sie 
führt  nicht  selten  zu  wahrer  Geschichtsver- 
drehung. Dabei  wird  er  freilich  durchweg  nar 
die  unter  seinen  Parteigenossen  gangbare  Auf- 
fassung wiedergegeben,  nicht  mit  Bewußtsein 
gefälscht  haben.  Im  Allgemeinen  preist  er 
selbstverständlich  monopbysitisch  gesinnte  Män- 
ner und  stellt  andersgesinnte  Männer  in  ein 
schlechtes  Licht.  Mitunter  werden  aber  auch 
solche,  wenn  sie  sonst  hervorragten,  mehr  oder 
weniger  als  Monophysiten  dargestellt  Selbst 
mit  Kaiser  Justinian  geschieht  das  in  gewisser 
Weise;  freilich  steht  daneben  unvermittelt  die 
richtige  Angabe,  daß  er  ein  Feind  dieser  Lehre 
gewesen.  Man  siebt,  die  verschiedenen  Quellen 
sind  hier  nicht  verarbeitet.  Zenon  ist  hier  ein 
ganz  erklärter  Monophysit  Von  Anastasius 
wird  erzählt,  der  ägyptische  Gottesmann  Abb! 
Jeremia  habe  ihm  vorherresagt,  daß  er  als  Er- 
wählter des  Herrn  den  Thron  besteigen  werde, 
und  ihm  dabei  eingeschärft,  den  reinen  mono- 
pbysitischen  Glauben  zu  bewahren,  was  denn 
auch  geschehen  sei.  Umgekehrt  berichtet  eine 
von  Zotenberg  S.  131  mitgetheilte  melkitisehe 
Legende,  dieser  Abbä  Jeremia  sei  ein  Orthodoxer 


Zotenberg,  La  chronique  de  Jean  e>eque  de  Nikiou.    5&S 

gewesen  und  babe  den  Anastasi  us  als  Kaiser 
yon  seiner  Ketzerei  zur  Orthodoxie  bekehrt 
Gewiß  ist  dies  nur  eine  Verdrehung  jener  Er- 
zählung, denn  Anastasius  war  ja  ein  Monophy- 
sit;  es  wäre  aber  ergötzlich,  wenn  sich  etwa 
nachweisen  ließe,  daß  gerade  Abbä  Jeremia  zu 
den  Melcbiten  gehört  hätte. 

Eine  Schwierigkeit,  von  der  sich  Niehtorien- 
talisten  kaum  eine  Vorstellung  machen   können, 
liegt  in  der  Bestimmung  der  Eigennamen.     Die 
arabische  Schrift  ist,  auch  wenn  alle  ihre  {Hilfs- 
mittel   aufgeboten    und    sorgfältig    angewandt 
werden,   nicht  sehr   geschickt   zur  Wiedergabe 
griechischer  Laute.    Schier  unkenntlich  werden 
diese  aber   leicht,  wenn,   wie  ganz  gewöhnlich, 
die  diakritischen  Zeichen  gar   nicht  oder  falsch 
gesetzt    und  dazu   ähnlich    aussehende  Conso- 
nanten  verwechselt  werden.    So  lange  er  arabi- 
sche Schriftzeiehen  vor  sich  hat,    ist  nun  aller- 
dings der  Arabist  auf  eine  ganze  Reihe  solcher 
Mängel  und  Entstellungen  gefaßt  und  weiß  we- 
nigstens  den  meisten  rasch  zu  begegnen.     Das 
wird  aber  anders,  wenn  ein  Aethiope  jene  viel- 
deutigen Zeichen  beliebig,  ohne  alle   Kenntniß 
des    Richtigen   und   also  in   9   Fällen   von   10 
falsch,  in  die  äthiopische  Schrift  umgesetzt  hat, 
welche  immer  nur  einen  ganz  bestimmten  Laut- 
werth  ausdrücken  kann.  Dazu  kommen  dann  noch 
die  Entstellungen   der  Abschreiber.    Zur  Identi- 
ficierung  muß  man  also  die  Namen  in  arabische 
Schrift  zurückversetzen,    dann  alle  diakritischen 
Zeichen  fortnehmen,   die  sonst  leicht  vorkom- 
menden  Vertauschungen    in's  Auge   fassen  und 
nun  probieren,    ob  sich   eine  passende  griechi- 
sche Namensform  findet.  Die  Schwierigkeit  wird 
noch  dadurch  erhöht,   daß  in  diesem  Namen  d 
und  t  manchmal  vertauscht  werden,  wohl  nach 

38 


594  Gott.  gfl.  An«.  1881.  Stück  18.  19. 

einer  koptisch- griechischen  Aussprache.  Zoten- 
berg,  welcher  schon  in  seinem  trefflichen  Kata- 
loge gezeigt  hatte,  daft  er  in  derartigen  Ent- 
zifferungen geübt  sei,  hat  nun  aber  die  große 
Mehrzahl  der  Namen  richtig  gestellt;  was  er 
nicht  herausgebracht,  wird  bis  auf  wenige  Fälle 
unsicher  bleiben,  wenn  nicht  etwa  neue  Hülfe- 
mittel  aufgefunden  werden.  Nur  für  ganz  we- 
nige Namen  möchte  ich  eine  andre  Form  vor- 
schlagen; so  scheint  mir  in  dem  Stück  über  die 
Achämeniden  der  von  ihm  als  Artaxerxes  ge- 
deutete Name  vielmehr  Xerxes  zu  sein.  In  dem 
König  Hestätes,  den  Alexander  tödtet  (8.  52), 
sehe  ich  einfach  i><natoq}  welches  Wort  der  ara- 
bische Uebersetzer  als  Eigennamen  aufgefatt 
haben  wird. 

Ich  hebe  noch  ausdrücklich  hervor,  daß  Zo- 
tenberg sich  immer  sehr  vorsichtig  ausdruckt, 
keine  gewagten  Hypothesen  vorbringt  und  es 
offen  aasspricht,  wenn  er  eine  Stelle  des  äthio- 
pischen Textes  nicht  sicher  zu  verstehn  glaubt. 
Die  Beschaffenheit  der  arabischen  Vorlage,  woraus 
diese  genommen  ist,  und  der  Umstand,  daft  der 
Uebersetzer  kein  geborner  Aethiope  war  und 
die  fremde  und  längst  ausgestorbene  Sprache 
nicht  ganz  flüssig  schreibt,  erklären  es  leicht, 
daß  es  an  solchen  Stellen  nicht  fehlt.  Sonst  ist 
die  Handschrift  gut,  und  mit  Heranziehung  der 
beiden  andern  oder  wenigstens  der  des  British 
Museum  würde  sich  der  äthiopische  Text  wohl 
ziemlich  rein  herstellen  lassen.  Für  die  Sprach- 
kunde wäre  das  freilich  kaum  ein  großer  Ge- 
winn, denn  auch  die  Uebersetzung  der  Chronik 
des  Johannes  hat  ihre  Bedeutung  nur  durch  den 
Inhalt. 

Straßbarg  i.  E.  Th.  Nöldeke. 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludovisi.     595 

Die  antiken  Bildwerke  der  Villa  Ludo- 
visi in  Rom  beschrieben  von  Theodor  Schrei- 
ber, Docent  an  der  Universität  Leipzig.  Heraas- 
gegeben  mit  Unterstützung  der  Centraldirection  des 
deutschen  archäologischen  Instituts.  Mit  drei  Holz- 
schnitten und  einem  Plan.  Leipzig,  Verlag  von  Wil- 
helm Engelmann.    1880.    8°. 

Je  mehr  Schwierigkeiten  einem  gründlichen 
Studium  der  Archäologie  durch  die  außerordent- 
liche Zerstreuung  der  Denkmäler  bereitet  wer- 
den, desto  dankbarer  wird  man  jeden  neuen 
tüchtigen  Beitrag  zur  Inventarisation  des  archäo- 
logischen Materials  begrüßen.  Nachdem  Ed.  Ger- 
hard vor  sechzig  Jahren  mit  der  Katalogisierung 
einiger  großen  italienischen  Sammlungen  begon- 
nen hatte,  verstrich  allzu  lange  Zeit,  in  welcher 
sein  Beispiel  nur  vereinzelte  Nachfolge  fand. 
Erst  neuerdings  ist  die  ebenso  unscheinbare  und 
Selbstverleugnung  erfordernde  wie  nützliche  Auf- 
gabe des  Katalogisieren  und  Inventarisieren 
wieder  eifriger  angegriffen  worden,  großeotbeils 
anf  die  Anregung  oder  mit  Unterstützung  des 
deutschen  archäologischen  Instituts.  Für  die  ge- 
naue Eenntniß  der  römischen  Museen  gab  zuerst 
wieder  der  Katalog  der  lateranischen  Antiken 
von  Benndorf  und  Schöne  einen  vortrefflichen 
Beitrag,  während  für  den  Vatican  noch  immer 
Gerhards  1826  aufgenommenes  Verzeichniß  am 
branchbarsten  ist  und  für  die  beiden  capitolini- 
schen  Museen  es  an  jedem  halbweges  befriedi- 
genden Kataloge  fehlt.  Für  die  zahlreichen  zer- 
streuten Antiken  Roms  wird  hoffentlich  das  von 
Matz  begonnene,  von  v.  Duhn  zu  Ende  geführte 
Verzeichniß  die  langersehnte  Kunde  bringen; 
dieses  wird  aber  die  vier  größten  Privatsamm- 
lungen, die  der  Villen  Albani,  Borghese,  Ludovisi 
nnd  das  neue  Museum  Torlonia,  nicht  mitum- 
ffedstoi.    Für  die  drei  Villen  sind  wir  noch  immer 

38* 


596  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  18. 19. 

auf  veraltete  oder  unvollständige  Kataloge,  auf 
Platners  sehr  mangelhafte  Verzeichnisse  in  der 
„Beschreibung  der  Stadt  Born"  und  auf  Em. 
Brauns  Bemerkungen  in  seinen  „Ruinen  und  Mu- 
seen Korns"  angewiesen;  der  Katalog  des  Mu- 
seums Torlonia  von  dem  jüngst  verstorbenen  P. 
E.  Visconti  ist  vollends  eine  ganz  unbrauchbare 
Arbeit,  welche  einstweilen  durch  Schreibers  Aus- 
führungen in  der  Arch.  Zeit.  1879  S.  63-79 
eine  sehr  erwünschte  Ergänzung  erhalten  bat 
Demselben  Gelehrten  verdanken  wir  nunmehr 
auch  den  vorliegenden  Katalog  der  ludovisischen 
Antiken,  und  zwar  in  einer  solchen  Gestalt,  daß 
wir  nur  wünschen  können  auch  die  übrigen  ge- 
nannten Sammlungen  bald  in  ähnlicher  Weise 
beschrieben  zu  erhalten. 

Die  Antiken  der,  wie  jedem  Besucher  Koros 
bekannt  ist,  besonders  schwer  zugänglichen  Villa 
Ludovisi  bedurften  einer  vollständigen  und  gründ- 
lichen Katalogisierung  in  besonders  hohem  Grade, 
ebenso  sehr  wegen  der  vielen  ausgezeichneten 
Stücke,  welche  hier  auf  verbältnißmäßig  engem 
Baume  vereinigt  sind,  wie  wegen  der  Mangel- 
haftigkeit der  bisherigen  litterarischen  Hülfsmittel. 
Ein  italienisches  kurzes  Verzeichnis  von  Franc. 
Gapranesi  (1842)  ist  schwer  zugänglich  und 
höchst  dürftig;  Platners  und  Brauns  Arbeiten 
sind  ebenfalls  ungenügend ;  eine  in  den  vierziger 
Jahren  von  Braun  veranlaßte  und  von  diesem 
hochgepriesene  Aufnahme  der  hauptsächlichsten 
Stücke  durch  den  älteren  Riepenhausen  erwies 
sich,  als  zwanzig  Jahre  später  das  archäologische 
Institut  deren  Herausgabe  durch  B.  Kekule  be- 
absichtigte, als  materiell  und  stilistisch  so  wenig 
genau,  daß  man  den  Plan  fallen  lassen  mußte. 
So  blieb  es  bei  monographischen  Behandlungen 
einzelner  hervorragender  Denkmäler,  wie  sie  vor 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludovisi.     697 

Anderen  Keku16  sieb  hat  angelegen  sein  lassen. 
Schreibers  im  Jahre  1877  unter  verbältnißmäßig 
günstigen  Bedingungen  ausgeführter  und  mehr- 
mals  revidierter  Katalog  giebt  nun  zum  ersten 
Male  eine  vollständige   und  naeh  wissenschaft- 
lichen   Grundsätzen    bearbeitete    Beschreibung. 
Was   dabei  zunächst  auffällt,  ist  die  ungeahnte 
Vermehrung   des  Stoffes.     Denn   meistens    be- 
schränkt sich   der   Besucher   der  Villa  auf  die 
Haaptsammlung,  welche  jetzt  in  den  beiden  trau- 
rigen magazinartigen  Räumen  der  Statuengallerie 
zusammengedrängt  steht,  und  wendet  höchstens 
noch   einige  Aufmerksamkeit  einzelnen  Stücken 
im  Belvedere  und   hie   und  da   im  Garten   zu. 
Schreibers  Eifer  ist   es  aber  gelungen,   außer 
manchen  anderen  übersehenen  oder  nicht  gehörig 
beachteten  Stücken  noch   ein  paar  bisher  ganz 
unbekannte  Schlupfwinkel  zu  entdecken,  in  der 
sog.  chiesuola  auf  dem  Gebiete  der  ehemaligen 
Villa  Altieri,  und  in  den  Kellerräumen  der  Sta« 
tuengallerie.    Es  befinden  sich  darunter  manche 
werthvolle  Denkmäler,   welche  man  gern  ihrem 
Versteck   entzogen   sähe.     Besonders    zahlreich 
sind  Götterbüsten,  des  Zeus  (no.  281.  282;   283 
dürfte  nach  der  Beschreibung  eher  Poseidon  dar* 
stellen),  zwei  neue  der  Hera  zu  den  längst  be- 
kannten der  daran  schon  so  reichen  Sammlung 
(no.    248.   284),  des   Hephästos   (no.  249),   des 
Apollon  (no.  315),   der  Artemis  (no.  287)  eines 
blasenden  Windgottes  oder  Triton  (no.  251)  u.  s.  w., 
außerdem  einige  interessante  Sarkophage;  auch 
auf  die  fünf  sitzenden  männlichen  Statuen  an 
der  Gartenmauer  (no.  240.  243—246)  mag  hin- 
gewiesen sein.    Einstweilen  wird  man  dankbar 
sein    müssen,   daß   einige    der  interessantesten 
Werke  auf  des  Verf.  Veranlassung  für  das  In- 
stitut gezeichnet  worden  sind.    Auch  der  Zahl 


596  Gott.  gel.  Auz.  1881.  Stück  18. 19. 

nach  ist  die  Ausbeate  sebr  erbeblich,  denn  wäh- 
rend die  Statuengallerie  123  Stücke  enthält,  um- 
faßt das  gesanimte  Verzeichniß  nunmehr  fast  die 
dreifache  Anzahl,  339  Nummern,  darunter  bei- 
nahe hundert  in  jenen  beiden  Lokalitäten. 

Neben  der  Vollständigkeit  ist  ein  vielleicht 
noch  wichtigeres  Erfordern!  ß  eines  Eataloges  die 
Genauigkeit  der  thatsächlichen  Angaben  über 
Darstellungsweise,  Ergänzungen,  Material,  Matte 
u.s.w.  Eine  Einzelprüfung  in  diesen  Beziehun- 
gen ist  natürlich  nur  den  Originalen  selbst  gegen- 
über möglich.  Diese  habe  ich  nicht  anstellen 
können,  aber  der  günstige  Eindruck  von  Zuver- 
lässigkeit, welcher  sich  beim  bloßen  Lesen  jede» 
aufdrängen  wird,  hat  sich  mir  bei  einer  Verglei- 
chung  mit  den  nicht  ganz  wenigen  Notizen,  di* 
ich  mir  theils  in  früherer  Zeit,  theils  im  Herbst 
1878  an  Ort  und,  Stelle  gemacht  habe,  durchaq» 
bestätigt.  Wo  in  Nebensachen  pein  Widersrucb 
bestand,  habe  ich  mich  fast  immer  überzeugen 
können,  daß  der  Verf.  meinen  Angaben  gegen- 
über Recht  haben  müsse ;  doch  will  ich  sieht 
verschweigen,  daß  mir  dasEerykeion  im  liniea 
Arm  der  Statue  no.  28  antik  und  damit  die  Deu- 
tung auf  Hermes  gesichert  erschien.  Mit  noch 
größerer  Bestimmtheit  als  Schreiber  halte  ick 
jetzt  die  ergänzten  Tbeile  derKnidierin  (no.  97) 
für  modern  und  nur  den  Torso  für  alt;  damit 
erledigen  sich  manche  der  von  mir  Arch.  Zeit 
1876  S.  145  ff.  gemachten  Bemerkungen.  Auch 
füge  ich  hinzu,  daß  die  zurttckgebengte  Haltung 
des  Kopfes,  welche  Brauns  Publication  (Kunst- 
myth.  Taf.  77,  nach  Biepenhausens  Zeichnung) 
der  Statue  verleiht  und  welche  zu  dessen  selt- 
samer Auffassung  des  Motivs  geführt  hat,  in 
Wirklichkeit  nicht  vorhanden  ist.  Nur  bei  eimm 
allzu  nahen  Standpunkt  des  Zeichners  war  ein 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  LudoviBi.     599 

solches  Versehen  möglich.  Dies  ist  nicht  der 
einzige  Fall,  wo  Braun,  trotz  seiner  umfassenden 
Kennftniß  der  römischen  Antiken,  nicht  nach  den 
Originalen,  sondern  nach  Abbildungen  und  an- 
dern litterarischen  Hülfsmitteln  gearbeitet  hat. 
In  dem  Bache  über  die  „Ruinen  and  Maseen 
Roms"  finden  sich  zahlreiche  Belege  für  diese 
Beobachtung;  ich  will  hier  nur  beispielsweise 
anführen,  daß,  wie  Schreiber  richtig  bemerkt, 
die  Arme  des  ruhenden  Ares  (no.  63)  nie  ge- 
brochen waren,  während  Braun  Platners  entgegen- 
gesetzte Angabe  ausschreibt;  umgekehrt  ist 
Brauns  Angabe,  die  Beine  des  einschenkenden 
Satyrn  (no.  71)*)  seien  nie  gebrochen  gewesen, 
völlig  wider  den  Augenschein  und  vielleicht  nur 
aus  Platners  Schweigen  geschlossen. 

Die  genaue  Beobachtung  der  Ergänzungen 
oder  erhaltener  Reste  hat  zu  manchen  interessan- 
ten Berichtigungen  herkömmlicher  Ansichten  ge- 
führt So  hielt  der  dem  sog.  Germanicus  des 
Eleomenes  entsprechende  Hermes  (no.  94)  in 
der  Linken  ein  gesenktes  Eerykeion;  der 
noch  erhaltene  Rest  desselben  widerlegt  endgiltig 
die  an  sich  schon  recht  befremdliche  Meinung, 
daft  das  obere  Ende  des  emporgerichteten  Stabes 
die  herabgleitende  Chi  amy  s  am  Arme  festgehalten 
habe.  Der  sitzende  Apollo  (no.  116)  ver- 
dankt seinen  Hirtenstab,  der  zu  mancherlei  Deu- 
tungen veranlaßt  hat,  lediglich  der  Willkür  eines 
modernen  Ergänzers.  Umgekehrt  widerlegt  der 
sicher  antike  Rest  der  Schwertscheide  die  vorge- 
schlagene Deutung  des  am  Boden  sitzenden 
Kriegers   (no.  118)  als   Personification   eines 

*)  DaÄ  an  der  Copie  in  Petworth  die  von  Schreiber 
angeführte  Inschrift  %4noXl(6r*os  (ohne  inoia)  wahrschein- 
lich modern,  jedenfalls  keine  Künstlerinschrift  sei,  habe 
ich  mittlerweile  Arch.  Zeit.  1880  S.  17  Anm.  29  gezeigt. 


600  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18. 19. 

Hafens.  Dankenswert!)  ist  auch  die  Mittbeilung 
über  das  Relief  no.  103,  welches  ich  Arch. 
Zeit  1871  Taf.  53%  2  nach  einer  für  zuverlässig 
ausgegebenen  Zeichnung  Riepenhansens ,  ohne 
eigene  Prüfung  des  Originals,  publiciert  und 
ebenda  S.  148  f.  besprochen  habe.  Die  Angabe, 
daß  es  ein  griechisches  Grabrelief  sei,  wies  ich 
damals  zurück ;  mit  Recht,  da  es  sich  jetzt  als 
Nebenseite  eines  römischen  Medeasarkophages 
herausstellt.  Ich  ging  aber  zu  weit,  wenn  ich 
den  antiken  Ursprung  des  Ganzen  in  Zweifel 
zog;  ob  freilich  der  damaligen  Vorlage  gegen* 
über  „ohne  Grund"  (Schreiber  S.  123),  möchte 
ich  bezweifeln:  das  unantike  sentimentale  Ab- 
wischen derThränen  seitens  der  Frau  war  eben 
nur  ein  Fehler  der  Zeichnung,  und  der  so  an- 
stößig stillose  Mantel  des  Mannes  ist  am  Origi- 
nal gar  nur  mit  Kohle  auf  den  Grund  gezeich- 
net! Wie  ließ  sich  das  vermutben?  Interessant 
ist  ferner  der  Nachweis  von  fünfzehn  tiefen,  re- 
gelmäßig angeordneten  Bohrlöchern  an  dem  He- 
rakles köpfe  no.  17,  welche  auf  das  für  Hera- 
kles bisher  erst  in  einem  einzigen  sicheren  Bei- 
spiel nachgewiesene  Attribut  einer  Strahlenkrone 
(Florentiner  Gemme  bei  Gori  Thes.gemm.  astrif. 
I,  121)  hinzuweisen  scheinen.  Bestätigen  kann 
ich  die  Deutung,  welche  der  Verf.  den  Bohr- 
löchern über  der  Stirn  des  archaischen 
weiblichen  Kopfes  (no.  23)  giebt ;  auch  mir 
erschienen  sie  zur  Befestigung  von  Drahtlöckchen 
bestimmt.  —  Für  modern  erklärt  Schreiber  die 
in  der  That  sehr  auffällige  Halbfigur  eines  Kna- 
ben mit  der  Urne  an  dem  Grabstein  no.  37,  die 
Amor  und  Psyche  genannte  Gruppe  no.  50,  den 
Portraitkopf  no.  64,  den  bronzenen  Kolossalkopf 
des  M.  Aurelius  no.  85  (so  schon  Ficoroni). 

Ein  Zweifel  gegen  eine  Annahme  des  Verf.s 
scheint  mir  hinsichtlich  des  linken  Armes  der 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludovisi.     601 

Athena  Parthenos  des  Antiocbos  (no. 
114)  gestattet.  Schreiber  giebt  an,  neu  seien 
beide  Arme  mit  dem  auf  den  Achseln  (Schal- 
tern?) anfliegenden  Rande  der  Aegis,  und  fer- 
ner bemerkt  er  (S.  136) :  „Die  r.  Schulter  ist  ein 
wenig  gesenkt,  die  1.  dagegen  erhoben,  was  dar« 
auf  zu  deuten  scheint,  daß  die  Rechte  als  tra- 
gend, die  Linke  als  aufstützend  gedacht  waru. 
Die  Hebung  der  linken  Sqhulter  ist  in  der  That 
nieht  unbeträchtlich;  ferner  ist  es  beachtens- 
wert b,  daß  die  Aegis  sich  hier  gegen  den  Hals 
bin  zu  einigen  Falten  zusammenschiebt,  ein 
Motiv,  welches  nicht  in  einem  Aufstützen,  sondern 
nur  in  einem  Heben  des  Armes  (wie  es  auch  der 
Ergänzer  durchgeführt  hat)  seinen  Grund  haben 
kann.  Sollte  aber  auch  jenes  Stück  der  Schulter 
nnd  der  Aegis  ergänzt  oder  tiberarbeitet  sein,  so 
spricht  doch  für  einen  ursprünglich  gehobenen 
Arm  die  völlig  durchgeführte,  gewiß  nicht  mo- 
derne Bearbeitung  der  ganzen  Gewandpartie  zwi- 
schen der  linken  Achsel  und  dem  Gürtel.  Unter 
der  Achsel  wird  sogar  das  Nackte  sichtbar,  was 
bei  einem  gesenkten  und  aufgestützten  Arm  un- 
möglich wäre.  So  wenigstens  erschien  es  mir 
bei  einer  Untersuchung,  die  ich  1878  grade  auf 
diesen  Punkt  hin  unternahm.  Die  Frage  ist 
nicht  unwichtig,  wenn  es  gilt  den  Grad  der  Ab- 
hängigkeit der  Statue  des  Antiochos  von  ihrem 
unverkennbaren  Urbilde,  der  Parthenos  des  Phi- 
dias, zu  bestimmen. 

Nur  in  wenigen  Fällen  hätte  ich  die  Be- 
schreibung etwas  eingehender  gewünscht.  Daß 
der  berühmte  Herakopf  (no.  104)  nicht  genauer 
analysiert  wird,  scheint  mir  gerechtfertigt,  aber 
z.  B.  bei  dem  Knaben  mit  der  Gans  (no.  11), 
welchen  der  Verf.  mit  Recht  „eine  ungeschickte 
Umbildung  der  Gruppe  des  Boethos"  nennt,  hät- 
ten die  Abweichungen  von  letzterer  etwas  klarer 


602  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  16.  19. 

und  vollständiger  angegeben  werden  dürfen :  wie 
die  am  Körper  des  Knaben  emporgezogene  Gans 
ihren  einen  Faß  gegen  das  vortretende  linke 
Bein  des  Gegners  stemmt  u.  s.  w.  Die  sehr  in- 
teressante altertümliche  Frauenstatue  no. 29 
(an  deren  rechter  Seite  die  beiden  gefältelten 
Säume  in  der  That  an  einander  genäht  sind) 
hätte  eine  eingehendere  stilistische  Würdigung 
verdient.  Bei  der  G#ruppe  des  Menelaos 
(no.  69)  ist  die  Beschreibung  nicht  genau,  die 
Bestimmung  des  Motivs  nicht  scharf  genug,  der 
dritte  Absatz  enthält  mehre  ungenaue  oder  schiefe 
Behauptungen.  Die  Stellung  des  linken  Fußt* 
des  Jünglings  ist  weder  mit  einem  ruhigen  Stehen 
(wie  bei  der  Frau)  noch  mit  einem  Herantreten, 
sondern  nur  mit  einer  Wendung  zum  Fortgeben 
(von  einem  „entschiedenen  Ausdruck  des  Weg- 
sehreitens"  hat  meines  Wissens  niemand  gespro- 
chen) in  Einklang  zu  bringen.  Daran  ändert 
die  Bemerkung  nichts,  daß  der  Oberkörper  an 
dieser  Bewegung  nicht  theilnehme:  er  ist  eben 
erst  im  Begriff  sich  aus  der  Umarmung  zu  lösen, 
während  im  Unterkörper  die  Wendung  bereite 
begonnen  hat,  eine  bekanntlieh  in  der  antiken 
Kunst  häufige  Art  eine  allmähliche  Bewegung 
darzustellen.  Die  Vergleichung  der  Stellung  un- 
seres Jünglings  mit  derjenigen  des  lysippiseben 
Apoxyomenos  übersieht  über  einer  oberflächlichen 
Aehnlichkeit  den  großen  Unterschied  im  eigent- 
lichen Grundmotiv  der  Bewegung  beider  Figuren. 
—  Zum  Symplegma  des  Satyrn  und  der 
Nymphe  (no.  54)  bemerke  ich,  daß  das  weit 
vorzüglichere  Neapler  Exemplar  (Clarac  IV  667, 
1546  A),  welches  1860  im  gabinetto  segreto  stand, 
jetzt  aber  nicht  mehr  sichtbar  zu  sein  scheint, 
mit  dem  ludovisischen  nicht  ganz  genau  über- 
einstimmt. Der  rechte  Arm  der  Nymphe  ging 
dort,  wie  der  erhaltene  Best  zeigt,  ziemlich  steil 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludovisi.     608 

in  die  Höbe  und  die  Hand  packte  entweder  den 
Kopf  des  Satyrn,  wo  ein  Ansatz  derselben  übrig 
geblieben  zu  sein  scheint,  oder  sie  ward  von  der 
Rechten  des  Satyrn  gepackt  (so  erscheint  das 
Motiv  auf  der  Windsorer  Zeichnung  des  unter- 
gegangenen Exemplars  von  Whitehall,  Arch,  Zeit. 
1874  S.  68);  in  der  ludovisischen  Gruppe  wird 
der  Arm  mehr  horizontal  gehalten  und  dadurch 
der  Ausdruck  des  Bingens  geschwächt.  Ferner 
ist  in  der  Neapler  Gruppe  der  ganze  Leib  der 
Nymphe  bis  unter  den  Schoß  völlig  entblößt,  und 
ea  scheint,  daß  die  Linke  das  Gewand  am  Schen- 
kel *u  fassen  suchte,  um  die  entstandene  Blöße 
zu  bedecken.  In  der  ludovisischen  Gruppe  ver- 
hüllt dagegen  das  Gewand  die  linke  Hüfte  und 
ein$a  Theil  des  Unterleibes  und  fällt  über  den 
linken  Unterarm  herab,  während  die  linke  Hand 
die  zudringliche  Linke  des  Satyrn  von  der  Brust 
zu  entfernen  sucht.  Letztere  beiden  Abweichun- 
gen stehen  offenbar  im  Zusammenhang  mit  ein- 
sonder.  Das  Exemplar  von  Whitehall  zeigte  die 
ueiehere  Gewandung  des  ludovisischen,  aber  das 
niebtwagende  Motiv  der  in  die  Luft  vorgestreck- 
ten Kftgdi  welches  die  allein  erhaltene  Zeich- 
nung aufweist,  fiel  wahrscheinlich  einem  unge- 
schickten Ergänaer  zur  Last  — 

In  Anordnung  und  Behandlung  der  einzelnen 
Artikel  hat  sieh,  Schreiber  offenbar  Benndorfs 
und  Schönes  lateranischen  Katalog  zum  Muster 
genommen.  Auch  bei  ihm  finden  wir  die  An- 
gabe der  Ergänzungen  der  eigentlichen  Beschrei- 
bung vorangestellt.  Bei  Einzelstatuen  oder  wo 
Abbildungen  vorliegen  mag  das  bequem  sein, 
bei  Gruppen  oder  gar  bei  figurenreichen  Reliefs, 
besonders  wenn  sie  noch  nicht  publiciert  sind, 
scheint  mir  der  Vortheil  dieses  Verfahrens  zwei- 
felhaft m  sein,  da  der  Leser  nunmehr  gezwungen 
wird  an  zwei  Stellen  zu  lesen,  um  sich  das  Bild 


604  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18. 19. 

innerlich  hervorzurufen.  Sehr  praktisch  sind,  na- 
mentlich bei  uiipublicierten  Stücken,  die  Verwei- 
sungen desVerf.s  auf  gleiche  oder  ähnliche  Bild- 
werke und  deren  Abbildungen,  die  sich  gelegent- 
lich zu  vollständigen  Katalogen  steigern  (z.  B. 
no.  71.  165;  bei  no.  90  wäre  die  Anführung  einer 
ähnlichen  Statue  erwünscht  gewesen).  Die  Künst- 
lerinschriften sind  sämmtlich  in  Facsimileholz- 
schnitten  dem  Texte  einverleibt.  Den  Schluß  der 
Artikel  bilden  Angaben  über  die  Publicationen 
der  ludovisischen  Antiken  selbst,  sowie  sehr  aus- 
führliche Literaturnachweise,  denen  hie  und  da 
einige  Kürzungen  kaum  geschadet  haben  würden. 
Besonders  dankenswerth  ist  die  sorgfältige  Bück* 
sichtnahme  auf  Fundnotizen,  ältere  Beschreibun- 
gen und  die  Publicationen  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts (aber  warum  mußten  z.  B.  bei  Ferner 
auch  alle  Nachdrucke  citiert  werden?);  sie 
gewähren  über  Ergänzungen  wie  über  Schicksale 
der  Statuen  mancherlei  Aufschluß.  Gelegent- 
lich wird  ein  Zweifel  erlaubt  sein.  Sollte  no.  137 
wirklich  aus  Villa  Medici  stammen  und  nicht 
vielmehr  nur  ein  Versehen  in  der  Unterschrift 
bei  Cavalieri,  etwa  durch  Verwechselung  mit  der 
mediceischen  Statue  (Uff.  337  D.)  veranlaßt,  anzu- 
nehmen sein?  So  viel  mir  bekannt,  waren  die 
Besitzer  jener  Villa  wohl  sehr  eifrige  Käufer, 
aber  zum  Abgeben  wenig  geneigt.  Bei  der 
kauernden  Aphrodite  (no.  12)  ist  es  kaum  nö- 
thig,  eine  neue  Ergänzung  seit  den  Zeiten  Äl- 
drovandis  anzunehmen;  ich  denke,  dieser  wird 
geschrieben  haben:  con  la  man  sinistra  Hen  la 
sua  camicia,  con  la  destra  un  panno  (nicht 
porno,  wie  in  den  Ausgaben  steht  und  von  Bois- 
sard  getreulich  wiederholt  wird).  Dann  wird 
aber  auch  der  nach  einer  Zeichnung  Salviatis 
ausgeführte  Stich  von  Episcopius  (Taf.  78),  ohne 
Ortsangabe,  schwerlich  auf  dies  Exemplar  gehen, 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludorisi.     605 

da  bier  alle  Ergänzungen  fehlen.   Als  ein  Beispiel, 
zn  wie  erheblichen  Resultaten  solche  Stadien  füh- 
ren können  (vgl.  aach  Arch.  Zeit  1880  S.  13  ff.), 
führe  ich  die  Anmerkung  zu  no.  91  an;  in  die* 
der  weist  Schreiber  den  ohne  Grund  auf  Julius 
Cäsar   bezogenen  Bronzekopf  als  identisch  mit 
dem  angeblich  in  Liternum  gefundenen  Kopf  des 
Scipio  nach,  welcher  in  der  neuerdings  von  Ber- 
noulli wiederaufgenommenen  Untersuchung  über 
die  Scipiobüsten  eine  hervorragende  Rolle  spielt. 
Diese  Untersuchungen  gründen  sich  zu  gro- 
ßem Theil   nicht  allein  auf  gedruckte  oder  ge- 
stochene Quellen,  sondern  auch  auf  handschrift- 
liche Inventare,  welche  es  Schreibers  Spüreifer 
gelungen   ist  in  römischen  Staats-  und  Privat- 
archiven aufzufinden  und  sich  nutzbar  zu  machen« 
Aus  diesen  neu  erschlossenen  Quellen  ist  vorzugs- 
weise die  höchst  dankenswerthe  Geschichte   der 
Sammlung  geschöpft,  welche  die  Einleitung  bil- 
det.   Während  bisher  die  Entstehung  der  Ludo- 
visischen  Sammlung  nur  Gegenstand  vager  Ver- 
muthungen  war,  liegt  jetzt  das  Wesentliche  klar 
vor.    Die  Villa  ist  das  Werk  eines  Mannes,  des 
Cardinalnepoten  Ludovico  Ludovisi,    und  —   es 
ist  in  der  That  erstaunlich!  —  in  wenig  mehr 
als  einem  Jahre  zu  Stande  gebracht.     Denn  in 
das  Jahr  1622  fällt  der  Ankauf  der  ehemaligen 
Villa  Orsini,   der  Beginn   der  Neubauten    unter 
Leitung  Domenichinos   und  die  Erwerbung   der 
meisten  Antiken.    Schon  im  nächsten  Jahre  starb 
der  päpstliche  Oheim  Gregor  XV.,  und  demnächst 
verließ  der  Cardinal,  den  Anfeindungen  der  nun- 
mehr herrschenden  Familie  Barberini  weichend, 
Rom,  ohne  auch  nur  die  Villa  vollendet  zu  ha- 
ben.   Schreiber  hat  hinter  Hecken  eine  Anzahl 
von  Marmoren  (no.  190 — 206)  entdeckt,  welche 
allem  Anschein  nach  nie  zur  Aufstellung  gelangt 
sind,  sondern  seit  drittehalb  Jahrhunderten  dort  bei 


606  Gott.  gel.  Anz.  1681.  Stück  18. 19. 

Seite  liegen !   Nur  wenige  unbedeutende  Antiken 
wurden  mit  der  Villa  selbst  oder   mit  der  Villa 
Altemps  (später  Conti,  jetzt  Torlonia)  in  Fräs- 
cati  erworben  (s.  über  letztere  das  Inventar  IJ 
auf  S.  26).   Auch  die  einst  so  reichen  Samminn- 
gen  der  Familie  Cesarini   waren   bereits  durch 
frühere  Verkäufe  allzu  sehr   gelichtet,   als  daß 
dem  Cardinal  Ludovisi  mehr  als  ein  letzter,  im 
Ganzen  unerheblicher  Rest  übrig  geblieben  wäre, 
darunter  die  interessante  Karyatide  no.  146  (s. 
das  Inv.  II  vom  Jahre  1616  auf  S.  25).    Den 
eigentlichen   Grundstock   der   neuen   Sammlung 
bildete  der  Hauptinhalt  einer  der  hervorragend- 
sten Sammlungen  des  Cinquecento,  von  den  bei- 
den  Brüdern  Cesi,   dem   Cardinal  Paolo  Emilio 
(t  1537)   und  dem  Cardinal  Federico  (f  1565) 
mit  großem  Eifer  gebildet   und   in  dem  Garten 
des  Palazzo  (nicht  Villa)  Cesi  im  Borgo  aufge 
stellt.    Wir  kennen  sie  ziemlich  genau  aas  der 
ausführlichen  und  begeisterten  Schilderung  Ulisse 
Aldrovandis,  welcher  sie  im  J.  1550,  also  unter 
dem  zweiten  Besitzer,  kennen  lernte.    (Auf  die- 
sen, nicht,  wie  der  Verf.  S.  7  andeutet,  auf  den 
Bruder  geht  auch  Aldrovandis  Lob ;  das  beweist 
der  von  Schreiber  nicht  mitangeführte  Schluß- 
satz :  AI  Sig.  Iddio  jriaccia,  che  se  ne  possa  lieta- 
mente,  e  di  lungö  godere  il  $uo  buon  Sigtiore.) 
Der  Verf.  hat  nicht   bloß  Aldrovandis  Beschrei- 
bungen sorgfältig  verwertbet,  sondern  auch  das 
Verkaufsdocument  von  1622  im  Staatsarchiv  auf- 
gefunden und  mitgetheilt  (luv.  IV,  S.  27).    Die- 
ser  Sammlung   entstammt  z.  B.    der  berühmte 
Kolossalkopf  der  „ludovisischen  Junotf,  Welcher 
freilich  erst  von  Winckelmafin  in  seinem  Werth 
erkannt  werden  mußte,  uüi  tu  seinem  Weltrahm 
tu  gelangen.    Zu  den  bisher  genannten  Erwer- 
bungen kamen  dann  zahlreiche  Eitizelänkäofe 
und  neue  Funde,  auch  einzelne  Geschenke  rötiri- 


Schreiber,  Antike  Bildwerke  der  Villa  Ludovisi.     607 

scber  Großen  an  den  allmächtigen  Nepoten.  Aber 
seltsam,  grade  bei  einigen  Hauptstücken  der 
Sammlung  —  bei  der  Galliergruppe  und  ihrem 
einstigen  Genossen,  dem  jetzt  capitolinischen 
sterbenden  Gallier,  bei  dem  Ares,  bei  der  Gruppe 
des  Menelaos  —  fehlt  es  an  jeder  Notiz  über  die 
Herkunft.  Darauf  gründet  sich  die  alte  Ver- 
muthung,  daß  diese  meist  sehr  wohl  erhaltenen 
Werke  auf  dem  Boden  der  Villa  selbst,  bekannt- 
lich einem  Theile  der  sallustischen  Gärten,  zum 
Vorschein  gekommen  seien.  Oder  besaß  der  Car- 
dinal sie  vielleicht  schon  vorher,  wie  Julius  IL 
schon  als  Cardinal  den  Apollon  besaß,  welcher 
dann  der  erste  Anlaß  zur  Gründung  des  belve- 
derischen  Statuenhofes  ward?  Jedenfalls  tauchen 
jene  Statuen  für  unsere  Kunde  erst  in  und  mit 
der  Villa  Ludovisi  auf,  waren  also  schwerlich 
schon  lange  vorher  bekannt.  Einen  Ueberblick 
über  die  Resultate  des  so  rascb  unterbrochenen 
Sammeleifers  des  Cardinais  bietet  das  wiederum 
erst  von  Schreiber  aus  dem  Hausarchiv  der  Fa- 
milie Buoncompagni-Ludovisi  ans  Licht  gezogene 
Inventar  der  Villa  von  1633  (S.  28  ff.),  welches, 
obgleich  nicht  einmal  ganz  vollständig,  doch 
über  380  Marmorwerke  nennt!  Dies  Inventar, 
kurz  nach  dem  Tode  des  Cardinais  aufgenom- 
men, bezeichnet  den  Höhepunkt  der  Sammlung. 

Die  Villa  selbst  ward  freilich  noch  durch  den  Ankauf 
der  benachbarten  Vignen  Altieri,  Verospi,  Borioni  bis  an 
die  Porta  Salara  erweitert  (s.  den  Plan  am  Ende  des 
Buches),  auch  kamen  einzelne  Stücke  hinzu;  aber  zahl- 
reichere und  wichtigere  (die  Gruppe  von  San  Udefonso, 
der  „sterbende  Fechter"  u.  s.  w.)  gingen  der  Sammlung 
verloren,  und  bei  den  Wanderungen  der  Marmore,  na- 
mentlich aus  dem  Hauptpalast  in  die  ehemalige  Bibliothek 
(die  jetzige  Statuengallerie)  ward  Vieles  ausgeschieden 
und  gerieth  in  jene  Magazine,  in  welchen  erst  Schreiber 
diese  vergrabenen  und  verschollenen  Schätze  wieder  ent- 
deckt hat. 

Das  besprochene  Buch  legt  einen  Wunsch  nahe,  den 


606  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  18.19. 

es  noch  gestattet  sein  mag  hier  auszusprechen.  Unsere 
Kenntniß  der  „Wanderungen  und  Wandelungen"  des  rö- 
mischen Antikenvorrathes  liegt  noch  sehr  im  Argen.  Die 
von  der  italienischen  Regierung  neuerdings  begonnene 
Herausgabe  der  Doeumenti  inediti  per  sertrire  aUa  stork 
dei  Musei  d' Italia  und  Eug.  Müntzs  treffliche  Arbeiten 
schaffen  allmählich  authentischen  Stoff  herbei.  Unser 
Buch  bringt  auch  seinen  Beitrag  dazu.  Meines  Wissens 
haben  v.  Duhn  und  Schreiber  noch  manches  ähnliche  Ma- 
terial gesammelt.  Unser  Verf.  verweist  auch  gelegentlich 
auf  bibliothekarische  Studien,  die  er  den  wichtigen  Fund- 
berichten Flaminio  Yaccas  und  den  Aufzeichnungen  Cas- 
siano  dal  Pozzos  nicht  ohne  Erfolg  gewidmet  habe.  Daß 
er  das  unschätzbare  Büchlein  AMrovandis  genau  kennt 
und  zu  würdigen  weiß,  zeigt  fast  jede  Seite.  Möchte  doch 
Schreiber  die  Ergebnisse  seiner  Studien  uns  nicht  vorent- 
halten. Yacca  und  Sante  Bartoli  (für  letzteren  bietet 
auch  die  Bibliothek  in  Windsor  manches  Neue)  würden 
wir  gern  in  einer  zuverlässigeren  und  bequemeren  Aus- 
gabe benutzen  können,  als  in  den  Drucken  Montfaucons, 
der  Roma  antica  von  1741,  und  in  Feas  Miscellanea.  Yor 
Allem  aber  würde  eine  sorgfaltige,  mit  kurzem  aber  ge- 
nauen Commentar  versehene,  mit  beständiger  Bücksicht 
auf  die  ältesten  Publicationen  durchgeführte  Ausgabe  von 
Aldrovandis  Statue  für  das  bezeichnete  Gebiet  der  ar- 
chäologischen Studien  von  dem  höchsten  Werthe  sein, 
sie  würde  über  eine  Menge  schwieriger,  vereinzelt  kaum 
zu  lösender  Fragen  helles  Licht  verbreiten.  Ich  sollte 
nach  der  vorliegenden  Arbeit  denken,  daß  Dr.  Schreiber 
hierzu  besonders  berufen  und  wohl  vorbereitet  sei,  und 
kann  nur  den  dringenden  Wunsch  aussprechen,  daß  er 
dieser  unscheinbaren  und  mühevollen,  aber  sehr  dankens- 
werthen  Aufgabe  recht  bald  seine  Kräfte  widmen  möge. 

Daß  sorgfältige  Register  (der  Abbildungen,  der  Ge- 
genstände u.  8.  w.,  der  Orte,  an  welchen  im  Buche  er- 
wähnte Antiken  sich  befanden  oder  befinden)  dem  Buche 
nicht  fehlen,  bedarf  kaum  der  Erwähnung.  Auch  verdient 
die  Verlagsbuchhandlung,  welche  sich  bei  diesem  Kata- 
loge wie  bei  Dütschckes  „antiken  Bildwerken  in  Ober- 
italien44 einer  Unterstützung  seitens  des  archäologischen 
Institutes  zu  erfreuen  hatte,  für  die  Ausstattung  volle 
Anerkennung. 

Straßburg  i.  Eis. Ad.  Michaelis. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  F.  Btchtd,  Director  d.  Gott.  gel.  Ans. 

Verlag  der  DUtoidCschm  Vorlagt-  Buchhandlvmf. 

Druck  dsr  DkUrich'tchtn  Univ.- Buchdrucktni  (W.  Fr.  Katstmtrh 


609 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  20.  21.  18.  u.  25.  Mai  1881. 


Inhalt :  Jahns,  Atlas  snr  Geschichte  des  Kriegswesens.  Von 
6.  Köhler.  —  8  chirr  mach  er,  Geschichte  von  Spanien.  Bd.  IV. 
Yom  Verf.  —  Krichenhaner,  Theogonie  und  Astronomie.  Schrei- 
ber, Apollon  Pythoktonos.  Yon  W.  A  Rosehtr.  —  Revue  des  Stades 
jnives.  Nr.  1.    von  8  Löwenfeid. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens 
von  der  Urzeit  bis  zum  Ende  des  16.  Jahrhunderts. 
Bewaffnung,  Marsch-  und  Kampfweise,  Befestigung, 
Belagerung,  Seewesen.  Von  Max  Jahns.  Leipzig. 
Grunow  1878.  100  Tafeln  mit  gegen  1500  Figuren 
und  Plänen. 

Handbuch  einer  Geschichte  des  Kriegswesens  etc.  Tech- 
nischer Theil.    (Fortsetzung.) 

Mit  so  großer  Sympathie  auch  die  ersten 
Hefte  des  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens 
aufgenommen  worden  sind  und  in  Bezug  auf 
das  Alterthum  auch  der  Text  (Handbuch)  im 
Wesentlichen  befriedigt  hat,  so  enttäuscht  sind 
wir  von  der  Fortführung  des  Werks  bei  seiner 
Ausdehnung  auf  das  Mittelalter.  Allerdings  hat 
sich  der  Verfasser  nur  anheischig  gemacht  eine 
auf  den  Forschungsergebnissen  der  letzten  Jahr- 
zehende beruhende  Zusammenstellung  des  in 
Monographien  zerstreuten  Materials  über  den 
technischen  Theil  des  Kriegswesens  zu  geben, 
aber  ohne  eignes  ausgedehntes  Quellenstudium, 
wie  es  zur  Sichtung  des  Materials  und  zur  Aus- 

39 


610  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  20. 21. 

füllnng  der  Lücken  erforderlich  ist,  und  obne 
skeptische  Kritik  bei  Benutzung  desselben,  ist 
ein  solches  Unternehmen  nicht  durchzuführen. 
Der  Verfasser  zeigt  sich  Schriftstellern  wie 
Viollet-le-Duc,  Rüstow,  Wttrdinger,  Lacombe, 
Demmin,  Meynert,  Meyer  (Geschichte  der  Feuer- 
waffentechnik) etc.  gegenüber  viel  zu  gläubig. 
Davon  wird  nicht  bloß  das  Handbuch,  sondern 
auch  der  Atlas  berührt.  Im  Allgemeinen  wird 
man  letzteren  jedoch  als  unabhängig  vom  Hand- 
buch betrachten  können,  da  jedes  Blatt  eine 
eingehende  Legende  hat  und  in  seiner  Ausfüh- 
rung für  den  vorliegenden  Zweck  nichts  zu 
wünschen  übrig  läßt.  Wir  werden  es  daher 
vorzugsweise  mit  dem  Handbuch  zu  thun  haben 
und  müssen  vor  Allem  bemerken,  daß  sich  darin 
bei  Bezeichnung  der  Blätter  des  Atlasses  zahl- 
reiche Druckfehler  eingeschlichen  haben,  welche 
die  Benutzung  des  Atlasses  sehr  erschweren. 
Das  Handbuch  selbst  ist  lückenhaft  und  sehr 
ungleich  in  seinen  einzelnen  Theilen.  Mit  Vor- 
liebe ist  die  Befestigungskunst  bebandelt  und 
sowohl  im  Atlas  wie  im  Handbuch  ein  uner- 
meßliches Material  aufgespeichert.  Namentlich 
ist  der  Einfluß,  den  die  Artillerie  im  15.  und 
1(5.  Jahrb.  auf  die  Befestigung  gewinnt,  sehr 
ausführlich  dargelegt.  Der  Belagerungskrieg 
fällt  schon  dagegen  ab  und  die  Taktik  ist  sogar 
dürftig  dargestellt.  Für  die  Infanterie  ist  Bttstow 
fast  in  seinem  ganzen  Umfange  wiedergegeben, 
für  die  Kavallerie  liegen  solche  Vorarbeiten  aber 
nicht  vor.  Der  Verf.  hat  daher  die  reiche  Ver- 
gangenheit dieser  Waffe  nicht  zu  bewältigen 
vermocht.  Die  mittelalterliche  Bewaffnung  irt 
im  Ganzen  befriedigend  dargestellt,  aber  mehr 
für  eine  Kulturgeschichte  als  für  ein  militäri- 
sches Handbuch.     Man  muß  von  solchem  doch 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    611 

verlangen  können,  daß  man  sich  darin  leicht 
orientieren  kann,  wie  die  Bewaffnung  in  dieser 
oder  jener  Schlacht  war.  Bei  der  merkwürdi- 
gen Neigung  des  Verfassers  stets  in  die  folgende 
Periode  überzugreifen  and  neue  Erscheinungen 
vorzudatieren,  ist  das  aber  außerordentlich  er- 
schwert, ja  unmöglich  gemacht.  Die  Artillerie 
ist  völlig  unkritisch  behandelt.  Nur  theilweise 
befriedigend  ist  die  Darstellung  der  Schlachten. 
Der  Verf.  hat  sich  hauptsächlich  an  diejenigen 
gehalten,  die  bereits  eine  gute  Darstellung  ge- 
funden haben  und  giebt  diese  dann  sans  gene 
wieder.  Dabei  ist  natürlich  die  ältere  Zeit 
schlecht  weggekommen.  Er  beginnt  erst  mit 
den  Schlachten  der  franz.-englischen  Kriege  des 
14  Jahrh.  Von  den  Reiterschlachten  der  Bitter- 
zeit erfährt  man  daher  so  gut  wie  gar  nichts. 
Um  das  nachzuholen  wird  die  Schlacht  von 
Tannenberg  1410  gewählt,  die  allerdings  in 
hohem  Grade  geeignet  ist,  die  Taktik  der$itter- 
zeit  zu  veranschaulichen.  Aber  dazu  würden 
gründlichere  Studien  gehört  haben,  als  Verf. 
darauf  verwendet  hat.  Er  läßt  sich  fast  durch- 
weg von  Job.  Voigt  führen  und  nimmt  alle  die 
Uebertreibungen  desselben  in  Bezug  auf  Stärke 
der  Heere,  die  Ausdehnung  der  Schlachtlinie, 
die  völlig  aus  der  Luft  gegriffene  Formation  der 
Truppen,  das  Detachement  von  Seemen  und  das 
Lager  von  Frögenau  mit  in  den  Kauf.  Die 
Ansicht,  daß  die  Schlachthaufen  des  Fußvolks 
und  der  Reiterei  wahrscheinlich  gemischt  ge- 
standen hätten,  ist  unbegründet.  Die  Treffen 
bestanden  nur  aus  Reitern,  das  Fußvolk  befand 
sich  dahinter  in  der  Wagenburg,  die  nach  eng- 
lischem Vorbilde  einen  integrierenden  Theil  der 
Schlachtordnung  bildete.  Von  sla vischen  Flügel- 
reserven hinter  den   drei  Treffen  (S.  885)  und 

39* 


612  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

und  deren  Eingreifen  ist  nirgends  die  Bede. 
Ebenso  wenig  von  südslawischen  nnd  tatarischen 
Plänklern,  die  sich  zwischen  die  Rotten  der 
deutschen  Ritter  stahlen,  um  den  Pferden  mit 
scharfem  Hesser  die  Sprunggelenke  abzuschnei- 
den. Es  beruht  dies  auf  einer  falschen  Deu- 
tung einer  Stelle  der  Ghron.  conflict  us.  Das 
Eingreifen  des  Hochmeisters  wird  unrichtig  dar- 
gestellt und  das  Haupt  des  Eidechsenbundes  be- 
fand sich  nicht  in  Reserve,  sondern  im  Treffen 
des  Hochmeisters.  Der  Verlust  eines  großen 
Tbeils  der  Ordensartillerie  gleich  zu  anfang  der 
Schlacht  ist  vollkommen  begründet,  was  Verf. 
hezweifelt. 

Ich  habe  mit  diesen  Bemerkungen  nur  den 
Standpunkt  des  Verf.  in  Bezug  auf  die  histori- 
sche Kritik  der  Thatsachen  andeuten  wollen, 
auf  seinen  Mangel  an  Schärfe  in  Beurtheiluog 
der  einschlägigen  neuen  Literatur  habe  ich  oben 
hingewiesen. 

Die  Urzeiten  und  deren  Völker,  die  Kelten, 
Germanen,  Normannen  sind  im  Allgemeinen  gut 
dargestellt,  die  Byzantiner,  Neu-Perser,  Araber 
und  die  orientalische  Kriegsfeuerwerkerei  nur 
skizziert.  Dies  gilt  auch  von  den  Turkvölkern, 
wohin  der  Verf.  in  erster  Reihe  die  Hunnen, 
Avaren,  Ungarn,  in  zweiter  die  Mongolen,  Ta- 
taren und  TUrken  rechnet.  Von  den  Ungarn 
wird  zu  wenig  gesagt,  das  15.  Jahrhundert,  wo 
sie  die  Vormauer  der  christlichen  Welt  gegen 
die  Türken  bildeten,  ist  ganz  übergangen.  In 
Betreff  der  Mongolen  und  Türken  fehlt  ihm  die 
Kenntniß  der  Quellen.  Er  stellt  die  Schlacht 
bei  Wahlstadt  1241  nach  Thebesius  (Liegnitzer 
Jahrbücher)  dar,  als  ob  sich  in  Liegnitz  beson- 
dere Ueberlieferungen  erhalten  hätten.  Theb. 
schöpft  aus  Miechow  und  dieser  aus  Dtugoss, 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    613 

auf  den  alle  Nachrichten  zurückführen,  ohne 
daß  dessen  Angaben  beglaubigt  sind,  noch  eine 
innere  Wahrscheinlichkeit  haben.  In  Bezug  auf 
die  Türken  begnügt  er  sich  mit  v.  Hammer  und 
Ziockeisen  und  verliert  sie  seit  der  Eroberung 
von  Konstantinopel  ganz  aus  den  Augen. 

Das  Kriegswesen  der  Russen,  Finnen,  Ae- 
stier,  Littauer  und  Polen  ist  nur  skizziert.  Bei 
Polen  wird  sehr  richtig  hervorgehoben,  daß  ihre 
Ausrüstung  und  Bewaffnung  sich  im  Mittelalter 
durchaus  nach  deutschem  Muster  gebildet  bat 
and  die  polnische  Nationaltracht  erst  mit  An- 
fang des  16.  Jahrh.  festere  Formen  annimmt. 
Er  hätte  hinzufügen  können,  daß  auch  ihre 
Taktik  durchaus  deutsch  war,  sowohl  in  der 
Formation  der  Schlachthaufen  mit  einem  „Spitz", 
als  in  der  Aufstellung  in  drei  Treffen.  Selbst 
die  Schwertumgürtung  vor  der  Schlacht  wurde 
in  deutscher  Weise  ausgeführt.  Die  Kriegskunst 
der  Hussiten  wird  (S.  887—898)  eingehend  nach 
Palacky  besprochen.    Die  Aufnahme  der  Kriegs- 

V 

Ordnung  Wenzel  Wlczek  von  Cenow's  ist  nur  an- 
zuerkennen. Die  Schweden,  Norweger  und  Dä- 
nen sind  fast  zu  knapp  gehalten,  ebenso  die 
Spanier  bis  zu  den  Zeiten  Ferdinands  des  Ka- 
tholischen. In  Bezug  auf  die  Bewaffnung  der 
Spanier  muß  ich  bemerken,  daß  sie  bis  zur  Be- 
rührung mit  den  Engländern  1367  sehr  leicht 
war  und  daß  sich  der  Einfluß  der  letzteren  hier  in 
derselben  Weise  geltend  macht,  wie  in  Italien  und 
Deutschland.  Wir  haben  hierfür  das  compe- 
tente  Zeugniß  von  Ayala*),  wie  in  Italien  das  des 

*)  Don  Pedro  Perez  de  Ayala,  obersten  Kanzlers 
von  Castilien  Chronik  Don  Pedros.  Madrid  1779.  Er 
focht  bei  Najera  als  Bannerträger  auf  seiten  Don  Pedro's 
und  sagt  I  399:  ca  ay  comenzaron  las  armas  de  baci- 
netes   6  piezas  6  cotas,  et  arnls  de  piernas  6  brazos,  6 


614  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

Filippo  Villani.  Fttr  letzteres  wird  mit  Recht 
nach  dem  Vorgange  Burkhardts*)  die  hohe  Be- 
deutung des  Condottieri-Wesens  für  die  Ent- 
wicklung der  modernen  Kriegskunst  hervorge- 
hoben. Referent,  der  dies  1873  unabhängig  von 
Burkhardt  zur  Sprache  brachte  **),  fand  damals 
entschiedenen  Widerspruch. 

Frankreich,  England  und  Deutschland  stehn 
selbstredend  im  Vordergrunde  der  Betrachtung. 
Ersteres  wird  infolge  der  guten  Vorarbeiten  die 
hier  vorhanden  sind,  besonders  bevorzugt. 

Hinsichtlich  des  Seewesens  begnügt  sich  der 
Verf.  im  Allgemeinen  den  Standpunkt  der  ma- 
ritimen Nationen  mehr  in  politischer  Beziehung 
darzustellen,  als  in  die  Technik  des  Schiffis- 
wesens  einzudringen,  do  eil  darf  man  deshalb 
mit  dem  Verf.  nicht  rechten  und  kann  ihm  ftr 
das  Gebotene  nur  dankbar  sein. 

Es  bleibt  noch  übrig  unsere  oben  ausge- 
sprochene Ansicht  über  die  Bearbeitung  der 
einzelnen  Disciplinen  näher  zu  begründen. 

1.    Befestigung  und  Belagerungskrieg. 

Ueber  die  Befestigung  haben  wir  nur  wenige 
Bemerkungen  zu  machen.  Verf.  bezeichnet  (S. 
616)  den  Haupttburm  der  Burgbefestigung  mit 
„Bergfrit".     Im   ganzen   Lauf   des   Mittelalters 

glaves  6  dagas  £  estoques;  ca  antes  otras  usaban,  per- 
puntes  (gesteppte  Wftmmser)  capellinas,  e'  lanzas  (Wurf- 
spieße im  Gegensatz  zu  glaves,  Lanzen),  £  antes  decian 
omes  de  caballo  4  daqui  comenzaron  „tantas  lanzas". 
Ich  bemerke  das,  weil  der  Graf  Clonard,  dem  Verf.  folgt, 
die  schwere  Bewaffnung  schon  in  das  18.  Jahrhundert 
verlegt. 

*)  Burkhardt,  die  Kultur  der  Renaissance  in  Italien. 
Basel  I860.    Abschnitt  der  Krieg  als  Kunstwerk. 

**)  üeber  den  EinfluB  der  Feuerwaffen  auf  die  Tak- 
tik. Historisch  -  kritische  Untersuchungen  von  einem 
höhern  Offizier.    Berlin  bei  Mittler.     1878.    S.  5. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    615 

bezeichnet  Bergfrit  nichts  anderes  als  hölzerner 
Thurm,  sowohl  bei  provisorischen  Befestigungen 
wie   im   Belagerungskriege   (Ebenhöhe).     Auch 
in   den  Bargen   werden    die  hölzernen  Thttrme 
damit  bezeichnet,   womit  man  die  Belagerungs- 
thürme  zu  überhöhen  suchte.    Wie  das  im  Mit- 
telalter häufig  vorkommt,   bebalten   sie    diesen 
Namen  auch  bei,  wenn  sie  später  in  Stein  aas* 
gebaut  wurden.   Es  sind  dies  stets  hohe  Thttrme 
von  geringem  Durchmesser,  die  mit  demHaupt- 
thurm  nichts  zu  thun  haben.     Auch  die  hölzer- 
nen Eirchthürme  wurden  Bergfrit  (beffroy)   ge- 
nannt und  behielten   dann   ihren  Namen,   wenn 
sie  in  Stein   ausgeführt   wurden.     Der  Oberst 
von  Gohausen,  der  zuerst  den  Haupttburm   der 
Barg  Bergfrit  nennt,  weiß  zur  Begriindang  sei- 
ner Ansicht   nur   eine  Stelle  in   einer  Urkunde 
bei  Lacomblet  anzuführen*),   wo    aber  Bergfrit 
durchaus  nichts  anderes  bedeuten  kann,  als  höl- 
zerner Thurm.    Krieg  von  Hochfelden  **)   nennt 
den  betreffenden  Thurm  immer  nur  Haupttburm. 
Was  der  Verf.  S.  657  von  der  Verbreiterung 
der  Mauern   der  Städtebefestigungen  durch  An- 
setzen überwölbter  Strebepfeiler  nach  den  Kreuz- 
ztigen   sagt,   könnte  den  Eindruck  machen,    als 
ob  dies  eine  allgemeine  Maßregel  gewesen  wäre. 
Es  hat  jedoch  nur   in  sehr  beschränktem  Maße 
stattgefunden.     Nur  Städte  wie  Köln   konnten 
sich  das  erlauben. 

Unter  den  vielfachen  Bedeutungen  von  Bar- 
bacan  (S.  661)  ist  diejenige  als  Zwinger  tiber- 
sehn,  die   in  Italien  gebräuchlich   war,   so  daß 

*)  Von  Gohausen.  Die  Bergfriede,  besonders  rhei- 
nischer Bargen.    S.  8. 

**)  Krieg  von  Hochfelden,  Gesch.  der  Milit.  Archi- 
tectur  in  Deutschland  von  der  Römerherrschaft  bis  zu 
den  Kreuzzügen.    Stuttg.  1859. 


616  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

höchst  wahrscheinlich  der  norddeutsche  Ana- 
druck Parcham  für  Zwinger,  der  durch  den 
deutschen  Orden  eingeführt  wurde,  eine  Ver- 
stümmelung von  Barbacan  ist*). 

Unter  den  Grenzbefestigungen  (S.  1107- 
1115)  vermißt  man  die  eigenthümlichen  Maß- 
nahmen des  deutschen  Ordens  in  Preußen,  die 
Gehege,  Burgen,  Blockhäuser  und  die  „Wildniß". 

Zu  den  Quellen  für  die  Befestigungsgeschicbte 
von  Danzig  (S.  1121)  gehört  vor  Allem  Hoburg**l 
Der  außerordentliche  Aufwand  von  Mitteln,  wel- 
chen die  Stadt  bei  ihrer  eigenthümlichen  Stel- 
lung Polen  und  später  Schweden  gegenüber  seit 
Ende  des  15.  bis  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  auf 
den  Festungsbau  verwandte,  hat  hier  Großartiges 
geschaffen.  Verf.  hätte  daher  ein  reiches  und 
interessantes  Material  gefunden. 

Die  Marienburg  in  Preußen  Taf.  70.  1  ist 
sehr  mangelhaft  dargestellt.  Der  Plan  ist  aus 
Puffendorf***)  entnommen,  stellt  also  die  Burg 
nicht  um  das  Jahr  1350,  sondern  300  Jahre 
später  dar.  Die  Außenwerke  sind  daher  zu 
streichen.  Von  den  Danzkern  war  nur  der  eine, 
der  große  Danzker,  durch  Bogenmauern  mit  dem 
Hochschloß  verbunden  und  sprang  in  den  Graben 
vor.  Die  übrigen  waren  gewöhnliche  Zwinger 
thttrme  in  den  Ecken.  Es  wäre  hier  Gelegen- 
heit gewesen  die  Identität  der  Danzker,  wie  sie 
namentlich  in  Marienwerder  am  großartigsten 
auftreten,  mit  den  Barbacanen  von  Garoassone 
nachzuweisen.    Die  preußischen  Geschichtswerke 

*)  barchanus   nennen  deutsche    Urkunden  des  13. 
Jahrh.  die  Zwingermauer. 

**)  Geschichte  der  Festungswerke  Danzigs.     Danzig 
1852. 

***)  Sam.  v.  Puffendorf.     Sieben   Bücher   von  denen 
Thaten  Karl  Gustavs.    Nürnberg  1697.    S.  151. 


Jähfts,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    617 

sehreiben  ihnen  einen  sehr  nebensächlichen 
Zweck  zu. 

Die  mittelalterlichen  Schuß-  und  Wurf- 
maschinen sind  nicht  got  abgehandelt.  Was 
den  Verf.  S.  657  veranlaßt  die  Maschine  des 
Valtnrins  mit  der  Sehnepperfeder  „Rutte"  zu 
nennen,  ist  nicht  ersichtlich.  Ottokar  von 
Steier*)  nnd  der  Verfasser  von  Ludwigs  Kreuz- 
fahrt**) bezeichnen  die  Ratte  (Ruthe)  als  Wurf- 
zeug nnd  nicht  als  eine  Maschine  für  den  di- 
rekten Schuft.  Wenn  für  die  fragliche  Maschine, 
die  auch  in  Deutschland  in  Gebrauch  war, 
durchaus  ein  Name  erforderlich  erscheint,  so 
wäre  Tarant,  der  nach  den  Stellen,  die  San 
Marte  S.  278  über  ihn  anführt,  für  den  direkten 
Schuß  eingerichtet  gewesen  zu  sein  scheint414141), 
der  angemessenste.  Verf.  bezeichnet  den  Tarant 
freilich  S.  635  irrthttmlich  als  bohrende  Ma- 
schine, gleichbedeutend  mit  terebrus. 

Die  Ratte  erinnert  dagegen  nach  der  Be- 
schreibung obiger  Dichter  am  meisten  an  den 
Onager,  als  einarmigen  Hebel  (Ruthe).  Daß 
der  Onager  des  Alterthums  vom  Mittelalter  über- 
nommen worden  ist,  geht  aus  den  Abbildungen, 
die  sich  in  mehreren  Bilderhandschriften  des 
Mittelalters  von  ihm  finden,  hervor  f). 

Die  Eintheilung  in  niedere  und  hohe  Wurf- 
maschinen,   wie  sie  Verf.    durch   das  Wurfzeug 

*)  Reimchronik  8.  272: 

„Von  Schwefel  ein  Feuer 

Warf  er  hinauf  (auf  den  Berg)  mit  der  Kutten". 

**)  Beispiele  aus  deutschen  Dichtern  hei  San 
Marte  282. 

***)  San  Marte  278.  Mart.  7:  „noch  triboc,  noch 
Wide,  noch  pfederer,  noch  tarant"  und  H.  Georg  5736: 
„Es  warf  oder  schuft  tarant  oder  mangen". 

f)  Honagri  (Onager)  kommen  bei  der  Belagerung 
von  Crema  vor  (Ann.  MedioL  Schulz  höfisches  Leb» 
II,  361). 


618  Gott.  gel.  Anz.  1681.  Stück  20.  21.    * 

Fronspergers  *)  veranlaßt  (S.  736),  eintreten  läßt, 
ist  in  keiner  Weise  gerechtfertigt,  da  sieb  in 
keiner  altern  Handschrift  eine  Zeichnung  der 
Fronspergerscben  Maschine  findet.  Da  das  Be- 
dürfnis nach  niedrigen  Maschinen  sich  erst  nach 
den  weitern  Fortschritten  der  Feuerwaffen  er- 
geben haben  kann,  kann  dieselbe  kein  hohes 
Alter  haben.  Die  Man  gen,  welche  Verf.  den 
niedern  Maschinen  zurechnet,  geboren  aber  zu 
den  ältesten  Wurfmaschinen  überhaupt**).  Daß 
die  Mange  einen  Schwängel  (Ruthe)  hatte,  also 
zu  den  hohen  Maschinen  gehörte,  wird  mehrfach 
bezeugt***),  daß  sie  ferner  im  Gegensatz  zu 
den  Maschinen  mit  Gegengewicht  durch  Mann- 
schaft bedient  wurde,  sagt  das  Lindauer  Glos- 
sar f).  Sie  geborte  also  zur  4.  Glasse  der  Wurf- 
maschinen des  Egidio  Golonna.  Verf.  tritt  mit 
seiner  Eintheilung  auch  in  Widerspruch  mit  dem 
Atlas,  indem  er  denTribock,  die  Blide  und  den 
Pheter  (petraria)  zu  den  hohen  Maschinen  mit 
festem  Gegengewicht  rechnet,  da  nach  seinen 
Zeichnungen  die  Blide  ein  bewegliches  Gegen- 
gewicht hat.  Sie  bildet  die  2.  Klasse  des  Egidio 
Golonna,  der  Tribock  mit  festem  Gegengewicht 
die  erste.    Die  dritte  Klasse  mit  festem  und  be- 

*)  Atlas.    Tafel  78,  Fig.  6. 

**)  Im  12.  Jahrh.  wird  die  Mange  zu  den  Schuß- 
waffen (tormentis  balistariis)  gerechnet  (Schultz,  Höfisches 
Leben  II,  344).  Mit  dem  Aufkommen  des  Ausdrucks 
espringal  hört  das  auf. 

***)  Unter  andern  in  einer  Rechnung  der  Stadt  Forli 
1858  über  die  Ruthe  eines  mangonneau  Napoleon  m. 
Etudes  II,  34. 

t)  Würdinger.  Jahns  Handbuch  S.  643  Anm.  Der 
Ausdruck  Mangenthurm  der  Lindauer  Befestigung  deutet 
mehr  darauf  hin,  daß  er  zur  Aufbewahrung  als  zur  Auf- 
stellung von  Mangen  gedient  hat,  so  daS  der  Einwand 
des  Verf.  nicht  gerechtfertigt  ist. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    619 

weglichem  Gegengewicht  (tripantum)  scheint 
bald  wieder  in  Vergessenheit  gerathen  sein,  da 
sieh  keine  Zeichnung  davon  erhalten  hat,  wenn 
man  sie  nicht  in  der  Maschine  Taf.  73  No.  5 
erkennen  will. 

Der  Ausdruck  petraria  bedeutet  Wurfmaschi- 
nen überhaupt  Nach  Aufkommen  des  Tribocks 
scheint  er  ftlr  die  Maschinen,  welche  mehrere 
Steine  mit  einem  Wurf  schleuderten,  gebraucht 
worden  zu  sein. 

Hinsichtlich  des  T  u  ra  1  e  r  (S.  645)  irrt  sich 
der  Verf.  Es  war  keine  Wurfmaschine,  sondern 
ein  Widder*).  Die  Verfeinerungen,  welche  die 
Blide  erfuhr  (als  bricola,  couilard)  und  wodurch 
sie  die  übrigen  Wurfmaschinen  verdrängte,  fin- 
det man  zwar  im  Atlas,  sie  werden  im  Hand- 
buch jedoch  nicht  erwähnt.  Auch  die  Zeit, 
wann  der  Tribock  und  die  Blide  zuerst  aufkom- 
men (1212  reap.  1239)  wird  nicht  angeführt**). 

*)  Schon  die  Stelle  der  steierschen  Reimchronik: 
„und  die  tumelere,  daz  ist  ein  werich  also  getan,  daz 
man  seiden  dafür  chan  Gezymmern  noch  gemauren,  daz 
dafür  mag  getawrn"  deutet  darauf  hin.  Bestimmter 
drückt  sich  Wigand  von  Marburg  (SS.  rer.  Pr.  IL  532) 
aus:  Magister  carpentariorum  de  Marienburg  Marquar- 
dus  confixit  et  construxit  unam  machinam  sive  arietem 
(vulgariter  tumeler)  quo  mediante  ejecit  unum  propugna- 
culum  de  acie  castri  contra  Mimelam". 

**)  Ebensowenig  wird  angegeben  bis  zu  welchem 
Gewicht  Geschosse  von  Maschinen  geworfen  worden  sind. 
Nur  indirect  wird  (S.  1131  Anm.)  eine  Andeutung  dar- 
über gemacht.  Von  Hefner- Altenak  fand  i.  J.  1849  bei 
den  Ausgrabungen  der  1399  zerstörten  Burg  Tannenberg 
steinerne  Kugeln  von  3"  bis  2' 7"  Durchmesser.  Es 
läßt  sich  ja  darüber  streiten,  ob  Kugeln  von  der  letz- 
tern Dimension,  die  etwa  dem  Gewicht  von  16  Ctr.  ent- 
sprechen, von  Geschützen  oder  Maschinen  geworfen  wor- 
den sind,  obgleich  die  sorgfältig  gerundete  und  geglättete 
Kugel,  die  sich  von  andern  geringerer  Größe  mit  rauher 


620  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

Auch  andre  Wurfmaschinen:  die  Algarada,  der 
Pedrel  (patrellus),  die  Biblia,  bidda  bleiben  un- 
erwähnt. Marga  (S.  643)  ist  offenbar  ein 
Schreibfehler  für  Manga  bei  Otto  von  Frei- 
singen. 

Unter  den  aasgeführten  Belagerangen  ver- 
mißt man  die  von  Chateau  Gaillard  durch  Phi- 
lipp August,  die  dem  Verf.  Gelegenheit  gegeben 
hätte,  die  Darstellung  Viollet-le-Duc's  nach  eng- 
lischen Nachrichten  zu  berichtigen. 

Der  Einfloß,  den  die  Artillerie  zu  Anfang 
des  15.  Jahrhunderts  auf  die  Belagerang  der 
Festungen  ausübte,  wird  nicht  gewürdigt.  Den 
S.  1133  angeführten  Beispielen  der  Ueberlegen- 
heit  der  Vertheidigung  über  den  Angriff  lassen 
sich  eine  größere  Zahl  gegenüberstellen,  wo  es 
dem  Angreifer  mit  Hülfe  der  großen  Büchsen 
gelang,  die  Festung  in  wenigen  Tagen  zur 
Uebergabe  zu  zwingen.    Ich  bed&ure  sie  wegen 

Oberfläche  wesentlich  unterschied,  von  vorn  herein  für 
ein  Geschütz  spricht,  was  v.  Hefner  infolge  dessen  auch 
annahm.  Die  Gründe  indessen,  die  Würdinger  dafür  an- 
giebt  nnd  denen  J.  beistimmt,  daß  die  Kugel  von  einer 
Maschine  geworfen  sei,  zeugen  von  einiger  Unkenntnis, 
indem  W.  behauptet,  daß  Geschütze,  welche  2—3  Ctr. 
geschossen  hätten,  sogar  im  15.  Jahrhundert  sehr  außer- 
gewöhnliche und  berühmt  gewesen  wären.  Es  handelt 
sich  hier  aber  um  das  Jahr  1399  und  aus  dieser  Zeit 
(1392)  berichtet  die  Limburger  Chronik  (Ausgabe  Rössel 
S.  88) :  „Da  hatten  die  Stett  große  Büchsen,  deren  schoß 
eine  Sieben  oder  Acht  Centner.  Und  da  gingen  die 
grossen  Büchsen  an  .  .  ."  Die  aus  derselben  Zeit  stam- 
mende noch  vorhandene  Wiener  Bombarde  hat  im  Kes- 
sel einen  Seelendurchmesser  von  2'  6"  und  erweitert  sich 
dann  nach  vorn,  kommt  also  der  großen  Frankfurter 
Büchse,  die  vor  Tannenberg  verwendet  wurde,  ziemlich 
nahe.  Was  die  20  Pferde  betrifft,  die  das  Geschütz  auf 
den  Berg  zogen,  so  dienten  sie  nur  zur  Nachhülfe,  da 
man  Aufzüge  angebracht  hatte,  woran  jedenfalls  Men- 
schen thätig  waren. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    621 

Beschränktheit  des  Raums  nicht  auffuhren  zu 
können. 

2.    Bewaffnung. 

Die  veraltete  Atisicht,  an  der  Verf.  festhält, 
daß  die  Tapete  von  Bayeux  i.  J.  1066  durch 
die  Gemahlin  Herzog  Wilhelms,  Mathilde,  ge- 
fertigt worden  sei,  veranlaßt  ihn  (S.  536)  über 
die  Bewaffnung  der  Angelsachsen  auf  derselben 
wegwerfend  zu  urtheilen.  Nun  zeugt  aber  die 
Aneinanderreihung  der  Gruppen,  aus  denen  die 
Tapete  zusammengesetzt  ist,  im  Verein  mit  den 
zugehörigen  Unterschriften  von  einer  so  genauen 
Kenntniß  des  Feldzugs,  daß  man  nur  einen 
hochgestellten  Augenzeugen  aus  der  Umgebung 
Wilhelms  als  Entwerfer  der  Stickerei  voraus- 
setzen kann,  der  gewiß  die  Bewaffnung  der 
Angeisachsen  sehr  genau  kannte.  Freeman*) 
ist  nicht  mit  Unrecht  der  Ansicht,  daß  dies  nur 
der  Bischof  Odo,  Bruder  des  Herzogs  Wilhelm, 
gewesen  sein  kann,  der  die  Tapete  zur  Aus- 
schmückung der  Kathedrale  von  Bayeux,  die 
er  nach  dem  Kriege  erbaute,  fertigen  ließ. 
Die  Kenntniß  der  Herkunft  ist  daher  nicht  so 
unwesentlich  wie  Verf.  S.  546  Anm.  meint. 

Die  Beweisführung  (S.  541),  daß  die  Hals- 
berge ursprünglich  nur  den  Hals  und  Kopf  ge- 
deckt und  später  sich  zum  Haubert  erweitert 
habe,  ist  durch  Heranziehung  der  assize  of  arms 
König  Heinrichs  IL  v.  J.  1181  ziemlich  un- 
glücklich geführt.  Abgesehn  davon,  daß  die 
Zeit  viel  früher  fällt,  spricht  das  Original  nicht 
von  einer  Halsberge  für  die  3.  Klasse,  sondern 
von  einem  halbergellum  (haubergeon),  womit 
später   der   valet  arm6  bewaffnet    wurde,    und 

*)  Freeman.    History  of  the  norman  conquest. 


622  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

stellt  dies  der  lorica  der  knights  der  1.  Klasse 
gegenüber.  Die  lorica  der  letztern  ist  aber 
nichts  anderes  als  der  große  haubert  Uebri- 
gens  soll  damit  die  Beweisführung  San  Marte's*) 
(S.  35),  welche  S.  517  in  einer  Anmerkung  ge- 
geben ist,  nicht  geschwächt  werden,  die  sehr 
viel  für  sich  hat.  Der  durch  Baltzer**)  zur 
Vervollständigung  geforderte  Beweis,  daß  die 
kurze  Halsberge  schon  in  der  frühern  Zeit  über 
der  Brünne  getragen  worden  sei,  dürfte  sich  in 
dem  letzten  Willen  des  heiligen  Everard,  Her- 
zogs von  Frejus  bieten,  wo  es  heißt:  „Bruuiam 
unam  cum  balsberga  et  manicam  unam  .  ..****). 
Hiermit  wird  zugleich  die  abgeschmackte  Ansicht 
Demay'sf)  ihre  Widerlegung  finden,  daß  die 
Brünne  sich  von  der  Halsberge  nur  im  Stoff 
unterschieden  habe,  der  Ausdruck  grand  haubert 
erst  seit  dem  Aufkommen  oder  vielmehr  der  all- 
gemeinem Verbreitung  des  Kettengeflechts  (Ende 
des  12.  Jahrhunderts)  ff)  erscheint.  Die  alte 
Brünne  war  ohne  Hals-  und  Kopfdeckung. 

Der  Uebergang  vom  Glockenhelm  zum  Topf- 
helm  läßt  sich   nach   den   franz.   Siegeln    bei 

*)  San  Marte.  Zur  Waffenkunde  des  altern  deut- 
schen Mittelalters.    Quedlinburg  1867. 

**)  Balt/.er.  Zur  Geschichte  des  deutschen  Kriegs- 
wesens in  der  Zeit  von  den  letzten  Karolingern  bis  auf 
Kaiser  Friedrich  U.    Leipzig  1877.    S.  63. 

***)  Hewitt.  Ancient  Armour  and  Weapons  in  Eu- 
rope.  I,  S.  245. 

f)  Demay.  Le  costume  de  guerre  et  d'apparat 
d'apres  les  sceaux  du  moyen-äge.    Paris  1875.    S.  6. 

ff)  Der  große  Haubert  mit  daran  befestigten  Faust- 
handschuhen  zeigt  sich  auf  Siegeln  zuerst  bei  Philipp 
d'Alsass  1170.  Das  Siegel  Guy  de  Laval's  v.  J.  1095 
zeigt  den  mit  aufgenähten  runden  Platten  oder  Ringen 
besetzten  haubert,  das  Siegel  Raoul's,  Grafen  von  Ver- 
mandois  v.  J.  1116  den  aus  verschobenen  Vierecken  ver- 
gitterten haubert. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    62S 

Demay  ganz  genau  verfolgen.  Zuerst  kommt 
die  barbiöre  (Gesichtsschutz)  statt  des  Nasen* 
bandes  seit  1193  (Siegel  des  Matthieu  von 
Montmorency)  —  1196  auch  auf  dem  Siegel 
Herzog  Friedrich  des  Katholischen  von  Oester- 
reich  — ,  bald  darauf  auch  -der  Nackenschutz, 
und  1214  auf  dem  Siegel  des  Prinzen  Louis, 
Sohn  Philipp  Augusts,  der  erste  Topfhelm  vor, 
der  schon  1217  ziemlich  allgemein  getragen 
wird*).  Diesen  einfachen  Verlauf  erkennt  man 
beim  Verf.  (S.  552)  nicht  heraus,  der  undatierte 
Quellen,  wie  Hervard  von  Landsperg  und  die 
Wandmalereien  von  Braunschweig  mitsprechen 
läßt.  Wenn  diese  Malereien  auch  im  Allge- 
meinen Heinrich  dem  Löwen  zugeschrieben  wer- 
den, so  kann  doch  der  Tbeil,  welcher  den  Topf- 
helm erkennen  lättt,  erst  aus  dem  Anfange  des 
13.  Jahrhunderts  sein. 

Was  8.  549  über  den  Schild  gesagt  wird, 
bedarf  sehr  der  Einschränkung.  Die  franz. 
Siegel  wissen  nichts  von  einem  Ovalschilde  oder 
gar  einem  Kreisschilde.  Mit  Annahme  des  gro- 
ßen Hauberts  geht  man  zum  äeckigen  Schilde 
über,  etwas  höher  als  breit,  der  erst  in  der  2. 
Hälfte  des  14.  Jahrb.  und  nicht  schon  in  der 
Mitte  des  13.  mit  dem  Dreispitz  vertauscht  wird**). 

Die  Helmdecke  ist  nicht  während  der  Kreuz- 
zttge  entstanden,  sondern  findet  sich  zuerst  An- 
fang des  14.  Jahrhunderts.  Daß  der  Ausdruck 
ventail  (Anteil)  als  ein  Bestandteil  der  Kapuze 
(des  Härseniers)  zum  Schutz  des  Kinns  vor- 
kommt***), wird  vom  Verf.  nicht  erwähnt,  ob- 
gleich es  dadurch  so  merkwürdig  ist,  daß  der- 
selbe Theil,  das  Kinnstück,  an   der  Schale  des 

*)  A.  Schultz.    Höfisches  Leben  II,  53. 
**)  Demay  S.  28. 
***)  Beweis  bei  A.  Schultz. 


624  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

15.  Jahrb.  ebenso  genannt  wird.  Ventail  heißt 
außerdem  der  vordere  Theil  des  Topfhelms,  der 
zuweilen  eine  förmliche  Thür  vorstellt,  die  durch 
ein  Gharnier  geschlossen  wird.  Auch  das  Vi- 
sier wird  so  genannt. 

Was  Verf.  S.  552  in  einer  Anmerkung  über 
den  Gesichtsschutz  von  Kettengeflecht  sagt,  der 
vom  Kinn  nach  der  Stirn  geführt  und  oben  am 
Helm  eingehängt  wird,  bezieht  sich  auf  die 
Haube  (bassinet)  und  kommt  daher  erst  im  14 
Jahrb.  vor*).  Das  Härsenier,  welches  Verf.  S. 
552  ganz  richtig  als  die  Kapuze  aus  Kettenge- 
flecht, wenn  auch  mit  einer  sonderbaren  Ver- 
wechselung mit  camail  bezeichnet,  macht  er  in 
einer  Anmerkung  derselben  Seite  zu  einem  Ge- 
sichtsschutz aus  Kettengeflecht,  der  von  der 
Stirn  ausging.  Die  Stelle  aus  Parcival,  die  er 
anführt,  bezieht  sich  nur  auf  die  Kapuze.  Der 
Huffenier  ist  nicht  von  huvet  (Mütze)  abzuleiten, 
sondern  diente  zum  Schutz  der  Hüfte**). 

Die  Schlachtgeißel,  der  Morgenstern  und  die 
Streitaxt  (S.  557)  sind  in  dieser  Zeit  nicht 
Waffen  der  Reiterei,  sondern  des  Fußvolks.  Die 
Schulterflügel  (ailettes)  gehören  dem  13.  Jahrb., 
ganz  einzelne  Fälle  abgerechnet***),  gar  nicht 
an  und  dienten  nicht,  wie  Verf.  meint,  zum 
Schutz  der  Schultern,  sondern  zum  Erkennungs- 
zeichen, werden  daher  auch  recognaissances  ge- 
nannt.   Sie  waren  heraldisch  bemalt. 

Die  Kesselbaube  mit  Visier,  wie  sie  S.  558 
besprochen  und  Taf.  40,  Fig.  4  nach  Viollet-le- 
Duc  abgebildet  wird,  gehört  erst  dem  15.  Jahrb. 

*)  Siehe   den   Grabstein  von   Alb.  von  Hohenlohe, 
Günther  von  Schwarzburg  und  viele  andre  bei  v.  Hefher- 
Alteneck.    Trachten  des  christlichen  Mittelalters. 
**)  Beweis  bei  A.  Schultz. 
***)  Demay  erwähnt  sie  zuerst  1294.    S.  16. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    625 

an.  Das  bassinet  mit  Visier  wird  zuerst  von 
Guillaume  Guiart*)  erwähnt. 

Der  Waffenrock  oder  besser  das  Waffenkleid 
des  13.  Jahrb.  über  der  Halsberge  kommt  zuerst 
Anfang  des  13.  Jahrh.  vor.**).  Bis  dahin 
wurde  es  unter  der  Rüstung  getragen***).  Die 
Stelle  S.  5ö8  „zu  eben  der  Zeit,  da  die  Schulter- 
flügel, der  Topf  heim  und  das  Visier*  Bassinet 
üblich  wurde,  begann  auch  die  Sitte  über  dem 
Maschenhemde  noch  ein  besonderes  wallendes 
Waffenkleid  zu  tragen"  ist  nur  für  den  Topf- 
helm richtig.  Was  S.  559  von  Platten  und 
Schienen  gesagt  wird,  gehört  erst  in's  14.  Jahrh., 
soweit  die  Arm-  und  Beinbekleidung  damit  ge- 
meint ist.  Kein  Denkmal,  kein  Siegel  des  13. 
Jahrh.  läßt  Ellbogen-  und  Kniekacheln,  Arm- 
und  Beinschienen  erkennen  f).  Erst  mit  dem 
Jahr  1300  beginnt  man  zunächst  das  Bein  und 
erst  viel  später  auch  den  Arm  mit  Leder  oder 
eisernen  Schienen  zu  versehen,  zunächst  nur  in 
Frankreich.  Etwas  anderes  ist  es  mit  der  Brust- 
bekleidung,  doch  davon  erwähnt  Verf.  nichts. 
Die  befingerten  Handschuhe  mit  Eisenplättchen 
kommen  auch  erst  im  14.  Jahrh.  vor  und  nicht, 
wie  Verf.  annimmt,  in  der  zweiten  Hälfte  des  13. 

Die  Bewaffnung  des  spätem  Mittelalters, 
welche  Seite  425 — 756  besprochen  wird,  leidet 
an  denselben  Fehlern,  Alles  früher  datieren  zu 
wollen.    So   gleich  im  Eingange,  wo   es  heißt, 

*)  Guillaume  Guiart.    Branches  des  royaux  lignages 
etc.    Collect.  Buchon. 
**)  Demay  S.  10. 
***)  Ebend.  S.  8. 
t)  Die  Handschrift   der    Berliner   Bibliothek    über 
Gottfrieds  Tristan   aus   dem  13.  Jahrh.  läßt  doch  auch 
unsicher,    ob    die  Arm-  und  Beinbekleidung  Leder   oder 
Eisen  ist. 

40 


626  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stack  20.  21. 

daß  Anfang  des  14.  Jahrb.  Panzerhemd*)   and 
Eisenbosen  mehr  oder  minder  „benagelt",  d.  li- 
mit   Platten   verstärkt    wurden.      Das    ist    in 
Deutschland  vor  den  30er  Jahren  des  14.  Jahrb. 
nicht  der  Fall    Der  Korazin   (S.  728)   ist  nur 
von  den  reichsten  Feudalherrn  getragen  worden, 
durfte  also  nur  ganz  beiläufig  erwähnt  werden. 
Vom  Bauchpanzer  (Schurz),  aus  mehreren  eiser- 
nen Schienen  zusammengesetzt,   ist  vor  Anfang 
des  15.  Jahrhunderts   in   datierten  Monumenten 
nirgends   die  Rede.     Die  Fig.  Taf.  51.  1,  die 
auf  1340  bestimmt  wird,  ist  daher  um  etwa  80 
Jahre  vordatiert.     Das    collarium    (Koller)    ist 
nicht   mit  dem  cam  ail  zu  verwechseln,  besteht 
vielmehr,  wie  aus  den  Grabsteinen,   welche  die 
Verstorbenen  unbedeckten  Haupts  darstellen,  her- 
vorgeht**), im  14.  Jahrhundert  aus  einem  steifen 
aufrecht   stehenden   Halskragen,   der    äußerlich 
mit  Kettengeflecht  oder  Schuppenwerk,  später 
mit  Blech  bekleidet  ist    Er  lag  unter  dem  ca* 
mail.    Letzterer  scheint  in  Deutschland  mit  „Ge- 
hänge" (Haubengehänge)  bezeichnet  worden  zu 
sein,   wie   aus   den  Inventarien   des   deutschen 
Ordens  hervorgeht***).    Es  war  an  der  Haube 
(Beckenhaube)     befestigt.      Als     selbständiges 
Rttststück,  wie  es  zum  Eisenhut  getragen  wurde, 
nahm  es  den  Namen  nHundskogeltf  und  im  15. 
Jahrhundert    den   „Harnaschkappe"    an.     Der 

*)  Verf.  braucht  hier  den  Ausdruck  Ringbrünne 
für  Panzerhemde  und  Halsberge  oder  Maschenkapuze 
(Här  semer)  für  camail.  Beides  entspricht  nicht  dem 
Sprachgebrauch  und  kann  nur  zu  Irrthümern  Veranlas- 
sung geben.    Das  letztere  ist  sogar  geradezu  falsch. 

**)  v.  Hefner- Alteneck.  Trachten  II,  146  (Graf  von 
Orlamünde)  und  156  (Joh.  von  Linden).  Siehe  auch  Dr. 
Luchs,  Schles.  Fürstenbilder. 

***)  Lotar  Weber.    Preußen  vor  600  Jahren.  Danag 
1878.    S.  677. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    H27 

Ausdruck  „Halsveste",  den  Verf.  dem  Raolands» 
lied  entnimmt,  gehört  dem  Ende  dt&  12.  Jahr- 
hunderte an,  kann  daher  füglich  nicht  far  das 
14.  Jahrh.  verwendet  werden. 

Die  große  Kesselhaube,  welche  nach  dem 
Verf.  um  die  Mitte  des  14.  Jahrh.  die  üblichste 
Kriegstracht  der  schweren  Reiterei  geworden 
sein  soll,  erscheint  nach  Demay  (S.  22)  zuerst 
auf  dem  Siegel  Philipp  des  Kühnen  von  Bur- 
gund  1403.  Die  Handschrift  der  Paris.  Natio- 
nalbibl.  des  Titus  Livius,  der  Taf.  51,  2  ent- 
nommen ist,  scheint  daher  zu  früh  datiert.  Der 
Ausdruck  „Helmfenster"  für  Visier  ist  nicht  rich- 
tig. Wie  wir  oben  gesehen  haben,  wird  aller- 
dings ventail,  das  dem  Helmfenster  entspricht, 
auch  für  Visier  gebraucht,  bezeichnet  eigentlich 
aber  den  vordem  Theil  des  Topfhelmes,  Augen- 
schlitz und  Löcher  zur  Respiration,  und  das  wird 
von  Ottokar  von  Steier  mit  Helmfenster  be- 
zeichnet. 

Es  ist  wiederum  verfrüht,  wenn  Verf.  S.436 
sagt,  daß  die  Rüstung,  welche  seit  1400  allge- 
mein angenommen  wurde,  der  Harnisch  von 
lichtem  Eisen  mit  Kuiraß,  Schurz  und  Krebs  etc. 
gewesen  sei.  In  den  Schlachten  von  Tannen- 
berg und  Azincourt  ist  davon  noch  keine  Rede, 
wenigstens  was  Schurz  und  Krebs  betrifft.  Er- 
sterer  erscheint  in  Deutschland  erst  in  den  20er 
Jahren  des  14.  Jahrhunderts*)  und  der  Krebs 
erst  viel  später. 

Die  Plattenrüstung  des  Pferdes  (Barssen)  ist 
nach  den  Siegeln  bei  Demay  (S.  56)  erst  zu 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  abgeschlossen  und 
nicht,  wie  Verf.  S.  746  sagt,  schon  in  der  Mitte 
des  15.    Zu  Anfang  des   16.  Jahrh.   erscheinen 

*)  Bei  v.  Hefner-Alteneck,  Trachten,  zuerst  II,  97 
(Peter  von  Stettenberg  f  1428  Grabstein). 

40* 


628  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

auch  die  Söldner,  wenigstens  die  „Kyrisser" 
wieder  mit  Barssen  (Barden),  welche  seit  Mitte 
des  14.  Jahrb.  ohne  Pferderüstung  waren,  die 
nur  von  hochgestellten  Kriegern  getragen  wurde 

3.    Taktik. 

Ueber  die  Fechtweise  zur  Zeit  der  Karo- 
linger (S.  531—535)  ist  so  gut  wie  gar  nichts 
gesagt.  Hier  wäre  ein  näheres  Eingehn  auf 
die  Quellen  durchaus  nothwendig  gewesen  und 
Bicher  hätte  für  die  spät  karolingische  Zeit 
eine  reiche  Ausbeute  gegeben.  Der  Verf.  hat 
die  Aeußerungen  des  Kaisers  Leo  (f  801)  über 
die  Fechtweise  der  Franken  und  Longobarden, 
wie  vor  ihm  schon  Peucker,  ganz  übersehn,  die 
für  die  erste  Zeit  der  Karlinger  von  höchstem 
Interesse  sind  und  das  fränkische  Heer  schon 
stark  an  Kavallerie  zeigen.  Ich  kann  nur  dar- 
auf hinweisen,  da  hier  nicht  der  Baum  ist  sie 
wiederzugeben.  Wenn  ich  die  Stelle  über  die 
Schlachtordnung  derselben  recht  verstehe,  so 
geht  daraus  hervor,  daß  sie  noch  in  einem  Tref- 
fen fochten,  und  da  unmittelbar  nach  Karl  dem 
Großen  das  Dreitreffensystem  das  herrschende 
wird,  so  erscheint  die  Annahme  gerechtfertigt, 
daß  er  dasselbe  eingeführt  hat. 

Auch  die  nachkarlingische  Zeit  (S.  579—  592) 
ist  sehr  dürftig  weggekommen.  Außer  dem, 
was  Baltzer  mittheilt,  wird  wenig  geboten  and 
doch  sind  die  Fortschritte  in  dieser  Zeit  ganz 
außerordentlich.  Bestimmt  erkenntlich  werden 
sie  erst  bei  der  Expedition  Wilhelm  des  Er- 
oberers 1066  nach  England,  dessen  Heer  doch 
vorherrschend  aus  Franzosen  bestand.  Die  vor- 
züglichen Quellen,  welche  für  diese  Expedition 
vorliegen  und  in  Freeman  einen  geschickten 
Bearbeiter  gefanden  haben,  lassen  es  bedauern, 
daß  der  Verf.   nicht  näher  darauf  eingegangen 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    629 

igt,  da  die  Fechtart  der  Angelsachsen  außerdem 
sehr  an  die  Urzeiten  erinnert.  Was  er  S.  543 
darttber  mittheilt,  ist  so  unbefriedigend  und 
theilweis  den  Thatsacben  widersprechend,  daß 
es  besser  gewesen  wäre,  es  überhaupt  wegzu- 
lassen. Auch  über  die  interessante  Schlacht 
von  Bouvines  1214  weiß  uns  der  Verf.  nichts  zu 
berichten,  obgleich  dieselbe  zeigt,  daß  es  die 
Heerführer  dieser  Zeit  verstanden,  selbst  bei 
nicht  unerheblichen  Heeren*)  sich  im  gegen- 
seitigen taktiscbeu  Bereich  zu  entwickeln  und 
eine  geordnete  Schlachtordnung  herzustellen, 
auch  sich  nach  bestimmten  Principien  zu  schlagen. 
Wenn  man  die  außerordentlichen  Fortschritte 
der  westeuropäischen  Heere  vom  9.  bis  zum  13. 
Jahrhundert  in's  Auge  faßt  und  aus  der  Ge- 
schichte weiß,  daß  dergleichen  sich  nicht  ohne 
äußere  Einflüsse  vollzieht,  so  liegt  die  Frage 
nahe,  woher  sind  diese  Einwirkungen  gekom- 
men? Man  wird  unwillkührlich  auf  das  ost- 
römiscbe  Reich  verwiesen,  das  seit  Karl  dem 
Großen  in  immer  nähere  Verbindung  mit  dem 
Abendlande  trat  und  zahlreiche  Söldner  aus 
demselben  bezog,  welche  die  Kenntniß  der  grie- 
chischen Kriegskunst  heimbrachten.  Die  italie- 
nischen Städte  sendeten  zur  Zeit  ihrer  aufstei- 
genden  Blüthe   im    11.   Jahrh.  ihre   Söhne    in 

*)  Der  Verf.  giebt  nach  Capefigue  die  Starke  des 
franz.  Heeres  bei  Bouvines  S.  824  auf  80,000  Mann: 
5000  Bannerherrn)  50,000  Bitter  und  Knechte  (Icuyers), 
28,000  Communaltruppen  der  Nordprovinzen  und  21,000 
Abenteurer,  deren  Kern  die  Söldner  des  Königs  bildeten, 
an.  Das  Chron.  Senoniensi  weiß  dagegen  nur  von  9000 
Reitern  und  50,000  Mann  zu  Fuß;  und  das  entspricht 
von  sämmtlichen  Quellenschriften  am  meisten  den  Lei- 
stungen der  französischen  Aufgebote  späterer  Zeit.  Von 
Söldnern  ist  nirgends  die  Bede,  sie  scheinen  sich  beim 
Heere  des  Dauphins  Louis  in  Poitou  befunden  zu  haben, 
der  den  Feldzujg  schon  etwas  früher  eröffnet  hatte. 


630  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  20. 21. 

* 

griechische  Dienste  (Anna  Commena),  um  die 
Kriegskunst  daselbst  zu  erlernen  und  sich  ge- 
schickt zu  machen  den  drohenden  Gefahren,  die 
sich  ihrer  angestrebten  Selbständigkeit  ent- 
gegenstellen konnten,  zu  begegnen.  Die  un- 
mittelbare Berührung  mit  den  Griechen  seitens 
der  Normannen  in  Unteritalien  und  später  des 
Abendlandes  während  der  Kreuzzüge  that  das 
Uebrige.  Verf.  hat  dagegen  die  Mittheilungen 
über  die  Kriegskunst  der  Byzantiner  seit  dem 
Kaiser  Leo  abgebrochen  und  kommt  nicht  wie- 
der darauf  zurück ! 

Was  Verf.  über  die  franz.  Lanze  des  13. 
und  14.  Jahrhunderts  sagt,  daß  ihr  2  Bogen- 
schützen zugetheilt  waren,  findet  in  den  Quellen 
keine  Bestätigung,  auch  giebt  er  keine  Quelle 
dafür  an.  Im  13.  und  der  ersten  Hälfte  des  14. 
Jahrb.  ist  von  Lanze  im  spätem  Sinne  überhaupt 
noch  keine  Rede.  Die  franz.  Lanze  der  zweiten 
Hälfte  des  14.  Jahrh.  bestand  aus  3  Pferden  nnd 
2  Gewapneten,  dem  homme  d'armes  (chevalier 
oder  dcuyer)  und  dem  valet  arme  oder  haubergeon*). 
Auch  die  Aufstellung  in  Linie  oder  wie  man  es 
nannte,  en  haye,  fand  in  dieser  Zeit  noch  nicht 
statt,  so  allgemein  dies  auch  angenommen  wird. 
Die  Ansicht  ist  auf  den  p&re  Daniel  **)  zurückzu- 
führen, der  sie  aus  der  Schlacht  von  Bouvines 
abstrahiert.  Hier  stand  jedoch  nur  ganz  aus- 
nahmsweise das  erste  Treffen  des  rechten  Flü- 
gels in  Linie,  um  mehr  Terrain  einzunehmen 
und  eine  Ueberflügelung  des  Feindes  zu  ver- 
hindern. Froissart***)  gebraucht  nur  einmal 
den  Ausdruck  en  haye  für  die  homines  d'armes, 

*)  Die  Bogenschützen  nach  englischem  Vorbilde  kom- 
men mit  ganz  geringer  Ausnahme  in  Frankreich  erst  im 
16.  Jahrh.  vor. 

**)  Daniel.  Histoire  de  la  milice  francaise.  Paris  1728. 

***)  Ausgabe  Kerwyn  de  Lettenhove  V,  49. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    631 

welche  hinter  den  genuesischen  Armbrust- 
schützen  bei  Crecy  standen,  um  deren  Flocht 
zu  verhindern,  also  nicht  zum  Gefecht.  Sie  wa- 
ren ganz  außer  Verbindung  mit  der  eigentlichen 
Schlachtordnung.  Die  Ordonanz  König  Johanns 
vom  letzten  April  1351  läßt  über  die  Fechtart 
in  geschlossenen  Trupps  (par  grosses  routes) 
keinen  Zweifel.  Noch  im  Gefecht  von  Mons  en 
Vimcu  1421  formierte  sich  das  Centrum  der 
Franzosen  mit  den  Bestbewaffneten  und  Bestbe- 
rittenen im  Spitz  und  durchbrach  damit  die  Bur- 
gunder *).  Die  Fechtweise  en  haye  kommt  erst 
mit  den  franz.  Ordonanzkompagnieen  des  15. 
Jahrb.  auf. 

Ganz  unrichtig  ist  S.  851  die  Aufstellung 
der  englischen  Bogenschützen  geschildert.  Der 
Verf.  weicht  hier  selbst  von  Rüstow  ab,  den  er 
sonst  als  Autorität  anerkennt,  indem  er  sagt, 
sie  standen  en  manifere  d'un  herse,  d.  h.  nach 
Art  eines  Fallgatters  mit  aus-  und  einspringen- 
den Winkeln,  während  Rtistow  richtiger  be- 
merkt, sie  standen  wie  ein  Staketenzaun,  en 
herse,  vot  den  Geharnischten**).  Er  irrt  nur 
in  Bezug  auf  den  Staketenzaun.  Die  correctere 
Ausgabe  Froissarts  von  K.  d.  L.  sagt  nicht 
herse,  wie  Buchon,  sondern  herce  (heri§on)  im 
Sinne  von  Fronthinderniß***).  Die  anonyme 
Chronik  von  Valenciennes  drückt  dies  Verhält- 
nis mit  den  Worten  aus,  daß  die  Bogenschützen 

*)  Memoires  de  St.  Rimy.  Collect.  Buchon  TBL  192 : 
Les  dauphinois  avoient  mis  les  mieux  months  et  armds 
au  milieu  de  leur  bataille  et  en  pointe.  Si  se  frapperent 
en  la  bataille  du  due,  et  rompirent  sa  bataille  en  pas- 
sant outre. 

**)  Rüstow,  Geschichte  der  Infanterie.    Gotha  1857. 
S.  104.  105. 

***)  Ausgabe  K.  de  Lettenhove  T,  50:    „en   manifcre 
d'une  herce*'. 


682  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stack  20.  21. 

„en  manure  d'un  escut"  vor  den  Kittern  ge- 
standen hätten*).  Dazu  kommt,  daß  die  engli- 
schen Bogenschützen  im  ganzen  Lanf  des  14. 
Jahrh.  überhaupt  keine  Pfähle  mit  sich  geführt 
haben,  die  erst  von  Heinrich  V.  vor  der  Schlacht 
von  Azincourt  1415  eingeführt  worden**). 

Auch  darin  irrt  J.,  wenn  er  sagt,  daß  die 
Bogenschützen  zum  Theil  schwer  bewaffnet,  oder 
doch  mit  Brustharnisch  und  Pickelhaube  ver- 
sehn waren,  indem  er  sich  auf  Chaucer  beruft 
Andre  Zeitgenossen  versichern,  daß  sie  infolge 
ihrer  leichten  Bekleidung  im  Stande  waren,  den 
Bogen  mit  großer  Kraft  zu  spannen***).  Auch 
St.  Remy  und  Waurin  sprechen  sich  in  Bezug 
auf  Azincourt  in  derselben  Weise  aus. 

Bei  Besprechung  der  Taktik  der  deutschen 
Reiterei  (S.  898-922)  versäumt  es  der  Verf. 
von  der  Formation  der  Haufen  mit  einem  Spitz 
zu  sprechen  und  kommt  erst  später  ganz  ge- 
legentlich darauf,  als  ob  das  eine  ganz  zufällige 
Formation  gewesen  wäre.  Er  sagt  sogar  S.  907: 
„bei  der  vollen  Gleve  hielt  im  ersten  Gliede  der 
Ritter,  im  zweiten  der  mittelschwer  bewaffnete 
Knecht,  im  dritten  der  Schütz",  als  ob  sie  eine 
Linienstellung  eingenommen  hätten.  S.  919 
wird  das  gelegentliche  Gefecht  der  deutseben 
Reiterei  zu  Fuß  besprochen  und  dabei  der  arge 
Verstoß  gemacht,  daß  Herzog  Albrecht  von 
Oesterreich  in  der  Schlacht  von  Göllheim  ein 
„novum  bellandi  genustt  eingeführt  habe,  indem 
er   die   Reisigen    habe   absitzen   lassen  f).     Im 

*)  K.  de  Lettenhove  V,  Notes  S.  475. 
**)  Gesta  Henrici  quinti  S.  42.     Der  Verf.  ist  der 
Kapellan  des  Königs,  der  ihn  begleitete  und  ids  Augen- 
zeuge spricht. 

***)  Ebendaselbst  8.  54  Anm. 

.  f)  Verf.  verstößt  hier,   wie   sehr  häufig,  gegen  den 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    683 

Gegentheil  bestand  seine  Instruction  darin,  die 
Pferde  der  feindlichen  Reiterei  zu  erstechen,  was 
als  die  neue  Art  des  Kampfs  bezeichnet  wird. 
Die  Baiern,  die  dies  traf,  fochten  indeß  zu  Fuß 
weiter. 

Das  deutsche  Söldnerwesen  der  adligen  Rei- 
ter, das  im  14  Jahrb.  einen  so  bedeutenden 
Aufschwung  nahm  und  zu  dessen  näherer  Dar- 
stellung jetzt  durch  Publication  zahlreicher  Ur- 
kundenwerke ein  umfangreiches  Material  vor- 
liegt, wird  S.  915}  mit  wenigen  Worten  abge- 
macht und  erst  dem  15.  Jahrhundert  zugeschrie- 
ben. Wie  die  Einrichtung  der  französischen  Or- 
donanz-Eompagnien  dafür  vorbildlich  geworden 
sein  soll,  ist  nicht  verständlich,  da  es  lange  vor 
denselben  existierte.  Auch  die  Einrichtung  re- 
gelmäßiger Reitergeschwader,  mit  der  Kaiser 
Maximilian  I.  i.  J.  1498  vorging,  hat  weder  mit 
den  franz.  noch  burgund.  Ordonanzkompagnien 
etwas  gemein,  sondern  ist  ganz  original.  Es 
wäre  zweckmäßig  gewesen,  die' ganze  Urkunde 
mitzutheilen  *),  da  sie  noch  zur  Zeit  Karls  V. 
die  Grundlage  für  Anwerbungen  deutscher  Reiter 

Grundsatz  bei  Citaten  stets  die  neuste  Ausgabe  anzu- 
führen, welche  hier  in  den  M.  G.  Pertz  SS.  XVII  418  zu 
suchen  gewesen  wäre,  nicht  als  Chron.  Salisb.  wie  Geißel, 
dem  er  das  Citat  entnimmt,  noch  hat,  sondern  Gont. 
Ratisb. 

*)  Der  Auszug,  den  Verf.  nach  Meynert  mittheilt, 
ist  ganz  incorrect.  Nicht  der  Fähnrich  führte  das 
Rennfahnlein,  sondern  der  Rennfähnrich.  Ersterer  war 
zur  Vertretung  des  Hauptmanns  bestimmt  und  trug  das 
Hauptbanner.  Ein  Lieutenant  war  außer  ihm  nicht  vor- 
banden. Nichtkombattanten  (Pferdepfleger)  waren  nicht 
die  Marstaller  und  Edelknaben,  wie  Verf.  meint,  son- 
dern die  Trabanten,  die,  wie  ihr  Name  andeutet,  unbe- 
ritten waren.  Ihre  Zahl  belief  sich  im  Ganzen  auf  300, 
die  der  Kombattanten  auf  1500,  wovon  100  Kyrisser  und 
100  Schützen. 


634  Oött.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

abgab*),  was  dem  Verf.  allerdings  entgangen 
zu  sein  scheint.  Die  Zahl  der  Schützen  hatte 
sich  zn  dieser  Zeit  schon  vervierfacht  und  ans 
dem  Rennfähnrich  war  ein  zweiter  Rittmeister 
geworden.  Auch  die  Spießer  waren  um  200 
vermehrt. 

S.  922  bis  943  ist  dem  deutschen  Fußvolk  des 
spätem  Mittelalters  gewidmet  und  im  Allgemeinen 
recht  gut  durchgeführt.  Ueber  die  Etymologie 
des  Worts  Trabanten ,  womit  man  im  15.  Jahrb. 
das  Fußvolk  bezeichnete,  läßt  sich  streiten.  Mit 
Traben  hängt  es  schwerlich  zusammen.  Da  sie 
eng  mit  der  Wagenburg  verbunden  waren,  diese 
aber  Tabor  hieß,  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß 
das  Wort  aus  Taboriten  verstümmelt  ist  Es 
ist  nicht  richtig,  wenn  S.  942  gesagt  wird,  die 
Bewaffnung  der  Landsknechte  sei  anfangs  die- 
selbe gewesen,  wie  die  der  Trabanten,  da  die 
Landsknechte  sich  nach  Schweizer  Art  bewaff- 
neten und  keine  Setztartschen  etc.  führten. 

S.  943  bis  955  wird  sodann  die  Wagen- 
burg besprochen.  Bei  Courtray  hatten  die 
Flamänder  noch  keine  Wagenburg,  wie  Verf. 
meint.  Die  Wiedereinführung  derselben  knüpft 
sich  an  die  Schlacht  von  Mons-en-Pevfelel304**). 

*)  Siehe  die  Bestallung  Kaiser  Karls  V.  für  den 
Markgrafen  von  Brandenburg  über  2000  gerüster  Pferd 
bei  Fronsperger  I,  S.  36.  Sie  besagt,  daft  darunter  1600 
Spießer  und  unter  denselben  100  Kyrisser  „mit  ganzen 
Barschen,  wohl  bedeckten  stehlen  Gliedern  und  verdeck- 
ten Hengsten",  auch  400  Schützen  sein  sollen.  Ueber 
die  2000  Pferde  sollen  4  Fahnen  und  2  Schützenfahnlein 
gehalten  werden.  Genau  nach  demselben  Muster  sind 
die  Bestallungen  der  kaiserlichen  Obersten,  Markgraf 
Albrecht  von  Brandenburg  und  Herzog  Moritz  von  Sach- 
sen, auf  je  „1000  gerüster  Pferd"  vom  5.  Apr.  1544. 
(Kriegsirach  des  Grafen  Bheinhard  zu  Sohns). 

**)  Bei  frühern  Erwähnungen  der  Wagenburg  mift 


Jahns,  Atlas  zur  Geschiebte  des  Kriegswesens.    635 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  sie  von  Philipp, 
einem  Sohne  des  Grafen  von  Flandern  erster 
Ehe,  der  seine  Schule  in  Italien  gemacht  hatte 
und  im  Frühjahr  1303  nach  Flandern  zurück- 
kehrte, um  als  ältester  Prinz*)  den  Oberbefehl 
zu  Übernehmen,  eingeführt  wurde,  zumal  da  sie 
in  derselben  Weise  wie  in  Italien  zur  Deckung 
des  Rückens  verwendet  wurde,  wie  das  auch 
noch  bei  Tannenberg  stattfand.  Verf.  hebt  den 
Unterschied  zwischen  dieser  Verwendung  und 
der  Ziska's,  welcher  sie  in  die  erste  Linie  zog, 
nicht  hervor.  Dadurch  wurde  die  Wagenburg 
erst  zum  wirklichen  Streitmittel.  Die  Wagen 
wurden  danach  eingerichtet  und  stärker  gebaut. 
Die  Ausführlichkeit,  mit  welcher  die  Wagen- 
burg behandelt  wird,  entspricht  durchaus  der 
Wichtigkeit  derselben,  da  sie  seit  den  Hussiten- 
kriegen in  allen  Theilen  Deutschlands  in  Ge- 
brauch blieb,  nur  hätte  das  nachgewiesen  wer- 
den müssen.  Nach  der  Darstellung  des  Verf. 
gewinnt  es  den  Anschein,  als  ob  die  Wagen- 
burg nur  eine  besondere  Liebhaberei  des  Mark 
grafen  Albrecht  Achilles  gewesen  wäre.  Einen 
der  instruetivsten  Fälle  ihrer  Anwendung  bietet 
das  Gefecht  von  Thomaswaldau  am  28.  Juli 
1488**),  das  jedoch  nicht  erwähnt  wird.     Auch 

man  sehr  vorsichtig  sein.  Dtugoss  erwähnt  sie  bei  Wahl- 
statt aus  keinem  andern  Grunde,  als  weil  sie  zu  seiner 
Zeit  üblich  war.  In  diese  Kategorie  gehört  auch  der 
angebliche  Bericht  Hermanns  von  Salza,  der  nur  in  einer 
Ueberarbeitung  aus  dem  15.  Jahrh.  auf  uns  gekommen 
ist.  Er  spricht  von  Wagenburg  und  Büchsen  ganz  im 
Sinne  des  15.  Jahrhunderts. 

*)  Seine  älteren  Bruder  waren   mit  dem  Vater  Ge- 
fangene in  Frankreich. 

**)  Der  Originalbericht  Georgs  von  Stein  an  Hans 
voa  Minkwatz,  den  sächsischen  Kanzler,  befindet  sich  in 
SS.  rer.  Siles.  X,  S.  157, 


636  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

vermißt  man  die  Dispositionen  des  Markgrafen 
im  Feldzuge  1474  am  Rhein  •).  Erschöpfend  ißt 
die  Darstellung  des  Streites  mit  den  Wagen- 
burgen daher  durchaus  nicht,  es  fehlt  eben  der 
Kampf.  Sehr  interessante  Situationen  ergeben 
die  Feldzüge  Podiebrads  gegen  Matthias  Corvi- 
nus  von  Ungarn  1469—1471. 

Bei  Besprechung  der  Taktik  zu  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  (S.  1050  ff.)  zeigt  Verf.  gar  zn 
wenig  eignes  Urtheil.  Nachdem  er  Rtlstow  fast 
wörtlich  wiedergegeben**),  wird  auch  noch 
Viollet-le-Duc  mit  herangezogen***),  so  wenig 
beide  auch  zu  einander  passen.  Während  Rti- 
stow  die  Kreuzform  des  Infanteriehaufens  als 
Defensivform  hinstellt,  bezeichnet  sie  Viollet-le- 
Duc  als  Angriffsform  und  Verf.  stellt  beide  un- 
vermittelt neben  einander  (S.  1067),  nimmt  so- 
gar die  Zeichnungen  des  letztern  im  Atlas  auf 
(Taf.  58,  1.  2),  obgleich  ihr  bloßer  Anblick  die 
Ueberzeugung  gewährt,  daß  hier  für  den  An- 
fang des  16.  Jahrh.  unmögliche  Formen  produ- 
ciert  sind.  Ob  Verf.  auch  seine  Behauptung, 
daß  unter  Karl  V.  jedes  Fähnlein  Infanterie  10 
Musketiere  gehabt  hat,  Viollet-le-Duc  entnimmt, 
habe  ich  nicht  controllieren  können.  S.  1209 
führt  er  sogar  an,  daß  die  Zahl  der  Musketiere 
sich  um  die  Mitte  des  16.  Jahrh.  um  das  öfache 
vermehrt  habe,  wo  er  in  Rüstow  (S.  224)  lesen 
konnte,  daß  als  Alba  1567  aus  Italien  nach  den 
Niederlanden  marschierte,  er  jedem  Fähnlein  15 
Musketiere  zugetheilt  habe.  Es  ist  das  erste- 
mal, daß  Musketiere  überhaupt  erwähnt  werden. 

*)  Bei  Minutoli,  Das  kaiserliche  Buch    des  Mark- 
grafen Albr.  Achilles.    Berlin  1850,  S.  427—431. 

**)  Rüstow,   Gesch.  der  Inf.  S.  201—267.     Es  han- 
delt sich  also  um  4  Bogen. 

***)  Viollet-le-Duc ,  Dictionaire  du  mobilier.   Tactiqoe 
pendant  le  moyen-age. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    637 

Was  S.  1068  und  1069  über  die  Taktik  der 
Reiterei  gesagt  wird,  ist  nicht  geeignet,  eine 
Anschauung  vom  Reitergefecht  dieser  Zeit  zu 
geben.  Die  Behauptung  S.  1215,  daß  eine  Rei- 
terstandarte zu  Karls  V.  Zeiten  aus  60  schweren 
Lanzen,  120  Kürassieren  nnd  60  Ar k ©busier- 
reutern  bestanden  habe,  ist  zwar  auf  Monte- 
cuccoli*)  zurückzufahren,  aber  nichts  desto  we- 
niger falsch,  wie  aus  den  Angaben,  die  ich  oben 
über  die  deutsche  Kavallerie  unter  Karl  V.  ge- 
macht habe,  hervorgeht**).  Sie  paßt  auch  nicht 
für  die  Ordonanzkompagnien,  die  Karl  V.  in 
den  Niederlanden,  Mailand  und  Neapel  unter- 
hielt, wie  sich  aus  Glonard  ergiebt.  Der  Aus« 
druck  Kürassier  kommt  bei  den  italienischen 
nnd  spanischen  Militärschriftstellern  des  16.  Jabrh. 
von  Savorgnani  (1570)  bis  Meudoza  (1596)  über- 
haupt nicht  vor  und  erscheint  erst  bei  Melzo  ***) 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts.  Erstere  gebrau- 
chen noch  den  Ausdruck  Ferraruoli  im  Sinne 
von  pistoliers  nach  Art  der  deutschen  Reiter, 
also  einer  leichten  Reiterei.  Der  Ausdruck  Kü- 
rassier für  den  schweren  mit  langen  Pistolen  be- 
waffneten Reiter  scheint  erst  seit  Umwandelung 
der  französischen  und  niederländischen  Lanciers 
in  mit  langen  Pistolen  bewaffnete  Reiter  all- 
gemeiner geworden  und  Deutschland  entnommen 
zu  seinf). 

*)  Opere  diRaim.  Montecuccoli.  Edit.  Grassi.  Mi- 
lano  1831  L  S.  87.  Es  heißt  hier  übrigens  mezze-corazze, 
das  sind  Schützen  nach  Art  der  deutschen  Reiter. 

**)  Die  Bestallungen  bei  Fronsperger  sind  Urkunden 
entnommen. 

***)  Ludovico  Melzo.    Delle  regole  militari  sopra  il 
gorerno  della  cavalleria.    Antwerpen  1611. 

f)  In  Deutschland  war  man  schon  auf  dem  Reichs- 
tage zu  Speier  1570  dazu  übergegangen,  die  Lanze  ganz 
zu  beseitigen.    Man  behielt  aber  auch  in  dieser  neuen 


688  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

Die  Folgerungen,  welche  Verf.  S.  1215  aus 
der  Angabe  Montecuccolis  zieht,  sind  daher 
grundlos.  Die  deutsehen  schweren  Reiter  sind 
einfach  aus  den  Seh  ützeniähn lein  Maximilians, 
wie  sich  diese  um  die  Mitte  des  16.  Jabrh.  ge- 
staltet hatten,  hervorgegangen.  Wallhansen*), 
den  Verf.  heranzieht,  ist  für  deutsche  Verhält« 
nisse  gar  nicht  maßgebend,  da  die  Lanciere,  die 
er  noch  behandelt,  in  Deutschland  längst  abge- 
schafft waren.  Er  entlehnt  nach  seiner  Gewohn- 
heit aus  fremden  Schriftstellern. 

Auch  ist  es  ein  Irrthum,  wenn  Verf.  S.  1218 
sagt,  die  Reiter  hätten  Schwadronen  von  1500 
bis  2000  Pferden  gebildet,  ebenso  weiter  antra, 
daß  sie  den  Gebrauch  eingeführt  hätten,  im 
Trabe  zu  attackieren.  Dies  geschah  schon  vor- 
her seitens  der  deutschen  Spießer,  um  die  ge- 
schlossene Ordnung  des  Haufens  zu  erhalten. 
Ich  weiß  wohl,  daß  Verf.  seine  Angaben  ans 
Napoleon**)  entnimmt,  doch  ist  dieser  in  deut- 
schen Angelegenheiten  sehr  schlecht  unterrichtet. 

Die  Ausdrücke  spanische  und  niederländische 
Ordonanz,  welche  Rüstow  für  die  Infanterie  ein- 
geführt hat,  sind  ganz  praktisch,  der  Ausdruck 

Form  den  Namen  Eyrisser  bei,  wie  aus  einer  Bestallung 
im  2.  Tbeil  von  Fronsperger,  der  1573  herauskam,  her- 
vorgeht (S.  20).  Obgleich  ihre  Zahl  um  das  doppelte 
gestiegen  war  —  auf  1000  Schützenreiter  100  Kyrisser 
—  so  war  dieses  Verhältnis  gegen  die  französischen  und 
holländischen  Formationen,  die  ganze  Kompagnien  von 
Kürassieren  errichteten,  doch  zu  gering.  Man  hatte  da- 
her in  den  90er  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  in  Deutsch» 
land  das  Verhältnis  von  3  zu  2,  so  daß  von  1000  Rei- 
tern 600  Kürassiere  und  400  Karabiniers  (Arkebusier- 
reiter)  waren. 

*)  Jac.  v.  Wallhausen,  Kriegskunst  zu  Pferde.  Frank- 
furt 1616. 

**)  Louis  Napoleon.  Etudes  sur  le  passe'  et  Pavemr 
de  l'artillerie.    Paris  1846. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    639 

Brigade  im  Sinne  einer  bestimmten  Formation, 
wie  Verf.  ihn  nach  Rüstow  gebraucht,  ist  aber 
unhistorisch  und  daher  unstatthaft  (S.  1222). 
Auch  ist  es  nicht  richtig,  daß  das  einzelne  spa- 
nische Bataillon  dem  Bataillon  ungarischer  d.h. 
deutscher  Ordonanz  wesentlich  gleich  formiert 
gewesen  sei  (S.  1212),  da  die  Spanier  sich  in 
Quadraten  nach  dem  Terrain  im  Verhältniß  von 
4:7  formierten,  während  die  Deutschen  sich  in 
Quadraten  nach  der  Kopfzahl  aufstellten.  Die 
Spanier  hatten  daher  bei  gleicher  Kopfzahl  eine 
viel  größere  Front 

Eine  Menge  wichtiger  Punkte,  wie  der  Ueber- 
gang  zu  Regimentern,  in  Deutschland  bei  der 
Infanterie  seit  Mitte  des  16.  Jahrhunderts,  bei 
der  Kavallerie  erst  zu  Anfang  des  17»;  ferner 
die  Zahl  der  Chargen,  die  Verschlechterung  des 
moralischen  Elements  in  den  Landsknechten, 
wie  sie  schon  um  die  Mitte  des  16,  Jahrb.  ein- 
trat, werden  gar  nicht  erwähnt. 

Hinsichtlich  der  mittelalterlichen  Kriegfüh- 
rung, die  S.  986  skizziert  wird,  ist  ein  wichti- 
ger Faktor  übersehn,  der  Mangel  an  Geld.  Er 
vor  Allem  trägt  die  Schuld,  daß  die  Kriege  ihren 
schleppenden  Gang  annahmen  und  nur  darauf 
ausgingen,  dem  feindlichen  Lande  Schaden  zu 
thun,  um  auf  diese  Weise  zu  seinen  Absichten 
zu  gelangen.  War  Geld  vorhanden,  so  standen 
Söldner  zugebote  und  man  konnte  sich  große 
Ziele  setzen.  Die  Absichten  Johanns  von  Eng* 
land  im  Feldzuge  von  1214  gingen  auf  eine 
Theilung  Frankreichs  hinaus  und  das  Aufgebot 
seiner  Kräfte,  hauptsächlich  durch  englisches 
Geld  erreicht,  hätte  dem  entsprochen,  wenn  die 
klägliche  Niederlage  von  Bouvines  dem  Feldzuge 
nicht  bald  ein  Ende  gemacht  hätte.  Das  Geld, 
das  der  deutsche  Orden  durch  vorzügliche  Ad- 


640  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

ministration  des  Landes  und  durch  seine  Han- 
delsspeculationen  gewann,  verschaffte  ihm  Polen 
gegenüber  durch  Annahme  deutscher  Söldner 
große  Vortheile,  wie  das  bei  der  Eroberung 
Pommerellens  und  in  den  Kriegen,  welche  1329 
—32  zur  Behauptung  desselben  dienten,  hervor- 
tritt. Aber  auch  sonst  finden  sich  Beispiele,  daft 
man  im  Mittelalter  den  großen  Krieg  wohl  ver- 
stand. Die  Anlage  des  Feldzugs  von  1410  pol- 
nischerseits,  als  deren  Schöpfer  der  geniale 
Witotd  angesehn  werden  muß,  ist  den  modernen 
Ideen  darüber  völlig  nahestehend.  Die  Concen- 
tration fast  des  gesammten  Ostens  von  Europa 
auf  einem  und  zwar  dem  schwächsten  Punkt 
des  Ordensstaates  mit  der  Absicht  direct  auf 
Marienburg  zu  marschieren,  kann  noch  heute 
als  Muster  der  Strategie  für  den  großen  Krieg 
aufgestellt  werden.  Ebenso  iß*-  der  Feldzug  des 
Königs  Matthias  Corvinus  von  Ungarn  1474  in 
Schlesien  so  reich  an  großen  Conceptionen,  daft 
er  noch  heute  unsere  Bewunderung  erregt.  Die 
Ansicht,  daß  nur  die  Burgunderkriege  Karls  des 
Kühnen  einen  höhern  politischen  Charakter  ha- 
ben, ißt  daher  sehr  zu  modificieren. 

An  Finessen,  geschickten  Entwürfen  und  dem 
angemessener  Durchführung  sind  die  Feldzüge 
Francesco  Sforza's  so  reich  als  irgend  ein  mo- 
derner Krieg.  Dasselbe  gilt  von  den  Feldzügen 
Qonsalvo  di  Cordova's,  des  großen  Capitan. 

4.    Die  Feuerwaffen. 

Der  Eingang  dieses  Kapitels  (S.  670)  ist 
ziemlich  geschickt  dargestellt,  obgleich  ich  nicht 
alles  unterschreiben  möchte.  Verf.  begeht  dann 
aber  den  Fehler,  zunächst  zur  Handfeuerwaffe 
ttberzugehn,  da  er  damit  sogleich  ins  15.  Jahr- 
hundert überspringen  muß.    Es  beweist  wenig 


Jahns,  Attas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    G41 

Kritik,  wenn  er  die  Entstebnng  des  Lunten- 
Schlosses  nach  Würdinger  *)  ins  Jahr  1378  setzt, 
ohne  daß  der  geringste  Beweis  dafür  beigebracht 
wird.  Ueber  die  Un Zuverlässigkeit  der  Angaben 
Wttrdingers  habe  ich  mich  schon  anderweitig 
ausgesprochen**).  Indem  Verf.  dann  S.  784 
die  Angaben  Schöns***)  heranzieht,  bewegt  er 
sich  schon  im  16.  Jahrb.,  obgleich  er  (S.  786) 
den  Standpunkt  der  Handfeuerwaffe  Ende  des 
15.  Jahrh.  anzugeben  meint  Im  Uebrigen  sind 
die  Handfeuerwaffen  mit  vielem  Fleiß  bearbeitet 
und  reichlich  durch  Zeichnungen  veranschaulicht. 
f  Vom   schweren   Geschtttz   (S.   786  ff.)   kann 

man  das  weniger  sagen.  Die  Handschrift  Cod. 
germ.  N.  600  der  Münchener  Bibliothek  kann 
unmöglich  aus  der  Mitte  des  14.  Jahrh.  sein,  da 
sie  schon  Geschütze  darstellt,  die  Steine  werfen. 
Frühestens  ist  sie  1380  zu  setzen.  Verf.  ver- 
zerrt nun  von  vorn  herein  die  Entwickelung  der 
Artillerie,  indem  er  die  Angaben  Uffanosf)  (S. 
787),  der  zu  Anfang  des  17.  Jahrh.  schrieb, 
zum  Ausgangspunkt  nimmt.  Uffano  wußte  von 
der  Artillerie  des  14.  Jahrh.  .etwa  so  viel  als 
wir  vor  50  Jahren,  bevor  durch  Anstrengung 
einzelner  Männer  und  durch  Aufsuchung  archi- 
valischen  Quellenmaterials  in  Rechnungen  etc. 
da«  Dunkel  gebrochen  wurde,  in  welches  sich 
das  erste  Jahrh.  der  Artillerie  hüllte.  Was  uns 
Uffano  mittbeilt,  ist  die  Darstellung  einiger  Ge- 

*)  Würdinger,  Kriegsgeschichte  von  Baiern  etc.  von 
1347—1506.    München  1868.    IL. Bd.   S.  350. 

**)  Archiv  für  die  Artill.  und  Ingenieuroffiziere.  83. 
Bd.  (1878)  3.  Heft.  Quellen  zur  Geschichte  der  Feuer- 
waffen etc. 

***)  Schön,   Geschichte   der   Handfeuerwaffen.     Dres- 
den 1858. 

f)  Uffano,  Tradado  de  la  artilleria.    Brüssel  1613. 

41 


642  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

schütze,  die  zu  seiner  Zeit  noch  existierten  und 
höchstens  his  in  die  Mitte  des  15.  Jabrh.  hinauf- 
reichen, alte  Steinbttchsen  ans  eisernen  Stäben 
und  Ringen  zusammengesetzt.  Andre  hater,  wie 
er  sagt,  ans  dem  Vegez*)  entnommen,  der  die 
Geschütze  des  Valturius  wiedergiebt,  wie  das 
Winkelstück,  das  Uffano  aber  falsch  verstanden 
hat.  Was  er  von  der  erstem  ^ßgt9  daft  die 
Länge  ihrer  Kammer  4  Kaliber,  die  ihres  Rohrs 
8  Kaliber  gewesen  sei  nnd  die  Ladnng  ein  Drit- 
tel des  Steingewichts  betragen  habe,  deutet  auf 
Ende  des  15.  Jahrhunderts.  Welchen  kritischen 
Standpunkt  nimmt  Verf.  daher  ein,  wenn  er  von 
dieser  Büchse  abstrahiert,  daß  die  ältesten  Ge- 
schütze dieselben  Proportionen  gehabt  haben, 
und  welche  Unkenntniß  der  altern  Artillerie- 
Literatur  geht  daraus  hervor,  da  die  sogenannten 
Feuerwerksbücher  aus  der  ersten  Hälfte  des  15. 
Jahrh.,  von  denen  einige  gedruckt  sind  **),  aus- 
drücklich sagen,  daß  das  Gewicbtsverhältniß  des 
Pulvers  zum  Stein  in  dieser  Zeit  wie  1 :  10  ge- 
wesen ist,  andre  noch  ältere  Daten  dasselbe  wie 
1 :  14  erkennen  lassen  und  daß  das  14.  Jahrb. 
über  2  Kaliberlängen  des  Rohrs  nicht  hinaus- 
geht !  Diesem  unkritischen  Standpunkt  des  Verf. 
entspricht  es  auch,  wenn  er  von  einigen  noch 
vorhandenen  alten  Geschützen  sagt,  daß  z.  B. 
die  große  Wiener  Steinbüchse,  von  aerTaf.  59. 5 
eine  Zeichnung  nach  einer  Skizze  bei  Demmin 
gegeben  ist,  aus  der  ersten  Hälfte  des  14  Jahrh. 
stammen  soll,  wo  überhaupt  noch  keine  Stein- 
bttchsen  existierten,  und  daß  die  tolle  Gretevon 

*)  Wahrscheinlich  der  deutschen  Ausgabe  des  Flav. 
Veget.    Ren.  v.  J.  1511  oder  1529. 

**)  In  der  Ausgabe  des  deutschen  Yegez  v.  J.  1529 
und  bei  Hoyer,  Geschichte  der  Kriegskunst,  Göttingen 
1800.    IV.    Zusätze  und  Erläuterungen  S.  1107  ff. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschieht«  des  Kriegswesens.    648 

Gent  (S.  787)  wahrscheinlich  1382  geschmiedet 
and  jedenfalls  1411  verwendet  sein  soll,  wäh- 
rend nur  eine  geringe  Kenntniß  dazu  gehört, 
am  za  erkennen,  daß  sie  frühestens  aus  der 
Mitte  des  15.  Jahrh.  sein  kann.  Die  Taf.  59.7 
abgebildete  konische  Büchse  als  eine  solche  za 
bezeichnen,  die  wahrscheinlich  bei  Grecy  1346 
verwendet  worden  ist,  setzt  Allem  die  Krone 
auf.  Verf.  nennt  seine  Quelle  nicht,  da  sie 
wahrscheinlich  eine  sehr  unlautere  ist.  Der 
veuglaire  Taf.  59.  16  des  Masee  d'artillerie  von 
Paris  ist  ungefähr  100  Jahr  jünger  als  Verf.  ihn 
datiert.  Ueber  die  faule  Mette  von  Braunschweig 
sind  die  Angaben  nicht  benutzt,  die  unlängst  in 
den  Chroniken  deutscher  Städte  (Braunschweig, 
1.  Theil)  veröffentlicht  worden  sind.  Es  würde 
zuviel  Raum  beanspruchen,  wollte  ich  dem  Verf. 
auf  allen  seinen  Abwegen  folgen  und  seine  An- 
sichten richtig  stellen.  Nur  Einiges  sei  daher 
hervorgehoben.  Die  ursprüngliche  Form  der 
Seele  war  nicht  konisch,  wie  Verf.  S.  786  sagt, 
wie  man  überhaupt  in  der  ersten  Zeit  von  einer 
Seele  nicht  sprechen  kann,  da  das  Geschütz  von 
der  Kammer  gebildet  wurde,  die  vorn  nur  eine 
Erweiterung  von  */*  bis  1  Kaliberlänge  hatte, 
um  das  Geschoß  aufzunehmen.  Als  dieser  Theil 
länger  geworden  war  und  „das  Rohr"  genannt 
wurde,  nimmt  es  von  der  cylindrischen  die  ko- 
nische Form  an,  was  wie  aus  einer  Handschrift 
der  Ambraser  Sammlung  hervorgeht,  als  ein 
großer  Fortschritt  betrachtet  wurde.  Die  koni- 
sche Form  herrscht  in  der  ersten  Hälfte  des  15. 
Jahrh.  vor  und  selbst  der  Breslauer  Froissart 
(v.  J.  1468)  hat  noch  einige  konische  Röhren.  Auch 
die  Winkelstücke  gehören  nicht  zu  den  ältesten 
Geschützen,   wie    Verf.   (S.   796)   nach  Sa  vor  g- 

41* 


644  Gott.  gel.  Anz,  1881.  Stück  20.  21. 

nani*)  annimmt,  Sie  treten  erst  im  dritten  Jahr- 
zehend  des  15.  Jahrb.  auf.  Man  bezweckte  da- 
mit die  Aufhebung  des  Rückstoßes,  welcher  bis 
dahin  verhindert  hatte,  schwereren  Geschützen 
eine  höhere  Elevation  geben  zu  können.  Mit 
dem  Aufkommen  des  mit  Schildzapfen  versehe- 
nen kurzen  Rohrs,  des  heutigen  Mörsers,  bald 
nach  der  Mitte  des  15.  Jahrb.,  verschwinden  sie 
wieder.  Das  Raisonnement  über  Mörser  auf  S. 
797  ist  daher  hinfällig.  Die  Benutzung  von 
Keilen  war  erst  durch  die  Winkelstücke  ermög- 
licht, die  auch  schon  Mörser  oder  Böler  ge- 
nannt worden  zu  sein  scheinen. 

Haufnitz  ist  der. böhmische  Name  für  Stein- 
büchse.  Von  Hauptbüchse  kann  er  schon  des- 
halb nicht  abgeleitet  werden,  weil  dieser  Name 
erst  um  die  Mitte  des  15.  jahrh.  vorkommt,  die 
Hanfnitz  dagegen  schon  lange  vorher  bestand. 
Wenn  S.  798  der  Vogler  (veuglaire)  **)  mit  den 
Kammerbüchsen  identificiert  wird,  so  ist  das 
nicht  ganz  zutreffend,  da  auch  die  Haufnitz  und 
Terrasbüchse  Kammern  haben  konnten.  Die 
Terrasbüchse  ist  nicht  Wagenbüchse,  wie  Verf. 
meint.  Sie  steht  der  Steinbüchse  als  längere 
Büchse  (Kanon),  die  den  directen  Schuß  ge- 
stattete und  vorherrschend  Bleikugeln  schoß, 
gegenüber  und  ist  mit  dem  Vogler  nahezu  identisch, 
so  daß  im  südlichen  und  östlichen  Deutschland, 
wo  die  Terrasbüchse  in  Gebrauch  war,  der 
Vogler  nicht  vorkommt,  wie  in  den  Rheingegen- 
den  die  Terrasbüchse  nicht. 

*)  Savorgnani,  Arte  militare,  terrestre  e  maritima. 
Venezia  1570. 

**)  Die  Erläuterung  dieses  Namens  hätte  wohl  unter- 
lassen werden  können.  Vom  Katheder  mag  dergleichen 
seinen  Effekt  nicht  verfehlen,  gedruckt  macht  es  einen 
peinlichen  Eindruck. 


Jahns,  Atlas  zur  Geschichte  des  Kriegswesens.    645 

Auf  S.  801  bis  815  wird  die  Pulverbereitung 
und  die  Munition  besprochen.  Es  hätte  hier  er- 
wähnt werden  müssen,  daß  die  Anwendung  der 
Holzasche  zur  Läuterung  des  Salpeters,  die  schon 
in  arabischen  Handschriften  des  13.  Jahrb.  vor* 
kommt,  in  den  altern  Feuerwerksbüchern  aus 
dem  Anfange  des  15.  Jahrb.  noch  nicht  erwähnt 
wird,  so  daß  der  Salpeter  dieser  Zeit  sehr  un- 
rein gewesen  sein  muß. 

S.  955—973  wird  die  Artillerie  des  15.  Jahrh. 
besprochen.  Verf.  leitet  diesen  Abschnitt  mit 
einer  sehr  mühsamen  chronologischen  Zusammen- 
stellung von  gleichzeitigen  Daten  der  ersten 
Hälfte  des  15.  Jahrh.  ein,  die  leider  dadurch  an 
Werth  verliert,  daß  dabei  nicht  mit  der  erfor- 
derlichen Kritik  verfahren  ist.  Die  Nomenclatur 
der  von  Kaiser  Maximilian  I.  eingeführten  Ge- 
schützgattungen  besehließt  den  Abschnitt.  Die 
Daten  sind  theils  aus  Würdinger,  theils  aus 
Essen  wein*)  entnommen  und  in  keiner  Weise 
erschöpfend,  da  weder  auf  die  eignen  Angaben 
des  Kaisers,  wie  sie  im  Weißkunig  und  in  sei- 
nem Memorienbuch  niedergelegt  sind,  eingegan- 
gen wird ,  noch  im  Atlas  Zeichnungen  davon  ge- 
geben werden. 

Die  Artillerie  Kaiser  Karls  V.  wird  S.  1048 
nach  Uffano  dargestellt,  der  indessen  erst  An- 
fang des  17.  Jahrb.  schrieb  und  daher  nicht 
maßgebend  für  Karl  V.  sein  kann.  Ebenso  we- 
nig ist  dies  mit  Jakob  Pteuß  **)  der  Fall  (S. 
1049),  dessen  Werk  überhaupt  nicht  original, 
sondern    der   „Kriegsordnung"   entnommen   ißt, 

*)  Quellen  zur  Geschichte  der  Feuerwaffen  etc« 
Leipzig  1877. 

**)  Jakob  Preuß,  Ordnung,  Namen  und  Regiment  alles 
Kriegsvolks,  von  Geschlecht,  Namen  und  Zahl  der  Büch- 
sen.   Strasburg  1530. 


646  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

die  ohne  Druckort  und  Jahreszahl  um  1525  ver- 
öffentlicht wurde  and  dem  Zeugmeister  Maxi- 
milians, Nickel  Otten  *),  zugeschrieben  wird.  Wir 
haben  also  die  Artillerie  Maximilians  hier  vor 
uns.  KarlV.  hat  sich  vor  dem  Jahre  1542  nicht 
mit  der  Artillerie  beschäftigt.  Seine  Thätigkeit 
in  dieser  Zeit  ist  in  dem  interessanten  Werke 
Henrard's**)  besprochen,  das  dem  Verf.  unbe- 
kannt geblieben  ist,  Man  bleibt  daher  Über  die 
.Entwicklung  der  deutschen  Artillerie  im  16. 
Jahrh.  völlig  im  Unklaren. 

S.  1218  ff.  wird  die  Reorganisation  der  spa- 
nischen Artillerie  und  die  Vereinfachung  der 
Kaliber  niederländischerseits  besprochen.  Sie 
gehören  .beide  schon  dem  Anfange  des  17.  Jabrb. 
an.  Es  ist  nun  einmal  eine  Eigentümlichkeit 
des  Verf.  alles  vorzudatieren  und  dadurch  das 
thatsächliche  zu  beeinträchtigen. 

Nach  alle  dem  ist  der  wissenschaftliche  Werft 
des  Werks  nicht,  allzuhoch  anzuschlagen,  ob* 
gleich  des  Guten  noch  immer  viel  übrig  bleibt 
Als  Handbuch  leidet  der  Text  dadurch  so  sehr, 
daß  weder  Inhaltsverzeichniß  noch  Register,  was 
beides  bei  solchem  Werke  dringend  erforderlich 
ist,  vorhanden  sind.  Wenn  sich  die  Verlags- 
handlung nicht  selbst  den  größten  Schaden  zu- 
fügen will,  wird  sie  sich  entschließen  müssen, 
beides  noch  -  nachträglich  zu  liefern ,  da  das 
Handbuch  so  völlig  abstoßend  auf  Jeden  wirkt, 
der  es  benutzen  will.  Auch  vom  Atlas  müßte 
die  Inhaltsangabe  der  einzelnen  Blätter  voran- 
gestellt werden.  6.  Köhler. 

*)  Michael  Ott  von  Oechter dingen,  Kais.  Max.  ober- 
ster Feldzeugmeister. 

**)  Henrard,    Histoire    de   l'artillerie    en  Belgique. 
Bruzelles  1865. 


Schirrmaeher,  Geschichte  von  Spanien.   4.  Bd.    647 

Geschichte  der  Europäischen  Staaten. 
Herausgegeben  von  A.  H.  L.  Heeren,  F.  A.  Ukert 
und  W.  v.  Giese brecht.  XLH.  Lief.,  2.  Abth. : 
Geschichte  von  Spanien  von  Friedrich 
Wilhelm  Schirrmacher.  Vierter  Band.  Ge- 
schichte Castiliens  im  12.  und  13.  Jahrhundert.  Gotha. 
Fr.  A.  Perthes.    1881.    XVHI  und  696  S.    8°. 

Im  zweiten  Bande  der  Geschichte  Spaniens 
hatte  sich  Heinrich  Schäfer  vorgesetzt,  in  unun- 
terbrochener Folge  dieselbe  von  der  Auflösung 
des  Kalifats  von  Cordova  bis  zu  den  Eroberun- 
gen Ferdinands  im  südlichen  Spanien  und  dem 
Ende  der  Herrschaft  der  Mowahiden  in  der 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts  darzustellen,  gleich- 
wohl führte  er  in  diesem  Bande  die  Geschichte 
Castiliens  nur  bis  zum  Tode  Kaiser  Alfonso's  VI. 
(1109)  und  behandelte  danach  im  dritten  Bande, 
der  erst  im  Jahre  1861  nach  einer  Pause  von 
siebzehn  Jahren  erschien,  absehend  von  jener 
wichtigen,  die  Bildung  und  Entwicklung  der 
christlichen  Nachbarreiche  wesentlich  bestimmen- 
den Macht  der  Mitte,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Staatsverfassung  und  des  See- 
wesens, die  Geschichte  Aragons  und  Cataloniens 
bis  über  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  hinaus. 
Hierdurch  sah  sich  der  Fortsetzer  veranlaßt,  in 
dem  ersten  der  drei  weiteren,  von  ihm  zu  be- 
arbeitenden Bände,  in  denen  die  Geschichte 
Spaniens  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters  ge- 
führt werden  soll,  zurückgehend  auf  die  Zeiten 
Kaiser  Alfonso's  VI.,  die  ruhmreichen  Zeiten  der 
Macht  Castiliens  während  des  12.  und  13.  Jahr- 
hunderts im  Zusammenhang  zur  Darstellung  zu 
bringen.  In  Bezug  auf  den  vorliegenden  reichen 
Stoff  und  die  Aufnahme  des  ansehnlichen  wis- 
senschaftlichen Apparats  hat  er  sich  mannigfache 
Schranken  setzen    und     ernste    Enthaltsamkeit 


648  Gott,  gel.  Anz.  1831.  Stock  20.21. 

üben  müssen,  and  trotzdehi  erforderte  die  Dar- 
stellt! ng  des  noth wendig  Zusammengehörigen 
einen  derartigen  Umfang,  daß  die  Schilderung 
des  geistigen  Lebens  in  Staat  und  Kirche,  in 
Literatur  und  Kunst  dem  folgenden  Bande  auf- 
gespart bleiben  mußte.  Dort  wird  es  auch  am 
Ort  sein,  wenigstens  in  großen  Zügen  eine  An- 
schauung von  der  hohen  Stellung  zu  geben,  zu 
welcher  sich  die  Geschichtschreibung  in  Spanien 
während  jener  zwei  Jahrhunderte  erhob  und  ein- 
gehender, als  es  in  diesem  ersten  Bande  ge- 
schehen durfte,  von  den  Resultaten  Gebranch  zu 
machen,  zu  denen  die  Quellenuntersuchnng  führte. 
Durch  sie  sah  sich  der  Verfasser  bestimmt,  der 
cronica  general  Alfonso's  X.  für  die  geschilder- 
ten Zeiten  eine  bei  weitem  größere  Autorität 
einzuräumen,  als  ihr  von  spanischen  Autoren 
zu  Theil  geworden  ist.  Kaum  genannt  findet 
sich  dagegen  Conde's  domination  de  los  Arabes, 
welchem  Werk  von  jenen,  trotz  der  gerechten 
Abfertigung,  die  es  durch  Dozy  erfahren  hat, 
und  trotz  der  den  reichsten  Ersatz  bietenden 
stattlichen  Folge  arabischer  Autoren,  deren  Ge- 
schichtswerke in  vortrefflichen  Textansgaben 
oder  Uebersetzungen  vorliegen,  noch  immer  die 
Anerkennung  gezollt  wird ,  die  allein  einer 
Quelle  ersten  Banges  zukommt. 

Um  die  Geschichte  der  Masmüditen  und  zwar 
für  die  Zeit  von  1121  bis  1224  hat  sich  unter 
den  arabischen  Berichterstattern  keiner  ein  grö- 
ßeres Verdienst  erworben  als  Abd-el-w&chid. 
Wenn  er  sagt:  „Ich  habe  in  diesen  Blättern 
nichts  berichtet,  was  ich  nicht  durch  Mittheilung 
aus  Büchern  festgestellt,  oder  von  zuverlässigen 
Leuten  vernommen  oder  selbst  erlebt  habe,  in- 
dem ich  die  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  suchte 
und  vor  allem  bemüht  war,  daß  ich   nicht  Je- 


Schirrmacher,  Geschichte  von  Spanien.   4.  Bd.     649 

ttflradem  etwas  entzöge,  was  ihm  gebührte,  oder 
hinzufügte,  was  er  nicht  verdiente",  so  hat  die 
Untersuchung'  nicht  gefunden,  daß  er  damit  zu- 
viel gesagt  nätte.  Um  so  mehr  ist  zu  bedauern, 
daß  es  ihm  nur  darauf  ankam,  eine  kurze  Zu- 
sammenfassung der  Nachrichten  über  die  Herr- 
schaft der  Masmüditen  zu  geben.  Bei  seinen 
Berichten  über  die  Regierung  der  Söhne,  Enkel 
und  Urenkel  cAbd  el-Mämen's,  über  ihre  Mütter, 
Secretaire,  Katmnerherren  und  Veztre  babe  er 
sieh,  sagt  er,  nur  auf  das  Nothwendige  be- 
schränkt. 

Für  die  Zeiten  von  1170-1263  ist  zum  er- 
sten Mal  die  arabische  Handschrift  der  Biblio- 
thek zu  Kopenhagen  benutzt  worden,  über  welche 
Herr  Professor  Dozy  in  seiner  Ausgabe  des  Ibn 
Adhari,  Introduction  p.  103,  ausführlich  gehan- 
delt hat.  Leider  machte  die  außerordentliche 
Veräerbtheit  des  Textes  der  Benutzung  die 
größte  Vorsicht  zur  Pflicht.  Gleichwohl  ver- 
dankt unsere  Darstellung  dieser  getrübten  Quelle 
recht  wesentliche  Aufklärungen. 

Wenden  wir  uns  der  Gruppierung  des  Stoffes 
zu.  Durch  die  Schlacht  bei  Navas  de  Tolosa, 
den  entscheidendsten  Wendepunkt  für  den  Nie- 
dergang der  Herrschaft  derMoslims  in  Spanien, 
gliedert  sich  diese  zweihundertjährige  thaten- 
reicfte  Epoche  in  zwei  fast  gleiche  Hälften,  so 
daß  die  erste,  anbebend  vom  Tode  Kaiser  AI 
fouso's  VI.,  des  Eroberers  von  Toledo,  die  Zei- 
ten der  Königin  Urraca,  der  Könige  Alfonso  VII., 
Sancho  III.,  Alfonso  VIII.  und  seit  dem  Jahre 
1158,  der  Trennung  der  Königreiche  Gastilien 
und  Leon,  zugleich  der  Könige  Fernando  II. 
nad  Alfonso  IX.  von  Leon,  die  zweite  die  der 
Könige  Enrique  L,  Fernando  III. ,  Atfonso  X. 
und  Sancho  IV.  urarfam.    Heinrich  Schäfer  hatte 


650  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

die  Darstellung  der  Ereignisse,  welche  die  An- 
wartschaft Alfonso's  I.  von  Aragon  auf  die 
Krone  von  Leon  und  Castilien  veranlaßte,  der 
Feder  des  Geschichtsschreibers  dieser  Reiche 
überlassen,  der  sich  überdieß  zu  einer  eingehen- 
den Prüfung  und  Darstellung  der  Regierungs- 
zeit der  Königin  Urraca  nicht  weniger  durch 
die  über  sie  bestehenden  Unklarheiten  als  durch 
die  verdunkelnde  Leidenschaftlichkeit  aufgefor- 
dert sa h,  mit  welcher  einerseits  die  historia 
Compostellana  den  Bischof  Diego  Gelmirez  von 
Santiago,  den  energischen  Beschützer  Castifiens 
gegen  Aragon,  verherrlicht,  andererseits  die  ca- 
stilischen  Historiographen  herabgezogen  haben. 
Bei  der  dem  nächsten  Bande  vorbehaltenen 
Schilderung  der  zunehmenden  Einwirkungen  der 
päpstlichen  Macht  auf  Kirche  und  Staat  Spa- 
niens wird  dieser  erste  Erzbischof  von  Santiago 
noch  einmal  im  Vordergründe  erscheinen.  — 
Nach  einer  Einschaltung  über  Ibn  Tümart,  den 
Reformator  des  nordafrikanischen  Islam  und 
Begründer  der  Sekte  der  Almohaden  wird  in 
vier  Kapiteln  das  Leben  Kaiser  Alfonso's  VII. 
behandelt,  die  ersten  Erfolge  bis  zur  Aner- 
kennung der  Kaiserwürde,  darauf  seine  Conflikte 
mit  den  Vasallenfürsten  von  Portugal,  Navanra 
und  Aragon,  deren  glückliche  Beilegung  ihn  erst 
in  den  Stand  setzte,  sich  die  anarchischen  Zu- 
stände zu  Nutze  zu  machen,  die  mit  der  Em- 
pörung der  spanischen  Mosltms  gegen  die  ver- 
haßten AI  mora  vide  n  über  Andalusien  hereinge- 
brochen waren.  Zum  ersten  Mal  ziehen  die  Ca- 
8tilier  in  Kordova  ein,  ohne  es  in  eine  christ- 
liche Stadt  verwandeln  zu  können,  Ibn  Ganije, 
der  Almoravide,  bleibt  ihr  Gebieter,  doch  ate 
Vasall  Alfonso's,  der  sich  durch  die  Genuesen 
zu  der  gewinnverheißenden  aber  bei  der  drohen- 


Schirrmacher ,  Geschichte  von  Spanien.    4.  Bd.    651 

den  Landung  der  Almohaden  and  der  schwan- 
kenden Haltung  der  Andalusier  trotz  der  Mit- 
hülfe Navarras  nnd  Aragons  äußerst  gewagten 
Unternehmung  gegen  den  reichen  Handelsort 
Almeria  fortreißen  läßt.  Leider  bricht  die  von 
einem  Gleichzeitigen  abgefaßte  Chronik  des  Kai- 
sers, über  deren  Glaubwürdigkeit  in  Vicente  de 
la  Fuente'8  spanischer  Kirchengescbichte  sehr 
einseitig  und  hart  geurtheilt  worden  ist,  schon 
in  den  Anfängen  der  Schilderung  jenes  Unter- 
nehmens ab  und  leider  lassen  sich  nach  der 
Eroberung  von  Almeria  auf  Grund  kurzer  anna- 
listiscber  und  urkundlicher  Notizen  nur  die  Rich- 
tungen der  Kriegsztige  bestimmen,  welche  Al- 
fonso zur  Abwehr  der  hereinbrechenden  Almo- 
haden und  zur  Behauptung  Almerias  in  sei- 
nen letzten  zehn  Lebensjahren  unternommen  hat. 
Gegen  die  bisherigen  Annahmen  wird  erwiesen, 
daß  der  Verlust  dieses  Emporium  dem  Tode  des 
Kaisers  kurz  vorausgegangen  ist.  Die  Darstel- 
lung wendet  sich  dann  den  schweren  Verhäng- 
nissen zu,  die,  eine  Folge  der  Trennung  der 
Königreiche  Gastilien  und  Leon  und  des  früh- 
zeitigen Todes  Sanchos  III.,  nach  dessen  kräf- 
tiger Regierung  sich  die  Gastilier  zurücksehnten, 
während  der  Minderjährigkeit  seines  Sohnes, 
König  Alfonso's  VIII.,  durch  die  Factionskämpfe 
der  Gastro  und  Lara  und  die  Usurpation  König 
Fernando  IL  von  Leon  über  Castilien  kamen, 
durch  deren  Nachwirkungen  sich  nicht  allein  Al- 
fonso VIII.  Zeit  seines  Lebens  in  der  vollen 
Durchführung  seiner  gegen  die  Almohaden  ge- 
richteten Unternehmungen  gehemmt  sah,  son- 
dern auch  sein  Nachfolger  König  Fernando  III., 
bis  dann  im  Jahre  1230  der  Tod  Alfonso's  IX. 
von  Leon  zur  Wiedervereinigung  der  getrennten 
Reichstheile  führte.    Für  die  mehr  als  fünfzig- 


652  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.21. 

jährige,  in  fünf  Kapiteln  behandelt*  Ilegierting 
Alfonso's  VIII.,  deren  hohe  Bedeutung  allein 
schon  sich  in  den  Namen  Alarcos  nnd  Navas  de 
Tolosa  aasspricht,  lagen  in  des  gelehrten  Mon- 
debar Memorias  del  rey  Alonso  VIII.  die  ftJr- 
derndsten  Vorarbeiten  vor,  die  ihre  Ergänzun- 
gen und  Berichtigungen,  soweit  es  sich  nament- 
lich um  die  Contacte  mit  der  Macht  der  Almo- 
haden  handelt,  in  sehr  umfänglicher  Weise  darch 
die  Mittheilungen  Abd-el-w&hids  and  des  unbe- 
kannten Verfassers  des  Ms.  Copenh.  erhielten. 
In  einer  Beilage  ist  der  Versuch  gemacht,  die 
Unklarheiten  und  Widerspruche  zu  beseitigen, 
die  über  die  Zahl  der  Kinder  Alfonso's  und  die 
Zeit  ihrer  Geburt  bestehen. 

Das  zweite  Buch  behandelt  die  Epoche  der 
großen  Eroberungen  Castiliens  im  südlichen  Spa- 
nien. Nach  der  aus  unzureichenden  Quellen  ge- 
schöpften Schilderung  der  glücklicherweise  nur 
kurzen  Regierung  König  Enrique's  I.  während 
dessen  Minderjährigkeit  die  Lares  nochmals  die 
höchste  Gewalt  usurpieren  und  die  wirren  Zu- 
stände aus  der  Jugendzeit  Alfonso's  VIII.  wie- 
derkehren, erhebt  sich  die  Darstellung  auf  um- 
fangreichen urkundlichen  und  annalistischen 
Grundlagen  zu  den  ruhmvollen  Zeiten  König 
Fernando's  des  Heiligen.  Ein  erstes  Kapitel 
umfaßt  seine  Kriegszttge  nach  Andalusien  bis 
zum  Jahre  1230,  dem  Tode  seines  Vaters,  Kö- 
nig Alfonso's  IX.  von  Leon.  Zu  nicht  geringen 
Abweichungen  von  den  bestehenden  Annahmen 
führten  die  Untersuchungen  über  die  Zeitbe- 
stimmungen jener  Feldzttge.  In  zwei  weiteren 
Kapiteln  finden  die  von  den  größten  Erfolgen 
gekrönten  Eroberungszttge  ihre  Darstellung: 
Cordova,  Murcia,  Jaen  und  Sevilla  werden 
ehristtitob.     Ibn-el-abmer  von   Granada,   dessen 


Schirrmacher,  Geschichte  von  Spanien.   4.  Bd.    658 

Klugheit  der  Islam  den  letzten  Halt  auf  spani- 
schem Boden  verdankt,  erkennt  die  Oberhoheit 
Castilieng  an.  In  einem  vierten  Kapitel  wird 
das  diese  großartigen  Erfolge  bedingende  maß- 
volle Verhalten  Fernandos  gegen  die  neidvollen 
Nachbarn,  besonders  gegen  Aragon  geschildert. 
Gleichfalls  in  vier  Kapiteln ,  die  jedoch  bei 
der  Fülle  des  historischen  Materials  den  doppel- 
ten Umfang  erreichen,  wird  die  Regierung  Al- 
fonso's X.  behandelt,  die  in  Bezug  auf  die  Le- 
bensziele des  Vorgängers  fast  nur  Rückschritte 
aufzuweisen  hat,  an  überspannten  und  darum 
verfehlten  Plänen,  an  nicht  durchgeführten  Re- 
formarbeiten, an  Empörungen-  dar  nächsten  Ver- 
wandten wie  der  Ricoshombres,  an  Auflehnun- 
gen der  andalusischen  Moslims  und  Demüti- 
gungen durch  die  Waffen  der  afrikanischen  Me- 
rmen überreich  ist,  und  mit  der  Machtberaubung 
durch  den  eigenen  Sohn,  den  Erbinfanten  Sancho, 
endet.  Die  ganze  Folge  der  Begebenheiten  ist 
in  der  Weise  gegliedert,  daß  in  den  vier  Kapi- 
teln die  ersten  Jahre  schwankender  Politik,  die 
Verirrungen  seiner  Kaiserpolitik,  die  mit  Papst 
Gregor  X.  zu  Beaucaire  geführten  Unterhand- 
lungen und  die  unheilvollen  Rückwirkungen  die- 
ser antinationalen  Politik  auf  Gastilien  geschil- 
dert werden.  Von  den  Vorarbeiten  verdankt 
der  Verfasser  für  die  ganze  Zeit  Alfonso's  die 
meiste  Förderung  Mondejar's  Memorias  histori- 
cas  del  rei  Don  Alonso  el  Sabio,  speciell  für 
dessen  römisches  Königthum  Busson's  Schrift: 
„Die  Doppelwabl  des  Jahres  1527  und  das  rö- 
mische Königthum  Alfons  X.  von  Castilien".  In 
einer  Beilage  wird  auf  Grund  einer  Mittheilung 
des  Don  Juan  Manuel  die  Geschichte  des  Auf- 
Standes  des  Infanten  Don  Enrique  und  der  Mos- 


664  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.  21. 

lims  Andalusiens  einer  besonderen  Prüfung 
unterzogen. 

Den  Abschluß  des  Ganzen  bildet  die  Regie- 
rung König  Sanchos  IV..  der  in  die  Bahnen  Kö- 
nig Fernando's  III.  wieder  einlenkt,  Krieg  mit 
den  Merinen,  Frieden  mit  den  christlichen  Nach- 
barreichen sucht  und,  obwohl  durch  die  von  ihm 
selbst  in  Folge  seiner  Auflehnung  gegen  den 
Vater  geschärften  Parteigegensätze  vielfach  ge- 
hemmt, mit  Hülfe  des  Fürsten  von  Granada  das 
wichtige  Tarifa  gewinnt  und  gegen  die  Merinen 
behauptet. 

Rostock.  Fr.  Schirrmacher. 


Theogonie  und  Astronomie.  Ihr  Zusammen- 
hang nachgewiesen  an  den  Göttern  der  Griechen,  Aegyp- 
ter,  Babylonier  und  Arier  von  Anton  K rich e n» 
bauer.  Wien  bei  Carl  Konegen  1881.  Vlll  und 
461  S.    gr.  Oct. 

Um  von  der  in  der  That  ganz  abnormen  Wun- 
derlichkeit, um  nicht  zu  sagen  Verfehltheit,  des 
vorliegenden  äußerst  splendid  ausgestatteten  Wer- 
kes einen  Begriff  zu  geben,  genügt  es  wohl 
einige  die  wichtigsten  Principien  und  Resultate 
des  Verf.  charakterisierende  Sätze  aus  der  Ein- 
leitung (S.  1 — 40)  herauszugreifen  und  diese 
alsdann  durch  einige  Behauptungen  aus  den 
späteren  Abschnitten  des  Buches  zu  illustrieren. 

Der  Verf.,  Herr  A.  Krichenbauer,  „Besitzer 
der  goldenen  Medaille  für  Kunst  und  Wissen- 
schaft" (wie  es  emphatisch  auf  dem  Titel  heißt), 
welcher  sich  auf  S.  II  „alle  Rechte,  insbesondere 
das  Uebersetzungsrechttf  seines  für  Astronomen, 
Historiker  und  Archäologen  gleich  wichtigen 
Werkes  (S.  7  f.)  ausdrücklich  vorbehält,  ist  kein 
Neuling  mehr  auf  dem  Gebiete  seiner  Wissen- 
schaft.   Er  hat  seine  Methode  der  Untersuchung 


Krichenbauer,  Theogonie  und  Astronomie.        655 

bereits  in  einer  Reibe  von  Schriften  dargelegt 
Diese  sind:  1)  Ein  Schloß  auf  das  Alter  der 
Ilia8,  Wien  1874.  2)  Beiträge  zur  homer.  Ura- 
nologie,  ebenda  1874.  3)  Die  Irrfahrt  des 
Odysseus,  Berlin  1877.  4)  Die  Irrfahrt  des 
Menelaos,  Wien  1877.  „Man  wird  darin  (sie!) 
ersehen",  heißt  es  S.  2,  „daß  ich  in  Bezug  auf 
den  Himmel  vom  Sirius  ausging,  zur  Wage  ge- 
langte, dann  die  Sterngruppe  Bär,  Bootes,  Orion 
und  Plejaden  erklärte,  dann  zum  Löwen  und 
zu  den  Steinböcken  geführt  wurde  und  schließ- 
lich den  Poseidon  als  unmittelbaren  Nachbar 
der  Steinböcke  ebenfalls  als  Sternbild  erkannte, 
und  zwar  als  das  Sternbild  des  —  Wasser- 
mannes". An  dieses  Resultat-  soll  nun  die  ge- 
genwärtige Untersuchung  wieder  anknüpfen. 
Zwar  hat  eine  böswillige  Kritik  die  bisherigen 
Ergebnisse  des  Verf.  bis  jetzt  nicht  anerkannt, 
sondern  geglaubt,  er  wolle  die  Philologie  com- 
promittieren  und  die  Welt  mystificieren  (S.  6), 
doch  hat  diese  Verkennung  der  Wahrheit  Herrn 
K.  nicht  hindern  können,  seine  bahnbrechenden 
mythologisch-astronomischen  Studien  mit  dem 
Cirkel  in  der  einen  und  mit  dem  aus  dem  Binge 
gelösten  Himmelsglobus  in  der  andern  Hand 
(S.  43)  rüstig  fortzusetzen  und  „auch  die  an- 
dern Götter  derllias,  Here,  Athene,  Ares,  Apol- 
lon,  Artemis,  Aphrodite,  Thetis  als  Vertreter 
eines  oder  mehrerer  Sternbilder  an  der  Ekliptik, 
Zeus  aber  als  Sonne  nachzuweisen"  (S.  2).  So 
„gestaltete  sich  ein  Götterkreis  entsprechend 
dem  Thierkreise  an  der  Ekliptik  und  die  Hand- 
langen der  Götter  erschienen  als  der  religiöse 
Ausdruck  einer  bestimmten  Himmelsanschauung, 
eines  bestimmten  kosmischen  Vorganges  aus  der 
Zeit  um  —  2110 v.Chr.".  Hr.  K.  „erkannte, 
daft  wir  wirklich  Bruchstücke  eines  halb  ver- 
schollenen Gesanges  in  der  Ilias  erhalten  haben 


666  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.21. 

die  »ich  aber  erklären  and  so  ordnen  lassen, 
daß  wir  die  Umrisse  des  alten  Liedes  erkennen". 
„Dieses  Götterepos  bebt  sich  natürlich  (!) 
vom  historischen  oder  Heldenepos  der  Ilias  voll- 
ständig ab,  weil  der  Schauplatz  der  Himmel  ist 
und  die  Zeit  der  Handlung  um  2000  v.  Chr.  (!) 
fällt,  wo  von  dem  historischen  Epos  noch  keine 
Rede  sein  kann",  Doch  der  Verf.  „konnte  bei 
diesem  Ergebnisse  der  Untersuchung  [das  allein 
schon  hingereicht  hätte,  jeden  andern  Forscher 
zu  befriedigen  und  ihm  die  Krone  der  Unsterb- 
lichkeit zu  verleihen,  Anm.  d.  ßec]  nicht  stehen 
bleiben u.  Geleitet  von  der  Erwägung,  daft  wohl 
noch  andere  Götterkreise  aus  späterer  Zeit  in 
den  durch  Absonderung  des  ältesten  gewonne- 
nen Abschnitten  der  Ilias  enthalten  seien,  setzte 
Herr  K.  seine  zwar  mühevollen  (S.  6)  aber 
doch  schon  durch  glänzende  Ergebnisse  belohn- 
ten Untersuchungen  fort  und  —  siehe  da  —  „es 
ergab  sich  ihm  aus  einem  Theile  der  Götter- 
handlungen und  Göttergestalten  ein  zweiter  Cy- 
klus,  der  in  sich  abgeschlossen  abermals  der 
Ausdruck  bestimmter  uranisoher  Verhältnisse  war, 
und  zwar  —  aus  dem  15.  Jahrh.  v.  Chr.  Ein 
Best  von  Mythen  zeigte  nur  mehr  wenige  Spu- 
ren realen  Inhalts,  war  bereits  mehr  ein  poeti- 
sches Spiel  mit  den  alten  Formen.  Es  führte 
dieses  Stadium  in  die  Zeit  von  ungefähr  — 
1000  v.  Chr.  bis  in  die  historische  Zeita. 

„Aber  auch  dieser  Erfolg  war  dem  Verf. 
noch  nicht  hinreichend.  ...  Es  muß  sich  das 
Analoge  auch  bei  derTheogonie  und  Mythologie 
anderer  Völker  nachweisen  lassen.  So  wurde« 
auf  das  Gebiet  der  vergleichenden  Mythologie 
gedrängt  (!),  aber  erst  als  sein  ganzes  Gebäude 
der  griechischen  Tbeogonie  geschaffen  war.  Er 
wandte  seine  Prinzipien  auf  die  Tbeogonie  der 


Krichenbauer ,  Theogonie  utid  Astronomie.       657 

Babylonier,  Aegypter  und  Arier  (sie!)  an  und 
fand,  daß  auch  dort  die  chaotischen  Knäuel  von 
Mythen  sich  lösen,  ordnen  und  erklären  lassen, 
die  Mythen  chronologisch  und  genetisch  der  in- 
dividuelle Ausdruck  dieser  Völker  für  dieselben 
astronomischen  und  kosmischen  Vorgänge  sind, 
welche  die  Grundlage  der  aus  Homer  geschöpf- 
ten Theogonie  waren.  Nun  erst  (!)  erschien  die 
homerische  Theogonie  als  ein  ganz  natürlicher 
Zweig  der  Gulturentwickelung  des  alten  Orients 
überhaupt,  und  der  Verf.  gewann  die  feste 
Ueberzeugung,  daß  er  zur  Literatur 
der  Theogonie  kein  überflüssiges  (!) 
Buch  hinzufüge". 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen,  welche 
ich,  um  möglichst  objektiv  zu  verfahren,  größten- 
teils mit  den  eigenen  Worten  Herrn  K.'s  ge- 
geben habe,  hätte  es,  sollte  man  meinen,  des 
Verf.  erste  Pflicht  sein  müssen,  nachzuweisen, 
daß  die  Griechen  schon  vor  2000  v.  Chr.  den 
Thierkreis  kannten,  und  daß  Ideler  Unrecht 
hatte,  wenn  er  in  seiner  berühmten  Abhandlung 
über  den  Ursprung  des  Thierkreises  (Philos.- 
histor.  Abh.  d.  Berl.  Ak.  1838  S.  21  u.  24)  ein 
über  das  7.  Jahrh.  v.  Chr.  hinausreichendes  Alter 
des  griech.  Zodiakus  und  dessen  ägyptische  Her- 
kunft bezweifelt,  aber  was  bietet  uns  Hr.  E.  statt 
dieses  Nachweises  ?  Nichts  weiter  als  die  boden- 
lose Behauptung  (S.  22)  „die  Thierkreisbilder  ha- 
ben ihren  Namen  von  den  Aegyptern,  denn  nur 
dort  trifft  es  zu,  daß  die  Namen  in  Beziehung  zur 
Natur  des  Landes  stehen"  (?!)  Zwar  weiß  der 
Verf.  aus  Mädlers  Gesch.  d.  Himmelskunde  1872 
S.  28,  daß  „nach  Idelers  Untersuchungen  sich 
die  Thierkreisbilder  [auf  ägyptischem  Boden]*), 

*)  Diesen  wichtigen  Zusatz  läßt  freilich  Herr  K.  weg. 
Vgl.  Ideler  a.  a.  0.  S.  3  und  Letronne  in  seiner  Abh. 

42 


668  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

nicht  über  die   Zeit  Cäsar»  zurück  nachweisen 
lassen",  doch  lehnt  er  eine  Widerlegung    die- 
ser   Thatsache   einfach    mit    den   Worten     ab, 
„es  könne  dies  nicht  Gegenstand  der  vorliegen- 
den Untersuchung  Bein"  (S.  23).    Im  Folgenden 
wird  der  Name  des  Steinbocks  mit  der  Behaup- 
tung erklärt,  daß  um  2400  v.  Chr.  am  21.  Juni 
—  die  Jagd   auf  die  Steinböcke   in  Aegypten 
begonnen    habe.     (Die   Astronomen  von    Fach 
mögen    beurtheilen,    ob    der    Verf.   berechtigt 
ist,  sich  bei  diesen  Monatsdaten  des  Jahres  2400 
y.   Chr.   „die   Sonne   im   Untergang"  das   betr. 
Sternbild    am    östlichen    Himmel    zu    denken.) 
Aehnlich  soll  das  Bild  der  Fische  seinen  Namen 
erhalten   haben,   weil   am   21.  Juli   des  Jahres 
2400  „die  Aegypter  sich  von  den  Fischen  nähr- 
ten,  die   im   zurücktretenden  Nil  sich  in  Fülle 
vorfanden".    Da  am   21.  September  „die  Ham- 
mel schon  (!)  auf  die  Weide  getrieben  wurden", 
so   hat   das   zu   dieser  Zeit  bei   untergehender 
Sonne  am  östlichen  Himmel  erscheinende  Stern- 
bild den  Namen  Widder  erhalten   (S.  23).    Das 
allerinteressanteste  Ergebniß  dieser  Untersuchun- 
gen ist  es  aber,  daß  die  Löwen  in  Aegypten  ihre 
Schonzeit  hatten,  da  nach  Herrn  E.  „wahrschein- 
lich erst  am  21.  Jänner  die  ägyptischen  Löwen- 
jagden begannen"  (8.  24). 

So  viel  aus  der  Einleitung  des  Buches.  Zar 
Charakteristik  des  sonstigen  Inhalts  mögen  fol- 
gende Sätze  genügen.  S.  108  heißt  es  von  der 
Gorgo:  „Die  Gorgo  muß  .  .  ein  Stern  sein,  der 
1 80  Grade  vom  325  Grade  entfernt  ist,  also  ein 
Stern,  der  am21.Decbr.  Mitternachts  kulminiert 
Nur  so  ist  er  das  echte  Wahrzeichen  des  aigis- 
haltenden  Zeus.  Stellen  wir  uns  den  Himmels* 
globus  für  2110  v.  Chr.  demgemäß  ein,  den  145. 

Sur  Porigine  Grecque  des  zodiaques  pr&endus  lägyptiens. 
Revue  des  deux  Mondes  1887. 


Krichenbauer ,  Theogonie  und  Astronomie.        65U 

Grad  unter  den  Meridian,  so  haben  wir  genau 
dieselbe  Himmelsstellung,  wie  sie  zur  Erklärung 
der  eulenhäuptsgen  Athene  nothwendig  war.  Es 
ist  nar  ein  Stern  in  dieser  Linie,  und  dieser  ist 
wieder  Alphard,  der  veränderliche  Stern.  Soll 
dieser  wirklich  die  Gor  go  sein,  so  muß  das 
Epitheton  ßloavQctmg  dazu  passen  . . .  das  Wort 
ist  bisher  unerklärt  [vgl.  jedoch  Curtius  Grdz. 
d.  gr.  Etym.5  S.  549  und  Studien  z.  gr.  u.  lat. 
Gr.  I,  2,  S.  295  ff.],  weil  man  an  den  Himmel 
nicht  dachte  [Verf.  scheint  also  die  neueren  Un- 
tersuchungen, wonach  die  Gorgon en  Gewitter 
dämonen  sind,  nicht  zu  kennen] ;  die  Etymologie 
liegt  so  offen  wie  in  atjtWQog,  das  Wort  kommt 
von  «fyu*  wehen,  övqco  ziehe  und  bezeichnet, 
daß  etwas  durch  Wehen  leicht  weggezogen  wer- 
den kann  [vgl.  dagegen  Curtius  in  d.  Stud.  z. 
griech.  u.  fat.  Gr.  I,  2  S.  295  ff.].  So  leite  ich 
ßXo'GVQ-ton-iq  ab  von  ßlo-ßka&-9  ßXto&Qog,  ßXa- 
cndvco,  wachse,  avQ(o}  ziehe,  und  <3ip}  das  Auge ; 
es  bezeichnet  ein  Auge,  das  durch 
Wachsen  auseinandergezogen  wird" 
u.  s.  w.  Anderwärts  (S.  168)  wird  von  einer 
„katzenhäuptigen  Gorgou  (!)  geredet.  Als  ein 
weiteres  Beispiel  höchst  seltsamer  etymologischer 
Methode  will  ich  nur  die  Untersuchung  des 
Namens  'Evvoi  anführen:  Jlv  ist  dem  Verf.  — 
heißt  es  S.  168  —  nicht  die  Präposition  „ina, 
sondern  zu  den  Stammformen  gehörig,  die  den  Be- 
griff der  Einheit  ausdrücken,  olpog,  u  n  u  s ,  a  i  n  s , 
eins  (Curt.  Etym.  4.  Afl.  S.  320).  v  ist  der 
Rest  von  av,  av-w,  zünde  an,  eva>  senge,  skr. 
u  s  h  ,  brennen,  leuchten ;  Enyo  heißt  also  wört- 
lich: die  allein  Leuchtende  und  diese  Bedeutung 
führt  uns  direkt  auf  den  Sirius"  u.  s.  w.  In 
diesem  Stile  ist  das  ganze  Buch  geschrieben. 
Kein  Kundiger   wird   es,   glaube   ich,  aus  der 

42* 


660  Gott.  gel.  Ana.  1881.  Stück  20. 21. 

Hand  legen,  ohne  ein  paar  Mal  recht  herzlieh 
über  die  wunderbaren  Gedankensprünge  des 
Verf.  gelacht  zu  haben.  Doch  hat  das  Werk 
nicht  bios  eine  heitere,  sondern  auch  eine  recht 
ernste  Seite.  Es  illustriert  gewissermaßen  die 
Worte  Schillers: 

„Ohne  Wahl  vertheilt  die  Gaben, 
Ohne  Billigkeit,  das  Glück"  u.  s.  w. 

Unter  den  Gaben  verstehe  ich  in  diesem  Falle 
das  Glück  des  Verf.  für  seine  Schrift  einen  Ver- 
leger gefunden  zu  haben  und  noch  dazu  einen 
solchen,  welcher  die  Kosten  glänzender  Ausstat- 
tung nicht  scheut.  Es  ist  eine  traurige  und 
niederschlagende  Thatsache,  daß  oft  völlig  wert- 
lose Bücher  in  glänzender  Ausstattung  das  Licht 
der  Welt  erblicke^,  während  viele  tiefeindrin- 
gende, gediegene  wissenschaftliche  Arbeiten  ge- 
wissermaßen als  todtgeborene  Kinder  in  den 
Pulten  ihrer  Verfasser  eingesargt  liegen  müssen, 
weil  diese  keinen  Verleger  dafür  zu  finden  ver- 
mögen. Für  solche  ist  es  nur  ein  schlechter 
Trost,  zu  sehen,  daß  die  Kritik  sich  durch 
äußeren  Glanz  und  durch  den  hochtönenden  Ti- 
tel eines  „k.  k.  Gymnasial-Direktors  und  Be- 
sitzers der  goldenen  Medaille  für  Kunst  und 
Wissenschaft11  nicht  bestechen  läßt,  sondern 
werthlose  Bücher  an  den  Ort  schickt,  wohin  sie 
gehören:  in  die  Papiermühle. 

Apollon  Pythoktonos.  Ein  Beitrag  zur  grie- 
chischen Religions-  und  Kunstgeschichte.  Von  Th. 
Schreiber.  Leipzig,  Wilhelm  Engelmann.  1879. 
II,  106  S.  und  2  Lichtdrucktafeln. 

Einen  äußerst  wohlthnenden  Gegensatz  zu 
dem  soeben  besprochenen  größeren  Werke  bil- 
det die  vorliegende  (Leipziger)  Habilitationsschrift 


Schreiber,  Apollon  Pythoktonos.  661 

Th.  Schreibers,  welche  sich  zwar  auf  die  Unter- 
suchung nur  eines  Mythus  — '  nämlich  des 
Apollon  Pythoktonos  —  beschränkt,  denselben 
aber  so  vielseitig  nnd  gründlich,  mit  solcher  Be- 
sonnenheit des  Urtheils  und  Gelehrsamkeit  auf 
literarischem  wie  archäologischem  Gebiet  behan- 
delt, daß  sie  wohl  als  ein  Muster  mythologi- 
scher und  religionsgeschichtlicher  Specialfor- 
schung bezeichnet  zu  werden  verdient. 

Der  Verf.  hat  seinen  gesammten  Stoff  in  10 
Abschnitte  eingetheilt,  wobei  nur  zu  beklagen 
ist,  daß  er  es  verschmäht  hat,  die  einzelnen  Ca- 
pitel  zur  leichteren  Orientierung  des  Lesers  über 
den  Gang  der  Untersuchung  mit  kurzen  Inhalts- 
angaben zu  versehen. 

Cap.  I  (S.  1—9)  behandelt  die  älteste  lite- 
rarische Version  des  Mythus  vom  Apollon  Py- 
thoktonos, welche  uns  in  dem  homerischen 
Hymnus  auf  den  delphischen  Apollon  vorliegt, 
nnd,  wie  der  Verf.  nachweist,  durch  spätere 
Zeugnisse  theils  bestätigt,  theils  modificiert  oder 
erweitert  wird.  Schon  hier  tritt  uns  die  wich- 
tige Thatsache  entgegen,  daß  namentlich  die 
Legenden  anderer  apollinischer  Cultusorte  auf 
den  ursprünglichen  (delphischen)  Mythus  erwei- 
ternd eingewirkt  haben.  Wenn  übrigens  der 
Verf.  von  dem  ältesten  delphischen  Mythus 
annimmt,  daß  er  die  Erlegung  des  Drachen  und 
die  Gründung  des  Orakels  noch  nicht  in  ur- 
sächlichen Zusammenhang  gebracht  habe,  oder 
daß  die  Drakaina  von  Haus  aus  nicht  zu  dem 
delphischen  Orakel  in  irgend  einem  Verhältnisse 
stehe  (S.  7),  so  scheint  dem  doch  der  auf  S.  50 
von  S.  selbst  hervorgehobene  Umstand,  daß  auch 
auf  Delos,  zu  Tegyra,  Gryneia  und  Sikyon 
die  Legende  des  Dracbenkampfes  an  eine  Ora- 
kelstätte  geknüpft   war,   zu    widersprechen,  so 


662  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  20.  21. 

lange  nicht  mit  Bestimmtheit  nachgewiesen  wer- 
den kann,  daß  jene  Combination  zweier  Mythen 
erst  später  von  Delphi  aus  dorthin  gelangt 
ist.  Daß  der  sicherlich  schon  vor  der  Entwieke- 
lung  des  delphischen  Apollonkultus  bei  allen 
Hellenen  verbreitet  gewesene  Mythus  von  einem 
drachentödtenden  Orakelgotte  vorzugsweise  in 
Delphi  lokalisiert  und  entwickelt  worden  ist, 
dürfte  sich  einfach  aus  der  Beschaffenheit  des 
delphischen  Bodens  erklären,  wo  ein  eigenthüm- 
licher  kalten  Hauch*)  ausströmender  Erd 
Schlund  (aiofia  yijs)  mit  prophetischer  Wirkung 
zugleich  an  das  Grab  eines  verwesenden  Dra- 
chen und  an  seinen  orakelnden  Ueberwinder 
erinnerte.  Daraus  folgt  aber  doch  wohl,  daß  der 
delphische  Mythus  von  jeher  die  Drakaina 
in  engstem  Verhältnisse  zum  Orakel  stehenließ. 
Insofern  freilich  mag  S.  recht  haben,  als  die 
Drakaina   im    ältesten   Mythus   vielleicht    noch 

*)  Vgl.  folgende  Ausdrücke  des  Hymnus :  xtfio  fäy1 
aod-fiaivovaa  xvhvdofiiytj  xata  %<m)qov,  (v.  181),  hSnu 
dt  S-vfiov  (foivbv  an  onv eioveet  (v.  183),  alia  6t  f 
aviov  nveti  Taia  /utketwa  xal  tjkix7(OQ  'Yntgiojy.  Höchst 
wahrscheinlich  hängen  diese  Vorstellungen  des  ac&/taimr 
und  &v/4oy  dnonvtiv  mit  dem  merkwürdigen  Hauche 
(nvkZfAtt,  dt/u6$t  dva&v/jiao*s  Flut,  de  def.  or.  46  u.  50) 
zusammen,  welche  der  delphische  Erdschlund  ausströmte. 
Nach  Plut.  a.  a.  0.  50  entwickelte  derselbe  mitunter 
eigenthümliche  Gerüche,  welche  auf  die  Idee  eines  ver- 
wesenden Körpers  führen  mochten.  Die  Wurzel  jw, 
wovon  nv&w,  bedeutet  ursprünglich  stinken:  Fick,  Wör- 
tern.* S.  126.  Uebrigens  giebt,  so  viel  ich  sehe,  der 
homer.  Hymnus  keinen  positiven  Anhalt  für  S.'s  Annahme, 
daß  der  Drache  in  keinem  Verhältniß  zum  Orakel  ge- 
standen habe.  Ein  solches  ist  zwar  nicht  mit  klaren 
Worten  ausgesprochen,  folgt  aber  doch  wohl  indirect  ans 
dem  Umstände,  daß  der  Mythus  vom  Drachenmord  un- 
mittelbar an  die  Legende  von  der  Orakeigrundung  ange- 
knüpft ist  und  dasselbe  Lokal  hat. 


Schreiber,  Apollon  Pythoktonos.  663 

nicht  die  Rolle  einer  Hüterin  oder  Prophetin 
des  Orakels  spielte.  Aber  die  Auffassung  der- 
selben als  einer  Tochter  der  Erde  scheint  mir 
nralt  zu  sein,  weil  sie  sich  unmittelbar  aus  der 
Beschaffenheit  der  eigentümlichen  delphischen 
Orakelsitte  ergiebt.  Wahrscheinlich  galt  der 
Erdschlund,  über  welchem  der  Dreifuß  stand, 
von  Anfang  an  als  Grab  des  Drachen  (Luc.  de 
astro!.  23),  ebenso  der  unmittelbar  daneben  be- 
findliche Omphalos,  als  dessen  Tumulus  (Varro 
1.  1.  VII,  17,  Schoemann  Or.  Alt.2  II,  S.  301  u. 
Wieseler  Annali  d.  inst.  XXIX,  p.  160  ff.  Göt- 
tinger gel.  Anz.  1860,  St.  17—20)*). 

Im  zweiten  Abschnitt  (S.  9  ff.)  wird  die  all- 
mähliche Umwandlung  des  ursprünglichen  My- 
thus in  jene  euhemeristische  Legende  nachge- 
wiesen, welche  den  von  späteren  Schriftstellern 
beschriebenen  Gebräuchen  des  Stepterionfestes  **) 
zu  Grunde  lag.  Gewiß  mit  Recht  zweifelt  S. 
an  der  Haltbarkeit  der  von  0.  Müller  aufge- 
stellten, auf  den  ersten  Blick  höchst  bestechen- 
den Hypothese  von  dem  Zusammenhang  der 
Knechtschaft  Apollons  bei  Admetos  mit  der  del- 
phischen Kultlegende.  Auch  die  S.  18  ff.  gege- 
bene Darstellung  der  Geschichte  des  v6po$  Ilv- 
&*xd$  hat  viel  Wahrscheinlichkeit.  Das  Resul- 
tat der  die  Ealenderzeit  des  Stepterion  betref- 
fenden Untersuchung,  welche  ich  ebenfalls  als 
in  der  Hauptsache  gelungen  anerkennen  muß, 
lantet  S.  36:  „so  ergibt  sich,  daß  das  S.  als  in 
sich  abgeschlossenes  [vermuthlich  von  der  Stadt- 

*)  Das  „in  Form  einer  Höhle  überbaute  Adyton" 
(Bursian,  Geogr.  I,  176)  ist  wohl  mit  den  (d&ta  arrQa 
ÖQaxovtot  (Eurip.  Phoen.  232)  identisch. 

**)  Vergh  über  diese  Form  des  Namens  meinen  Auf- 
satz in  Fleckeisens  Jahrbb.  f.  klass.  Philol.  1879.  S. 
784  ff. 


664  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.21. 

gemeinde  Delphi  ausgehendes  S.  33]  Cultnsfest 
für  sieh  bestand  und  jedes  neunte  Jahr  ohne 
Unterbrechung  in  der  Zeit  vor  den  Pythien  ab- 
gehalten wurde,  bei  deren  Beginn  es  bereits  seit 
einigen  Tagen  (wenn  nicht  Wochen)  beendet 
wara.  So  viel  scheint  sicher,  daß  das  Stepterion 
in  seinen  Hauptzügen  ein  uraltes  lokales  Fest 
war  (vgl.  den  Anhang  S.  95)  und  in  die  Zeit 
vom  7.  Bysios  bis  7.  Bukatios  fiel.  Höchst 
wahrscheinlich  wurde  es,  wenigstens  in  der  äl- 
reren  Zeit,  unmittelbar  im  Anschluß  an  den  Ge- 
burtstag des  Gottes  (7.  Bysios)  gefeiert,  weil 
nicht  nur  der  Drachenkampf,  dessen  Erinnerung 
es  geweiht  war,  im  Mythus  gleich  auf  die  Ge- 
burt des  Apollon  folgte,  sondern  auch  die  wahr- 
scheinlichste Deutung  des  Drachen  als  des  Win- 
ters und  des  Apollon  als  Sonnen-  und  Früh- 
lingsgottes (vgl.  Schreiber  a.  a.  0.  S.  66  and 
meine  Studien  z.  vgl.  Mythol.  d.  Gr.  u.  Römer  I, 
S.  41  ff.)  auf  ein  zu  Anfang  des  Frühlings  ge- 
feiertes Fest  hinweist.  Wie  trefflich  sich  der 
meteorologische  Charakter  des  Bysios  für  jenes 
Fest  des  Drachenkampfes  eignet,  ersieht  man 
aus  A.  Mommsen8  Griecb.  Jahreszeiten  I,  16  ff., 
wo  auch  auf  die  in  diesem  Monat  häufigen  Erd- 
stöße hingewiesen  wird,  welche  noch  jetzt  von 
den  Griechen  als  Zeichen  guter  Ernte  gedeutet 
werden.  Wenn  neben  diesem  lokalen  Feste  des 
Stepterion  auch  noch  die  amphiktyonische  Feier 
der  Pythien,  welche  dieselbe  mythische  Grundlage 
hatte,  bestand,  so  erklärt  sich  dieses  Bedürfnis 
eines  Doppel  festes  wohl  am  Besten  aus  dem 
Umstand,  daß  der  Monat  Bysios  sich  nicht  wohl 
zur  Seefahrt  eignete  (Hesiod.  «^a  674  ff.  Momm 
sen  a.  a.  0.  S.  S.  18  f.),  so  daß  die  ferner  wob 
nenden  Verehrer  des  Apollon  Pythoktonos  unbe 
dingt  auf  eine  sommerliche  Feier  ange 
wiesen  waren.     (Vgl.  Hy.  in  Ap.  Pyth.  112  ff.) 


Schreiber,  Apollon  Pythoktonos.  665 

Im  3.  and  4.  Capitel  bespricht  S.  die  dem 
delphischen  Mythus  parallelen  Legenden  von 
Tegyra,  Delos,  Gryneia,  Ephesos,  Kroton  und 
Sikyon  und  weist  —  entsprechend  den  Grund- 
sätzen 0.  Müllers  in  den  Proll.  S.  221  ff.  —  den 
allmählich  sich  vollziehenden  Ausgleich  der  ver- 
schiedenen Lokalsagen  nach.  Treffend  erschei- 
nen namentlich  die  Bemerkungen  über  das  Ver- 
bältniß  der  tegyraeischen  Legende  einerseits  zur 
delphischen  anderseits  zur  delischen  (S.  43  u. 
52).  „Es  läßt  sich  vermuthen"  —  äußert  der 
Verf.  gewiß  richtig  S.  51  —  „daß  mit  der  Grün- 
dung eines  Cultsitzes  auch  der  Gesammtumfang 
der  betr.  Mythen  angesiedelt  wurde",  und  „daß 
nach  und  nach,  besonders  in  benachbarten  Cul- 
tusstätten,  sich  das  Bedürfhiß  geltend  machte, 
die  Gegensätze  und  Widersprüche  der  einzelnen 
Ortslegenden  auszugleichen ,  wodurch  manche 
Lokaltraditionen  zu  Gunsten  anderer  verdunkelt 
wurden,  manche  mehr  in  den  Vordergrund  tre- 
ten mochten u.  So  scheint  ursprünglich  auch 
Delphi  ein  Geburtsort  des  Apollon  gewesen  zu 
sein,  welehe  Ehre  später  Tegyra  und  Delos  für 
sich  allein  in  Anspruch  nahmen,  und  der  Schau- 
platz des  Drachenkampfes  wurde  mehrfach  auch 
nach  Delos  verlegt,  weil  derselbe  ursprünglich 
im  engsten  Zusammenhang  mit  der  Geburt  des 
Gottes  stand  (vgl.  auch  Schreiber  in  Fleckeisens 
Jahrbb.  1880,  S.  685  und  meinen  Aufsatz  über 
die  Parolen  des  Aratos  und  Brutus  ebenda  S.  601). 

Mit  der  Deutung  des  Mythus  vom  Drachen- 
kampfe beschäftigt  sich  der  5.  Abschnitt.  Der 
Verf.  behandelt  darin  die  sämmtlichen  bisher 
bekannten  Interpretationen  und  entscheidet  sich 
schließlich  für  eine  physikalische  Deutung  der 
Sage,  doch  verzichtet  er  darauf,  deren  ursprüng- 
lichen Sinn  klar  zu  erkennen.    Die  von  mir  in 


606         .    GOtt.  gel.  Ana.  1881.  Stfttfe  20.21. 

den  Studien  zur  vgl.  Myth.  d.  Gr.  u.  Rom.  I, 
p.  41  aus  gewissen  Parallelen  germanischer  nnd 
indischer  Mythologie  und  aus  der  Feier  des 
Drftcbenkaropfes  im  Frtthling  erschlossene  Deu- 
tung des  Apollon  als  Sonnen-  oder  Frühlings- 
gottes und  des  Drachen  als  Winters  findet  S. 
im  Allgemeinen  zwar  ansprechend  aber  doch 
deshalb  „Bedenken  erregend,  weil  sie  nicht  ein- 
zelne, sinnlich  wahrnehmbare  Erscheinungen, 
sondern  einen  ziemlich  ausgedehnten  Zeitbegriff 
mit  wechselndem  Inhalt  dem  Symbol  des  Drachen 
unterlege"  (S.  66).  Daß  dieser  Einwand  nicht 
ganz  zutreffend  ist  beweist  nicht  Mos  der  nament- 
lich von  den  Germanen  so  deutlich  ausgeprägte 
Mythus  vom  Kampfe  des  Sommers  und  Win- 
ters (vgl.  meine  Schrift  S.  41  f.  und  Mann  bardt, 
Die  Götter  d.  deu.  u.  nord.  Völker  S.  143  ff.), 
sondern  auch  die  im  Hymnus  (v.  124)  erhaltene 
Bezeichnung  des  Drachen  als  t&qat  äyQiov,  da, 
wie  ich  in  meiner  Schrift  Die  Oorgonen  n.  Ver- 
wandtes S.  124  nachgewiesen  habe,  Homer  den 
Ausdruck  tiQaq  vorzugsweise  von  meteorischen 
Erscheinungen  gebraucht,  zu  welchen  ja  anch 
der  x«'jUttV,  (welches  Wort  zugleich  das  Unwetter 
bezeichnet),  gehört.  Vgl.  auch  die  IL  P.  549  ge- 
gebene Charakteristik  des  Winters: 

ij  *al  ystfiwvoq  dvc&aXniog,  oq  §d  ts  Sqymv 
titv&Qdönovg    ävinavcev  in\  %$ov\  pijXd 

te  xijde* 
mit  folgenden  Versen  des  Hymnus  auf  den  pythi- 
sehen  Apollon  (124),  welche  das  schädliche  Trei- 
ben des  Drachen  schildern  sollen: 

xaxd  noXXä 
dv&Q<AnovQ    iQÖsan$p   inl    %&ovl,   noXXä 

noXXd   d$   pijXa   tavavnöd9,   iml  niXe  nypa 


Schreiber,  Apollon  Pythoktonos.  667 

Sicherlich  haben  die  während  des  Bysiofe  in  Hei* 
las  so  häufigen  Erdbeben  viel  zur  Entwickelung 
des  Mythus  vom  Kampfe  des  Apollon  mit  dem 
Drachen,  dem  Kinde  der  Erde,  mit  beigetragen. 
Noch  immer  gilt  der  Februar  («=  Bysios)  dem 
Griechen  als  der  furchtbare  Monat,  in  welchem 
Winter  und  Sommer  mit  einander  um  die  Herr- 
schaft kämpfen  (Mommsen,  Oriech.  Jahreszeiten 
I,  8.  16ffi). 

Die  letzten  Abschnitte  der  Schrift  (Cap.  VI 
— X)  sind  endlich  den  sämmtlichen,  theils  nur 
literarisch  überlieferten,  theils  noch  vorhandenen 
Monumenten  bildender  Kunst,  welche  den  Dra- 
chenkampf darstellen,  gewidmet.  Von  besonde- 
rem Interesse  sind  zwei  bisher  unedierte  römi- 
sche Statuetten  (abgebildet  auf  Taf.  I),  die  Leto 
mit  beiden  Kindern  auf  den  Armen  darstellend. 
Ans  verschiedenen  Gründen,  namentlich  aber  aus 
der  Vergleichung  mehrerer  kleinasiatischer  Mün- 
zen, welche  genau  dasselbe  Motiv  wie  jene  rö- 
mischen Statuetten  darstellen,  schließt  S.  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit,  daß  das  zu  Grunde 
liegende  Original  ein  berühmtes  Werk  griechi- 
scher Erfindung  aus  bester  Zeit  war  und  sich 
vordem  in  Kleinasien  befand,  später  aber  nach 
Rom  gelangte  und  unter  dem  großen  Denk- 
mälerschatz der  Stadt  besonderes  Ansehen  ge- 
noß. „Beide  Voraussetzungen  treffen  bei  einem 
Werke  zu,  von  dem  Plinius  (H.  N.  XXXIV,  77) 
berichtet,  daß  es  Apollon  und  Artemis  auf  den 
Armen  der  Leto  darstellte  ....  ich  meine  die 
Erzgruppe  des  Euphranor,  welche  im  Tempel 
der  Concordia  stand". 

Mit  diesem  ebenso  hübschen  wie  einleuchten- 
den Ergebniß  beschließt  der  Verf.  seine  ver- 
dienstliche Untersuchung.  Wir  hoffen  Herrn  S. 
recht  bald  wieder  auf  demselben  Gebiete  mytho- 


668  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20. 21. 

logischer  und  religionsgeschichtlicber  Forschung 
begegnen  zu  können. 
Meißen,  Jan.  1881.  W.  H.  Roseher. 


Revue  des  £  t  u  d  e  8  juives.  Publication  trime- 
strielle  de  la  Soci&e*  des  ätudes  juives.  Nr.  1  Juillet- 
Septembre  1880.  Paris,  ä  la  soci^te*  des  Etudes  juives. 
(VIII.     164.    8°.) 

Unter  dem  Proteetorat  des  Barons  James 
v.  Rothschild  hat  sich  in  Paris  eine  Gesellschaft 
con8tituiert,  welche  sich  die  Förderung  jüdischer 
Studien  zur  Aufgabe  macht.  Durch  die  Be- 
gründung einer  selbständigen  Revue  haben  diese 
Bestrebungen  einen  Mittelpunkt  erhalten,  wie 
ihn  etwa  die  historisch-diplomatischen  Forschun- 
gen in  der  Bibliothfeque  de  l'6cole  des  chartes 
seit  langen  Jahren  besitzen.  Noch  eine  ge- 
raume Zeit  kann  vergehen,  ehe  es  möglich  sein 
wird,  größere  wissenschaftliche  Arbeiten  zu 
unterstützen  oder  ungedruckte  Werke  zu  edie- 
ren; die  Zeitschrift  soll  daher  das  Amt 
eines  Herolds  Übernehmen,  um  überall  da,  wo 
nur  das  geringste  Interesse  vorhanden  ist,  zur 
Theilnahme  am  gemeinsamen  Werke  aufzu- 
rufen. Die  Ankündigung  an  den  Leser  macht 
darauf  aufmerksam,  wie  ungeheuer  groß  das 
Gebiet  ist,  dessen  Erforschung  es  gilt :  die  Bibel 
mit  ihren  zahllosen  Problemen,  die  reiche  tal- 
mudische Literatur,  die  so  viel  geschmäht  und 
so  wenig  gekannt  ist,  die  Erzeugnisse  des  Mit- 
telalters in  ihrer  so  merkwürdigen  Mannigfaltig- 
keit, vor  allem  aber  die  politische  Geschichte 
der  Juden  von  den  ältesten  Zeiten  bis  in  unsere 
Tage  hinab.  Man  denke  nur  daran,  wie  wenig 
für  die  Geschichte  der  Juden  im  Mittelalter  ge- 
than  ist,  und  wie  viel  Material  noch  in  den 
Archiven  und  Bibliotheken  versteckt  liegt;  die 
Aufhellung  ihrer  wirtschaftlichen  und  socialen 


Äevue  des  Stades  juives.    I.  669 

Verhältnisse  wird  zugleich  überraschende  Schlag- 
lichter werfen  auf  manche,  bisher  unverstandene 
Vorgänge  einer  längst  entschwundenen  Zeit. 

Niemand  wird  sich  wundern,  wenn  in  einer 
französischen  Zeitschrift  vor  allem  Frankreich 
vertreten  sein  wird.  Für  die  zweite  Hälfte  des 
Mittelalters  kommt  noch  als  besonderer  Grund 
hinzu,  daß  die  jüdischen  Gelehrten  jenseits  des 
Rheins  weit  über  ihre  Genossen  in  den  andern 
Ländern  Europas  hervorragen,  daß  sie  eine  Li- 
teratur geschaffen  haben,  welche  „im  Allgemei- 
nen den  Stempel  des  französischen  Geistes,  jene 
wunderbare  Mischung  von  Sauberkeit,  Klarheit, 
Geschmack  und  Mäßigung  an  sich  trägt". 

Wird  also  die  Revue  jedem  wirklich  wissen- 
schaftlichen Streben  eine  gastfreie  Stätte  ge- 
währen, so  schließt  sie  dagegen  alles  aus,  was 
der  religiösen  Propaganda  und  bloßen  Erbau- 
ungszwecken dient  oder  eine  dogmatische  Pole- 
mik hervorzurufen  geeignet  ist.  Sehen  wir  uns 
das  erste  Heft  an,  so  macht  schon  äußerlich  die 
noble  Ausstattung  einen  wohlthuenden  Eindruck. 
Die  innere  Einrichtung  ist  die,  daß  zuerst  grö- 
ßere Abhandlungen ,  dahinter  Miscellen  folgen ; 
den  dritten  Theil  bildet  eine  bibliographische 
Uebersicht  der  Literatur  des  Jahres  80,  (wobei 
das  betreffende  Gapitel  der  bibl.  de  Tee.  des 
chartes  als  Muster  gedient  hat)  und  Recensio- 
nen  wichtigerer  Erscheinungen.  Einen  Einblick 
in  die  organisatorische  Thätigkeit  der  Gesell- 
schaft gewähren  die  Protocolle,  welche  den 
Schluß  des  Heftes  ausmachen 

Die  Reihe  der  Abhandlungen  eröffnet  Joseph 
Derenbourg  (Mitglied  des  Institut  de  France) 
mit  einer  Studie  über  das  Buch  Hiob,  welche  in 
dem  Dulder  weder  eine  historische  noch  eine 
symbolische  Figur   sieht,  sondern  ihn   als  den 


670  Gott,  gel  Ajoz.  1881.  Stuck  20.  21. 

Typus  einer  hebräischen  Legende  nachzuweisen 
sucht*).  —  Die  bisherige,  vorzugsweise  biblische 
Tradition  über  Gyrus  und  die  Rückkehr  der 
Juden  aus  dem  Exil  prüft  Halevy  auf  Grund 
zwei  nenentdeckter  Keilinschriften**)  —  Arsine 
Darmesteter  zeigt  an  einigen  Beispielen,  wie  we« 
nig  man  bisher  die  großen  Inschriftenwerke  eines 
Bökh  und  Mommsen  für  die  Geschichte  der  Ja- 
den unter  römischer  Herrschaft  ausgebeutet 
hat***).  —  An  einer  Liste  himy arischer  Eigen- 
namen weist  H.  Derenbourg  (der  Sohn  des  oben- 
genannten) den  Einfluß  nach,  welchen  die  klei- 
nen jüdischen  Gemeinden  Südarabiens  auf  jenes 
Volk  ausgeübt  haben,  während  sie  selbst  unter 
der  Herrschaft  des  Islam  ihre  Namen  den  Ara- 
bern entlehnten!).  —  In  die  Zeit  des  Mittel- 
alters versetzt  uns  die  Steuerrolle  der  Pariser 
Juden  v.  J.  1296  u.  97,  welche  H.  Isidore  Loeb 
mit  sehr  lehrreichen  Auseinandersetzungen  be- 
gleitet. Abgesehen  von  dem  philologischen  und 
literarischen  Interesse,  welches  diese  Liste  ge- 
währt, giebt  sie  uns  ein  Bild  von  der  Stärke 
der  dortigen  Bevölkerung  und  den  Quartieren, 
auf  welche  sie  sich  beschränken  mußte.  Eine 
Vergleichung  mit  der  Bolle  von  1292,  welche 
Gäraud  im  Livre  de  la  taille  veröffentlicht  hat, 
lehrt  uns,  daß  im  Laufe  von  vier.  Jahren  ihre 
Anzahl  um  fast  25  Prozent  sich  vermindert  hatte. 
„Diese  außerordentliche  Schwankung  der  jüdischen 
Bevölkerung  von  Paris  ist,  (wie  der  Hgb.  richtig 
hervorhebt),  das  sicherste  Anzeichen  einer  schlech- 

*)  Reflexions  ddtach^s  sur  le  livre  de  Job. 
**)  Cyrus  et  le  retour  de  l'exil. 
***)  Notes  e"pigraphiques  touchaut  quelques  points  de 
Fhistoire  des  juifs  sous  Pempire  romain. 

t)  Le8  noms  des  personnes   dans  Fanden  testament 
et  dans  les  inscriptions  hünyarites. 


Revue  des  Etudes  juiyes.   t.  671 

ten,  wirihscbaftlichen  Lage  nod  einer  Bedrückung, 
fttr  welche  die  Vertreibung  von  1306  den  be- 
redtesten Commentar  abgiebt"*).  Derselbe  Au- 
tor sacht  in  einem  zweiten  Artikel  zu  ergründen, 
welche  Stadt  Frankreich*  mit  dem  in  hebräisphen 
Schriften  häufig  vorkommenden  mt»,  Hysope  be- 
zeichnet werden  soll.  Das  Ergebniß  dieser  äußerst 
mühsamen  Studie,  in  der  Herr  L.  sich  zugleich 
als  einen  tüchtigen  Kenner  mathematischer  Geo- 
graphie präsentiert,  ist  die  Identification  jener 
Oertüchkeit  mit  Orange  im  Dep.  Vaucluse  **).  — 
Unter  allen  Artikeln  jedoch  erweckt  der  letzte 
das  außerordentlichste  Interesse,  weil  er  eine,  man 
kann  fast  sagen,  unmittelbar  in  die  Gegenwart 
hineinragende  Bedeutung  gewinnt.  Die  Metzer 
Akademie  der  Wissenschaften  hatte  im  J.  1785 
als  Preisaufgabe  die  Frage  gestellt:  Est-il  des 
moyens  de  rendre  les  juifs  plus  utiles  et  plus 
heureux  en  France?  Neun  Arbeiten  liefen  zum 
festgesetzten  Termin  ein;  sieben  in  einem  für 
die  Jaden  günstigen,  zwei  im  ungünstigen  Sinne. 
Von  den  Verff.  geborten  vier  dem  geistlichen, 
drei  dem  richterlichen  Stande  an,  ein  achter  war 
Secretär  einer  gelehrten  .Gesellschaft  und  der 
neunte  war  —  ein  polnischer  Jude,  der  in  Paris 
lebte.  In  der  Prüfungscommission  befand  sich 
der  später  so  berühmt  gewordene  Roederer.  Mit 
Begeisterung  ergriff  auch  er  die  Frage;  er  über- 
nahm das  Referat  bei  Verkündigung  des  Urtheils; 
nur  die  beiden  besten  Arbeiten  unterwarfereiner 
öffentlichen  Kritik  uud  demonstrierte  ebenso  klar 
wie  unparteiisch,  warum  keine  von  beiden  des 
vollen  Preises  würdig  sei.  Die  Frage  wurde  für 
das  nächste  Jahr  wiederholt.  Für  ihn  selbst  bot 
die  Goncurrenz  die  Veranlassung,   den  Plan  zu 

*)  Le  Me  des  juifs  de  Paris  en  1296  et  1297. 
**)  La  viMe  d'Hysope. 


672  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  20.21. 

einem  Memoire  zu  entwerfen,  welcher  den  Gegen- 
stand in  musterhafter  Weise  behandelte.  Dies 
der  kurze  Inhalt  der  Abhandlung  des  Herrn 
Gaben  *). 

Aus  der  Reihe  der  Miscellen  bebe  ich  hervor: 
Bulles  inedites  des  Papes,  von  denen  die  letzte, 
die  Goelestins  III,  durch  zwei  schwerverständ- 
liche, vielleicht  gar  nicht  bierhergehörende  Worte 
(dextere  excelsi)  die  Aufmerksamkeit  der  Diplo- 
matiker  erregen  wird.  Daß  der  Text  correct 
wiedergegeben  ist,  dafür  kann  ich  mich  verbür- 
gen ;  ich  habe  ihn  mit  dem  Original  im  Pariser 
Nationalarcbiv  verglichen.  —  Ein  zweites  Pro- 
blem bieten  die  Lettres  des  juifs  d'Arles  et  de 
Constantinople  (1489)  aus  der  Zeit  der  Verfol- 
gungen in  der  Provence  unter  Ludwig  XL  Hr. 
Darmesteter  läßt  noch  die  Möglichkeit  ihrer 
Echtheit  zu,  obwohl  er  selbst  sehr  beachtens- 
werte Gründe  für  das  Gegentheil  beibringt. 
Ich  glaube,  man  kann  sie  ruhig  für  Erfindungen 
eines  witzigen  Kopfes  ansehen;  verlieren  sie 
dadurch  auch  ihren  historischen  Werth,  so  sind 
sie,  um  den  Geist  jener  Zeit  zu  charakterisieren, 
nicht  ohne  Bedeutung. 

Das  Vorstehende  wird  genügen,  um  von  dem 
reichen  Inhalt  des  ersten  Heftes  eine  Vorstellung 
zu  geben;  wenn  die  gleiche  Gediegenheit  der 
größeren  und  kleineren  Artikel  auch  die  nach- 
folgenden Hefte  auszeichnet,  so  wird  die  Revue 
sich  schnell  eine  geachtete  Stellung  unter  den 
wissenschaftlichen  Zeitschriften  erwerben. 
Berlin,  Dez.  1880.  S.  Löwen fe Id. 

*)  Emancipation  des  juifs  devant  la  soci^te*  royale 
des  sciences  et  arts  de  Metz  en  1787  et  M.  Roederer. 


Für  die  Redaction  verantwortlich:  F.  Bechtd,  Director  d.  OÖtt.  gel.  Ans. 

Verlag  der  Di tUrich' sehen  Verlags 'BuchJumdUmß. 

Draok  der  DisUrich' sehen  Univ.- Buchdrucker«  (W.  fr.  Kamt**). 


6  öttf ngische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König).  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stttck  22.  1.  Juni  1881. 


Inhalt :  Jelaleddin  M  i  r  z  a ,   Bach  dar  Könige.    Von  Trumpp. 
—  F.  Philipp!,  Zar  Reconstruction  der  Weltkart«  dos  Atfrippa.  Von 

Ä   Bansen.    —     Wright,   Zechariah   and  his    prophecies.     Von   C. 

^»    »  '■  » 
megjrttö, 

ss  Eigenmachtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  sb 


Buch  der  Könige  vom  Beginn  der  Geschichte  his 
zum  Ausgang  der  Sasaniden,  von  Jelaleddin 
M  i  r  z  a.  8°,  26  Bogen  (408  p.),  mit  66  Bildnissen 
und  einer  Münztafel.  Preis  5  fl.  ö.  W.  =  10  Mark. 
Wien  1880,  L.  C.  Zamarski,  k.  k.  Hofbuchdrucker  und 
Hoflithograph. 

Der  Titel  des  erwähnten  Baches  lautet  etwa« 
sonderbar;  das  kommt  daher,  daß  es  ein  rein 
persisches  Buch  ist,  für  Perser  bestimmt  und 
darum  auch  ganz  in  orientalischem  Gewände 
gehalten  ohne  irgend  ein  Zeichen  seines  abend- 
ländischen Ursprungs.  Die  äußere  Ausstattung 
des  Werkes  ist  wirklich  prachtvoll,  und  durch 
die  photolithograpische  Herstellung  einem  fein 
geschriebenen  persischen  Manuscript  zum  Ver- 
wechseln ähnlich.  Auch  die  56  Bildnisse  der 
persischen  Könige  sind  eine  Zierde  des  Buches, 
in  acht  orientalischem  Geiste  gehalten  und  müs- 
sen ftr  die  persische  Jugend  keine  geringe 
Attractionskraft  ansahen,  wen»  sie  auch  der 
abendländischen  Phantasie  ihren  Ursprung  ver- 

43 


Q74  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  22. 

danken.  Auch  die  am  Ende  beigegebene  Münz- 
tafel mag  ein  wichtiges  Mittel  sein,  die  Auf- 
merksamkeit in  Persien  auf  die  Münzkunde  hin- 
zuleiten und  sie  dadurch  zu  fördern.  Bei  dieser 
schönen  Ausstattung  auf  feinem  starkem,  etwas 
gelblichtem  Papier  (um  die  Farbe  des  in  Hand- 
schriften gebräuchlichen  Papiers  nachzuahmen) 
ist  der  Preis  von  5  fl.  Ö.  W.  oder  10  Mark  ein 
sehr  billiger  zu  nennen,  und  die  Herstellung 
eines  solchen  Werkes  gereicht  dem  Hoflithogra- 
phen Zamarski  in  Wien  zu  aller  Ehre.  Wir 
wollen  hier  nur  noch  den  Wunsch  beifügen,  daß 
er  recht  bald  die  orientalische  Literatur  mit 
solchen  billigen  Prachtwerken  weiter  bereichern 
möge. 

Gehen  wir  nun  aber  auf  das  Werk  etwas 
näher  ein ! 

Das  Titelblatt,  in  acht  orientalischem  Ge- 
schmack mit  der  buntesten  Farbenpracht  herge- 
stellt, enthält  oben  die  Worte:  „Im  Namen  (Got- 
tes) des  Sündenvergebenden,  des  (All-)erhalten- 
den  ltf  In  der  Mitte  auf  Goldgrund  die  Auf- 
schrift: „Buch  der. Könige.  Geschichte 
der  Könige  von  Iran,  vom  Anfangder 
Äbädis  bis  znm  Ende  der  Säsäniden". 
Unten  als  Sinnspruch:  „Der  Herr  gibt  das  lag* 
liehe  Brod  der  Ameise  und  der  Schlange". 

Das  in  rother  Farbe  photolithograpbierte 
Vorwort  wollen  wir  hier  ebenfalls  in  lieber* 
Setzung  mittheilen,  da  es  für  uns  manches  In- 
teressante enthält,  insofern  es  die  Anschauungen 
eines  Persers  über  die  abendländische  Kunst 
zum  Ausdruck  bringt.  Es  lautet:  „Möge  es 
nicht  verborgen  bleiben!  In  den  Reichen  von 
Europa  (i.  e.    ^UUt&y)  giebt  es  eine  Anzahl 

von  Gelehrten,  die  die  Sprachen  des  Ostens  ge- 


Jelaleddin  Mira»»  Buch  to  Könige.  67» 

lernt  und  die  Btioher  jenes  Welttheils,  poetisohe 
wie  geschichtliebe,  mit  vollkommener  Lust  ge- 
lesen haben,  und  ein  jedes,  das.  ihren  Beifall 
findet,  auch  drucken  nnd  auch  in  ibre  Sprache 
übertragen.    Nan  da  im  Lande  der  Franken  die 

Kunst  der  Photographie  (&\jfy&  La**)  über  die 

Maßen  fortgeschritten  ist*),  nicht  nnr  um  Ab- 
bildungen von  Gestalten  und  Gemälden  zu  neh- 
men, sondern  auch  um  Geschriebenes  (oLfU^i) 

und  Bücher  der  Kalligraphen,  wie  das  herrliche 
Wort  (i.  e.  Qur'än),  die  Handschrift  des  Mirza 
Shafij  und  Ansäri  und  die  Schrift  des  Mirnmäd 
und  anderer  abzubilden  und  zu  drucken,  ist  es 
möglich  und  sie  ist  auf  eine  (solche)  Weise  ver- 
wendbar, daß  man  den  Abdruck  von  dem  Ori- 
ginal nicht  unterscheiden  kann;  nachdem  sie 
nämlich  das  Bild  genommen  und  auf  den  Stein 
übertragen  haben,  drucken**)  sie  es,  und  diese 
Manipulationen  nennt  man  im  Idiom  der  Fan<- 
ken  Photolithographie  (^ly^Äjyä). 

„Das  Drucken  persischer,  arabischer,  türki- 
scher und  anderer  Bücher  auf  die  neue  er- 
wähnte Weise  ist  also  rathsamer,  weil  das 
Drucken  arabischer  und  persischer  Buchstaben 
nach  jener  Weise,  die  bisher  im  Gebrauche  ist, 
mehr  Schwierigkeiten  mit  sich  bringt  und  in 
den  Augen  der  Leser  nicht  so  gebilligt  und 

*)  J*tol>  ist  ein  Druckfehler,  statt  Jgel^. 

**)  Das  Hindustani  ._«!  ^  ist   schon   ganz  in   das 

Neupersische  aufgenommen  worden,  naturlich  mit  Abwer- 
fung des  aspirierten  *^.  (ch)  und  Uebergang  in  das  un- 

aspiiierte  ^  Man .  versteht  übrigens  darunter  hauptsäch- 
lich die  Lithographie,  selten  den  .Typendruck. 

43* 


*W  -  £*t*  gtl.  A»*.  1331.  Stack  01. 

approbiert  wird.  Damm  ging  der  gelehrte  Phi- 
lologe Hofratb  (*>tj*>*)  Henry  Barb,  welcher  der 
Director  des  Collegiums  der  orientalischen  Spra- 
chen von  Wien  ist,  der  Sachlage  gemäß  Herrn 
Zamarski,  den  Besitzer  einer  der  berühmtesten 
Druckereien  dieser  Stadt,  an,  daß  er  einige 
Gnmd8chriften  von  Büchern  auf  diese  beliebte 
Weise  drucken  möchte,  und  als  Buch,  das  pas- 
send zum  ersten  Muster  wäre,  wurde  das  Kö- 
nigs buch  (0U>y*j>   jubLj),   das  eines  von  den 

Werken  ist,  die  in  unserer  Zeit  verfaßt  worden 
sind  und  das  in  der  Hauptstadt  Teheran  ge- 
druckt worden  ist,  ausgewählt  und  der  Gedanke, 
dieses  einzigartige  Buch,  das  in  dieser  Zeit 
schwer  zu  bekommen  ist,  wiederum  zu  drucken, 
empfahl  sieh  uns  aus  zwei  Gründen  als  passend, 
ersten»,  weil  es  im  BHek  auf  andere  Geschieht»- 
werke  abgekürzt  und  für  die  Leser  und  Studie- 
renden, besonders  für  die  Europäer,  brauchbarer 
ist,  darum  daß  man  von  der  ^Geschichte  and  den 
Sitten  der  früheren  Könige  von  Iran,  wie  die  Schrift- 
steller und  Chronisten  des  Ostens  sie  beschrie- 
ben haben,  aus  diesem  (Buch)  mit  Leichtigkeit 
sich  Kenntniß  verschaffen  kann;  zweitens,  weil 
dieses  herrliche  Buch,  das  in  rein  persischer 
Rede  und  gegen  die  Gewohnheit  frei  von  ara- 
bischen Wörtern  verfaßt  ist,  jedem  Verständigen 
und  Einsichtigen,  in  dessen  Hand  es  gelangt, 
gewiß  gefallen  wird  und  auch  ein  Beweis  dafür 
ist,  daß  ehr -mit  Bildern  ausgestattetes -Buch  in 
der  zuckerstreuenden  nersischen  Sprache,  das 
frei  von  arabischen  Wörtern  ist,  leicht  mög- 
lich ist 

„Der  Schreiber  dieses  Buches  von  einer  Ambra- 
Vttätt  ist  der  sehr  geringe  segenerflehende  Mfrzä 
Hasan  xudädäd   von  Tabriz,   Secretär  der  Gfe» 


Jelftleddin  Mirxa ,  Buck  der  Könige.  477 

aandschaft  miner  wie  Satorn  erhabenen /.  Ma- 
jestät, des  Shäbinshäb,  der  Zuflucht  von  IräQ, 
Näsiru-d-din  Shah  Qäjär,  möge  sein  band  blühend 
und  fest  bleiben!  Er  bittet  ihn  wegen  Beines 
sohlechten  Sehreibens  entschuldigen  -zu  wollen. 
Gott  (aber)  ist  der  Bewahrer,  vor  dem  Schaden 
der  argen  Welt,  weil  er  Gerechtigkeit  <ttbt  (und) 
dem  Unterdrückten  eine  Zuflucht  ist  Im  Jäter 
tausend  zweihundert  and  sieben  und  neunzig  der 
Hijrab,  in  Wien,  der  Hauptstadt  von  Gestenreich 
und  Ungarn  hat  der  Weg  sein  Ende  erreicht". 

Wir  sehen  aas  diesem  Vorwort,  daß  das 
fragliche  Buch  schon  in  Teheran  gedruckt  wor- 
den ist;  der  Name  des  eigentlichen  Verfassers 
wird  hier  nicht  genannt,  weil  dies  in  der  gleich 
nachfolgenden  Vorrede  geschieht,  wo  der  Ver- 
fasser sich  selbst  einführt  Es  wäre  uns  indes- 
sen wichtig  gewesen,  über  den  Verfasser  etwas 
näheres  von  dem  Oopisten  za  vemetaea»  was 
er  uns  gewiß  mit  Leichtigkeit  hätte  bieten  ken- 
nen. Dieseß  Vorwort  enthält  auch  keine  An- 
deutung darüber,  wer  die  Bildnisse  der  persi- 
schen Könige  gezeichnet  bat,  die>  wie  der  erste 
Btiek  zeigt,  <  nicht  ans  orientalischer  Feder  ge- 
flossen sind,  Wichtig  in  philologischer  Hinsieht 
ist  der  neu  aufwachende  Purismus  in  der 
persischen  Sprache,  wozu  wir  den  Persern  nur 
gratulieren  können  mit  dem  herxtieben  Wunsche, 
daß  es  ihnen  gelingen  möge,  ihre  seböne  Sprache 
von  dem  falschen  Zierrat  arabischer  Worte  und 
Phrasen  wieder  zn  reinigen. 

Nach  diesem  Vorworte  folgt  wieder  eine  Auf- 
schrift: „Königsbueh.  Erzählung  von  den  Kö- 
nigen von  Persien  in  persischer  Sprache,  welche 
nützlich  für  die  Leute,  besonders  für  tKeKhäbeä 
ist.  Erstes  Buch.  Vom  Anfang  der  Abädis  bis 
zum  Ende  der  Säsänidea". 


678  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

Auf  der  folgende*  Seite  stehen  oben  die 
Worte:  „der  Sammler  dieser  Erzählung  Jaläl, 
Sohn  des  Fattf  jAfi  Shäh  Qäjära*);  darunter 
sein  Portrait  in  europäischer  Kleidung  mit  der 
obligaten  persischen  Kuläb,  auf  einem  gewöhn- 
lichen Stuhle  sitzend. 

Auf  der  dritten  Seite  folgt  nun  die  eigent- 
liche Vorrede  des  Buches,  die  wir  ebenfalls  in 
Uebersetzung  mittheilen  wollen.  „Im  Namen  des 
vergebenden,  gütigen  Gottes.  So  spricht  der 
sehr  geringe  Jaläl,  Sohn  des  Fath1  jAH  Shäh 
Qäjär: 

Da  seit  dem  Anfange  des  weltbesehfltzenden 
Königs  Näsiru-d-din  Shäh  Qäjär  **^,  möge  die 
Zeit  seiner  Herrschaft  dauernd  sein !  fortwäh- 
rend, jede  Art  von  Wissenschaft  und  Kunst 
in  Iran  verbreitet  wird  und  aus  jedem  Lande 
Gelehrte  und  Künstler  naeh  Persien  kommen 
und  verschiedene  Künste  und  unzählige  Wissen- 
schaften die  Leute  dieses  Landes  lehren,  und 
dieser  König  eine  große  Schule  errichtet  hat, 
welche  Däru-1-funun  (Haus  der  Wissenschaften) 
genannt  wird  und  in  Wahrheit  diesen  Namen 
verdient,  weil  die  Grundlage  jeder  Wissenschaft 
und  Kunst  aus  dieser  Schule  sieb  erhebt,  so  bat 
dieser  Diener  (=  ich)  einige  Zeit  in  dieser 
Schule  mit  Lehren  der  französischen  Sprache, 
welche  die  stlfteste  der  Sprachen  Europas  ist 
und  der  Schlüssel  jeder  Art  von  Wissenschaft, 
zugebracht  und  manche  Bücher  gelesen.  Eines 
Tages  fiel  er   in  die  Betrachtung,    woher   es 

*)  Also   ein  Prinz   der  jetzt  regierenden  Qsj&r  Dy- 
nastie, die  türkischen  Ursprungs  ist  und  auch  noch  lau» 
§ere  Zeit  Türkisch  als  Hofsprache  beibehielt.   Fath*  'All 
hah  hatte    eine    große   männliche   Nachkommenschaft. 
Der  jetzige  König  ist  sein  Urenkel. 
**)  Er  kam  1848  auf  den  Thron. 


Jelaleddin  Mina,  Buch  der  Könige.  Ä79 

komme,  daft  wir  tränier  die  Sprache  unserer 
Vorväter  vergessen  haben  nnd  trotzdem,  daß  die 
Perser  durch  Bücherverfassen  nnd  Gedichte- 
machen in  der  Welt  berühmt  sind,  wir  kein 
Bnch  in  der  Hand  haben,  das  auf  Persisch  ver- 
faßt worden  wäre.  Ich  seufzte  einige  Zeit_  über 
das  zu  Grundegehen  der  Sprache  der  Iräni er 
und  darauf  wünschte  ich  den  Anfang  mit  einem 
persischen  Buche  zu  machen.  Ich  fand  kein 
passenderes  als  die  Erzählung  der  Könige  von 
Persien,  darum  gab  ich  dieser  Schrift  den  Na- 
men: „Buch  der  Könige";  und  ich  gab  mir 
Mühe,  daß  die  laufenden  Worte  als  eine  be- 
kannte Diction  in  das  Ohr  fallen  möchten,  da- 
mit sie  den  Lesern  nicht  schwer  wären.  Ich 
hoffe,  daß  die  Einsichtsvollen  (etwaige)  Uneben- 
heit der  Worte  dieses  Buches  nicht  tadeln,  weil 
ich  mein  Augenmerk  nur  auf  die  Wahrheit  und 
kurze  Ausdruckweise  wandte. 

[Die  Bildnisse  der  Könige,  welche  bei  den 
Franken  sind,  nehmend,  wurden  sie  nach  jenen 
gezeichnet.  Und  da  das  Erkennungszeichen  des 
persischen  Käf  (i.  e.  „ga)  drei  Punkte  sind,  so 
wurden  sie  unter  dasselbe  gesetzt,  um  es  vom 
arabischen  Eäf  (i.  e.  pku)  za  unterscheiden.] tf 

Der  letzte  Satz,  den  wir  in  Klammern  ge- 
setzt haben,  ist  offenbar-  ein  Zusatz  des  erwähn- 
ten Gopisten  und  giebt  zugleich  einige  Auskunft, 
woher  die  Bildnisse  der  persischen  Könige  stam- 
men, die  demnach  nach  europäischen  Origination 
gezeichnet  worden  sind,  wie  schon  oben  ange- 
deutet worden  ist:  der  Name  des  Zeichners  wird 
nicht  erwähnt.  Als  eine  unpersische  Neuerung 
aber  muß  es  bezeichnet  werden,  daß  das  persi- 
sche Käf  durch  drei  Punkte  unten  unterschieden 
worden  ist,  was  zu  mancher  Confusion  Veran- 
lassung geben  muß.    In  persischen  Handschrift 


6$Q  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

ten  wird  ?ka  und  „g"  gewöhnlich  gar  nicht 
unterschieden  und  dem  Leser  überlassen,  das 
richtige  herauszufinden.  Wo  es  aber  unterschie- 
den wird  (wie  besonders  in  Handschriften,  die 
in  Indien  oder  Ghoräsän  angefertigt  worden 
sind),  geschieht  dies  durch  Verdoppelung  des 
oberen  beinahe  wagerechten  Striches.  In  unsern 
europäischen  Drucken  (die  neueren  englischen 
Ausgaben  persischer  Bücher  ausgenommen,  wel- 
che die  richtige  Bezeichnung  angenommek  ha- 
beri),  hat  sich,  offenbar  vom  Türkischen  her, 
der  Unfug  eingeschlichen,  drei  Punkte  über  das 
Eäf  zu  setzen,  was  nicht  nur  eine  unschöne, 
sondern  zugleich  auch  unrichtige  diakritische 
Unterscheidung  ist,  die  in  neuen  Drucken  abso- 
lut aufgegeben  werden  sollte.  Um  so  tadelns- 
werther  aber  ist  es,  wenn,  wie  in  dem  vorlie- 
genden Werke,  bei  genauerer  Bezeichnung  der 
Eigennamen  (sonst  wird  „k"  und  „g",  dem  per- 
sischen usus  scribendi  gemäß,  ja  nicht  unterschie- 
den), drei  Punkte  unter  das  „k"  gesetzt  werden. 
Auf  Seite  8  steht  oben  das  persische  Wap- 
pen. Dann  folgen  fünf  Dynastien,  die  nach  der 
übereinstimmenden  Ueberlieferpng  der  Perser 
bis  zur  Zeit  Yazdigird's.  geherrscht  haben  sol- 
len, nämlich  1)  die  Abädis,  2)  die  Jai's,  3) 
die  Shäis,  4)  die  Yäsäis,  5)  die  Gilshals.  Er 
macht  über  jede  dieser  Dynastien  einige  kurze 
Bemerkungen,  wobei  er  ganz  den  Angaben  des 
Dabistän  sich  anschließt.  Mah-äbäd  soll  die 
Menseben  zuerst  den  Ackerbau  etc.  gelehrt  ha- 
ben, zu  ihm  soll  ein  Buch  in  himmlischer  Spra* 
che  herabgekommen  sein,  das  Dasätir  heilte. 
Nach  ihm  sollen  „noch  14  geherrscht  haben,  von 
deöeh  der  letzte  Abäd  -  äzgr  aus  der  Mitte  der 
Menschen  sich  zurückzog,  um  Gott  zu  dienen. 
Auch  über  die  Jai  Dynastie  wiederholt  er  nur, 


Jelateddja  Mir**,  Buch  der  Könige.  681 

was  der  Dabistin  erzählt;  sie  soll  einen  Asper 
aaturniseher  Jahre  (&j*S  JU  jL^I  eb.  =  ein 

tausend  Millionen  Jahre)  regiert  haben.  Der 
letzte  dieser  Dynastie  soll  Jai-äläd  gewesen 
sein.  Noch  kürzer  äußert  er  sich  über  die 
Shäis,  er  nennt  nur  den  ersten  Shäi  Giliv,  und 
den  letzten  Shäi  Mahbül,  der  ein  Einsiedler  ge- 
worden sein  soll.  Die  vierte  Dynastie  soll  mit 
Yäsän  ihren  Ursprung  genommen  _  haben  und 
der  letzte  derselbe  soll  Yäsän  Äjäm  gewe- 
sen sein;  dabei  kann  man  nur  nicht  recht  ein- 
sehen, wie  aus  0L4*  das  Hisbat  ^14*  gebildet 

worden  sein  soll.  Mit  den  Gilshäls  weiß  er 
offenbar  nichts  anzufangen.  Er  sagt  darüber 
folgendes:  „Den  ersten  dieser  Dynastie  heißt 
man  Gilsbäb.  Die  Zeit  seiner  Gebart  bis  zum 
in  die  Welt  kommen  des  irdischen  Adam 
Cjf\j>  (*>T),  den  die  Araber  für  den  Vater  der 
Mensehen  ansehen,  ist  eine  gewesen.  Die.  Per- 
ser halten  ihn  für  den  Sohn  des  Yäsän  Äjäm 
und  für  Gayömarz.  Sie  sagen:  Gayömarz  ist 
der  Große  der  Erde.    Da  im  Persischen  j  und 

tj»  mit  einander  verwechselt  werden,  so  liest  man 
jr*y£  auch  u^yj^y?  man  heißt  ihn  den  indischen 

Adam  und  Gilshäh".  Diese  fünfte  Dynastie  soll 
bis  aqf  die  Regierung  des  Yazdigird,  mit  Aus- 
schluß des  ZafiS&k,  sechstausend,  vier  und  zwan- 
zig und  fünfzig  Jahre  in  Iran  gelebt  haben. 
Darauf  brachten  die  Araber  dies  Land  in  ihre 
Bände  und  die  Kipder  der  Könige  von  Persieu 
wurden   der  Herrschaft  beraubt.     Diese  fünfte 

Synastie  bat  man  in  4  Tbeüe  eingetheilt  und 
nen  vier  Namen  gegeben;  „Die  Pishdädis, 
die  Kais,  die  Asbgäais  und  die  S  äs  an  Is". 
Darnach  wäre  also  Gilshäi  keine   Dynastie 


682  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22 

ftlr  sieb,  sondern  nur  der  allgemeine  Name  der 
folgenden  vier  Dynastien,  zumal  er  Gilshäh  mit 
Gayömarz  (Gayömars)  identificiert. 

Diese  allein  auf  dem  Dabistän  (einem  in 
Indien  verfaßten  Buche!)  beruhenden  Sagen 
werden  mit  Recht  allgemein  ignoriert,  da  dafür 
alle  weiteren  Quellen,  fehlen  und  auch  Spiegel 
hat  daher  in  seiner  Eränischen  Alterthumskunde 
davon  gar  keine  Notiz  genommen. 

Unter  der  Dynastie  der  Pishdädis  zählt  er 
dann  mit  Einschluß  Zafifiäk   des  Arabers  (<*;Ij) 

und  Afräsiäb  des  Türäniers  folgende  elf  Perso- 
nen auf:  1)  Gayömars,  2)  Hüshang,  3)  Tahmü- 
ras,  4)  Iamshid,  5)  Zafifiäk,  6)  Faridün,  7)  Mi- 

nücihr,  8)  Nüzar,  9)  Afräsiäb,  10)  Zäb,  11) 
Garshäsp:  damit  hätte  nun  der  prinzliche  Ver- 
fasser in  das  gewöhnliche  Beet  der  altpersischen 
Sage  eingelenkt. 

Es  folgt  dann  auf  S.  18  ein  hübsches  Bild 
von  Gayömarz  und  darauf  die  bekannten  Sagen 
über  ihn,  daß  er  die  ersten  Schritte  zur  Civili- 
sation der  Menschen  gethan  habe;  er  soll  Da* 
mävand  und  Istagr  (Persepolis)  gegründet  und 
vierzig  Jahre  lang  regiert  haben.  Das  *X»  q^>- 

Fest,  das  die  Perser  am  4ten  des  Monats  Bab- 
man  feiern,  wird  auf  ihn  zurückgeführt,  auch 
soll  er  zuerst  die  Schleuder  (q^^)  erfunden 
haben.  Der  Herr  Verfasser  führt  auch  eine 
Blumenlese  von  Weisheitssprüchen  aus  dem 
Munde  Gayömarz  an,  die  er  seinen  Kindern 
überliefert  haben  soll  und  die  in  gutem  Persisch 
abgefaßt  sind,  z.  B.:  „Viel  Freude  macht  den 
Character  (des  Menschen)  eingebildet,  Vergnü- 
gen ohne  Zahl  tödtet  das  Herz". 

Das  Leben  Siämak's*),  seines  Sohnes,  und  sein 

*)  Eine  muslimische  Spielerei  ist  es,  wenn  Si&mak 


Jelaleddin  Mirza,  Buch  der  Könige.  683 

Tod  durch  wilde  tmcultivierte  Menschen  wird 
etwas  weiter  ausgesponnen,  wobei  es  nicht  ohne 
Seitenhiebe  auf  die  unwissenden  Gargelabschnei- 
der   von    Turkistän     und    Balü&stän     abgeht 


An  dem  Orte,  wo  sein  SohnSiämak  getödtet 
wurde,  soll  er  die  Stadt  Baty  gegründet  haben. 

Der  Enkel  des  Gayömarz,  Hüshang,  soll 
ebenfalls  viele  Künste  eingeführt  haben.  Ihm 
wird  sogar  die  Eroberung  von  Shüshan  und  Ba- 
bel zugeschrieben,  auch  soll  er  zuerst  die  unter- 
irdischen Wasserleitungen  (ßj^)  angelegt  haben. 

Ihm  wird  ein  Buch  zugetheilt,  betitelt :  ol0u^L> 
&jz>  (die  bleibende  Weisheit),  das  viele  Ermah- 
nungen enthält,  aus  denen  der  Verfasser  einen 
nicht  unbedeutenden  Auszug  mittheilt  Nach 
Sprache  nnd  Inhalt  ist  jedoch  dieses  Buch  ein 
neueres  Machwerk,  ähnlich  den  moralischen  Sen- 
tenzen des  Sa;di,  denen  es  nachgebildet  zu  sein 
scheint,  nur  mit  Weglassnng  aller  arabischen 
Worte. 

Tahmüras,  der  Sohn  oder  Enkel  des  Hüshang, 
der  Divbändiger  (JJL^p)  genannt,  soll  500  Jahre  *) 

regiert  haben.  Er  soll  einen  sehr  weiften  Mini- 
ster (;y^>)  gehabt  haben,   mit  dessen  Hilfe  er 

die  Widerspenstigen  niederwarf,  die  sich  gegen 
ihn  empörten.  Dann  fährt  er  fort:  „Die  Fran- 
ken  behaupten,   daß   Hüshang   seines   Bruders 

für  Seth,  den  Propheten,  gehalten  wird,  Hushang  für 
IdrTs  etc.,  wie  überhaupt  alle  diese  Persönlichkeiten  für 

Propheten  (-m-m,  das  übrigens  gewöhnlich  falsch  «*+aj 

geschrieben  ist)  ausgegeben  werden. 

*)  Sonst  wird  seine  Regierungszeit  auf  30  Jahre  an- 
gegeben. 


664  Gott.  geL  Ans.  1881.  Stück  82. 

Sohn  Tafcmuras,  während  er  noch  lebte,  in  die 
andere  Welt  gesandt  babe.  Nachdem  er  (i.  e. 
Hüshang)  sich  in  die  Einsamkeit  zurückgezogen 
hatte,  erschien  ein  Mann,  der  vorgab,  er  sei 
Tahm&ras  und  der  Nachfolger  desselben.  Einige 
der  Großen,  die  seinen  Worten  keinen  Glauben 
schenkten,  erhüben  sich,  um  Rache  an  ihm  zu 
nehmen u.  Woher  der  Verfasser  diese  Notiz  ge- 
nommen hat,  ist  mir  nicht  bekannt,  da  Malcolm 
(den  er  wohl  allein  im  Auge  haben  kann),  nichts 
derartiges  erwähnt.  Unter  seiner  Regierung 
soll  der  Götzendienst  aufgekommen  sein.  Es 
entstand  eine  große  Dürre  und  viele  Menschen 
starben  in  Folge  davon.  Die  Menschen  mach- 
ten Bilder  von  ihren  Theuren  aus  Holz,  Stein. 
Silber  und  Gold  und  schauten  beständig  darauf 
hin,  so  kam  die  Anbetung  der  Bilder  ton  jener 
Zeit  an  auf.  Auch  von  diesem  Könige  werden 
einige  Weisheitssprüche  aufgeführt,  z«  B.  „Mit 
wenigem  zufrieden  sein  ist  besser  als  vieles  au 
wünschen11.  Tahmüras  hatte  keinen  Sohn  und 
deshalb  folgte  ihm  Jam 8 hid,  der  entweder 
sein  Bruder  oder  Bruders  Sohn  gewesen  sehi 
soll.  Er  soll  Persepolis  gegrumtet  und  den  gro- 
ßen Palast  dort  gebaut  haben,  der  „der  Thron 
des  Jamsbid"  heißt.  Auch  das  Sonue^jahr  und 
die  Feier  des  Neujahrs  (y>ff)  soll  er  eingeführt 

haben.  Wenn  nftplieh  die  Saune  in  das  erste 
Haus  des  Frühlings  {)>#)    tritt  und  Tag  und 

Nacht  gleich  wurden,  setzte  er  steh  in  «einen 
Palast  und  lud  seine  Unterthanen  zu  einem 
Feste  ein,  indem  er  unter  sie  Gaben  vertheilte. 
Zu  seiner  Zeit  soll  der  Grieche  Pythagoras 
(ijuitf{  -£*)   gelebt   und   zur  Erheiterung  dieses 

Königs  Musikinstrumente  erfunden  haben ;  wahr- 
lich eine  seltsame  Nachricht!    Auch  die  Wein- 


Jeltfedffl*  Jfttaa,  Buch  dtf  Könige.  685 

bereitung  wird  auf  jamshid  zurückgeführt  nach 
der  bekannten  schon  von  Malcolm  erwähnten 
Sage,  er  soll  daher  ^b  atA  (Kttnigsaranei)  ge- 
nannt worden  sein.  Er  theilte  die  Leute  in  4 
Classen  ein:  1)  die  Gelehrten,  2)  die  Krieger, 
3)  die  Ackerbauer,  4)  die  Handwerker. 

Er  fährt  fort :  „Alle  Schriftsteller  behaupten, 
daß  Jamshid  den  Dienst  Gottes  aufgab  und 
sich  selbst  Gott  nannte,  die  Perser  aber  theilen 
diese  Meinung  nicht,  sie  sagen,  Jamshid  sei  ein 
weiser  Prophet  gewesen.  Er  verlangte  von  sei- 
nen Untergebenen  das  Versprechen,  daß  sie 
nicht  sündigen  sollten,  damit  Gott  Krankheit 
und  die  Pein  des  Todes  von  ihnen  nehme.  Eine 
Zeit  lang  hielten  die  Leute  ihr  Versprechen,  zu* 
letzt  aber  brachen  sie  es  und  gaben  sich  der 
Sünde  bin.  Um  die  Menschen  zu  strafen  nahm 
Gott  den  frommen  Jamshid  aus  ihrer  Mitte  weg 
und  sandte  ober  sie  den  Tyrannen  ZaMäk,  da- 
mit er  ihr  Blut  vergieße".  Woher  der  Herr 
Verfasser  diese  von  der  allgemeinen  Tradition 
abweichende  Ansicht  der  Perser  genommen  hat, 
sagt  er  nicht,  wohl  aus  guten  Gründen.  Jamshid 
soll  sieben  hundert  Jahre*)  regiert  haben,  doch 
setzt  der  Verfasser  vorsichtig  hinzu:  „die  Wahr- 
heit dieser  Bede  kennt  Gotta.  Nach  dem  Ver- 
fasser des  0U«#,Lft  y+zrj&r  soll  Jamshid  der* 

selbe  Prophet  sein ,  den  die  Araber  Sulaimän 
(Salons)  nennen ! 

ZaMäk  (das  er  durch  « jy^  jl*«**,  der  Viel* 

lachende  erklärt),  soll  nach  der  Behauptung  der 
Perser  w^t  ^  (zehntausend  Pferde  besitzend) 

geheißen  haben,  Sein  Name  wird  auch  durch 
Jf»>  erklärt,  i.  e.   einer  der  zehn  Fehler  hat, 

*)  So  auch  nach  dem  Shännämah. 


606  Gd«t>  gel.  An«.  1681,  Stüok  33. 

Diese  zehn  Fehler  zählt  der  Herr  Verfasser  der 
Seihe  nach  auf;  er  war  von  kleiner  Stator,  nie- 
derträchtig,  von  böser  Zange,  tyrannisch,  einge- 
bildet etc.    Er  soll  der  Sohn  des  0^  and  der 

Bruderssohn  des  4U  sein ;  einige  behaupten,  daß 

er  der  Sohn  der  Schwester  des  Jamsbid  and  der 
Sohn  des  Mardäs  sei.  Er  soll  1000  Jahre  re- 
giert haben.  Die  Sage,  daß  zwei  Auswüchse 
T^fJuAjA  aaf  seinen  beiden  Schulterbeinen  wie 

Schlangen  zum  Vorschein  gekommen  seien,  die 
man  mit  dem  Gehirn  von  Menseben  speisen 
mußte,  wird  ebenfalls  angeführt.  Endlich  er  hub 
sich  der  Schmied  Kävah,  um  das  Blut  seiner 
Söhne  zu  rächen ;  er  steckte  sein  Schmiedschurz- 
fell auf  eine  Stange  und  rief  die  Leute  gegen 
Zafifiäk  auf,  dem  er  jede  Hoffnung  des  Lebens 

benahm.  Er  setzte  Faridün,  einen  Sprößling  des 
Jamsßid  auf  den  Thron,  der  jenes  Schurzfell 
mit  Juwelen  schmückte  und  zur  persischen 
Beichsfahne  machte;  alle  persischen  Könige 
führten  sie  in  ihren  Heeren,  bis  sie  in  die  Hand 
'Umars,  des  Arabers,  fiel,  der  ihre  Edelsteine 
den  Soldaten  schenkte  und  sagte:  „wer  von 
dem  Schurzfell  der  Schmiede  Hilfe  sucht,  soll 
durch  das  Eisen  getödtet  werden". 

Die  Regierung  Farulün's  wird  als  eine  durch- 
aus glückliche  geschildert.  Endlieh  theilte  er, 
am  sich  ganz  dem  Dienste  Gottes  widmen  zu 
können,  sein  Beich  unter  seine  drei  Söhne,  den 
Westen  gab  er  dem  Salm,  den  Osten  dem  Tür 
und  den  dazwischen,  liegenden  Theil  mit  der 
Hauptstadt  dem  Irii.  (Auf  S.  73)  folgen  nun 
die  drei  Brustbilder  der  drei  Brüder).  Die  Mut- 
ter des  Salm  und  Tür  war  .eine  Tochter  des 
ZaBBak,  and  die  Matter  des  Inj    eine    Enkel- 


Jelaleddia  Mirsa,  Buch  der  Könige.  667 

tochter  des  Tahmüras,  die  Arnavär  (jt^t)  und 
Iränduxt  (c^^Oö^jj)  hieß.  Dies,  sagt  der  Ver- 
fasser, zeugt  von  der  Rechtschaffenheit  und 
Bosheit  derselben.  Der  Verfasser  führt  dann 
eine  Anzahl  Sprüche  von  Inj  an,  ohne  zu  sagen, 
woher  er  sie  genommen  hat.  Die  beiden  Brüder 
Salm  und  Tür  tödteten  aus  Neid  Irij ;  das  Weib 
des  letzteren  aber  gebar  einen  Sohn,  Minncihr, 
den  Faridün  zu  seinem  Nachfolger  machte  und 
der  erwachsen  die  Mörder  seines  Vaters  besiegte 
und  tödtete.  Faridün  soll  500  Jahre  regiert 
haben.  Dazu  macht  der  Hr.  Verfasser  die  Be« 
merkung:  „Die  Gelehrten  dieser  Zeit  glauben 
das  nicht.  Einige  Geschichtscbreiber  der  Fran- 
ken behaupten,  daß  Zafihäk  tausend  Jahre  oder 

Faridün  fünf  hundert  Jahre  regiert  habe.  Mit 
diesem  Namen  bezeichnen  sie  die  Familie  der- 
selben, Vater  um  Vater  habe  Zafifiäk  und  Fari- 
dün geheißen,  wie  in  Europa  die  Leute  jeder 
Familie  mit  demselben  Familiennamen  benannt 
werden".  Bei  diesen  kritischen  Anläufen  des 
Hrn.  Verfassers  ist  nur  zu  bedauern,  daß  er 
nirgends  eine  Quelle  nennt. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  die  Regierung 
der  übrigen  Könige  speciell  anzuführen  und  wir 
geben  daher  zur  Dynastie  der  Kai  über,  unter 
der  der  Hr.  Verfasser  mit  Alexander  dem  Grie- 
chen 10  Könige  aufführt,  die  zusammen  752 
Jahre  regiert  haben  sollen,  nämlich  1)  Kai^ubäd 
(ölJuS),   2)  Kaikävus,   3)  Kai^usran,  4)  Luh- 

räsb,  5)  Gushtäsb,  6)  Bahman,  7)  Humäi  (seine 
Tochter,  8)  Däräb,  9)  Därä,  10)  Alexander. 

Wir  heben  hier  nur  Einzelnes  aus.  In  die 
Regierungszeit  Gushtäsb's  wird  die  Einführung 
des  Feuerdienstes  in  Persien  verlegt.    Zardu&ht 


M9  Gott   gel.  Anz.  1881.  Stock  tt 

soll  den  König  für  seine  Lehre  gewonnen  haben, 
der  ihn  mit  sieh  nach  PersepoHs  nahm  und  den 
Befehl  gab,  daß  12,000  Exemplare  des  Zend 
und  Päzend  mit  Goldtinte  auf  Kuhhäute  ge- 
schrieben and  in  seinem  Reiche  verbreitet  wer- 
den sollten. 

Von  Däräb,  dem  Sohne  Babman's,  berichtet 
er,  daß  er  Philipp  (v**A*)  unterworfen  und  seine 

Tochter  zur  Ehe  verlangt  habe.  Er  habe  aber 
v  nur  eine  Nacht  mit  ihr  zugebracht  nnd  sie  wie- 
der nach  Griechenland  zurückgeschickt;  in  jener 
Nacht  soll  Alexander  erzeugt  worden  sein.  Er 
soll  Philipp  einen  jährlichen  Tribut  von  1000 
Goldeiern  aufgelegt  haben.  Er  soll  auch  die 
Stadt  Däräbgard  gegründet  and  die  Post  in 
Persien  eingeführt  haben.  Seine  Begierungszeit 
wird  auf  12  Jahre  angegeben;  der  Hr.  Verfasser 
legt  ihm  auch  eine  Anzahl  Weisbeitssprüche  in 
den  Mund,  ohne  Quellenangabe  und  nur  mit  der 
Bemerkung  o^t  qU^u  ;t. 

Von  Därä,  dem  Sohne  Däräb's,  wird  erzählt, 
daß  er  zu  Alexander,  dem  Nachfolger  des  Phi- 
lipp, einen  Gesandten  schickte,  um  den  Tribut, 
den  Däräb  den  Griechen  auferlegt  hatte,  einzu- 
fordern. Alexander  antwortete:  „Der  Vogel,  der 
die  Eier  legte,  ist  fortgeflogen,  jetzt  ist  zwischen 
mir  und  dir  nur  die  Lanze  und  das  Schwert*. 
Darauf  schickte  ihm  Därä  einen  Ballschlegel  and 
Ball  mit  einer  bedeutenden  Quantität  Sesam- 
körner, ihm  damit  andeutend,  daß  er  noch  ein 
Knabe  sei  und  mit  Ball  und  BatlscMegel  spie- 
len sollte  und  daß  das  Heer  der  Perser  zahlreich 
wie  die  Sesamkörner  seien.  Alexander  ließ  in 
Gegenwart  des  Gesandten  einen  Hahn  kommen, 
der  die  Sesamkörner  sofort  auffraß.  Dann  sagte 
er  zu  dem  Abgesandten  des  Dlrä :    „wir  haben 


Jelateddin  Minsa,  Buch  der  Könige.  689 

ans  dieser  Sache  zwei  gute  Ausblicke  in  die 
Zukunft  gemacht:  der  eine  ist,  daft  wir  euer 
Land  tiberwinden  und  sein  Theil  aufessen  wer- 
den, und  der  andere  ist,  daß  die  tapferen  Grie- 
chen allein  die  Massen  eures  Heeres  auffressen 
werden,  wie  der  Hahn  die  Sesamkörner".  Der 
Feldzog  Alexanders  gegen  Persien,  den  er  mit 
30,000  Fußsoldaten  und  5000  Reitern  unter- 
nahm, wird  sehr  kurz  abgehandelt,  ohne  daft 
aueh  nur  eine  Schlacht  erwähnt  würde.  Es 
wird  nur  bemerkt,  daft  zwei  Männer  den  Oärä 
im  Schlaf  ermordeten  und  zu  Alexander  flohen, 
der  aber  die  Mörder  tödten  ließ.  Man  sieht  aus 
diesen  absichtlich  gebildeten  Sagen  und  Ueber- 
lieferungen,  daß  der  ganze  Gegenstand  den  Per- 
sern ein  höchst  unangenehmer  war;  daher  auch 
der  Versuch,  Alexander  zu  einem  Sohne  Däräb's 
zu  machen. 

Von  Alexander  wird  berichtet,  daß,  obschon 
seine  Heerführer  in  ihn  drangen,  Persepolis  zu 
zerstören,  er  sich  nicht  dazu  verstehen  wollte, 
weil  er  die  Schande  dieser  That  fürchtete.  In 
einer  Nacht  aber  brachte  ihn  seine  Concubine 
(die  athenische  Hetäre  Thais),  nachdem  sie  mit 
ihm  viel  Wein  getruuken  hatte,  indem  sie  ihn 
an  die  Niedermetzelung  der  Griechen  durch  die 
Perser  erinnerte,  dahin,  daß  er  den  Befehl  gab, 
Persepolis  mit  Feuer  zu  verbrennen,  was  ihm 
bis  heute  zur  Schande  gereicht  hat  Alexauder 
regierte  13  Jahre  und  theilte  Persien,  nach  dem 
Rathe  Aristoteles,  unter  die  Großen,  indem  er 
einem  jedem  eine  Provinz  zur  selbständigen  Re- 
gierung überlieft,  die  (Provinz)  Persien  mit  der 
Hauptstadt  aber  schenkte  er  dem  Griechen  {Uä*J  *). 

*)  Es  ist  das  eigentlich  Agathocles,  der  von  Antio- 
chus  Theos,  dem  dritten  der  Seleuciden,  zum  Vicekönig 
von  Persiea  ernannt  worden  war. 

44 


690  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

Nachdem  er  die  Angelegenheiten  Persiens  und 
Griechenlands  geordnet  hatte,  zog  er  nach  In- 
dien und  Sindh  und  eroberte  diese  Länder,  und 
zur  Zeit  seiner  ZurUckkehr  starb  er  in  der  Stadt 
Tür-i  Bäbil,  die  nahe  bei  Ba/däd  liegt,  im  36. 
Lebensjahr.  Nach  ihm  übergaben  sie  die  Herr- 
schaft über  Griechenland  seinem  Sohn  Igkan- 
darüs,  er  nahm  sie  aber  nicht  an  und  sagte: 
„Die  Wissenschaft  hat  mich  die  Herrschaft  ent- 
behren lernen",  und  zog  sich  in  die  Einsamkeit 
zurück.  Die  Herrschaft  über  Griechenland  fiel 
notwendigerweise  dem  Ftolemäus  zu.  Zur  Zeit 
seines  .Todes  fragten  sie  den  Alexander,  wie  er 
in  einem  so  kurzen  Leben  die  Welt  unterworfen 
habe  ?  Er  antwortete :  „Durch  zwei  Handlungs- 
weisen, daß  ich  meine  Feinde  zwang,  meine 
Freunde  zu  werden  und  meine  Freunde  nicht 
meine  Feinde  werden  ließ".  Er  befahl,  daß 
man,  wenn  er  zu  Grabe  getragen  werde,  eine 
Hand  heraushängen  lassen  solle,  damit  die 
Leute  sehen,  daß  er,  trotz  der  Eroberung  der 
Welt,  mit  leeren  Händen  abziehe.  Seiner  Mut- 
ter übersandte  er  die  Botschaft:  „Ueberlaß  dich 
nicht  der  Ungeduld  und  theile  den  Kammer 
über  meinen  Tod  mit  Jemand,  der  nie  in  Trauer 
versetzt  worden  ist".  Statt  einer  Charakteristik 
Alexanders  folgen  wieder  eine  Anzahl  Sprüche 
und  kleine  Anecdoten,  nach  denen  Alexander 
ein  sehr  frommer  und  gottesfürchtiger  Mann  ge- 
wesen sein  muß. 

Es  folgt  nun  die  dritte  Dynastie  der  Ash- 
gänis.  Er  sagt  darüber:  „ Vom  Hingang  Alexan- 
ders bis  auf  die  Zeit  Ardisbir's,  welcher  der 
erste  der  Säsäniden  ist,  haben  die  Geschichts- 
schreiber die  Sache,  darum  nicht  vollkommen 
dargestellt,  weil  Iran  in  einige  Theile  ge- 
theilt  worden  war  und  jeder  König  in  seinem 


Jelaleddin  Mirza ,  Buch  der  Könige.  691 

Lande  die  Herrschaft  ausübte,  so  daß  man  jene 
Zeit  die  „königslose  Zeit"  nannte.  Man  sagt: 
Ashg,  der  Sohn  des  Därä,  vertrieb  mit  der  Hülfe 
der  anderen  Könige  _Astahin,  den  Feldherrn  Ale- 
xanders und  säuberte  Iran  von  den  Griechen;  die 
Könige,  durch  deren  Beistand  er  aufkam,  zahl- 
ten ihm  jedoch  keinen  Tribut.  Seine  Nach* 
kommenschaft  heißen  die  Ashgänis  und  die  Zeit 
dieser  Dynastie  sind  461  Jahre;  und  mit  Asta- 
hm dem  Griechen  sind  es  20  Personen  gewesen; 
1)  Astahin,  der  Gouverneur  Alexanders,  herrschte 
4  Jahre  über  Persien.  2)  Ashg,  aus  der  Fa- 
milie Därä's,  regierte  15  Jahre.  3)  Ashgän,  der 
Bruder  der  Mutter  des  Ashg,  der  aus  der  Fa- 
milie des  Bruders  des  Kaikävus  war,  folgte  sei- 
nem Neffen  und  regierte  9  Jahre.  4)  Ashg  (II), 
der  Sohn  des  Ashgän,  regierte  7  Jahre.  5)  Shä- 
pür,  der  Sohn  des  Ashg,  war  ein  weiser  und 
tugendhafter  König.  Zu  seiner  Zeit  lebte  Jesus 
der  Prophet,  und  Visah  und  Bämin  der  Ver- 
liebte. Er  regierte  60  Jahre  und  verlegte  seine 
Residenz  nach  Madäin  (Ctesiphon).  6)  Bahräm, 
der  Sohn  des  Shäpür,  war  ein  siegreicher  Kö- 
nig. Er  unterwarf  sich  die  meisten  seiner  Nach- 
barn und  baute  in  der  Nähe  von  Stambül  eine 
Stadt  von  gebrannten  Backsteinen  und  errichtete 
daselbst  einen  großen  Feuertempel.  Er  regierte 
50  Jahre  und  machte  Bai  zu  seiner  Hauptstadt. 
7)  Paläsh  *),  der  Sohn  des  Bahräm  führte  Krieg 
mit  Syrien  (0^U£>)  und  Rom  und  blieb  Sie- 
ger. Er  regierte  16  Jahre.  8)  Hormuz,  der 
Sohn  des  Paläsh  regierte  19  Jahre;  er  baute 
Qädasiyyah  und  Nahrvän.  9)  Narsi,  der  Sohn 
des  Paläsh,  regierte  40  Jahre.  10)  Firüz,  der 
Sohn   des  Hormuz   führte   12  Jahre  lang  eine 

*)  Der  Volgares  der  Griechen. 

44* 


•92  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  22. 

tyrannische  Regierung  trad  wurde  zuletzt  er- 
mordet.  11)  Paläsh  (II),  der  Sohn  des  Firns 
regierte  12  Jahre;  er  gründete  die  Stadt  Lär. 
12)  gursrau,  der  Sohn  des  Paläsh,  war  ein 
Wüstling;  er  starb  in  Rai  an  Dysenterie,  nach- 
dem er  40  Jahre  regiert  hatte.  13)  Paläshän, 
der  Sohn  des  Paläsh,  wurde,  nachdem  er  32 
Jahre  regiert  hatte,  durch  eine  Zeltstange,  die 
ihm  auf  den  Kopf  fiel,  erschlagen.  14)  Ardvän, 
der  Sohn  des  Asha?    (£&t)    regierte    29  Jahre. 

16)  Paläsh  (III),  der  Sohn  des  Ashar,  regierte 
über  Iran  12  Jahre.  17)  Güdurz,  der  Sohn  des 
Paläsh,  saß  40  Jahre  auf  dem  Thron.  18) 
Nar8i  (II),  der  Sohn  des  Güdurz  regierte  20 
Jahre.  19)  Güdurz  (II),  der  Sohn  des  Narsi, 
herrschte  15  Jahre.  20)  Ardvän  (II),  der  Sohn 
des  Narsi,  regierte  30  Jahre. 

Wir  haben  hier  den  Hrn.  Verfasser  wörtlich 
sprechen  lassen,  weil  diese  Periode  der  persi- 
schen Geschichte  zu  den  dunkelsten  und  ver- 
worrensten gehört.  Er  weiß  auch  nichts  weite- 
res zu  bieten  als  eine  trockene  Liste  von  Re- 
genten, die  vielfach  von  der  von  Malcolm  aufge- 
führten abweicht  und  deshalb  einige  Beachtung 
verdient.  Wichtig  wäre  es  für  die  Geschichts- 
forschung, wenn  er  die  Quellen  angegeben  hätte, 
aus  der  er  seine  Angaben  genommen  hat. 

Nun  folgt  die  vierte  Dynastie  der  Säsä- 
niden  und  damit  treten  wir  in  eine  hellere 
Periode  ein.  Er  zählt  die  Säsäniden  auf  28 
and  die  Zeit  ihrer  Herrschaft  auf  502  Jahre 
und  7  Monate.  Wir  wollen  hier  noch  die  Liste 
der  einzelnen  Herrscher  aufführen,  da  sie  etwas 
von  der  Malcolm'schen  abweicht:  1)  Ardisbir, 
2)  Shäpür,  3)  Hormuz,  4)  Bahräm,  5)  Bahrain  II. 
6)  Bahräm  III.  7)  Narsi,  8)  Hormuz  II.  9)  Shä- 
pür II.    10)    Ardishir  II.   11)   Shäpür  III.    12) 


Jelateddin  Mirja ,  Öach  der  Könige.  60S 

Bahrain  IV.  13)  Yazdigird,  14)  Bahräm  V.  15) 
Yazdigird  II,  16)  Hormuz  III.  17)  Pirüz,  18) 
Paläsb,   19)   Tubäd   (^Lx),  20)  Nüshirvän,  21) 

Hormuz  IV.  22)  jusrau,  23)  Shirüyab,  24)  Ar- 
disbir  IL  25)  Pnränduxt  (Königin),  26)  Azrami- 
dutf;  (Königin),  27)Farru*zäd,  28)  Yazdigird  III. 

Bei  der  näheren  Beschreibung  der  einzelnen 
Herrscher  Behaltet  er  nach  Ardishir  (Nr.  24) 
noch  Shahräzäd  ein,  der  nur  40  Tage  die  Krone 
trug,  so  daß  die  Gesammtzahl  auf  29  erwächst. 

Auf  die  einzelnen  Herrscher  der  Säsäniden- 
dynastie  wollen  wir  hier  nicht  näher  eingehen, 
da  der  Hr.  Verfasser  im  allgemeinen  nur  das 
bietet,  was  sebon  Malcolm  in  seiner  Geschichte 
Persians  nach  denselben  Quellen  zusammenge- 
stellt hat  Eine  kritische  Geschichte  Persiens 
können  wir  ja  vom  Hrn.  Verfasser  nicht  erwar- 
ten, da  er  sein  Buch  hauptsächlich  für  die  Ju- 
gend (0K:>y)  bestimmt  hat. 

Vielleicht  dürfen  wir  aber  hoffen,  daß  die 
Zeit  nicht  mehr  so  fern  sein  wird,  wo  auch  der 
Jngend  Persiens  eine  kritische  mit  den  abend- 
ländischen Quellen  verglichene  Geschichte  ihres 
Landes  und  Volkes  von  einem  ihrer  Landsleute 
wird  in  die  Hände  gelegt  werden.  Und  wie 
wird  sie  dann  staunen,  wenn  sie  eine  wahre 
Geschichte  ihres  Volkes  zu  lesen  bekommen 
wird  statt  der  Fabeln  und  Märchen,  die  ibre 
große  Geschichte  kaum  ahnen  lassen !  Auch 
fthr  uns  Abendländer  ist  noch  vieles  in  der  Ge- 
schichte Persiens  dunkel  und  unsicher  und  es 
bedarf  noch  eingehender  Quellenstudien,  beson- 
ders auch  der  morgenländischen,  bis  wir  zu 
einer  relativen  Gewißheit  werden  gelangt  sein. 
Dazu  könnten  und  sollten  auch  die  Perser  das 
ihre  beitragen,   aber  es  genügt  nicht,    die  alten 


694  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

Sagen  und  Ueberliefernngen  wieder  zu  produ- 
cieren,  sondern  die  Perser  müssen  abendländi- 
sche Bildung  sieb  ebenso  anzueignen  trachten, 
wie  wir  die  morgenländische,  dann  erst  werden 
sie  im  Stande  sein,  einen  richtigen  Blick  in  die 
Geschichte  und  Weltstellung  ihres  Volkes  zu 
thun.  Mit  puren  Uebersetzungen  abendländi- 
scher Geschichtsforscher  ist  ihnen  noch  lange 
nicht  geholfen,  sie  müssen  selbst  forschen  ler- 
nen, wenn  sie  an  der  Hand  ihrer  Geschichte 
wieder  zu  neuem  Leben  erwachen  wollen. 

Das  vorliegende  Buch  hat  wenigstens  das 
Verdienst,  daß  es  die  persische  Geschichte,  wie 
sie  bei  den  Persern  selbst  lebt,  uns  in  kurzen 
Zügen  vorführt,  was  für  Orientalisten  insbeson- 
dere von  großem  Werthe  ist,  und  da  es  in 
einem  reinen  Persisch  geschrieben  ist,  so  kann 
es  auch  mit  Nutzen  zu  persischen  Vorlesungen, 
besonders  mit  der  Absicht  in  das  Modern-Persi- 
sche einzuführen,  verwendet  werden.  Die  klare 
deutliche  Schrift  kann  zugleich  als  treffliche 
Vorübung  für  das  Lesen  persischer  Handschrif- 
ten dienen. 

München,  September  1880.  Tr u mpp. 


Zur  Reconstruction  der  Weltkarte  des 
Agrippa.  Von  Dr.  F.  Philipp!.  Mit  5  auto- 
graphirten  Kartenskizzen.  Marburg.  N.  G.  Elwert'- 
sche  Verlagsbuchhandlung.     1880.    25  S.    8°. 

Die  geographischen  Arbeiten  des  Agrippa 
sind  in  den  letzten  Jahren  Gegenstand  mehrerer 
gelehrten  Untersuchungen  gewesen,  ohne  daß 
indeß  allgemein  anerkannte  Resultate  gefunden 
worden  sind  Man  suchte  theils  den  Inhalt  der 
Ghorographie,  wie  das  geographische  Werk  des 
Agrippa  allgemein  genannt  wird,  aus  den  späte- 
ren geographischen  Schriften  des  Strabo,   Mela, 


Philippi,  Weltkarte  des  Agrippa.  695 

Plinius,  den  Itinerarien  u.  s.  w.  zu  eruieren,  theils 
stellte  man  Vermuthangen  über  die  Form  der 
Weltkarte  an,  meistens  mit  Rücksicht  auf  die 
tabula  Peutingeriana.  In  Bezug  auf  letztere  hat 
Müllen  ho  ff  im  Hermes  IX,  S.  182  ff.  nachge- 
wiesen, daß  man  aus  ihrer  Form  keineswegs 
auf  eine  ähnliche  Gestaltung  jener  Weltkarte 
schließen  dürfe,  sondern  daß  letztere  eine  ovale 
Form  gehabt  habe,  also  mit  Plinius  mit  Recht 
als  ein  orbis  bezeichnet  worden  sei. 

Während  also  auch  Müllen  hoff  noch  von 
der  tab.  Pent,  ausging,  schlägt  Philippi  in  oben 
erwähnter  Schrift  einen  andern  Weg  ein,  um 
eine  Reconstruction  der  agrippaischen  Weltkarte 
zu  ermöglichen.  Er  untersucht  die  uns  aus  dem 
Mittelalter  erhaltenen  Karten  und  glaubt  nach- 
weisen zu  können,  daß  eine  Gruppe  derselben 
—  natürlich  durch  eine  lange  Reihe  von  Mittel- 
gliedern —  auf  jene  Weltkarte  zurückgeht. 

Folgendes  ist  der  Gang  der  Untersuchung: 
Die  mittelalterlichen  Karten  zerfallen  in  3 
Gruppen : 

1)  Sallustkarten.  Diese  enthalten,  wie 
Wuttke  nachgewiesen,  eine  Illustration  der 
von  Sali.  lug.  18.  19.  gegebenen  Erdbeschrei- 
bung. Wuttke  hatte  die  ersten  Anfänge  die- 
ser Gruppe  in  das  Zeitalter  des  Augustinus  ver- 
legt, welcher  de  civ.  dei  XVI,  17  die  Erde  so 
eintheilt  wie  die  Sallustkarten,  daß  Europa  und 
Afrika  die  westliche  Hälfte  bilden,  Asien  die 
östliche.  Phil,  glaubt  gewiß  richtig,  daß,  wenn 
Augustin  die  Karte  als  bekannt  voraussetze, 
der  Ursprung  derselben  in  die  früheren  (2. — 4) 
Jahrhunderte  falle. 

Ebensowenig  wie  diese  bloß  zur  Illustrierung 
eines  Schulbuches  dienenden  Karten  steht  in  Zu- 
sammenhang mit  dem  Werke  des  Agrippa  die 


696  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

2.  Gruppe:  die  Zonenkarten,  welche 
die  ganze  Erdscheibe  nach  Zonen  darstellen. 
In  Betreff  dieser  schließt  sich  Phil,  der  Ver« 
rauthung  Müllenhof  fs  an,  daß  sie  ein  durch 
vielgliedrige  Tradition  sehr  verunstaltetes  Bild 
des  Pergamenischen  Globus  sind.  Interessant 
ist  dabei  die  Bemerkung  Ph.'s,  daß  sämmtliche 
Zonenkarten  —  vielleicht  mit  Ausnahme  der 
vielen  Macrobius  -  Handschriften  beigegebenen 
Erdskizzen  -  südlich  orientiert  sind,  d.  h.  Sü- 
den an  das  obere  Ende  der  Karte  verweisen, 
höchst  wahrscheinlich  deshalb,  weil  bei  dem 
Archetypus ,  dem  kolossalen  Pergamenischen 
Globus,  auf  diese  Weise  am  bequemsten  der  be- 
wohnte Theil  der  Erde  zur  Anschauung  gebracht 
werden  konnte.    Die 

3.  Gruppe  bringt  ebenso  wie  die  Sallust- 
karten  nur  die  den  Alten  bekannten  Erdtheile 
zur  Darstellung,  ohne  die  specifisch  Sallustischen 
Einzelangaben  zu  enthalten.  Alle  dieser  Gruppe 
angehörigen  Karten  haben  2  Eigentümlich- 
keiten :  die  römische  Orientierung  —  Osten  oben 
—  und  die  Zeichnung  Asiens  mit  dem  kaspi- 
schen  Meer  als  Basen  und  ohne  Andeutung  de» 
Südcontinentes.  Daraus  ergiebt  sich,  daß  sie 
mit  dem  System  des  Ptolemäus  unbekannt  sind, 
vielmehr  auf  Eratosthenische  Tradition  zurück- 
gehen. Phil,  bespricht  von  dieser  Gruppe  zu- 
nächst die  Rundkarten,  von  denen  er  die  beiden 
bedeutendsten,  die  Hereforder  und  die  Ebstorfer, 
auf  den  anliegenden  Tafeln  II  und  III  verklei- 
nert vorführt.  Leider  sind  diese  Lithographien, 
ebenso  wie  Tafel  IV  und  V  nicht  recht  gelun- 
gen, wenigstens  in  dem  mir  vorliegenden  Exem- 
plar ein  wahres  Augenpulver  und  fast  unbe- 
nutzbar. Phil,  stellt  die  Goncordanzen  dieser 
Karten  zusammen  und  zeigt,  daß  sie  trotz  man- 


Philippi ,  Weltkarte  des  Agripp*.  6*7 

eher  Abweichungen  doch  auf  denselben  Arche- 
typus zurückgehen.  Von  den  rechteckigen  Kar- 
ten sind  bis  jetzt  wenige  bekannt:  bei  der 
Priscian-Karte  der  Gottoniana  weist  aber  Phil, 
so  viele  Uebereinstjmmungen  mit  jenen  Rund- 
karten nach,  daß  sich  der  gemeinsame  Ursprung 
beider  nicht  bezweifeln  läßt.  —  Phil,  stellt 
weiterhin  fest,  daß  die  rechteckige  Karte  älter 
sei  als  die  volkstümliche  runde,  weil  sie  durch 
Einzeicbnung  von  bestimmten  mathematischen 
Linien  begründet  wurde.  Interessant  ist  der 
Nachweis  (8.  15  f.),  daß  die  Karte,  welche  Oro- 
sius bei  der  Abfassung  des  in  seinem  Werke 
enthaltenen  geographischen  Abrisses  benutzt,  der 
Hereforder,  Ebsdorfer  und  Priscian-Karte  sehr 
ähnlich  gewesen  ist,  was  besonders  hervortritt 
bei  der  Beschreibung  von  Ostasien,  die  wie  ab- 
geschrieben erscheint  von  der  Hereforder  Karte 
(Taf.  V).  Phil,  schließt  aus  den  Worten  des 
Orosius  wohl  mit  Recht,  daß  er  eine  rechteckige 
Karte  vor  sich  hatte;  die  Umgestaltung  dersel- 
ben zur  runden  und  das  Herrschendwerden  der 
letzteren  giaubt  er  in  die  Zeit  zwischen  Orosius 
und  Isidor  setzen  zu  müssen,  weil  sich  aus  der 
Vergleichung  einiger  Ausdrücke  des  Isidor  mit 
denen  des  Orosius  ergäbe,  daß  ersterer  eine 
Rundkarte  vor  sich  gehabt  habe.  Indeß  passen 
diese  Ausdrücke  infleditur  regio,  cingitur  Ger- 
mania, includit  oceanus  ebenso  gut  auf  vier- 
eckige Karten  mit  abgerundeten  Ecken ,  wie 
wir  uns  jedenfalls  viele  Karten  dieser  Art  zu 
denken  haben  und  wie  sie  auch  die  Priscian- 
karte  zeigt 

Für  die  Originalkarte,  auf  welche  alle  Kar- 
ten der  3.  Oruppe  zurückgehen,  hält  nun  Phil, 
die  Weltkarte  des  Agrippa,  ohne  indeß  für  diese 
Behauptung   weitere   Beweise  vorzubringen  als 


698  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stack  22. 

die  schon  oben  angeführten,  daß  sie  alle  die 
römische  Orientierung  zeigen  und  Eratostheni- 
scbe  Elemente  enthalten. 

Zum  Schluß  bespricht  Ph.  noch  kurz  die  bis- 
her gefundenen  Resultate  in  Betreff  der  Karte 
des  Agrippa;  dabei  ist  es  erfreulich  zu  sehen, 
daß  er  seine  frühere  Ansicht,  es  habe  bloß  eine 
Karte,  keine  cborographia  existiert,  wie  er  sie 
in  seiner  Dissertation  de  tabula  Peutingeriana 
(Bonn  1876)  aufgestellt,  fallen  läßt  und  mit 
Recht  eine  Scheidung  des  Buches  von  der  Karte 
verlangt.  Nun  bat  Müllen  hoff  in  der  oben 
citierten  Abhandlung  den  griechischen  Einfluß 
auf  die  Karte  nachgewiesen,  sowie  daß  die  Haupt- 
grade des  Eratosthenischen  Netzes  adoptiert  wor- 
den sind,  J.  Part  seh  (Darstellung  Europa's  im 
geographischen  Werke  des  Agrippa)  gezeigt, 
daß  die  Längenansätze  des  Agrippa  bei  den 
Provinzen  sich  als  zusammengesetzt  erweisen  aus 
Itinerarangaben.  Pbil.  findet  nun  in  seinen 
Resultaten  eine  Bestätigung  und  Erweiterung 
der  Behauptungen  Mtillenhoff's  und  zieht 
den  Schluß,  daß  die  Karte  eine  Nachahmung 
griechischer  Arbeiten  sei,  dagegen  die  Itinerar- 
angaben sich  bloß  in  der  Ghorographie  gefunden 
haben,  also  eigentlich  nur  in  dieser  die  eigenen 
Leistungen  des  Agrippa  hervorgetreten  seien. 
Pbil.  will  also  Ghorographie  und  Karte  aufs 
strengste  gesondert  wissen. 

An  und  für  sich  darf  man  wohl  voraussetzen, 
daß  die  Arbeit  des  Verfassers  der  Karte  und 
der  Ghorographie  nicht  derartig  verschieden  ge- 
wesen sei,  daß  bloß  in  letzterer  seine  eigene 
Leistung  sich  fand,  während  erstere  nur  einen 
Abklatsch  griechischer  Vorlagen  bildete.  Wenn 
Agrippa  in  der  Ghorographie  die  Itinerarangaben 
in  ausgedehnter  Weise  benutzt  hat,  so  ist  es 
eigentlich  selbstverständlich,  daß  er  bei  Berech- 


Philippi ,  Weltkarte  des  Ägrippa.  699 

nung  der  Längenangahen  bei  den  Provinzen 
u.  s.  w.  die  betreffenden  Karten  mit  eingezeich- 
neten Itinerarien  vor  sich  gehabt  habe;  sollte  es 
da  nicht  wahrscheinlich  sein,  daß  er  diese  Iti- 
nerarien auch  in  die  Weltkarte  mit  hertiberge- 
nommen  habe?  Wenn  also  die  von  Phil,  be- 
handelten Karten  ans  jener  Weltkarte  abzuleiten 
sind,  so  ist  dies  doch  noch  kein  Beweis  für  die 
Verschiedenheit  der  Arbeit  in  jenen  beiden  Wer- 
ken des  Agrippa,  sondern  es  werden  dann  in 
dem  Archetypus  derselben  die  StraßenztJge  weg- 
gelassen sein;  das  übrige  Material  zur  Karte, 
vor  allem  in  Betreff  Asiens,  soweit  es  nicht  zum 
imperium  Romanum  gehörte,  war  ja  Eratosthe- 
nisch,  so  daß  es  kein  Wunder  ist,  wenn  jene 
Gruppe  mittelalterlicher  Karten  ganz  auf  Era- 
tosthenes basiert  zu  sein  scheint. 

Wenn  nun  die  von  Phil,  statuierte  Unter- 
scheidung der  Chorographie  und  der  Karte  kaum 
so  stricte  zu  handhaben  ist,  wie  er  verlangt,  so 
darf  man  bei  der  Reconstruction  der  Karte  die 
aus  ersterer  geschöpften  Werke  nicht  unbeachtet 
lassen.  Schweder  hat  bekanntlich  in  seinen 
Schriften:  „Beiträge  zur  Kritik  der  Chorographie 
des  Augustus"  (Kiel  1878)  und  „Concordanz  der 
Chorographie  des  Mela  und  des  Pliniustf  (Progr. 
der  Kieler  Realschule  1879)  die  Benutzung  der 
Augusteischen  Chronographie  durch  Mela  und 
Pliniu8  ziemlich  evident  nachgewiesen*);  durch 

*)  G.  Oehmichen  hatte  in  einer  recht  flüchtigen 
Untersuchung  (Ritsch  1  acta  DI,  S.  399)  diese  Concor- 
danzen  durch  gemeinsame  Benutzung  des  Varro  erklärt 
und  sucht  diese  Ansicht  in  der  Recension  der  ungleich 
sorgfältiger  gearbeiteten  Schwede r'schen  Schriften  in 
der  Jenaer  Litt.-Ztg.  1879  S.  483  ff.  zu  vertheidigen.  Ich 
glaube,  diese  Recension  verdient  ad  acta  gelegt  zu  wer- 
den, nur,  scheint  mir,  muß  Oehmichen  den  Rath,  den 
er  S.  485,  Sp.  1  unten  Schweder  giebt,  an  seine  eigene 
Adresse  richten. 


700  Gott.  gel.  Anz.  1861.  Stück  22. 

die  Vergleicbung  dieser  beiden  Autoren  mit  je- 
nen mittelalterlichen  Karten  nnd  der  tabula  Peu- 
tingeriana,  die  auch  gewiß  in  Beziehung  steht 
zur  Weltkarte  des  Agrippa,  wird  man  hier  wohl 
zu  weiteren  Resultaten  kommen.  Ob  des  Oro- 
sius  Bemerkung,  er  habe  verschiedene  Schrift* 
steller  bei  der  Abfassung  seines  geographischen 
Abrisses  benutzt,  bloß,  wie  Phil.  S.  15  nieint, 
eine  Ausrede  sei,  um  vermeintliche  Widerspruche 
der  Karte  zu  erklären,  scheint  mir  recht  zwei- 
felhaft; lieber  möchte  ich  glauben,  daß  er  neben 
der  Karte  noch  ein  geographisches  Compendium 
mit  abweichenden  Angaben  vor  sich  hatte.  Zwi- 
schen dem  Orosius  und  der  Chorographie  des 
Agrippa,  sowie  der  tab.  Peut.  findet  sich  eine 
ganze  Reihe  von  Differenzen,  z.  B.  in  Betreff 
des  Taurus  (Partsch  1. 1.  S.  12);  Orosius  hat  die 
Form  Paropaimsadae,  die  mit  Agrippa  in  Ver- 
bindung stehenden  Autoren  Paropamsadae  (Fleck- 
eisen's  Jhb.  117,  S.  511)*). 

Wenn  die  von  Phil,  mit  Recht  statuierte  ge- 
meinsame Quelle  jener  mittelalterlichen  Karten 
aus  der  Weltkarte  des  Agrippa  abzuleiten  ist, 
so  darf  man,  glaube  ich,  eher  eine  Umarbeitung 
der  letzteren  voraussetzen,  in  welcher  sie  auch 
dem  Orosius  vorlag,  als  große  Differenzen  zwi- 
schen der  Karte  und  der  Chorographie  des 
Agrippa  annehmen.  Ein  zuverlässiges  Resultat 
wird  hier  erst  die  Vergleicbung  jener  mittelalter- 
lichen Karten  ergeben.  Hoffentlich  wird  der 
Hr.  Verf.  bei  seiner  Vertrautheit  mit  diesem 
Kartenmaterial    bald    weitere    Untersuchungen 

*)  Nicht  alle  in  diesem  Aufsatz  enthaltenen  Behaup- 
tungen halte  ich  noch  aufrecht;  die  Nachricht  von  der 
Weltvermessung  ist  gewiß  zu  verwerfen;  ebenso  glaube 
ich  mit  Schweder,  daß  Mela  die  Chorographie,  nicht 
die  Weltkarte  an  den  behandelten  Stellen  benutzt  hat. 


Wright,  Zechariah  and  his  prophecies.         701 

über  diese  Frage  folgen  lassen  und  die  hier  an- 
gedeuteten Schwierigkeiten  anf  die  eine  oder 
andere  Weise  definitiv  wegschaffen. 

Sondershausen.  B.  Hansen. 


Zechariah  and  his  prophecies  considered  in  rela- 
tion to  modern  criticism:  with  a  critical  and  gramma- 
tical commentary  and  new  translation.  Eight  lectures 
delivered  before  the  university  of  Oxford  in  the  year 
1878  on  the  foundation  of  the  late  Rev.  John  Bampton 
M.A.  Canon  of  Salisbury.  By  Charles  Henry  Hamilton 
Wright.  Second  edition.  London  1879.  S.  LXXV 
614.    8°. 

75  +  614  macht  689  Seiten  über  eine  Schrift 
von  14  Gapiteln.  Nach  diesem  Maßstabe  würde 
Jesaja  einen  Gommentar  von  5  Bänden  zu  je 
700  Seiten  beanspruchen  können,  Jeremia  und 
Ezechiel  etwa  4  solcher  Bände  und  so  fort. 
Wenn  das  noch  eine  Weile  so  fort  geht,  werden 
die  altte8tamentlichen  Gelehrten  nur  noch  in 
Bttchersälen  von  beträchtlichem  Umfange  arbeiten 
können  und  die  Exegese  wird  zuletzt  in  ihrem 
eignen  Fette  ersticken.  So  respectabel  das  Ma- 
terial auch  ist,  welches  der  Verf.  in  unermüdli- 
chem Fleiße  zusammengehäuft  hat  —  es  darf 
ihm  nachgesagt  werden,  daß  er  auch  aus  der 
deutschen  Fachliteratur  kaum  eine  Broschüre 
oder  Abhandlung  der  Zeitschriften  von  nur  eini- 
gem Werthe  sich  hat  entgehen  lassen  —  aber 
trotz  alledem,  weshalb  diese  maßlose  Ausführ- 
lichkeit der  Behandlung?  Daß  die  letztere  breit 
sei,  darf  man  nicht  sagen,  denn  es  steckt  überall 
Inhalt  darin,  aber  es  ist  zu  viel  Gründlichkeit. 
Unser  deutscher  Dichter  Karl  Immermann  sagt: 
„auch  in  der  Tugend  halte  Maaßu !  — 

Der  Zweck,  den  unser  Verf.  verfolgt,  ist  wie 
er  in  der  Vorrede  p.  VIII  selbst  sagt,  ein  apo- 
logetischen Dagegen  ist  gar  nichts  einzuwenden, 
zumal  er  wiederholt  versichert,  daß  nicht  Vor- 


702  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  22. 

eingenommenheit,  sondern  anbefangene  Prüfung 
der  Grüude  der  Kritik  ihn  mit  der  Ueberzeugung 
von  der  Unhaltbarkeit  der  letzteren  durchdrungen 
habe.    Auch  ist  es  immerhin  angenehm,  daß  er 
(ibid.  p.  IX)   durchaus  nicht  gewillt  ist,  seine 
Gegner    „Rationalisten"   und   „Ungläubige"    zu 
schelten,  obwohl  man  in  Deutschland  gegen  der- 
gleichen sich  abzuhärten  Gelegenheit  gehabt  hat. 
—  In  der  Einleitung  des  Werks  behandelt  der 
Verf.  in  8  Paragraphen  das  isagogische  Material  : 
die  Fragen  von  der  Persönlichkeit  des  Propheten 
und  den  überlieferten  Nachrichten  über  denselben, 
von  der  etymologischen  Bedeutung  seines  Na- 
mens, von  der  Abfassungszeit  zunächst  der  frühe- 
sten Weissagungen    desselben;   es  wird  sodann 
berichtet  über  die  traditionelle  Ueberlieferung  von 
der  Einheit  des  Buchs,  die  Geschichte  seiner  Kri- 
tik, die  Verschiedenheit  des  ersten  und  der  spä- 
teren Theile  desselben,  woran  sich  sodann  Be- 
trachtungen  zu   Gunsten   der  Einheit  und  der 
Authentie  desselben  schließen;    zuletzt    erfolgt 
eine  fast  erschöpfende  Uebersicht  über  die  wich- 
tigsten der  gegenwärtigen  exegetischen  sprach- 
lichen und  sachlichen  Hülfsmittel  der  Erklärung. 
Wir  fühlen  uns  nicht   veranlaßt,  bei  dieser 
Gelegenheit  das  Material  der  bisherigen  Sacbarja- 
kritik  aufs  Neue  durchzusprechen,  weil  wir  über- 
zeugt sind,  daß  der  bis  jetzt  geführte  Streit  we- 
gen   falscher   Fragestellung  von   beiden  Seiten 
ein  völlig  unfruchtbarer  geblieben  ist.    Unsere 
Ansicht  davon  aber  näher  zu  entwickeln  würde 
um  deswillen  unzeitgemäß  sein,  weil  eben  Bern- 
hard Stade   in   einer  sehr  wichtigen  scharf- 
sinnigen Abhandlung  (Zeitschrift  für  die  alttestl. 
Wissenschft.  Jahrg.  1881.  Heft  1.  p.  1—96)  die 
Frage  angegriffen  hat  in  einer  Weise,  welche  in 
Bezug  auf  die  Schwächen  der  Kritik  unsere  völ- 
lige Zustimmung  hat.    Da  aber  andrerseits  die 


-  1 

I 


Wright,  Zecharifth  and  his  prophecies.         703 

Abhandlung  noch  unvollendet  ist,  läßt  sieh  vor 
der  Hand  noch  nicht  zu  der  Gesammtansicht 
Stade's  Stellung  nehmen  und  insofern  dieselbe 
jedenfalls  ein  neues  Stadium  der  Sacharjakritik 
einleitet,  widerstrebt  es  uns  vorher  Aber  eine 
Sache  hin-  und  herzureden,  die  eben  im  Begriff 
ist  eine  neue  Form  anzunehmen.  — 

Auf  die  Einleitung  folgt  eine  Uebersetzung 
der  Weissagungen  des  Sacharjabuches,  hinsicht- 
lich derer  wir  freilich  nicht  beurtheilen  köunen, 
wie  sie  einem  englischen  Ohre  klingt,  uns  aber 
erschien  sie  angenehm  und  flüssig.  Der  Ueber- 
setzung in  Klammern  erläuternde  Paragraphen 
oder  Zusätze  beizufügen  halten  wir  nicht  für  zu- 
lässig, auch  für  unnöthig,  wenn  ein  so  überaus 
eingebender  Gommentar  folgt.  Ebenso  muß  nach 
unsrer  Ansicht  ein  Uebersetzer  unter  allen  Um- 
ständen zu  einer  festen  Entscheidung  kommen 
und  darf  z.  B.  den  Lesern  nicht  die  Wahl  lassen, 
ob  sie  lesen  wollen  „sie  brachen  aufa  oder  „sie 
wanderten44,  „sie  betrübten44  oder  „sie  unter- 
drückten44 (vgl.  p.  LXV),  „zittern44  oder  „sich 
winden44  (p.  LXIII)  „Sünde44  oder  „Strafe44  tf). 
LXXV),  „kehr  jetzt  zurück44  oder  „bitte  kehr 
zurück  (p.  XLIX)  u.  a.  — 

An  diese  Uebersetzung  schließt  sich  dann  die 
eigentliche  Auslegung  der  Weissagungen,  welche 
in  dreizehn  Kapiteln  von  p.  1 — 522  ausgeführt 
ist  Dieselbe  hat  ihr  Absehen  zunächst  nur  auf 
die  Reproduction  der  prophetischen  Gedanken 
gerichtet  und  nimmt  es  mit  dieser  Arbeit  so  ent- 
setzlich genau,  daß  man  die  Sorgfalt  und  Geduld 
des  Verf.'s  nur  bewundern  kann.  Jeder  der  über 
die  betreffende  Stelle,  von  der  die  Rede  ist,  eine 
Ansicht  geäußert  hat,  wird  ausführlichst  zum 
Worte  zugelassen  und  alle  seine  Gründe  werden, 
selbst  wenn  sie  noch  so  albern  sein  sollten,  ruhig 
angehört    und   einer   eingehenden   Widerlegung 


704  öött.  gel.  Ant.  1881.  Stück  22. 

gewürdigt.  So  bahnt  gioh  der  Verf.  mttiwuo 
seinen  Weg  bis  zur  Aufstellung  seiner  eigenen 
Ansicht.  Diese  erweist  sich  denn  doch  oft  stark 
beeinflußt  durch  die  Gesichtspunkte  der  christü* 
eben  Dogmatik  nnd  es  werden  dadurch  biswei- 
len Voraussetzungen  in  die  Auslegung  hinein- 
getragen, denen  jedenfalls  die  wissenschaftliche 
Grundlage  mangelt.  An  manchen  Stellen  geht 
daher  auch  die  Gedankenausführung  des  Verf.'s 
in  einen  erbaulichen  predigtartigen  Ton  über, 
der  recht  ansprechend  wirkt,  so  lange  man  es 
vergißt,  daß  diese  Dinge  nicht  bewiesen  sind. 
Wir  rechnen  dahin  z.  B.  die  Deutung  von 
c.  12,  10  auf  die  Kreuzigung  Christi  und  alles 
was  der  Verf.  daran  schließt  p.  384 — 398.  — 

Ad  diese  umfangreiche  Sinneserläuterung  wird  dann 
ein  kritischer  und  grammatischer  Commentar  (p.  525— 
598)  angehängt,  welcher  ebenfalls  viel  schätzbares  Mate- 
rial enthält  und  den  Beweis  giebt,  daß  der  Verf.  ernst- 
lich bemüht  gewesen  ist,  seiner  Arbeit  eine  solide  sprach- 
liche Grundlage  zu  sichern.  Er  kennt  unsere  deutschen 
Grammatiker  der  hebräischen  Sprache  ganz  genau;  nur 
irrt  er  nach  unserer  Ueberzeugung  darin,  daß  er  p.  369 
die  Autorität  Büttcher's  der  Ewald 's  gleichstellt. 
Böttcher  ist  ein  sehr  sorgsamer  und  fleißiger  Stati- 
stiker, hat  aber  sehr  wenig  Einsicht  in  Bau  und  Bildung 
der  Sprache.  -  Desgleichen  achtet  der  Verf.  auf  die 
massorethische  Accentuation  und  die  neuesten  kritischen 
Arbeiten  über  dieselbe,  auf  die  Uebersetzungen  und  ihren 
Werth  für  die  Textkritik  —  kurz  dieser  Anhang  ist  reich 
au  belehrenden  Einzelheiten.  —  Den  Schluß  des  Ganzen 
bilden  2  Indices :  der  erste  betrifft  die  behandelten  Schrift- 
stellen, der  zweite  ist  ein  ausführlicher  Nominal-  und 
Realindex,  der  eine  deutliche  Vorstellung  von  der  Menge 
der  in  dem  Buche  behandelten  Gegenstände  hervorruft. 
—  Die  Ausstattung  des  Werks  in  Druck  und  Papier  ist 
yon  der  bekannten  englischen  Solidität  und  Eleganz, 
welche  wir  in  Deutschland  wohl  noch  lange  werden  ent- 
behren müssen. 

Jena.  C.  Siegfried. 

iii        i  i  rr    r    -     i   i-    -     — ■  r  -     ~        -  i  -     -    -  «•^M^a^a^^«*m«^i^MM««M>**> 

Fftr'die  Redaction  rerantwortlich :  F.'Bechtd,  Director  d.  Gott.  gel.  An«. 

Verlag  der  DUUrich'achm  Vtrlaga-  Buchhandlung, 

Druck  dtr  JHtUrich'aektn  Uni*-  Buchdruck**  (  W.  Fr.  Ka*$tn#h 


/ 


706 

Gö  ttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  23.  24.  8.  u.  15.  Juni  1881. 


Inhalt:  A.  Wet  sei,  Die  Translatio  8.  Alexandra  P.  Meyer* 
Die  Fortsetzer  Hermanns  ron  Reichenau.  Von  G.  WaÜz.  —  M.  S* 
Zuckermandel,  Tosefta.  Vom  Verfassm".  —  H.  Grenacher* 
Untersuchungen  über  das  Sehorgan  der  Arthropoden.  Von  Spettgd.  — 
T.  Z  il  1  e  r ,  Allgemeine  philosophische  Ethik.  H.  G i r  a r  d ,  La  Philo- 
sophie scientinque.    Von  Ammann. 

S  Eigenmachtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Die  Translatio  S.  Alexandri.  Eine  kritische 
Untersuchung  von  Dr.  August  Wetzel.  Mit  3  Ta- 
feln. Kiel,  Druck  von  Schmidt  und  Klaunig.  82  und 
7  unpaginierte  Seiten  in  groß  Octav. 

Die  Fortsetzer  Hermanns  von  Reichenau. 
Ein  Beitrag  zur  Quellengeschichte  des  XI.  Jahrhun- 
derts von  Paul  Meyer.  Eingeleitet  von  G.  von  Noor- 
den  (Historische  Studien  viertes  Heft).  Leipzig,  Ver- 
lag von  Veit  et  Comp.    1881.    60  Seiten  in  Octav. 

Gewiß  gebort  was  auf  dem  Gebiet  der  Quel- 
lenkritik, besonders  für  die  Geschichte  des  Mittel- 
alters, in  den  letzten  Decennien  gearbeitet  ist, 
zu  den  erfreulichsten  Leistungen  historischer 
Forschung  überhaupt:  verlorene  Schriften  sind 
wiederhergestellt,  als  unecht  verdächtigte  in  ihr 
Recht  wieder  eingesetzt,  umgekehrt  die  Wert- 
losigkeit anderer  Berichte,  weil  abgeleitet,  nach- 
gewiesen, die  Glaubwürdigkeit  mancher  lieber- 
lieferung  erschüttert  oder  geradezu  vernichtet. 
Aber  es  konnte  freilich  nicht  anders  sein,  als  daß, 
wo  so  viele  verschiedenartige  Kräfte  thätig  wa- 
ren,  wo   namentlich   die  übergroße  Zahl  derer, 

45 


706  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

welche  unsere  historischen  Seminarien  und  Uebun- 
gen  bevölkern,  sich  vielfach  auf  dies  Gebiet  be- 
gab, auch  Auswüchse  und  Verirrungen  mannig- 
facher Art  sich  zeigten,  bald  mit  unzureichen- 
den Kräften  oder  Hülfsmitteln  schwierige  Auf- 
gaben in  Angriff  genommen  wurden ,  bald  das 
Streben  neue  Resultate  zu  gewinnen  zu  künst- 
lichen Annahmen  führte,  oder  übergroßer  Scharf- 
sinn zu  entdecken  glaubte,  was  einer  einfache- 
ren und  unbefangenen  Betrachtung  verborgen 
bleibt. 

Die  beiden  Abhandlungen,  die  oben  genannt 
sind,  scheinen  mir  dazu  neue  Belege  zu  bieten. 

Die  erste  von  Wetzel  behandelt  hauptsäch- 
lich eine  Frage,  die  schon  öfter  Gegenstand  der 
Controverse  gewesen  ist,  ob  die  Angabe  Adams 
von  Bremen  von  einer  Schrift  Einbards  (Egin- 
hards)  über  die  alten  Sachsen,  die  er  benutzt 
haben  will,  Glauben  verdient  oder  auf  einem 
Irrtbum  beruht  und  ihm  nur  die  von  einem  Me- 
ginhard  vollendete,  von  Rudolf  begonnene 
Translatio  S.  Alexandri  vorlag,  in  der  sich  so 
gut  wie  wörtlich  alle  von  Adam  mitgetheilten  Stel- 
len finden.  So  wenig  mich  auch  der  Verf.  von 
der  Richtigkeit  jener  Ansicht  überzeugt  hat,  so 
mag  ich  gerne  zugeben,  daß  sich  darüber  strei- 
ten läßt,  und  würde  am  wenigsten  darin  eine 
Aufforderung  finden,  hier  der  Scbrift  Erwähnung 
zu  thun.  Aber  diese  geht  viel  weiter:  die 
Translatio  S.  Alexandri  ist  nicht  allein  nicht 
die  Quelle  Adams,  auch  nicht  die  Ekkehards, 
sie  ist  nicht  das  Werk  Rudolfs  und  Meginhards, 
sondern  eine  Fälschung  zu  irgend  welchem  ten- 
denziösen Zweck.  Ich  muß  offen  sagen,  daß 
mir  für  weitgebende,  bestimmter  gleichzeitiger 
Ueberlieferung  gegenüberstehende  Behauptungen 
nicht  leicht  schwächere  Gründe,  oder  daß   ich 


Wetzel,  Die  Translatio  S.  Alexandra  707 

offen  ausspreche  was   ich  meine,   grundlosere 
Redewendungen  vorgekommen  sind. 

Eine  Handschrift  unzweifelhaft  des  9.  Jahr« 
hnnderts,  wie  der  Verf.  anerkennt,  enthält  das 
Bnch  sammt  dem  Brief  des  Meginhard  an  den 
Klostergenossen  Snnderold,  in  welchem  er  von 
der  Entstehung  der  Schrift  Nachricht  giebt,  in 
dem  er  erzählt,  daß  Budolf  auf  Bitten  des  Gra- 
fen Waltbert,  der  die  Gebeine  des  h.  Alexander 
nach  Wildesbansen  übertrug,  die  Geschichte  die- 
ser Translation  begonnen,  sie  aber  bei  seinem 
Tode  unvollendet  gelassen,  dann  er,  Meginhard, 
sie  zu  Ende  geführt  habe.  Die  Translation  fand 
nach  den  Ann.  Xantenses  851  statt,  Budolf 
starb  865.  Darüber  heißt  es:  'Wenn  der  ...  . 
Anftrag  überhaupt  glaubhaft  sein  soll,  muß  er 
bald  nach  dem  Jahre  851  gegeben  und  über- 
nommen sein,  doch  dann  sucht  man  wieder  ver- 
gebens nach  einem  Grunde,  weshalb  ein  so  be- 
deutender Mann  wie  Budolf  die  Aufgabe,  welche 
ihm  zu  Tbeil  geworden  war  und  für  ihn  nicht 
gar  schwierig  sein  konnte,  in  fast  siebzehn  Jah- 
ren nicht  zu  Ende  geführt  habe.  Das  ist  ge- 
radezu unglaublich,  die  Erzählung  von  einer 
Beauftragung  Budolfs,  wie  Meginhard  sie  uns 
überliefert,  kann  nicht  wahr  sein;  Budolf  hat 
nie  eine  historia  translations  S.  Alexandri  be- 
gonnen'. Es  dürfte  überflüssig  sein,  ein  Wort 
hinzuzufügen,  zu  fragen,  wie  man  wissen  kann, 
wann  Graf  Waltbert,  der  im  nördlichen  Sachsen 
lebte,  den  Mönch  Budolf  in  Fulda  kennen  lernte 
und  sich  von  ihm,  dem  namhaften  Autor,  eine 
Erzählung  der  Translation  und  der  Wunder  er- 
bat, oder  ob  etwa  alle  Arbeiten  der  Art  unmit- 
telbar nach  dem  Ereignis  verfaßt  sind,  ob  es 
damals  aller  Orten  Männer  gab,  die  in  jedem 
Augenblick  eine  solehe  ausführen  konnten.  Statt 

45* 


708  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  23. 24. ' 

alles  dessen  ist  einfach  zu  sagen,  daß  es  aner- 
laubt ist,  mit  solchem  Gerede  positive  Nachrich- 
ten anzufechten. 

Am  Bande  des  Codex  steht,  ebenfalls  von 
einer  ganz  gleichzeitigen  Hand,  die  Notiz  'Hucus- 
que  Buodolf.  Der  Verf.  erwähnt  mit  keinem 
Wort  die  ganz  entsprechenden  Bemerkungen 
einer  Handschrift  der  Annales  Fuldenses:  'Huo- 
usque  Enhardus,  Hucusque  Buodolfus',  wirft  nur 
die  Aeußerung  hin,  daß  auch  die  Autorschaft 
Budolfs  für  die  Annalen  zweifelhaft  sei.  Er 
behauptet  aber,  daß  Meginhard,  den  er  als  Au- 
tor des  Briefes  gelten  läßt,  von  dieser  Notiz 
nichts  gewußt.  Grund :  Meginhard  giebt  von 
der  (nach  dem  Verf.  angeblichen  Arbeit  Budolfs) 
den  Inhalt  an  und  sagt  zuletzt:  novissime  au- 
tem  asserens,  quomodo,  abjecto  demonum  cultu 
et  acceptis  predica  tori  bus  Christi,  ad  veram  et 
catholicam  christianamque  religiunem  se  conver- 
terint. Dem  ganz  entsprechend  schließt  Budolfs 
Erzählung  mit  der  Bekehrung  der  Sachsen,  wo- 
bei sie  speciell  die  Taufe  Widukinds  hervorhebt 
Daß  Meginhard  dies  nicht  auch  in  dem  Briefe  an- 
geführt, findet  der  Verf.  von  einschneidender  Be- 
deutung. 4Wenn  Budolf  nach  der  Ansicht  des 
Briefschreibers  diesen  Satz  verfaßte,  so  mußte  (!) 
derselbe  ihn  auch  in  seinem  Resume  wieder- 
geben'. Meginhard  erscheint  ihm  auch  sonst 
als  arger  Lügner.  Er  hat  ebensowenig  wie 
Budolf  das  Mandat  erhalten,  eine  Translatio  S. 
Alexandri  zu  schreiben  (S.  80).  In  der  That 
sagt  er  das  auch  nirgends.  Aber  er  hat  auch 
'ein  von  Budolf  im  Auftrage  des  Grafen  Walt- 
bert begonnenes  Werk  nicht  vollenden  können9. 
Und  das  sagt  er  allerdings.  Grund:  'Hätte  er 
das  von  Budolf  unerfüllte  Mandat  ausgeführt, 
so   hätte  er  die  beendete  Arbeit  nicht  Sundrolt, 


Weteel,  Die  Translatio  S.  Alexandri.  700 

sondern  dem  Grafen  mit  einer  Widmung  über- 
senden müssen'  (!).  Er  durfte  also  nicht,  wie 
er  in  seiner  bescheidenen  Epistel  that,  das  von 
ihm  vollendete  Werk  dem  gemeinsamen  Freunde 
zur  Prüfung  vorlegen.  Weiter :  'die  Widmung  an 
Snndrolt  kann  nicht  wahr  sein  (!),  weil  diesem, 
der  selbst  in  Fulda  lange  gewesen  (er  war  ohne 
Zweifel  noch  da,  vgl.  S.  24),  mit  Rudolf  be- 
kannt, die  Beauftragung  des  letzteren  nicht  vor- 
gespiegelt werden  konnte'.  Gewiß  nicht.  Aber 
daraus  wird  eine  Kritik,  die  nicht  blos  zweifeln 
und  negieren  will,  ganz  andere  Folgerungen 
ziehen. 

Nur  einen  Punkt  mag  ich  hier  noch  berüh- 
ren, die  Behauptung,  daft  Ekkehard  die  Trans 
latio  nicht  benutzt,  sondern  das  angebliche  Werk 
des  Einhard.  Ganz  klar  scheint  dem  Verf.  die 
Sache  freilich  nicht  gewesen  zu  sein.  S.  77 
wird  ausgeführt,  daß  Ekkehard  nicht  die  uns 
erhaltene  Handschrift  gehabt.  Und  damit  kann 
man  ja  einverstanden  sein,  kann  dafür  selbst 
anführen,  daß  der  Name  des  Klosters  sich  bei 
ihm  in  einer  etwas  anderen  Form  findet  als  in 
dem  Codex  ('Wigaltingohuson'  statt  'Wigalding- 
hu8'),  und  daß  es  nicht  recht  wahrscheinlich 
ist,  daß  er  eine  solche  Veränderung  vorgenom- 
men. Aber  durchaus  nicht  beistimmen  kann 
man,  wenn  nun  jene  Annahme  sich  in  die  davon 
ganz  verschiedene  verwandelt:  'er  hat  unsere 
Transl.  nicht  gekannt',  und  fast  komisch  klingt 
es,  wenn  es  dabei  (S.  77)  heißt,  man  dürfe  'nicht 
annehmen,  daß  er  den  Ort  unter  den  Wunder- 
geschichten sollte  entdeckt  haben'.  Wie  nahe 
Ekkehards  Text  doch  gerade  mit  dieser  Hand- 
schrift zusammenhängt,  hat  der  Verf.  durch  eine 
Mittheilung  gezeigt,  die  ich  nicht  anstehe  für 
das  Werthvollste  dieser  ganzen  Publication   zu 


710  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  28.  24. 

erklären.  Beim  Ekkehard  (S.  178,  Z.  72  meiner 
Ausgabe)  findet  sich  eine  Stelle  dem  Text  der 
Transl.  S.  Alexandri  eingefügt,  deren  Quelle  ich 
nicht  mit  Sicherheit  anzugeben  vermochte,  auf 
Einbards  Vita  und  Annalen  verweisend.  Nun 
berichtet  Hr.  Wetzel,  der  die  Hannoversche 
Handschrift  genau  untersucht  hat,  daß  zu  An- 
fang eine  ganz  entsprechende  Stelle  nachge- 
tragen, durch  ein  beigefügtes  Zeichen  aber  eben 
dorthin  gezogen  ist,  wo  Ekkehard  sie,  nur  mit 
ein  paar  kleinen  Aenderungen,  giebt.  Wenn 
nun  auch  Adam  in  demselben  Zusammenhange 
diesen  Abschnitt  oder  einen  sehr  ähnlichen  in 
seiner  Quelle  vorfand,  so  wird  man  darin  nur 
einen  Beweis  mehr  sehen,  daß  auch  Adam  die 
Transl.  henutzte,  während  der  Verf.  freilieh 
schließen  will,  daß  die  Stelle  schon  in  der  an- 
genommenen gemeinsamen  Quelle,  Einbards  Gesta 
Saxonum,  gestanden  habe,  und  nur  in  der 
Translatio  anfangs  übergangen  sei,  wobei  er 
aber  selbst  behauptet,  daß  sie  in  der  Transl. 
an  einen  falschen  Platz  gerathen,  d.  h.  aber 
gerade  den,  wo  auch  Ekkehard  sie  bringt.  Von 
diesem  heißt  es  vorher,  nachdem  in  4  Columnen 
sein  Text  mit  dem  von  Einhards  Vita  Karoli, 
der  Translatio  und  Adams  zusammengestellt  ist: 
'Wenn  Ekkehard,  bald  von  der  Transl.  abwei- 
chend mit  Adam  oder  mit  Einhard  oder  mit 
beiden  übereinstimmt,  bald  mit  der  Transl.  von 
einem  von  ihnen  oder  beiden  sich  entfernt,  oder 
eine  von  allen  drei  Schriftstellern  verschiedene 
Lesart  bietet,  und  wie  die  Möglichkeiten  alle 
heißen,  die  man  aus  den  neben  einander  ge- 
stellten Texten  entnehmen  möge'.  Die  Wahr- 
heit ist  aber,  daß  in  den  ersten  11  Zeilen,  ab- 
gesehen von  einem  Druckfehler,  Ekkehards  Text 
sich  von  der  Translatio  nur  dadurch  unterschei- 


Wetzel,  Die  Translatio  S.  Alexandra  711 

det,  daß  er  'ARriae'  statt  'AUris'  schreibt,  was 
kein  anderer  Text  thut,  und  'suhlaUs*  wegläßt. 
Dann  fährt  derselbe  fort:  tractumque  per  tot 
annos  bellum  ea  conditione  constat  esse  finitum, 
and  berührt  sich  hier  mit  Adam,  der  schreibt: 
Tractumque  per  tot  annos  bellum  ita  constat 
esse  finitum,  während  die  Translatio,  überein- 
stimmend mit  der  Vita,  bat:  Eaque  conditione 
a  rege  proposita  et  ab  illis  suscepta  tractum 
per  tot  annos  bellum  constat  esse  finitum.  Dies 
'Tractumque'  ist  der  einzige  Grund ,  weshalb 
Ekkehard  die  Translatio,  wie  sie  vorliegt,  nicht 
benutzt  haben  soll.  In  der  That  ist  hier  die 
Warnung  am  Platz,  die  andere  früher  ausge- 
sprochen und  wohl  nur  zu  weit  ausgedehnt  ha- 
ben, nicht  auf  ein  oder  ein  paar  Worte  Ver- 
wandtschaften zu  gründen.  Uebrigens  bleibt 
Ekkehards  Quelle  beim  Verf.  im  Dunkeln,  da  er 
denn  doch  Bedenken  trägt,  ihn  aus  Einhards 
Gesta  schöpfen  zu  lassen,  vielleicht  schon  des- 
halb, weil  er,  der  'sich  nicht  scheut  seine  Quel- 
len zu  nennen',  schreibt  'invenimus  autem  in 
scriptis  cuiusdam'.  Es  soll  ein  Grund  mehr  für 
die  Annahme  sein,  daß  er  nicht  unsere  Hand 
schrift  benutzt,  wo  Rudolfs  und  Meginhards 
Name  zu  lesen  war. 

Ueber  diese  handelt  der  Verf.  sehr  eingehend, 
und  macht  über  die  Schrift  verschiedener  Hände 
Angaben,  die  von  denen  Pertz's  etwas  abwei- 
chen, die  sich  aber  auch  an  den  mitgetheilten 
3  Tafeln  Facsimile  nicht  mit  voller  Sicherheit 
prüfen  lassen.  Richtig  und  bemerkenswerth 
scheint  die  Angabe,  daß  die  den  Eingang 
von  Meginhards  Text  bildenden  Worte:  'Igitur 
predicti  Witukindi  filius  nomine  Wibrecht'  auf 
Rasur  stehen,  ob  sie  aber  von  einer  anderen 
Hand  als  der,  welche  das  Folgende  geschrieben, 


712  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  25.  24. 

fierrtthren,  ist  nicht  ganz  deutlich.  Auch  ein 
paar  Berichtigungen  zu  dem  von  Pertz  gege- 
benen Text  (S.  11)  mögen  Beachtung  finden; 
nur  durfte  freilich  Tab.  I,  3,  Z.  2  nicht  'vilissi- 
mis'  gelesen  werden,  da  sich  hier  eine  Ligatur 
findet,  die  auch  einem  Anfänger  in  der  Paläo- 
graphie  geläufig  sein  sollte. 

Ich  kann  diese  Anzeige  nur  mit  dem  Wunsche 
schließen,  daß  der  Verf.  in  Zukunft  sich  weni- 
ger in  Worten  gehen  lasse,  auch  weniger  ent- 
schieden auftreten  möge  (S.  57  dreimal:  'ist 
der  Satz  entschieden  nicht  an  seinem  Platze'; 
'der  Verfasser  des  Werks  bat  ihn  entschieden 
nicht  dahin  gesetzt';  'so  hätte  er  entschieden 
einen  kaum  minder  unpassenden  dafür  gewählt'), 
und  daß  er,  ehe  er  die  mehrfach  in  Aussicht 
gestellten  weiteren  Untersuchungen  vornimmt, 
seinen  Fleiß  und  Scharfsinn  in  ersprießlicherer 
Weise  verwenden  lerne,  als  ihm  dieser  Schrift 
nach  zu  urtheilen  bisher  Gelegenheit  gewor- 
den ist. 

Noch  anderer  Art  ist  die  zweite  der  oben 
genannten  Abhandlungen,  und  wenn  ich  glaube 
auch  an  ihr  gewisse  Mängel  hervorheben  zu 
müssen,  so  liegen  sie  auf  einem  verschiedenen 
Gebiete.  Hat  Hr.  Wetzel  wenigstens  keine 
Mühe  sich  verdrießen  lassen,  um  die  gestellte 
Aufgabe  zu  lösen  und  sich  mit  denen,  die  früher 
über  den  Gegenstand  gehandelt,  weitläuftig  ge- 
nug auseinandergesetzt,  so  vermißt  man  bei 
Hrn.  Meyer  eine  hinreichende  Kenntnis  des 
Materials.  Er  polemisiert  eifrig  und  wie  ich 
meine  in  nicht  gebührlicher  Weise  gegen  eine 
frühere  Dissertation  von  Schulzen  über  die- 
sen Gegenstand  (S.  30.  32.  33).  Aber  er  nimmt 
doch  einfach  aus  diesem  die  Ansicht  herüber, 
daß  mit  dem  J.  1066  eine  erste  Fortsetzung  des 


Meyer,  Die  Fortsetier  Hermanns  you  Reichenau.    713 

Hermann  abgeschlossen  sei,  während  nichts  vor- 
liegt, als  daß  der  von  dem  ersten  Heraasgeber 
benutzte  Codex  Sangallensis  hier  defect  mit- 
ten im  Satze  abbrach,  und  Pertz  und  Giese- 
brecht  unzweifelhaft  richtig  denselben  Autor 
auch  in  den  folgenden  von  andern  Handschrif- 
ten überlieferten  Jahren  erkennen.  Wohl  nur 
Schulzen  kann  die  Meinung  entlehnt  sein, 
daß  Urstisius  diesen  Codex  gekannt  habe,  wäh- 
rend derselbe  sehr  bestimmt  seine  Handschrift 
aus  St.  Georg  im  Schwarzwald  dem  Text 
Sichard's  gegenüberstellt  Es  ist,  nachdem 
Pertz  die  Sangaller  Ueberlieferung  und  die 
anderer  Handschriften  nicht  genug  geschieden, 
ganz  berechtigt,  diesen  Text  für  sich  zum  Ab- 
druck zu  bringen ;  dasselbe  soll  in  dem  13« 
Bande  der  Scriptores  geschehen.  Man  muß  aber 
da  auf  die  Editio  princeps  des  Sichard  zurück- 
gehen. Statt  dessen  citiert  Hr.  Meyer  eine 
vom  J.  1579,  von  deren  Dasein  ich  bisher  nichts 
gewußt,  auch  nirgends  etwas  gefunden  habe. 
Dieselbe  hat  ihn  zu  nicht  wenigen  Irrthümern 
in  den  Angaben  über  Sichard's  Lesarten  ge- 
führt. Die  Noten  S.  44,  4  und  9  S.  45,  1.  6 
und  8  S.  46,  8.  9.  10.  11  S.  47  sind  unrichtig; 
anderes  was  Sichard  wirklich  hat  ist  nicht 
angeführt. 

Den  Hauptinhalt  der  Schrift  bildet  der  Be- 
weis, daß  die  sogenannte  Compilatio  Sanblasiana 
nicht  aus  Bernold  geschöpft,  sondern  von  Ber- 
nold  ausgeschrieben  sei.  In  der  Hauptsache  ist 
das  aber  nur  dasselbe,  was  längst  Schulzen 
und  Giesebrecht  nachgewiesen,  nur  daß  je- 
ner unbestimmt  von  Cont.  IL  spricht,  dieser  an 
dem  Namen  des  Berthold  festhält.  Hr.  Meyer 
verwirrt  aber  die  Sache  dadurch,  daß  er  diese 
bald  auch  von  ihm  als  Cont.  IL,  bald  als  Com- 


714  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stock  23.24. 

pilatio  Sanblasiana  bezeichnete  Arbeit  als  ein 
einheitliches  Ganzes  ansiebt  nnd  die  Interpola- 
tionen verkennt,  die  schon  Giesebrecht  nach- 
gewiesen hat,  nnd  die  sich  bei  eingehender  Un- 
tersuchung ohne  Zweifel  noch  zahlreicher  heraus- 
stellen werden.  Ich  mache  nnr  auf  das  J.  1071 
aufmerksam,  wo  die  Worte:  Et  si  buiusmodi 
sententia  nondum  consecratum  exspectat  et 
damnatum  (?),  sich  gar  nicht  an  das  Vorher- 
gehende anschließen,  1073,  wo  der  Ausdruck 
'duces  praedictos*  gar  keine  Beziehung  hat,  die 
Schlußworte:  coepit  in  dies  parvipendere  ini- 
micitias  adversarionum  suorum,  gar  nicht  zum 
Anfang  des  folgenden  'quamvis  in  maximis  peri- 
culis  et  angustiis'  passen,  enthalte  mich  aber  hier 
näher  auf  die  Sache  einzugeben,  da  ich  anderswo 
Gelegenheit  habe,  ausführlicher  hierüber  zu 
handeln.  Sicher  bat  der  Verf.  keinen  Grund 
von  einer  Irransicht  Giesebrecht's  zu  sprechen 
oder  sich  des  'von  mir  heute  errungenen  Er- 
gebnisses' zu  rühmen. 

Indem  er  von  solchen  ich  sage  noch  lieber 
Zusätzen  als  Interpolationen  der  Gompilatio 
Sanblasiana  nichts  wissen  will,  entzieht  er  sich 
auch  die  Möglichkeit,  in  dem  späteren  viel  aus- 
führlicheren Theil  einzelne  hier  ohne  Zweifel 
wirklich  aus  Bernold  übernommene  Einschiebsel 
zu  erkennen,  und  er  kommt  dadurch  zu  dem 
Resultat,  daß  dieser  seinerseits  das  ganze  Werk 
der  Handschriften,  die  aus  St.  Blasien  stammen, 
benutzt,  also  erst  in  den  80er  Jahren  geschrie- 
ben habe,  was  er  gegen  Pertz's  auf  die  Mün- 
chener Handschrift  gestützte  Annahme  darzu- 
thun  versucht.  Die  Sache  liegt  aber  in  Wahr- 
heit so,  daß  eine  nähere  Verwandtschaft  zwi- 
schen beiden  Werken  sich  nur  bis  zum  J.  1074 
zeigt,  eben  wo  auch  nach  Pertz  (S.  385  N.  7) 


Meyer,  Die  Fortaetzer  Hermanns  von  Reichenau.    715 

in  der  Mönchener  Handschrift  des  Bernold  de- 
finitiv die  gleichzeitige  Fortführung  beginnt. 
(Nur  der  erste  Satz  der  Fortsetzung,  der  letzte 
d.  J.  1074  über  den  Markgrafen  Hermann  geht 
noch  auf  ßertbold  zurück,  steht  hier  aber  1073 
und  konnte  leicbt  von  Bernold  etwas  später 
nachgetragen  werden).  Damit  ist  auch  die  aus 
dem  J.  1073  angeführte  Stelle  über  Papst  Gre- 
gor nicht  in  Widerspruch ;  sie  beweist  höchstens, 
daß  dies  Jahr  und  1074  erst  1075  geschrieben 
sind,  eine  Annahme,  der  absolut  nichts  entgegen- 
steht. Wenn  Hr.  Meyer  aber  behauptet,  daß 
im  Papstkatalog  die  Worte  über  die  Dauer  des 
Pontificats  Gregors  —  1085  in  der  Original- 
handschrift von  derselben  Dinte  seien  wie  das 
Vorhergehende,  so  wird  er  gestatten,  daß  ich  in 
solchen  Dingen  mehr  Pertz,  der  das  Gegen- 
tbeil  sagt,  als  ihm  vertraue.  Und  hätte  er 
Recht,  so  würde  das  Gewicht  dieses  Arguments 
ja  dadurch  aufgehoben ,  daß  er  gleich  hinzu- 
fügt und  aus  der  Beschaffenheit  der  Handschrift 
zu  erweisen  sucht,  daß  der  Papstkatalog  sicher 
nach  dem  vorläufigen  Schluß  der  Chronik  abge- 
faßt ist.  Es  ist  also  kein  Grund,  Bernold  nicht 
seit  dem  J.  1075  an  seinem  Werke  arbeiten  zu 
lassen.  Eben  mit  diesem  ändert  sich  aber  auch 
der  Charakter  des  bisher  dem  Berthold  zuge- 
schriebenen Werkes:  es  wird  viel  ausführlicher, 
es  ist  in  einem  dem  König  viel  feindlicheren 
Geiste  geschrieben.  Daß  derselbe  Autor  in  et- 
was späterer  Zeit  sein  Werk  so  fortsetzen  konnte, 
läßt  sich  nicht  in  Abrede  stellen.  Aber  berech- 
tigt wäre  die  Annahme  wohl,  daß  hier  ein  an- 
derer Verfasser  eingetreten  sei.  Und  hätte  die 
Vermuthung  des  Verf.s,  daß  ein  Gisilbert,  der 
nach  Bernold  1080  als  Gesandter  K.  Rudolfs 
starb,   bei   dem  Werke    betheiligt   gewesen,    ir- 


716  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  23.  24. 

gend  welchen  weiteren  Anhalt,  so  könnte  man 
sie  vielleicht  hier  in  Betracht  ziehen.  Doch  ist 
sie  zu  weit  von  'völliger  Sicherheit'  entfernt, 
als  daß  man  näher  darauf  eingeben  möchte. 
Mit  Schulzen  aber  dem  Bernold  auch  das 
ganze  Werk  —  1080,  oder  auch  nur  einen  Theil 
zuzuschreiben,  ist  freilich  ganz  unmöglich.  Es 
muß  also  dabei  bleiben,  daß  es  Berthold  war, 
welcher  nach  dem  Zeugnis  des  Mellicensis  de 
SS.  eccl.  c.  92  und  cod.  Murensis  (SS.  V,  S.  263 
N.  14)  die  Chronik  des  Hermann  fortsetzte,  daß 
wir  aber  sein  Werk  nirgends  in  reiner  Gestalt 
besitzen,  im  verschollenen  Cod.  Sangallensis  bis 
1066  wenigstens  wahrscheinlich  in  einer  etwas 
abgekürzten  Fassung,  in  den  aus  Sanct  Blasien 
stammenden  Handschriften  mit  Zusätzen  ver- 
sehen, im  Bernold  excerpiert. 

In  der  vorliegenden  Schrift  sind  außer  dem 
schon  erwähnten  Sangaller  Text  auch  der  aus 
St.  Blasien  stammende  —  1066,  der  Bernolds 
—  1076  abgedruckt.  Für  den  letzteren  konnte 
der  Verf.  den  Müncbener  Codex  benutzen,  für 
jenen  ist  auch  die  Pertz  noch  nicht  bekannte 
Wiener  Handschrift  3399  in  der  Vorbemerkung 
angeführt,  ich  finde  aber  keine  einzige  Lesart 
unter  den  Varianten,  und  auch  aus  der  jünge- 
ren 7245  nichts,  was  nicht  bei  Pertz  stünde, 
so  daß  Hrn.  Meyer  schwerlich  etwas  weiteres 
zu  geböte  stand,  was  wohl  hätte  angeführt  wer* 
den  sollen.  Auch  sagt  er  nicht  richtig,  daß 
Wattenbach  3399  mit  der  früher  Göttweiber 
Handschrift  Mdentificiere' ;  denn  es  heißt  nur, 
daß  beide  'vielleicht'  identisch  seien.  Etwas 
mehr  Vorsicht  und  Bescheidenheit  wäre  auch 
diesem  Autor  zu  wünschen. 

G.  Waitz. 


Zuckermandel,  Tosefta.  717 

Tosefta  nach  den  Erfurter  und  Wiener  Handschriften 
mit  Parallelstellen  und  Varianten  herausgegeben  von 
Dr.  M.  S.  Zuckermandel.  Beim  Verfasser,  jetzt 
in  Trier  und  in  Commission  bei  A.  Schnurr  Pasewalk. 
1880.    690  und  7  S.    8°. 

Der  Aufforderung  des  geehrten  Professors 
Herrn  Paul  de  Lagarde  ein  Referat  über  meine 
Tosefta-Ausgabe  zu  machen  und  mich  hierbei 
über  die  Stellung  von  Tosefta  in  der  talmudi- 
sehen  Literatur,  über  das  Verhältniß  derselben 
zur  Mischna  nach  der  gewöhnlichen  Annahme 
und  nach  meiner  Auffassung  auszusprechen,  die 
Ausgaben,  Handschriften  und  ihr  Verhältniß  zu 
einander  anzugeben,  komme  ich  um  so  bereit- 
williger nach,  als  Herr  Professor  de  Lagarde, 
welcher  die  Erfurter  Handschrift  aus  Autopsie 
kennt  (vgl.  s.  Symmicta  154  und  m.  Erfurter 
Handschrift  S.  3)  einer  der  ersten  war,  (s.  den 
Prospect),  welcher  das  lebhafteste  Interesse  für 
Herausgabe  des  Werkes  an  den  Tag  legte  und 
dieses  Interesse  fortdauernd  bis  zum  Schluß 
bewährte,  mir  nicht  nur  manchen  trefflichen 
Rath  ert heilte,  sondern  auch  durch  die  Theil- 
nahme,  die  er  mir  fortwährend  bewies,  mich  er- 
muthigte  in  den  Schwierigkeiten  auszuharren, 
so  daß  ich  ihm  zu  aufrichtigem  Danke  verpflich- 
tet bin.  Abgesehen  von  diesem  persönlichen 
Verhältnisse  kann  es  für  Wissenschaft  und  Re- 
ligion nur  förderlich  sein,  wenn  an  Stelle  der 
verworrenen  Begriffe  über  den  Talmud  auf  un- 
parteiischer Forschung  ruhende  Resultate  treten 
und  zur  Klärung  beitragen. 

Mögen  diese  Zeilen  dies  bewirken! 

Mancher  Leser  wird  das  Wort  Tosefta 
(«riDcin)  —  über  die  Schreibung  des  Wortes 
habe  ich  in  Rahmers  „Jüdisches  Literaturblatttf 
1876  N.  14  gehandelt  —  welches  zu  deutsch  so 


718  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  28.24. 

viel  bedeutet  als  „Zusatz"  und  den  Titel  eines 
Codex  der  talmudischen  Literatur  bildet,  noch 
nie  gehört  haben.  Aber  er  wird  sich  beruhigen, 
Wenn  er  aus  unserer  Darstellung  erfährt,  daß 
Alles,  was  bis  jetzt  überhaupt  über  Namen, 
Zweck,  Zeit  der  Entstehung  dieses  Werkes  an- 
genommen wurde,  nicht  auf  Zuverlässigkeit  An- 
spruch machen  kann,  daß  nach  der  These,  die 
ich  hierüber  aufgestellt,  alle  Schwierigkeiten 
sich  lösen.  Durch  dieselbe  erhält  der  Codex 
einen  viel  höheren  Werth,  als  er  ihm  bis  jetzt 
beigelegt  wurde.  Er  ist  nämlich  —  um  es 
gleich  hier  kurz  zu  sagen  —  nach  meiner  Ueber- 
zeugung  der  Rest  des  ältesten  Werkes  aus  der 
talmudischen  Literatur  der  palästinischen  Mischna, 
Religions-Gesetzes-Codex.  Dieser  meiner  Ueber- 
zeugung  verdankt  der  Codex  meine  Ausgabe 
nach  den  bis  jetzt  ältesten  Handschriften  ans 
der  talmudischen  Literatur. 

Man  ging  früher  mit  falschen  literarhistori- 
schen Voraussetzungen  an  die  Erklärung  der 
einander  widersprechenden  Stellen  der  talmudi- 
schen Literatur,  man  wußte  nicht,  daß  Lebens- 
verhältnisse, Rechtsanschauungen  und  andere 
Begriffe  wechseln,  man  mußte  daher  zu  unhalt- 
baren Ausgleichungen  gelangen.  Weist  man 
Tosefta  und  Mischna  die  ihnen  zukommende 
Stellung  an,  nimmt  man  mit  meiner  These  an, 
Tosefta  stamme  aus  Palästina,  die  Mischna  ans 
Babylonien,  so  lösen  sich  die  Widersprüche 
leicht. 

Ich  will  nun  versuchen,  dem  mit  der  talnra- 
dischen  Literatur  Unbekannten  ein  Bild  von 
dem  Werthe  unseres  Werkes  zu  geben,  will  von 
seinen  äußeren  Schicksalen  zu  seinem  Wesen 
übergehen  und  dann  von  den  Handschriften, 
ihrem   Verhältnisse   zu    einander  und  zur  Aas- 


Zuckermandel ,  Tosefta.  719 

gäbe  sprechen,  wodurch  sich  der  Werth  meiner 
Ausgabe  wird  erkennen  lassen. 

Wie  Menschen  oft  verkannt  werden,  ja  wie 
manchmal  ein  Kind  von  den  eigenen  Eltern 
stiefmütterlich  bebandelt  wird,  so  haben  Bücher 
das  Schicksal,  lange  Zeit  bei  Seite  geschoben 
zn  werden  und  unberücksichtigt  zu  bleiben. 
Aber  die  nach  Wahrheit  suchende  Geschichte 
rettet  das  Ansehen  unverdient  zurückgesetzter 
Personen  und  zieht  verkannte  Bücher  aus  dem 
Dunkel  an's  Tageslicht.  Ein  solches  Schicksal 
lange  Zeit  unbeachtet  geblieben  zu  sein,  hatte 
das  talmudische  Werk,  welches  den  Namen  To- 
sefta trägt. 

Wenn  man  viele  berühmte  Talmudisten  aus 
den  letzten  Jahrhunderten,  welche  sämmtliche 
Folianten  des  babylonischen  Talmuds  im  Kopfe 
hatten,  so  daß  sie  über  jede  Stelle  desselben  mit 
der  Unzahl  von  Gommentaren  genaue  Auskunft 
geben  konnten,  nach  Stellen  aus  Tosefta  gefragt 
hätte,  sie  würden  schwerlich  haben  Bescheid 
geben  können.  Es  gab  nur  Wenige  —  sie  sind 
zu  zählen,  —  welche  sich  mit  Tosefta  befaßten, 
so  B.  David  Pardo  (vgl.  m.  Artikel  in  Babmer's 
Literaturblatt  1877  N.  36).  Diese  Vernachlässi- 
gung von  Seiten  der  Lernenden  zeigt  sich  auch 
in  den  Ausgaben.  Während  der  babylonische 
Talmud  an  sechzigmal  gedruckt  wurde,  (vgl. 
Babbinowitz  „über  die  Drucke  des  Talmud") 
ist  Tosefta  separat  gar  nicht,  sondern  als  An- 
hängsel^  dem  Werke  des  B.  Isaac  Alfasi  (st 
1003)  beigedruckt,  in  der  Weise,  daß  hinter  je- 
dem Traktat  des  Alfasi  der  gleichnamige  To- 
sefta-Traktat  folgte,  wodurch  die  Ordnungen 
und  Traktate  von  Tosefta  auseinander  gerissen 
wurden.  Von  den  elf  Ausgaben  des  Alfasi  von 
1509—1840  enthalten  neun  Tosefta  (vgl.  meine 


720  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  28.24. 

Erfurter  Handschrift  S.  108,  Wiener  Tosefta 
Codex  S.  13  Anm.  2),  aber  alle  sind  unverän- 
derte Abdrücke  der  ersten  Ausgabe  mit  allen 
Lücken  und  Fehlern.  Während  jede  neue  Tal- 
mudausgabe mit  neuen  Zuthaten,  Erklärungen 
oder  Emendationen  versehen  wurde,  giebt  die 
nackt  hingestellte  Tosefta  ein  Bild  der  Vernach- 
lässigung, die  ihr  zu  Theil  wurde.  Im  vorigen 
Jahrhundert  (1720—1740)  lebte  in  Wilna  ein 
Mann  Namens  R.  Eliah  Wilna,  ausgestattet  mit 
seltener  Geisteskraft  und  kritischem  Scharfblick, 
eine  Erscheinung,  welche  die  Bewunderung  der 
jüdischen  Welt  auf  sich  zog.  Er  erklärte  den 
Talmud  mit  einer  zu  seiner  Zeit  beispiellosen 
Kühnheit.  Er  setzte  sich  —  was  keiner  seiner 
Zeitgenossen  gewagt  hätte  —  über  die  Erklä- 
rungen der  Alten  o^a-ircan  —  hinweg,  und  was 
besonders  in  Staunen  setzte,  er  emendierte  die 
Texte  der  alten  Codices  mit  einem  seltenen 
Freimuth  und  zeichnete  sich  außerdem  von  den 
anderen  Talmudisten  dadurch  aus,  daß  er  die 
bis  dahin  unbeachtete  Tosefta  gründlich  stu- 
dierte und  mit  Emendationen  versah.  Auf  seine 
Anregung  wurde  auch  das  Toseita-Studium  be- 
trieben, so  daß  einzelne  Ordnungen  derselben 
mit  Commentaren  gedruckt,  aber  nicht  zu  Ende 
geführt  wurden  In  der  1870  zu  Wilna  erschie- 
nenen Ausgabe  des  Alfasi  wurde  zwar  Tosefta 
ganz  mit  dem  Gommentare  von  R.  Samuel 
Abigdor  gedruckt,  aber  die  Traktate  wieder  wie 
früher  auseinandergerissen.  Der  Text  blieb  der 
alte  und  die  Emendationen  R.  Eliah  *  Wilna's 
enthalten  unter  vielen  vortrefflichen  meist  Ver- 
besserungen nach  dem  babylonischen  Talmud. 
In  den  dreißiger  Jahren  kaufte  die  kaiserliche 
Bibliothek  in  Wien  eine  Tosefta  Handschrift 
(vgl.  m.  Wiener  Tosefta  Codex  S.  15  Anm.  3)  und 


Zuckermandel,  Tosefta»  721 

die  Bekanntmachung  derselben  im  Kataloge  von 
Krafft  und  Deutsch  machte  Aufsehen  in  den  be- 
treffenden Gelehrtenkreisen.  Sie  stammt  ans 
dem  13.  Jahrhundert  (s.  m.  Erf.  Handschr.  S.  100). 
Die  Lücke  der  Ausgaben  wurde  nach  der  Hand- 
schrift iu  dem  Buche  nnett  von  Goldenthal  ver- 
öffentlicht und  in  der  zu  Wien  1870  erschiene- 
nen Talmudansgabe  wurde  Tosefta  mit  den  Va- 
rianten der  Wiener  Handschrift  abgedruckt  Da 
die  Herausgeber  aber  von  der  modernen  Kritik 
Nichts  verstanden,  so  hat  diese  Ausgabe,  abge- 
sehen davon,  daß  sie  wieder  in  den  alten  Feh- 
ler des  Auseinanderreißens  des  Codex  verfiel, 
auf  wissenschaftlichen  Werth  keinen  Anspruch. 
Die  Herausgeber  haben  ganz  subjektiv  die  ihnen 
der  Beachtung  werthen  Varianten  aus  der  Hdschr. 
unter  Beibehaltung  des  alten  corrumpierten  Tex« 
tes,  in  den  Noten  gegeben,  die  anderen  einfach 
ausgelassen.  Das  Tosefta-Studium  wurde  da- 
durch wenig  gefördert.  Nach  wie  vor  wird  vom 
Gros  der  Tal  mud  is  teo  der  Talmud  in  alter  Weise 
betrieben  und  Tosefta  wenig  berücksichtigt 
Der  Grund  dieser  Vernachlässigung  liegt  in  dem 
Umstände,  daß  man  über  die  Stellung  von  To- 
sefta in  der  talmudischen  Literatur  keine  klare 
Vorstellung  hatte. 

Welches  ist  nun  die  allgemeine  Annahme 
über  Tosefta?  Den  Talmudausgaben  ist  im  er- 
sten Bande  f.  90  eine  Einleitung  zum  Talmud 
von  R.  Samuel  Hannagid  (1027—1055)  vorange- 
stellt, welche  Angaben  als  Kanon  für  die  Tal- 
mudgelehrten galt.  Wir  wollen  das  Tosefta 
Betreffende  hier  ausziehen.  „Der  Talmud  zer- 
fällt in  zwei  Theile  Mischna  und  Erklärung  zur 
Mischna.  Die  Mischna  wird  genannt  mündliche 
Lehre,  d.  i.  der  Grund  der  Lehre,  welcher  von 
unserem  Lehrer  Moses  bis  B.  Jehuda  Hannasi 

46 


72»  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23. 24. 

(2.  Jahrhundert),  welcher  der  Heilige  genannt 
wird,  fortgepflanzt  wurde",  f.  100a  „Der  zweite 
Theil  der  genannten  zwei  Theile,  d.  i.  die  Ge- 
mara  zerfällt  in  21  Theile  (Anzahl  von  Worten, 
welche  er  erläuterte  und  zwar  Tosefta  und  Bo- 
raita .  .  .u  f.  100  b.  Tosefta  ist  der  Best  der 
Mischna  und  wenn  sie  in  den  Spuren  der 
Mischna  geht  (mit  ihr  übereinstimmt),  so  ist  sie 
gültige  Halacha.  Boraita:  darunter  versteht 
man  Werke,  welche  die  Alten  verfaßt  haben 
nach  der  Mischna,  wie  die  Mischna  B.  Cbya's 
und  B.  Hoschija's".  Maimuni  (12.  Jahrhundert) 
in  seiner  Einleitung  zu  seinem  großen  Werke 
Jad  Hachasaka  schreibt:  B.  Jebuda  der  Heilige 
(Hannasi)  sammelte  alle  mündlich  überlieferten 
Lehren  und  Begeln  und  Erläuterungen  und  Er- 
klärungen, die  sie  vernommen  hatten  von  Moses 
unserem  Lehrer  und  welche  die  religiösen  Be- 
hörden aller  Geschlechter  gelehrt  hatten  nnd 
verfaßten   daraus  das  Buch  Mischna  ....    Zu 

seinen  unmittelbaren  Schülern   gehörten 

„B.  Ghija,  welcher  Tosefta  verfaßte,  um  die 
Worte  der  Mischna  zu  erläutern,  ebenso  verfaß- 
ten B.  Hoscbija  und  Bar  Kappara  Boraitas,  um 
die  Worte  der  Mischna  zu  erklären".  Beide 
hatten  die  gaonäischen  Quellen  benutzt.  Der 
Gaon  Scherira  sagt  (S.  7  ed.  Wallerstein)  „Rabbi 
hat  die  allgemeinen  Begeln  in  die  Mischna  auf- 
genommen, dann  kam  B.  Chija  und  erklärte  in 
der  Boraita  die  einzelnen  Fälle  zu  diesen  Re- 
geln". Wir  übergehen  hier  die  Schwierigkeiten 
betreffs  der  Verschiedenheit.  Diese  sind  darge- 
stellt von  Dünner  „Die  Theorieen  über  Wesen 
und  Ursprung  der  Tosefta"  1874,  obwohl  schwer- 
lich jene  das  Tosefta-Problem  so  scharf  gefaßt 
haben,  wie  der  Verfasser  dieser  Schrift.  So 
viel  geht  aus  Allen   hervor,   daß  Mischna  die 


Zuckermandel,  Tosefou  7äS 

autoritative  Halacha  sei ,  die  anderen  Werke 
Tosefta  nnd  Boraita,  insoferne  sie  mit  Mischna 
im  Widerspruche  stehen,  zu  verwerfen  seien. 
Tosefta  bat  anch  nach  B.  Samuel  Hannagid  den 
Boraita  Charakter,  da  wo  sie  mit  Mischna  nicht 
übereinstimmt,  d.  h.  draußen  stehend  nicht  reci- 
piert.  Da  nun  Tosefta  für  die  Praxis  keinen 
autoritativen  Werth  hatte,  so  wurde  sie  vernach- 
lässigt Die  oben  genannten  Erklärer  von  To- 
sefta emendieren  erst  Tosefta  nach  Mischna 
und  Gemara,  um  sie  mit  der  Halacha  in  Ueber- 
einstimmung  zu  bringen. 

In  den  ersten  Deceunien  dieses  Jahrhunderts, 
als  das  wissenschaftliche  und  reformatorische 
Streben  bei  den  Juden  erwachte,  war  es  gerade 
die  Frage  über  die  Entstehung  der  Mischna  und 
das  Yerhältniß  von  anderen  Sammlungen  zu 
ihr,  welche  einzelne  Babbiner  und  Gelehrte 
mächtig  ergriff.  Es  haben  auf  diesen  Gebieten 
gearbeitet  Bappoport,  Luzzato,  Krochmal,  Gei- 
ger, Grätz  und  in  umfassender  Weise  mein  hoch 
verehrter  Lehrer,  der  selige  Seminar-Director 
Frankel  in  seinen  beiden  Werken  Darke  Ha- 
mischna  und  Mebo  Hajeruschalmi.  Man  forschte 
nach  alten  Quellen  literarhistorischen  Inhalts, 
sammelte  die  Notizen  in  den  Talmuden.  So 
wurde  die  gaonäische  Schrift  Seder  Tanaim 
Wamoraim  (Beihenfolge  der  Gesetzeslehrer) 
mehrmal  herausgegeben,  sowie  der  literarhisto- 
rische Brief  des  Gaon  Scherira  (10.  Jahrhundert). 
Von  den  der  Beform  zugeneigten  Männern  wie 
Geiger  wurde  die  Mischna  heftig  angegriffen,  für 
die  Mängel  derselben  wurde  B.  Jehuda  Hannasi 
verantwortlich  gemacht,  er  sprach  von  einer  al- 
ten Halacha  vor  B.  Jehuda  Hannasi  und  der 
neuen  durch  R.  Jehuda  Hannasi  geschaffenen. 
Frankel   hielt    den   Traditionsstandpunkt    fest, 

40* 


724  Gott.  gel.  Aaz.  1881.  Sttfok  23. 24. 

modificierte  ihn  aber,  um  die  Schwierigkeiten 
zu  lögen.  In  seinem  Werke  Darke  Hamisehna 
S.  306  stellt  er  das  Verhältnis  von  Miscbna 
und  Tosefta  so  dar:  „Tosefta  ging  zuerst  von 
K.  Akiba  ans,  d.  h.  er  legte  den  Grund  zu  To- 
sefta und  nach  seiner  Anleitung  redigierte  sie 
R.  Nehemia.  Wenn  man  fragt,  warum  wurdet 
die  Normen  von  Tosefta  nicht  gleich  in  Miscbna 
aufgenommen,  so  ist  die  Antwort:  die  Miscbna 
sollte  in  gedrängter  Kürze  das  zusammenfassen, 
was  Tosefta  mehr  erläuternd  und  specialisierend 
darstellt.  So  hat  R.  Akiba  die  Miscbna  von  der 
Erklärung  getrennt.  Den  Auszog  der  Halacba 
nahm  er  in  Misohna  auf,  und  die  Erklärung  in 
Tosefta  .  .  R.  Meir  vervollständigte  die  Misehna, 
R.  Nehemia  Tosefta,  Rabbi  schloß  dann  die 
Miscbna  ab,  so  daß  sie  seinen  Namen  erhielt, 
und  ebenso  vervollständigte  R.  Cbija  und  R. 
Hoschija  Tosefta,  sie  fügten  noch  Mehreres 
hinzu,  so  daß  sie  nach  ihrem  Namen  genannt 
wurde.  In  seinem  anderen  Werke  Mebo  Haje- 
ruscbalmi  wird  die  Forschung  über  Tosefta  noch 
einmal  aufgenommen,  welche  auf  einer  genauen 
Vergleichung  der  C  i  t  a  t  e  aus  Tosefta  im  babylo- 
nischen und  jerusalemischen  Talmud  ruhen,  wo- 
bei die  Frage  erörtert  wird,  wie  die  Abweichungen 
dieser  Gitate  in  den  beiden  Talmudes  von  ein- 
ander und  von  Tosefta  zu  erklären  seien?  Er 
modificiert  die  oben  angegebene  Behauptung 
von  Tosefta  in  der  Weise,  daß  nicht  R.  Cbija 
und  R  Bosch ij a  gemeinschaftlich  das  Werk  als 
ein  einheitliches  herausgegeben  haben,  sondern 
jeder  von  ihnen  hätte  ein  besonderes  Werk  ver- 
anstaltet und  unsere  Tosefta  sei  eine  Verschmel- 
zung beider.  Daher  die  Verschiedenheit  der 
Oitate,  daB  eine  rühre  von  der  Sammlung  R. 
Cfaija's,  das  andere  von  der  R.  Hoschija'*  her. 


j 


Zuckerpandel ,  Tosefta.  ])& 

R.  Cbija  habe  auch  ursprünglich  die  Absiebt 
gehabt  eine  Gegenmischna  der  R.  Jebuda  Ha- 
nasi's  entgegenzusetzen,  sei  aber  dann  davon 
zurückgekommen.  Man  siebt,  sobald  man  den 
Kanon  auf  die  Wirklichkeit  prüft,  wenn  man 
Tosefta  selbst  untersucht,  kann  man  ihn  nicht 
festhalten.  Tosefta  hat  entschieden  nicht  den 
Charakter  einer  Erklärung  zur  Mischna,  weder, 
nach  Form,  noch  nach  Inhalt.  Formal  hat  To- 
sefta den  Charakter  der  Mischna,  die  in  der  Ord- 
nung der  einzelnen  Paragraphen  nicht  mit  Mischna 
übereinstimmt,  einen  anderen  Eintheilungsgrund 
hat,  und  sachlich  ist  sie  der  Mischna  oft  ent- 
gegengesetzt. Eine  Kritik  der  Resultate  Fran- 
keis bat  Dr.  Dünner  in  Gr.  Monatsschrift  1870, 
71  und  in  der  oben  genannten  Schrift  „Theo- 
rien übet*  .  .  .  Toseftatf  gegeben. 

Was  nun  mich  betrifft,  so  hat  mich  das  lite- 
rarhistorische Problem  nicht  erfüllt,  sondern  es 
war  schon  in  meiner  Studienzeit  mein  Bestre- 
ben, Klarheit  in  dem  Labyrinthe  des  Talmud 
mir  zu  verschaffen.  In  der  Philosophie  sah  ich, 
wie  ein  Problem  sich  weiter  entwickelt,  woraus 
die  verschiedenen  Systeme  entstehen.  Warum 
giebt  es  im  Talmud  so  viele  Meinungen  über 
eine  Sache?  Welche  ist  die  wahre  oder  wahr- 
scheinliche? Ich  hatte  noch  zu  den  Füßen  eines 
berühmten  Pilpulisten  (Dialektikers),  des  R.Sa- 
lomon Quetsch,  Rabbiner  in  Leipnik  und  Nikols- 
bufrg  gesessen,  der  jede  Frage  der  Erklärer 
(Tossafisten)  auf  verschiedene  Weise  beantwor- 
tete. Je  geistreicher  die  Lösungen  waren,  desto 
mehr  war  es  mir  ein  Räthsel,  wie  das  möglich 
sei?  Die  Wahrheit  kann  ja  nur  eine  sein. 
Frankel,  der  ein  wissenschaftliches  Erfassen  des 
Talmud  anbahnte,  steuerte  dem  Pilpul  dadurch, 
daß  er  die  späteren  Erklärer  (awiri»)  aus  sei*- 


7JM  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  28.24. 

nen  Vorträgen  ausschloß  und  sich  auf  die  älte- 
ren (Dritten)  beschränkte.  Aber  durch  Quan- 
tität konnte  der  Pilpul  nicht  beseitigt  werden. 
Die  Fragen  der  erav^rw  stoßen  unwillkürlich 
bei  längerem  Nachdenken  auf.  Ich  erinnere 
mich,  daß  ich  in  Breslau  über  ein  Thema  mo- 
natelang grübelte,  um  Ober  dasselbe  in's  Klare 
zu  kommen.  In  meinem  rabbinischen  Amte  setzte 
ich  in  jeder  freien  Stunde  das  Talmudstndium  fort, 
aus  keinem  .anderen  Grunde,  als  um  mir  selbst 
Klarheit  zu  verschaffen.  Gewisse  Themata  gal- 
ten als  unergründlich,  man  konnte  aus  den 
Widersprüchen  nicht  herauskommen.  Zu  diesen 
Thematen  lockte  es  mich  immer  wieder  und 
wieder,  um  doch  der  Schwierigkeiten  Herr  zu 
werden.  Ich  studierte  gerade  die  b^mmt  (die 
späteren  Erklärer),  welche  die  Widersprüche 
scharf  auseinandersetzen,  und  sie  dann  aller- 
dings pilpulistisch  zurecht  legen.  Schwerlieh 
hätte  ich  meine  Resultate  veröffentlicht,  da  ich 
nur  das  Talmudstudium  um  seiner  selbst  willen 
trieb,  fern  von  jedem  reformatorischen  Zweck, 
und  deutsche  Arbeiten  über  talmudische  The- 
mata auf  keine  Leser  rechnen  konnten.  Da 
wurde  im  Jahre  1868  zu  Breslau  der  jüdisch- 
theologische  Verein  gegründet,  der  sich  znr 
Aufgabe  setzte,  das  wissenschaftliche  Talmud- 
studium zu  beleben.  Der  Verein  hat  zwar  sein 
Programm  nicht  erfüllt,  wirkungslos  aber  ist  er 
doch  nicht  gewesen.  Er  gab  auch  mir  Gele- 
genheit, meine  Talmudstudien  einem  weiteren 
Kreise  zugänglich  zu  machen.  Ich  bereitete  Air 
die  Versammlung  1869  einen  Vortrag  vor  über 
den  talmudischen  Begriff  Berera,  der  sich  des 
allgemeinen  Beifalls  erfreute.  Er  ist  mit  den 
anderen  gehaltenen  Vorträgen  in  der  Frankel- 
Grätzischen  Monatsschrift  abgedruckt  Jahrgang 


Zuckermandel,  Tosefta.  727 

1869  S.  369.  In  demselben  habe  ich  den  ersten 
Schritt  gethan  zur  Beseitigung  des  Pilpul.  Ich 
stellte  dort  einen  verschiedenen  älteren  Stand- 
punkt auf,  der  im  jerusalemischen  Talmud  fest- 
gehalten wird  von  dem  späteren  in  der  babylo- 
nischen Gemara  und  that  dar,  daß  durch  Ueber- 
tragung  des  späteren  Begriffs  auf  die  frühere 
Zeit  erst  die  Widersprüche  entstanden,  die  aller- 
dings unlösbar  sind.  Für  die  folgende  1870 
anberaumte  Versammlung  bereitete  ich  einen 
zweiten  Vortrag  vor  —  ein  wo  möglich  noch 
schwierigeres  Thema:  „Ueber  Beurtheilung  von 
Zweck  und  Absiebt  bei  Uebertretung  religiöser 
Verbote  nach  dem  Talmud".  Die  Versammlung 
kam  zwar  nicht  zu  Stande,  mein  Vortrag  wurde 
aber  als  erweiterter  Aufsatz  in  der  Monatsschrift 
1871-72  abgedruckt  und  kennzeichnet  sich 
wieder  durch  Trennung  des  Standpunktes  des 
Jeruschalmi  von  Babli,  ich  zeigte  wieder,  wie 
die  Widersprüche  entstanden,  die  Lösung  der- 
selben unmöglich  nur  Pilpul  sein  kann.  In  die- 
sem Aufsätze  machte  ich  schon  S.  40  (1872)  auf 
die  Verschiedenheit  von  Tosefta  und  Mi  seh  na 
aufmerksam,  daß  in  jener  der  ältere  Standpunkt 
vertreten  sei.  Während  dieser  Zeit  hatte  Dr. 
Dünner  in  der  genannten  Msch.  1870,  571  seine 
These  über  Tosefta  aufgestellt.  Er  wies  an 
mehreren  Beispielen  nach,  daß  schwierige  Misch- 
na's  ihre  richtige  Lösung  finden,  wenn  man  To- 
sefta mit  ihnen  vergleicht.  Er  kam  zur  Be- 
hauptung, daß  —  in  den  angeführten  Beispielen 
die  Tosefta- Bestimmungen  die  authentischen  äl- 
teren Bestandtheile  seien,  welche  B.  Jehuda 
Hannasi  vorgelegen,  die  er  in  seiner  Mischna 
gekürzt  habe,  wodurch  sie  an  Deutlichkeit  ver- 
loren hätten.  Daß  die  Auffassung  der  Gemara 
eine  andere  sei,  erklärte  er  dadurch,  daß  diese 


728  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  23.  24. 

Tosefta-Stellen  den  Amoraim  unbekannt  waren, 
weil  Tosefta  erst  nach  Abschluß  des  babyloni- 
schen Talmuds  gesammelt  worden  sei.  —  Ich 
warf  mich  mit  Eifer  auf  Vergleichung  von 
Mischna  und  Tosefta  und  veröffentlichte  im. 
Jahrgang  1872  der  Msch.  zwei  Artikel  zur  Hala« 
cbakritik,  in  welchen  ich  nachwies,  daß  der 
Standpunkt  von  Tosefta  logischer  und  klarer 
sei  als  der  der  Mischna.  Ich  sagte  dort  einfach, 
die  Mischna  sei  corrumpiert  und  die  LA.  von 
Tosefta  richtig.  Im  folgenden  Jahrgang  der 
Monatsschrift  erschien  ein  dritter,  vierter  und 
fünfter  Artikel  zur  Halachakritik.  In  diesen  allen 
zeigte  sich  mir  Tosefta  als'  ursprünglich  und 
logischer,  als  Mischna.  Ich  verwarf  auf  Autori- 
tät von  Tosefta  gestützt  die  gangbaren  Erklä- 
rungen des  babylonischen  Talmud,  und  fand 
auch  Spuren  in  Jeruschalmi,  wo  der  Standpunkt 
von  Tosefta  erhalten  ist.  Welch  mächtigen  Ein- 
druck die  endlich  gefundene  Lösung  der  Wider- 
sprüche im  Talmud  durch  Tosefta  auf  mich 
machte,  kann  man  aus  dem  einleitenden  Gleich- 
nisse im  fünften  Artikel  entnehmen.  Aber  noch 
hatte  ich  den  Standpunkt  von  der  Authentieität 
der  Mischna  durch  R.  Jehuda  Hannasi  festge- 
halten. Ich  nahm  nur  Gorruptele,  Interpolatio- 
nen an.  Ich  studierte  dann  unausgesetzt  den 
Traktat  Oholot,  welcher  von  den  Gräbern  han- 
delt in  Mischna  und  Tosefta  mit  den  Noten  von 
R.  Eliah  Wilna  zur  Mischna.  Dabei  machteich 
die  Wahrnehmung,  wie  dieser  oft  die  Mischna 
nach  Tosefta  emendiert,  daß  er  eine  Stelle  nach 
Jeruschalmi  erklärte,  während  der  babylonische 
Talmud  eine  ganz  andere  Auffassung  hat.  Da- 
bei trat  mir  das  Resultat  zu  Tage,  daß  man  in 
Babvlonien  ganz  andere  Anschauungen  von  den 
Gräbern   hatte,  als  in  Palästina,   daß  Tosefta 


Zuäkermanüel ,  Tosefta,  ^29 

nur  durch  die  Vorstellungen  in  Palästina  sich 
erklären  lassen,  während  die  Mischna  auf  ba- 
bylonische Anschauungen  zurückgehen,  so  daß 
sich  mir  in  Folge  dieser  Beobachtung  die  früher 
gefundenen  Verschiedenheiten  zwischen  Mischna 
und  Tosefta  durch  Orts-  und  Zeitverschieden beit 
erklärten.  Ich  stellte  auch  in  der  Monatsschrift 
1874  im  sechsten  Artikel  zur  Halachakritik  die 
Behauptung  auf:  Tosefta  enthalte  den  Rest  des 
ursprünglichen  palästinensischen  Codex  der 
Mischna,  unsere  Mischna  sei  der  aus  dem  ersten 
nach  den  veränderten  Vorstellungen  in  Babylo- 
nien  gekürzt«  Codex.  Im  siebenten  Artikel  zur 
Halachakritik  stellte  ich  die  These  noch  deut- 
licher auf  mit  dem  Hinzufügen,  Jerusobalmi 
hätte  sich  ursprünglich  auf  Tosefta  bezogen,  die 
babylonische  Gemara  auf  die  babylonische 
Mischna.  Es  entsprächen  sonach  den  zwei  Ge- 
maren  zwei  Misch nas.  Nachdem  die  Mischna 
in  Babylonien  Autorität  erhalten  hatte,  hat  man 
von  der  palästinensischen  Mischna  die  Verschie- 
denheiten derselben  von  der  babylonischen  so- 
wohl in  formaler  als  sachlicher  Beziehung  in 
einem  besonderen  Codex  gesammelt,  die  Stellen, 
die  gleichlautend  herttbergenommen  waren,  aus- 
gelassen, und  dieser  Sammlung  den  Namen 
ttnooin,  den  Rest  der  Mischna  muron  -it»« 
gegeben.  Die  Verschiedenheit  der  Citate  in  den 
Gemaren  erkläre  ich  durch  Emendationen  der 
Amoräer  in  Folge  ihrer  Erklärung.  Während 
wir  60  an  Tosefta  den  Rest  der  authentischen 
palästinensischen  Mischna  haben,  deren  fehlende 
Theile  aus  unserer  Mischna  ergänzt  werden 
können,  haben  wir  Jeruschalmi  nicht  mehr  in 
ursprünglicher  Gestalt.  Vereinzelte  Spuren  wei- 
sen darauf  hin,  daß  Jeruschalmi  sich  ursprüng- 
lich auf  Tosefta  bezogen,  aber  das  Ausgleichungs- 


730  Gott.  gel.  An«.  1881.  Stück  23.  24. 

werk  mit  Babli  hat  später  dem  Jeruschalmi 
eine  andere  Gestalt  gegeben.  Die  Notiz,  die 
dem   R.   Jochanan    zugeschrieben   wird:    dpo 

»:rp*  '*n  e«a*bK,  welche  besagt,  daß  Mischna 
sowohl  als  Tosefta  auf  R.  Akiba  zurückgebe, 
ist  gewiß  ein  spätes  Product,  um  den  Gegen- 
satz zwischen  Mischna  und  Tosefta  zu  verwischen, 
ähnlich  wie  die  Divergenz  zwischen  den  Scha- 
len Schammais  und  Hilleis,  welche  ursprunglich 
scharf  auseinander  gingen,  später  geschwächt 
wurde  durch  den  Satz  „beide  sind  von  einem 
Hirten  gegeben  worden,  beide  sind  Worte  des 
lebendigen  Gottes". 

Ich  will  zur  Orientierung  ein  Beispiel  von 
allgemeinem  Interesse  geben,  damit  sich  Jeder 
ein  klares  Bild  von  dem  Gesagten  machen  kann. 
Tosefta  Schebiit  §  10  rbbrra  «p*  (7)  P  71"  m* 
A.  lesen  wir:  „Drei  Länder  giebt  es  in  Bezog 
auf  das  Ausräumen  der  Früchte  am  siebenten 
Jahre :  Judaea,  das  transjordanische  Gebiet  und 
Galilaeatt.  —  Bekanntlich  war  das  siebente  Jahr 
ein  Brachjahr,  in  welchem  jede  Feldarbeit 
ruhen  mußte  und  das  Eigenthum  an  den  Boden- 
erzeugnissen aufhörte.  So  lange  nun  auf  dem  Felde 
Früchte  waren,  konnte  man  solche  im  Hause 
haben,  sobald  sie  auf  dem  Felde  aufhörten, 
mußte  man  sie  aus  dem  Hause  bringen,  damit 
sie  Gemeinbesitz  würden.  Es  mußte  daher  ge- 
nau abgegränzt  werden,  nach  welchen  Feldern 
der  Einzelne  sich  zu  richten  hat.  —  „Jedes 
dieser  Länder  hat  wieder  drei  Theile  und  warum 
werden  diese  drei  Theile,  Berg,  Thal  und  Nie- 
derung erwähnt,  weil  man  nicht  essen  darf 
(■pt*  muß  gelesen  werden)  auf  dem  Hochland 
in  Rücksicht  auf  das  Thal,  und  nicht  im  Thale 
in  Rücksicht   auf  das  Hochland,   sondern  das 


2uckermandel,  Tosefta.  731 

4 

Hochland  richtet  sich  nach  dem  Berge,  das 
Flachland  nach  dem  Thale  und  das  Tiefland 
nach  der  Niederung,  in  Syrien  ist  es  nicht  so. 
.  .  .  Z.  20.  Welches  ist  sein  Berg  (Judaea's)? 
Das  ist  der  Königsberg,  die  Niederung,  das  ist 
die  Niederung  von  Lydda  und  das  Thal  von 
Engedi  bis  Jericho.  §  11.  Welches  ist  das 
Thal  von  Galtiaea?  Genesareth  und  die  Um- 
gegend. R.  Simon,  der  Sohn  Eleasars  sagt: 
Welches  ist  der  Berg  des  transjordanischen  Ge- 
bietes? Das  ist  Gharim  und  die  Umgegend,  die 
Niederung,  das  ist  Hesbon  und  ihre  Städte  in 
der  Ebene,  Dibon  und  Bornoth  Baal  und  Beth 
Baal  Meon,  das  Thal  ist  Beth  Nimra  Ramtha 
und  die  Umgegend. 

Vergleichen  wirlfischna  Schebiit  §  2  OJnDrt 
(9):  Drei  Länder  giebt  es  bezüglich  des  Aus* 
räumens:  Judaea,  das  transjordanische  Gebiet 
und  Galilaea.  Jedes  zerfällt  wieder  in  drei 
Länder.  Ober-Galilaea,  Unter  Galilaea  und  das 
Thal.  Von  Eephar  Chananjah  weiter  hinauf  ist 
Ober-Galilaea,  von  Kephar  Chananjah  herunter 
ist  Unter-Galilaea  und  das  Gebiet  von  Tiberias 
ist  das  Thal  und  in  Judaea  der  Berg,  die  Nie- 
derung und  das  Thal.  Die  Niederung  von 
Lydda  ist  wie  die  Niederung  des  Südens  und 
der  Berg  des  Südens  ist  wie  der  Königsberg, 
von  Beth  Horon  bis  zum  Meere  ist  eine  Pro- 
vinz. §.  3.  Und  warum  werden  drei  erwähnt, 
damit  man  in  jedem  einzelnen  essen  kann  bis 
vom  letzten  Theile  Alles  vernichtet  ist.  —  Wir 
wollen  nur  auf  zwei  Verschiedenheiten  aufmerk- 
sam machen.  Wie  die  Erklärer  annehmen,  be- 
zieht sich  die  letzte  Dreitheilung  der  Mischna  in 
§  2  auf  p*vn  ^ay,  welches  oben  genannt  war. 
Dieses  p"vn  ^»  hätte  in  Judaea  gelegen  zum 
Unterschiede    von    dem   transjordanischen    Ge- 


782  Gott.  gel.  Anr.  1881.  Stüek  28.  24. 

biete,  das  auch  prn  na*  heißt,  wo  aber  das 
Gesetz  vom  siebenten  Jahre  nicht  statt  fand. 
Der  Geograph  Estori  Parcbi  (14.  Jahrhundert) 
spricht  sich  in  seinem  Werke  Eapbtor  Waphe- 
rach folgender  Maßen  ans:  Ans  dieser  Mischna 
gebt  hervor,  daß  dieses  iTvn  n«  znm  eigent- 
lichen Palästina  gehörte,  wie  Judaea  and  Gali- 
laea.  Dem  widerspricht  aber  Tosefta,  wo  na* 
p*vn  ausdrücklich  als  das  Ostjordanland  ge- 
raßt wird,  und  er  citiert  obige  Stelle.  Er  fährt 
dann  fort:  Tosefta  ist  doch  eine  Erklärung  znr 
Mischna,  wie  kann  nun  die  Erklärung  im  Wider- 
spruch stehen  zum  Texte!  Nach  meiner  Mei- 
nung, schließt  er,  hat  Tosefta  hier  das  Richtige 
(R.  Akiba  Eger  führt  nach  einem  Autor  im  Na- 
men Estori  Parcbi's  das  Gegentbeil  an).  —  Eine 
andere  Verschiedenheit.  Nach  Tosefta  bezwecke 
die  Dreitheilung  jedes  einzelnen  Ländgebietes 
die  Sonderung  in  Bezug  auf  das  Sebebiitgesetz, 
während  es  in  Mischna  heißt,  daß  alle  drei 
Theile  eines  Landes  einander  gleich  sind.  Diese 
Erklärung  der  Mischna  folgt  aus  Pesachim  52. 
Jeruschalmi  muß  sich  auf  Tosefta  bezogen  ha- 
ben. Denn  zu  §  2  der  Mischna  wird  der  Grund 
angegeben,  warum  jeder  Tbeil  des  Landes  ge- 
sondert betrachtet  wird.  Man  kann  damns 
schließen,  daß  der  Text  zu  dieser  Begründung 
Tosefta  wat.  Die  Tossafisten  zu  Pesachim  62 
wollen  zwar  Jeruschalmi  und  Babli  ausgleichen, 
aber  R.  Moses  Margolith  bemerkt  schon,  daß 
Babli  hier  entschieden  im  Gegensatze  stehe  zu 
Babli,  —  aber  auch  Tosefta  zur  Mischna.  In 
Folge  der  Auffassung  des  Babli  hat  man  die 
palästinensische  Mischna  emendiert  und  ebenso 
war  es  mit  prn  na*.  In  Babylonien  hat  man 
wohl  zwei  ■pnvi  na*  angenommen  und  die  Mei- 
nung des  R.  Simon  b.  Eleasar  in  ToBefta  als 


Zuckermandel,  Tesefat  7&3 

Einzelmeinung  verworfen.  Mao  kann  sich  aller- 
dings wieder  auf  Tosafot  Jebamoth  15  beziehen, 
wo  7Tvn  nay  als  das  Ostjordanland  gefaßt  wird, 
aber  warum  sind  in  Misehna  auch  nicht  die 
drei  Theile  genannt?  Was  hätte  R.  Jehuda 
Hannasi  in  Palästina  zu  dieser  Auslassung  ver- 
anlaßt? Unsere  Erklärung  beseitigt  alle  Fragen. 
Daß  man  in  Babylonien  andere  Begriffe  über 
geographische  Oertlichkeiten  hatte,  als  in  Palä- 
stina, gebt  ans  Gittin  p.  7  verglichen  mit  To- 
sefta  Oboloth  p.  617n  hervor.  Daß  aber  To- 
sefta  das  Richtige  hat,  liegt  auf  der  Hand, 
Auch  die  Misehna  Schebiit  6, 1,  die  viele  Schwie- 
rigkeiten aufwirft,  ist  gewiß  aas  den  geographi- 
schen Vorstellungen  in  Babylonien  anders  ge- 
staltet. —  Meine  These  rief  aber  sofort  Angriffe 
hervor.  Ich  ließ  mich  jedoch  dadurch  nicht  ab- 
schrecken und  dachte  an  Herausgabe  von  Tosefta, 
Nachdem  ich  von  der  Vorsehung  begünstigt,  die 
lange  Zeit  verkannte,  von  Frankel  als  Tosefta 
erkannte  Erfurter  Handschrift  zur  Vergleichung 
erhieit,  deren  hohen  Werth  und  Alter  —  ich 
entzifferte  eine  Urkunde  auf  derselben  aus  dem 
Jahre  1240  (s.  m.  Erf.  Handscb.  S.  17)  —  ich 
erkannte,  faßte  ich  den  Entschluß  Tosefta  heraus- 
zugeben. Ich  gab  1875  im  Vertrauen  auf  Gott, 
welehes  mich  nicht  täuschte,  mein  Amt  auf  und 
ging  nach  Berlin,  wo  ich  mit  meiner  Familie 
bis  September  lö76  ohne  Existenz  lebte«  Nach 
Veröffentlichung  meiner  Erfurter  Handschrift, 
welche  die  Aufmerksamkeit  von  Zunz,  de  La- 
garde  und  Olshausen  erregte,  und  zur  näheren 
brieflichen  Verbindung  mit  Lagarde  führte,  wo- 
durch ich  zur  Herausgabe  mehr  ermuthigt 
wurde,  ging  ich  nach  Wien,  um  den  Wiener  Co- 
dex zu  vergleichen.  Wenn  auch  die  Zeit  des 
dortigen  Aufenthaltes   eine  Zeit   des   schwere* 


784  Gott,  gel  An*.  1881.  Stück  28.  24. 

Kampfes  fttr  mich  war,  so  war  ich  doch  durch 
das  allgemeine  Interesse,  welches  die  Veröffent- 
lichung des  Werkes  erregte,  durch  Unterstützung 
von  Seiten  des  hohen  C  u  Itasministe  ri  ums,  der 
israelitischen  Allianzen  zu  Paris  und  Wien,  meh- 
rerer Männer  der  jüdischen  Wissenschaft,  wie 
des  Herrn  Raphael  Kirch  heim  und  des  sei.  Al- 
bert Cohn,  und  durch  die  Bekanntschaft  mit  den 
acbtung8werthen  Gelehrten  entschädigt  Nach- 
dem ich  nach  Beendigung  meiner  Collation  des 
Wiener  Codex  —  gerade  zur  Zeit,  als  das  Was* 
ser  bis  zur  Seele  gelangte  —  unvermuthet  den 
Ruf  erhielt,  die  hiesige  Stelle  anzunehmen,  er- 
kannte ich  deutlich  die  Hülfe  Gottes.  Ich  habe 
hier  vom  September  1876  bis  September  1880 
die  Arbeit  vollbracht.  Und  wahrlich,  wäre  die 
Herausgabe  des  Werkes  nicht  einer  Idee  ent- 
sprungen, die  geschäftlichen  Schwierigkeiten, 
denen  ich  kaum  gewachsen  war,  hätten  mich 
Übermannt.  — 

Um  nun  ein  Urtheil  über  meine  Ausgabe  zu 
gewinnen,  ist  es  nöthig,  das  Verhältniß  der 
Handschriften  zu  einander  und  zur  früheren 
Ausgabe  zu  kennen.  Ueber  den  Werth  der  Er- 
furter Handschrift  habe  ich  in  der  oben  citier- 
ten  Schrift  („die  Erfurter  Handschrift  von  To- 
sefta  beschrieben  und  geprüft".  Berlin,  Ger- 
schel)  gehandelt.  Ich  wies  nach,  daß  durch 
Buchstabenwechsel,  Versetzungen ,  Hinzufügen 
und  Auslassungen  die  Ausgaben  verunstaltet 
seien.  Ein  Beispiel  sei  hier  erwähnt:  für  nv»an 
der  Hsch.  hat  die  Ausgabe  nran.  Ich  gab 
Beispiele  in  lexikalischer  und  geographischer 
Beziehung,  die  ganz  frappant  den  hohen  Werth 
der  Handschrift  erhärteten,  vgl.  auch  Beispiele 
in  Rahmer's  Literaturblatt  1876  (mein  Referat 
über  die  erste  Lieferung.)     Ueber  den  Wiener 


Zuckermandel,  TosefU.  785 

Codex  babe  ich  in  Rahmer's  Literatnrblatt  1877 
und  auch  im  Separatdruck  das  Wichtigste  ange- 
geben. Wenn  man  das  Verbältniß  der  Erfurter 
and  Wiener  Hsch.  zu  einander  angeben  will,  so 
wird  man  sagen  müssen,  die  Erfurter  zeichnet 
sich  vor  der  Wiener  durch  Alter  und  Gorrectheit 
aus.  Hingegen  hat  die  Wiener  den  Vorzug,  daß 
sie  mit  Ausnahme  von  16  Blättern  (s.  m.  W.Tosefta 
Codex  S.  9)  ganz  erhalten  ist,  während  die  Er- 
furter nur  4  Ordnungen  enthält  und  den  Anfang 
der  fünften,  aber  von  diesem  fehlt  Nichts.  E 
(Erf.  Hsch.)  verdanken  wir  einen  ganzen  Ab- 
schnitt zum  Traktat  Maccot,  von  dessen  Fehlen 
man  bis  jetzt  gar  nichts  wußte,  den  auch  W 
nicht  hat.  E  hat  ferner  eine  ganz  eigentüm- 
liche Vocalisation  an  vielen  Stellen  (s.  m.  Erf. 
Hsch.),  was  in  W  (Wiener  Hsch.)  mangelt.  Hin- 
gegen verdanken  wir  W  die  Ausfüllung  der 
Lücke,  welche  die  alten  Ausgaben  in  Negaim 
und  Para  haben,  während  die  fehlenden  Blätter 
in  W,  theils  in  E,  theils  in  A  (Ausgabe)  sich 
finden.  Was  die  LA.  betrifft,  so  stimmen  oft 
beide  Handschriften  mit  einander  überein,  aber 
eben  so  oft  stimmt  A  mit  W,  oder  mit  E.  Ich 
habe  die  Varianten  von  S.  13  bis  31  m.  A.  ge- 
zählt und  zusammengestellt.  Sie  betragen  im 
Ganzen  an  327.  Von  diesen  sind  146  E  =  W, 
100  A  =  W,  68  A  =  E  und  13  alle  verschie- 
den. Außer  diesen  beiden  Handschriften  kam 
mir  während  des  Druckes  durch  die  Güte  Ra- 
phael Kirchheims  ein  Bogen  Tosefta  aus  einem 
alten  Mspte.  zu,  den  wir  mit  K  bezeichnen  wol- 
len (s.  Rahmer's  Litteraturblatt  1878  N.  4-7). 
Auch  diese  Varianten  habe  ich  gezählt,  sie  sind 
im  Ganzen  115  u.  z.  46  E  =  K  und  W  =  A, 
27A  =  E«W,  18A«=K=*W,  14A  =  E  =  K 


786  Gott.  gel.  Abz.  1881.  Stück  23.  24. 

6  E«K«W  die  anderen  verschieden.   E  zeigt 
sich  immer  als  der  relativ  beste  Codex. 

In  meiner  Ausgabe,  welche,  was  Vollstän- 
digkeit betrifft,  die  Vorzüge  der  Handschriften 
und  Ausgabe  vereinigt,  habe  ich  zum  Text  die 
Erfurter,  soweit  sie  reicht,  und  von  da  bis  zum 
Schluß  die  Wiener  genommen  u.  z.  auf  den 
Bath  Lagarde's  mit  den  Fehlern,  die  Varianten 
setzte  ich  in  die  Noten.  Ich  nahm  auch  die 
von  den  Philologen  beobachtete  Form  und  spe- 
ciell  die  Ausgabe  der  Genesis  der  Septuaginta 
von  de  Lagarde  zum  Muster.  Ich  bezeichnete 
die  Handschrift  und  Ausgabe  mit  Buchstaben, 
wodurch  die  Uebersicht  erleichtert  ist.  Die  An- 
gabe der  Zeilenzahl  ist  für  die  Noten  und  für's 
Citieren  sehr  bequem,  wie  nicht  minder  die  Zei- 
chen für  Fehlen  und  Zusatz.  In  der  Vorrede 
sind  die  Zeichen  genau  erklärt.  Anfangs  hatte 
ich  die  Absicht,  außer  den  Varianten  der  Hsch. 
und  Ausgabe  auch  noch  die  Varianten  in  den 
Citaten  der  Talmude  sowie  die  Emendationen 
B.  Eliah  Wilna's  u.  A.  anzugeben,  ich  hatte 
schon  einen  Bogen  in  dieser  Weise  gedruckt, 
ich  überzeugte  mich  aber  bald,  daß  das  unaus- 
führbar und  verwirrend  sei.  Den  so  gedruckten 
Bogen  habe  ich,  obwohl  er  manche  orthogra- 
phische Fehler  hat,  der  Vorrede  beigegeben, 
weil  man  leicht  aus  demselben  sich  ein  Unheil 
bilden  kann  über  die  Art  der  Emendationen  der 
Toseftastellen  in  der  Qemara.  Zwischen  Text 
und  Varianten  gab  ich  die  Parallelstellen  in  den 
Talmuden  an,  so  wie  Bibelstellen.  Diese  sind 
im  Text  zur  Kenntlichkeit  durchschossen  ge- 
druckt Zur  ersten  Ordnung  habe  ich  auch  ein 
Register  der  Bibelstellen,  ein  Register  der  Ta- 
namin  angegeben  mit  Beifügung  aller  Stellen. 
Außerdem  ein   Register,    wo   Toseftastellen   in 


Znckermandel ,  Tosefta.  797 

Kaphthor  Wapherach,  der  gleichfalls  eine  Hand 
«ohrtft  hatte,  zu  finden  seien.  Ein  Register  zu 
allen  Ordnungen  mit  Einschloß  des  schon  ge- 
gebenen will  ich  in  einem  Sapplementhefte  er- 
scheinen lassen.  Ich  habe  also  bei  meiner  Aus- 
gabe ganz  objektiv  gearbeitet,  habe  mich  nicht 
zu  Gunsten  meiner  These  zu  einer  Emendation 
des  Textes  verleiten  lassen.  Ich  habe  die  Cor- 
rector selbst  besorgt  und  außerdem  noch  einen 
Corrector  bezahlt.  Wenn,  was  durch  die  Ent- 
fernung des  Ortes  nicht  anders  möglich  ist, 
mehr  Druckfehler  als  ich  wünschen  mag,  sich 
finden  sollten,  so  thut  das  dem  Verständnis 
keinen  Eintrag,  da  dieselben  leicht  zu  erkennen 
sind.  Auch  die  Auslassung  mancher  Varianten 
durch  Uebersehen  wird  dem  Urtheil  Über  die 
Handschriften  keinen  Eintrag  thun.  Man  kann 
meine  Ausgabe  zum  Studium  von  Tosefta  sehr 
gut  verwenden,  was  ohne  sie  schwer  geht.  Die 
Ausstattung  ist  eine  sehr  gute. 

Ich  habe  noch  zum  Schluß  hinzuzufügen, 
welche  Ansiebten  über  Tosefta  seit  dem  Erschei- 
nen meiner  Ausgabe  sich  geltend  machten.  Mein 
Freund  und  literarischer  Gegner  Hr.  Dr.  Schwarz 
hat  1879  eine  Schrift  herausgegeben  „die  To- 
sefta zum  Traktate  Sabbattt.  Er  hat  meine 
Ausgabe  zur  Grundlage  genommen  und  er 
schließt  sein  Buch  mit  folgenden  Worten :  „Man 
wird  mit  Klarheit  erkennen,  daß  es  dem  Tosefta- 
redacteur  hauptsächlich  darum  zu  thun  gewesen, 
die  durch  E.  Jehuda  Hannasi  eliminierten  und 
umgestalteten  Mischnajoth  B.  Meirs  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Fassung  der  Nachwelt  zu  tiber- 
liefern". Ich  habe  meine  Meinung  über  dieses 
Buch  in  Babmer's  Literaturblatt  1879  ausge- 
sprochen. Hier  will  ich  nur  darauf  hinweisen, 
daß  Schwarz  also   auch   das  höhere  Alter  von 

47 


738  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

Tosefta   im   Verhältnisse   zur  Mißchna    anzner- 
kennen  gezwungen  ist,  was  Dr.  Dünner  von  ein- 
zelnen  Tfaeilen  nachwies,    ich  auf  ganz  Tosefta 
ausdehnte,  da    ich   außerdem    nachwies,    daß 
Mischna  nicht  in  Palästina  redigiert  sein  kann, 
sondern    in   Babylonien.  —    Nach    Erscheinen 
meiner  „Erf.  Handschrift11  hat  sich  Dr.  Bloch  in 
Rahmer's  Literaturblatt  zustimmend  ausgespro- 
chen.   Er  hat  Beispiele  gegeben,   daß  sich  Je- 
ruschalmi  auf  Tosefta  beziehen  muß.    Nach  Er- 
scheinen der  zweiten  Lieferung  meiner  Tosefta- 
Ausgabe   hat   er   aus  Anlaß   derselben  mehrere 
Artikel  in  Rahmer's  Literatenblatt  1877  geschrie- 
ben   „Ueber  die  Stellung  von  Tosefta",  wo  er 
gleichfalls  durch  Oonfrontierung  von  Tosefta  und 
Mischnasteilen  nachwies,   daß  Tosefta  älter   sei 
als  Mischna,   daß  Mischna  interpoliert  sei,  aber 
an  der  Integrität  von  Tosefta,   wie   ich  sie  be- 
haupte, müsse  er  zweifeln,  weil  Stellen  in  To- 
sefta vorkommen,  die  in  der  Gemara  im  Namen 
eines  Amora  gegeben   sind.     Aber  das  beweist 
gar  Nichts  gegen  mich.    Wenn  in  Tosefta  kein 
einziger  Amora  genannt  ist,  immer  nur  Tanaim 
die  Tradenten  sind,  können  wir  es  uns  denken, 
daß  Sätze   der  Amoräer   allgemein  in  Tosefta 
aufgenommen  wurden?   da   hätte  doch  ebenso- 
gut der    amoräische   Tradent    stehen    müssen! 
Umgekehrt  hat  ein  Amora  eine  unbekannte  To- 
sefta-Stelle   tradiert  und   sein   Name   wurde  in 
der   Gemara  ihr   vorgesetzt.      Darum    ist  der 
Amora  kein  Plagiator,  wie  Dr.  Bloch  meint.  — 
Nach    dem   Erscheinen   der    dritten    Lieferung 
setzte   er  im  Literatenblatt  1878   seine  Artikel 
„die  Stellung  von  Tosefta"  fort.    Offenbar  stellt 
er   dort   das   Problem    der  Tosefta    unter   dem 
Eindruck   des  Dttnner'scben  Buches    „die  Theo- 
rieen"  dar  und  kommt  schließlich,  weil  er  meine 


Zuckermandel,  Tosefta.  739 

Ansicht  radical  findet  —  von  Fälschung  Sei- 
tens der  Amoräer  kann  bei  mir  nicht  die  Rede 
sein  —  zur  Erklärung  des  oben  S.  10  ange- 
führten Satzes  .  .  .  tano.  Es  habe  sich  unter 
den  Schülern  R.  Akibas  die  Mischna  mündlich 
verbreitet  Mischna  und  Tosefta  seien  verschie- 
dene Recensionen  der  Mischna  R.  Akibas.  — 
Und  solche  diametral  entgegengesetzte  Entschei- 
dungen sollen  blos  verschiedene  Recensionen 
sein?  Daß  natürlich  dann  dem  Pilpul,  gegen 
welchen  Dr.  Bloch  sich  so  feindlich  ausspricht, 
Thür  und  Thor  geöffnet  ist,  ist  klar.  Meine 
These  macht  die  Amoräer,  sagt  er,  zu  Falsifi- 
catoren !  Warum  denn  ?  Wenn  man  einen  Grund- 
riß aus  einem  größeren  Werke  macht  und  die- 
sen bona  fide  nach  seiner  Auffassung  giebt, 
wenn  auch  nicht  in  dem  des  Verfassers,  ist  man 
ein  Falsificator?  Die  mala  fides  muß  erst  er- 
wiesen werden.  Warum  nennt  er  die  nach  mir 
in  Babylonien  redigierte  Mischna  ein  Falsificat? 
Ist  sie  es  nicht  mehr  nach  seiner  Annahme,  die, 
wie  er  sagt,  auch  von  Krochmal,  dessen  Buch 
ich  nicht  kenne,  ausgesprochen  ist,  wenn  die 
Amoräer  in  die  Mischna  R.  Jehuda  Hannasis 
Interpolationen  sich  zu  machen  erlaubten? 
Durch  die  Annahme  des  Dr.  Bloch  wird  der 
Knäuel  des  Talmudstudiums  noch  verworrener. 
Welche  Recension  ist  die  richtige,  die  in  Tosefta, 
die  in  Mischna,  die  in  den  Gitaten  des  Babli 
oder  Jeruschalmi?  Der  Pilpul  würde  dadurch 
nur  verewigt.  Frankel  hat  schon  die  Unmög- 
lichkeit einer  mündlichen  Ueberlieferung  der 
Mischna  behauptet. 

Nach  meiner  These  ist  Tosefta  authentisch, 
leb  weise  dann  nach,  welche  Verhältnisse  es 
waren,  welche  zur  Aenderung  in  Babylonien 
nöthigten,   zeige,  wie   die  Mischna   entstanden. 

47* 


740  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  28. 24. 

loh  verfolge  die  Variationen  Schritt  auf  Schritt* 
Ich  zeige,  wie  aas  Tosefta  erst  die  Boraita  durch 
Emendation  entstanden,  und  wie  dann,  die 
Mischna  in  Kürze  das  neue  Resultat  zusammen- 
gefaßt enthält.  Ich  habe  in  diesem  Jahrgange 
der  Monatsschrift  diese  meine  Methode  in  den 
früheren  Artikeln  fortgesetzt  und  bin  in  meiner 
These  nur  befestigt  worden.  Freilich  gehört 
dazu  ganze  Hingabe,  die  beim  Leser  nicht  so 
leicht  zu  finden  ist. 

Vielleicht  gelingt  es  mir,  anstatt  schriftlich, 
mündlich  vor  einem  Schülerkreis  Tosefta  zu 
commentieren ,  dann  dürfte  es  leichter  sein,  mei- 
ner Methode  Eingang  zu  verschaffen.  Jeden- 
falls hoffe  ich,  daß  meine  Tosefta  -  Ausgabe 
das  Tosefta-Studium  beleben  und  manchen  Fern- 
stehenden anregen  wird,  sich  über  das  To- 
seftaproblem  Klarheit  zu  verschaffen.  Dieser 
Aufsatz  ist  ja  schon  die  Frucht  des  Interesses, 
welches  der  oft  genannte  Lagarde  für  Tosefta 
hat,  weil  es  für  die  Wissenschaft  von  höchster 
Wichtigkeit  ist,  ob  Tosefta  älter  ist  als  Mischna 
oder  jünger,  ob,  wenn  auch  in  halachischer  Be- 
ziehung Mischna  ihre  Autorität  bewahrt,  doch  in 
sprachlicher,  lexikalischer,  historischer  Hinsicht 
mehr  Tosefta  oder  Mischna  zu  trauen  ist? 

Zu  meiner  Freude  kann  ich  noch  mittheilen, 
daß  in  einer  Recension  von  Dr.  Eroner,  Land- 
rabbiner in  Stadt  Lengsfeld,  in  Rahmer's  Literatur« 
blatt  1880,  Nr.  47, 48  die  hohe  Bedeutung  meiner 
Tosefta-Ausgabe  anerkannt  wird,  sowohl  für 
Wissenschaft  als  Religion.  Er  hebt,  dort  eine 
große  Zahl  von  LA.  hervor,  die  nach  den  Aus 
gaben  unverständlich  waren,  und  durch  die  LA. 
der  Hschr.  Verständniß  erlangen,  was  jeder  Le- 
ser auf  jeder  Seite  finden  wird.  Möge  sein 
Appell  an  die  Reichen  betreffs  der  Verbreitung 


Zuckermandel ,  Tosefta.  741 

des  Werkes  Anklang  finden,  damit  ich  mit  Got- 
tes Hülfe  bald  an  die  Heransgabe  des  Supple- 
mentheftes nnd  dann  an  einen  Gommentar 
gehen    kann 

Nachtrag:  Bezüglich  meiner  These  über 
das  Verhältniß  von  Tosefta  zu  Mischna  macht 
mich  ein  junger  Gelehrter  Herr  Ch.  Horowitz 
in  München  auf  die  Stelle  in  Midrasch  Schir. 
Haschirim  anf merksam,  f.  22  der  Frankfurter 
Ausgabe.  Zum  Vers  7  C.  6  heißt  es  dort:  R. 
Izchak  sagte :  „Sechzig  Königinnen,  das  sind  die 
60  Halachatraktate,  80  Kebsweiber,  das  sind  die 
80  Abschnitte  in  Torath  Kobanim,  Mädchen  ohne 
Zahl,  das  sind  die  endlosen  Zusätze".  Nun 
zählt  unsere  Tosefta  60  Traktate,  während  die 
Mischna  deren  63  hat.  Wollte  man  die  drei 
Babas  für  einen  Traktat  annehmen,  so  blieben 
61.  Daß  Aboth  in  Babylonien  entstanden,  habe 
ich  schon  früher  behauptet  und  wahrscheinlich 
ist  es  mit  den  andern  Traktaten,  die  in  Tosefta 
sich  nicht  finden. 
Pasewalk,  1.  December  1880. 

Dr.  Zuckermandel. 


Untersuchungen  über  das  Sehorgan  der  Ar- 
thropoden, insbesondere  der  Spinnen,  Insecten  und 
Orustaceen.  Von  H.  Gren a eher.  Göttingen,  Vanden- 
hoeck  &  Ruprecht,  1879.  VIH  u.  188  S.  4°.  11 
Tafeln. 

Nachdem  im  Jahre  1826  Johannes  Mül- 
ler in  seinen  berühmten  Beiträgen  -Zur  ver- 
gleichenden Physiologie  des  Gesichtssinnes  des 
Menschen  und  der  Thiere"  S.  307  ff.  zum  ersten 
Male  den  Versuch  gemacht  hat,  eine  wissen- 
schaftliche Erklärung  des  Sehvorganges  in  dem 
sog.  zusammengesetzten  Auge  der  Insecten  und 
Krebse  zu  geben,  hat  dieser  Gegenstand  längere 


742  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23. 24. 

Zeit  hindurch  eine  Reihe  der  besten  Forscher  auf 
dem  Gebiete  der  thierischen  Morphologie  lebhaft 
beschäftigt  und  zu  einer  Anzahl  sehr  werth- 
voller  Publicationen  Anlaß  gegeben.  Die  von 
Müller  aufgestellte  Theorie  traf  das  seltsame 
Geschick,  daß  sie  durch  ein  für  die  vorliegende 
Frage  werthloses  Experiment  in  ihrer  Grundlage 
so  tief  erschüttert  zu  sein  schien,  daß  ihre  Un- 
haltbarkeit  bis  in  die  neueste  Zeit  als  unzwei- 
felhaft erscheinen  konnte.  Wie  in  so  vielen  an- 
deren Fällen  ist  auch  hier  das  Verständniß  der 
physiologischen  Leistung  eines  Organes  nicht 
nur  in  erster  Linie  abhängig  von  der  genauen 
Erkenntniß  des  morphologischen  Aufbaues  des- 
selben, sondern  nahezu  allein  durch  Vermittlung 
dieser  zu  gewinnen.  Die  Fortschritte  in  der 
Erkenntniß  der  Bedeutung  der  eigentümlichen 
Unterschiede  im  Baue  des  zusammengesetzten 
Auges  von  dem  des  Wirbelthierauges  folgen  da- 
her den  Fortschritten  der  morphologischen  For- 
schung, welche  besonders  auf  den  Untersuchun- 
gen von  Leydig,  Clapar&de  und  Max 
Schultze  beruhen,  in  so  unverkennbarer 
Weise,  daß  Boll  auf  Grund  der  Beobachtungen 
von  M.  Schultze  sich  wieder  für  die  Mttller- 
sche  Theorie  entscheiden  konnte,  obwohl 
Schultze  selbst  dieselbe  zurückweisen  zu  müs- 
sen geglaubt  hatte.  Unter  solchen  Umständen 
war  eine  umfassende  vergleichend-morphologi- 
sche Untersuchung  der  verschiedenen  Formen 
des  Arthropodenauges  mit  den  Hülfsmitteln  der 
modernen  Forschung  dringendes  Bedürfniß  und 
versprach  lohnenden  Erfolg.  Grenacher  hat 
in  dem  Werke,  dessen  Titel  oben  angeführt  ist, 
diese  Aufgabe  zu  lösen  unternommen  und  hat 
dabei  gleichzeitig  die  Fragen,  welche  die  heu- 
tige Morphologie  hiusichtlich  des  morphologischen 


Grenadier,  Sehorgan  der  Arthropoden.         743 

Wertbes  der  zusammengesetzten  Augen  stellt  und 
welchen  vor  ihm  namentlich  Ley  dig  näherge- 
treten war,  zu  beantworten  gesucht.  Schon 
zweimal  hat  der  Verf.  über  die  wichtigsten  Er- 
gebnisse seiner  Untersuchungen  vorläufigen  Be* 
rieht  erstattet,  zuerst  in  den  „Göttinger  Nach- 
richten tt  von  1874,  dann  in  einem  Beilageheft 
zu  den  „Klinischen  Monatsblättern  für  Augen- 
heilkunde", 1877.  In  allerjüng8ter  Zeit  hat 
Grenacher  einen  Aufsatz  „über  die  Augen 
einiger  Myriapoden"  (Archiv  für  mikrosk.  Anat. 
Bd.  18.  S.  415  ff.)  folgen  lassen,  dessen  Ergeb- 
nisse wir  unserm  Referat  über  das  umfassendere 
Werk  einverleiben  wollen. 

Die  Augen  der  Gliederthiere  sind  nach  zwei 
wesentlich  verschiedenen  Typen  gebaut  und  kön- 
nen als  das  „einfache  Auge"  oder  „Stenima" 
und  als  das  „zusammengesetzte"  oder  „Facetten- 
auge" bezeichnet  werden.  Ausschließlich  Stem- 
raata  kommen  den  Spinnen,  Scorpionen,  den 
meisten  Myriapoden,  den  Flöhen  unter  den  In- 
secten  und,  in  einer  zum  Theil  allerdings  sehr 
abweichenden  Form,  niederen  Grustaceen  (Cope- 
poden)  zu;  ferner  besitzen  die  Larven  mancher 
Schwimmkäfer  Stemmata,  und  bei  der  Mehrzahl 
der  ausgebildeten  Insecten  mit  Ausnahme  der 
Käfer  finden  sich  solche  als  sog.  Scheitel-  oder 
Nebenaugen  neben  zusammengesetzten  Augen. 
Nach  Ausschluß  der  Gopepoden  schließen  sich 
die  Stemmata  der  genannten  Arthropoden  in 
einer  Anzahl  fundamentaler  Charaktere  nahe  an 
einander  an.  Ueberall  ist  ein  durch  eine  stark 
lichtbrechende,  von  mehr  oder  minder  regel- 
mäßig gewölbten  Flächen  begrenzte  durchsich- 
tige Verdickung  des  Ghitinskelets  hergestellter 
refractorischer  Apparat,  die  Linse  und  hinter 
dieser  eine  in  vielen  Fällen  als  Glaskörper  fun- 


744  Gott.  gel.  Ans.  1881.  Stück  28.  24. 

gierende,  gleichzeitig  die  Matrix  der  Linse  bil- 
dende Hypodermisschicht  vorhanden ,  während 
eine  an  Pigment  reiche  einfache  Schicht  von 
Zellen,  an  deren  Vorderende  Stäbchen  eingelagert 
sind  und  deren  Hinterende  sich  mit  je  einer  Fa- 
ser des  Sehnerven  verbindet,  als  Retina  in 
einem  größern  oder  kleinern  Engelabschnitt  den 
Augenhintergrund  umgreift.  Hinsichtlich  des 
morphologischen  Verhältnisses  der  beiden  Schich- 
ten der  Weichtheile  des  Auges  besteht  ein  Un- 
terschied zwischen  den  Augen  der  Schwimm- 
käfer und  denen  der  Arachniden  und  wahr- 
scheinlich auch  einiger  Myriapoden  insofern,  als 
bei  jenen  Retina  und  Glaskörper  sich  deutlich  als 
Abschnitte  einer  und  derselben  Schiebt,  der  Hy- 
podermis,  darstellen,  während  bei  den  Arach- 
niden etc.  zwar  die  Retina  entwicklungsge- 
schichtlich sich  gleichfalls  von  der  Hypodermis 
ableiten  dürfte,  im  ausgebildeten  Auge  aber  eine 
selbständige  Schicht  bildet,  während  der  Glas- 
körper als  Fortsetzung  der  Hypodermis  erscheint. 
Innerhalb  der  so  umschriebenen  Grenzen  aber 
variiert  nicht  blos  die  Form  der  Elemente,  son- 
dern es  kommen  gewichtige  Unterschiede  im 
Bau  der  Retina  hinzu,  die  namentlich  die  Lage 
der  Stäbchen  in  derselben  betreffen.  Die  Stäb- 
chen sind  mehr  oder  minder  stark  lichtbrechende, 
bald  sehr  vergängliche,  bald  resistentem  Pro- 
duete  der  Retinazellen,  welche  entweder  ganz 
an  der  Oberfläche  derselben  wie  gewöhnliche 
Guticulargebilde,  bald  theilweise  oder  ganz  im 
Innern  derselben  entstehen.  Da  das  Verhalten 
der  Guticularproducte  zur  zelligen  Matrix  im 
Grunde  überhaupt  noch  dunkel  ist  und  kaum  in 
irgend  einem  Falle  entschieden  ist,  ob  die  Cuti- 
cula  eine  Ausscheidung  der  Zelle  oder  das  Er- 
zeugniß    einer   Metamorphose    des   Zellkörpers 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.  745 

selbst  ist,  so  ist  wohl  nichts  dagegen  einzuwen- 
den, daß  Grenacher  auch  die  Stäbchen  als 
Cuticulargebilde  bezeichnet;  allein  man  wird 
doch  wohl  sicher  hier  einen  organischen,  leben- 
den Zusammenhang  derselben  mit  dem  Proto- 
plasma der  Betinazelle  voraussetzen  müssen,  mag 
man  nun,  wie  Claus  („Der  Organismus  der 
Phronimiden",  in  Arb.  a.  d.  zool.  Inst.  Wien. 
Bd.  II,  S.  69)  es  thut,  annehmen,  daß  das  Stäb- 
chen bestimmt  sei,  eine  Form  der  Bewegung  in 
eine  andere  umzusetzen,  oder  mit  Grenacher 
das  percipierende  Element  selbst  darin  erblicken. 
Diese  Stäbchen,  welche  Grenacher  nur  im 
Stemma  von  Phrygmea  grandis  vermißt  hat, 
liegen  nun  im  Stemma  der  Insecten  und  der 
Seorpione  stets  vor  dem  dem  Hinterende  der 
Betinazelle  mehr  oder  weniger  genäherten  Kerne. 
Bei  den  Spinnen  aber  hat  Grenacher  einen 
merkwürdigen  Dimorphismus  der  Augen  ent- 
deckt, der  sich  namentlich  darin  ausprägt,  daß 
die  Kerne  der  Betinazellen  in  einem  Falle  vor, 
im  andern  hinter  den  Stäbchen  liegen,  ein 
Verhalten,  das  Grenacher  in  seiner  neuesten 
Veröffentlichung  nach  dem  Vorgange  von  Gra- 
ber mit  den  Ausdrücken  „präbacillär"  und 
„postbacillär"  bezeichnet.  Gegen  den  letztge- 
nannten Autor  aber,  welcher  in  einer  Abhand- 
lung über  das  unicorneale  Tracheaten-  und  spe- 
ciell  das  Arachnoideen-  und  Hyriapoden-Augetf 
(in:  Arch.  f.  mikr.  Anat  Bd.  XVII.  S.  58  ff.) 
dem  Betinaelemente  der  Arachniden  3  Kerne 
zugeschrieben  hatte,  weist  Grenacher  die 
Einkernigkeit  desselben  nach,  indem  er  darthut, 
daß  Grab  er  Dinge  als  Kerne  beschrieben  hat, 
die  theils  keine  solchen  sind,  theils  überhaupt 
nicht  existieren,  den  wirklichen  Kern  aber  über- 
sehen hat.     Mit  dieser  Differenz  in   der  Lage- 


746  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.24. 

rung  des  Kernes  zum  Stäbeben  geben  nun  an- 
dere Unterschiede  einher,  namentlich  die  Exi- 
stenz von  eigenthümlichen  Muskeln  bei  den 
Augen  mit  postbacillären  Kernen,  die  bedeuten- 
dere Größe,  aber  entsprechende  Spärlichkeit  der 
Retinazellen  bei  den  Augen  mit  präbaciüären 
Kernen.  Da  bei  letzteren  Augen  die  Retina 
einen  größeren  Kugelabschnitt  darstellt,  so  kann 
man  aus  den  morphologischen  Eigenschaften 
derselben  auf  ein  größeres  Gesichtsfeld  schlie- 
ßen, während  der  zweiten  Augenform  ein  schär- 
feres Perceptionsvermögen  eigen  ist.  Diesen 
Dimorphismus  der  Augen  hat  Grenacher  bei 
allen  ächten  Spinnen,  die  er  untersucht  hat,  ge- 
funden; er  fehlt  dagegen  den  Phalangiden.  In 
vielen  Fällen  ist  es  dem  Verf.  gelungen,  den 
Eintritt  je  einer  Nervenfaser  in  das  Hinterende 
einer  Retinazelle  zu  beobachten.  Für  die  Func- 
tion dieser  Stemmata  ist  die  Vertheilung  des 
Pigments  von  großer  Bedeutung.  Es  ist  im  All- 
gemeinen so  angeordnet,  daß  einerseits  die  Cu- 
ticula  und  die  Hypodermis  in  der  Umgebung 
der  Linse,  andrerseits  die  Retinazellen  intensiv 
pigmentiert  sind,  während  Linse  und  Glaskör- 
per, sowie  namentlich  die  Stäbchen  die  voll- 
kommenste Durchsichtigkeit  bewahren.  Nur  das 
Stemma  von  Phryganea  hat  eine  pigmentlose 
Retina.  Als  ein  Schema  von  abweichender  Bil- 
dung ist  ferner  dasjenige  einer  Semblislarve  zu 
erwähnen,  in  dessen  Glaskörper  ein  aus  8  un- 
regelmäßig gestalteten  Segmenten  bestehender 
Krystallkörper  von  starkem  Lichtbrechungsver- 
mögen eingeschaltet  ist. 

Daß  die  Wirkungsweise  dieses  Auges  im 
Wesentlichen  dieselbe  sein  muß  wie  die  des 
Wirbelthier-  oder  des  Cephalopodenauges,  ist 
einleuchtend,   wenn   auch    über    die  Bedeutung 


Gren&cher,  Sehorgan  der  Arthropoden.         747 

der  Eigentümlichkeiten,  in  denen  sich  die 
Augen  der  verschiedenen  Arten  oder  auch  die 
beiden  Angenformen  der  Spinnen  unterscheiden, 
noch  fast  vollständige  Dunkelheit  herrscht  und 
dem  Apparate  unverkennbar  manche  Unvoll- 
kommenheiten  anhaften,  wie  namentlich  der 
Mangel  von  Accommodationseinrichtungen  und 
veränderlichen  Diaphragmen.  Allein  darüber 
kann  kein  Zweifel  besteben,  daß  durch  die  in 
allen  Fällen  regelmäßig  und  stark  gewölbte  Cu- 
ticularlinse  ein  umgekehrtes  Bild  erzeugt  wird, 
dessen  Einzeltheile  von  den  isolierten  Stäbchen 
aufgenommen  und  zum  Sensorium  geleitet  wer- 
den. Trotzdem  scheint  es  mir  nicht  zweck- 
mäßig, in  der  Bezeichnung  dieser  Augenform, 
wie  es  Graber  und  mit  ihm  Claus  (Grund- 
zöge der  Zoologie.  4.  Aufl.  S.  693)  thut,  als 
„unicorneale"  Augen  das  Hauptgewicht  auf 
diese  Ausbildung  der  Linse  zu  legen.  Vollends 
aber  auf  jegliches  Verständniß  verzichten  heißt 
es,  wenn  man  mit  Claus  (Grundzüge  der  Zoo- 
logie, 4.  Aufl.  Bd.  I,  S.  693)  diese  „unicornea- 
lena  Augen  als  „zusammengesetzte  Au- 
gen mit  gemeinsamer  Cornealinse" 
charakterisiert.  Das  Stemma  ist  weder  ein  zu* 
8ammenge8etztes  Auge,  denn  es  hat  nur  eine 
Betina,  noch  wird  durch  diesen  Ausdruck  das 
Verhältniß  desselben  zum  wirklichen  zusammen- 
gesetzten oder  Facettenauge  auch  nur  entfernt 
richtig  bezeichnet;  ja  ein  zusammengesetztes 
Auge  mit  einer  gemeinsamen  Linse  —  nicht 
Cornea!  —  dürfte  wohl  geradezu  als  undenkbar 
zu  bezeichnen  sein. 

Was  über  die  Function  des  Insecten-  und 
Arachnidenstemmas  gesagt  wurde,  findet  da- 
gegen keine  Anwendung  auf  dasjenige  der  My- 
riapoden,  obwohl  dasselbe  in  den  meisten  Fäl- 


748  Gott.  gel.  Ariz.  1881.  Stück  23.  24. 

len  aus  den  gleichen  Bestandteilen  zusammen- 
gesetzt ist  wie  jenes,  nämlich  ans  Linse,  Glas- 
körper und  Retinabecher.  Daß  die  Glaskörper- 
gellen  bei  LUhobius  einen  Hohlraum  umgeben, 
in  den  von  ihrer  Oberfläche  aus  Wimper- 
haare hineinragen,  ist  zwar  ungewöhnlich  und 
auffallend,  ebenso  wie  die  Zugehörigkeit  zahl- 
reicher ungemein  feiner  Stäbchen  zu  je  einer 
Betinazelle  bei  Julus,  allein  die  Leistung  des 
ganzen  Apparats  braucht  dadurch  nicht  wesent- 
lich beeinflußt  zu  werden.  Wohl  aber  geschieht 
dies  dadurch,  daß  die  Stäbchen  einerseits  nicht 
durch  Pigment  isoliert  sind,  andrerseits  ent- 
weder sämmtlich  oder  zum  weitaus  größten  Theil 
senkrecht  zur  Axe  der  Linse  stehen,  so 
daß  das  eintretende  Licht  nicht  die  einzelnen 
Stäbchen  von  ihrer  Spitze  bis  zur  Basis  durch- 
strahlen kann,  sondern  durch  die  sämmtlichen 
vor  einander  liegenden  Stäbchen  hindurchgehen 
muß.  Daß  auf  solche  Weise  ein  Bild,  das  die 
Linse'  immerhin  erzeugen  mag,  wahrgenommen 
werden  sollte,  ist  wohl  kaum  denkbar.  In  er- 
höhtem Maße  hat  dies  Geltung  für  die  Augen 
von  Scutigera,  die  eine  eigene  Form  von  zu- 
sammengesetztem Auge  repräsentieren. 

Aber  daß  die  Stäbchen  zur  Augenaxe  pa- 
rallel gestellt  sind,  ist  nicht  die  einzige  Be- 
dingung für  die  deutliche  Wahrnehmung  eines 
auf  die  Netzhaut  geworfenen  Bildes,  sondern 
außer  einer  möglichst  vollkommenen  Isolierung 
dieser  Stäbchen  ist  die  Existenz  einer  erbebli- 
chen Zahl  von  nervösen  Endapparaten  oder  Be- 
tinazellen erforderlich.  Sinkt  diese  Zahl  unter 
eine  gewisse  Grenze  herab  und  ist  gleichzeitig 
die  Isolierung  der  Stäbchen  mangelhaft,  so  daß 
die  Beizung  durch  einen  eintretenden  Lichtstrahl 
sich  nicht  auf  ein  Stäbchen  beschränkt,  sondern 


Grenadier,  Sehorgan  der  Arthropoden.         749 

auf  eine  oder  mehrere  benachbarte  verbreitet, 
so  kann  ein  solches  Auge  kein  Bild  mehr  wahr- 
nehmen, sondern  nur  noch  einen  Lichteindruck. 
Als  derartig  reducierte  Stemmata  aber  erschei- 
nen die  Einzelaugen  einer  Form  des  Facetten- 
auges, die  wir  zum  ersten  Male  durch  Grena- 
cher  kennen  lernen,  Augen,  die  zusammenge- 
setzt sind  aus  einer  Corneaünse,  einem  hypo* 
dermalen  Glaskörper  und  einer  Retina,  die  nur 
noch  aus  7  Zellen  nebst  ebenso  vielen  Stäbchen 
besteht.  Grenacher  kennzeichnet  den  bedeut- 
samsten Charakter  dieses  Auges  trefflich,  indem 
er  für  die  reducierte  Retina  den  Namen  „Reti- 
nala"  einführt.  Dem  durch  die  Entdeckung  die- 
ser Augenform  ermöglichten  Vergleiche  der  ein- 
zelnen Strahlen  des  Facettenauges  mit  den  ein- 
fachen Augen  hatte  bisher  einerseits  die  irrige 
Ansicht  entgegengestanden,  daß  allen  zusammen- 
gesetzten Augen  sog.  Krystallkegel  zukämen, 
andrerseits  die  falsche  Vorstellung,  die  man  sich 
von  dem  Verhältniß  des  sog.  Seh-  oder  Nerven- 
stabes zu  den  andern  Weichtheilen  des  Auges 
namentlich  anf  Grund  der  Untersuchungen  von: 
Leydig  und  Max  Schultze  gebildet  hatte- 
Grenacher  zeigt  jetzt,  daß  viele  langfühlerige* 
Dipteren,  ferner  die  Hemipteren  und  endlich 
eine  ansehnliche  Schaar  von  Käfern  krystall- 
kegellose  oder  „acone"  Augen  besitzen.  Hinter 
der  Linse,  die  als  Corneafacette  erseheint,  liegt 
ein  kegelförmiger  Körper,  der  aus  4  hellen,  mit 
je  einem  Kerne  versehenen  „Krystallzellen"  zu- 
sammengesetzt und  von  zwei  großen  Haupt* 
pigmentzellen  umhüllt  ist,  an  welche  sich  peri- 
pherisch noch  kleinere  secundäre  Pigmentzellen 
anschließen.  Auf  diese  äußere  wie  der  Glas- 
körper des  Stemmas  zur  Hypodermis  gehörige 
Schicht   folgt    dann   nach  innen    die   Retinula. 


750  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23. 24. 

Diese  besteht  aus  7  Zellen,  von  denen  6  sehma- 
lere eine  dickere,  die  Axe  der  Retinula  ein- 
nehmende umgeben.  Die  7  von  je  einer  der 
Zellen  erzeugten  Stäbchen  sind  noch  vollständig 
von  einander  getrennt,  aber  nicht  mehr  durch 
Pigment  isoliert  und  berühren  sich  mit  ihren 
äußern  Enden,  ja  zuweilen  (Notonecta)  in  grö- 
ßerer Ausdehnung,  so  daß  sie  wie  ein  einheit- 
liches Gebilde  erscheinen  können.  Das  „acone" 
Einzelauge  entbehrt  mithin  sowohl  eines  „Kry- 
stallkegels"  wie  eines  „Sehstabes",  und  gleicht 
in  seinem  Bau  durchaus  einem  Stemma  mit  sehr 
reducierter  Retina. 

Nahe  verwandt  mit  der  aconen  Augenform 
ist  die  „pseudocone"  der  kurzfühlerigen  Dipte- 
ren oder  Fliegen.  Auch  diese  besitzen  keinen 
Kry stallkegel ;  wohl  aber  findet  sich  zwischen 
der  Linse  und  der  Retinula  in  einem  trichter- 
förmigen Hohlräume,  dessen  Grund  4  Krystall- 
zellen  mit  ihren  Kernen  einnehmen,  während 
Haupt-  und  Nebenpigmentzellen  ihn  seitlich  um- 
schließen, eine  im  Leben  wahrscheinlich  flüssige 
Substanz,  die  Grenacher  mit  dem  Namen 
„Pseudoconus"  belegt.  7  Stäbchen,  die  am  äu- 
ßern Ende  in  innige  Berührung  mit  einander 
treten,  ragen  als  Ausscheidungen  ebenso  vieler 
Zellen  der  Retinula  in  das  Lumen  einer  von 
dieser  gebildeten  Röhre  hinein.  Auch  diesen 
Augen  fehlen  also  Krystallkegel  und  Sehstab; 
doch  ist  in  dem  Pseudoconus  ein  Gebilde  von 
gleicher  optischer  Wirksamkeit  wie  ein  Krystall- 
kegel gegeben. 

Auch  die  Augen  der  Insecten,  die  nach  Aus- 
schluß derjenigen  mit  aconen  und  pseudoconen 
Augen  übrig  bleiben,  entsprechen  dem  land- 
läufigen Bilde  vom  Bau  des  zusammengesetzten 
Auges   noch  nicht    sämmtlich;    sondern    Gre- 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.  751 

na  eher  führt  uns  in  Corethra  plumicornis  eine 
Form  vor,  bei  der  die  Zellen  der  Retinula  7 
getrennte  Stäbchen  erzeugen.  Für  die  übrigen 
Insecten  aber  und  die  mit  zusammengesetzten 
Augen  ausgestatteten  Grustaceen  kann  als  Ke- 
gel gelten,  daß  mit  dem  Besitze  eines  echten 
Krystallkegels  („eueone  Augen")  die  Verschmel- 
zung der  Stäbchen  zu  einem  einheitlichen  Kör- 
!»er,  dem  „Rhabdom",  verbanden  ist.  Die  Ein- 
ührung  dieses  letztern  Namens  verdient  gewiß 
Zustimmung,  da  einerseits  diese  eigenartige  Aus* 
bildung  des  pereipierenden  Apparates  eine  be- 
sondere Bezeichnung  erheischt,  andererseits  die 
Namen  „Nervenstab"  (Ley dig)  und  „Sehstab" 
(Max  Schnitze)  nicht  wohl  verwendet  wer- 
den können,  weil  sie  nicht  als  Theile  einer  Re- 
tinula, sondern  die  zu  ihnen  gehörigen  Retinula- 
zellen  als  einfache  Scheide  derselben  gedacht 
sind.  Claus  richtet  daher  Verwirrung  an, 
wenn  er  (Grundztige,  4.  Aufl.  S.  693)  „Nerven- 
stabu  und  „Retinula"  als  synonym  hinstellt*). 

Die  Unterschiede  innerhalb  des  eueonen 
Augentypus  beschränken  sich  fast  auf  Schwan- 
kungen  in  der  Form  und  der  Zahl  der  Bestand- 
theile  des  Einzelauges.  Die  Erystallkegel  sind 
structurlose  Ausscheidungen  im  Innern  von  we- 
nigen mit  je  einem  sog.  Semper'schen   Kerne 

*)  Schlimmer  ist  es  allerdings  noch,  wenn  Claus 
ebenda  S.  39  „selbst  die  vordem  Abschnitte  der  eigen- 
tümlichen stäbchenartigen  Nervenenden  (Krystallkegel)" 
zu  den  lichtbrechenden  Apparaten  des  Auges  rechnet. 
•  Uebrigens  liefert  dieser  Satz,  der  aus  der  3.  Aufl.  S.  41 
herübergenommen  ist,  obwohl  auf  der  nächsten  Seite  eine 
im  Wesentlichen  correcte  Darstellung  nach  Grenacher 
neu  eingeschaltet  ist,  welche  mit  der  in  diesem  Satze 
ausgesprochenen  Auffassung  völlig  unvereinbar  ist,  ein 
charakteristisches  Beispiel  für  die  Art  und  Weise,  wie 
die  neuen  Auflagen  dieses  Buches  gemacht  werden. 


752  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  28.  24. 

versehenen  Zellen,  die  den  KryBtallzellen  des 
aconen  Auges  entsprechen.  Die  Zahl  dieser 
Zellen  beträgt  meist  4;  doch  sind  es  bei  lso- 
poden  und  Arnphipoden  nur  2,  bei  den  Cladoce- 
ren  dagegen  5,  denen  ebensoviel  Segmente  des 
Krystallkegels  entsprechen.  Das  Auge  von 
Necrophorus  zeigt  eine  merkwürdige  Annäherang 
an  die  pseudoconen  Augen,  in  dem  hier  4  große 
Erystallzellen  vorhanden  sind,  deren  jeder  ein 
kleiner  heller  Zapfen  vor  dem  Kerne  einge- 
lagert ist,  während  in  allen  übrigen  Fällen  die 
Semper'schen  Kerne  vor  dem  Krystallkegel  lie- 
gen. Die  Kry stallzellen  selbst  sind  meistens 
sehr  reduciert  und  bilden  nur  eine  unscheinbare 
Hülle  um  den  Krystallkegel,  erhalten  sich  jedoch 
bei  den  Hyperidm  in  größerer  Ausdehnung, 
während  sie  bei  Branchipus  sehr  ansehnlich 
sind  und  in  ihrem  hintern  Abschnitte  eine  Um- 
wandlung ihrer  Substanz  zu  einem  die  Wirkung 
der  Krystallkegel  ergänzenden  refractorischen 
Körper  erleiden,  wie  dies  in  noch  höherem 
Maße  bei  den  Decapoden  der  Fall  ist,  wo  so- 
wohl vor  wie  hinter  den  Krystallkegeln  die 
Substanz  der  Erystallzellen  in  gewisser  Aus- 
dehnung ein  erhöhtes  Brechungsvermögen  be- 
sitzt. Das  Hinterende  der  Krystallzellen  steckt 
immer  zwischen  ein  paar  Hauptpigmentzellen) 
während  secundäre  Pigmentzellen  die  Einzel- 
augen von  einander  trennen. 

Die  Retinula  ist  überall  aus  wenigen  Zellen 
zusammengesetzt,  deren  Zahl  eine  beachtens- 
werthe  Gonstanz  zeigt.  Als  typische  Zahl  kehrt 
auch  hier  wie  beim  aconen  und  pseudoconen 
Auge  die  Zahl  7  wieder  (Necrophorus,  Lamdli- 
cornia,  Nacht-  und  Dämmerungsfalter,  Isopoden, 
Decapoden) ;  doch  kommen  daneben  8  (Hymeno- 
pteren  und   Orthopteren)   oder  nur  4  (Dytiseus, 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.         753 

Cardbus)  oder  5  {Hypevidm>  Phylhpoderi)  vor. 
Uebrigens  ist  es  dem  Verf.  nicht  gelungen,  für 
alle  untersuchten  Augen  die  Zahl  der  Retinula- 
elemente  zu  ermitteln.  Diese  scheiden  nun  ge- 
meinschaftlich das  Rhabdom  ab,  und  zwar  läßt 
sich  dabei  in  vielen  Fällen  der  Antheil  jeder 
einzelnen  Zelle  an  einer  entsprechenden  Zusam- 
mensetzung des  Rhabdoms  erkennen.  Um  so 
auffallender  ist  es,  daß  bei  den  Decapoden  die 
7  Retinulazellen  ein  nur  4theiliges  Rhabdom  er- 
zeugen, und  auch  bei  Mysis  scheint  die  Zahl 
der  Zellen  größer  zu  sein  als  die  der  Rhabdom- 
segmente.  Im  einfachsten  Falle,  welcher  unter 
den  Insecten  durch  Hymenopteren ,  Homopteren 
und  Orthopteren,  unter  den  Crustaceen  durch 
Phyllopoden  und  Arthrostraken  vertreten  ist,  stellt 
das  Rhabdom  einen  dünnen  cylindrischen  Stab 
dar,  (durch  dessen  Axe  bei  Cicada  grossa  ein 
Längscanal  verläuft),  während  es  bei  den  übri- 
gen Insecten  und  bei  den  decapoden  Crustaceen 
eine  durch  einen  breiten  Hinterabschnitt  und 
eine  feinen  vordem  Hals  charakterisierte  Ge- 
stalt annimmt  An  dem  hintern  Abschnitte  nimmt 
man  die  von  Max  Schul tze  so  nachdrücklich 
betonte  Plättchenstructur  wahr,  wie  sie  auch  den 
Stäbchen  der  Wirbelthierretina  eigen  ist. 

Das  eucone  Auge  in  seiner  höchst  entwickel- 
ten Form  ist  mithin  durch  eine  gewisse  Reduc- 
tion seiner  Bestandtheile  gegenüber  dem  aconen 
und  pseudoconen  charakterisiert:  die  Krystall- 
zellen  bilden  nur  noch  eine  unscheinbare  und 
functionell  wohl  sehr  untergeordnete  Hülle  um 
eine  Anzahl  structurloser  Guticularsproducte  der- 
selben, und  die  Stäbchen  haben  ihre  Selbstän- 
digkeit aufgegeben  und  sind  zu  einem  einheit- 
lichen Rhabdom  verschmolzen.  Diese  morpho- 
logische Reduction   erweist  sich   aber  als  eine 

48 


754  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

bedeutsame  Vervollkommnung  in  physiologischer 
Hinsicht:  in  allen  Veränderungen  innerhalb  des 
Typus  der  zusammengesetzten  Augen  bekundet 
sich  aufs  Evidenteste  die  Tendenz  einer  Gen- 
tralisierung,  einerseits  die  Zahl  der  percipieren- 
den  Elemente  auf  die  Einheit  zu  beschränken 
und  andrerseits  das  eintretende  Licht  auf  dieses 
Element  zu  concentrieren.  Die  Veränderungen, 
welche  die  Erreichung  dieses  Zieles  bezwecken, 
gehen,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht  ganz  pa- 
rallel, sondern  die  Ausbildung  des  lichtbrechen- 
den Apparates,  des  Krystallkegels,  schreitet  der 
Verschmelzung  der  Stäbchen  voran:  wir  finden 
Erystallkegel  bei  Augen,  deren  Betinulazellen 
noch  isolierte  Stäbchen  erzeugen ;  dagegen  haben 
wir  kein  Auge  kennen  gelernt,  das  ein  Rhab- 
dom,  aber  noch  keine  Erystallkegel  besäße, 
während  die  aconen  und  pseudoconen  Augen 
sämmtlich  durch  den  Mangel  eines  Bhabdoms 
ausgezeichnet  scheinen.  Dies  Verhalten  deutet 
in  unverkennbarer  Weise  die  Richtung  an,  in 
welcher  wir  die  Entstehung  des  zusammengesetz- 
ten Auges  zu  suchen  haben;  es  bezeichnet  die 
aconen  Augen  als  die  primitivsten,  und  diese 
stimmen,  wie  oben  hervorgehoben  wurde,  in 
vollkommenster  Weise  nach  ihrem  typischen 
Aufbau  mit  dem  Stemma  überein.  Wollen  wir 
daher  zwischen  dem  zusammengesetzten  Auge 
und  dem  Stemma  Beziehungen  im  Sinne  einer 
gemeinsamen  Descendenz  feststellen,  so  sind  wir 
auf  eine  Augenform  hingewiesen,  welche  dem 
Elemente  des  aconen  Auges  im  Wesentlichen 
geglichen  haben  dürfte,  d.  h.  auf  ein  Stemma 
mit  beschränkter  Zahl  von  Retinazellen  sammt 
zugehörigen  Stäbchen,  einen  als  Glaskörper  fun- 
gierenden Complex  von  durchsichtigen  Hypo- 
dermiszellen,  in  dessen  Umkreise  Pigment  abge- 


Grenadier,  Sehorgan  der  Arthropoden.         755 

lagert  ist,  und  einer  hellen  linsenförmigen  Ver- 
dickung der  Cuticula.  „Vermehrung  der  Einzel- 
elemente dieses  Uranges  führt  uns  zum  Stemma ; 
Vermehrung  der  Zahl  der  Einzelaugen,  nähere 
Aggregierung  desselben  unter  leichter  Umformung 
der  Elemente  dagegen  leitet  uns  zum  Facetten- 
auge hinüber".  Im  Einzelnen  stößt  allerdings 
die  Durchführung  dieser  phylogenetischen  Ab- 
leitung, wie  Grenacher  zeigt,  auf  manche 
Schwierigkeiten.  Ich  möchte  allerdings  glau- 
ben, daß  wir  der  Annahme  einer  polypbyleti- 
schen  Entstehung  der  Erystallkegel  uns  nicht 
werden  entziehen  können.  Es  spricht  zu  Gun- 
sten derselben  nicht  nur  die  Inconstanz  dieses 
Gebildes  innerhalb  enger  verwandtschaftlicher 
Kreise  wie  der  Coleopteren,  bei  denen  acone 
und  eucone  Augen  vorkommen,  sondern,  wie 
mir  scheint,  noch  bestimmter  die  Thatsache,  daß 
die  Krystallkegel  augenscheinlich  bei  Insecten 
und  bei  Crustaceen  unabhängig  von  einander 
entstanden  sind,  indem  sie  allen  Insecten,  die 
eines  Ehabdoms  entbehren,  noch  fehlen.  In 
diesem  Zusammenhange  scheint  mir  auch  die 
Existenz  eines  krystallkegelartigen  Gebildes  im 
Stemma  der  Semblislarven  von  Bedeutung.  End- 
lich zeigt  uns  Grenacher,  daß  es  auch  inner- 
halb des  abweichenden  Typus  des  Myriapoden- 
auges  zur  Ausbildung  zusammengesetzter  Augen 
kommen  kann,  in  denen  gleichfalls  ein  großer 
lichtbrechender  Körper  vorhanden  sein  kann, 
dessen  morphologische  Beziehungen  zum  Krystall- 
kegel, beziehungsweise  den  Krystallzellen  zwar 
nicht  völlig  aufgeklärt  sind,  der  aber  durch  die 
Benennung  -Krystallkörper"  gewiß  mit  Becht 
als  in  die  Kategorie  dieser  Bildungen  gehörig 
bezeichnet  ist.  Dies  interessante  Auge  findet 
sich  bei  Scuiigera.  Hier  sind  an  jeder  Seite 
des  Kopfes   zahlreiche,  zu   einem  Facettenauge 

48* 


756  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

zusammengedrängte  Einzelaugen  vorhanden,  de- 
ren jedes  hinter  einer  vorn  mäßig  convexen, 
hinten  fast  planen  Gornealinse  einen  Weichkör- 
per besitzt,  welcher  einen  tiefen  trichterförmigen 
Hohlraum  umschließt.  Etwa  die  vordem  zwei 
Drittel  dieses  Hohlraumes  sind  von  einem  durch- 
sichtigen Kegel  eingenommen,  der  unregel- 
mäßige Zerklüftungen  erkennen  läßt,  nach  Ein- 
wirkung von  Säuren  aber  sein  vorher  starkes 
Lichtbrechungsvermögen  verliert  und  von  un- 
regelmäßig verlaufenden  und  vielfach  gefalteten 
Membranen  durchzogen  erscheint;  der  Nachweis 
von  Kernen  gelang  nicht,  doch  bleibt  es  auch 
unwahrscheinlich,  das  es  sich  um  ein  Cuticular- 
gebilde  handle,  und  Grenacher  ist  vielmehr 
geneigt,  modificierte,  des  Kernes  verlustig  ge- 
gangene Zellen  darin  zu  erblicken.  Functionen 
entsprechen  diese  „Krystallkörper"  jedenfalls 
dem  Krystallkegel  der  Insecten-  und  Crustaceen- 
augen.  Die  Wandung  des  Trichters  wird  vorn 
von  einem  einfachen  Kranze  von  Hauptpigment- 
zellen, hinten  von  der  Retinula  gebildet.  Letz- 
tere ist  aus  einem  vordem  und  einem  hintern 
Zellenkranze  zusammengesetzt,  von  denen  jede 
Zelle  ein  gegen  das  Lumen  des  Trichters  vorsprin- 
gendes Stäbchen  erzeugt.  Die  an  diesen  er- 
kennbare Querstreifung  läßt  an  eine  Zusam- 
mensetzung aus  zahlreichen  feinsten  Stäbchen 
ähnlich  denen  von  Jülus  denken.  Zu  den  vor- 
deren Retinulazellen  verfolgte  Grenacher 
Nervenfasern. 

Mit  Spannung  darf  man  Untersuchungen  über 
die  Stemmata  von  Limulus  entgegensehen,  da 
dieselben  voraussichtlich  analoge  Beziehungen 
zum  Bau  der  Einzelaugen  der  beiden  großen 
Facettenaugen  dieses  Thieres  erkennen  lassen 
werden,  den  uns  Grenacher  zum  ersten  Male 
in   seinen    Grundzügen    vorgeführt    hat.     Will 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.  757 

man  dasselbe  nach  seiner  Aehulichkeit  mit  an- 
deren Augenformen  charakterisieren,  so  kann 
man  es  vielleicht  am  besten  als  ein  Myriapoden- 
auge  mit  einem  Bhabdom  bezeichnen,  denn  die 
Weichtheile  setzen  sich  zusammen  aus  einem 
hypodermalen  Glaskörper  und  einer  gleichfalls 
in  Continuität  mit  der  Hypodermis  erscheinen- 
den, aus  etwa  14—16  Zellen  bestehenden  Reti- 
nula,  die  ein  Rhabdom  von  vielstrahligem  Quer- 
schnitte umschließt.  Der  lichtbrechende  Appa- 
rat wird  auschließlich  von  der  in  3  Hauptschich- 
ten zerfallenden  Cuticula  gebildet.  Während 
die  äußere  Fläche  der  oberflächlichsten  Schicht 
derselben  ganz  glatt  ist,  bildet  die  innere  Fläche 
der  mittleren  und  besonders  die  der  mächtigsten 
tiefsten  Schicht  über  jedem  Auge  eine  kegel- 
förmige Verdickung,  ähnlich  wie  es  auch  bei 
Julus  unter  den  Myriapoden  der  Fall  ist. 

Bilden  diese  Forschungen  über  die  Morpho- 
logie des  Arthropoden-Auges  den  Schwerpunkt 
der  Grenacher'schen  Arbeit,  so  sind  andrerseits 
die  Ergebnisse  für  die  Physiologie  des  zusam- 
mengesetzten Auges  nicht  minder  wichtig,  in- 
dem durch  die  morphologische  Untersuchung  der 
Streit  um  den  Sehvorgang  im  Facettenauge  wohl 
endgültig  zu  Gunsten  der  Theorie  des  musivi- 
schen  Sehens  entschieden  sein  dürfte.  Grena- 
cher erörtert  diese  Frage  in  knapper  und  prä- 
ciser  Weise  im  zweiten  Abschnitte  der  „Folge- 
rungen", welche  er  der  Darlegung  der  Beob- 
achtungsergebnisse anschließt.  Die  der  Müller'- 
schen  Theorie  vom  musivischen  Sehen  gegen- 
überstehende Ansicht,  wonach  in  jedem  Einzel- 
auge ein  Bildchen  erzeugt  und  wahrgenommen 
wird  und  welcher  namentlich  durch  ein  Experi- 
ment von  Gottsche,  in  welchem  dieses  Bild- 
chen objectiv  hinter  dem  Krystallkegel  des  Flie- 
genauges  dargestellt  wird,  weitgehende  Aner- 


758  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stuck  23. 24. 

kennung  gefunden  hat,  wird  kurz  als  „  Bild  che  n- 
theoriea  bezeichnet.  Die  letztere  setzt  eine  Viel- 
heit von  percipierenden  Elementen  an  der  Stelle, 
wo  das  Bild  projiciert  wird,  voraus,  während 
die  Mttller'sche  Theorie  im  Gegentheil  die  Exi- 
stenz nur  eines  einzigen  percipierenden  Ele- 
mentes hinter  jeder  Corneafacette  fordert.  Als 
Perceptionselemente  können  aber  nach  den  Un- 
tersuchungen Gren  a  eher 's  nur  die  Stäbchen 
angesehen  werden;  diese  müssen  mithin  auch 
den  Ort  bestimmen,  an  welchen  wir  die  Recep- 
tion zu  verlegen  haben.  Das  Sehfeld  der 
Einzelfacette  ist  sowohl  durch  den  geringen 
Durchmesser  der  Facette  als  auch  durch  die 
große  Tiefe  des  Auges  und  die  damit  zusam- 
menhängende Entfernung  des  Stäbchens  von  der 
Oberfläche  auf  ein  sehr  geringes  Maß  beschränkt, 
das  um  so  geringer  ist,  je  typischer  und  voll- 
kommner  die  Charaktere  des  Facettenauges  aus- 
gebildet sind.  Es  kommt  ferner  in  Betracht, 
daß  die  Beobachtung  der  Thiere  in  der  Natur 
auf  Unterschiede  in  der  Sehschärfe  hinweist, 
denen  Unterschiede  in  der  Zahl  der  Betinula- 
zellen  nicht  entsprechen.  Aus  einer  genauen 
Prüfung  des  Gottsche' sehen  Experimentes 
geht  nun  hervor,  daß  in  demselben  das  Bildchen 
in  dem  angewandten  Fliegenauge  unmöglich 
durch  den  Erystallkegel  erzeugt  sein  kann,  da 
hier  ein  solcher  gar  nicht  vorbanden,  sondern 
durch  den  flüssigen  Pseudoconus  vertreten  ist. 
Aber  auch  bei  den  Nachtschmetterlingen,  an  de- 
nen Grenacher  das  Gottsche'sche  Expe- 
riment wiederholt  hat,  tritt  das  sehr  leicht  und 
in  vollendeter  Klarheit  darstellbare  Bild  nicht 
im  Gebiete  des  Stäbchens  hinter  dem  Erystall- 
kegel auf,  sondern  im  Innern  des  Letztern,  also 
an  einem  Orte,  wo  pereipierende  Elemente  gar 
nicht  vorhanden   sind.     Das  Bild    kann   mithin 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.         759 

nur  von  der  Cornealinse  erzengt  sein.  Daß  das 
Zustandekommen  desselben,  wie  Exner  in  einer 
Abhandlung  „über  das  Sehen  von  Bewegungen 
und  die  Theorie  des  zusammengesetzten  Auges" 
(Wiener  Akad.  Sitzungsber.  Math.  nat.  Gl.  Bd. 
72,  Abth.  III.  1875.  S.  156)  auf  Grund  von  Mes- 
sungen und  Berechnungen  der  Brechungsmittel 
nachzuweisen  sucht,  durch  die  Krystallkegel, 
wenigstens  nicht  in  allen  Fällen  verhindert 
werde,  ergiebt  sich  aus  dem  oben  erwähnten 
Versuch  Grenacher' s.  Beide  Beobachter  aber 
stimmen  darin  überein,  daß  das  Bild  viel  zu 
groß  ist,  um  auf  dem  Querschnitte  des  Bhab- 
doms oder  gar  der  fadenförmigen  Verlängerung 
desselben  Platz  zu  finden.  Es  ist  vielleicht  hin- 
zuzufügen, daß  ein  sternförmiger  Querschnitt  des 
Bhabdoms,  wie  er  uns  z.  B.  im  Maikäferauge 
entgegentritt,  gewiß  zur  Perception  eines  Bildes 
wenig  geeignet  erscheint.  Dazu  kommt,  daß  in 
manchen  Augen,  unter  denen  Grenacher  na- 
mentlich das  der  Hyperidm  mit  völlig  glatter 
Cornea  und  planer  Vorderfläche  des  Erystall- 
kegels  namhaft  macht,  ein  Linsenapparat  zur 
Erzeugung  eines  derartigen  Bildchens  gar  nicht 
vorbanden  ist.  Erwägt  man  endlich  noch,  daß 
eine  Betina,  die  aus  nur  7  oder  noch  weniger 
Elementen  besteht,  von  vornherein  zur  Wahr- 
nehmung auch  des  einfachsten  Bildes  untauglich 
erscheint,  und  daß  in  keiner  Weise  die  iso- 
lierte Reizung  der  Stäbchen  gesichert  ist,  des 
Bhabdoms  gar  nicht  zu  gedenken,  so  kann  wohl 
von  einer  Annahme  der  „ Bildchentheorie"  fiir- 
der  nicht  mehr  die  Bede  sein. 

Andrerseits  ist  allerdings  auch  die  Forde- 
rung der  Müller  'sehen  Theorie,  daß  hinter  jeder 
Facette  sich  nur  ein  pereipierendes  Element 
befinden  solle,  durch  Grenacher's  Untersu- 
chungen  Bricht   als   vollkommen   erfüllt    darge- 


760  Gott  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

than,  insofern  auch  im  Falle  extremer  Redaction 
die  Zahl  der  Retinazellen  mindestens  4,  meistens 
aber  7  beträgt.  Dagegen  sind  gerade  diejenigen 
Elemente,  in  welche  wir  die  Umwandlang  der 
Lichtbewegung  in  Nervenerregung  verlegen  müs- 
sen, die  Stäbchen  mindestens  an  ihrem  dem 
Licht  zugewandten  Ende  einander  bis  zur  Be- 
rührung genähert,  und  es  ist  in  diesem  Zu- 
sammenhange von  der  allergrößten  Bedeutung, 
daß  gerade  in  denjenigen  Augen,  welche  die 
vollkommenste,  höchst  differenzierte  Form  des 
Facettenauges  repräsentieren,  ausnahmslos  die 
Stäbchen  zum  Rbabdom  verschmolzen  sind.  Wo 
ein  solches  die  Reizung  der  Retinazellen  vermittelt, 
kann  der  Eindruck  unmöglich  anders  als  ein- 
heitlich gedacht  werden.  Auf  dem  Nachweise 
aber,  daß  das  Rhabdom  die  verschmolzenen 
Stäbchen  einer  Retina  repräsentiert,  ruht  sowohl 
die  Erkenntniß  vom  morphologischen,  beziehungs- 
weise phylogenetischen  Zusammenhange  des 
Stemmas  und  des  Facettenauges  als  auch  die 
Einsicht  in  den  Sehvorgang  im  Letztern.  Darin 
liegt  der  eminente  Fortschritt,  den  wir  Gre- 
nac  h  er '  s  trefflichen  Untersuchungen  verdanken. 
Den  Schluß  des  Buches  bildet  ein  anregen- 
des Gapitel  über  das  Retinaelement  im  tbieri- 
schen  Auge,  aus  dem  wir  als  für  die  allge- 
meine Auffassung  besonders  wichtig  hervor- 
heben möchten,  daß  die  Retina  sich  in  den  mei- 
sten Fällen  als  ein  Product  des  Integuments 
nachweisen  läßt,  dem  sich  zwar,  wie  namentlich 
bei  Wirbelthieren  und  Cephalopoden,  Ganglien- 
massen innig  anschließen  können,  das  aber 
selbst  nicht  aus  Ganglienzellen  besteht.  Na- 
mentlich betont  Grenacher  mit  Recht  den 
Fortschritt,  den  die  neuere  Zeit  in  der  morpho- 
logischen Auffassung  der  Wirbelthierretina  auf- 
zuweisen  hat,    indem    sie   die   Stäbchen-   und 


Grenacher,  Sehorgan  der  Arthropoden.         761 

Zapfenschiebt  und  die  äußere  Körnerschicht 
nebst  Membrana  limitans  externa  als  Neuroepi- 
thelschicht  den  übrigen  als  Gehinischicht  be- 
zeichneten Lagen  entgegensetzt:  die  Retina  der 
meisten  wirbellosen  Thiere  entspricht  nur  der 
Nenroepithelschicht. 

Alles  in  Allem  haben  wir  in  Grenachers 
„Untersuchungen  über  das  Sehorgan  der  Arthro- 
poden" nicht  nnr  ein  Werk  vor  uns,  das  reich 
ist  an  den  Ergebnissen  sorgfältigster,  mit  ebenso 
viel  Geduld  wie  Geschick  angestellter  Stadien 
über  den  feinern  Bau  eines  der  compliciertesten 
Organe,  reich  an  Detailbeobachtungen,  die  uns 
der  Verfasser  mit  Ktinstlerband  in  ebenso  sau- 
beren wie  klaren,  vom  Lithographen  trefflich 
reproducierten  Abbildungen,  vorführt,  sondern  es 
ist  in  hohem  Maße  ausgezeichnet  durch  einen 
in  seltener  Weise  geschärften  Blick  für  die  Be- 
deutung, welche  die  Beobachtungen  für  die 
physiologische  und  namentlich  auch  für  die 
morphologische  Auffassung  des  Gegenstandes 
haben.  Es  bezeichnet  einen  Fortschritt  in  der 
vergleichenden  Anatomie  eines  der  wichtigsten 
Organe,  wie  ihrer  die  letzten  Decennien  nicht 
viele  aufzuweisen  haben.  Möge  die  reiche 
Saat  desselben  auf  einen  fruchtbaren  Boden 
fallen!  Stengel. 

Allgemeine  philosophische  Ethik  von  Dr. 
Tuiskon  Ziller,  Professor  an  der  Universität 
Leipzig.    Langensalza  1880.    508  S.    Gr.  8°. 

Diese  Neubearbeitung  der  Ethik  in  Her- 
bart'8  Sinne  durch  H.  Ziller,  den  eifrigen 
Vertreter  besonders  Herbartischer  Pädagogik, 
kann  man  freudig  bewillkommnen.  Sie  hat  alle 
vorteilhaften  Züge  Herbartischer  Schulung  an 
sich,  vor  allem  logische  Klarheit  der  Begriffs- 
bildung  und   Darstellung   und    eingehende   Be- 


762  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

rttcksichtigung  des  realen  Lebens  und  seiner 
Bestrebungen«  Sie  ist  dabei  eine  selbständige 
Nacherzeugung  der  Gedanken  des  Meisters;  selbst 
von  diesem  abzuweichen,  wo  es  ihm  wissen- 
schaftlich geboten  erscheint,  scheut  sich  der  Ver- 
fasser nicht;  so  giebt  er  der  Idee  der  inneren 
Freiheit  eine  andere  Stellung,  als  Herbart  ge- 
than,  und  ersetzt  dessen  relative  Straftheorie 
durch  die  absolute.  So  sehr  man  dies  alles  an- 
erkennen und  hochschätzen  kann,  so  sehr  kann 
man  daneben  der  Ansicht  sein,  daß  auch  in  die- 
ser Neubearbeitung  die  Her  bartische  Ethik  for- 
malen und  materialen  Einwendungen  unterliegt, 
welche  sie  keineswegs  als  das  abschließende 
wissenschaftliche  Werk  erscheinen  lassen,  wel- 
ches die  Anhänger  Herbart's  darin  sehen. 
Ich  formuliere  meinen  Widerspruch,  ihn  auf  prin- 
cipielle  Punkte  einschränkend,  kurz  dahin: 

Erstens.  Nach  dem  Verf.  ist  der  wirkliche 
Gegenstand  der  Ethik  eine  auf  objektiven  Grün- 
den ruhende,  wissenschaftliche,  allgemeingültige 
Werthschätzung  (S.  11).  Diese  Werthschätznng 
ist  die  innere  Stimme,  welche  niemals  völlig  ver- 
stummt (S.  96);  in  ihr  wird  unmittelbar  Gewisses 
und  Eviaentes  erkannt  (S.  113).  Es  kommt  dazu 
nur  auf  die  ruhige  klare  Auffassung  des  Ver- 
hältnisses «an  (S.  154).  Diese  Unmittelbarkeit 
des  sittlichen  Urtheils  ist  dasselbe  wie  die  bei 
ruhiger  Klarheit  des  Inneren  und  im  freien  Er- 
zeugen des  Urtheils  unbestochene  und  unbestech- 
liche unmittelbare  Stimme  des  Gewissens  (S.  154). 
Ich  meine,  danach  müßte  man  wohl  erwarten, 
daß  das  moralische  Urtheil  zu  allen  Zeiten  sich 
Bahn  gemacht  habe,  mindestens  als  Urtheil,  aber 
so  ist  es  nach  dem  Verf.  nicht.  Selbst  durch  die 
Geschichte  der  Philosophie  zieht  sich  nach  ihm 
„ein  sehr  schmaler  Streifen  der  ethischen  Wahr- 
heit" (Vorrede)  und  in  der  Wissenschaft,  wie  im 


Ziller,  Allgemeine  philosophische  Ethik.        763 

Leben,  ist  Eudämonismus,  blos  theoretische  Gei- 
stesentwicklung u.  s.  w.  das  Ueberwiegende  ge- 
wesen (§§.  2,  5,  6).  Der  Verf.  erklärt  sich  diese 
Erscheinung  so,  daß  es  ja  eine  subjective  Will- 
kür gebe,  die  auch  dem  objectiv  Notwendigen 
gegenüber  an  ihren  Meinungen  festhalte  (S.  17). 
Für  einen  Herbartianer  ist  diese  Erklärung  un- 
zulässig, denn  nach  H  e  r  b  a  r  t  steht  auch  das 
geistige  Leben  unter  strengen  Gesetzen.  Der 
Fehler  liegt  darin,  daß  H.  bei  seiner  Moral 
zwei  stillschweigende  Voransssetzungen  gemacht 
hat,  daß  nämlich  alle  Menschen  zu  seiner  mora- 
lischen Werthschätzung  gleichsam  in  potentia 
proxima  seien,  und  daß  jeder  Mensch  den  andern 
von  vornherein  als  sich  gleich  ansehe.  Nach  der 
Geschichte  ist  weder  das  Eine  noch  das  Andere 
zutreffend,  und  es  gilt  daher,  sowohl  diesen  ge- 
schichtlichen Thatsachen  als  der  Hoffnung  auf 
eine  allgemeingültige  Moral  wissenschaftlich  ge- 
recht zu  werden.  Das  ist  weder  bei  Herb  art 
geschehen  noch  durch  den  Verf.  nachgeholt. 

Zweitens.  Was  den  Inhalt  von  Her- 
bart's  moralischer  Werthschätzung  betrifft,  so 
kann  man  sich  mit  derselben  im  Ganzen  be- 
freunden; nur  tritt  auch  aus  der  neuen  Darstel- 
lung des  Verf.  klar  hervor,  daß  das  sog.  höhere 
geistige  Leben  (s.  die  Ausführungen  über  die 
Culturgesellschaft)  mit  Wohlwollen  und  Gerech- 
tigkeit die  kurze  Summe  derselben  ist ;  die  sinn- 
lichen Seiten  des  Lebens  (vegetatives  und  Muskel- 
System)  werden  nur  geschätzt  als  Grundlage  für 
die  genannten  Bethätigungen.  Es  hat  das  immer 
die  Gefahr  bei  sich,  daß  gerade  die  meisten 
Menschen  und  ihre  Art  oft  unterethisch  erschei- 
nen oder  noch  nicht  ethisch.  Ich  gestehe,  daß 
ein  Vorwalten  sinnlichen  und  körperlichen  Le- 
bens (Bauer,  Arbeiter)  getragen  von  Wohlwollen 
und  Gerechtigkeit,  aber  mit  geringer  Befähigung 


764  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Sttict  23.  24. 

und  Neigung  für  das  sog.  höhere  geistige  Leben 
mir  eine  gleiche  moralische  Wertschätzung  zu 
verdienen  scheint. 

Drittens.  Daß  noch  eine  ganz  andere  Be- 
handlung der  Moral  möglich  ist,  als  die,  daß  die 
moralischen  Ideen  als  Musterbegriffe  auftauchen 
und  der  Wille  die  Auflage  erhält  sich  nach  ihnen 
zu  richten,  tritt  bei  dem  Verf.  am  meisten  S.  184  f. 
hervor.  Dort  erkennt  der  Verf.  dem  Mitgefühl 
zwar  an  sich  keinen  ethischen  Werth  zu,  aber 
es  ist  nach  ihm  nicht  nur  „eine  Naturbedingung 
fttr  die  Stärke  des  Wohlwollens,  sondern  sogar 
eine  Naturbedingung,  ein  psychischer  Grund  für 
das  Wohlwollen  selbst.  In  den  engeren  Kreisen 
des  Lebens  (Familie,  Nationalität),  in  denen  die 
Menschen  in  natürlicher  Liebe  verschmelzen,  muß 
man  auch  das  Wohlwollen  lernen,  und  nur  von 
da  kann  es  sich  dann  in  weitere  Kreise  verbrei- 
ten. Denn  das  Wohlwollen  entsteht  nur  auf  dem 
Boden  des  Mitgefühls,  es  entsteht  nur  aus  Mit- 
gefühl". Danach  würde  sich  wohl  behaupten 
lassen,  daß  die  sittliche  Idee  des  Wohlwollens 
gar  nicht  etwas  ist,  was  als  überraschender  Mu- 
sterbegriff in  dem  seelischen  Leben  hervortritt, 
sondern  daß  sie  eine  Herausarbeitung  und  Heraus- 
bildung elementarer  Erscheinungen  des  seelischen 
Lebens  ist,  allerdings  so,  daß  sich  daran  der 
Nebengedanke  anschließen  kann,  es  sei  das  Beste, 
was  der  Mensch  habe.  Und  ähnlich  darf  es  dann 
mit  anderen  sittlichen  Ideen  gedacht  werden. 
Dann  ist  aber  nicht  die  Zeichnung  des  Ideals 
die  Hauptaufgabe  der  Moral,  sondern  die  Auf- 
deckung der  elementaren  Erscheinungen,  aus  wel- 
chen sich  das  Ideal  entwickelt,  und  letzteres  ist 
vor  blos  poetischen  und  leicht  phantastischen  Aus- 
malungen eher  zu  bewahren.  Bei  dieser  Auf- 
fassung ergiebt  sich  auch  eine  andere  Stellung 
zur  moralischen  Praxis,  d.  h.  zu  der  Frage :  wie 


Ziller,  Allgemeine  philosophische  Ethik.        765 

werden  die  moralischen  Ideen  effectives  Wollen? 
Bei  der  Auffassung  des  Verf.  stehen  die  mora- 
lischen Ideen  gleichsam  hoch  über  dem  ge- 
wöhnlichen psychischen  Leben ,  obwohl  sie  sich 
als  Urtbeile  beständig  daraus  erzeugen,  und  der 
Wille  erhält  dann  den  Auftrag  ihnen  zu  folgen, 
thut  es  aber  gewöhnlich  nicht.  Nach  der  Art, 
wie  oben  der  Verf.  das  Wohlwollen  genetisch 
entstehen  läßt,  zeigt  sich  ein  ganz  anderer  Weg, 
nämlich  daß  aus  dem  Mitgefühl  und  seinen  un- 
willkürlichen Bethätigungen  das  Wohlwollen  als 
Thun  und  als  Gesinnung  herauswächst,  und  das 
zeigt  zugleich,  wie  zu  helfen  ist,  wenn  kein  mo- 
ralischer Wille  vorliegt.  Man  muß  dann  die  ele- 
mentare Grundlage  des  Wohlwollens  anregen,  so 
kann  man  hoffen,  daß  auch  ein  effectives  Wohl- 
wollen allmählich  erzeugt  werde.  Ueberhaupt 
lassen  sich  ans  der  Psychologie,  wenn  auch  viel- 
leicht nicht  gerade  aus  der  Herbartischen,  doch 
einer  von  Herb  art  angeregten,  ganz  andere, 
d.  b.  viel  concretere  Regeln  der  angewandten  Ethik 
ableiten,  als  der  Verf.  in  seinem  letzten  Ab- 
schnitt bringt. 

Viertens.  Was  die  Ftinfzahl  der  Ideen 
betrifft,  so  würde  ich  leugnen,  daß  die  einzelnen 
gleichwertig  sind,  und  behaupten,  daß  auch  bei 
Herbart  die  Idee  des  Wohlwollens  die  centrale 
Idee  ist,  daß  somit  diejenigen  Recht  haben, 
welche  behaupten,  Ethik  fange  erst  an,  wo  auf 
Andere  Rücksicht  genommen  wird.  Denn  die  Idee 
der  Vollkommenheit  ist  in  sich  neutral,  starkes 
geistiges  Leben  kann  gut  und  böse  sein ;  welches 
von  beiden  es  ist,  entscheidet  sich  erst  durch 
seine  Beziehung  auf  Andere.  Diese  Beziehung 
auf  Andere  wurzelt  aber  sowohl  als  Wohlwollen, 
wie  als  Recht,  wie  als  Vergeltung  in  dem  Mit- 
gefühl, es  sind  dies  nur  drei  besondere  Ausge- 
staltungen des  Mitgefühls.    Speciell  die  Vergel- 


766  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  23.  24. 

tuog  ist  das  Erregtwerden  durch  Wohl-  oder 
Wehethun  Anderer  gegen  uns  zu  gleichem  Thun 
oder  zur  Idee  desselben. 

Fünftens.  Endlich  mag  noch  angedeutet 
werden,  daß  Herbart  und  die  Herbartianer  in 
einer  Selbsttäuschung  befangen  sind,  wenn  sie 
behaupten,  ihre  Moral  sei  unabhängig  von  ihrer 
theoretischen  Metaphysik.  Nach  Herb  art  sel- 
ber —  bei  Z  i  1 1  e  r  habe  ich  den  Ausdruck  nicht 
gefunden  —  heißt  es  bei  der  Construction  der 
flinften  Idee:  „Die  That  [gemeint  ist  die  ab- 
sichtliche Wohl-  oder  Wehethat]  als  Störerin 
mißfällt"  (WW.  v.  Hartenstein  Bd.  VIII  S. 
57)  und  zwar  als  bloße  Aenderung  des  früheren 
Zustandes  (S.  56—7)  und  ruft  die  Vergeltung 
gleichsam  als  Aufhebung  der  Störung  hervor  (S. 
57).  Was  heißt  das  anders  als:  jedes  Wesen 
will  möglichst  in  dem  Zustand  bleiben,  den  es 
gerade  hat,  gemäß  der  metaphysischen  Vorstel- 
lung von  dem  Sein  als  absoluter  Position,  dem 
jedes  Zusammen  mit  anderen  Wesen  an  sich  zu- 
fällig ist  und  das  in  solchem  Zusammen  auch 
nur  sich  selbst  erhält  gegen  drohende  Störungen. 
Ist  man  einmal  hierauf  achtsam  geworden,  so 
sieht  man  sofort,  warum  die  Vollkommenheit, 
d.  h.  starkes  Wollen,  bei  Herb  art  schlechthin 
gefällt,  es  spiegelt  sich  darin  eine  starke  Selbst- 
behauptung der  einfachen  Wesen  ab.  Aber  auch 
Wohlwollen  und  Becht  vermeiden  die  Störung; 
denn  das  Mißfallen  am  Streit  erzeugt  nach  Her- 
bart das  Becht,  und  das  Wohlwollen  begleitet 
nach  ihm  den  vorgestellten  fremden  Willen  har- 
monisch, d.  h.  erkennt  ihn  als  absolute  Position 
praktisch  an,  wie  ja  seine  Metaphysik  theoretisch 
gegen  eine  Mehrheit  einfacher  Wesen  nichts  hat. 
Die  innere  Freiheit  endlich  als  Folgsamkeit  des 
Willens  gegen  die  Einsicht  vermeidet  den  Con- 
flict, d.  b.    die  Störung  im  Einzelwesen   selber. 


Ziller,  Allgemeine  philosophische  Ethik.        767 

Herbart  hat  selbst  gesagt:  „das  eigene  Ge- 
biet der  Sittenlehre  erreicht  man  nicht  auf  dem 
Wege  falscher  Psychologie"  (WW.  IX,  366) ;  fer- 
ner: „für  die  Psychologie  ist  das  sittliche  Be- 
wußtsein allerdings  Eine  aus  der  Reihe  der  vie- 
len Thatsachen,  die  sie  zu  erklären  hat"  (WW. 
VIII,  211),  und  unter  Psychologie  versteht  er 
ausdrücklich  „die  von  Metaphysik  und  Mathe- 
matik zugleich  ausgehende  Lehre  von  den  vor- 
stellenden Wesen"  (ibid.).  Es  ist  demnach  sehr 
begreiflich,  daß  seine  theoretischen  metaphysi- 
schen Lehren  in  der  moralischen  Werthschätzung 
durchbrechen.  Ich  habe  diese  letztere  Betrach- 
tung blos  gegeben,  um  eine  Thatsache  zu  con- 
statieren,  die  vielleicht  auch  manche  Besonderheit 
der  Herbartischen  Moral  erklärt.  Für  meine 
Person  gründe  ich  die  Moral  nicht  auf  Meta- 
physik. Baumann. 

La  philosophie  seien tifique.  Science,  Art  et 
Philosophie.  Matkematiques,  sciences  physiques  et  na- 
turelles, sciences  sociales,  art  de  la  guerre  par  H. 
G  i  r  a  r  d ,  capitaine  en  premier  du  gdnie,  ancien  pro- 
fesseur  de  mathe'matiques  supe'rieures,  professeur  d'art 
militaire  et  de  fortification.  Paris,  Bruxelles,  1880. 
406  SS.     Gr.  8°. 

Dies  Buch  kann  allen  denen  empfohlen  wer- 
den, welche  Freude  daran  haben,  wenn  in  einer 
wissenschaftlichen  Arbeit  zugleich  die  Persönlich- 
keit des  Verfassers  und  die  besonderen  Umstände, 
unter  denen  und  durch  die  er  zu  seiner  Arbeit 
kam,  lebhaft  und  doch  den  Ernst  der  Sache 
nicht  störend  hervortreten.  Der  Verfasser  ist  als 
belgischer  Militärlehrer  von  mathematischen  Fra- 
gen zuerst  zu  seinen  Untersuchungen  geführt 
worden,  und  kriegswissenschaftliche  Betrachtun- 
gen mischen  sich  in  dieselben  oft  ein.  Seine 
philosophische  Bildung  beruht  überwiegend  auf 
französischem  und  belgischem  Einfluß,  aber  auch 


768  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  23.  24. 

deutsche  Untersuchungen,  besonders  über  die 
Grandlagen  der  Mathematik,  kennt  er.  Das,  was 
Verf.  für  die  Philosophie  erstrebt,  ist  eine  „re- 
constitution  scientifique  sur  le  fondement  exclasif 
des  realites  et  d'aprta  nne  vue  syuthetique  qui 
ramine  toutes  les  sciences,  sans  exception,  a 
l'unita  d'ane  conception  fondamentale  commune". 
Er  beansprucht  nicht  mehr,  als  eine  Anregung 
zur  Lösung  dieser  Aufgabe  durch  seine  Unter- 
suchungen gegeben  zu  haben.  Seine  allgemein- 
sten Ueberzeugungen  sind :  erst  die  letzten  Jahr- 
hunderte haben  die  wahren  Fundamente  der  wis- 
senschaftlichen Forschung  gelegt;  die  positive 
Philosophie  (Comte's)  ist  zu  achten,  aber  ihre 
Ausschließlichkeit  zu  verwerfen ;  denn  das  Stre- 
ben des  Menschen  nach  dem  Idealen  ist  ebenso 
gewiß  als  die  materiellen  Facta  selbst.  Er  ver- 
bietet daher  transcendente  Untersuchungen  nicht, 
nur  will  er  zur  eigentlichen  Wissenschaft  blos  ge- 
rechnet haben,  was  „verifiable  par  Fexp6riencea 
sei.  Die  Wissenschaft  selbst  setzt  sich  aus  einem 
subjectiven  und  objectiven  Element  zusammen; 
den  Materialismus  verwirft  er,  in  den  wissen- 
schaftlichen, künstlerischen,  socialen  Bestrebun- 
gen sieht  er  „une  faculty  cicatrice,  une  sponta- 
nea transcendantetf.  Auf  die  einzelnen  Unter- 
suchungen und  ihre  Resultate  einzugehen,  würde 
heißen  den  Zweck  des  Buches  verkennen,  es  will 
anregen,  nicht  direct  docieren.  Diese  anregende 
Wirkung  erreicht  es ;  selbst  wer  der  gesammten 
Tendenz  des  Verf.  nicht  zustimmt  oder  wer  in 
einzelnen  Punkten  weit  von  ihm  abweicht,  wird 
mit  Interesse  seine  Bemühungen  begleiten  und 
auch  die  gelegentliche  Breite  ihm  gerne  nach- 
sehen. Baumann. 

Fflr  die  Redaction  rerantwortlich :  F.  BechM,  Director  d.  Gott.  gel.  Am. 

Verlag  der  DiiUrick'schm  Vmfaffs-BuchJumdhmff, 

Druck  der  Dietaich*  sehen  Univ.- Buchdruck*«  (W.  &r. Kmstner), 


769 

G  ö  t  ting  is  che 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König].  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  25.  26.  22.  u.  29.  Juni  1881. 


Inhalt :  H.  Schultz,  Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.  Vom 
Verfasser.  —  0.  K  e  1 1  e  r ,  Epilegomena  zu  Horaz.  Von  Dr.  Häussner. 
—  £.  Berner,  Zur  Verf assongsgeschichte  der  Stadt  Augsburg.  Von 
X.  Zeumer.  —  Eugene  Revillout,  Chrestomathie  demotiqne. 
Derselbe,  Nouvelle  Chrestomathie  demotique.  Von  Ä.  Ermann.  — 
P.  Devaux,  Stades  politiques  snr  les  principaux  e'venements  de  l'hi- 
stoire  Romaine.    Von  J.  Plac.  —    Berichtigung.    Yon  0.  Köhler. 

rs  Eigenmächtiger  Abdruck  *on  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  verboten  a 


Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.  Communi- 
catio  idiomatum.  Dargestellt  von  Dr.  Hermann 
Schultz  in  Göttingen.  Gotha.  Friedrich  Andreas 
Perthes.     1881.    XII  und  731  S.    8°. 

Der  Unterzeichnete  will  in  diesem  Buche 
den  wissenschaftlichen  Ausdruck  für  die  reli- 
giöse Werthschätzung  geben,  welche  die  christ- 
liche Gemeine  ihrem  Stifter  von  jeher  gewid- 
met hat,  —  also  den  christlichen  Glauben,  daß 
Christus  für  die  an  ihn  Glaubenden  vermöge 
der  Wirkungen,  welche  von  ihm  ausgehen,  gött- 
lichen Werth  beansprucht,  dogmatisch  entfalten. 
Es  handelt  sich  nicht  um  eine  Kritik  dieses 
Glaubens  vom  Standpunkte  der  außerchristlichen 
Weltanschauung.  Derselbe  wird  vielmehr  vom 
christlichen  Standpunkte  aus  beurtheilt  und  in 
seiner  Unentbehrlichkeit  für  die  christliche  Ge- 
meine erwiesen.  Aber  die  theologischen  Schul- 
formen, in  welchen  sich  dieser  Glaube  seinen 
dogmatischen   Ausdruck    gesucht   hat,    werden 

49 


770  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stuck  25. 26. 

einer  dogmatischen  Prüfung  unterzogen.  Und 
das  Augenmerk  der  Untersuchung  ist  vorzugs- 
weise auf  diejenige  christologische  Schulform 
gerichtet,  in  welcher  die  lutherische  Kirche  den 
Glauben  an  die  Gottheit  Christi  ausgedrückt 
hat,  —  auf  die  Lehre  von  der  Gommunicatio 
idiomatum,  d.  h.  von  der  Durchdringung  des 
menschlichen  Lebens  in  Christus  durch  die 
Kräfte  und  Eigenschaften  der  sich  in  ihm  offen- 
barenden Gottheit. 

Das  Buch  giebt  zuerst  (bis  S.  318)  eine  kri- 
tische Geschichte  der  Lehre  von  der  Gottheit 
Christi.  Dabei  ergiebt  sich,  daß  der  Glaube  an 
diese  Gottheit  selbst  überall  die  feste  Voraus- 
setzung ist,  wo  das  Christenthum  als  Weltreli- 
gion sich  über  die  Schranken  der  jüdischen 
Sekte  oder  der  philosophischen  Schule  erhebt. 
Für  die  eigentliche  religiöse  Entwicklung  in 
der  Kirche  kommen  diejenigen  Richtungen  nicht 
in  Betracht,  welche  Christus  nur  als  den  ver- 
klärten Religionsstifter  ansehen,  oder  die  Christus- 
idee  von  ihrem  geschichtlichen  Träger  ablösend 
den  historischen  Charakter  des  Christentums 
verflüchtigen.  Aber  ein  fester  dogmatischer 
Ausdruck  für  diesen  Glauben  findet  sich  in  den 
ersten  Jahrhunderten  der  Kirche  nicht.  Erst  die 
Kämpfe  des  vierten  Jahrhunderts  schaffen  ihn 
in  der  Form  der  Lehre  von  zwei  Naturen  in 
Christus  und  ihrer  persönlichen  Einheit,  sowie 
von  der  Durchdringung  des  menschlichen  Le 
bens  Christi  durch  Kräfte  der  Gottheit,  durch 
welche  das  menschliche  Leben  dann  überhaupt 
einen  überweltlichen  Charakter  .  empfängt.  In 
dieser  Form  wird  das  Dogma  kirchliches  Lehr- 
gesetz. Aber  seine  Ausprägung  ruht  auf  einer 
Ansicht  vom  Werke  Christi,  welche  eng  mit  der 
aus  der  Naturreligion  übernommenen  physischen 


Schultz,  Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.     771 

Schätzung  der  Heilsvorgänge  zusammenhängt. 
Und  die  Lehre  von  zwei  Naturen  in  Christus 
einerseits,  die  Lehre  von  der  lebendigen  Durch- 
dringung beider  andrerseits  sind  ihrem  tiefsten 
Grunde  nach  auseinanderlaufende  Richtungen. 
Die  erste,  zu  einem  mit  dem  Heilsleben  nicht 
mehr  eng  zusammenhängenden  Geheimnisse  ge- 
worden, wird  von  der  mittelalterlichen  Schola- 
stik und  in  moderner  Weise  in  der  reformierten 
Kirche  weitergebildet.  Die  andre,  aus  lebendi- 
gem Glaubensinteresse  geboren,  wird  in  der  lu- 
therischen Kirche  neu  gestaltet  und  in  den  Weg 
geleitet,  welcher  folgerichtig  zum  Aufgeben  der 
Formel  von  den  zwei  Naturen  führen  mußte. 
In  dieser  Richtung  haben  alle  christologischen 
Versuche  seit  dem  Zerfallen  der  altkirchlichen 
Orthodoxie  sich  bewegt,  und  es  prägt  sich  im- 
mer mehr  ein  Consensus  in  Bezug  auf  das 
Dogma  von  Christus  aus,  welcher  auf  neuen 
Grundlagen  ruht,  d.  h.  die  Gottheit  Christi  so 
auffaßt,  daß  in  der  geschichtlichen  menschlichen 
Persönlichkeit  und  ihrem  Werke  die  sich  offen- 
barende Gottheit  sich  vollkommnen  Ausdruck 
für  uns  geschaffen  hat. 

Von  S.  318 — 469  werden  dann  zum  Zwecke 
der  Begründung  der  positiven  dogmatischen 
Darstellung  die  biblischen  Grundlagen  des  Glau« 
bens  an  die  Gottheit  Christi  entfaltet.  Zuerst 
die  alttestamentlichen  Voraussetzungen  dieses 
Glaubens  und  ihr  Zusammenbang  mit  der  bibli- 
schen Auffassung  des  Gottesbegriffes.  Sodann 
seine  geschichtliche  Vollendung  durch  Jesu  Le- 
ben und  Selbstoffenbarung.  Endlich  das  Ver- 
ständnis dieses  Glaubens  in  der  Apostelgemeine, 
—  wie  es,  mit  der  escbatologischen  Auffassung 
der  Gottheit  des  Verklärten  beginnend,  durch 
Paulus  vertieft   und  in  einen  theologischen  Zu- 

49* 


772  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25. 26. 

sammenhang  gebracht,  —  bei  Johannes  seine 
ausgeprägte  Gestalt  empfängt.  Es  wird  dabei 
der  Grundsatz  ausgesprochen,  daß  eine  evange- 
lische, d.  h.  schriftgemäße,  Darstellung  der  Lehre 
von  der  Gottheit  Christi  sich  innerhalb  dieser 
biblischen  Grenzen  bewegen,  d.h.  den  ursprüng- 
lichen Glauben  an  den  verklärten  Herrn  als 
Ausgangspunkt,  die  theologischen  Gedanken- 
kreise bei  Paulus  und  Johannes  als  terminus  ad 
quem  ansehen  muß.  * 

Auf  diesen  Grundlagen  wird  die  dogmati- 
sche Darstellung  des  Glaubens  an  die  Gottheit 
Christi  versucht.  Zuerst,  bis  S.  548,  wird  die 
dogmatische  Gewißheit  dieses  Glaubens  darge- 
legt. Sie  ergiebt  sich  weder  aus  einer  Speku- 
lation über  das  Wesen  Gottes,  noch  aus  einer 
Betrachtung  der  Persönlichkeit  Jesu  abgesehen 
von  seinem  Werke,  —  sondern  aus  den  Erfah- 
rungen der  Gemeine  von  den  Wirkungen  die- 
ser Persönlichkeit.  Denn  diese  Erfahrungen 
zwingen  den  Glaubenden,  Jesus  und  seine  Le- 
bensarbeit nicht  bloß  historisch  und  ethisch, 
sondern  vor  Allem  religiös  in  Betracht  zu  zie- 
hen, —  wobei  aber  die  religiöse  Beurtheilung 
der  Wahrheit  der  ethischen  Auffassung  nicht  im 
Wege  stehen  darf.  Solange  man  das  Wirken 
Jesu  als  bloße  Mittheilung  einer  Lehre  auffaßt, 
oder  seine  Lebensarbeit  nur  als  auf  Gott  ge- 
richtete beurtheilt,  kann  man  der  Gottheit 
Christi  nicht  gewiß  sein.  Wohl  aber  wenn  man 
diese  Lebensarbeit  als  die  vollkommne  Offen- 
barung des  göttlichen  auf  das  höchste  Ziel  ge- 
richteten Liebeswillens  auffaßt.  Dann  erscheint 
das  Werk  Jesu  ethisch  als  das  Opfer  seines 
Lebens  an  Gottes  höchsten  Zweck,  als  Stiftung 
des  vollkommnen  Bundes  und  als  Befreiung  der 
Gemeine   aus   der   Herrschaft    des   Weltfürsten 


Schultz,  Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.     773 

durch  siegreichen  Kampf  und  durch  stellvertre- 
tendes Leiden.  Religiös  aber  erscheint  es 
als  die  schöpferische  Offenbarung  des  göttlichen 
Willens,  an  welche  die  Gemeine  sich  innerlich 
gebunden  weiß,  als  die  gnädige  Offenbarung 
der  Liebe  und  Treue  Gottes,  in  welcher  die  Ge- 
meine den  Grund  ihrer  religiösen  Seligkeit  hat, 
—  und  als  die  königliche  Offenbarung  der 
Herrschaft  Gottes  über  die  Welt,  durch  welche 
die  Gemeine  der  Herrschaft  über  die  Welt  ge- 
wiß ist.  Da  sich  diese  Wirkungen  von  der  Per- 
son Jesu  nicht  ablösen  lassen,  sondern  nur  in 
ihr  wirksam  und  uns  zugänglich  sind,  so  muß 
uns  die  Person  Jesu  im  Zusammenhange  ihres 
Wirkens  der  Gegenstand  vollkommner  religiöser 
Abhängigkeit,  Liebe  und  Zuversicht  sein,  d.  h. 
wir  müssen  ihm  das  Prädikat  der  Gottheit  bei- 
legen. Diese  Gottheit  ist  dem  in  der  Gemeine 
als  einer  Einheit  wirkenden  religiösen  Principe 
(dem  heiligen  Geiste)  gleichartig,,  unterscheidet 
aber  Jesus  schlechthin  von  jedem  einzelnen 
Gliede  der  Gemeine.  Sie  ist  nicht  mit  der  re- 
ligiösen und  sittlichen  Vollkommenheit  seines 
menschlichen  Lebens  identisch,  —  aber  sie  ist 
nur  möglich  unter  Voraussetzung  derselben.  Sie 
muß  mit  der  Gottheit  des  einen  persönlichen 
Gottes  wesenseins  sein,  —  aber  sie  ist  nur  ver- 
ständlich auf  dem  Grunde  eines  wahren  persön- 
lichen menschlichen  Lebens.  Sie  kann  keinem 
NichtChristen  erwiesen  werden,  sondern  setzt  die 
Ueberzeugung  voraus,  daß  das  im  Christen- 
thume  offenbarte  Reich  Gottes  der  ganze  und 
vollkommne  Weltzweck  Gottes  sei. 

Was  nun  diese  Gottheit  Christi  näher  bedeu- 
tet, wird  bis  S.  628  zunächst  an  der  christlichen 
Lehre  von  Gott  untersucht.  Christus  kann  nicht 
Gott  neben  dem  einen  Gott  sein,  sondern  nur 


774  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.26. 

in  ihm  and  aas  ihm,  also  Offenbarung 
Gottes,  —  des  Gottes,  welcher  im  Reiche  Got- 
tes als  die  persönliche  Liebe  erkannt  wird,  die 
ohne  einen  Rest  unbegriffner  Substanz  als  die 
freie  und  tiberweltliche  allmächtig-allweise  Ur- 
sache der  Dinge,  und  als  sich  selbst  vollkom- 
men offenbar,  d.  h.  als  Licht  und  Wahrheit, 
sich  kund  giebt.  Dieser  persönliche  Gott  kann 
in  der  menschlichen  Persönlichkeit  Christi  nur 
so  sein,  wie  eine  Persönlichkeit  in  einer  an- 
dern ist,  d.  h.  durch  Zeugung.  Christus  ist  der 
Sohn  Gottes.  Und  nicht  dadurch  sind  wir 
berechtigt,  Christus  Gott  zu  nennen,  daß  in  ihm 
menschliche  Eigenschaften,  welche  den  göttlichen 
ähnlich  sind,  in  hoher  Vollkommenheit  vorhan- 
den gedacht  werden,  —  sondern  nur  dadurch, 
daß  die  göttlichen  Eigenschaften,  so  wie  sie  in 
Gott  sind,  also  weltschaffend  und  -regierend, 
und  schlechthin  überweltlich,  auch  in  Christas 
sich  uns  offenbaren.  Wenn  das  der  Fall  ist,  so 
ist  Gott  vollkommen  und  wesenhaft  persönlich 
in  Christus  offenbar.  Denn  Gott  ist  nicht  eine 
geheimnißvolle  naturartige  Substanz ,  sondern 
Geist,  —  und  Christus  ist  dann  als  der  geistige 
Mensch,  der  Herr  des  Geistes,  gleich- 
werthig  mit  der  Weltidee  Gottes.  Dann  ist  also 
in  Christus  allerdings  nicht  der  eine  persönliche 
Gott  (der  Vater)  Mensch  geworden,  aber  das 
vollkommne  Offenbarungs-Wesen  dieses  Gottes, 
wie  es  ewig  in  ihm  and  ihm  wesensgleich  ist, 
—  d.  b.  das  göttliche  „Wort",  —  welches  die 
Welt  schafft  und  zu  ihrem  Ziele  führt,  —  und 
in  Gott  wie  in  Christus  persönlich,  aber  nicht 
eine  Persönlichkeit  neben  beiden  ist.  Dieses  in 
Christus  menschlich  verwirklichte  Gotteswort  ist 
an  sich  selbst  ewig  real  in  Gott  und  für  Gott. 
Christas  aber  als  der  „Gottmensch"    ist  nur  als 


Schultz,  Die  Lehre  ron  der  Gottheit  Christi.     775 

Zweckgedanke,  der  die  Welt  bedingt,  in  Gott 
ewig,  d.  h.  präexistent. 

Wie  nun  diese  Gottheit  einem  wahren  Men- 
schen eignen  könne,  wird  bis  S.  669  an  der 
christlichen  Anthropologie  aufgezeigt.  Die  not- 
wendigen Bedingungen  des  fleischlich-irdischen 
Lebens  hindern  die  Gottheit  Christi  nicht.  Denn 
er  soll  nicht  als  Natur wesen  Gottes  „Natur", 
sondern  als  Persönlichkeit  Gottes  persönliches 
Leben  zum  Ausdrucke  bringen,  und  die  reli- 
giöse Anschauung  von  der  Idee  des  Menschen 
gestattet,  anzunehmen,  daß  ein  Mensch  den  vol- 
len Inhalt  des  göttlichen  Lebens  zum  Ausdrucke 
bringe,  —  natürlich  als  Offenbarung  Gottes, 
und  so  daß  dieses  Leben  religiös  empfangen 
und  sittlich  entfaltet  wird.  Indem  so  die 
menschliche  Persönlichkeit  Ausdruck  Gottes,  sein 
vollkommnes  Ebenbild,  wird,  verliert  sie 
nicht  den  Charakter  einer  menschlichen  Per- 
sönlichkeit, sondern  bringt  denselben  erst 
zur  vollen  Entfaltung.  Und  für  den  Werth 
einer  solchen  Persönlichkeit  muß  die  irdische 
Weise  des  Daseins  nothwendig  als  eine  unan- 
gemessene erscheinen.  Erst  in  verklärtem  gei- 
stigen Sein  kommt  sie  zu  einer  ihrem  wahren 
Wesen  entsprechenden  Erscheinung. 

Auf  diesen  Voraussetzungen  wird  dann  670 
— 712  die  eigentlich  dogmatische  Ausprägung 
der  Lehre  versucht.  Sie  lehnt  sich  an  das 
lutherische  Schema  von  der  Communicatio  idio- 
matum  und  ihren  drei  genera  an.  1)  Das 
Werk  Christi  ist  uns  ebensowohl  Werk  Gottes 
als  Menschen  werk ,  und  nur  deshalb  kann  es 
die  Grundlage  unsrer  Seligkeit  sein.  Also  sind 
im  Heilswerke,  —  nicht  in  Gottes  Wirken  über- 
haupt, oder  in  den  Bethätigungen  Jesu,  welche 
nicht  mit  dem  Heilswerke  zusammenhängen,  — 


776  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

göttliches  und  menschliches  Wirken  schlechthin 
verbunden,  aber  jedes  von  beiden  wirkt  auf  die 
ihm  eigentümliche  Weise  (genus  apotelesma- 
ticum).  2)  Darum  ist  uns  die  menschliche  Per- 
sönlichkeit des  Erlösers,  als  Trägerin  der  gött- 
lichen Offenbarung,  mit  den  Eigenschaften  Gottes 
ausgestattet,  welche,  indem  sie  sich  als  menschliche 
Eigenschaften  offenbaren,  ihren  göttlichen  Cha- 
rakter unverändert  bewahren.  Von  Gottes  Seite 
sind  diese  Eigenschaften  Christus  von  Ewigkeit, 
durch  einen  ewigen  Willensentschluß,  gegeben. 
Aber  sie  werden  nicht  in  einem  geheimnißvollen 
Naturzustande,  sondern  in  dem  sittlichen  Er- 
löserwerke wirksam.  Auf  Grund  dieser  Com- 
municatio  ist  uns  Christus  Licht,  Liebe, 
Leben  und  Wahrheit.  Und  die  göttlichen 
Eigenschaften  entfalten  sich  in  der  menschlichen 
Form  des  Daseins  auf  Erden,  d.  h.  in  einem 
zeitlich-räumlich  bedingten,  abhängigen  und  lei- 
densfähigen Dasein.  Erst  der  Verklärte  besitzt 
sie  in  einer  ihnen  entsprechenden  menschlichen 
Seinsform.  Mit  den  göttlichen  Eigenschaften 
empfängt  die  menschliche  Persönlichkeit  Christi 
als  Trägerin  der  Offenbarung  auch  die  gött- 
liche Asettät,  als  vollkommne  Freiheit, — 
und  die  Unendlichkeit  als  ewige  Präexistenz 
in  Gott,  (genus  majestaticum  der  lutherischen 
Lehre).  3)  Wegen  dieses  göttlichen  Inhalts  sei- 
ner menschlichen  Persönlichkeit  ist  Christus  für 
unsern  Glauben  ebensowohl  Gott  wie  Mensch, 
je  nachdem  wir  an  seine  religiöse  Bedeutung 
für  uns  oder  an  seine  geschichtlich-sittliche  Stel- 
lung denken.  Er  ist  Gegenstand  der  Anbetung, 
als  die  einzige  Persönlichkeit,  in  welcher  sich 
Gott  seiner  Gemeine  persönlich,  wesenhaft  und 
vollkommen  naht.  So  ist  die  Doxologie  der 
Gemeine  die  normale  Art  der  Anbetung  Christi. 


Schultz,  Die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi.      777 

Die  Gemeine  hat  in  dieser  Persönlichkeit  voll- 
kommen Gott,  und  hat  ihn  nur  in  ihr. 
Aber  Gott  hat  seine  Offenbarung  in  aller  Welt 
nicht  auf  diese  menschliche  Persönlichkeit  be- 
schränkt,    (genus  idiomaticum). 

An  diese  dogmatische  Ausführung  schließt 
sich  als  Anhang  eine  kurze  Darstellung  der 
Lehre  von  Jesus  als  dem  Christus,  d.  h.  von 
der  Beurtheilung  der  menschlichen  Aus- 
rüstung und  Entwicklung  Jesu  im 
Lichte  des  Glaubens  an  die  Gottheit 
Christi.  (Lehre  von  den  Ständen).  Die 
menschliche  Persönlichkeit  Jesu  als  die  von 
Gott  zum  Organ  seiner  Selbstdarstellung  von 
Ewigkeit  bestimmte,  kann  von  dem  Glauben 
nur  als  ein  Wunder,  aus  dem  Geheimnisse 
der  Kräfte  des  Geistes  Gottes  verstanden 
werden.  Aber  dieser  Glaube  hat  an  sich  mit 
der  Frage  nach  der  Art  der  natürlichen  Ent- 
stehung Jesu  Nichts  zu  thun,  und  es  darf  nicht  so 
gedacht  werden,  als  ob  eine  Verstümmlung  des 
natürlichen  Lebens,  welche  eine  „Unmöglichkeit 
der  Sünde"  hervorriefe,  Jesu  Einzigkeit  ver- 
ständlich machte.  Vielmehr  ist  an  eine  ein* 
zigartige  geistige  Kraft  zu  denken,  welche 
Sündlosigkeit  ermöglicht,  aber  wahre  Versuchung 
nicht  ausschließt.  Sie  allein  entspricht  dem  Ein- 
drucke, welchen  die  Gemeine  von  Jesus  em- 
pfangt. Für  Gott  ist  schon  das  werdende  Jesus- 
kind der  Ort  seiner  Selbstoffenbarung.  Aber 
geschichtlich  ist  erst  der  Heiland,  welcher  durch 
Kampf  und  Versuchung  hindurch  sein  Werk 
vollendet  bat,  wirklich  Offenbarung  Gottes  ge- 
worden. Bis  dahin  wird  Jesus  erst  das,  was 
er  in  Gottes  Rathschlusse  von  Ewigkeit  ist,  — 
und  es  ist  immer  noch  eine  Scheidung  zwischen 
diesem  Menschen  und  dem  was  er  sein  soll,  an 


778  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

sieb  möglich  Bis  dabin  also  ist  ein  Stand  des 
Werdens,  die  Niedrigkeit  —  und  das  Leben  Jesu 
entfaltet  sich,  ohne  durch  die  Universalität  sei- 
ner Aufgabe  die  Bedingungen  menschlicher  In- 
dividualität zu  verlieren,  und  ohne  durch  die 
einzigartige  Herrlichkeit  seiner  Anlagen  und 
Kräfte  und  die  Göttlichkeit  dessen,  was  er  offen- 
bart, den  Grenzen  menschlich-irdischer  Entwick- 
lung enthoben  zu  sein.  In  der  Verklärung  aber 
ist  Jesus  mit  seiner  Aufgabe  völlig  eins  und  zu 
dem  völlig  angemessenen  Ausdrucke  des  gött- 
lichen Lebens  geworden,  welches  er  in  sich 
trägt.  Er  ist  Geist  und  Gott,  und  ist  Stamm- 
vater der  neuen  göttlichen  Menschheit.  Aber  er 
ist  bei  dem  einen  persönlichen  Gott  als  der 
verklärte  Gottessohn,  der  zu  seinem  und  unserm 
Gott,  zu  seinem  und  unserm  Vater  gegangen  ist. 
Göttingen.  H.  Schultz. 

Epilegomena   zu   Horaz.    Von  Otto  Keller. 
3  Theile.    Leipzig,  Teubner  1879—80,  X  u.  889  S.    8°. 

Als  in  den  Jahren  1864/69  die  kritische  Aus- 
gabe des  Horaz  von  Keller-Holder  erschien, 
begegnete  sie  manchfachen  Ausstellungen.  Man 
war  nach  dem  Vorgange  Bentley's  gewohnt, 
den  Blandinischen  Codices  in  der  Textgestal- 
tung den  ersten  Rang  einzuräumen,  und  so 
konnte  es  nicht  fehlen,  daß  ein  principielles 
Preisgeben  dieser  Hss.  zu  heftiger,  schließlich 
geradezu  gereizter  Polemik  führte.  Außer  die- 
sem grundsätzlich  verschiedenen  Standpunkt  der 
K  e  1 1  e  r  -  H  o  1  d  e  r '  seh  en  Becension  veranlaßte 
aber  auch  die  Kritik  im  Einzelnen  um  so  mehr 
zu  Controversen,  als  die  kritischen  Vorbemer- 
kungen im  Ganzen  etwas  knapp  waren.  Die 
1878  erschienene  editio  minor  hatte,  ihrem 
Zwecke  entsprechend,  von  jeder  kritischen  Ein- 


Keller,  Epilegomena  zu  Horaz.  779 

leitung  Umgang  genommen.  Die  Erwartung 
der  Fachkreise  von  einer  eingehenden  Darle- 
gung des  krit.  Verfahrens  ist  nun  erfüllt  in  den 
jetzt  abgeschlossenen  Epilegomena.  Das  um- 
fangreiche Werk  (889  SS.)  soll  ein  „fortlau- 
fender Commentar  zu  allen  irgend 
kritisch  interessanten  Stellen  desHo- 
raz,  eine  Erläuterung  des  in  den  bei- 
den Ausgaben  gegebenen  kritischen 
Apparats"  sein  (Vorwort  p.  V.) 

Dieser  Bestimmung  entsprechend  besteht  der 
Haupttheil  des  Buches  (S.  1—776)  aus  einer 
durch  sämmtliche  Carmina,  Epoden  u.  s.  w. 
durchgebenden  Untersuchung  und  Feststellung 
des  Textes,  einer  adnotatio  critica  in  extenso. 
An  diesen  kritisch  commentierenden  Theil  schließt 
sich  unter  „Schlußbetrachtungen"  ein 
allgemeiner  Theil  an  (S.  777—835),  in  welchem 
gehandelt  wird  1)  vom  „Archetyp",  2)  von 
den  „Handschriften",  3)  von  den  „Scho- 
llen und  Grammatikern",  4)  von  den 
„Principien  und  Leistungen  der  Her- 
ausgeber". Als  5ter  Abschnitt  tritt  dazu 
eine  „Classificierungstabelle",  durch 
welche  K.  sein  eigenes  kritisches  Princip  illu- 
strieren will.  Den  Schluß  des  Buches  bildet 
ein  von  R.  Kukula  verfaßtes  „Register" 
(S.  837-889). 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Absicht  sein,  in 
die  Fülle  von  Details  des  Keller' sehen  Wer- 
kes einzugehen.  Wenn  es  die  Natur  des  Gegen- 
standes bei  den  hundert  und  tausend  Horaz- 
controversen  mit  sich  brachte,  daß  fast  auf  je- 
der Seite  Ansichten  Anderer  zu  bekämpfen  wa- 
ren, so  darf  daneben  constatiert  werden,  daß  der 
Verf.  auch  eigene,  früher  verfochtene  Ansichten 
ebenso   schonungslos   opferte,  wo   eine   erneute 


780  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

Prüfung  ihn  unterdeß  zu  andern  Resultaten  ge- 
führt. Zweck  dieser  Zeilen  ist  auf  den  Gang 
der  Untersuchung  hinzuweisen  und  die  Haupt- 
resnltate,  welche  der  um  Horaz  hochverdiente 
Verf.  nach  fast  20jähriger  Beschäftigung  mit  dem 
Dichter  hier  niedergelegt  hat,  zusammen  zu  fassen. 
Der  ganze  krit.  Commentar  ist  eine  Recht- 
fertigung des  in  den  krit.  Ausgaben,  besonders 
in  der  edit,  minor  gegebenen  Textes.  Nur  an 
wenigen  Stellen  finden  wir  eine  Abweichung 
von  dem  Texte  der  letzteren.  E.  hatte,  wie 
Hirschfelder  (Bursian's  Jahresber.  XVII, 
p.  91  ff.,  vgl.  auch  M  e  w  e  s  Philol.  Jahresb.  1879 
p.  80  ff.)  aufzählt,  gegenüber  der  ersten  Aus- 
gabe an  21  Stellen  statt  der  hs.  LA.  Conjectu- 
ren  Anderer  in  die  ed.  minor  aufgenommen. 
Von  diesen  recipierten  Conjecturen  retractiert 
er  nun  in  den  Epileg.  a.  p.  253  das  momen  Rib- 
beck's  und  setzt  mit  ausführlicher  Begründung 
und  wofür  auch  Hirsch felder  (aaO.  p.  96) 
sich  ausspricht,  wieder  das  handschriftliche  no- 
men.  Epist.  I,  18.  15  wird  die  Stelle  auch  nach 
der  früher  aufgenommenen  Conjectur  Muret's 
(rixator)  für  ebenso  bedenklich  gehalten,  wie 
nach  dem  gewaltsamen  Interpunktionsversuche 
von  Haupt  und  Döderlein.  K.  empfiehlt 
dafür  jetzt  die  ganz  verschollene  Conjectur 
Withofs  pro  pugno  für  propugnat.  Serm.  I, 
10,  27  wird  das  hs.  oblitus  gegen  Bent  ley 's 
oblitos  wieder  bevorzugt.  Serm.  I,  2,  86  wird 
die  Conjectur  K  i  e  ß  1  i  n  g '  s  Thraectbus  fallen  ge- 
lassen gegen  das  hs.  regibus.  C.  II,  14, 27  ist  K. 
für  superbis ;  c.  III,  21, 5  für  nomine.  Ferner  kehrt 
K.  serm.  II,  3,  1  wieder  zur  LA.  der  edit  I  sic 
zurück  (die  ed.  minor  hatte  si);  a.  p.  29  wird 
die  in  der  ed.  min.  aufgenommene  Interpunk- 
tion Jeep's  als  zu   gekünstelt  verworfen  and 


Keller,  Epilegomena  zulHoraz.  781 

zur  LA.  des  Archetyps  zurückgekehrt;  ebenso 
zieht  E.  a.  p.  32  das  allerdings  nur  schwach 
bezeugte  (dafür  ist  blos  cod.  Graevianus  d)  und 
„wahrscheinlich  gar  nicht  im  Archetyp  stehende" 
unus,  das  auch  Bentley  hat,  dem  imus  der 
ed.  I  u.  II  vor,  „weil  es  dem  Sinn  mehr  ent- 
spricht"; c.  I,  28,  17  u.  18  schlägt  K.  vor,  die 
beiden  VV.  nach  V.  19  u.  20  zu  setzen,  „weil 
dadurch  der  Anschluß  compacter  werde".  — 
Die  in  der  ed.  min.  und  zum  Theile  auch  in 
den  „kritischen  Beiträgen"  aus  Zweckmäßig- 
keitsgründen weggefallenen  Codices  im  Hsver- 
zeichniß  (ß  ß'  ß"  ö*  ?  E'  Z  M  a'  &  p  q  e  f  h  m  n  p  q 
r  s  t)  sind  wieder  aufgenommen.  Dazu  tritt  noch 
ein  cod.  ä  =  Augiensis,  jetzt  Caroliruhensis 
ganz  neu  hinzu. 

Zu  jedem  Gedichte,  jeder  Strophe,  fast  jeder 
Zeile  des  Dichters  wird  die  hs.  Ueberlieferung 
untersucht,  von  der  Kritik  erhobene  Einwände 
besprochen  und  schließlich  die  richtige  LA.  fest- 
gestellt. Ist  der  Text  des  Archetyps  eruiert,  so 
wird  die  Entstehung  falscher  LAA.  nachgewie- 
sen (vgl.  c.  I,  1,  7;  2,  18;  3,  37;  c.  III,  4, 10; 
IV,  6,  14,  25;  7,  15  u.  s.  w.). 

Zur  Stütze  der  recipierten  LA.  werden  die 
testimonia  immer  ganz  angeführt  (vgl.  I,  1  ff., 
I,  3,  25 — 36  etc.),  Nachahmungen  und  Parallelen 
alter  und  neuer  Autoren  (I,  3,  19;  4,  16;  15,  5 
etc.)  beigezogen.  Dabei  lag  es  in  der  Natur 
der  Sache,  daß  nicht  selten  auch  auf  die  eigent- 
liche Exegese  einzugehen  war  (vgl.  c.  I,  3,  18; 
4,  8;  16  ff.  c.  I,  12;  13;  c.  IV,  8, 17  etc.).  Fast 
auf  jeder  Seite  des  Buches  ist  auf  die  Oommen- 
tare  älterer  wie  neuerer  Gelehrten  Bezug  ge- 
nommen. In  frischer  Sprache  wird  gegenüber 
einer  nörgelnden  Interpretation,  die  wenig  Liebe 
zum  Dichter  verräth,  bisweilen  auf  die  schelmi- 


782  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

sehe  Natur  des  Dichters  hingewiesen  (vgl.  c.  I, 
4,  16;  I,  22;  I,  38;  I,  28  etc.)  und  die  Eigen- 
art desselben  in  sprachlicher  und  sachlicher  Be- 
ziehung eingehend  beleuchtet.  Der  Conjectural- 
kritik  ist  überall  Rechnung  getragen  und  damit 
einem  berechtigten  Wunsche,  den  besonders  die 
in  Angabe  von  Gonjecturen  sehr  karge  edit, 
min.  laut  werden  ließ  (vgl.  Hirsch felder  aaO. 
92),  genUgt.  Während  z.  B.  im  krit.  Apparat 
der  ed.  min.,  wie  Mewes  (phil.  Jahresb.  1879) 
anführt,  in  den  ersten  10  Gedichten  nur  5  Mal 
Conjecturen  erwähnt  werden,  zählten  wir  auf 
die  gleiche  Zahl  von  Gedichten  9  Stellen.  Zu 
c.  II,  20,  6  werden  nicht  weniger  als  13  Gon- 
jecturen angeführt.  Auch  von  den  neuem  und 
neuesten  Erscheinungen  auf  dem  üppigen  Boden 
der  Horazliteratur  ist  in  den  Epileg.  Notiz  ge- 
nommen. Vollständigkeit  freilich  wird  in  die- 
sem Punkte  kein  Sterblicher  verlangen;  denn 
die  Zahl  der  Horatiana  ist  Legion.  Doch  hät- 
ten wir  gerne  noch  auf  Einiges  aufmerksam 
gemacht : 

Carm.  1, 1,35  hat  K.  bei  „fast  gleicher"  Ver- 
theilung  der  Tradition  sich  für  das  Fut.  inseres 
entschieden,  das  „correcter  und  bescheidener 
ist,  während  die  präsentische  Wendung  sich  et- 
was aufdringlich  ausnimmt".  Wir  halten  um- 
gekehrt mit  Schütz  (2.  Aufl.)  und  And.  das  in- 
seris  für  besser,  da  gerade  im  Futurum  eine 
gewisse,  wenn  auch  leise  Aufforderung  an  Mäcen 
liegt,  ihn  unter  die  lyr.  Dichter  erst  einzureihen. 
Das  Präsens  constatiert,  daß  ihn  Mäcen  bereits 
unter  die  lyr.  Dichter  versetzt,  schließt  also  den 
Schein  der  Anmaßung  mehr  aus;  Schütz  ver- 
weist überdies  noch  auf  die  Concinnität  mit  cohi- 
bet  und  refugit.  —  C.  I,  3  hält  K.  für  eines  der 
frühesten  Gedichte,  das  also  nicht  auf  die  letzte 


Keller,  Epilegomena  zu  Horaz.  783 

Reise  Vergil's  sich  beziehen  könne*  Uns  scheint 
das  Argument,  das  lediglich  aus  der  starken 
Nachahmung  griechischer  Originale  genommen 
ist,  zu  schwach,  namentlich  gegenüber  dem 
Hinweis  des  Scholiasten  auf  die  letzte  Reise  des 
Dichters.  Christ  (Fast.  Horat.  epicr.  p.  8  ff.) 
hat  mit  Recht  daraui  aufmerksam  gemacht  und 
mit  Zurückweisung  aller  andern  Annahmen  das 
Gedicht  in's  Jahr  734/20  gesetzt.  Wir  wollen 
noch  beifügen,  daß  nach  Schütz1  (2.  Aufl.) 
Vermnthung,  daß  dies  Gedicht  „wirklich  ins 
Jahr  19  oder  20  gehörig,  erst  später  durch  Ver- 
sehen in  die  erste  Sammlung  hineingerathen  ist" 
auch  jede  chronol.  Schwierigkeit,  durch  welche 
übrigens  E.  nicht  zur  früheren  Datierung  be- 
stimmt wurde,  weggeräumt  ist.  —  Zu  c.  I,  12, 
29—32  hätte  K.  seine  ausführliche  Darlegung 
in  den  Gott.  gel.  Anz.  1875,  p.  40  ff.  über  die 
Entstehung  der  Variante  quia  etc.  auch  in  die 
Epileg.  aufnehmen  sollen.  —  Zu  c.  I,  38,  6  hat 
K.  einst  zur  Stütze  der  Construction  euro  mit 
dem  Conjunctly  den  Sabinus  citiert,  ist  aber  in 
den  Epil.  davon  zurückgekommen,  da  S.  ein 
Neulateiner  ist.  Wir  wollen  aber  nur  erinnern  an 
Lachmann  z.  Lucr.,  wo  p.  362  eine  Reihe  von 
Stellen  für  jene  Construction  angeführt  wird.  — 
Zu  den  14  Conjecturen,  die  K.  c.  III,  4,  10 
(Urnen  Apuliae)  anführt,  sei  hier  auch  noch  die 
fünfzehnte  von  Bährens  vorgeschlagene:  per- 
gulae,  was  nun  auch  Luc.  Müller  aufgenom- 
men hat,  und  eine  sechszehnte  von  Herbst: 
cellulae  aufgeführt.  —  Epod.  5,  87  fügen  wir  zu 
K/s  Conjectur  humana  invicem  noch  Madvig's 
Vorschlag  (advers.  crit.  II.  Bd.)  hnmand  vice.  — 
Zu  serm  II,  3,  57  möchten  wir  sehr  empfehlen 
Horkel's  (Anal.  Hör.  1852,  p.  40  ff.)  Vermu- 
thung  anicla  mater  (st.  arnica  mater). 


784  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

Von  den  sebr  treffenden  Conjecturen  dessel- 
ben Gelehrten  hätte  vielleicht  auch  c.  IV,  6, 
15  tacta  depulsum  (st.  lacte  depulsum)  sowie 
die  Interpunction  zu  ep.  I,  16,  31  „die  sodesu 
Beachtung  verdient.  —  Zu  ep.  I,  12, 1  ist  H  o  r- 
keTs  Conjectur  Acrillae  zurückgewiesen,  weil 
dieses  Wort  ein  plurale  sei.  Aber  Horkei 
verweist  (aaO.  p.  89)  auf  Stephan.  Byzant, 
wonach  auch  der  Singular  vorkommt.  Uns 
scheint  die  Conjectur  Horkel'g  trotz 
Campe's  Vertheidigung  des  hs.  Agrippae 
(Fleck.  Jahrb.  1877,  p.  129  f.)  recht  wohl  ge- 
lungen. —  Ep.  I,  20,  24  hat  K.  solibus  aptum 
gegen  die  Angriffe  und  gegenüber  den  Vor- 
schlägen, unter  denen  jedoch  weder  Roscher's 
(Neue  Jahrb.  1875,  p.  643  f.)  vortreffliches  sofö- 
bus  atrum  noch  0.  Müller 's  „praeconum  sor- 
dibus  aptumu  (Progr.  des  Luisenstädt.  Gymn.  z. 
Berl.  1876)  sich  befindet,  in  Schutz  genommen. 
Er  sieht  für  die  Bedeutung  von  aptus  „für  die 
Sonnenstrahlen  empfänglich,  geschickt  um 
sie  aufzunehmen"  ein  vollständiges  Analogon 
bei  Lucr.  VI,  961.  Wir  müssen  das  be- 
streiten. In  der  Lucrezstelle  (accedit  uti  non 
omnia  corpora  .  .  .  eodem  praedita  sensu  atgue 
eodem  paäo  rebus  sint  omnibus  aptau  ,  .)  ist, 
wie  die  weiterhin  angeführten  Beispiele  zeigen, 
gesagt,  daß  ein  und  dasselbe  Ding  (sol,  ignis, 
umör  .  .)  auf  verschiedene  Gegenstände  ver- 
schieden wirkt,  also  nicht  für  alle  gleich  an- 
gepaßt, eingerichtet,  entsprechend, 
oder  von  gleicher  Wirkung  begleitet 
ist.  Dieser  Gebrauch  des  aptus  von  der  Fähig- 
keit, Wirkungen  auszuüben,  kann  auf  das 
solibus  aptum  hier  gewiß  keine  Anwendung  fin- 
den, da  aptus  hier  die  Fähigkeit,  Wirkungen  zu 
empfangen  bedeuten  soll.   Fleckeisen  hat 


Keller,  Epilegomena  zu  Horaz.  785 

(Jahrb.  1875  S.  643  f.  und  1874  S.  814)  neben 
der  sprachlichen  Härte  noch  darauf  hingewiesen, 
daß  am  Ende  jeder  Mensch  „für  die  Sonnen- 
strahlen geeignet"  sei.  Offenbar  brauchen  wir 
hier  irgend  einen  weitern  Zag  zu  dem  von  H. 
gegebenen  Signalement.  Wenn  nun  zu  dem 
corporis  exigui  und  praecmum  durch  ein  solibus 
ustum  (Herbst)  oder  atrum  (Röscher)  noch 
ein  „gebräuntes  Gesicht"  hinzutritt,  so  ist,  wie 
Fleckeisen  richtig  sagt,  das  Bild  des  Dich- 
ters mit  einem  wesentlichen  Zuge  bereichert. 
E.  meint  nun,  dem  Bleichsein  epist  I,  19,  17, 
das  Horaz  von  sich  negiert,  möchte  eher  eine 
röthliche  oder  braune  Gesichtsfarbe  gegenüber- 
stehen, und  zur  Eigenschaft  des  Jähzorns  stimme 
die  rothe  Gesichtsfarbe  am  besten.  Aber,  wenn 
nicht  EL  gegen  die  natürliche  Wirkung  der  Son- 
nenstrahlen gefeit  ist,  kann  denn  die  Folge  des 
Sichsonnens  auch  bei  einem  jähzornigen  Men- 
schen eine  andre  sein,  als  daß  die  Haut  ge- 
bräunt wird?  Aptum  muß  nach  unserer  Mei- 
nung ein  Verderbniß  sein  und  wir  zweifeln 
nicht,  daß  Bosch  er  mit  seinem  diplomatisch 
überdies  so  leichten  atrum  das  Bichtige  getrof- 
fen hat. 

Gehen  wir  nach  diesen  wenigen  Bemerkun- 
gen über  den  commentierenden  Theil  des  Buches 
jetzt  zum  allgemeinen  über: 

1)  Der  Archetyp.  K.  schließt  aus  der 
Eigentümlichkeit  der  Fehler  der  II.  und  III. 
Hs.classe  auf  ein  Original  in  Gapitalschrift,  wäh- 
rend der  Urcodex  der  I.  Gl.  offenbar  wenigstens 
in  Uncialen  geschrieben  sei.  Der  diesen  Classea- 
archetypi  wiederum  zu  Grunde  liegende  „Origi- 
nalcodex" wird  von  ihm  in  das  erste  oder 
zweite  Jahrh.  gesetzt;  einige  Varianten  sollen 
„möglicherweise"    geradezu  auf    die  Zeit    des 

50 


766  Gott.  gel.  Anz.  1681.  Stück  25;  26. 

Nero  hinweisen.    Daraus  nämlich,  daß  k  den 
Ueberschriften  von  c.  III,  17  und  c.  1, 26  neben 
Äelius  Lamia  mit  großer  Consequent  in   man- 
chen Hss.  die  Variante  Helius  Lamia  vorkommt, 
"was  nicht  auf  einer  Verwechslung  von  A  and  H 
beruhen  könne,  schließt  E.  auf  die  Zeit,  wo  He- 
lios, der  berüchtigte  Günstling  Nero's,  seine  Rolle 
spielte.     Uns   scheinen    die    beiden  Varianten 
zu    wenig    beweiskräftig.       Denn     das    Auf- 
treten der  Variante  in   den  Ueb^rschriften 
(in  V.  1  von  c.  III,  17  bieten  alle  Hss.  Adius, 
in  der  Ueberschrift  überdies  auch  ABiFy  i; 
für  die  Var.  Hdius  ist   keine  Hs.    angegeben, 
auch   zu   c.  I,  26  blos  y)  ist  ganz   irrelevant, 
wenn  diese  wie  Keller  (anders  Eießling, 
der  sie  in   die  Zeit  des   Augustus  setzt)  will, 
erst  n  a  eh  Porphyrio  fallen  (s.  Epileg.  z.  c.  III, 
1  p.  187).    Außerdem   werden   im   Register  64 
Fälle  aufgezählt,  wo  die  Hss.  die  Aspiration  bie- 
ten, unter  diesen  24  Wörter,   die  an  48  Stellen 
dem  anlautenden  Vokal  h  vorsetzen.    Zur  Ver- 
wechslung  übrigens   von  A  und  H  vgl.  hetna 
c.  III,  4,  76;  a.  p.  465.  —  Die  andere  Variante 
ist  a.  p.  387,  wo  neben  Maecii,  tnecü  auch  tnb- 
tii  (u)  und  metij  (C)  vorkommt.    K.  meint,  wer 
Metii  erfand,   erinnerte  sich  wohl  an  den  be- 
rüchtigten  Delator  Melius   Garns,   den   Freige- 
lassenen des  Nero.    Aber  die  Verwechslung  voft 
t  Und  c  ist  so  außerordentlich  geläufig,  daß  wir 
daraus  keinen  Schluß  ziehen  mögen ;   gerade  it 
scheint  dafür   eine  Neigung  zu  haben,    cf.  c    I, 
'25,  11;  36,  14   (Tliratw,   Mieitia).     Auch  sagt 
K.  (p.  790)  selbst,   daß   die  Sonderlesarten  von 
u  als  „mittelalterliche   willkürliche    Abweichun- 
gen  vom  Archetyp  anzusehen  und  abzuweisen" 
Wien.  —  Schon  der  „Originalcodex"  muß  falsche 
LAA.  gehabt  haben,    freilich  nach  K.   lauter 


Keiler,  Epilegomena  zu  Horaz.  787 

Kacblässigkeitsfehler :  laborein  st.  labore,  peregre 
aut,  das  übrigens  Lang  (Fleck.  Jahrb.  1874  S. 
391) gegen  DuRieu's  Conjectur (rus peregreve) 
vertbeidigt  hat,  bibuli  st.  bibule,  simul  st  semd, 
puhres  st.  putris,  auxüii  st.  auxiti;  auch  jeden* 
falls  honorem  st.  honore  (e.  I,  7,  8)  und  peccare 
st  pacare  (a.  p.  197)  etc.  Nur  durch  solche 
Naeblässigkeitsfehler  unterscheide  sich  der  Ar- 
chetyp von  der  echten  Publication  durch  Horaz 
selbst. 

Interpolationen  finden  sich,  abgesehen 
von  serm.  I,  10,  1 — 8,  nicht;  nur  an  2  Stellen, 
germ.  I,  2,  13  (==  a.  p.  421)  und  epist.  I,  1,56 
(=  serm.  I,  6,  74)  sei  anzunehmen,  daß  ein 
auch  sonst  wiederkehrender  Vers,  der  ursprüng- 
lich als  Parallele  beigeschrieben  war,  in  den 
Text  gedrungen  sei.  Vielleicht  hätte  K.  noch 
serm.  II,  3,  163  (=  epist.  I,  6,  28)  dazu  neh- 
men können;  uns  wenigstens  hat  Teuffel's 
Verteidigung  keineswegs  überzeugt,  daß  es  da- 
mit anders  stehe,  wie  mit  ep.  1, 1,  56.  Wir  neh- 
men dazu  gleich  die  weitere  Athetese  epist.  I, 
18,  91  (die  einzige  in  der  edit,  min.),  für  deren 
Unechtheit  freilich  schon  die  ganz  ungenügende 
Tradition  spricht. 

Eine  systematische  Verschlechte- 
rung gegenüber  dem  Manuscripte  des  H.  bat 
nur  in  orthographischer  Hinsicht  stattgefunden, 
hindern  der  Schreiber  des  Archetyps  und  wohl 
schon  sein  unmittelbarer  Vorgänger  außerordent- 
lich häufig  die  Wortformen  seiner  eigenen  Zeit 
an  die  Stelle  der  veralteten  augusteischen  For- 
men gesetzt  hat". 

2)  Die  Handschriftenfrage  ist  am  ein- 
gehendsten behandelt  (S.  780-796).  K.  hat 
über  diesen  Punkt  schon  an  andern  Orten,  zu» 
letzt  im   Rhein.  Mus.    1878    gesprochen.     Die 

50* 


788  Gott.  gel.  Am.  1881.  Stück  25.  26. 

Dreielasseneintheilung  tritt  klar  hervor  durch 
die  Nebeneinanderstellung  der  Ueberlieferang 
der  I,  II  und  III  (einschließlich  der  u'  Familie) 
zu  c.  III,  12  S.  229  und  im  Einzelnen  durch 
die  Classificierungstabelle  S.  813  ff.  Das  Resul- 
tat ist  in  kurzen  Worten  dies:  die  I.  und  IL 
Gla8se  gehen  wenigstens  in  großen  Partien  auf 
eine  gemeinsame  Specialquelle  zurück,  welche 
der  III.  Glasse  fremd  war.  Diese  letztere,  wel- 
che die  meisten  groben  Fehler  hat,  weicht  von 
I.  und  IL  Glasse  bedeutend  ab;  doch  sind  die 
meisten  der  vielen  Sonderlesarten  dieser  III.  Gl. 
entschieden  falsch.  Im  Allgemeinen  sind  die  L 
und  IL  Gl.  besser  als  die  III. ,  die  auf  ein 
Horazexemplar  zurückgehe,  das  sehr  schlecht 
und  ungenau  geschrieben  gewesen  und  zu  Be- 
ginn des  Mittelalters  von  einem  Mönche  mit 
allerlei  Schlimmbesserungen  ausgestattet  worden 
sei.  Doch  finde  sich  in  dieser  III.  Cl.  manch- 
mal ein  treffliches  Korn.  —  Die  Recension 
des  Mavortius,  die  sich  nach  E.  auf  den  gan- 
zen Horaz  erstreckte,  stimme  fast  überall  mit 
der  IL  Gl.  Obgleich  seine  LAA.  immer  beach- 
tenswerth  und  theilweise  sogar  wirkliehe  Besse- 
rungen des  Textes  seien,  so  ist  doch  von  den 
Mavortischen  LAA.  außer  prorogat  (carm.  saec. 
68)  keine  von  K.  aufgenommen  worden.  Da 
nun  ein  systematisches  Ineinandercorrigieren  der 
verschiedenen  Hss.  stattgefunden  hat,  wodurch 
manche  Hs.  zwischen  der  I.  und  IL  und  selbst 
III.  CL  hin  und  her  oscilliert  und  bei  allen  3 
Classen  anzuführen  ist,  so  kann  weder  einer 
einzelnen  Hs.,  noch  einer  Hs.classe  als  regel- 
mäßiger Repräsentantin  der  echten  LA.  des  Ar- 
chetyps gefolgt  werden.  Das  Verhältniß  gestal- 
tet sich  nach  der  S.  834  aufgestellten  Berech- 
nung so,  daß  auf  60  LAA.  der  I.  Cl.  9  falsche, 


■'-.  Keller ,  Epilegomena  »u  Boras.  "  769 

a«f  ebensoviel  der  II.  Cl.  11  falsche,  der  III. 
Cl.  36  falsche  kommen.  Daher  könne  weder 
die  I.,  noch  IL,  oder  gar  III.  Gl.  zur  Basis  der 
Textkritik  genommen  werden.  E.  stellt  daher  den 
Grandsatz  auf,  daß  in  der  Ueberein Stim- 
mung zweier  Hs.elassen  die  richtige 
LA.  zu  erblicken  sei.  Im  Einzelnen  freilich 
kann  auch  manchmal  eine  Glasse  gegen  die 
beiden  andern  aus  innern  Gründen  den  Vorzug 
verdienen,  wie  z.  B.  unter  den  676  Beispielen 
der  Classificierungstabelle  die  LA.  der  III.  Gl. 
an  etwa  20  Stellen  gegen  die  der  I.  und  II. 
zusammen  recipiert  wurde.  Daß  aber  im  Gan- 
zen das  Keller' sehe  Princip  vollkommen  ge- 
rechtfertigt ist,  zeigt  die  Thatsache,  daß  —  obi- 
ges Verhältniß  beibehalten  —  bei  Ueberein- 
Stimmung  der  I.  und  II.  Gl.  auf  60  LAA.  nur 
etwa  2 Vi  falsche  kommen.  Im  Allgemei- 
nen ist  durch  die  Uebereinstimmung  der  2  sehr 
alten  Hss.  BR  (B  =  Bernensis  IX.  J.  repräs. 
d.  II.  Cl.;  R  =  Vaticanus  IX— X.  J.  repräs. 
d.  I.  od.  III.  Gl.  d.  h.  die  zwischen  der  I.  und 
III.  Gl.  schwankende  RnFamilie)  die  Richtig* 
keit  einer  LA.  verbürgt. 

3)  Die  Scholien  und  Grammatiker 
geben  nur  geringe  Ausbeute,  daher  ist  z.  B. 
der  Tractatus  Vindobonensis,  ein  Excerpt  aus 
sehol.  T  (außer  den  schol.  A  bezeichnet  K.  nun 
nach  dem  Vorgange  Holder's  auch  die  im 
cod.  v  vorliegenden  langem  schol.  F  ebenfalls 
als  acronisch),  welcher  in  den  beiden  Ausgg. 
angeführt  wird,  aus  dem  den  Epileg.  vorgesetz- 
ten Hss.-  und  Scholienverzeichniß  verschwunden ; 
ebenso  auch  die  mittelalt.  Florilegien.  Außer 
dem  Citat  bei  Fronto  (aus  serm.  II,  3,  255), 
der  mit  Porphyrio  das  aus  dem  Archetyp  ver- 
schwundene richtige  cubital  bietet,  werden  auch 


TtO  Oött  gel.  An».  1881.  Stück  26.  «6. 

die  antiken  Horazcitate,  deren  Varianten  oft  weni- 
ger auf  Rechnung  der  citierenden  antiken  Ge- 
lehrten als  vielmehr  ihrer  Abschreiber  kämen, 
als  nicht  maßgebend  für  die  Kritik  bezeichnet. 
4)  Im  Capitel  über  die  „Principien  und 
Leistungen  der  Herausgeber"  (S.  800 — 
812)  rechtfertigt  E.  sein  bekanntes  Urtbeil  über 
den  Blandinius  vetustissimua  und  Cruquius.  Seine 
abfällige  Ansicht  hat  sich  im  Laufe  der  viel- 
jährigen  Beschäftigung  mit  Horaz  noch  mehr 
befestigt.  Nur  eine  einzige  LA.  des  Bland,  vet. 
ist  aufgenommen  worden:  ep.  I,  16,  43  quo  res 
Sponsore.  Sie  ist  entweder  eine  blos  im  Bland, 
erhaltene  Sonderlesart  der  II.  Cl.  oder,  wie  K. 
trotz  oder  vielmehr  gerade  wegen  der  Wich- 
tigthuerei,  mit  der  Cruquius  diese  LA.  einführt 
(„sie  habet  Blandinius  vetustissimus  et  verissima 
lectio  est,  hactenus  ignorata  doctis"),  annimmt, 
eine  Conjectnr  von  Cruquius  selbst,  für  die  er 
einen  handschriftlichen  Beleg  fingiert.  Da  je- 
doch E.  selbst  (Epil.  S.  293)  die  Bergk'sche 
These  von  den  „Fälschungen"  des  Cruquius 
„zu  stark"  hält  und  dafür  den  Ausdruck  „Un- 
zuverlässigkeit",  die  übrigens  auch 
Bitschi  nicht  bestritten  habe  (Epil.  S.  483), 
substituiert,  —  ein  Vorwurf,  den  Cruquius  nach 
den  Belegen  K.'s  (S.  800  f.)  mit  vollstem  Rechte 
verdient  und  der  es  als  sehr  bedenklich  erschei- 
nen läßt,  auf  seine  Angaben  die  Textkritik  zu  ba- 
sieren,—  so  wollen  wir  der  so  bestimmten  Aeuße- 
rung  des  Cruquius  glauben  und  wie  wohl  auch  e. 
IV,  15,  17  (derepta)  eine  richtige  Verschreibung 
des  Bland,  vet  annehmen.  Aus  der  ziemlich  gro- 
ßen Zahl  der  schlechten  LA A.  des  Bland.  (S.  801) 
heben  wir  gleich  die  berühmteste  heraus,  „das 
Feldgeschrei  der  richtigen  Horazianer" :  catnpum 
lusumque  trigonem  (Serm.  I,  6,  126).     Holder 


Ktikr ,  fipilegomen&  *«  Hora*.  7Ä* 

bat  im  Hermes  XII,  &  501  f.  diese  LA.  ans  der 
Vorlage  eines  in  angelsächsischer  Schrift  ge- 
schriebenen Codex  hergeleitet  Aber  die  ganz 
außerordentliche  Geschicklichkeit,  mit  der  er  für 
die  „verkehrte  Buchstabiererei"  des  Abschrei- 
bers plädiert,  scheint  mehr  Bewunderung  als 
Glauben  gefunden  zu  baben,  und  es  ist  kein 
Zweifel,  daß  K.'s  Erklärung  weit  plausibler  ist 
Er  siebt  in.  der  LA.  des  Cruquius  einen  durch 
eine  unleserliche  Stelle,  sowie  durch  Mißver- 
ständniß  der  im  Original  (das  in  Minuskel  ge- 
schrieben gewesen  sein  muß)  gebrauchten  Abbre- 
viaturen hervorgerufenen  mittelalterlichen  Einen* 
dationsversucb,  der  schon  aus  sprachlichen  Grün- 
den mißglitokt  sei.  Das  von  der  Gesammt* 
tradition  gebotene  fugia  rabio&i  tempora  signi^ 
von  welchem  K.  einen  Nachklang  bei  Avien 
Arat.  1069  siebt,  entspreche  d^r  Horazischen, 
Bedeweise,  der  gerade  solche  uns  freilich  wenig 
genießbare  astrologisch-astronomischen  Phrasen 
eigentümlich  seien;  dagegen  müsse  von  den 
Anhängern  des  Cod.  Cruq.  und  seines  Trabanten 
g  (der  aber  an  dieser  Stelle  erst  noch  zn  emen- 
dieren  ist)  der  Nachweis  geführt  werden,  daß, 
die  Phrase  ludere  aliquant  rem  =?  „mit  etwas 
spielen"  oder  das  exegetisch  neben  einander  ge- 
setzte lusus  trigo  =  „Ballspiel"  überhaupt  ho- 
razisch  sei.  Die  singulare  LA.  des  Cruquius  sei 
durch  Verbesserung  der  „merkwürdigen",  durch 
Unleserlicbkeit  der  Vorlage  entstandenen  Va- 
riante der  LA.  vong  (campum  lusüque  trigonem) 
entstanden,  sei  also  tertiärer  Art.  —  Man  mag 
über  K.'s  Erklärung  der  Entstehung  dieser  Stich- 
lesart denken,  wie  man  will:  das  wird  aber 
ausgesprochen  werden  können,  daß  gegenüber 
einer  so  einhelligen,  sachlich  wie  formell  unan- 
fechtbaren Ueberlieferung,  wie  hier,   die   singu- 


792  Gott.  gel.  An*.  1881.  Stück  25. 26. 

läre,  formell  mindestens  sehr  eigentümliche  LA. 
des  Grnqnianisehen  Codex  das  Präjudiz  gegen 
sich  hat.  Und  wie  verhält  sich  denn  nnn  der 
Bland,  vet.  überhaupt  zn  den  übrigen  Hss.?  K. 
zeigt,  daß,  abgesehen  von  den  Sonderlesarten, 
welche  aber  selbst  von  den  Verehrern  des  Co- 
dex meist  mißbilligt  werden,  die  LAA.  des  Bland, 
im  Allgemeinen  zwischen  der  IL  und  III  nndl. 
Classe  hin-  nnd  herschwanken,  so  daß  man  also, 
wenn  man  anf  ihn  die  Textkritik  basiert,  fac- 
tisch  nichts  anderem  als  dem  vielbeschrieenen 
Eklekticismns  huldigt,  der  aber  nicht  entfernt 
jenes  günstige  Verbältniß  zwischen  den  richtigen 
nnd  falschen  LAA.  bietet,  das  wir  oben  angeführt 
Denn  unter  60  Fällen  sind  nach  E.  19,  nach 
Haupt  immerhin  noch  121/*  unrichtige  LAA. 
(vgl.  S.  835).  Wie .  mit  dem  Bland,  des  Oru- 
quius  verhält  es  sich  auch  mit  g.  Von  den 
Sonderlesarten  desselben  kommt  nur  serm.  II,  3, 
208  veris  sceleris  (in  ed.  min.  noch  veri  sceleris) 
in  Betracht;  an  der  andern  Stelle  serm.  II,  3, 
129  hält  K.  an  dem  tuos  der  übrigen  Hss.  fest. 
-Es  bleibt  —  schließt  K.  —  eine  wahre  Ironie 
des  Schicksals,  daß  die  ursprüngliche  Verehrung 
des  'Vetustissimus'  auf  eine  Papierhandschrift 
des  15.  J.  übergegangen  ist:  also  auf  die  jüngste 
überhaupt  noch  in  Betracht  kommende  Horaz- 
handschrift«.   (S.  804). 

Weiterhin  spricht  K.  von  den  Leistungen  der 
Conjecturalkritik.  Die  lebenden  Kritiker  sind 
grundsätzlich  übergangen.  So  sehr  K.  einer 
wilden  und  mit  verfebmenden  Machtsprüchen  — 
man  denke  nur  an  Gruppe  und  das,  was 
Lehrs  in  der  Vorrede  seiner  Ausgabe  von  den 
^Kleinbürgern  der  Ueberlieferung"  sagt,  sowie 
an  die  hübsche  Blüthenlese  von  Urbanitäten, 
welche  teuf  fei    (d.   Horaz.  Lyrik  S.  12)  ge- 


Keller,  EpiFegomema  za  Horaz.  7fcfr 

sammelt  —  auftretenden  Hyperkritik  gegen- 
über einen  entschieden  conservativen  Standpunkt 
einnimmt,  so  weit  ist  er  von  einer  byperconser- 
vativen  Pergamen  Verehrung  entfernt,  die  der 
Emendation  jede  Berechtigung  abspricht.  So 
sind  von  Bentley's  Vorschlägen  66  reci- 
piert  (11  Conjecturen,  das  andere  richtig  bevor- 
zugte LAA.);  auch  seine  Umstellung  a.  p.  45  f. 
ist  aufgenommen,  ebenso  die  Interpolationsver- 
muthung  epist.  I,  18,  91,  und  die  Interpunction 
serm.  I,  6,  38.  Unumwunden  werden  von  K. 
die  außerordentlichen  Verdienste  B  e  n  1 1  e  y '  s 
gewürdigt;  daneben  muß  K.  aber  auch  consta- 
tieren,  daß  B.  durch  sein  kritisches  Ingenium 
oft  auch  da  zu  emendieren  sich  veranlaßt  sab, 
wo  an  der  Echtheit  und  Correctheit  der  Ueber- 
liefertmg kein  Zweifel  ist  —  Von  Peerlkamp's 
über  200  Conjecturen  hat  K.  2  aufgenommen: 
c.  III,  20,  8  illa  und  IV,  2,  2  üle,  zu  welch 
letzterem  er  sich  in  den  „krit.  Beiträgen u  noch 
nicht  verstehen  konnte.  An  vielen  Stellen  sind 
seine  krit.  Ausführungen  verwerthet,  sonst  aber 
die  ganze  Manier  des  Interpolationswitterns,  de- 
ren Vater  P.  ist,  mit  Recht  als  verkehrt  bezeich- 
net Teuffei  hat  treffend  diese  „Emendatio- 
nentf  bezeichnet  als  verspätete  Anfragen  bei 
dem  Dichter,  ob  er  nicht  lieber  s  o  hätte  schrei- 
ben mögen,  und  K.  stellt  zu  Nutz  und  Frommen 
derer,  die  sich  in  dieser  „Kritik"  um  Horaz 
verdient  machen  wollen,  ein  Recept  zusammen 
von  13  Punkten  (S.  809  f.).  Wir  heben  nur  2 
heraus:  N.  2:  „Jede  Parallelstelle  ist  ein  Be* 
weis  von  Entlehnung",  und  N.  3:  „Wo  sich 
keine  Parallelstelle  findet,  verräth  sich  der  Inter- 
polator" :  zwei  hermeneutische  Sätze,  nach  denen 
der  ganze  Horaz  eine  große  Interpolation  ist  — 
Von  Laehmann  ist  eine  Umstellung  ep.  II,  1, 


7tt  Göti  «ek  Aax.  18SL  Stück  2&  2ft. 

101  angenommen;  alle  andern  Aendeumgeö, 
auch  das  in  der  ersten  Ausg.  recipier te  terrenum 
(c.  111,  24,  4)  zurückgewiesen.  Ebenso  ist  von 
Meineke's  Vorschlägen  nur  einer  (ep.  II,  2, 
87)  aufgenommen.  Von  Haupt  hätte  nur  die 
Gonjectur  epod.  5,  87  (maga  tum)  in  Betracht 
kommen  können;  diese  aber  glaubt  K.  durch 
seine  eigene  Conjectur  hutnana  itwicem  ersetzt 
zu  haben. 

Als  5.  Abschnitt  folgt  dann  eine  Classi- 
ficieru  ngstabelle,  an  derE.  sein  kritisches 
Prineip  illustrieren  will.  An  676  besondere 
significanten  Beispielen  wird  gezeigt,  wie  sich 
die  Hss.  des  H.  deutlich  in  3  Olassen  absondern. 
Die  richtige  LA.,  die,  wie  oben  erwähnt,  in  dear 
Kegel  durch  die  Uebereinstimmung  zweier  Clas- 
sen sich  ergiebt,  ist  durch  durchschossenen  Druck 
hervorgehoben. 

Was  wir  in  diesem  allgemeinen  Theile  ver- 
missen, ist:  Erstens  ein  Capitel  über  die  Ueber- 
scbriften,  auf  deren  Wichtigkeit  A.  Kieft- 
ling  neuerdings  hingewiesen  und  über  die  in 
dem  commentierenden  Theile  der  Epil.  nur  da 
und  dort  eine  Bemerkung  gemacht  wird,  wie 
zu  c  III,  1.  17.  24.  IV,  15  u.  s.  w.  Wir  er- 
fahren 8.  777  nur,  daß  „die  einzelnen  Lieder, 
Sermonen,  Episteln  natürlich  in  der  Urtand- 
scbrift  noch  keine  Ueberschriften  hatten";  die 
interessanten  Folgerungen,  welche  Kießling 
aus  den  Ueberschriften,  besonders  auch  für  die 
Bestimmung  der  Hs.familien,  zieht,  werden  nicht 
berücksichtigt.  Zweitens  hätte  ein  besonderes, 
zusammenfassendes  Capitel  über  die  Orthogra- 
phie dem  Leser  eher  ein  Gesammtbild  über  die 
Tradition  gegeben,  als  die  zerstreut  stehenden 
Bemerkungen.  Es  wäre  dadurch  manche  Wie- 
derholung unnöthig  geworden.    So  redet  IL  yon 


Ketter ,  Epilegomena  *a  Efor&i.  79S 

der  Elision  des  e  in  est  c.  I,  3,  37;  II,  18,  10; 
III,  16,  43 ;  IV,  3,  21  u.  8.  w.,  u.  s.  w.  —  Zu 
<5.  I,  1,  22  ist  bemerkt:  „capud  statt  gopul  in 
Mu,  die  gleiche  Variante  auch  sonst.  Es  ist 
eine  späte  schlechte  Schreibweise ;  insebriftlieh 
datiert  findet  sie  sieh  im  J.  562  n.  Gh.  s.  Sc  bu- 
lbar dt,  Vulgärlat.  III,  62u.  Zu  c.  II,  13,  12 
heißt  es  dann  wieder:  „capud  n;  caput  der  Ar- 
chetyp hier  und  überall  beiHoraz.  InscbriftHck 
ist  capud  nachgewiesen  für  das  Jahr  562, 
Schuchardt  Vulg.  III,  62a.  —  Was  die  Na- 
«alformen  thensaurus,  formonsus  angeht,  so 
scheint  K.  auf  die  letztere,  die  noch  ed.  min. 
serm.  I,  6,  31  steht,  in  den  Epileg.  zu  verzich- 
ten. Vielleicht  auch  auf  das  thensaurus,  wenn 
wir  ihn  serm.  II,  6,  11  recht  verstehen;  da- 
gegen bebarrt  er  auf  dem  iricensvma  (serm.  I, 
9,  69)  als  „echt  Horazischer  Form".  Was  die 
Schreibung  von  pas  für  post  angebt,  so  ist 
-c  III,  21, 19  „nichts  weniger  als  ausgemacht,  daft 
die  Tradition  der  III.  Cl.,  die  hier  für  pos  ist, 
;auch  die  wirklich  Horazische  Orthographie  in 
diesem  Falle  darbietet",  Serm.  I,  6,  40  und  a. 
p.  141  scheinen  die  einzigen  Fälle,  an  denen 
das  pos  seinen  Platz  behaupten  soll.  In  diesem 
zusammenfassenden  Abschnitt  über  die  Ortho- 
graphie, für  den  auch  das  Tollständigste  Regi- 
ster keinen  Ersatz  bietet,  hätte  denn  auch  die 
Regel  für  den  Accnsativ  auf  is  (zu  eil,  20, 11) 
ihren  Platz  gefunden  (dagegen  übrigens  Bti~ 
e heier,  lat.  Decl.  p.  29  ed.  1,  p.  57  ed.  Win- 
de kil  de). 

Das  von  R.  Kuknla  angefertigte  Regi- 
ster leidet  an  dem  großen  Mißstande,  daß  der 
sprachliche  und  sachliche  Tbeil  nicht  getrennt 
sind.  Es  müssen  bei  diesem  bunten  Zusammen- 
laufen gewisse  Ungereimtheiten  zu  Tage  treten. 


796  Gott  gfJ.  Ant.  1881 .  Stück  26.  26. 

So  steht  z.  B.  unter  V  (das  für  U,  V}  W  gilt) 
„Weinen  im  Alterthum  e.  I,  3,  18"  zwischen 
nveu  and  yfid*,  ohne  daß  aber  weder  nsiccis 
ocüli$u  noch  „rectis  oculisa  im  Register  vor- 
kommen. „Vierzeilengesetz" ,  „Unhorazische 
Wendungen",  „Unterschriften"  .  .  .  stehen  alle 
nach  „Wiederholung".  Unter  „Interpolatio- 
nen" (nicht  einmal  „Interpolationshypothesen 
Zurückgewiesen")  ist  angegeben  c.  III,  3, 
49—52.  Aber  es  heißt  dort  nur:  „eine  viel 
angefochtene  Strophe,  vergl.  dagegen  Obba- 
aius  in  Jahns  Jahrb.",  ist  also  nach  K.  mit 
Unrecht  athetiert  Daneben  steht  aber  auch  das 
Ton  K.  für  wirklich  interpoliert  gehaltene  sertn. 
I,  2,  13;  serm.  I,  10,  1-8;  epist.  I,  16,  52; 
18,  91.  Unter  „Stellung"  sind  sowohl  reci- 
pierte  als  nur  notierte  Umstellungen  registriert, 
'während  getrennt  sein  sollten  c.  I,  28,  17—20, 
epist.  II,  1,  101  und  a.  p.  45  f.  von  den  Übrigen 
Stellen.  Wir  glauben,  daß  ein  Iudex  der  ver- 
dächtigten und  der  emendierten  Stellen,  soweit 
sie  in  den  Epileg.  behandelt  werden,  vielleicht 
auch  ein  Verzeicbniß  von  den  Stellen,  an  denen 
ed.  I  und  II  von  einander  abweichen,  sehr  er- 
wünscht wäre. 

Fassen  wir  unser  Urtheil  kurz  zusammen, 
so  liegt  in  den  Epilegomena  ein  mit  der  größ- 
ten Sorgfalt  gesammeltes,  außerordentlich  reich- 
haltiges kritisches  Repertoir  für  Horaz  vor. 
Keine  einzige  Stelle  von  Wichtigkeit  ist  tiber- 
gangen. Das  ungeheuere  handschriftliche  Ma- 
terial wird  mit  einer  bis  in's  Einzelste  gehenden 
Akribie  erschöpft  und  in  dieser  Hinsicht  ein  ge- 
wisser Abschluß  der  Horazischen  Textkritik  er- 
reicht. Durch  seine  vieljährige  Beschäftigung 
mit  Horaz  wie  kaum  ein  anderer  dazu  berufen, 
hat  der  Verf.  über  die  Horazfrage  —  oder  Pra- 


Keller,  Epilegomena  zu  Horaz.  797 

gen  Revision  gehalten.  Hag  auch  manche 
Frage  offen  bleiben,  manche  vielleicht  nie  eine 
befriedigende  Lösung  finden,  so  ist  doch  durch 
die  Epilegomena  eine  kritisch  sichere  Interpre- 
tationsbasis gegeben,  von  der  namentlich  Schul-* 
ausgaben  ausgehen  müssen.  Diese  letzteren  ge- 
rade will  K.  durch  die  erschöpfende  Behand- 
lung des  kritischen  Theils  der  Mühe  kritischer 
Anmerkungen  überheben  und  so  eine  größere 
Concentration  derselben  auf  die  eigentliche  Exe« 
gese,  wo  noch  so  viel  zu  thun  sei,  ermöglichen. 
Aber  nicht  nur  für  die  Schule  leisten  die  Epi- 
legomena einen  ganz  wesentlichen  Dienst,  son* 
dern  ftir  jeden,  der  sich  mit  Horaz  beschäftigt, 
wird  Kelier'8  Buch  geradezu  unentbehrlich  sein* 
Heidelberg,  Sept.  1 880.        Dr.  H  ä  u  s  s  n  e  r. 

Zur  Verfassungsgeschichte  der  Stadt 
Augsburg  vom  Ende  der  römischen  Herrschaft  bis 
zur  Kodifikation  des  zweiten  Stadtrechts  im  Jahre  127$. 
Von  Dr.  E.  ß  e  r  n  e  r.  Breslau,  W.  Köbner.  1879.  X 
u.  168  S.  8°.  [Untersuchungen  zur  Deutschen  Staats-  und 
Hechtsgeschichte  herausgegeben  von  0.  Gierke,  V.] 

Der  Verfasser  theilt  den  angegebenen  Zeit- 
raum in  zwei  durch  das  erste  Stadtrecbt  ge- 
trennte Perioden  und  die  erstere  derselben  wie- 
der in  zwei  Abschnitte,  deren  einer  die  Ent- 
wickelung  bis  zum  ersten  Stadtrechte  bebandelt, 
während  der  andere  dieses  selbst  zum  Gegen- 
stände hat.  Jeder  Periode  ist  ein  sehr  ein- 
gehender Abschnitt  über  die  äußere  Stadtge- 
schichte vorangestellt,  was  sehr  dankenswerth 
ist,  wenngleich  hier  mehr  geboten  wird,  als  in 
den  Rahmen  der  Arbeit  zu  gehören  scheint,  und 
manche  Einzelheit,  welche  weder  die  Verfassung 
der  Stadt  berührt,  noch  auch  für  die  Beurthei- 
lung  der  Größe  und  Bedeutung  Augsburgs  irgend 


798  Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  35.26. 

yon  Nutzen  ist  —  wie  die  Nachricht  von  dem 
Transport  einer  Kaiserleiche  durch  die  Stadt, 
S.  84  —  ohne  Schaden  hätte  fortbleiben  können. 
Die  Besprechung  der  Stadtverfassung  in  der 
ersten  Periode  wird  wieder  eingetheilt  in  die 
der  vorottoni8chen,  der  ottonischen  und  der 
fränkischen  Zeit,  eine  Dreitbeilung,  welche  nicht 
vortbeilbaft  ist,  da  sie  den  Verf.  oft  zwingt  nur 
festzustellen,  worüber  wir  gar  nichts  oder  doch 
nichts  irgend  wie  ver wert h bares  erfahren.  So 
wird  für  den  ersten  Zeitraum  constatiert,  daß 
kein  Burggraf  vorkommt  und  dasselbe  wieder- 
holt sich  beim  zweiten.  Nicht  viel  besser  steht 
es  mit  dem  Vogt  Daß  die  Augsburger  Kirche 
einen  solchen  hatte,  wäre  für  den  ersten  wie 
für  den  zweiten  Zeitraum  selbstverständlich, 
auch  ohne  die  ausdrücklichen  Zeugnisse.  Was 
aber  die  in  den  Urkunden  genannten  Vögte  für 
die  Stadt  bedeuteten,  erfahren  wir  auch  aus 
ihnen  nicht.  Ueberhaupt  sind  die  Nachrichten 
zu  dürftig,  als  daß  sich  auch  nur  für  die  ältere 
Zeit  im  Ganzen,  geschweige  denn  für  die  ein- 
zelnen Abschnitte,  ein  einigermaßen  deutliches 
Bild  von  dem  Zustande  der  Stadt  geben  ließe. 
Fast  nur  das  Verbältniß  zum  Bischof,  der  durch* 
weg  als  Herr  der  Stadt  erscheint,  tritt  in  den 
Quellen  hervor.  Welche  Kolle  die  auch  von 
Bern  er  als  vorhanden  anerkannte  königliche 
Pfalz  spielte,  bleibt  ganz  im  Dunkel.  Wenig 
mehr  erfahren  wir  aus  der  Zeit  der  salischen 
Kaiser;  die  Zustände  sind  wohl  im  wesentlichen 
dieselben  geblieben.  Doch  kommen  jetzt  wie* 
deruolt  Burggrafen  und  zwar  unter  den  bischöf- 
lichen Ministerialen  vor  (S.  öl);  ja  sogar  meh- 
rere gleichzeitig,  wobei  B.  mit  Recht  bemerkt, 
daß  dies  nach  dem  ersten  Stadtrecht  als  Miß«, 
brauch  empfunden  wurde.     Ueber   die  Vogtei 


Berner,  Zur  V^rfastsangsgeschichteii.  Stadt  Augsburg.  799 

eifailfrefc  wir  Auch  jetzt,  soweit  sie  die  Stadt  be- 
trifft, triebt  viel  mehr  als  früher.  Denn  wenn 
hervorgehoben  wird,  daß  die  dem  ersten  Stadt- 
rechte inserierte  Urkunde  von  1104  über  die 
Vögtei  sich  nicht  auf  den  Stadtvogt  beziehe,  so 
können  wir  dem  insofern  beistimmen,  als  die 
Vorschriften  des  Statuts  sieh  lediglich  auf  die 
Leistungen  der  auf  den  Gütern  des  Domcapitels 
Eingesessenen  an  die  Vögte  beziehen.  In  letz- 
teren aber  mit  dem  Verfasser  besondere  „Vögte 
des  Domcapitels"  zu  erblicken,  ist  uns  unmög- 
lich. Auch  auf  den  Gütern  des  Capitels  übt 
natürlich  der  Bischof  die  Immunitätsrechte.  Des- 
halb sind  die  Klagen  der  Ganoniker  nicht  allein 
gegen  die  Vögte  gerichtet,  sondern  gegen  den 
B  i  8  c  h  o  f  und  die  Vögte  der  Augsburger  Kirche, 
von  denen  allerdings  dereine  „in  Augusta"  der 
spätere  Stadtvogt  zu  sein  scheint  Die  S.  51 
angeführte  Urkunde  Ottos  IV.,  in  welcher  die- 
ser dem  Capitel  gewisse  Concessionen  in  Bezug 
auf  die  Vogteirechte  in  Eitingen  macht,  beweist 
nichts  gegen  diese  einfache  Erklärung.  Der 
bischöfliche  Consens  hierzu  aber,  dem  Berner 
hier  lediglich  die  Bedeutung  einer  „formellen 
Genehmigung  des  geistlichen  Ob  er  hirten* 
zuweisen  will,  enthält  vielmehr  die  Genehmigung 
des  Bischofs  als  Lehnsherren  des  Königs  in 
Bezug  auf  die  Vogtei,  wie  der  Verf.  an  anderer 
Stelle  (S.  144)  selbst  erklärt.  Diese  Urkunden 
würden  also  sogar  ein  direktes  Zeugniß  dafür 
liefern,  daß  es  sich  im  Statut  von  1104  wirk- 
lich um  Vögte  des  Bischofs  bandelte  und  nicht 
um  „Vögte  des  Domcapitels". 

'Einen  sehr  ausführlichen  Abschnitt  (S.  64  ff) 
widmet  der  Verf.  den  Bevölkerungsklassen,  in- 
dem er  die  zahlreichen  Personennamen  der  Ur- 
kunden und  des  Codex  Traditionum  von  S.  Ul- 


800  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25. 26. 

rieb  and  Afra  in  sorgfältigster  Weise  ausnutzt. 
Leider  stehen  die  Resultate  in  keinem  Verhält- 
nisse zu  der  aufgewandten  Mühe.  Es  ist  eben, 
wie  der  Verf.  selbst  klagt,  für  die  Bevölkerungs- 
verhältnisse Augsburgs  im  12.  Jahrh.  nur  „ein 
scheinbar  reiches  Material"  vorhanden.  Van 
Bedeutung  ist  allein,  daß  Freie  in  dieser  Zeit 
nicht  mit  Sicherheit  nachzuweisen  und  wie  B. 
mit  Becht  meint,  in  erheblicher  Anzahl  audi 
nicht  zu  vermuthen  sind.  Ministerialen  werden 
oft  genannt,  doch  sind  diese  Erwähnungen 
von  zweifelhaftem  Werthe,  da  sie  nicht  einmal 
immer  erkennen  lassen,  ob  die  genannten  Per- 
sonen wirklich  in  Augsburg  wohnten,  ob  sie 
Königs-,  Bischofs-  oder  Klosterministerialen  wa- 
ren, am  wenigsten  aber  über  ihre  Stellung  der 
Stadtverfassuug  gegenüber  Auskunft  geben. 
Auch  über  Gensualen  und  Hörige  bringt  der 
Verf.  nichts  wesentlich  neues.  Der  Begriff  „civesa 
ist,  wie  nachgewiesen  wird,  keineswegs  schon 
ein  fest  geschlossener,  da  die  Ministerialen  bald 
zu  ihnen  gerechnet,  bald  ihnen  entgegengesetzt 
werden.  In  Betreff  der  Frage  nach  dem  Bathe 
kommt  es,  wie  das  in  Anbetracht  des  Materials 
nicht   anders  möglich  ist,   zu  keinem  Resultate, 

Festeren  Boden  fühlen  wir  erst  im  folgenden, 
das  erste  Stadtrecht  behandelnden  Abschnitte 
(S.  72  ff.)  unter  den  Füßen.  Zunächst  wird  in 
unzweifelhaft  zutreffender  Weise  dargethan,  daft 
die  Stadtrechtsurkunde  selbst  erst  in  die  Zeit 
Friedrichs  I.  gehört,  aber  als  Art.  2  die  oben 
besprochene  Urkunde  über  die  Vögte  aus  dem 
Jahre  1104,  die  auch  selbständig  Überliefert  ist, 
enthält.  Die  ganze  Stadtrechtsurkunde  wird 
charakterisiert  als  ein  von  E.  Friedrich  I.  ge- 
nehmigtes und  Gesetz  gewordenes  Weisthum. 

Vom  materiellen  Inhalte  wird,  zunächst  die 


Berner,  Zur  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Augsburg.  801 

Stellung  des  Bischofs  erörtert  und  mit  Recht 
dessen  große  Gewalt  hervorgehoben.  Doch  geht 
der  Verfasser  wohl  zu  weit,  wenn  er  behauptet, 
der  Bischof  sei  „oberster  Gericbtsherr".  Wenn 
ihm  das  Gericht  über  temeritas,  iniusticia,  mono- 
macbia  und  Alles,  was  an  Leib  und  Leben 
geht  —  also  nicht  nur  die  Blutgerichtsbarkeit 
—  ab  und  dem  Echteding  des  Vogtes  zugespro- 
chen wird,  so  wird  dieses  damit  in  einen  sol- 
chen Gegensatz  zu  dem  Gerichte  des  Bischofs 
gesetzt,  daß  der  öffentliche  Charakter  der  Vogtei- 
gerichtsbarkeit  scharf  hervortritt.  Mochte  immer 
der  Vogt  sein  Amt  vom  Bischof  erhalten,  der 
Bann,  den  er  übt,  sein  Gericht  sind  des  Königs. 
Der  Bischof  ist,  wie  weiter  ausgeführt  wird, 
Wahrer  des  Stadt  und  Marktfriedens.  Er  hat 
das  Geleitsrecht.  Kaum  würde  man  aber  mit 
B.  hieraus  allein  schließen  dürfen,  daß  er  auch 
die  Thore  der  Stadt  in  seiner  Gewalt  gehabt 
habe,  weil  sonst  das  Geleitsrecht  illusorisch  ge- 
worden wäre,  denn  im  2.  Stadtrecht,  wo  die 
Bürger  «Mauern  und  Thore  in  ihrer  unbestritte- 
nen Gewalt  haben,  wird  u.  a.  dem  Bischof  ein 
gewisses  Geleitsrecht  vorbehalten.  Ebenso  we- 
nig vermögen  wir  die  weitere  Folgerung  daran 
zu  knüpfen,  daß  der  Bischof  der  höchste  Kriegs- 
herr der  Stadt  gewesen  sei.  —  Den  Vogt,  über 
den  hier  zuerst  eingebend  gesprochen  wird,  hält 
der  Verf.  für  einen  rein  bischöflichen  Beamten. 
Wir  können  das  nur  unter  der  Einschränkung, 
daß  die  Vogtei  ihren  öffentlichen  Charakter, 
ihren  Zusammenhang  mit  der  Reichsgewalt  nie 
ganz  einbüßte,  gelten  lassen.  Neu  belebt  und 
dauernd  gekräftigt  wurde  dieser  Zusammenhang, 
als  Friedrich  I.  1168  die  Augsburger  Vogtei, 
nachdem  GrafAclalgoz  v.  Schwabek  ohne  Erben 
gestorben  war,   mit  dessen  übrigen  Gütern  ein- 

51 


802  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.26. 

zog.  Bisher  wurde  nun  meist  angenommen,  daß 
die  Vogtei  im  Hanse  Scbwabeck  erblich  gewe- 
sen sei,  ohne  daß  man  für  nötbig  gebalten 
hätte,  es  besonders  zu  begründen.  Es  ist  daher 
dankbar  anzuerkennen,  daß  der  Verf.  die  Gründe, 
welche  für  uns  vollständig  überzeugend  sind 
S.  93  f.  zusammengestellt  hat.  Wenn  der  Kaiser 
die  Vogtei  einzog,  weil  der  Vogt  Adalgoz 
v.  Schw.  ohne  Erben  starb  —  und  das  geht 
aus  den  Worten  des  Ursperger  Chronisten  ohne 
jeden  Zweifel  hervor,  —  wenn  schon  1152  und 
1154  ein  Vogt  Adalgoz  (derselbe?)  genannt 
wird,  etwas  früher  aber  (1130 — 1145)  ein  Vogt 
Werner  von  Schwabeck  in  Augsburg  vorkommt 
und  ferner  die  Namen  Adalgoz  und  Werner 
schon  im  11.  Jahrh.  (seit  1064)  für  Vögte  der 
Augsburger  Kirche  nachgewiesen  werden,  so  ist 
damit  unseres  Erachtens  die  Erblichkeit  des 
Amtes  in  jenem  Grafenhause  so  gut  wie  irgend 
möglich  erwiesen.  Berner  selbst  aber  erkennt 
das  nicht  an  und  zwar  hauptsächlich,  weil  er 
1074  einen  Schwigker  „comitem  de  Baltzbaosen, 
residenten  in  Scbwabegk"  nachweist ,  der 
wahrscheinlich  nich  Vogt  gewesen,  und 
weil  er  aus  dem  ersten  Stadtrechte,  welches  be- 
kanntlich nur  von  der  Absetzung  eines  Vogtes 
durch  den  Bischof,  nicht  von  der  Einsetzung 
spricht,  praesumiert  der  Bischof  habe  auch  das 
Ernennangsrecht  des  Vogtes  gehabt.  Ist  der 
erste  Grund  offenbar  ganz  irrelevant,  so  wüßten 
wir  in  Betreff  des  zweiten  wirklich  nicht,  was 
das  auffallende  Schweigen  des  Stadtrechts  von 
der  Vogternennung  einfacher  erklären  könnte, 
als  die  Annahme  der  Erblichkeit  des  Amtes, 
womit  sich  die  Befugniß  des  Bischofs,  einen 
Vogt,  der  sich  etwas  bat  zu  Schulden  kommen 
lassen  und  nach  Verlauf  der  gesetzlichen  Frist 


Berner,  Zur  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Augsburg.  803 

Genugthuang  verweigert,  zu  eassieren,  sehr  wohl 
verträgt  Jedenfalls  sollte  dann  der  nächstbe- 
rechtigte  Erbe  in  das  Amt  einrücken.  Damit 
ist  aber  die  Möglichkeit,  daß  die  Grafen  von 
Sehwebeck  die  Vogtei  vom  Bisehof  zu  Lehen 
trugen,  und  zwar  nicht  von  Anfang  an  als  Erb- 
lehen, nicht  ausgeschlossen.  Vo»  Friedrich  I. 
wenigstens  und  seinen  Nachfolgern  ist  es  sehr 
wahrscheinlich,  daß  ßie  das  Amt  vom  Bischof 
zu  Lehen  nahmen.  Dafür  spricht  die  Darstel- 
lung des  Ursperger  Chronisten  und  der  von  B. 
S.  95  Anm.  41  citierten  Quelle,  ferner  der  Um- 
stand, daß  Otto  IV.  die  Vogtei  zu  Ehingen, 
welche  wir  nur  als  Tbeil  der  advocatia  eccle- 
siae  Augustanae  anzusehen  haben,  nachweislich 
vom  Bischof  zu  Lehen  trug  und  endlich ,  daß 
der  Bischof  während  des  Interregnums  über 
die  Vogtei  als  Lehen  verfügte. 

In  Bezug  auf  die  Befugnisse  des  Vogtes 
scheint  uns  B.  ganz  zutreffend  zu  praesumieren, 
daß  seine  Gerichtsbarkeit,  gleichwie  die  des 
Burggrafen,  sich  über  die  gesammte  städtische 
Laienbevölkerung  gleichmäßig  erstreckte.  Ebenso 
richtig  bemerkt  derselbe,  daß  für  die  cives,  da 
sie  mehrfach  gemeinschaftlich  handelnd,  bittend, 
bewilligend  auftreten  eine  gewisse  Organisation 
—  etwa  ein  sich  aus  dem  Schöffencolleg  rekru- 
tierender Ausschuß  —  vorauszusetzen  sei.  Eine 
wenn  auch  nicht  alle  dunkeln  Punkte  aufhellende, 
so  doch  sehr  beachtenswerthe  Erklärung  der 
vielbesprochenen  Stelle:  si  censualis  talem  ha- 
bet uxorem,  quod  filio  eius  ecclesiae  sunt  etc. 
giebt  der  Verf.,  indem  er  dieselbe  auf  den  Fall 
bezieht,  daß  ein  Censuale  eine  Hörige  heirathete. 
Aus  dem  die  letzte  Periode  bis  1276  umfas- 
senden Abschnitte  heben  wir  nur  noch  ein  paar 
wichtige  Punkte  hervor, 

51* 


804  Gott.  gel.  Aüz.  1881.  Stück  26.  26. 

Vor  allem  können  wir  hier  dem  Verf.  nicht 
beistimmen,  wenn  er  meint,  dieVogtei  sei  schon 
in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrh.  wieder  ein 
bischöfliches  Amt  geworden  (S.  131  ff.).  Er  fin- 
det es  in  so  hohem  Grade  auffällig,  1237  und 
1246  einen  bischöflichen  Ministerialen,  Heinrich 
v.  Gula,  als  advocatus  Aug.  anzutreffen,  daß  er 
sich  zu  der  Annahme  genöthigt  sieht:  das  Amt 
habe  seinen  Charakter  geändert  und  die  Vogtei 
sei  wieder  bischöflich  geworden.  1269  habe 
dann  auch  die  Bürgerschaft,  deren  wachsender 
Einfluß  auf  die  Vogtei  vom  Verf.  gut  dargelegt 
wird,  sich  eidlich  verpflichtet,  den  „bischöflichen 
Charakter"  des  Amtes  aufrecht  .  zu  erhalten. 
Demnach  hätte  also  in  wenig  mehr  als  100  Jah- 
ren das  Amt  nicht  weniger  als  dreimal  seinen 
Charakter  geändert!  Das  ist  gewiß  an  sich  un- 
wahrscheinlich genug.  Es  zwingt  aber  auch 
nichts  zu  dieser  Annahme.  Ein  bischöfliches 
Amt  ist  die  Vogtei  insofern  von  1168  bis  auf 
Rudolf  v.  Habsburg  stets  geblieben,  als  es  vom 
Bischof  an  den  König  zu  Lehen  gegeben  war, 
ein  königliches  Amt  aber  andrerseits,  so  lange 
es  einen  anerkannten  König  in  Deutschland  gab, 
in  dem  Sinne,  daß  die  Könige  als  Lehnsträger 
die  Einkünfte  und  die  Besetzung  des  Amtes 
hatten.  Denn  seit  die  Vogtei  in  die  Hände  von 
Königen  gelegt  war,  konnte  natürlich  der  Be- 
sitzer nicht  mehr  zugleich  Verwalter  des  Amtes 
sein.  Der  König  übertrug  wieder  seinerseits 
die  Funktionen  desselben  an  einen  Anderen, 
der  dann  aber  wirklich  Vogt  hieß  und  war. 
Solche  Vögte  —  wenn  der  Ausdruck  nicht  zu 
Mißverständnissen  Veranlassung  gäbe,  könnte 
man  sie  Untervögte  nennen  —  waren  die  in 
dieser  Zeit  als  advocati  genannten  Ministerialen 
und  Bürger.     Bischöfliche  Ministerialen  aber  in 


Berner,  Zur  Verfasstmgsges chicftte  d.  Stadt  Augsburg.  8#05 

dieser  Stellung  anzutreffen  kann  uns  durchaus 
nicht  befremden,  wenn  wir  bedenken,  daß  auch 
Konradin  sich  verpflichtete,  nur  einem  königli- 
chen oder  bischöflichen  Ministerialen  oder 
einem  Bürger  der  Stadt  die  Verwaltung  zu  tiber- 
geben. Es  wird  herkömmlich  und  vielleicht 
früher  schon  vertragsmäßig  festgesetzt  gewesen 
sein,  daß  der  Inhaber  der  Vogtei  seinen  Beamten 
aus  diesen  Kreisen  wählte.  Nach  dem  Unter- 
gange des  staufischen  Königthums  wird  sieb  na- 
ttirlich  praktisch  die  Sache  so  gestellt  haben, 
daß  der  Bischof,  der  die  Vogtei  als  zurückge- 
fallen betrachtete,  auch  bei  etwaigen  Vacanzen 
den  Beamten  selbst  ernannte.  Es  war  das  je- 
doch nur  ein  provisorischer  Zustand,  den  man 
durch  Verleihung  der  Vogtei  an  Konradin ,  in 
welchem  man  den  einstigen  Erben  des  stanfi- 
schen  Thrones  erblickte  *),  ein  Ende  zu  machen 
strebte.  Als  dann  aber  Herzog  Ludwig  von 
Baiern  die  Vogtei  beanspruchte,  einigten  sich 
Bischof  and  Bürger  dahin,  daß  ersterer  die  va- 
kante Vogtei,  advocatiam  ' —  nobis  (sc.  epis- 
copo)  et  ecclesiae  nostrae  vacantem,  keinem 
anderen  als  einem  wirklichen,  vom  Pabste  an- 
erkannten Könige  oder  Kaiser  (nisi  forte  im- 
peratori  vel  regi  Romano  potenti,  Sedis  apo- 
stolicae  gratiam  habenti)  vergeben,  verpfän- 
den oder  zu  Lehen  übertragen  solle.  Das  ist 
doch  wohl  etwas  anderes  als  „Aufrechterhaltung 
des  bischöflichen  Charakters  der  Vogtei"?  Es 
ist  im  Gegentheil  ein  deutlicher  Ausdruck  des 
Gefühles,  daß  dieselbe  dem  Reichsoberhaupte 
gebühre  und  nur  bis  ein  solches  wieder  vorhan- 
den sei,  dem  Bischof.  Es  ist  bekannt,  daß  in 
der  That  Rudolf  von  Habsburg  die  Vogtei  wie- 
der an  sich  genommen  hat. 

*)  Vgl.  Ficker,  S.  B.  d.  W.  Ak.  LXXVII  S.  819. 


806  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.26. 

Mit  des  Verfassers,  unseres  Erachtens  irriger 
Ansicht  von  der  Vogtei  hängt  auch  eng  zusam- 
men, was  derselbe  gegen  die  vom  Referenten 
(deutsche  Städtesteuern  S.  30  f.  13$  f.)  aufge- 
stellte und  hoffentlich  mit  guten  Gründen  unter- 
stütze Annahme  vorbringt,  daß  die  Reichs- 
steuer von  Augsburg  aus  der  Vogtsteuer  ent- 
standen sei. 

Ist  schon  an  sich,  wie  wir  meinen,  keiner- 
lei Grund  vorhanden,  mit  B.  daran  zu  zwei- 
feln, daß  auch  Heinrich  (VII.)  die  Vogtei  von 
Augsburg  besessen  habe,  so  wird  man  die 
Urkunde,  worin  er  gleich  seinen  Vorgängern 
über  die  Vogtei  zu  Eitingen  verfügt,  als  positi- 
ves Zeugniß  dafür  ansehen  dürfen.  Nach  Be- 
seitigung dieses  Zweifels  scheint  mir  aber  der 
vogteiliche  Charakter  der  Augsburger  Stadt- 
steuer so  gut  beglaubigt,  wie  man  in  Bezug  auf 
derartige  Verhältnisse  irgend  verlangen  kann. 
Die  Urkunde,  in  welcher  Konradin  mit  der 
Vogtei  belehnt  wird,  von  der  B.  S.  157  Note  100 
mit  Recht  bemerkt,  es  könnte  gerade  sie  am 
meisten  zum  Beweis  meiner  Behauptung  heran- 
gezogen werden  und  die  ich,  was  dem  Verf. 
entgangen  zu  sein  scheint,  auch  zweimal  aus- 
drücklich in  diesem  Sinne  verwerthet  habe,  ist 
schlechterdings  nicht  anders  zu  erklären,  als 
daß  die  Steuer,  deren  Erhebung  dem  Eonradin 
nicht  erst  zugestanden,  sondern  als  selbstver- 
ständlich vorausgesetzt  und  nur  mit  Garantieen  für 
das  Recht  des  Bischofs  auf  die  Hälfte  der  Er- 
träge, wie  es  schon  unter  Heinrich  (VII.)  be- 
stand, umgeben  wird,  von  Konradin  eben  als 
Vogt  erhoben  wurde.  Die  ausdrückliche  Er- 
klärung des  Bischofs,  er  verleihe  dem  jungen 
Könige  die  Vogtei  nur  persönlich,  nicht  auf 
Grund    der    königlichen    oder    einer    anderen 


Berner,  Zur  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Augsburg.   807 

Würde,  wird  hier  von  Bern  er  seiner  Vermu- 
thung,  die  Steuer  sei  von  jeher  Reichssteuer  ge- 
wesen, zu  Gefallen  mit  der  Bemerkung  bei  Seite 
geschoben,  daß  trotzdem  hier  die  Kompetenzen 
des  Königthums  und  der  Vogtei,  wie  ja  auch 
durchaus  natürlich  sei,  verwischt  seien,  eine  An- 
nahme, die  um  so  auffälliger  erscheint,  als 
S.  135,  wo  es  darauf  ankam,  den  bischöflichen 
Charakter  der  Vogtei  zu  beweisen,  so  großes 
Gewicht  auf  jenen  Vorbehalt  gelegt  wurde.  Ob 
wir  annehmen  dürfen,  daß  schon  die  vogteilich- 
bischöflicbe  Steuer  sich  in  ungefähr  gleichen 
Sätzen  wiederholte,  müssen  wir,  da  leider  das 
Augsburger  Urkundenbucb,  wie  von  so  manchem 
anderen  wichtigen  Stücke,  so  auch  von  der  be- 
treffenden Urkunde  Mon.  Boica  30  a,  337,  nach 
welcher  die  Bürger  sich  zur  Zahlung  von  jähr- 
lich 300  (oder  nach  den  Abdrücken  bei  Hugo 
nnd  Gen  gier  100  Pfund)  an  Konradin  ver- 
pflichten, keinen  neuen  Abdruck  gebracht  hat, 
vorläufig  dahin  gestellt  sein  lassen.  Daß  aber 
die,  nachdem  Konrad  IV.  Deutschland  verlassen 
hatte,  dem  Bischof  zugestandene  Leistung  der 
100  Pfund  nur  ein  Surrogat  für  die  demselben 
zustehende  Hälfte  der  Vogteisteuer  war,  muß 
ich  nach  wie  vor  aus  den  Worten  des  Bischofs 
(Urk.  v.  1254)  schließen,  nach  welchen  die  Zah- 
lung dauern  sollte,  quoadusque  dominus  rex  per- 
sonaliter veniat,  et  tunc  non  teneantur  (sc.  ci- 
ves)  summam  solvere  pretaxatam,  sed  utrique 
videlicet  tarn  nos  quam  d.  rex  in  perceptione 
collecte  utetur  iure  suo.  Unerklärlich  ist  mir, 
wie  B.  aus  diesen  Worten  schließen  kann: 
„Darnach  erhoben  also  der  Bischof  wie  der  Kö- 
nig selbständig  Steuern".  In  Bezug  auf  Rudolfs 
Zeit  habe  ich  nur  wahrscheinlich   machen  wol- 


808  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25. 26. 

len,   daß   die  Jahressätze   von   nicht  allzu  ver- 
schiedener Höhe  waren. 

Ganz  unberechtigt  ist  auch  der  aus  der  Ver- 
teidigung des  Exemtionsrechtes  der  Kleriker 
durch  den  Bischof  gegenüber  der  Bürgerschaft 
gezogene  Schluß,  daß  die  Stadt  auch  selbstän- 
dig Steuern  auferlegte,  d.  h.  daß  die  consules 
neben  der  Stadtsteuer  für  Vogtei  oder  Reich  noch 
besondere  Communalsteuern  umlegten,  da 
bekanntlich  der  Klerus  Reichs-  oder  Vogtsteuern 
nicht  weniger  ungern  zahlte  als  Commtraalab- 
gaben.  (Vgl.  Städtesteuern  S»  95  ff.).  Wenn 
dann  der  Verf.  S.  162  fortfährt:  „Welcher  Art 
diese  Steuern  sind,  wird  zwar  nicht  gesagt,  zu 
ihnen  geborte  aber  jedenfalls  das  tbeloneum  und 
das  Ungelt",  so  kann  ich  in  dieser  Vermischung 
von  Zoll  und  Steuer  dem  Verf.  ebensowenig  bei- 
stimmen, als  wenn  derselbe  S.  164  auch  den 
Michaeliszins,  quod  vulgariter  dicitur  burchrecht, 
der  in  einem  der  angeführten  Fälle  in  zwei 
Gänsen  besteht,  eine  Steuer  nennt  und  ohne 
jeglichen  Anhalt  für  eine  nicht  einfach  censua- 
liscbe,  sondern  eine  im  Öffentlichen  Interesse  zu 
leistende  Abgabe  erklärt.  Auch  die  Ansicht  des 
Verf.  über  den  Zoll,  den  er  nicht  für  bischöflich, 
sondern  städtisch  hält,  scheint  mir  im  hohen 
Grade  bedenklich  zu  sein.  Interessant  ist  die 
S.  165  gegebene  Zusammenstellung  der  städti- 
schen Ausgaben  in  den  letzten  20  Jahren  die- 
ser Periode,  soweit  sie  uns  bekannt  sind. 

Was  der  Verf.  S.  149  ff.  über  den  Rath  sagt, 
indem  er  namentlich  die  Unmöglichkeit  betont, 
dessen  Entstehung  in  Augsburg  aus  einem  bi- 
schöflichen Laienrathe  abzuleiten,  dagegen  die- 
jenigen Punkte,  welche  auf  einen  engen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Vogteigerichte  und  dem 
Schöffencolleg  weisen,   hervorhebt,  müssen  wir 


Berner,  Zur  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Augsburg.   809 

durchaus  billigen;  ja,  wir  glauben,  daß  sieb  in 
dieser  Richtung  noch  bestimmtere  Resultate  hät- 
ten erreichen  lassen. 

Fassen  wir  unser  Urtheil  über  das  Buch  zu- 
sammen, so  müssen  wir  zunächst  nochmals  die 
fleißige  Zusammenstellung  des  Quellenmaterials, 
die  Heranziehung  auch  des  unbedeutendsten  ur- 
kundlichen Details  dankbar  anerkennen.  Um 
so  mehr  aber  ist  zu  bedauern,  daß  die  Kritik 
des  Verfassers  vorzugsweise  in  negativer  Rich- 
tung thätig  gewesen  ist,  und,  wie  wir  glauben 
gezeigt  zu  haben,  mehrfach  in  wichtigen  Fragen 
auf  ungenügende  Gründe  hin  ältere  Ansichten 
bezweifelt,  ohne  überhaupt  etwas  neues  oder 
doch  ohne  etwas  besser  begründetes  dafür  zu 
bieten.  Die  Gründe  für  diesen  Mangel  an  po- 
sitiven Resultaten  glauben  wir  zum  großen 
Theile  dem  Plane  der  Arbeit  zuschreiben  zu 
müssen.  Es  ist  da  —  abgesehen  von  der  über- 
all hindernden  Zersplitterung  des  Stoffes  in  zu 
kleine  Zeitabschnitte  —  zunächst  der  im  Vor- 
worte als  Princip  proclamierte  Ausschluß  jeder 
Analogie  mit  anderen  Städten  zu  erwähnen.  Er- 
laubt die  Reichhaltigkeit  des  Materials  einen 
solchen  Ausschluß,  so  ist  das  freilich  am  besten, 
meist  aber,  und  so  auch  hier,  sind  die  Quellen 
für  die  ältere  Zeit  so  dürftig,  daß  wir  ohne 
analoge  Verhältnisse  anderer  Städte  vorsichtig 
zur  Erklärung  heranzuziehen  zu  einer  klaren 
Einsicht  nicht  gelangen  können.  Der  Weg, 
welchen  der  Verf.  für  die  deutsche  Städtege- 
schichte vorschreibt,  wonach  jede  bedeutendere 
Stadt  erst  für  sich  allein  betrachtet  und  bear- 
beitet werden  soll,  bevor  eine  umfassendere 
Städtegeschichte  in  Angriff  zu  nehmen  sei,  er- 
scheint auch  uns,  wie  B.  wohl  mit  Recht  von 
Vielen   voraussetzt,   als   ein   Umweg,  und   An- 


310  Gott  gel.  Ant.  1881.  Stück  25.  26, 

gesichta  der  Resultate  der  vorliegenden  Arbeit 
müssen  wir  zweifeln,  ob  derselbe  sichrer  als  der 
bisher  übliche,  ja  ob  er  überhaupt  nur  zum 
Ziele  führt. 

Eine  fruchtbarere  Behandlung  der  Augsbur- 
ger Verfassungsgeschichte  müßte  außerdem  un- 
serer Ansicht  nach  ausgeben  von  dem  ersten 
Stadtrechte,  dessen  Bestimmungen  mit  Hülfe  der 
Urkunden  und  des  2.  Stadtrechtes  zu  interpre- 
tieren eventuell  zu  ergänzen  wären,  und  dann 
die  Veränderungen  bis  zum  2.  Stadtrechte  und 
die  in  diesem  selbst  hervortretende  Verfassung 
darstellen.  Unmöglich  aber  ist  es,  wie  B.  thut, 
die  Verfassungsgeschichte  bis  1276  zu  führen, 
ohne  die  damals  begonnene  Aufzeichnung  des 
Rechts  selbst  zu  berücksichtigen.  Giebt  doch 
das  zweite  Stadtrecht  vorzugsweise  nicht  neues, 
sondern,  wie  B.  selbst  sagt,  nur  eine  „Kodifi- 
kation" des  bestehenden  Rechtes.  In  Bezug  auf 
das  ältere  Statut  hat  er  S.  79  die  ganz  richtige 
Gonsequenz  aus  dieser  Sachlage  gezogen,  warum 
nicht  auch  hier?  Es  macht  doch  beispielsweise 
einen  eigentümlichen  Eindruck,  wenn  es  bei 
der  Besprechung  des  Burggrafenamtes  in  der 
letzten  Periode,  nachdem  eben  die  Verpfändun- 
gen an  Heinrich  Schongauer  (1262  und  1264) 
behandelt  sind,  p.  147  heißt:  „der  Burggraf  er- 
scheint also  noch  als  der  Inhaber  einer  richter- 
lichen und  exekutiven  Gewalt,  ohne  daß  wir 
jedoch  außer  den  Bestimmungen  im  erste  a 
Stadtrecht  näher  sagen  könnten,  worauf  sich 
dieselben  erstrecken".  Warum,  fragt  man,  greift 
der  Verf.  nicht  nach  den  reichen  Bestimmungen, 
welche  wenige  Jahre  später  aufgezeichnet  sind? 
Kur  ein  paar  Beispiele,  welche  recht  deutlich 
zeigen,  zu  wie  gewagten  Erklärungsversuchen 
den  Verf.   sein  absichtliches   Ignorieren  des   2* 


Berner,  Zur  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Augsburg.  811 

Stadtrechtes  treibt,  will  ich  anführen.  Daß  „teme- 
ritas"  die  Uebersetzung  von  „fraefel"  ist,  scheint 
mir  unzweifelhaft,  und  was  in  Augsburg  als 
„fraefel"  galt,  sagt  das  2.  Stadtrecht  (§  55). 
Statt  dieser  einfachen  Erklärung  räth  B.  zu- 
nächst auf  Hochverrath  oder  „Aehnliches",  indem 
er  nicht  sehr  glücklich  an  den  Ausdruck  „teme- 
rarie"  in  den  Poenalbestimmungen  der  Urkunden 
anknüpft,  fragt  dann  aber:  „Oder  ob  temeritas 
was  sehr  nahe  liegt(?),  wofür  ich  aber 
keine  Beweise  beibringen  kann,  vielleicht  Noth- 
zucht  ist?"  S.  98.  Ferner,  statt  die  Erklärung 
der  vielbesprochenen  „panes  probaticiiu  des  er- 
sten Stadtrechtes  aus  dem  „kusprot"  des  zwei- 
ten zu  versuchen,  fügt  er  den  zum  Tbeil  wun- 
derlichen älteren  Erklärungsversuchen  ein  paar 
neue  hinzu,  deren  erster  sehr  auffällig  ist:  Viel- 
leicht seien  Hostien  „d.  h.  Brot,  welches  die  Un- 
schuld vor  Gott  oder  die  Versöhnung  mit  Gott 
beweisen  soll u  zu  verstehen.  Von  anderen  Ein- 
zelheiten,  die  der  Berichtigung  bedürfen,  sei 
noch  folgende  erwähnt.  Die  S.  23  Anm.  50 
angeführte  Stelle  der  vita  Oudalrici  sagt  nicht, 
daß  auf  der  neuen  Lechbrücke  ein  Zoll  erhoben 
wurde,  der  zum  Almosengeben  dienen  sollte, 
sondern  daß  kein  Zoll  erhoben  wurde:  ut  nul- 
lum —  teloneum  —  acciperet  praecepit  (sc. 
episcopus),  sed  in  elemosinam  eins  quicunque 
voluissent,  sine  contradictione  et  occupatione 
pergerent.  Beiläufig  sei  ein  auf  derselben  Seite 
befindlicher  lapsus  calami  berichtigt:  die  in 
Augsburg  beigesetzten  „interiora"  Ottos  III. 
sind  nicht  „Gebeine". 

Vor  der  Benutzung  von  Gassars  Annalen, 
welche  in  der  Einleitung  ausführlich  besprochen 
werden,  als  Quelle  für  die  ältere  Zeit  warnt  der 
Verf.  mit  Recht. 

Berlin.  Karl  Zeumer. 


812     ■        Gott.  gel.  Adz.  1881.  Stück  25.  26. 

Chrestomathie  dlmotique  par  Eugene  R e- 
villout.  Paris,  F.  Vieweg  1880.  CLXVUI  und 
504  pp.    4°. 

Nouvelle  Chrestomathie  d£motique.  (Mis- 
sion de  1878;  contrats  de  Berlin,  Vienne,  Leyde  etc.). 
Par  Eugene  Revillout.  Paris,  E.  Leroux  1878. 
XH  und  160  pp.    4°. 

Die  jüngste  Klasse  der  vorchristlichen  Denk- 
mäler Aegyptens,  die  in  demotischer  Schrift  ge- 
schriebenen Texte,  hatten  bisher  bei  den  Aegyp- 
tologen  wenig  Beachtung  gefanden.  Zwar  hatte 
Brugsch  im  Anfang  der  fünfziger  Jahre,  auf 
früheren  Versuchen  von  Y o u n g  u.a.  fußend,  sie 
völlig  entziffert,  aber  leider  blieb  er  fast  der 
einzige  Arbeiter  auf  diesem  Felde.  Einerseits 
schreckten  die  in  der  That  sehr  großen  Schwie- 
rigkeiten der  Schrift  von  ihm  ab,  andererseits 
—  und  das  gab  wohl  bei  den  meisten  den  Aus- 
schlag —  schien  es  "als  sei  in  diesen  Urkunden 
und  Gontracten  aus  griechischer  Zeit  nicht  viel 
interessantes  zu  finden,  am  wenigsten  etwas  das 
weitere  Kreise  interessieren  könnte.  Jetzt,  wo 
Brugsch  und  Revillout  das  Mähreben  von 
Setna,  die  demotische  Chronik  und  die  Ge- 
spräche des  Schakals  mit  der  Katze  gefunden 
haben,  fehlt  es  selbst  im  Demotischen  nicht  an 
Texten,  die  auch  für  Nichtägyptologen  genieß- 
bar sind  —  aber,  wie  wichtig  diese  auch  sein 
mögen,  wir  wissen  jetzt,  daß  wir  an  den  Hun- 
derten von  demotischen  Urkunden  geschäftlichen 
und  gerichtlichen  Inhalts  Schätze  von  minde- 
stens gleichem  Werthe  besitzen. 

Daß  wir  uns  dieser  Schätze  endlich  bewußt 
geworden  sind,  das  ist  das  Verdienst  von 
Eugene  Revillout,  der  wie  wenige  die  Gabe 
besitzt,  auch  in  dem  was  anderen  geringfügig 
und  werthlos  scheint,  den  werthvollen  Kern  zu 
erkennen.    Durch  langjähriges  Studium  des  Kop- 


Eugene  Revillout,  Chrestomathie  d^motique.      813 

tischen  mit  der  Sprache  und  den  Verhältnissen 
des  späteren  Aegyptens  vertraut  wie  schwerlich 
«in  anderer,  ging  er  vor  einem  halben  Jahrzehnt 
an  das  Demotische,  sammelte  mit  rastloser  Ener- 
gie das  massenhafte  in  den  Museen  zerstreute 
.Material  und  drang  in  genialer  Weise  trotz  al- 
ler Schwierigkeiten  zum  vollsten  Verständuiß 
dieser  Urkunden  hindurch.  Wer  heute  seine 
große  Chrestomathie,  in  der  er  einen  Theil 
der  wichtigsten  demotischen  Texte  erläutert  hat, 
durcharbeitet,  wird  sich  bald  überzeugen,  daß 
die  dort  gegebenen  Uebertragungen  den  Sinn 
dieser  verwickelten  Schriftstücke  richtig  treffen, 
wenn  auch  natürlich  die  Lesung  des  einen  und 
des  andern  demotischen  Wortes  noch  unsicher 
bleibt. 

Ueber  das  Demotische  sind  meist  etwas 
irrige  Ansichten  verbreitet.  Gewiß  wird  jeder, 
der  mit  dem  Koptischen  vertraut  ist,  beim  Le- 
sen demotischer  Texte  das  Gefühl  haben,  hier 
auf  bekanntem  Gebiete  zu  sein,  aber  nichts- 
destoweniger darf  man  nicht,  wie  dies  gewöhn- 
lich geschieht,  im  Demotischen  ohne  weiteres 
die  Sprache  der  griechischen  Zeit  sehen.  Die 
wirkliche  Sprache  jener  Epoche  kennen  wir 
jetzt  aus  den  von  Goodwin  und  Revillout 
publicierten  magischen  Texten,  die  mit  griechi- 
schen Buchstaben  geschrieben  sind:  es  ist  ein 
gewöhnliches  Koptisch,  das  nur  durch  eine  noch 
wirr  umbertastende  Orthographie  etwas  fremd- 
artig aussiebt*).     Anders  das  Demotische. 

Bekanntlich  haben  die  ägyptischen  Schreiber 
es  auch  in  späteren  Zeiten  nie  zu  einer  der 
Sprachentwicklung  angemessenen  Umgestaltung 

*)  Sie  sind  publiciert  Aeg.  Zeitschr.  1868  p.  18  und 
Mel  d'archäol.  eg.  et  ass.  Ill  (1876)  p.  36  ff. 


814  Gott.  gel.  Abz.  1881.  Stück  25.  26. 

ihrer  Orthographie  gebracht,  das  Neuägyptische 
wird  in  Formen  gesehrieben,  wie  sie  für  das 
Altägyptische  passend  waren.  Schon  in  cursiven 
neuägyptischen  Handschriften  beginnt  man  nun 
häufige  Worte,  deren  Schreibung  ja  doch  zum 
großen  Theil  nicht  mehr  den  lebenden  Formen 
entsprach,  in  einen  oder  mehrere  Schnörkel  zu- 
sammenzuziehen. Diese  Zusammenziehung  der 
Gruppen  in  wenige  abgekürzte  Zeichen,  hat 
man  dann  später  fortgesetzt  und  als  schließ- 
liches Resultat  das  Demotische  erhalten,  eine 
Schrift,  die  niemand  lesen  kann,  der  sich  nicht 
für  drei  Viertel  aller  Worte  die  gebräuchlichen 
Siglen  gemerkt  hat,  denn  die  diesen  zu  Grunde 
liegenden  Zeichen  zu  erkennen,  ist  absolut  un- 
möglich. So  ist  das  Zeichen  für  und,  etwa 
w  || ,  entstanden  aus  dem  Worte ,  welches  im 
Neuägyptischen  dir-mä-u  geschrieben  wird; 
den  beiden  Zeichen,  durch  welche  a  dort  aus- 
gedrückt ist,  entspricht  hier  || ,  die  übrigen  sechs 
Zeichen  sind  in  u  enthalten!  Doch  darf  man 
darum  nicht  jedes  demotische  für  ein  älteres 
d  halten ;  in  anderen  Fällen  ist  aus  du,  aus  ?, 
aus  der  Endsylbe  nu  (z.  B.  in  dem  Worte  für 
„Maus"  pnu  u.  o.)  u.  a.  m.  entstanden.  So  ist 
ferner  aus  dem  altägyptischen  Worte  r6  „Mensch a, 
das  schon  in  neuägyptischen  Cursivtexten  stark 
verkürzt  wird,   etwa  r    geworden;    in    diesem 

einen  Zeichen  stecken  ein  r,  ein  0,  ein  Mann, 
eine  Frau  und  die  drei  Pluralstricbe!  Daß  man 
dann  diesem  f,  in  dem  doch  schon  die  drei  al- 
ten Determinative  enthalten  sind,  gelegentlich 
auch  noch  ein  neues  Determinativ  hinzufügt,  ist 
bei  einer  derartigen  Schrift  begreiflich  genug. 
Um  die  Verwirrung  voll  zu  machen  kommt  noch 
hinzu,  daß  einerseits  ursprünglich  verschiedene 


Eugene  Bevillout,  Chrestomathie  demotique.     815 

Zeichen  im  Demotischen  zusammengefallen  sind 
—  z.  B.  gleicht  das  alte  Determinativ  der  1. 
Pers.  sing,  jetzt  völlig  einem  i,  auch  in  den 
Fällen,  wo  dies  Suffix  nie  i  gelautet  hat;  ande- 
rerseits aber  sind  manche  Worte  (z.  B.  da  „ge- 
ben") in  verschiedenen  Formen  und  /verschiede- 
ner  Anwendung  auch  zu  durchaus  verschiedenen 
Zeichen  geworden. 

Es  fragt  sich  nun,  in  wie  weit  das  in  die- 
ser wunderlichen  Schrift  geschriebene  Idiom  der 
Sprache  der  griechischen  Zeit  entspricht.  Es 
geht  zunächst  in  vielen  Punkten  entschieden 
über  das  Neuägyptische  hinaus  und  steht  in 
diesen  auf  koptischem  Standpunkt;  so  im  Satz- 
bau, im  Mangel  des  Passivums,  in  der  etwas 
erweiterten  Verwendung  des  Artikels,  im  Ge- 
brauche der  Präposition  %n.  Daneben  hat  es 
jedoch  manches  beibehalten,  was  im  Näg.  ganz 
gebräuchlich,  im  E.  aber  unerhört  ist;  es  drückt 
den  Genetiv  oft  ohne  Exponenten  aus,  es  setzt 
du  (=  c),  wo  nothwendig  epe  stehen  muß 
u.  a.  m.  Ja  es  hat  sogar  altägyptische  Formen 
wieder  hervorgesucbt  und  consequent  durch  diese 
die  im  Näg.  üblichen  ersetzt!  Wo  es  k.  ^rciuttaä. 
heißen  müßte  schreibt  man  nicht  etwa  eine 
aus  ark  stm  entstandene  Gruppe,  sondern 
man  setzt  dafür  stets  aäg.  stmk.  Aehnlich  ver- 
fährt man  beim  Optativ.  Und  nun  vollends  der 
Wortschatz  —  wie  vieles  hat  er  anscheinend 
bewahrt,  was  dem  K.  völlig  fremd  ist.  Das  De- 
motische besitzt,  natürlich  in  der  Form  von 
Siglen,  die  alten  Worte  t'dt  „Wort"  äa  „groß" 
rO  „Mannu  u.  s.  w. 

So  hat  es  denn  bei  flüchtigem  Hinsehen  den 
Anschein,  als  sei  das  Demotische  im  Grunde 
nichts  als  ein  Neuägyptisch,  in  das  jüngere  For- 
men   und    Constructionen    eingedrungen,    dem 


816  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

aber  auch  ältere  aus  archaistischer  Spielerei 
künstlich  aufgepropft  sind ;  es  wäre  also  eigent- 
lich eine  todte  Sprache  gewesen. 

Und  doch  war  ja  das  Demotische  gerade  die 
Schrift  des  Volkes,  zu  deren  Verständniß  es 
keiner  gelehrten  Kenntnisse  bedurfte.  Wir  kön- 
nen doch  unmöglich  annehmen,  daß  die  Todten- 
bestatter  und  kleinen  Wucherer,  für  die  unsere 
demotischen  Urkunden  geschrieben  sind,  ein 
solches  Flickwerk  aus  alter  und  moderner  Spra- 
che verstanden  haben.  Wir  werden  daher  zu 
der  Annahme  geführt,  daß  es  für  all  diese 
neu-  und  altägyptischen  Worte  und  Formen 
eine  der  Volkssprache  angemessene  Lesung  ge- 
geben hat.  Man  wird  f  dt  ujä^e  gesprochen  ha- 
ben haben,  äa  no<^,  r&  je  nach  dem  Zusammen- 
hang A^f,  peq-,  pe**-,  purne*).  Wo  das  n 
des  Genetivs  in  der  Schrift  fehlte,  wird  man  es 
beim  Sprechen  ergänzt  haben,  wo  au  vor  no- 
minalem Subject  stand,  wird  man  es  epe  gele- 
sen haben  und  nicht  e.  Wo  stmk  steht  oder 
mäi-stmf  hat  man  gewiß  ^kchttjui  und  ju^peq- 
ciuTjut  gesprochen.    U.  a.  m. 

Es  ist  selbst  für  uns  noch  leicht  (Revillout's 
Umschreibung  des  Setnamäbrchens  beweist  es), 
die  demotischen  Texte  in  dieser  Weise  koptisch 
zu  lesen ;  für  die  Aegypter  der  griechischen  Zeit 
bot  es  vollends  keine  Schwierigkeit.  Ohnehin 
mußten  sie  ja  rein  mechanisch  die  Schreibung 
fast  jedes  einzelnen  Wortes  erlernen ;  sie  wer- 
den es  auch  ohne  Verwunderung  hingenommen 

*)  All  diese  Formen  gehen  auf  aägt.  rl  „Mann"  zu- 
rück ;  peq-  ist  rd  duf-,  peju-  ist  r*n ;  pom e  ist,  worauf 
mich  Herr  stud,  von  Lemm  aufmerksam  gemacht  hat, 
als  absolute  Form   zu   peut  gebildet,   in  welchem  man 

irrig  einen  stat.  constr.  sah. 


Eugene  Revillout,  Chrestomathie  de'motique.     817 

haben,  daß  man,  nm  *K«m-ju,  juuvpeqcun-jm  etc. 
auszudrücken,  h  und  f  hinter  den  Verbalstamm 
schreiben  müsse. 

Ich  bin  auf  diese  Theorie,  die  sich  mir  beim 
Lesen  des  Setna  und  der  Chrestomathie  ergeben 
hat,  näher  eingegangen,  weil  durch  sie  sich  das 
Verfahren  rechtfertigt,  welches  Revillout  in 
seinen  neuen  Werken  eingeschlagen  hat.  Er 
giebt  die  demotischen  Texte  ohne  jede  Trans- 
scription und  ich  habe  von  verschiedenen  Seiten 
gehört,  dies  sei  eine  unnötbige  Erschwerung  des 
Verständnisses.  Nach  dem  oben  bemerkten  wird 
jedoch  einleuchten,  daß  eine  wirkliche  Um- 
schreibung des  Demotischen  der  Natur  der  Sache 
nach  unmöglich  ist.  Zweierlei  nur  läßt  sich  hier 
erreichen.  Man  kann  entweder  eine  koptische 
Uebersetzung  des  demotischen  Textes  geben, 
oder  man  kann  den  einzelnen  demotischen  Grup- 
pen die  hieroglyphischen  Worte  gegenüberstellen, 
aus  denen  sie  verkürzt  sind.  Das  erstere  Ver- 
fahren erleichtert  das  Verständniß  des  syntacti- 
schen  Baues,  das  letztere  das  der  Schrift.  Aber 
für  beide  wären  erst  eingehendere  Untersuchun- 
gen nöthig;  insbesondere  ist  ein  methodisches 
Zurückführen  der  demoüschen  Gruppen  auf  ihre 
hieratischen  Quellen  erst  einmal*)  versucht  wor- 
den. Gegen  die  hieroglyphische  Transscription 
ist  ferner  einzuwenden,  daß  sie  erfahrungsmäßig 
verleitet,  die  Texte,  denen  man  ein  altägypti- 
sches Gewand  angezogen  hat,  nun  auch  nach 
altägyptischer  Syntax  zu  übertragen;  giebt  es 
doch    eine   derartige  Uebersetzung,   in   welcher 

*)  Von  Maspero  in  der  Aeg.  Ztschr.  1877  u.  1878. 
Den  Grundgedanken  dieser  Arbeit  billige  ich;  aber,  wie 
es  bei  einem  ersten  Anfang  nicht  anders  möglich  ist,  im 
Einzelnen  ist  vieles  irrig.  Gleich  der  Name  Satni, 
Setna  ist  Stnu  (s-tn-nu)  zu  lesen. 

52 


818  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

die  Präposition  e*r&e,  weil  ihr  aäg.  räb  ent- 
spricht, mit  „um  zu  bezahlen"  wiedergegeben 
ist!  Unter  diesen  Umständen  wird  man,  wie 
ich  glaube,  es  nur  billigen  können,  daß  Re- 
villout  dem  demotischen  Texte  nur  seine 
Interlinearübersetzung  beigefügt  hat. 

Fast  unsere  sämmtlichen  demotischen  und 
griechischen  Urkunden  entstammen  zwei  Funden, 
deren  einer  im  Serapeum  von  Memphis,  der  an- 
dere auf  dem  Boden  der  thebanischen  Memno- 
nien  zu  Tage  trat.  An  beide  schließen  sich 
ähnliche  Funde  koptischer  Akten;  die  thebani- 
schen beziehen  sich  auf  das  Dorf  ähaic,  das 
Gastrum  der  alten  Memnonien,  die  memphiti- 
schen  auf  das  Jeremiaskloster  von  Memphis. 
Wir  haben  durch  diese  vier  Funde  Urkunden- 
reihen, die  durch  mehr  als  anderthalb  Jahr- 
tausende dieselben  Ortschaften  behandeln. 

Die  thebanischen  Documente  bilden  zusam- 
men das  Archiv  einer  Familie  der  ägyptischen 
Choachyten,  jener  niederen  Priester,  welche  die 
zahlreichen  Geschäfte  des  Todtencultus  gegen 
Entgelt  übernahmen.  Für  sie  repräsentierte  je- 
der Todte,  dessen  Besorgung  ihnen  anvertraut 
war,  eine  bestimmte  Rente;  sie  verkaufen  sich 
daher  diese  Leichen,  cedieren  sich  gelegentlich 
auch  Drittel  derselben  und  selbst  das  Vermögen 
ihrer  Frauen  besteht  theilweise  in  Todten. 
Außerdem  verkaufen  sie  sich  Aecker,  Grab- 
grundstücke und  Todtenbticher ;  als  Nebenge- 
schäft verborgen  sie  Getreide  zu  Wucherzinsen 
und  leihen  auf  Pfänder. 

Die  wichtigeren  Aktenstücke  wurden  von 
einem  Notar,  dem  „Monographen"  aufgenommen, 
der  in  Theben  im  Namen  des  fünften  Priester- 
eollegiums,  auf  dem  Lande  im  Namen  des  Dorf- 
priesters fungierte.    Für  jeden  der  Zeugen,  deren 


Eug&ne  Revillout,  Chrestomathie  ctemotique.     819 

Zahl  zuerst  5—7  betrug,  wurde  ursprünglich  ein 
besonderer  Auszug  des  Documentes  redigiert; 
erst  unter  Euergetes  führte  man  16  Zeugen  ein, 
welche  ihre  Namen  nun  auf  die  Rückseite  des 
Aktenstückes  schrieben.  Eine  weitere  Garantie 
für  die  Gültigkeit  von  Documenten  bot  die  Ein- 
tragung in  die  Register  des  yqdq)kov\  jedoch 
wurde  diese  erst  im  36ten  Jahre  des  Philometor 
obligatorisch ,  wir  haben  noch  einen  Brief  des 
Beamten,  der  mit  ihrer  Einführung  ita  der  Tbe- 
bais  betraut  war. 

Rein  finanzielle  Bedeutung  dagegen  hatte 
die  Registrierung  der  Akten  in  der  königlichen 
Bank,  der  Trapeza,  wie  sie  zuerst  im  20sten 
Jahre  des  Epiphanes  vorkommt.  Es  mußte  da- 
bei vom  Käufer  eine  Gebühr  entrichtet  werden, 
die  in  späterer  Zeit  nicht  weniger  als  10  Proc. 
betrug.  Die  Erhebung  dieser  Steuer  wurde  all- 
jährlich verpachtet;  als  Controlmaßregel  gegen 
den  Pächter  ist  es  wohl  anzusehen,  daß  diesem 
seit  Philometor  noch  ein  „Antigrapheus"  contra- 
signiert. Es  ist  nun  merkwürdig,  daß  bei  den 
Kaufcontracten  von  Memphis  anstatt  10  Proc. 
nur  1  bis  2  Proc.  Registrierungsgebühr  erhoben 
werden,  ja  daß  bei  den  im  Serapeumsstadtviertel 
aufgenommenen  dieselbe  ganz  fehlt  Sehr  an- 
sprechend ist  die  Erklärung,  die  Re vi  11  out 
für  diese  so  auffallende  Begünstigung  der  unter- 
ägyptischen Metropole  vorschlägt.  Als  nach 
Philopators  Tode  in  Aegypten  eine  allgemeine 
Empörung  ausbrach,  erhoben  sich  zahlreiche, 
kleine  Dynasten.  Die  meisten  derselben  wurden 
im  8ten  Jahre  des  Epiphanes  unterworfen,  nur 
die  wichtige  Thebais  behielt  noch  ihre  eigenen 
Herrscher.  Wir  kennen  jetzt  diese  thebanischen 
Könige  aus  den  demotischen  Akten,  sie  heißen 
Angtu  (?)   und  Harmachis    und    regierten 

52* 


820  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

mindesten»  18  Jahre.  Um  nun  diesen  nationalen 
Pharaonen  von  Theben,  die  sich  bis  zum  19ten 
oder  20sten  Jahre  hielten,  einen  ebenso  legiti- 
men Herrscher  entgegensetzen  zu  können,  ließen 
die  Vormünder  des  Epiphanes  den  jungen  König 
in  Memphis  nach  altem  ägyptischen  Ritas  krö- 
nen. Sie  begünstigten  dabei,  wie  dies  Letronne 
schon  aus  dem  bei  dieser  Gelegenheit  erlassenen 
Decret  von  Rosette  erkannt  hat,  die  Priester- 
schaft der  alten  heiligen  Hauptstadt  in  der  ein- 
seitigsten Weise.  Gewiß  ist  auch  die  fragliche 
Steuerbefreiung  damals  erfolgt. 

Auf  das  genaueste  sind  wir  aus  unseren  Ur- 
kunden natürlich  über  die  Formalitäten  des  Kau- 
fes im  griechischen  Aegypten  unterrichtet,  die 
fest  geregelt  waren.  Zuerst  wird  die  „Schrift 
wegen  des  Geldes"  aufgesetzt,  d.  h.  ein  Docu- 
ment, in  dem  der  Verkäufer  erklärt,  die  völlige 
Bezahlung  erhalten  zu  haben  und  verspricht  dem 
Käufer  den  Besitz  des  Verkauften  zu  schützen. 
Darauf  erfolgt  die  owQicooig,  ein  feierlicher 
Schwur  des  Verkäufers  vor  Gericht;  er  wird, 
wie  stets  erwähnt  wird,  schriftlich  aufgenommen, 
findet  sich  jedoch  nicht  in  unseren  Akten  vor 
—  vielleicht  weil  das  betreffende  Aktenstück  im 
Tempel  verblieb.  Dann  erst  setzt  man  das 
eigentliche  Cessionsdocument  auf;  durch  dieses 
wird  der  verkaufte  Gegenstand,  der  hier  schon 
als  £igenthum  des  Käufers  bezeichnet  wird,  die- 
sem auch  formell  übergeben. 

Die  Münzen,  in  denen  gewöhnlich  die  Geld- 
summen der  demoti8cben  Urkunden  angegeben 
werden,  sind  die  Drachme  „Sekel"  genannt,  das 
„Silberstück",  das  fünf  Drachmen  entspricht  und 
das  Talent,  das  abweichend  vom  griechischen 
nur  1500  Drachmen  oder  300  „Silberstücke« 
enthält     In   den   griechischen  Papyrus  Aegyp- 


Devaux,   Etudes  politiques  sur  lliistoire  Romaine.    821 

tens  hingegen  wird  auch  bei  Summen,  die  in 
die  Tausende  gehen,  nach  xaXnoXg,  nach  Kupfer- 
drachmen gerechnet. 

Gern  theilte  ich  noch  mehr  von  den  inter- 
essanten Funden  Revil lout's  mit,  seine  Ent- 
deckung der  in  Aegypten  noch  in  christlicher 
Zeit  gebräuchlichen  Ehe  auf  Probe,  seine  Unter- 
suchungen über  die  Dekrete  von  Canopus  und 
Rosette  —  müßte  ich  nicht  beftichten,  die  Gren- 
zen dieser  Anzeige  damit  zu  weit  auszudehnen. 
Aber  schon  das  Gegebene  wird  gezeigt  haben, 
wie  viel  Werth volles  Revil  lout's  Werk  bie- 
tet; hoffentlich  findet  es  auch  bei  Nichtägypto- 
logen  die  gebührende  Beachtung. 

Berlin,  Nov.  1880.  AdolfErman. 

tätudes  politiques  sur  les  principaux  £v£ne- 
ments  de  l'histoire  Romaine.  Par  Paul  De- 
vaux.   2  vol.   Bruxelles  1880.     1030  S.   8°. 

Der  Verf.  hat  bereits  vor  5  Jahren  ein  ähn- 
liches Werk  veröffentlicht  (6tudes  politiques  sur 
Thistoire  ancienne  et  moderne  et  sur  l'influence 
de  l'6tat  de  guerre  et  de  Pitat  de  paix),  wel- 
ches bisher  in  Deutschland  gar  nicht  beachtet 
zu  sein  scheint,  wenigstens  habe  ich  mich  ver- 
geblich bemüht,  eine  Anzeige  desselben  aufzu- 
finden. Devaux  ist  am  Anfange  dieses  Jahres 
gestorben  und  ein  sehr  warmer  Nachruf  der 
Herausgeber  erklärt  das  obige  Werk,  von  des- 
sen Aufnahme  in  der  gelehrten  Welt  der  Ver- 
fasser leider  nicht  mehr  hätte  Zeuge  sein  kön- 
nen „für  das  politische  Testament  dieses  großen 
Geistes,  der  durch  seine  Handlungen  ebenso  wie 
durch  seine  Schriften  unter  die  ersten  Staats- 
männer unserer  Epoche  gehöre".  Gegen  dieses 
etwas  Uberschwängliche  Lob  muß,  soweit  das- 
selbe sich  wenigstens  auf  das  obige  Werk  stützt, 


822  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

Einspruch  erhoben  werden.  Eine  streng  sach- 
liche Prüfung  muß  den  wissenschaftlichen  Werth 
des  Werkes  sogar  auf  ein  sehr  bescheidenes 
Maaß  herabdrücken.  Denn  es  kann  dem  Werke 
ein  doppelter  Vorwurf  nicht  erspart  werden, 
einmal  daß  es  den  in  der  Einleitung  entworfe- 
nen Plan  nicht  durchführe,  sodann  daß  die  Kri- 
tik und  die  Beherrschung  der  einschlägigen 
deutschen  Literatur  unzureichend  sei.  Schon 
der  Titel  muß  Verwunderung  erwecken.  Poli- 
tische Studien  über  die  hervorragendsten  Er- 
eignisse der  römischen  Geschichte?  Sind  die 
Ereignisse  alle  so  zweifellos  gesichert,  daß  ohne 
weiteres  politische  Studien  daran  geknüpft  wer- 
den könnten?  Und  welches  sind  die  hervor- 
ragendsten Ereignisse?  Der  Verfasser  ver- 
wahrt sich  in  der  Vorrede  dagegen,  daß  sein 
Werk  eine  römische  Geschichte  sei.  Nicht  auf 
die  Details  der  Thatsachen  und  Einrichtungen 
gehe  er  ein,  sondern  sein  Hauptziel  sei  die  Dar- 
legung des  allgemeinen  Ganges  der  röm.  Ge- 
schichte, die  schrittweise  Entwicklung  des  klei- 
nen palatiniscljen  Rom  zu  seiner  kolossalen  Be- 
stimmung. Zu  diesem  Zwecke,  erklärt  er  wei- 
ter, habe  er,  so  oft  es  ihm  möglich  ge- 
wesen sei,  die  Ursache  und  Tragweite  der 
Ereignisse,  die  verbindenden  Fäden,  kurz  die 
Logik  der  Thatsachen  zu  entwickeln  gesucht. 
Freilich  habe  die  Kritik  über  viele  Thatsachen 
noch  keineswegs  das  letzte  Wort  gesprochen.  — 
Dieser  Plan  ist  durch  seine  Unklarheit  und  in- 
neren Widersprüche  für  das  ganze  Werk  cha- 
rakteristisch. Gehören  jene  Aufgaben,  die  D. 
unter  politischen  Studien  versteht,  etwa  nicht 
zur  Gompetenz  des  Historikers?  Wie  kann  D. 
hoffen,  sein  Ziel  ohne  kritische  Untersuchungen 


Devaux ,  Etudes  politiques  sur  Phistoire  Romaine.     823 

zu  erreichen,  die  er  vorher  von  der  Hand  weist, 
obgleich  er  hier  zugesteht,  daß  die  Thatsachen 
keineswegs  alle  sicher  ständen?  Am  stärksten 
aber  widerspricht  er  sich  darin,  daß  er  die  im 
Titel  allein  versprochenen  etudes  pol.  nur  geben 
will,  so  oft  es  ihm  möglich  ist  Also  ist  der 
Titel  unbegründet  gewählt.  Denn  was  giebt 
das  Buch  in  Wirklichkeit?  Eine  Erzählung  der 
Hauptereignisse  von  Romulus  bis  zur  Schlacht 
von  Zama  nach  den  bekannten  Quellenschrift- 
stellern,  wobei  sich  der  Verf.  in  den  ausge- 
tretensten Bahnen  bewegt;  nur  selten  erinnert 
er  sich  an  den  Titel  seines  Buches,  ganz  treu 
bleibt  er  ihm  nur  im  1.  Chap.,  während  die 
Etudes  politiques  hernach  ganz  in  den  Hinter- 
grund treten.  —  Dies  I.  Chap.,  considerations 
generates  überschrieben,  bietet  im  ganzen  auch 
das  beste  und  interessanteste  des  ganzen  Buches. 
D.  entwickelt  darin,  daß  die  Geschichte  Grie- 
chenlands und  Roms  trotz  zahlreicher  Analogien 
(Abneigung  gegen  die  Monarchie,  politische  Be- 
deutungslosigkeit der  Priesterschaft,  politischer 
Einfluß  des  Eigentbums,  d.  h.  Eintheilung  nach 
Vermögensgraden)  doch  einen  tiefen  Unterschied 
des  politischen  Charakters  der  beiden  Völker 
anfweise.  In  Griechenland  herrscht  Zer- 
splitterung. Die  Natur  begünstigt  die  Entwick- 
lung kleiner  Centralgewalten.  Am  verhängnis- 
vollsten ißt  für  die  Griechen  der  Mangel  an 
praktischem  Verwaltungsgeschick  und  die  Maaß- 
losigkeit  in  der  Politik,  welche  sehr  merkwür- 
dig ist  bei  dem  feinen  Sinn  für  Maaß,  den  die 
Griechen  in  der  Kunst  bethätigen.  Die  sparta- 
nische Aristokratie  ist  ebenso  maaßlos  wie  die 
athenische  Demokratie.  Daher  rührt  auch  die 
sehr  geringe  Widerstandskraft  gegen  Mißerfolge 


824  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

(die  sicilische  Expedition  and  Aegospotamoi 
stürzt  die  athen.  Macht  ebenso  definitiv,  wie 
die  beiden  Feldzüge  des  Epaminondas  die  spar- 
tanische). In  Italien  herrscht  anfangs  gleiche 
Zerstückelung,  es  sind  lauter  Cantone,  fast 
Atome;  doch  eins  dieser  Atome  vereinigt  die 
andern  Schritt  für  Schritt  um  sich  und  richtet 
schließlich  die  größte  Einheit  auf,  welche  die 
Welt  bisher  gesehen  hat.  Der  wesentlichste 
Differenzpunkt  liegt  im  Verwaltungsgeschick. 
Rom  vereinigt  die  spartanischen  und  atheni- 
schen Vorzüge,  indem  es  die  einen  durch  die 
andern  begrenzt  und  ergänzt.  Roms  Grund- 
lage ist  eine  scharf  ausgeprägte  Aristokratie; 
in  dieser  beruht  die  Dauerhaftigkeit,  der  Weit- 
blick und  die  Würde  der  römischen  Politik. 
Aber  Rom  hat  sich  von  der  spartanischen  Ein- 
seitigkeit und  Beschränktheit  fern  zu  halten  ge- 
wußt, und  wenn  die  Aristokratie  der  Demokra- 
tie auch  hartnäckig  widersteht,  so  weiß  sie 
doch  auch  zu  erkennen,  wann  es  noth  thut,  der 
Demokratie  ihren  politischen  Antheil  zu  geben. 
Die  Demokratie  wiederum  ist  nicht  ungeduldig 
und  läßt  sich  nur  ungern  zum  äußersten  hin- 
reißen; lange  begnügt  sie  sich  mit  kleinen  Fort- 
schritten und  Erfolgen.  Dies  ändert  sich  erst 
mit  dem  Eindringen  fremder  Elemente,  welche 
Rom  seinen  rein  römischen  Charakter  nehmen. 
— -  Der  Kraft  seiner  inneren  Verfassung  ent- 
spricht die  Macht  nach  außen,  und  aus  dieser 
Vereinigung  entspringt  die  größte  Gewalt,  wel- 
che jemals  eine  Staatsregierung  besessen  hat. 
Als  schließlich  die  Kriegs  und  Eroberungs- 
politik das  Maaß  tiberschritt,  da  wurde  die  Grund- 
lage des  Reichs  gestürzt  und  jene  Aristokratie 
und  Demokratie  giengen  unter  durch  den  Despo- 


Devaux,  Etudes  politiques  sur  Phistoire  Romaine.     825 

tismus,  welcher  aus  jener  unaufhörlichen  Erobe- 
rungspolitik entsprang.  Die  Aristokratie  hat, 
nicht  dem  eignen  Triebe,  sondern  der  Noth  ge- 
horchend, jene  Eroberungspolitik  gewählt.  Sie 
hat  naturgemäß  am  Frieden  Interesse,  weil  der 
Krieg  sie  allmächtigen  Heerführern  unterordnet. 
Die  innere  Lage  aber  war  es,  welche  sie  zu 
jener  kriegerischen  Politik  zwang;  in  dieser 
allein  fand  sie  Widerstandskraft  gegen  die  inne- 
ren Gegner.  Durch  das  unaufhörliche  Fort- 
dauern der  Kriege  concentrierte  sich  die  Aristo- 
kratie mehr  und  mehr  zur  Oligarchie,  bis  schließ- 
lich zwei  oder  drei  die  Regierung  in  der  Hand 
haben  und  endlich  einer  davon  den  republica- 
nischen  Koloß  unter  die  Militärdespotie  beugt. 
—  D.  stellt  sich  hier  nun  eine  zweite  Aufgabe, 
den  aufsteigenden  Ast  der  röm.  Gesch.,  die  Ge- 
schichte seiner  Erhebung,  zu  geben.  Das  thut 
er  aber  auch  nicht,  sondern,  wie  schon  oben 
bemerkt,  er  liefert  eine  gewöhnliche  Darstellung, 
welche  nach  Seite  der  Kritik  wie  Beherrschung 
der  Literatur  durchaus  nicht  auf  der  Höhe  steht, 
mitunter  sogar  einen  starken  Beigeschmack  von 
Dilettantismus  hat,  so  z.  B.  seine  Bemerkung 
über  die  lateinische  Sprache  (I,  p.  26):  „le  la- 
tin est  consid6r6  comme  une  langue  indo-euro- 
p£enne  ayant  des  rapports  avec  le  grec,  comme 
avec  le  Sanscrit,  le  lithuanien  et  d'autres  langues 
de  cette  grande  famille",  so  ferner  die  kelti- 
schen Etymologien  im  Anhange  zum  ersten 
Bande,  so  seine  Auseinandersetzung  über  die 
Etrusker  I  p.  27,  wobei  ihm  die  neusten  Arbeiten 
auf  dem  Gebiete  der  Etruskologie  ganz  unbe- 
kannt geblieben  sind.  Oberflächlich  und  rein 
äußerlich  ist  seine  Kritik.  Wir  wollen  dieses 
an   zwei   größeren    Beispielen    nachweisen,    an 


826  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.  26. 

seiner  Kritik  der  Königszeit  und  an  der  des 
Hanni  balischen  Krieges.  —  Chap.  Ill  hat  die 
Ueber8chrift  Traditions  tegendaires  et  r^alite 
historique.  Der  Prüfstein  für  die  Zuverlässig- 
keit der  Tradition  ist  nach  Devaux  die  Wahr- 
scheinlichkeit. Es  kommt  darauf  an,  ob  das 
von  der  Tradition  überlieferte  Ereigniß  zu  den 
dasselbe  umgebenden,  zu  den  vorhergehenden 
und  zu  den  folgenden  stimmt.  Wenn  die  Tra- 
dition einer  Reihe  von  Thatsacben  eine  andere 
hinzufügt,  welche  offenbar  die  Ursache,  und  wie- 
der eine  andere,  welche  offenbar  die  Folge  je- 
ner ersten  sind,  ohne  daß  die  Tradition  dabei  die 
zwischen  allen  bestehende  Verbindung  erkennt, 
so  gewinnen  dieselben  Wahrscheinlichkeit.  Wenn 
eine  Erzählung,  die  offenbar  erdichtet  ist,  um 
einem  bestimmten  Manne,  einem  Geschlecht  oder 
der  ganzen  Nation  zu  schmeicheln,  gewisse  Zu- 
thaten  enthält,  welche  jener  Absicht  zuwider- 
laufen, so  verdienen  diese  Theile  der  Erzählung 
Glauben;  dasselbe  gilt  von  denjenigen  That- 
sachen,  welche  nicht  direct  bezeugt  werden, 
sondern  sich  aus  andern  ergeben.  Die  Tradition 
verdient  hier  nach  D.  denselben  Glauben,  wie 
die  rein  dichterischen  Werke;  die  an  Odysseus 
gerichtete  Frage,  ob  er  Seeräuber  sei,  enthält 
ein  unbestreitbares  Zeugniß  für  die  Ausdehnung 
der  Seeräuberei  in  jenen  Zeiten,  ebenso  geht 
aus  der  Ilias  die  untergeordnete  politische  Be- 
deutung des  Priesterthums,  das  völlige  Zurück- 
treten desselben  den  Königen  gegenüber  hervor. 
—  Dieses  sind  die  positiven  kritischen  Grund- 
sätze Devaux'.  Zunächst  ist  wieder  auf  den 
starken  Widerspruch  hinzuweisen,  in  den  sich 
D.  verwickelt.  Er  will  nachweisen,  wie  aus  der 
Tradition   die   redlite  historique   zu    gewinnen 


Devaux ,  Etudes  politiques  sur  l'histoire  Romaine.     82 T 

sei,  kommt  aber  in  dem  Nachweise  bis  auf  den 
letzten  Punkt  nur  zur  probabilite  und  diese 
beiden  Begriffe  decken  sich  doch  wahrlich 
nicht.  Was  den  letzten  Punkt  mit  den  Beispie- 
len aus  Homer  betrifft,  so  hilft  derselbe  nur  zur 
Erkenntniß  kulturgeschichtlicher  Zustände,  aber 
nicbt  geschichtlicher  Thatsacben.  Sodann  ist 
zu  bemerken,  daß  diese  (übrigens  längst  be- 
kannten und  angewandten)  Kriterien  allein 
nicht  genügen,  um  eine  feste  historische  Grund- 
lage zu  schaffen.  Sie  sind  doch  nur  in  ganz 
bestimmten  Fällen  anwendbar  und  geben  höch- 
stens Wahrscheinlichkeit.  Ueber  die  Stellung 
der  modernen  Forschung  zur  ältesten  römischen 
Geschichte  und  über  die  von  dieser  befolgten 
kritischen  Methoden  gehtD.  einfach  mit  der  Be- 
merkung hinweg,  daß  er  das  Mißtrauen  gegen 
die  Königszeit  nicht  theile,  (preface  p.  IV),  daß 
er  dieselbe  vielmehr  keineswegs  kritischer  Stu- 
dien unwerth  erachte  (als  ob  vor  D.  keine  ge- 
macht wären!).  Nur  die  beiden  Hauptgründe, 
aus  denen  man  die  Continqität  der  Tradition 
mit  der  schriftlichen  Fixierung  derselben  für 
unmöglich  erklärt  hat,  sucht  er  als  solche  zu 
entkräften,  nämlich  das  Fehlen,  der  Schrift  und 
den  gallischen  Brand.  Bezüglich  der  Schrift 
beruft  sich  D.  auf  Mom m sen,  nach  dem  die 
Schrift  in  Latium  uralt  sei.  Mo  nam  sen  spricht 
aber  nur  von  der  zu  urkundlichen  Aufzeichnun- 
gen gebrauchten  Schrift;  von  einer  Verwendung 
zu  literarischen  Zwecken  kann  nicht  die  Bede 
sein.  Es  ist  D.  auch  ganz  gleichgiltig,  ob  wir 
etwas  bestimmtes  über  eine  solche  Aufzeichnung 
wissen  oder  anzunehmen  berechtigt  sind,  ja  hier 
fragt  er  nicht  einmal  nach  der  Wahrscheinlich- 
keit,  hier   genügt  ihm  die    bloße   Möglichkeit 


828  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.26. 

Nehmen  wir  an,  sagt*  er,  daß  die  Tradition  un- 
ter Serv.  Tüll,  schriftlich  fixiert  sei,  so  hat  die 
mündliche  Tradition  nach  der  gewöhnlichen 
Chronologie  bis  dahin  einen  Zeitraum  von  138 
Jahren  durchlaufen.  Ein  80jähriger,  der  bis 
zur  Regierung  des  Serv.  Tüll,  gelebt  hat,  kann 
also  noch  jemand  gekannt  haben,  der  in  den 
ältesten  Tagen  Roms  geboren  ist.  —  Aehnlich 
überbrückt  Devaux  die  durch  den  gallischen 
Brand  geschaffene  Kluft.  Ein  im  Jahre  410 
a.  u.  geborner  könne  Zeitgenosse  jener  Kata- 
strophe gewesen  sein  und  könne  dann  in  vorge- 
rückten Jahren  wieder  jnnge  Leute  kennen  ge- 
lernt haben,  welche  bis  zur  Zeit  des  Fabius 
Pictor  gelebt  hätten;  so  daß  die  Zeit  des  galli- 
schen Brandes  mit  der  des  Pictor  durch  einen 
Vermittler  verbunden  gedacht  werden  könne. 
—  Er  verneint  ferner  die  Notwendigkeit  der 
Annahme,  daß  alle  historischen  Urkunden  durch 
den  Brand  vernichtet  seien,  indem  er  sich  auf 
das  pleraeque  in  der  bekannten  Stelle  des  Liv. 
6,  1  stützt.  Die  vom  Senat  befohlene  Wieder- 
herstellung der  annates  maximi  kann  nach  D. 
in  zuverlässiger  Weise  ausgeführt  sein,  weil 
erstlich  Urkunden  geflüchtet  oder  auf  dem  Ca- 
pitol geborgen  sein  können,  sodann  weil  die 
Städte  Latiums  urkundliches  Material  zur  Wie- 
derherstellung boten.  Ferner  werden  die  Fami- 
lienarchive angeführt,  deren  Besitzer  nicht  in 
Rom  geblieben  seien.  Daß  sie  ihre  Archive 
mitgenommen  haben,  scheint  D.  als  selbstver- 
ständlich vorauszusetzen.  Da  D.  Nitzsch' 
Annalistik  und  Clason's  Fortsetzung  von 
Schwegler's  römischer  Geschichte  nicht  kennt, 
so  sind  deren  unabweisbare  Gründe  gegen  die 
Magistratsverzeichnisse    und    Familienchroniken 


Devaux,  Etudes  politiques  sur  Phistoire  Romaine.     829 

als  Urquellen  der  römischen  Geschichte  für  ihn 
einfach  nicht  vorhanden.  Das  Resultat  dieser 
völlig  in  der  Luft  schwebenden  Kritik  ist  nunr 
daß  die  Tradition,  nach  Abzug  poetischer  und 
rhetorischer  Ausschmückungen  im  wesentlichen 
jene  r6alitä  historique  besitzt.  Ueberall  findet 
D.  einen  Kern,  den  er  für  historisch  nimmt,, 
weil  derselbe  Wahrscheinlichkeit  besitze.  Selbst* 
mit  der  Chronologie  unter  Romulus  und  Numa, 
beschäftigt  sich  D. 

Ebenso  unhaltbar  ist  seine  Kritik  desHanni- 
balischen  Krieges.  Seine  Ansicht  über  densel- 
ben bezeichnet  er  in  der  Vorrede  als  völlig  neu 
und  ganz  abweichend  von  allen  antiken  Quel- 
len und  modernen  Forschungen.  Man  fragt 
sich  staunend,  worauf  denn  D.  seine  bessere 
Kenntniß  stützen  wolle,  da  er  der  gesammteit 
Ueberlieferung  entgegentritt.  Doch  D.  thut  dies 
ohne  Belege;  er  giebt  seine  Ansicht  als  Politi- 
ker (cf.  pref.  p.  II  vues  d'un  homme  politique, 
wie  er  sein  Buch  auch  hätte  nennen  können), 
woraus  hervorgeht,  daß  nach  D.  dem  Politiker 
in  der  Geschichtsforschung  die  Dictatur  ge- 
bührt. Worin  besteht  nun  Devaux*  Abwei- 
chung? Darin,  daß  der  Werth  der  Leistungen 
Hannibals  bisher  maaßlos  überschätzt  sei.  Nach 
D.  ist  Hannibal  die  Geißel  seines  Vaterlandes 
gewesen;  denn  er  hat  es  ohne  Grund  in  je- 
nen  furchtbaren  Krieg  verwickelt,  welcher  die 
Macht  desselben  für  immer  brach.  Und  zwar 
ist  Hannibal  allein  dafür  verantwortlich.  D. 
bestreitet,  der  einstimmigen  Ueberlieferung  zum 
Trotz,  daß  schon  Hamilcar  den  Plan  zum  Kriege 
gefaßt  habe.  Hamilcars  Eroberungen  in  Spa- 
nien hätten  nur  den  Zweck  gehabt,  die  Macht 
seines  Vaterlandes    überhaupt  zu   stärken,  der 


830  Gott.  gel.  Anz.  1881.  Stück  25.26. 

Armee  ergiebige  Rekrutieningsquellen  zu  eröff- 
nen and  so  den  Einfluß  seiner  Partei  im  Senat 
von  Carthago  zum  ausschlagenden  zu  machen. 
Ueberhaupt  ist  nach  D.  ein  unauslöschlicher 
Haß  und  Rachedurst  Hamilcars  gegen  die  Rö- 
mer nirgend  erkennbar,  da  er  ja  selbst  im  er- 
sten punischen  Kriege  die  Friedensunterhand- 
lungen übernommen  habe.  Die  ausdrücklichen 
Angaben,  aus  welchen  Gründen  und  mit  welchen 
Nebengedanken  er  das  that,  beachtet  Devaux 
einfach  nicht.  Das  einzige  Zeugniß  ist  nach 
ihm  die  nichtige  Anekdote  von  dem  Eide,  den 
Hamilcar  den  neunjährigen  Hannibal  schwören 
läßt.  Hier  zeigt  sich  nun  die  Kritiklosigkeit 
Devaux'  im  schärfsten  Licht.  Nachdem  er 
eben  (II,  p.  170)  für  Livius  an  der  betreffenden 
Stelle  XXI,  1  als  Quelle  Polybius  angegeben 
hat,  stellt  er  gleich  darauf  in  derselben  Sache 
die  Autorität  des  Livius  (und  Appian)  über  die 
des  Polybius,  weil  jene  beiden  die  Erzählung 
von  dem  Eide  als  ein  on  du  einführen,  also  der 
vorgefaßten  Meinung  Devaux1  allenfalls  als 
Stütze  dienen  können.  D.  hält  die  Erzählung 
für  eine  Erfindung  Hannibals,  gemacht  zu  dem 
Zwecke,  um  das  tollkühne  Unternehmen  durch 
das  populäre  Andenken  an  seinen  Vater,  zu 
legitimieren.  Auch  mit  einem  inneren  Grunde 
glaubt  D.  die  Unwahrheit  belegen  zu  können: 
der  Eid  sei  sinnlos,  denn  Hamilcar  habe  doch 
yon  Hannibal  zur  Zeit  der  Eidesleistung  noch 
nicht  wissen  können,  daß  derselbe  Bö  große  mi- 
litärische Talente  besitze.  —  Die  ganze  Argu- 
mentation widerlegt  sich  durch  die  bloße  An-' 
führung.  In  dem  ersten  Argument  wird  die 
nicht  bewiesene  Behauptung,  Hamilcar  habe  an 
einen   neuen  Krieg   gegen  Rom  nicht  gedacht, 


Devaux,  Etudes  politique^  sur  l'histoire  Romaine.     831 

als  Voraussetzung  genommen.  Das  zweite  ist 
nichtig,  weil  D.  in  seiner  Verblendung  gar  nicht 
beachtet,  was  der  Hauptzeuge  Polybius  (111,11) 
als  Inhalt  des  Eides  angiebt  und  unter  welchen 
Umständen  Hannibal  von  dem  Eide  erzählt. 
Hamilcar  läßt  den  neunjährigen  Knaben  schwö- 
ren [Atid&nots  %Pwfjtaioig  svvo^ühv,  was  von  et- 
waigen militärischen  Talenten  durchaus  unab- 
hängig ist.  —  Die  ganze  Nachricht  stammt  al- 
lerdings offenbar  aus  den  Memoiren  des  Hanni- 
bal und  es  wäre  zu  fragen,  ob  Hannibal  irgend 
einen  Grund  hatte,  diese  Erinnerung  aus  der 
Kindheit  zu  erdichten.  Alles  spricht  dagegen. 
Von  Sorge  um  seinen  Nachruhm  kann  keine 
Rede  sein.  Er  hat  den  Eid  bis  in  seine  letzte 
Lebenszeit  offenbar  als  theures  Geheimniß,  ge- 
wissermaßen als  Vermächtuiß  seines  Vaters,  ge- 
hütet und  würde  ihn  auch  da  nicht  preisgegeben 
haben,  wenn  nicht  seine  ganze  Stellung  beiAn- 
tiochus  auf  dem  Spiel  gestanden  hätte;  er  thut 
es  in  der  festen  Zuversicht,  den  Argwohn  des 
Antiochus  zu  zerstreuen  und  ihn  für  seine  Ab- 
sichten zu  gewinnen.  Die  Annahme,  daß  er  als 
letzten  Trumpf  eine  Lüge,  und  noch  dazu  eine 
so  seltsam  erfundene,  ausgespielt  habe,  wäre 
widersinnig,  und  nimmermehr  hätte  eine  Lüge 
einen  so  entscheidenden  Eindruck  hervorge- 
bracht, wie  ihn  Polybius  so  einfach  und  schön 
ausdrückt  *Avtto%o$  äxoifaag  xal  dö£a$  aviona- 
\}<jü<;  dpa  dl  d Xy  &irw  <;  eiQJja&a  »  nd<rtj$  xrfi 
ngovnagxoi^fjg  imoiplaq  dntoiTj.  —  So  unhalt- 
bar diese  neue  Auffassung,  so  zwecklos  ist  die 
Untersuchung  der  Möglichkeiten,  was  hätte  ge- 
schehen können,  wenn  H.  den  Krieg  nicht  un- 
ternommen hätte,  ob  nicht  in  der  Folge  eine 
Allianz   zwischen    der  See-   und  Handelsmacht