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• G 5ttingische
gel ehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht ,
der
Ktaigl» CtoeUsehaft der Wisscaschaften.
1893.
Erster Band.
Göttingen.
>
d« Dieterichschen Bachhandlang.
1873.
CftttlagttB,
Brack der Didterichscfcea UniT.-BudkdnicUNi
W. Fr. Kiitner.
Göttin gische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Koni gl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stiick 1. 2. Januar 1873.
Les annates de Saint-Bertin et de Saint- Vaast
suivies de fragments d'une chronique inedite
publiees avec des annotations et des variantes
des manuscrits pour la societe de l'histoire de
France par l'abbe G. Dehaisnes archiviste du
Nord. A Paris chez Mme Ve Jules Renouard.
1871. XVIII und 472 Seiten in Octav.
Eine neue Ausgabe der sogenannten Annales
Bertiniani und der Annales Vedastini konnte
keineswegs als eine überflüssige Sache erschei-
nen. Pertz hat bei dem Abdruck im ersten Band
der Scriptores für beide wichtige Annalen keine
Handschrift benutzt, erst im zweiten zu den
Bertiniani die Collation eines Brüsseler Codex
mitgetheilt, aus diesem die Vedastini noch ein-
mal abdrucken lassen. Seitdem waren weitere
Hülfsmittel bekannt geworden, und so mochte
die Societe de l'histoire de France, die sich
durch neue Editionen um viele der Französi-
schen Geschichtsquellen verdient gemacht hat,
es wohl als ihre Aufgabe betrachten, diese vor-
zugsweise fur Frankreich bedeutenden Jahrbü-
2 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
eher in verbesserter Gestalt und mit den nöthi-
gen Erläuterungen ihrer Sammlung einzuverlei-
ben, und auch wir durften dieser Ausgabe mit
Erwartung entgegensehen. Es kam dazu, dass
seit einigen Jahren von der Auffindung einer
alten Chronik die Rede war, welche, mit diesen
Annalen verwandt, über sie und über die Histo-
riographie des nördlichen Frankreichs überhaupt
neues Licht verbreiten sollte, und deren Bekannt«
machung bei dieser Gelegenheit in Aussicht stand.
Beides ist dann in dem vorliegenden Bande ge-
schehen.
Wie wenig derselbe die an eine kritische Edi-
tion alter Schriftwerke überhaupt zu stellenden
Forderungen befriedigt, ist schon vor geraumer
Zeit von einem Landsmann des Herausgebers,
G. Monod , in gründlicher Weitfe gezeigt (Revue
critique 1872 Nr. 16, S. 242—254), und ich
würde kaum Veranlassung nehmen noch einmal
darauf zurückzukommen, wenn nicht das von
Hrn Dehaisne beobachtete Verfahren bei der
Herstellung des Textes der beiden Annalenwerke
dazu angethan wäre, die grösste Verwirrung in
der Benutzung derselben und der Behandlung
der Geschichte dieser Zeit überhaupt zu veran-
lassen, gegen die wenigstens bei uns in Deutsch-
land zu warnen nicht ganz überflüssig erscheint.
Die Sache ist die, dass eine Handschrift der
Stadtbibliothek zu Douai, Nr. 753, über welche
die Vorrede S. IX berichtet, eine Chronik des
Klosters St. Vaast enthält, in welche ein Theil
der Annales Bertiniani und die Annales Ve-
dastini aufgenommen, aber stylistisch umgear-
beitet und mit Zusätzen versehen sind. Eben
diese Chronik ist es, von der vorher die Rede
war: der Herausgeber hat S. 361 ff. die Vorrede
uikI einzelne Fragmente aus dem älteren Theil,
Dehaisne, Les annales de Saint-Bertin etc. 3
auch bis zum Jahre 843 einzelne Zusätze zu den
Ann. Bertiniani besonders mitgetheilt, anderes
aber dem Text dieser eingefügt und den Schluss
nicht als eine Bearbeitung, sondern als eine
Handschrift der Annales Vedastini betrachtet.
Er sagt S. IX: »Un autre text de ces meines
Annales de Saint-Vaast, plus complet mais pro-
bablement nn pen plus recent est contenu dans
le no. 753«; vgl. S. XIII: »Ainsi que nous Ta-
Tons dit plus haut , les Annales de Saint-Vaast,
dans le codex de la bibliotheque de Douai, sont
prdcedees d'une Chronique commen$ant ä la
creation.« Diesen nach seiner eigenen Ansicht
»etwas neueren«, in Wahrheit stark überarbei-
teten, mit manchen Zusätzen vermehrten Text
hat er nun seiner Ausgabe zu Grunde gelegt.
Wie weit diese sich dadurch von dem echten
Text entfernt hat, scheint auch Monod nicht er-
kannt zu haben, wenn er sagt (S. 248): »Ici
le ms. V (das ist die Douaier Handschrift) prend
une grande valeur. H reproduit assez exacte-
ment sans doute les annales primitives«. Wie
wenig das der Fall ist, mag folgende Stelle des
Jahres 880 zeigen:
SS. II, S. 198.
Gozlinus vero et Ghuon-
radus eorumque com-
plices aegre ferentes de
amicitia Hugonis abba-
tis 8Uorumque domino-
rum cum Hludowico, He-
rum eum faciunt venire
in Franciam. Contra
quem Hugo abba cum
sociis ac dominis et co-
pioso exercitu venire
&on distulit apudque mo-
Dehaisne S. 302
Gozlinus vero etChuon-
radus eorumque compli-
ces aegre ferentes de
amicitia Hugonis abbatis
suoruraque dominorum
cum Hludowico, Hlu-
dowicum regemGer-
maniae advocant
venire in Franciam.
Contra quem Hugo abba
cum sociis ac dominis
et copioso exercitu te-.
Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
na8terium sancti Quinti-
ni resederunt; Hludowi-
CU8 vero rex et ejus ex-
ercitus supra fluvium
Hisam. Et nuntiis in-
tercurrentibus, praedicti
reges in unum conve-
niunt.
nire von distulit, apud-
que monasterium sancti
Quintini resederunt;Hlu-
dowicus vero rex F r an-
corum et ejus exerci-
tus supra fluvium H^am.
Et nuntiis intercurren-
tibus praedicti reges in
unum conveniunt.
Der Autor will hier wie öfter den Text ver-
deutlichen, namentlich den Deutschen König
Ludwig von dem Französischen unterscheiden;
aber er misversteht seine Vorlage und entstellt
sie aufs ärgste. Der Ludwig, dessen Freund-
schaft mit Hugo den Gozlin und Konrad reizt,
ist nicht der Franzose, sondern der Deutsche;
eben dieser, und nicht der rex Franciae lagert
an der Oise. Ludwig von Westfranken und sein
Bruder Karlmann sind als »domini« des Gozlin
und Konrad erwähnt, und daher konnte es nach-
her heissen »praedicti reges«, was der Autor der
Chronik nicht verstand.
An ähnlichen Verschlimmbesserungen fehlt
es auch sonst nicht. In demselben Jahr (Deh.
S. 304) wird das »Franci inter eos dividunt*
zu »Franciam inter eos dividunt« und damit
Francia in demselben Satz in zwei ganz ver-
schiedenen Bedeutungen gebraucht (es heisst
nachher: dataque est pars Franciae et omnis
Neustria etc.), die Bezeichnung der Theilenden
aber, die Franci, das Fränkische Volk oder die
Fränkischen Grossen, beseitigt.
Sehr zahlreich sind die Zusätze: gleich 875
das Datum 10. Kai. Januarii für den Einzug
Karl des Kahlen in Rom , wahrscheinlich aus den
Ann. Bertiniani, aber mit Verderbung der Zahl
aus 16 in 10; 876 eine Sonnenfinsternis; 877.
Dehaisne, Les annales de Saint-Bertin etc. 5
878 die Weihe des jungen Königs Ludwig yon
Hincmar zu Compiegne, von Papst Johann zu
Troyes; 879 die Bezeichnung Balduins von Flan-
dern als >Audacri filius« , 880 eine Translation
des h. Vedastus, u. s. w. Alles das ist ruhig
m den Text genommen , und man begreift nur
nicht, warum denn andere ganz ähnliche Stel-
len, wie 876 der Todestag Ludwig d. D. und
die Nachfolge seiner Söhne, in die Noten ver-
wiesen wurden. Hätte der Herausgeber hier
und hätte er überhaupt die bisher unbekannte
Chronik von St. Vaast abdrucken lassen mit
Hinweis auf ihre Quellen und Angabe der Ab-
weichungen von diesen, so wäre sein Buch, wenn
es auch manches Ueberflüssige enthalten hätte,
ein brauchbares gewesen, für das man ihm dank-
bar sein könnte. Nun mag es auch dazu die-
nen, sich, ziemlich mühsam, eine Vorstellung
von dieser Chronik zu machen. Aber als Aus-
gabe der alten Annales Vedastini muss man es
for ganz unbrauchbar erklären.
Nicht ganz so schlimm ist es mit den Ann.
Bertiniani bestellt. Einmal hat die Douaier
Handschrift, man muss fast sagen zum Glück,
nur die Jahre 830 — 844 der Chronik erhalten.
Darauf ist fol. 119 (nicht 117, wie S. XI ge-
druckt ist, wo auch 894 statt 874 steht) von
einer späteren Hand eine Erzählung über die
Translation des h. Amatus eingefügt, die S. 400
(hier ohne Bemerkung über die spätere Zufu-
gung) abgedruckt wird, und dann folgt der aus
den Ann. Vedastini abgeleitete Theil. Der Her-
ausgeber nimmt an (S. III), dass in der Hand-
schrift einige Lagen verloren sind. Aus dem er-
haltenen Theil wurden, wie schon bemerkt, einige
der gemachten Zusätze später für sich als Frag-
mente der Chronik abgedruckt. Leider ist Hr.
6 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
Dehaisnes diesem Princip aber keineswegs im-
mer treu geblieben, und hat in den Text ge-
nommen was offenbar den Ann. Bertiniani nicht
angehört. Indem Monod dies rügt (S. 247), sagt
er: Quant aux mentions relativs aux empereurs
d'Orient, elles peuvent provenir du texte pri-
mitif. Schwerlich hat er da Stellen recht be-
achtet, wie gleich 831:
SS. I, S. 424.
Nam circa KalendasFe-
bruarii, sicut condictum
fuerat, generale placi-
tum habuit.
Dehaisnes S. 4.
Circa Kalendas Februa-
rii Michaele imperatore
obeunte, Theophilus fi-
lius ejus succedit. Impe-
rator Hludowicus, sicut
condictum fuerat, gene-
rale placitum habuit.
Michael , der im October 829 starb , hat hier
wohl auf etwas ungewöhnliche Weise einen To-
destag Anfang Februar erhalten. — Es bedarf
hiernach keiner weiteren Ausfuhrung , dass auch
der hier gegebene Text der Annales Bertiniani,
wenigstens bis zum Jahr 844 hin, als ein durch-
aus unzuverlässiger angesehen werden muss.
Dem gegenüber erscheint es als ein geringer
Uebelstand, dass der Herausgeber die ihm be-
kannte Brüsseler Handschrift nicht benutzt, selbst
die von Pertz gegebene Collation nicht berück-
sichtigt hat. Was der Ausgabe allein einen ge-
wissen Werth verleiht , ist die Benutzung der
Handschrift von St. Omer, die früher in St. Ber-
tin war. Nur dass man nicht weiss, ob man
sich auf die Angabe der Lesarten, namentlich
wenn es sich um Abweichungen von dem reci-
pierten Text handelt, verlassen darf. Hr. De-
haisne schreibt z. B. 832 (SS. I, S. 426. Z. 3) statt:
»ibique unumquemque hostem libere advenire«,
sehr viel verständlicher: »ibique unumquemque
Dehaisne, Les annales de Saint-Bertin etc. 7
liberum hostiliter advenirec, und gibt für jene
Lesart nur die drei Ausgaben von Duchesne,
Bouquet und Pertz an, so dass man annehmen
muss, St. Omer stimme hier mit dem Chron.
S. Vedasti überein. Pertz verzeichnet aber keine
Variante aus Brüssel, und so muss es wenig-
stens zweifelhaft erscheinen, ob Duchesne, der
eben die Handschrift, welche jetzt in St. Omer, sei-
ner Ausgabe zu Grunde legte, die Stelle so cor-
rumpiert hat. Noch auffallender ist die Bemer-
kung, dass 833 die Worte »Rotfelth id est ru«
beus campus juxta Columb[arium] qui deinceps
campus mentitus vocatur« in der Handschrift
wie in der Chronik fehlen, beide nur Raum für
»Rotfelth« lassen sollen, da Duchesne Columb,
offenbar nach der von ihm benutzten Handschrift,
druckt und Brüssel wohl »Rothfelth id est ru-
beus campus« auslässt, aber das Folgende »juxta
Columburc« (so) u. 8. w hat ; am wenigsten durfte
so das »Rothfelthc in den Text genommen wer-
den. In der berühmten Stelle über die Theikmg
haben St. Omer und Chr. Ved. ebenso wie Brüssel
»Ettra Hammolant«, so dass das von Pertz als
CoDJectur in den Text gesetzte und von Hr. D.
beibehaltene »Batuac ohne Zweifel fallen muss.
Nachher lesen beide mit Br. »Barnenses« statt
»Barrensesc 839 (SS. I, S. 435) haben sie »Su-
walafelda (Swalafelda) et Nortgowi et Hessi«,
St. Om. wie es scheint die Worte nur nicht
deutlich so abgetheilt, nachher, wenn Hr. D.
die Varianten vollständig angegeben, statt »To-
ringubae« (er druckt in der Note »Toringabaec)
mit Br. »Toringiaec, so dass jene ganz ungewöhn-
liche Form wohl in unsern Büchern verschwinden
mub8. In demselben. Jahr giebt Hr. D. die Stelle
SS. I, S. 436 Z. 19: quos filio suo Karolo sacra-
menu interpositions firmavit, aus dem Chr. V. so;
8 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
quos filio suo Karolo more patris coram commenda-
tos sibi eidemque filio suo sacr. int. f. Hier ist an
eine Interpolation des späteren Chronisten wohl
kaum zu denken, während sich leicht erklärt, wie
ein Abschreiber die Worte von dem einen »filio
suo« zu dem anderen übersprang. Die Stelle be-
stätigt dann die Ansicht welche Monod über das
Verhältnis der Texte zu einander (S. 24) auf-
gestellt hat, dass Brüssel und St. Omer unter
sich näher verwandt sind , wobei es nur zwei-
felhaft bleibt , ob jenes nicht als eine blosse Co-
pie von diesem anzusehen ist, eine Frage die
ich nach den Anführungen des Hrn. D. allein
nicht zu entscheiden wage.
Von dem Chronicon St. Vedasti hat Hr. D.,
wie bemerkt, die Vorrede und einige Fragmente
drucken lassen. Jene schliesst sich an die Isi-
dore an, nennt diesen und Beda als weitere Quel-
len und schliesst: Quorum optabilem retexen tes
lineam, subneximus ea quae a modernis post illo-
rum tempora notata sunt. Ueber die mitgetheilten
Auszüge hat im ganzen Monod das Nötinge be-
merkt (S. 244), einiges schon vorher Breysig
in den Jahrbüchern Karl Martells S. 115 nach
Angaben von Arndt, dem Hr. D. eine Abschrift
mitgetheilt hatte. Ich hebe nur hervor, dass
als Jahr der Sohlacht bei Vincy aus einer alten
chronica 721 referiert wird (nicht 720, wie Hr.
D. und Monod annehmen, zu lesen ist »DCCXX
primo, die dominica« statt »DCCXX, primo die
dominicac, wie Hr. D. druckt und als »premier
dimanche de careme« erklärt: das Datum ist
aus den Gesta Francorum).
Zum Schluss hat Hr. D. S. 405 ff. gegeben
*jCOdice ^ancti Bertini fragmenta quaedam
nondum edita«, und in der Note bemerkt, dass
eine jetzt Brüsseler Handschrift, deren er in
Detain* , Lea annates de Saint-Bertin etc. 9
der Vorrede gedacht, gemeint ist. Das mus6
sein Nr. 15835*): diese enthält aber nicht, wie
es S. 405 N. heiset, die Annahm des Eginhard,
sondern , wie S. VIII richtig gesagt ist , nach
der alten Bezeichnung die Ann. Lambecianit
oder, wie wir jetzt schreiben : Laurissenses mino-
res. Aus diesen sind denn auch die S. 405— -407
constant (nur das letzte Mal werden die Lamb,
citiert) unter Eginhards Namen angefahrten Stel-
len. Die angeblich ungedruckten Abweichungen
und Znsätze sind aber die des von Pertz söge*
nannten Cod. Remensis in der Berner Biblio-
thek, der aus einer Handschrift von St. Vaast
stammt, und sämmtlich SS. I, S. 110 ff. publi-
ciert. Eine dritte Handschrift dieses Textes, will
ich bemerken , findet sich in Rom in der Pala-
tum, Archiv XII, S. 332; Sitzungsber« d. W.
Akad. LVI, S. 511. %
Die Societe pour l'histoire de France läset'
Publicationen stets von einem oominlssüre,
responsable genehmigen. " Als solcher. ttnter»
schreibt ein Hr. Charles Jourdain, der und des-
sen Arbeiten mir gänzlich rabekannt sind! Sie
zählt in ihrer Mitte und unter ihrem Vorstand
so ausgezeichnete, durch kritische Arbeiten ver-
diente Männer, dass man .wohl .fragen darf, wie
es hat geschehen können, dass dieser Auftrag
in so wenig geeignete Hände kam.
G. Waitz.
*) Monods Zweifel, S. 248 K. S. 245 oben , ist wohl
begreiflich , aber offenbar doch nicht begründet '
10 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
Qua fere via atque ratione Novi Testamenti
interpretatio instituenda videretur, loco quodam
ex Pauli epistulis desumpto (1 Tim. 3, 14 — 16)
demonstravit Alexauder Eolbe, phil. D.,
superiorum gymnasii Sedinensis ordiuum prae-
ceptor. Sediui, 1872. — 21 S. in 4.
Wir haben nicht das mindeste dagegen dass
Erörterungen über einzelne schwierigere Gegen-
stände der Biblischen Wissenschaft auch von
Gymnasiallehrern in Gelegenheitsschriften öffent-
lich mitgetheilt werden, freuen uns vielmehr
dass man das in unseren neuesteh Zeiten wieder
mehr versucht. Auch enthält das hier be-
merkte Werkchen als eine solche Gelegenheits-
schrift wirklich manches richtige, und bekundet
nicht bloss gute Kenntnisse sondern auch einen
rühmlichen Eifer sich von der leichtsinnigen
Wissenschaft welche heute auch auf diesem Ge-
biete als eine Art anerkannter Partei allein
herrschen will nicht unterjochen zu lassen.
Allein wenn der Verf. sogleich in der Ueber-
scbrift seines Werkes ankündigt er wolle mit der
Erklärung der Stelle 1 Tim. 3, 14—16 ein Mu-
ster geben wie man überhaupt das Neue Testa-
ment am besten erklären könne, so müssen wir
doch wünschen dass man das Muster sich noch
viel höher stecke als es hier aufgestellt wird.
Jene Stelle in dem ersten Timotheossend-
schreiben ist allerdings eine der schwierigsten
im N. T., und in früheren Zeiten sowohl ihrem
Ursprünge als ihrer genauen Bedeutung nach
wenig verstanden. Heute aber ßind wir nach
beiden Seiten hin viel weiter gekommen: wir
haben nicht bloss sicher erkannt dass der Ver-
fasser sich mit diesen Worten schon auf das
Bruchstück eines neuen christlichen Kirchen-
Scribe, Qua fere via atquerationeNoviTestam. 11
gesanges beruft, sondern auch wie der Bau der
Zeilen desselben und der Sinn ebenso des gan-
zen Bruchstückes als aller seiner einzelnen
Worte zu denken sei. Man bedenke wie wich-
tig es ist dass wir an dieser Stelle schon das
Bruchstück eines ältesten christlichen Kirchen-
gesanges kunstvoll eingeschaltet finden: aber
ebenso wichtig ist seinen dichterischen Bau rich-
tig zu erkennen, da wir erst dann sicher sind
ein solches Bruchstück aus einem damals schon
vielgesungenen christlichen Liede wirklich hier
zu finden. Die genaueste Erforschung ergiebt
nun dass wir hier zwei sich entsprechende Lang-
zeilen laben, von denen jede sich in drei klei-
nere Glieder so auflöst dass immer die zwei er-
sten von diesen enger zu einander stehen, um-
gekehrt aber auch die Endglieder der zwei Lang-
zeilen sich näher entsprechen« Künstlerisch
lasst sich nichts besseres denken; wir haben
aber auch an Fällen wie y>. 18, 13. 14 alte
Beispiele davon innerhalb der Hebräischen Vers-
kunat; ja nach der Accentuation der dichteri-
schen Bücher des A. Ts. kann jeder Vers so ge-
gliedert werden, wie dies auch die Accente bei
^f. 18, 13. 14 beweisen. Aber den letzten Be-
weis for die Richtigkeit dieser ganzen Gliederung
gibt der Sinn aller Worte und der ganzen Rede:
und dieser Beweis ist heute längst unwiderleg-
lich gegeben. Wenn der Verf. dennoch auf Ben-
gel's Ansicht hier zurückgreifen und das Ver-
hältniss der sechs kleinen Glieder sich nach '
folgendem Bilde denken will:
A-b
b— a
a— B
so zerstört das die wahre Kunst wie sie hier er-
scheint, und kann daher von dem Verfasser
12 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
auch nur anrichtig begründet werden. Denn
die beiden Glieder er erschien den Engeln
and er ward gepredigt unter den Hei-
den bilden weder einen nähern Zusammenhang
im Gedanken noch enthalten sie einen reinen
Gegensatz, da den Engeln nicht die Heiden
sondern höchstens die Welt entgegengesetzt wer-
den kann. Dazu kommt dass der Verf. die
Worte er erschien den Engeln unrichtig
als mit den Worten er ward aufgehoben in
Herrlichkeit im Sinne gleichstehend an-
nimmt; und ebenso unrichtig das sechste Glied
im Sinne mit dem ersten näher verbindet, da
es offenbar nur den Sinn vollenden soll welchen
allerdings das dritte ohne ihm gleich zu sein
schon begonnen hat. Wir sind überzeugt der
Verf. würde nie auf seine von allen Seiten sich
als unrichtig ergebende Ansiebt gekommen sein,
wenn er die richtige nur zuvor genau und er-
schöpfend verstanden hätte.
Ebenso müssen wir bedauern dass der Verf.
die Frage ob der Apostel Paulus die drei Hirten-
briefe des N. TS. noch mit eigner Hand ge-
schrieben habe, zwar aufwirft (wie lässt sie sich
auch heute ganz übergehen?), aber kurz ab-
weist, weil man gar nicht zweifeln könne dass
er sie mit eigner Hand geschrieben habe. So
kurz kann er also nicht etwa Zweifel (denn von
blossen Zweifeln kann in dieser Sache heute
keine Rede mehr sein), sondern klare Einsich-
ten und uralte heute nur wieder richtig aufge-
fundene und näher bewiesene geschichtliche
Wahrheiten von sich weisen? Allein das ist
nicht der Geist welcher den heute in der Wis-
senschaft und Kirche so mächtig gewordenen
Leichtsinn besiegen und verbannen kann.
Kolbe, QuafereviaatquerationeNoviTestam. 13
— Wir benutzen jedoch diese Gelegenheit
um in Bezug auf den Satz eines den drei Hirten-
briefen verwandten Sendschreibens Eph. 6, 12
und das neulich in den Sieben Sendschrei-
bendes N. fis. S. 205 darüber gesagte zu
bemerken dass die Worte Fleisch und Blut
doch am besten hier von den gemeinen Lüsten
des Menschen in ihm selbst zu verstehen sind.
Denn der Sinn welcher sich so im Zusammen-
hange jener ganzen Rede ergibt, wird zwar völ-
lig verfehlt wenn man nicht festhält dass die
dort gemeinten Gewalten die Geistesmächte des
Heidenthumes und damit zu jener Zeit wo die-
ser Brief geschrieben wurde das in der Welt
allein herrschende Heidenthum selbst sind : allein
der Gegensatz stellt sich dennoch her wenn der
Sendschreiber meint der schwerste Kampf wei-
den die Christen damals zu bestehen hatten,
sei nicht der gegen die allgemeinen menschli-
chen Lüste in ihnen selbst (diese müssen ja
nach Rom. c. 6—8 vgl. besonders 6, 13 bei den
Christen überhaupt schon längst gebändigt sein),
sondern gegen die Grundsätze und Geistes-
mächte des jetzt (nach Jerusalem's Zerstörung)
allein in der Welt herrschenden Heidenthumes.
Der Sendschreiber konnte dieses aber so kurz
andeuten theils weil er was Fleisch und Blut
bedeute gegen welche zu kämpfen sei aus Matth.
16, 17. 1 Kor. 15, 51 als bekannt voraussetzen,
theils weil er die berühmte Ausführung des
grossen Apostels Rom. c. 6—8 als den Lesern
ebenso bekannt annehmen konnte. Man kann
die Begierden in sich gedämpft haben, und hat
dann doch mit der Furcht vor den drohenden
Machten der finstern Welt noch schwerer zu
kämpfen. Dass aber die Worte hier in umge-
14 Gott. gel. Anz. 18T3. Stück 1.
kehrter Reihe Blut und Fleisch lauten, ist
dabei zufälliger; und der Gegensatz zwischen
Menschen und Dämonen überhaupt gehört nicht
hierher, H. E.
Wörterbuch zum Rig-Veda, von Hermann
Grassmann, Professor am Marienstifts -Gym-
nasium zu Stettin. Leipzig. F. A. Brockhaus.
1873, (In ungefähr sechs Lieferungen). Erste
Lieferung, gross 8°. VIII Seiten und 288 Co-
lumnen: A — ßtvfya.
Obgleich in seiner Zeit gerade jetzt sehr be-
schränkt, hält es Ref. doch für Pflicht, den An-
fang eines Werkes freudig zu begrüssen, wel-
ches für die Förderung des Verständnisses der
Veden viel zu leisten verspricht, und ihm einen
glücklichen Fortgang und Abschluss zu wün-
schen. Zwar beschränkt es sich nur auf die
Hymnen des Rigveda und wir können nicht
bergen, dass uns die Ausdehnung auch auf die
übrigen Sammlungen sehr angenehm gewesen
wäre; allein jener ist aus hinlänglich bekannten
Gründen unzweifelhaft der wichtigste und dem-
gemäs8 wird ein Wörterbuch auch in dieser Be-
schränkung von grossem Nutzen sein. Doch
kann Ref. nicht umhin, den Wunsch auszu-
sprechen, dfess der Hr. Verf., wie er, nach der
Vorrede zu urtheilen, auch zu beabsichtigen
scheint, die Varianten berücksichtigen möge,
welche die übrigen Vedentexte für die Verse
darbieten, welche sie mit dem Rigveda gemein-
sam haben. Denn es ist keinem Zweifel zu
Grasemann, Wörterbach zum Rig-Veda. 15
unterwerfen, dass sie Dicht selten die ursprüng-
liche Fassung darbieten und, wo dies nicht der
Fall ist, bisweilen wenigstens alte Sprachformen,
welche fast ein eben so grosses Interesse ver-
dienen. So gilt das Letztere z. B. unzweifel-
haft für den Acc. pl. Ptcp. Pf. von vid, näm-
lich eiätdnas, welcher als V. L. im Atharvaveda
IX. 9, 7 erscheint. Vergleichen wir aber die
entsprechende Stelle im Rigveda I. 164, 6, so
ergiebt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass
anch das erstre fur den Atharva anzunehmen
ist, d. h., dass er die ursprüngliche Gestalt des
Verses treuer als der Rv. bewahrt hat. — Die
Stelle lautet im Rv.
äcüritväri cikitüsha? cid atra kavth prichami
vidmäne nä vidväh
Abgesehen von einer phonetischen Verschieden-
heit^ die von keinem Belang ist, weicht der
Ath. nur darin ab, dass er statt des Infinitivs
tidmdne (= griech. Ftdpsvai) , welcher noch
einmal im Rv. erscheint, das erwähnte vidtdnas
(cttforfno) hat. Uebersetzt man nach letzterer
Lesart, so ergiebt sich der wie sonst, so auch
in den Veden so beliebte Parallelismus: Ich
ein Unkundiger (frage) alle Kundige hier (d.h.
auf Erden); die Weisen frag ich die Wissenden
ein nicht Wissender'. Vergleiche Rv. I. 120, 2
tidvämsau — dvidtdn. Mir scheint der Sinn,
welchen die Rv.-Lesart giebt (die Weisen frage
ich, um es zu wissen9 jenem Gegensatz von nd
vidtän und tidvdnas weit nachzustehen, und es
ist mir daher wahrscheinlich, dass ein Sänger
(nicht die Diaskeuasten des Rv., s. weiterhin),
far den die Form vidvdnas ganz obsolet gewor-
den war, dafür den noch bekannten Infinitiv
sabstituirte. Doch will ich nicht unerwähnt
16 ; Gi)tt;:ge^j Anz. 1873. Stück 1.
lads^p, däsß raal' vielleicht in Rv. X. 88, 18
prtohSmi ,eahT kaeayo mdmdne kam eine Stütze
für mdmdne finden kann; was ich hier nicht
diskutiren will, da die Leseart des Ath., selbst
wenn man ihr keinen höheren Werth als dor
des Rv. zusprechen will, doch an und fur sioh
ein hohes Interesse verdient
: Doch genug dieser ' Abschweifung t Eine
rasche Durchsicht dieser ersten Lieferung ge-
währt die Üeberzeugnng, dass das Wörterbuch
den Wortschatz des Rigveda vollständig enthal-
ten, auch zugleich alle Formen desselben —
die verbalen und nominalen — darbieten wird,
und zwar nicht bloss, wie sie sich im Texte ge-
schrieben finden, sondern auch wie sie zu lesen
sind, z. B. ia statt ya} ua statt f>a> °t>anas statt
°tna$ u. s. w.
Dass es die gewöhnlichen Aufgaben eines
Wörterbuchs: — : Etymologie, Bedeutung, Syntax»
auch Besonderheiten der lautlichen Behandlung
von Wörtern — zu erfüllen bemüht ist, bedarf
kaum der Bemerkung. ' ,
ft a türlich wird der Hr. Verf. sich nicht für
alle Einzelnheiten seiner Darstellung allgemeine
Beistimmung versprechen und auch dem Ref.
ist manches begegnet, welches auch anderd an-
gesehen werden könnte. Doch darüber zu rech-
ten,, wird sich vielleicht eine Gelegenheit bieten,
wenn das Werk erst weiter vorgeschritten sein
wird.
Für jetzt beschränken wir uns darauf, zu-
nächst einen Irrthum des Hrn. Verls zu be-
richtigen, welcher sich auch^ ita Ptsb. Wtbch.
findet. So geringfügig er vielleicht Manchem
scheinen möchte , so ist die. Berichtigung doch
nicht ohne eine gewisse Bedeutung. Denn die
Gnssmann , Wörterbuch zum Rig-Veda. 17
Anomalie, welche dadurch hervortritt, gewährt,
ran«! in Verbindung mit nicht wenigen ahn-
Heben, einen Einblick in die Diaskeuase des
Bigveda, welcher den Charakter des fiberliefer-
ten Textes einigermassen aufhellt.
Unter den Casug des Nomen ushtra führt
Anüch der Hr. Verf. den Genetiv Plur., wie
fas Ptsb. Wtb., in der Gestalt ushirändm mit
tiogualem Nasal auf. Der Nasal ist aber, und
iwar gegen alle sonstige Analogie, dental. Die
Form erscheint nur zweimal im Rv. und zwar
beidemal im 8ten Mancfala ; in der ersten Stelle
(HU 5, 37) haben sowohl M. Maller als Auf-
recht den Dental, jener in beiden Texten (San-
lata und Pada), in der 2ten (VIH. 46, 22) hat
M. M. ebenfalls in beiden Texten den Dental;
Aufrecht dagegen deto Lingual; aber gerade in
dieser Stelle ratscheidet Rv. Präti?. V. 20, (M.
M. 357, 7; Eegnier p. 266) für den Dental.
Id Zusammensetzungen tritt zuweilen keine
neue Lingualisirung ein, wenn schon mehrere
Linguale sich in ihnen befinden; im einfachen
Worte sogar verhindert ein rt und r gewöhnlich
die Lingualisirung von $ zu sh ; man könnte da-
ta geneigt dein, die Bewahrung des Dentals
dem Einfloss der dem r vorhergehenden sht zu-
rasch reihen, allein die phonetischen Erscheinun-
gen m Zusammensetzungen geben keinen Mass-
stsb for die in einfachen Wörtern und die Um-
wandlungen von * keinen fur die Ton n. Zu
allem Ueberfluss aber bildet räshtra, in welchem
dem letzten r sogar drei Linguale vorhergehen,
räskträndm mit lingualem Nasal, so dass wir
bei ushtränäm die Bewahrung des Dentals wohl
einzig dadurch erklären können, dass die Di-
««keuAßten des Rigveda bei ihrer Fisdrung des
18 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
Samhita-Textes Regeln absolut nicht berücksich-
tigten, oder gar nicht kannten, sondern vielmehr
mit der unbefangensten Vorurteilslosigkeit den
Text genau so wiedergaben, wie sie ihn mit
dem wunderbar feinen Ohre, welches den Indern
überhaupt eigen zu sein scheint, aus dem Munde
derjenigen Träger und Ueberlieferer der Hym-
nen empfingen, denen sie das meiste Zutrauen
schenkten, welche sie unter allen ihnen zu-
gänglichen Hotar'8 fur die treuesten Be-
wahrer der Ueberlieferung halten zu dürfen
glaubten.
Und dieser aus diesem einzigen Fall schon
sich ergebende Schluss erhält durch eine ein-
gehende Betrachtung des uns überlieferten Veden-
textes eine solche Fülle von Bestätigungen, dass
man ihn als unzweifelhaft betrachten darf. Es
giebt fast keine noch so weit greifende Analo-
gie, welche nicht durch mehr oaer weniger Aus-
nahmen durchbrochen würde. So z. B., um nur
einen Fall zu erwähnen, finden wir in Bezug
auf den Uebertritt der Aspiration das Wort,
welches nach der allgemeinen Regel dhdkshoh
lauten muss, in der einen der beiden Stellen, in
denen es vorkömmt, nämlich X. 115, 4 wirklich
in dieser Gestalt, dagegen in der andern (II. 4,
4) ohne Aspiration ddkshoh (vgl. Prati$. 317
M. M.); beiläufig bemerke ich, dass dieses
Wort im Ptsb. Wtbch. auch in den Nach-
trägen fehlt; dha'kshat erscheint einmal (VI. 3,
4), dagegen zweimal ddkshat (I. 130, 8; II. 4,
7); dhdkshatah, welches nur einmal vorkömmt
rX. 91, 7 = Sv. II. 3. 2. 7. 2) hat dh; dhdhshi
dagegen erscheint an drei Stellen mit dh (I. 76,
3; IV. 4. 4 = VS. 13, 12; undRv. VI. 18, 10);
dagegen an zweien mit d (I. 141, 8 ; II. 1, 10);
Ghrassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda. 19
eben so dhakshfakah in der einzigen Stelle, in
welcher es vorkommt, mit d (I. 141, 7) ; umge-
kehrt hatte dagh + t<*m nach der allgemeinen
Analogie dagäham werden müssen; statt dessen
findet sich in der einzigen Stelle, in welcher es
vorkommt (L 183, 4), dhaklam, wofür sich nur
eise Analogie in dkattäm darbietet, welche auch
in das gewöhnliche Sanskrit übergegangen ist.
Aehnliche Schwankungen finden sich in den
meisten analogen Fällen ; dagegen nur dudvkshan,
wo der Pa da- Text, ohne Zweifel, weil dh in
anderen zu duh gehörenden Formen erscheint
(rgl. z. B. dhükshata VI. 48, 12 u. 13, aber
dahhata I. 160, 3; dhuhshan VIIL 1, 17, aber
d*k*kan I. 121, 8; nur dhuhshdnia VIIL 7, 3,
dhnhhdsva VIIL 13, 25; IX, 61, 15 = Sv. IL
5. 2. 20. 3; Val. 6, 7; dhukskea IV. 57, 2),
dülkukshan schreibt, während er in den Deri-
vaten des Desiderativ von dabh, trotz dem,
dass die Grammatik, ohne Zweifel auf gute
Autoritäten gestützt, nur dhipsa und selbst das
organischere dhipsa vorschreibt (vgl. sogar Upsa
im Ath. XX. 134, 5, im TBr. u. Ait. Br.,
Pteb. Wtbch., wo die Grammatik nur tipsa
kennt), dip*a hat, ohne Zweifel, weil keine hie-
ber gehörige Form mit dh im Rv. erscheint.
Diese und eine Menge ähnlicher Fälle in
tut allen Theilen der vedischen Grammatik ge-
ben die Ueberzeugung, dass der uns überlieferte
Text des Rigveda, ohne jedes Streben nach
Conpruenz, ganz so fixirt ward, wie er im
Munde der Sänger oder Recitirer zu der Zeit
lebte, als ihn die Diaskeuase feststellte.
Freilich giebt es auch Fälle, in denen man
eine in consequenter Weise durchgeführte Um-
wandlung des ursprünglichen Textes mit mehr
20 Gott. gel. Adz. 1873. Stack 1.
oder weniger Wahrscheinlichkeit nachweisen
kann, so z. B., wo der Rv. fast durchweg su-
vänd im Gegensatz zu dem im Sv. erscheinen-
den und durch das Metrum geschätzten svänä
bietet. Aber bei genauerer Erwägung ergeben
sie sich als solche, die sich schon im Munde der
Sänger gebildet hatten. Es versteht sich ja
von selbst, dass die lange mündliche Ueber-
lieferung nicht im Stande war, diese zum Theil
uralte Lieder treu zu bewahren. Es wirkten
speciell manche Momente zur Umgestaltung mit,
welche wir schon jetzt mit grosser Bestimmtheit
zu erkennen vermögen, so insbesondre ein sich
entwickelnder künstlicher Vortrag, welcher die
alte Gestalt auf das allertiefste afficirte und den
metrischen Bau nicht selten fast unkenntlich
machte. Natürlich waren auch Umwandlungen
der Sprache von Einfluss; nicht am wenigsten
aber die Einwirkung von Volkssprachen, welche
zur Zeit der Diaskeuase unzweifelhaft schon
herrschten und wohl schon lange vorher leben-
dig waren. Fälle z. B. wie düdhi für durdht,
düddbha (düläbha) für durdäbha, dtmäga für
durndga*), dcchä für *äkshä entsprechen be-
*) So Pada, wie denn dündea unter den Wörtern
aufgeführt wird, in denen ein Vokal, hier a, gedehnt ist
(Pr&tiQ. M. M. 578) und in der That kenne ich keine
Beispiele, in denen die Ptop. Fat. Pass, auf blosses a,
welche in der Zsstzg. mit dm and su erscheinen, wur-
zelhaftes a dehnen. Im Rv. erscheint dün&ga mit kur-
zem a zwar nur einmal QU. 56, 8), allein in vier Fällen,
wo langes d erscheint, lässt es sich entschieden ans dem
Einfluss des Metram erklären. Es findet sich nämlich
hier in der 2ten Silbe des P&da, wo Dehnung ron kur-
zen Vokalen so oft eintritt; diese Stellen sind L 176, 4;
VI. 27, 8; 45, 26; VII. 18, 25. An den beiden übrigen
Stellen VEL 82, 7. DL 63, 11 erscheint die Dehnung in
F
Grassmann, Wörterbuch zum Rig- Veda. 21
toumtlich so genau den präkritischen Lautge-
setzen, class man anerkennen muss, class diese
schon Tor der Feststellung des Veden-Textes
in den damals lebenden Volkssprachen herrsch-
ten; in düdhi ist rdh zunächst zu ddA geworden
(Lass. lust. L. Pr. 248. 252) dann Vokaldehnung
und Einbusse des einen Consonanten eingetreten
(Lass. S. 142. Tgl. speciell pr. niphura aus sskr.
mhspbwa vermittelst zwischenliegenden *nishphura,
dann *nipphura vgl. Lass. 260). Ebenso ward
in düabha rd zu dd (Lassen 252), dann 6 und
Einbusse eines d (ebds. 142); ebenso in dünä$a
m zu nn (ebds. 245) u. s. w. Was acchd be-
trifft, so vgL man Lassen S. 263. Doch genug
dieser Andentungen , welche ich an einer andern
Stelle eingehend zn verfolgen hoffe.
Dagegen möge man Ref. noch eine Bemer-
kung in Bezug auf die Partikel u erlauben.
Darüber heisst es bei dem Hrn. Verf. (ti und,
wo das Versmass die Länge fordert oder be-
gnn8tigt, ü geschrieben und zwar besonders häu-
fig in der zweiten Silbe der Verszeile vor ein-
facher Consonanz'. Obgleich diese Angaben im
Allgemeinen richtig sind, so sind sie doch bei
fenauer Betrachtung etwas anders zu fassen,
toter den, so viel ich gezählt habe, 26 Stellen,
in denen ü in der zweiten Silbe des Päda er-
scheint, sind nicht weniger als 10, in denen shu
(für su) folgt (nämlich I. 53, 1, wo ni ü shu zu
lesen, IV. 43, 6; V. 73, 4; 74, 9; VI. 24, 9;
YIII. 41, 21; 59, 92; X. 61, 27; 178, 1). Nun
der Stau Silbe des P&da, wo wir sie kaum als Folge des
Metrum betrachten dürfen; ich wage daher nicht mit
Sicherheit zu behaupten, dass & unorganisch sei; doch
ist es mir höchst wahrscheinlich.
22 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
erscheint es aber vor shu sehr häufig auch in
der 3ten Silbe des Pada gedehnt, wo, wie schon
bemerkt, Einfluss des Metrum schwerlich anzu-
erkennen ist; ich habe hieher gehöriger Fälle
nicht weniger als 45 gezählt, von denen jedoch
23 nur für einen gelten können, da sie einen
Refrain bilden. Die Stellen sind L 27 , 4 ;
36, 13; 45, 5; 112, 1—23; 138, 4; 184, 2;
IL 6, 1; 41, 7; III. 36, 1; V. 73, 8; 74, 10;
85, 5; VI. 15, 1; 16, 16; 25, 1; 27, 7; VII.
29, 2; VIII. 20, 19; 24, 1: 41, 1; 50, 5; IX.
110, 1; X. 10, 14. Ausserdem erscheint es vor
shu auch an 4ter Stelle gedehnt, X. 126, 6, wo
es jedoch auch dem Metrum die Dehnung ver-
danken könnte. Die Dehnung erscheint also vor
shu in 56 Stellen und wir mögen danach schon
vermuthen, dass sie vorwaltend dem Ein-
fluss des nachfolgenden shu verdankt wird.
Diese Annahme erhält aber keine geringe Be-
stätigung dadurch, dass, wo es ungedebnt vor
shu erscheint, mit Ausnahme der wenigen Fälle,
wo dieses in der 3ten Silbe Statt findet (es sind
deren, so viel ich angemerkt habe, nur 4; näm-
lich I. 26, 5; IV. 20, 4 ; VII. 93, 6 ; VIII, 26, 1),
die Kürze durch das Metrum herbeigeführt ist;
in I. 164, 26; IV. 55, 4; V. 83, 10; X. 40, 11
erscheint es in 11 oder 12 silbigen Pada's in
der 7ten Silbe, d. h. in der vorletzten Stelle des
2ten Fusses. In diesem herrscht aber choriam-
bischer Rhythmus vor, wie dieses, abgesehen
von den vedischen Beispielen, durch die daraus
entwickelten Metra des gewöhnlichen Sskrit,
Indravajrä und Upendravajrä, Vamgasthä und
Indravair/gä, bestätigt wird, in denen der Cho-
riamb allein in diesem Fusse eintritt. In I.
164, 26 bleibt u kurz, um den Choriamb selbst
Grassmann, Wörterbuch zum Rig-Veda. 23
iü bewahren , in den übrigen Fällen um den an
dieser Stelle so sehr häufigen Paeon quartus
Svw— ). Wir dürfen also als fast unverbrüch-
iche Regel aufstellen, dass die Partikel u vor
sku (für «*) gedehnt wird. Denn durch metri-
sche Einflüsse geschieht es nur sporadisch, und
an denselben Stellen, wo die aus metrischem
Einflösse erklärbare Länge erscheint, findet sich
eben so häufig , vielleicht noch häufiger (ich ge-
stehe nämlich, die Stellen mit kurzem u nicht
alle angemerkt zu haben) Kürze. So z. B. er-
scheint ü ausser der schon angeführten Stelle
(vor shu) in der 4ten Silbe nur noch einmal
(L 113, 11) und zwar vor nu; aber unter den
Stellen, in denen ü in zweiter Silbe vorkommt
— nach Abzug der 10 vor shu, noch 16 — , er-
scheinen nicht weniger als 7, in denen eben-
falls nu folgt, (nämlich I. 179, 1, wo apy zu
lesen; 179, 2; IL 29, 3; IV. 36, 2; VIII. 52, 5;
55, 9; X. 27, 6); noch ein 9tes Beispiel der
Dehnung vor nu findet sich in der 3ten Silbe
V. 85, 6, so dass man fast vermuthen sollte,
dass in der 2ten Silbe eher oder eben so sehr
der Nasal, als das Metrum, die Dehnung herbei-
geführt hat. Diese Annahme erhält wiederum
einige Bestätigung einerseits dadurch, dass un-
ter den noch verbleibenden 9 Beispielen der
Dehnung in der 2ten Silbe noch 2 sind, wo
das folgende Wort ebenfalls mit n beginnt (I.
77, 6 und VIII. 22, 13); andrerseits dadurch,
dass Beispiele in Menge existiren, wo u in der
zweiten, so wie der 3ten, 4ten, 6 ten, 7 ten un-
gedehnt erscheint.
Was die Regel betrifft, wo das Versmass
die Dehnung einer wortauslautenden Kürze er-
fordert, nämlich in der 6 ten Silbe eines 8silbi-
24 Gott, gel Abz. 1873. Stück 1.
gen und in der 8ten und lOten eines 1 1 oder
12 silbigen Päda, so findet sie sich an 7 Stel-
len beobachtet; nämlich in der 6ten Silbe im
VIII. 50, 12; in der 8ten in II. 18, 2; in der
lOten in 1. 140, 4; IV. 6, 11; X. 56, 1; 61,24;
130, 2. Doch findet sich auch hier wieder eine
Ausnahme in Bezug auf die 8te Silbe X. 161, 4.
Selbst die Hegel, welche im Allgemeinen
Dehnung einer auslautenden Kürze vor folgen-
der Position verbietet, findet, wie sonst, so
auch für u eine Ausnahme in IV. 1, 5 in 2ter
Silbe (es ist nämlich et ü zu lesen).
Wollen wir aus diesem Detail eine kurze
Regel für die Dehnung bilden, so werden wir
sagen müssen: Die Dehnung findet Statt 1. in
der 6ten Silbe 8 silbiger und in der 8ten und
lOten 11 und 12silbiger Pädas mit einer Aus-
nahme. 2. yor shu (für su), mit wenigen Aus*
nahmen, in der 2ten, 3ten und 4ten Silbe eines
P&da. 3. bisweilen auch sonst in der 2ten,
3ten und 4ten Silbe, insbesondre vor nu.
Mehr darf man schwerlich im Allgemeinen
angeben. Denn wenn gleich ü auch vor zwei
andern mit n anlautenden Wörtern in der 2ten
Silbe erscheint, so giebt es doch Fälle genug,
wo es vor n hier kurz bleibt, z. B. yor nünatn
V. 58, 1; vor nimnam I, 30, 2. Höchstens
könnte man noch bemerken, dass es zweimal in
der 2ten Silbe bei Bewahrung des Hiatus ge-
dehnt ist: ü ayän VI. 71, 5 und ü akrincan X.
88, 10. Denn es erscheint zwar vielfach auch
im Hiatus kurz, aber an andern Stellen des
Verses und unter andern Bedingungen (vgl. z. B.
I, 46, 10; 105, 2; 162, 21; IL 2, 46 u. aa.).
Die wenigen noch übrigen Fälle der Deh-
nung von i*, nämlich in der 2ten Silbe noch
Grassmann, Wörterbuch zum Rig- Veda. 25
ror picim TL. 35, 3; vor mahir VHL 55, 10;
tot povttram IX. 45, 4 und sutdsya X. 94, 8,
so wie in der 3ten Silbe vor tu X. 88, 6 ste-
hen, wie schon angedeutet, ganz vereinzelt und
legen, so wie die ganze auch hier hervortretende
Unregelmässigkeit, ebenfalls Zeugniss dafür ab,
dass die Diaskeuase, auf welcher unser Text
beniht, ohne jegliche Regel die Lieder so fest-
setzte, wie sie sie aus dem Munde derer em-
pfing, welche sie zu recitiren hatten.
Schliesslich hatte Ref. die Absicht, einiges
über die Formen zu bemerken, welche der Hr.
Yerf. als Themen, oder überhaupt an die Spitze
stellt Doch würde dies dieser Anzeige eine zu
grosse Ausdehnung geben; es möge daher für
die einer späteren Lieferung verspart werden.
Doch möge schon hier die Bemerkung verstattet
sein, dass Ref. kaum begreiflich scheint , warum
der Hr. Verf., der sich doch sonst nicht
▼on der indischen Ueberlieferung beherrschen
lässt, bei äccha, trotzdem, dass er nach Er-
wägung, dass äccha mit auslautender Kürze nur
am Ende eines Hemistichs und in zwei verein-
zelten Stellen erscheint (sogar am Ende eines
Päda und vor Position, wie wir noch besonders
hervorheben müssen), selbst abschliesst: 'Es
würde also hiernach besser äccha zu schreiben
sein', dennoch dcha an die Spitze stellt. Die
hier eintretende Verkürzung im Auslaut zeigt
uns, wie die Adverbia und Partikeln auf a, von
denen sich grösstenteils beweisen lässt, dass
sie ursprünglich auf ä auslauteten, zu der Ver-
kürzung ihres Auslauts gelangt sind und von
nicht wenigen derselben liegen in den Veden
deutliche Zeichen vor, dass sie im Zusammen-
hang der Rede und des Verses ihre Ursprung«
26 Gott gel. Anz. 1873. Stück 1.
liehe Länge noch sehr häufig bewahrten, also
im Sprachbewusstsein noch in beiden Formen
existirten. Wo dies aber so klar ist wie bei
äcchä, verdient die ursprüngliche Form natür-
lich die erste Stelle.
Es erübrigt nur noch unsre besten Wünsche
fur den Fortgang des Werkes auszusprechen,
von welchem Ref. keine geringe Förderung für
die Eenntniss des Indogermanischen Alterthums
und höchst dankenswerthe Hülfe für seine eig-
nen Arbeiten mit festester Ueberzeugung er-
wartet. Th. Benfey.
Die Entwicklung des gelehrten Rieht er-
thums in deutschen Territorien. Eine
rechtsgeschichtliche Untersuchung mit vorzugs-
weiser Berücksichtigung der Verhältnisse im Ge-
biete des ehemaligen Eurfürstenthums Hessen
von AdolfStölzel, Eammergerichtsrath, z. Z.
Hülfsarbeiter im Eönigl. Justizministerium zu
Berlin. Erster Band; Zweiter Band. (Anlagen.
Register.) Stuttgart. 1872. J. G. Cotta. (XIV,
619 S.; 2 Bl., 238 S. 8°.) 8 Thlr.
Die vorliegende Schrift ist durch die wieder-
holt gestellte Preisaufgabe der Rubenow-Stif-
tung: »Geschichte der Umwandlung der älteren
deutschen Gerichte in gelehrte Gerichte« zwar
nicht ursprünglich veranlasst, aber doch wesent-
lich in Folge derselben zum Abscbluss gediehen
und in die Oeffentlichkeit getreten. Der Ver-
I
Stölzel, D.Entwickl. d. gel. Richterthums etc. 27
ftsser, ein hessischer Praktiker, und rühmlichst
bekannt durch seine Monographie über die
opens novi nunciatio, seine Abhandlung über
Y&carius in der Zeitschrift für Recbtsgeschichte
rod andere Arbeiten , war bereits mit einer Ge-
schichte der Reception des Römischen Rechts
in Karhessen beschäftigt und hatte dafür Ma-
terial gesammelt , als die Preisaufgabe im Jahre
1867 zum zweiten Male gestellt wurde. Er be-
schränkte nun sein Thema, der Preisaufgabe
entsprechend , auf die Geschichte der Entwicke-
ln^ der gelehrten Gerichte, jedoch mit vor-
zogsweiser Rücksicht auf sein engeres Heimath-
land und ohne für ganz Deutschland etwas
Abschliessendes liefern zu wollen. In dieser
Gestalt preisgekrönt, wurde die Schrift einer
nochmaligen durchgreifenden Ueberarbeitung
unterzogen und endlich dem Drucke übergeben.
Da der Verf. keine Geschichte aller deut-
schen Gerichte schreiben wollte, sondern ein
einzelnes Land in den Vordergrund stellt, und
da er die Reichsgerichte ausgeschlossen hat,
glanbte er den Titel der Preisaufgabe nicht bei-
behalten zu dürfen. Da ihm ferner die Ent-
Wickelung unserer heutigen Gerichte weniger als
eine Umwandlung ungelehrter in gelehrte Ge-
richte, denn als eine Entwickelung gelehrten
Richterthums ausserhalb und zur Seite der un-
gelehrten Gerichte sich erwies, hat er seinem
Werke statt des Titels, den die Preisaufgabe
forderte, den obigen vorgesetzt.
Von den beiden Bänden, in welche das Werk
abgetheilt ist, begreift der erste die geschicht-
liche Darstellung, der zweite enthält Auszüge
ms Urkunden und Acten nebst Personal- und
Sachregistern zu beiden Bänden. Eine Unbe-
3*
28 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
quemlichkeit ist die Trennung des Personal-
registers zum ersten und zweiten Bande, wo-
durch bei vielen Namen doppeltes Nachschlagen
nöthig wird.
Im Eingange des ersten Bandes handelt der
Verf. von den Zielen und Schwierigkeiten der
»Aufgäbet und giebt dann Rechenschaft von
der benutzten Literatur, den Quellen und dem
Plane. Seine Quellen sind in erster Linie hes-
sische Archivalien, die er für die Geschichte
des Gerichtswesens in ausgiebigster Weise heran-
gezogen hat. Für die Geschichte des Rechts-
studiums benutzt er, ausser Reise- und Stamm-
büchern deutscher Juristen, die Universitäts-
matrikeln, namentlich die für Hessen wichtigen
von sieben deutschen Universitäten: Erfurt,
Leipzig, Wittenberg, Marburg, Mainz, Köln und
Heidelberg. Wie umfangreich das hieraus zu
schöpfende statistische Material ist, zeigt der
Umstand, dass der Verfasser allein an hessi-
schen Namen etwa 5500 ezcerpiert hat. Was
den Plan anbelangt, so gliedert sich der ge-
sammte Stoff in drei Bücher. Die Geschichte
des Rechtsstudiums bildet den Gegenstand des
ersten Buches. Das zweite Buch beschäftigt
sich mit den gerichtsherrlichen Beamten, mit
dem Aufkommen der Appellation, des schrift-
lichen Prozesses und der Actenversendung »als
den Vermittlern und Vorboten der Umbildung
des Volksgerichtswesens«. Das dritte Buch, der
eigentliche' Kern des Ganzen, betrifft die Ge-
schichte des Entwickelungsprozesses der gelehr-
ten Gerichte selbst. Dasselbe zerfallt in einen
allgemeinen Theil und in einen speciellen, den
hessischen Gerichten gewidmeten Theil.
Den Uebergang zum Folgenden macht eine
Stolzel, D. Entwickl. d. gel. Richterthums etc. 29
gut geschriebene Einleitung, welche zu den be-
sten Partien des Werkes gehört. Sie geht von
dem anerkannten Satze aus , dass in der Re-
ceptionsgescbichte des R. R. nicht dieEenntniss
des fremden Rechts, wie solche in Urkunden
und Actenstücken hervortritt, das Entscheidende
ist, sondern seine praktische Anwendung in den
Gerichten, and zwar in den weltlichen Gerich-
ten. Während die geistlichen Gerichte schon
Jahrhunderte früher, als die Volksgerichte, nach
R. R. entschieden, beginnt die theilweise Be-
setzung der Territorialgerichte mit Gelehrten
am Schlüsse des XV. Jahrh., und erst im XVII.
Jahrh. vollendete sich die Verdrängung der
Volksgerichte, deren letzte Reste bis an die
Schwelle der Gegenwart fortdauerten. Die Auf-
nahme des Römisch -canonischen Prozesses,
▼eiche überall der Aufnahme materieller Römi-
scher Rechtssätze voranging, das Hinübergreifen
der Geistlichkeit in den Rechtsverkehr vor den
weltlichen Gerichten bezeichnet nur ein vorbe-
reitendes Stadium im Verlaufe der Reception.
Vollzogen war die Umwandlung der Volksge-
richte und die Aufnahme des R. R. in die welt-
liche Gerichtspraxis, nachdem die Rechtsprechung
in weltlichen Angelegenheiten sich von geist-
lichen Einflüssen losgesagt hatte. Von politi-
schen Ereignissen gab der dreissigjährige Krieg
den Volksgerichten den empfindlichsten Stoss.
Für Hessen war ausserdem von Bedeutung die
Einführung der Reformation und die* Napoleoni-
sche Zwischenherrschaft; letztere beseitigte 1806
mit der Gerichtsbarkeit der Städte die Reste
der alten Gerichte. — Mit dem Aufleben des
gelehrten Richterthums ging das Absterben der
städtischen und ländlichen Schöffengerichte Hand
in Hand. Von besonderer Wichtigkeit sind die
30 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
Schiedsgerichte: sie vermittelten den Einfluss
des clericalen Elements auf die Rechtsprechung
in weltlichen Angelegenheiten, sie zuerst von den
weltlichen Gerichten waren mit Gelehrten be-
setzt, sie begründeten den Uebergang zur Bil-
dung der fürstlichen Canzleien und damit zu
den gelehrten Gerichten überhaupt. Vor der
Umbildung der niederen Gerichte entwickelten
sich die gelehrten Gerichte der oberen Instanz
in den fürstlichen Canzleien, Regierungen und
Hofgerichten. Die Reichsgerichte hat der
Verf. nur für einen einzelnen Punkt in den
Kreis der Untersuchung gezogen, indem er mit
Beziehung auf Hessen den Einfluss des Reichs-
* kammergerichts auf die Umwandlung der Schößen-
gerichte erörtert. Ohne allen Einfluss auf die
Entwicklung der weltlichen Gerichte blieben
die geistlichen Gerichte als solche, so tief-
greifend auch die Wirksamkeit war, welche
die Geistlichen ausserhalb ihrer Gerichte ent-
falteten.
Die Geschichte des Rechtsstudiums im er*
sten Buche verfolgt der Verf. von den frühesten
Spuren bis zum Beginne des XVH. Jahrh. Er
unterscheidet drei Entwicklungsstufen. In der
ältesten Periode wird das R. R. fast ausschliess-
lich vom Clerus und lediglich im Interesse des
Clerus in Deutschland gepflegt. Es folgt ein
Uebergangsstadium , in welchem die Cleriker
als praktische Hofjuristen das fremde Recht
auch in weltlichen Angelegenheiten nutzbar ma-
chen, und zugleich das civilistische Studium
eine Nebendisciplin der Artisten wird. Die
dritte Periode, durch die Reformation geför-
dert, ist die entscheidende Zeit: das Studium
des R. R. gewinnt selbständigen Werth und
selbständige Existenz, es fasst im Laienstande
Stölzel, D. Entwickl. d. gel Richterthums etc. 31
Wurzel, zuerst im Kreise der Bürger« und
Ratbefamilien der Städte, dann auch des Adels,
es bildet sich das gelehrte Richterpersonal der
Volksgerichte. In dieser Periode constatiert der
VerfL einen bemerkenswerthen Unterschied zwi-
schen den Beziehungen Deutschlands zu aus-
ländischen Hochschulen (§. 2) und dem Rechts-
ftodinm auf deutschen Universitäten (§. 3).
Auf den italienischen und französischen Univer-
sitäten blühte in der zweiten Hälfte des XVI.
Jahrb. da» Studium des deutschen Adels und
hohen Patriciats, wodurch die Volksgerichte
nur sehr indirect berührt wurden; auf den
deutschen Hochschulen dagegen erwuchsen um
dieselbe Zeit die gelehrten Richter der Volks-
gerichte aus den minder bevorzugten städti-
schen Geschlechtern. Zwei weitere Paragraphen
Hefern statistisches Material über die Verbrei-
tung der Hessen auf deutschen und ausser-
deutschen Hochschulen (§. 4) und über das
Verhältnis der Stände unter den hessischen
Studierenden (§. 5),
Unter den »vermittelnden Elementen« des
zweiten Buches, welche der Einführung gelehr-
ter Richter Vorschub leisteten, nimmt die Aus-
bildung des landesherrlichen Bestätigungsrechts
der Richter die erste Stelle ein (§. 7). Die drei
am häufigsten vorkommenden Kategorien ge-
richtsberrhcher Beamten sind der Amtmann,
welchen die Sicherung des Gerichtsbezirks ob-
liegt und die Oberaufsicht zusteht, der Rent-
meister , welcher die Finanzgeschäfte des Bezirks
besorgt, aber auch vielfach an der Rechtspre-
chung Theil nimmt, und der Schultheis, wel-
chem der Vorsitz im Gerichte und der Vollzug
der Erkenntnisse vorbehalten ist. Da die Amt-
männer am dem Stande des Adels, die Schult-
32 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
heisen aus den Gerichtseingesessenen hervorgin-
gen, hielt es schwer, für diese Stellen gelehrte
Juristen zu finden. Als Träger der neuen Zeit-
ströroung für die Landgerichte erscheinen die
Rentbeamten, aus ihnen hauptsächlich entwickeln
sich die Einzelrichter der Neuzeit. — In der
Anwendung der Appellation (§. 8) schritt die
Geistlichkeit, wie überhaupt in Anwendung der
fremden Rechtsinstitute, voran. Es dürfen da-
her Fälle, in denen geistliche Richter thätig ge-
wesen sind, bei der Frage nach dem Aufkom-
men der A. in den weltlichen Gerichten nicht
mitgezählt werden. Indem der Verf. eine Reihe
solcher Fälle zurückweist, thut er dar, dass,
abgesehen von dem höchsten Reichsgerichte, erat
am Ende des XV. Jahrh. die A. in den weltli-
chen Gerichten auftaucht, und dass allgemein
erst im XVI. Jahrh. die Berufung an den Ober-
hof durch die A. der Niedergerichte an den Ge-
richtsherrn ersetzt wird. — Für das Aufkom-
men des schriftlichen Prozesses (§. 9) werden
aus Hessen mehrfache Beispiele zusammenge-
stellt, die frühesten aus den Jahren 1407 und
1459, zahlreichere seit der Hofgerichtsordnung
v. 1 500, welche die Ueberreichung von Prozess-
schriften zuliess. — Der entscheidende Wen-
depunkt für die Umbildung des alten Gerichts-
wesens liegt in dem Aufkommen der Actenver-
sendung (§. 10), und zwar derjenigen, welche
die Schöffengerichte an Juristenfacultäten oder
einen rechtsgelehrten Schöffenstuhl bewirkten,
um sich des Urtheils zu erholen. Dieses Insti-
tut hat sich aus zwei verschiedenen, lange ne-
ben einander bestandenen Instituten vereinigt,
einerseits aus der Einholung von Rathschlägen
(Consilien) ausserhalb der Volksgerichte, anderer-
seits aus der Einholung von Oberhofssprüchen
Stofeel, D. Entwickl. d. gel. Richterthums etc. 33
innerhalb der Volksgerichte. Die Zeit der Ver-
einigung setzt der Verf. in das Ende des XVI.
Jahrb. Den Beweis dafür erbringt er durch eine
geschichtliche Darlegung der Sitte der Consi-
lienertheilung, sowie des Absterbens der Ober-
hofe und durch Ermittelung der frühesten Fälle,
in denen die Juristenfacultäten für die Volksge-
richte die Urtheile abfassen.
Im dritten Buche endlich führt der Verf. seine
Auflassung der Entwicklungsgeschichte des ge-
lehrten Richterthums weiter aus und begründet
sie des Näheren. Nach ihm gestalten sich nicht
die Schöffengerichte in gelehrte Gerichte um,
sondern neben die Schöffengerichte tritt die
obrigkeitliche Gewalt; sie erwirbt die Befug-
niss, Recht zu sprechen, an Stelle des Ge-
richts; auf das »Amte geht die Competenz
des »Gerichts« über. Der Uebergang der
Rechtsprechung von den Gerichten auf das Amt,
d. h. die Verwaltung, ist das Wesentliche
der Entwicklung gelehrten Richterthums. Die
neueste Zeit trennt wieder die Justiz von der
Verwaltung, aus dem »Amte« scheidet sich das
»Gerichtsamte (oder »Justizamt«) aus, schliess-
lich yindiciert sich das Amt in seiner jurisdiction
nellen Thätigkeit den Namen des »Gerichts«
und wird zum »Amtsgericht.« Wie bei den
lindlichen Gerichten, wenn auch nicht in glei-
cher Reinheit, wiederholt sich derselbe Gegen-
satz zwischen Gericht und Amt bei den städti-
schen und den oberen Gerichten. Was das Amt
for das flache Land, sind für die höheren Ge-
richte die fürstlichen »Räthe« , der > Hof rath«,
die »Ganzlei«, fur die Stadtgerichte die »Schult-
heisen« oder die »Consulenten«, die »Stadtad-
vocaten«, die an Stelle des ordentlichen Ge-
richts als »Gommissarec erkennenden rechtsge-
U Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
lehrten Deputierten. Das Medium, mittelst des*
sen die Rechtsprechung von den Gerichten auf
die Aemter, Canzleien, Räthe und Deputierten
übergeht, ist vorzugsweise ausdrückliches oder
stillschweigendes Comproraiss (»Willkür«) der
Parteien, vielfach auch Commission (»Verord-
nung«) des Gerichtsherrn. Demzufolge ent-
wickelt sich unser gelehrtes Richterthum der
Hauptsache nach ans gewillkürten oder verord-
neten Richtern. Nur bei einer verhältnissmässig
nicht grossen Zahl von Stadt- und Hofgerichten
fasst der Gelehrtenstand im Schosse des Ge-
richts, nicht neben dem Gerichte Wurzel, so
aase sie, aber auch nur sie, allmählich zu ge-
lehrten Gerichten umgewandelt werden. Und
auch bei diesen Hof- und Stadtgerichten ist es
sehr gewöhnlich , dass statt des vollen Col legs
die gelehrten Beisitzer als Gommissare judicie-
ren , oder dass denselben ausschliesslich die Be-
arbeitung des Prozesses zufällt.
Den eben geschilderten Entwicklungsgang
sucht der Verf. im Einzelnen nachzuweisen. Da-
bei legt er seine Forschungen über das hessi-
sche Gerichtswesen zum Grunde, für die ande-
ren deutschen Länder standen ihm nur spora-
dische Nachrichten zu Gebote; die hieraus ge-
wonnenen allgemeineren Gesichtspunkte sind im
ersten Theile des dritten Buches niedergelegt.
Sie erstrecken sich nacheinander auf die oberen
Instanzen (§. 12), die grösseren (§. 13), dann
die kleineren Stadtgerichte (§. 14), die Landge-
richte (§. 15), die Patrimonialgerichte (§. 16),
peinliche Gerichte (§. 17), Rügegerichte (§.18).
Der zweite Theil bietet eine Detailgeschichte der
hessischen Gerichte in drei Capiteln. Das erste
Gapitel bezieht sich auf die oberen Instanzen
und behandelt die Bedeutung des Reichskam-
Stölzel, D. Entwickl. d. gel. Richterthums etc. 35
mergerichts far die hessischen Gerichte (§. 20),
die Canzleien zu Kassel und Marburg (§. 21), das
Hofgericht zu Marburg (§. 22), das Oberappel-
lations- und das Sammtreviwonsgericht zu Kassel
(§. 23\ Das zweite Capitel fasst in fünf §§•
(24—28) die Stadtgerichte zu Kassel, Marburg,
Fritzlar, Fulda und das Stadt- und Landgericht
zu Ziegenhain zusammen. Das dritte Capitel hat
die Landgerichte zum Gegenstande , die in herr-
schaftliche (§§. 29—32) und patrimoniale (§§. 33
—39) geschieden werden.
Wir müssen es uns versagen, dem Verf. in
alle Einzelheiten seiner mühsamen Untersuchung
zu folgen. Nur eine möglichst treue Skizze konn-
ten wir von dem reichen Inhalt und den Resul-
taten des Buches geben. Zum Schlüsse betont
der Verf. mit besonderem Nachdruck, wie der
Zug unserer Zeit auf eine volksthümliche Umge-
staltung der Rechtsprechung und des Gerichts-
wesens hinstrebt, und wie daher eine Reform
des Universitätsunterrichts unerlässlich sei. Er
fordert das Aufgeben der bisherigen Lehrmethode,
Beseitigung der Trennung zwischen heutigem
Römischem und Deutschem Rechte auf den ju-
ristischen Bildungsanstalten, und vor Allem eine
grundliche praktische Durchbildung derjenigen
Theoretiker, welche das heutige Recht lehren
vollen. n ^
Göttingen. Dr. Emil Steffenhagen.
36 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
P. Niemeyer. Medicinische Abhandlungen«
Band I. Atmiatrie, eine practische Studie. Er*
langen. E. Enke. 1872. 8. 207 Seiten mit zehn
Holzschnitten.
Der ungeheure Fortschritt der Naturwissen-
schaften, das dringende Bedürfniss der Thera-
I)ie, ihre Heilsagentien zu präcisiren, und der
ebhafte Drang intelligenter Kranken, ihre Ge-
sundheit wieder zu erlangen, haben in den letz-
ten Jahrzehnten sich vereint, neu entdeckte Ge-
biete der Naturlehre in ihren Beziehungen zur
Medicin, zur kranken Menschheit klar zu legen.
Das gemischte Publikum, welches sich in der
Bearbeitung dieser Felder begegnet, lässt schon
schliessen, dass diese Gebiete streitige sind, dass
sie mehr oder weniger von allen als Dilettan-
ten heimgesucht werden , und wenn auch der
Einzelne in seiner Bearbeitung, wie gewöhnlich
jeder Dilettant, eine grössere Begeisterung er-
ringt, so sieht man doch von vornherein der Ar-
beit an, dass sie eine einseitige und oberfläch-
liche ist.
In dieses Bereich gehört auch die vorliegende
Schrift, deren Verfasser sich als begeisterter
Luftheilkünstler darstellt. N. hat ßich durch eine
selbstständige Lehre der Percussion und Au-
scultation einen rühmlichen Namen gemacht. In
der Atmiatrie schlägt er einen populären Ton
an; er behandelt die Lehre von der Athmung,
ihre Schädlichkeiten und ihre Heilmethoden durch
Luftkuren. Es ist eine Compilation aus physi-
lalischen , touristischen und balneotherapeutic
sehen Schritten für practische Aerzte. Durch-
aus lässt sich der ernste Sinn der Arbeit nicht
verkennen, aber die Art des Gegenstandes, der
äusserst unfertige Stand der Lehre bringen es
Niemeyer, Atmiatrie, eine practische Studie. 37
mit sich, da8s nicht immer der Ton der Cau-
serie vermieden wird. Man muss sich beim
Durchlesen des Buches stets fragen, ob der Wis-
senschaft und einem wissenschaftlich strebenden
Forscher nicht besser genützt wäre, wenn N.
einen kleinen Theil der vielerlei Dinge in seine
Bestandteile zerlegt, und dann eine tiefere,
wissenschaftliche Fassung versucht hätte.
Der physicalische Theil der Atmiatrie be-
weist, dass das durch die jetzigen Culturzustände
vielfach gehinderte Vollathmen zur Erhaltung der
Gesundheit nothwendig und daher mit Kunst zu
üben ist. Die Nase ist der künstliche Respira-
tor, daher soll das Athmen durch die Nase ge-
schehen. Die Lungenspitzen liegen durch ana-
tomische und physicalische Anordnung für die
Athmung am ungünstigsten und sind daher am
meisten Erkrankungen ausgesetzt.
Die technische Atmiatrie behandelt die Luft-
lehre für den Culturmenschen , vor allem die
Luft der Zimmer. Die schädliche Wirkung feh-
lerhafter Luftbeimischungen entfaltet sich bloss,
wenn sie über ein gewisses Mass hinausgehen.
Sehr nebenbei wird der Staub als schädliche
Beimischung erwähnt, er verdiente eine weit
grössere Beachtung. Die verschiedenen Ofen-
formen und die Arten der Ventilation werden
sehr eigehend kritisirt.
Die klimatische Atmiatrie giebt eine ency-
klopädische Uebersicht der Geophysik, setzt den
Begriff »Klima« auseinander nach Dove und
Mühry.
Die therapeutische Atmiatrie enthält jedes-
falls das meiste Eigene und bildet daher den
Theil, der am meisten anspricht. Er sucht die
Klimatotherapie auf allgemeine Begriffe zu brin-
gen und dadurch richtige Indurationen zu lie-
38 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 1.
fern. Indem der Verf. dann die Verhältnisse
und Leistungen einzelner klimatischer Kurorte
durchnimmt, kommt er zu dem Satze, dass
gleiche Luftkurorte in unseren Gegenden eben
so gut zu finden wären. Es kennzeichnet aber
seine leichte Weise der Arbeit, wenn er nach
einer zufällig gelesenen Zeitungsnotiz, ohne jede
eigene Kunde Altenbrack im Harze als solchen
Luftkurort empfiehlt.
Die praktischen Folgerungen, welche sich
daran schüessen, enthalten manche sehr richtige
Bemerkungen, besonders kämpft N. gegen die
Erkältungsfurcht an. Hier wäre gerade ein
Punkt gewesen, wo eine eingehende Unter-
suchung frommte. Was ist Erkältung? Der
Einfluss der Nerven bei dieser supponirten
Krankheitsursache ist schon der Discussion
unterzogen. N. kommt auch auf kalte Füsse
zu sprechen. Es verdiente eine nähere Unter-
suchung , welchen schädlichen Einfluss die Kälte
der Extremitäten übt. Dass durch sie das Brut
abgekühlt und die Temperatur des ganzen Men-
schen herabgesetzt werden muss, liegt auf der
Hand. Wie hierin der Grund zu Erkältungen
liegen kann, Hesse sich dann weiter erforschen*
B.
Der gothische Conjunctiv verglichen
mit den entsprechenden Modis des neutesta-
mentlichen Griechisch von Dr. Ferd. Burck-
hard. Zschopau. Verlag von F. A. Baschke,
1872. — 36 SS. Oct.
In dem früher von mir besprochnen *) ersten
*) VergL G, G. A 1872 Stuck Öl.
Burckhardt, Der gothische Conjunctiv. 39
Bande der Germanistischen Studien von Bartsch
befindet sich ein Aufsatz von A. Köhler: der
syntaktische Gebrauch des Optativs im Gothi-
schen. Dieser reichhaltige Artikel, den Herr
Burckbardt noch nicht gekannt hat, verbreitet
sich über dasselbe Thema — denn Conjunctiv
und Optativ sind nur verschiedene Bezeichnun-
gen fur denselben gothischen Modus — mit
grösserer Genauigkeit und zeigt auch eine nach
unserer Ansicht glücklichere Eintheilung und
Ordnung des Arbeitsfeldes. Da Herrn Burck-
hardt indess aus der Nichtkenntniss derKöhler-
schen Arbeit, welche nur wenig früher erschie-
nen, kein Vorwurf erwachsen kann, und er
seinen Stoff gleichfalls mit Fleiss und nicht
ohne Geschick behandelt hat, so will ich einer
kurzen Besprechung des Schriftchens, das im
Anschluss an die Syntaktischen Forschungen
Delbrücks (auf dem Gebiet des Griechischen
und Sanskrit) entstanden sein will, nicht aus-
weichen, und dabei das schon angedeutete Ur-
theil etwas weiter begründen.
Der Hauptunterschied zwischen beiden Ar-
beiten ist ein doppelter: einmal nämlich legt
A. Köhler auf das Verhältniss des gothischen
Modus zum griechischen weit weniger Gewicht,
als Herr Burckhardt , ohne es übrigens irgendwo
ausser Acht zu lassen*), und dann entnimmt
Herr E. sein Eintheilungsprincip in erster Linie
den verschiedenen Functionen des gothischen
Optativ, während die Beschaffenheit der Sätze,
in welchen solche Functionen auftreten, nur zu
Unterabtheilungen Anlass giebt. Es wird also
der gothische Modus zunächst in die Functionen
des eigentlichen Optativs, des Adhortativus, des
*) YergL hierüber Germ. Stud. I, S. 78 oben«
40 Gott gel. Anz. 1873. Stück 1.
Dubitativus oder Deliberativus und des Poten-
tialis geschieden , und es tritt in jedem dieser
4 Fälle zunächst eine Scheidung nach der
Form des Satzes, ob dieser nämlich selbst-
ständig oder abhängig ist, ein — mitunter
auch noch eine weitere Gliederung der Erschei-
nung in abhängigen Sätzen. Herr Burckbardt
dagegen macht die Form des Satzes zum Haupt-
eintheilungsfactor : nach Haupt-, Neben- und
Frage-Sätzen wird zunächst unterschieden, und
es treten sodann die einzelnen Functionen des
Modus als bestimmend für die Unterabtheilungen
hinzu. Die Bestimmung der Function geschieht
freilich meist nur indirect durch Gleichsetzung
mit den entsprechenden griechischen Modis, so
dass dem ganzen Verfahren eine geringere Tiefe
der grammatischen Auffassung inhaerirt, ohne
dass ich es darum völlig verfehlt nennen möchte.
Eine mehr äusserliche Anordnung des Stoffs
kann unter Umständen dem Gebrauchenden be*
quemer sein: namentlich die Beispielsammlung,
welche Herr B. S. 30 fg. giebt, verdient in die-
ser Beziehung alles Lob und sichert der Arbeit
einen gewissen selbstständigen Werth. Nicht
verstanden habe ich, wie S. 4 der goth. Conjunctiv
im selbstständigen Urtheilssatze einmal dem gr.
Conjunctiv und dem gr. Futurum gleich gesetzt
wird, sonst aber (S. 4 unten und S. 30) nur
dem gr. Futurum.
E. Wilken.
41
GSttingisehe
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
8tttck 2. 8. Januar 1873.
^ Sacuntala annulo recognita. Fabula scenica
CalidasL In usum scholaruin Academicarum
textum recensionis Devanagaricae recognovit
atque gloasario Sanecritico et Präcritico instruxit
Carolas Burkhard Phil. Doct. in gymnasio
Academico Vindobonensi professor. 8°. Breslau.
Kern's Verlag. 1872.
Der Herausgeber dieser neuen Ausgabe der
^akuntala Herr Professor Dr. Burkhard erhebt
sieht den Anspruch einer wissenschaftlichen Be-
arbeitung dieses Dramas. Er will einen Text
zum Gebrauche bei Vorlesungen geben und
legt das Hauptgewicht auf das beigefügte Wör-
terbuch. Herr B. befindet sich in einem be-
dauerlichen Irrthume , wenn er meint , dass eine
Ausgabe in usum scholarum Academicarum das*
Recht habe, hinter dem jetzigen Stande der
Wissenschaft xurückznbleiben. Das Veratändniss
der Qak.ist durch zahlreiche Erklärer und Ueber«
seteer nicht schwierig, Trotzdem hat der Heraus-
geber gerade dieses Dramas bei dem fast unglaub»
liehen Schwanken der Handschriften keine leichte
Aligebe, die er nur mit Hülfe eines umfassenden
4
42 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
und kritisch gesichteten Materials bewältigen
kann. Dies stand nun Herrn B. nicht zu Ge-
bote, und wir wünschten, er wäre bei seinem
ursprünglichen Plane , den Text nicht zu ediren,
stehen geblieben; er ist dieser Aufgabe nicht
gewachsen. Es bleibt uns ein völliges Rätbsel,
wie man es wagen kann, die (}ak. von neuem
herauszugeben, ohne vorher die Frage über die
Recensionen genau untersucht zu haben und
man liest mit Staunen, dass der Herausgeber
erst von anderen das consilium accipere (sie !)
muss, diese Frage überhaupt zu erwägen.
Burkharde Hauptquelle ist die Ausgabe von
Böhtlingk, die ja ihrerseits wieder nur auf
Collationen anderer beruht. Trotzdem ist diese
Ausgabe ihres werthvollen Gommentars wegen
die einzige, die die Bezeichnung »egregia« ver-
dient; »plures egregiae editionesc, die Herr B.
kennt, sind mir unbekannt. Er wird doch wohl
nicht im Ernste die unkritische Ausgabe von
Monier Williams als eine egregia betrachten?
Dies scheint indess doch seine Ansicht zu sein,
da er es — fast unglaublich zu sagen — der
Mühe für wertb hält, die Lesarten derselben
von neuem abzudrucken. Dasselbe Schicksal
erfahren, ausser den Lesarten der Böhtlingk'-
schen Ausgabe, auch die der Bombayer Aus-
Sabe, obwohl diese, worauf ich bereits vor 2 Vi
ahren aufmerksam gemacht habe, nur ein un-
kritischer Abdruck der unkritischen Williams'-
schen Ausgabe ist. Hr. B. hat dies gar nicht
bemerkt, oder nicht bemerken wollen und er
geht in seiner Sorgfalt so weit, sogar die Druck-
fehler dieser Ausgabe anzumerken. Ferner lügt
er die Lesarten zweier unbekannten Handschrif-
ten bei. Von einer derselben (Chambers 272)
hatte bereits Spiegel (Münchener gelehrte An-
Burkhard, Sacuntala annulo reoognita. 43
zeigen 1846) bemerkt, class sie fur die Consti-
tmrong des Textes werthlos sei und kann ich
dies nach eigener Einsicht völlig bestätigen.
Herr B. hat bei weitem nicht alle Fehler dieser
Handschrift notirt, woran er sehr recht gethan
hat, da sonst seine Ausgabe noch an Umfang
gewonnen haben würde. Es fehlen aber auch
wirkliche Varianten, wie z. B. p. 4, 3 seiner
Ausgabe die Berliner Handschrift ännattam und
^Indalam i. e. s&undalam, p. 10, 9 wie w und
T karishyati liest; p. 9, 3. 10, 19 fehlt in der
Handschrift iti; p. 12, 2 hat sie samupapannam,
p. 31, 1 naluhadi earn, p. 32, 16 madanveshinaA
wie H, p. 33, 5 hat auch diese Handschrift
asambhramam wie C, p. 33, 18 fehlt wieder
iti, u. 8. w. u. 8. w. Sehr viele andere Les-
arten sind ganz ungenau angeführt, orthogra-
phische Eigentümlichkeiten unberücksichtigt
geblieben. Die andere Berliner Handschrift
(Chambers 308) betrachtet HerrB. als zur ben-
galischen Recension gehörig. Es ist dies ein
grober und nach eigener Einsicht des Manu-
skriptes unverzeihlicher Irrthum, den Herr B.
wenigstens in der Einleitung, die ausser zahl-
reichen Germanismen auf fünf grossgedruckten
Seiten vier grammatische Fehler enthält, und
deren Druck, da sie vom Juli 1872 datirt ist,
nicht 2*/s Jahr erfordert haben kann, hätte be-
richtigen müssen. Da Herr B. auf p. 36 des
Wörterbuches meine Dissertation erwähnt, so
muss er wohl meine Angaben über diese Hand-
schrift, die ieh während meines Aufenthaltes in
Berlin nochmals geprüft habe, falsch gefunden
haben. Dass er aber nicht der Mann ist, auf
dessen blosses Wort hin die Gründe anderer
sichtig gemacht werden, denke ich bald zu
zeigen. Die Handschrift enthält einen aus bei-
n
44 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 2.
den Recensionen gemischten Text. — Inter-
essant sind die aus einer leider unvollständigen
Teluguhandschrift der Eopenhagener Bibliothek
mitgetheilten Varianten. Hr. B. hat indess nicht
das Original, sondern nur eine ohne Zweifel
sehr schlechte Umschrift in lateinische Buch*
staben benutzt. Obwohl sich aus der Vorrede
nicht ergiebt, ob auch das Original zu Rathe
gezogen worden ist, so kann doch niemand, der
eine südindische Handschrift durchgesehen hat,
zweifeln, dass Herrn B. Angaben einzig und
allein aus der Abschrift stammen. Es ist eine
Unmöglichkeit, dass die Kopenhagener Hand-
schrift von den hiesigen südindischen Hand-
schriften so abweicht, wie. dies nach H. B. An*
gaben der Fall sein müsste. Die meisten Eigen-
thümlichkeiten südindischer Manuskripte sind
gar nicht , einige nur selten erwähnt, und dann
findet man gewöhnlich ein Ausrufungszeichen
dahinter, das sich der Herausgeber hätte schen-
ken können, wenn er das Original durchgesehen
hätte. H. B. hat aus dieser Handschrift nicht
den Nützen gezogen, den er hätte ziehen kön-
nen. Vortreffliche Lesarten sind ganz unbe-
rücksichtigt geblieben und die schlechten Les-
arten anderer Handschriften beibehalten wor-
den. Vor allem aber hat er gar nicht bemerkt,
dass diese Handschrift eine ganz neue vierte
Recension der Qakuntalä enthält, die man als
die südindische bezeichnen kann, da sie vor-
nehmlich in südindischen Handschriften vorliegt
Es befinden sich von dieser Recension hier in
London vier Handschriften und ein Commentar
dazu von Abhiräma; der zweite Commentator der-
selben ist Käfavema. Ich werde darüber dem-
nächst ausfuhrliche Mittheilungen machen und
bemerke hier nur, dass sie in allen Haupt-
Burkhard, Sacwvala annulo reoognita. 4*
«geBthfrmliehkeiten mit der Devan&gärt-Becen-
sioo übereinstimmt, im einzelnen aber der ben-
galischen Recension viel näher Bteht als jene;
dass sie noch kürzer ist als die Dev. rec, aber
diese durch Reinheit des Textes besonders auch
de* Prakrit weit übertrifft. Es würde völlig
vnnütz sein , anf den Text, wie er in B.'s Aus-
gabe vorliegt , näher einzugehen ; es könnte dann
keine Seite unbesprochen bleiben. Höchst un-
glücklich ist der Heransgeber, wo er sich wie
in dist. 114 in das Reich der Gonjectnren ver-
irrt. Sein Text ist unbrauchbar, weil unwissen-
schaftlich und schon beim Erscheinen veraltet«
Wenden wir uns nun sum Wörterbuche, so
sollte man, da H. B. ihm seine Hauptsorge zu-
gewendet bat , vermuthen , dass er hier selbst-
ständiger und vorsichtiger sein würde. Das ist
aber keineswegs der Fall. Er begnügt sich,
fleissig die Wörter zu sammeln und die Ansich-
ten anderer ohne Prüfung aufzunehmen. Ich
will, um diee zu beweisen, einige Beispiele an-
führen, kann mich aber auch hier kurz fassen,
da ich einige derselben demnächst ausführlicher
behandeln werde.
s. v. a*i$nka giebtH. B. wie B — R. und Mo-
nier Williams als erste Bedeutung >folmm« an.
Diese Bedeutung hat aber amguka nie, Die in
B — R. ans dem Meghadfita angeführte Stelle be-
ruht auf einer schlechten Lesart bei Gildemei-
ster, die weder Mallin&tha noch die südindischen
Ausgaben kennen. Das R&janighanfu aber hat
gar nicht, wie Rädhak&nta Deva im Qabdakal-
padruma angiebt und worauf Böhtlingks An-
nahme beruht, die Bedeutung »patram«, son-
dern es liest nach East-India-Office MS. 1214
tanq ukam tamalapatram vastram, und so hat auch
GroVästücker 8. v. amguka als fünfte Bedeutung
46 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
ganz richtig »the leaf of the Lauras Cassia«.
Man wird fast nie irren, wenn man bei verschie-
denen Lesarten der Recensionen immer eine
Glosse in der Dev. Recension vermuthet. So ist
es auch hier. Nach Pänini I, 1, 36: antaram
vahir yogopasamvyäuayoÄ hat antaram auch die
Bedeutung von upnsamvyanam oder wie die
Kägika erklärt paridhäniyam und dann bildet es
den Plural entweder pronominal oder substanti-
visch. Dieselbe Bedeutung bezeugt Halayudha
5, 85 und Mabe^vara Vigvakosha MS. Chambers
277 v. 1559: antaram tu paridhane bhede
randhravakaQayoÄ. Der Gelehrte der Dev. Rec.
schrieb als Reminiscenz einer dieser Stellen zu
amtara das Wort am^uka als Glosse hinzu und
dies kam dann in den Text und musste sich
die Bedeutung >Blatt« gefallen lassen. Es
ist dies offenbar nur ein medicinischer term,
techn. Die Bedeutung »Blatt« ist also zu strei-
chen, damit fallt zugleich die Lesart der Dev. Rec.
8. v. adekkhanta wird eine Sanskritform adi-
$ant angenommen und das Wort mit apa^yant
erklärt dann als Bestandteil a+pa$yant und als
Wurzel pa$ aufgeführt. Was die Zerlegung von
apagyant zum Verständnis von adekkhanta bei-
tragen soll, ist mir unklar; sehr klar dagegen,
dass adekkhanta nicht zu dig sondern zu drg
gehört, wie ja H. B. dies auch selbst später von
dekkh annimmt. Daran ist freilich gar nicht
zu denken , dass dekkh aus dem Desiderativum
von dr$ entstanden ist; vielmehr wird es mit
Childers in Muir's Original Sanskrit Texts II, 23
Anmerkung zum Futurum zu ziehen sein. Die
südindischen Handschriften kennen die Form
dekkh nicht, sondern nur dakhkh, die sich auch
im Päli findet, jedoch, einer gütigen Mitthei-
lung von Herrn Childers nach, nicht als War-
Burkhard, Sacuntala annulo recognita. 47
sei, sondern nur im Sinne eines Futurums. H.
8. notirt aus seiner Handschrift nie die Form
dakhkh; sie steht aber gewiss in der Kopenha-
Smer Handschrift, freilich wohl kaum in der
mscbrift. Auch der treffliche Sbankar Pandit
hat in seiner Ausgabe des Mälavikägnimitram
die Form dakhkh aufgenommen. An der in mei-
ner Dissertation p. 32. 33. ausgesprochenen An-
sicht muss ich auch jetzt noch festhalten. Ich
hatte, da ich auf den Scholiasten zu Ury. 71,4.
ed. Lenz verwies, nicht behauptet, dass dekkh
eine speciell bengalische Wurzel sei, sondern
konnte nur meinen, dass sie jetzt in Bengalen
sehr gebräuchlich sei und dass daher die ben-
galischen Pandits sie leicht hätten in den Text
bringen können. Die Wurzel ist eine in den
neu-indischen Sprachen sehr beliebte (Muir San-
skrit Texts II, 23. Pott Zigeuner II, 304. We-
ber Literar. Centralbl. 1870 Nr. 46, p. 1240.)
und glaube ich daher auch jetzt noch , dass sie
ein Zeichen der modernen Abfassung der Dev.
rec. ist. Ich kann mich nicht erinnern, sie seit-
dem irgendwo anders gelesen zu haben, selbst
nicht im Häla und der Mrcchakafikä; p. 57, 19
ed. St., welche Stelle man früher anzuführen
pflegte, liest Stenzler mit der besten Handschrift
rakkhami, B hat dekkhämi, G (die Galcuttaer
Ausgabe) dikkhämi. Schon Lassen Inst. Präer.
p. 352 verbesserte dakkhämi. In den mir bis
jetzt bekannten Handschriften der bengalischen
Recension findet 6ich, wie ich nochmals consta-
tire, weder eine Form dekkh noch dakkh son-
der nur pekkh, und. so lesen auch die anderen
mir bekannten Dramen mit Ausnahme der M&-
larikä, wo selbst D die Form dekkh an einigen
Stellen hat.
8. v. £ka$a liest man: äkä$e »vox scenica
48 Gott. gel. Abz. 1873. Stück 2,
<jma significatur verba quae dicuntur a personis
in scenam non prodeuntibus dici.« Hätte H. B.
statt nur das Petersburger Wörterbuch und sei-
nen schlechten Text zu befragen, sich auch in
anderen Dramen umgesehen und was der Her»
ausgeber eines jeden Wörterbuches thun muss,
die Erklärungen der Rhetoriker geprüft, so würde
er diese Bedeutung nicht aufgestellt haben.
akÄ$e spricht ausser in der Dev. Rec. und der
ihr geistesverwandten südindischen Recension,
nie eine nicht sichtbare Person, sondern stets
eine auf der Bühne befindliche; es heisst nie
»in der luft«, sondern ßtets »in die lufU.
So alle Dramen und die Rhetoriker (SähityacL
425. cfr. v. 513 und Scholion dazu ed. Roer
p. 192; Dagarupa I, 60. ed. Hall.) — In der
Anmerkung zu p. 36. sagt der Verfasser des
Lexicons: »formae quales sunt piadaretti cet. a
legibus Präcriticis abhorrere videntur.c Sie vi-
dentur nicht blos, sondern sie abhorrent wirk-
lich ; trotzdem hat H. B. alle diese falschen For-
men in seinem Texte 1 Häla A 58 gehört gar
nicht hierher.
s. v. upanyasta schreibt H. B. n. expositio,
argumentatio (?) Man wird sich über dieses
Fragezeichen gewiss wundern. Es rührt indes
aus dem misverstandenen Fragezeichen in B— R.
s. v. as c. upani her. Dort soll es, da der
ganze Satz übersetzt wird, den Inhalt desselben
als fragend bezeichnen; H. B. aber fasst es als
die Bedeutung des Wortes bezweifelnd auf 1 Ich
bemerke hierbei., dass der häufige substantivi-
sche Gebrauch des neutr. part, pert pass, eine
Eigentümlichkeit des Källdaseischen Stiles ist,
die die Mälavikä, wie vieles andere, nicht theilt,
so dass es mir noch immer nicht für ausgemacht
Burkhard, Sacuntala annulo recognita. 49
pit, dass sie wirklich ein Werk unseres Kali«
dasa ist
8. f. kad nimmt Herr B. wieder einen Irr-
thom, oder wahrscheinlich nur Druckfehler des
Petersburger Wörterbuches ganz ruhig als That-
asohe hin. Die Bedeutungen von kaccid und
kaccid — na sind gerade umgekehrt richtig;
kaccid bedeutet nonne und kaccid-na bedeutet
num. Amara 3, 5, 14. Mallinätha zu Megb.
1J7. (112. Gildem.). Ragh. 6, ö ff. 6, 35. Ma-
la?. 10, 4 und B— R. s. f.
s. f. nva wird für v. 130 ein Wort jiasavva
aufgestellt, also jiasavvassa als Genetiv gefasst.
Es ist aber Vocativ = jivasarvasva , wie B.
selbst ganz richtig s. f. sarvasva hat. Wozu
Anfängern zwei Erklärungen geben, von denen
die eine falsch ist?
s. v. tara wird tara durch Sanskrit tafa er*
klärt und so Cak. 56, 12 ed. Böhtl. malaata-
rummuliä candanaladä interpretirt. Da uns
Herr B. in der Vorrede eine Prakritgrammatik
verspricht, so sollte man voraussetzen, dass er
Studien im Prakrit gemacht hat. Davon zeugt
indess der gegenwärtige Fall durchaus nicht.
Er schreibt wieder wörtlich von Böhtlingk ab.
Böhtlingk hatte für tarummüliä conjicirt tadummü-
Üa und diese vorzügliche Gonjektur wird durch
nichts besser bestätigt, als dadurch, dass in der
That zwei südindische Handschriften, eine Telugu-
ttnd eine Gzanthahandschrift, tadum0 lesen, wie
auch die JKopenhagener Handschrift haben wird;
eine dritte alte Teluguhandschrift liest °darow-
mulia und im Sanskrit °taron°, stimmt also mit
der Dey. Bec. üfeerein. Auch Ragh. 4, 51 wird
es bespar sein taleahv au . äliaa zu ziehen, so
dass &ß Stelle der uuaogen entspricht- Der
5
50 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
Grund indess, den Böhtlingk dafür — vor 30
Jahren 1 — anfuhrt, dass nämlich d und r, im
Prakrit ßo zu sagen, ohne Unterschied gesetzt
werden, ist nicht stichhaltig. Nach Vararuci
II, 20 — 22 wird im Gegentheil Sanskrit t nie r,
sondern ausser d und dh (?) nur in sphafika
noch zu 1. Es liegt hier einfach ein sich durch
alle Dev. Handschriften durchziehender und
wahrscheinlich aus südindischer Quelle stammen*
der Schreibfehler vor, der seinen Grund in der
heutigen Aussprache des d = t hat, wie H. B.
schon aus Lassen Inst. Pr&cr. § 39, 2 und An-
merkung zu p. 217 lernen konnte. Man darf
also durchaus nicht tara als prakritischen Er-
satz für ta/a ansetzen, sondern H. B. musste
mit der Kopenhagener Handschrift tatfa in den
Text und in das Wörterbuch aufnehmen. Sollte
H. B. den versprochenen Abriss der Prakrit-
grammatik wirklich veröffentlichen, so bitten
wir wenigstens um einen conspectus dialects
Präcriticae , nicht dialect«* Präcriticae. Die
heutige Aussprache des d = r ist übrigens um
so auffallender, als zu Kfilidasa's Zeit d = 1
ausgesprochen worden sein muss , da d und 1
im Ragh. 9, 76 bhuja/atäw jarfatam allitteriren.
Der Sahityadarpaaa p. 261, 11 ff. ed. Roer be-
merkt unter Anführung des beachtenswerthen
Citates: yamakädau bhaved aikyaro dalor vvabor
laros tatbä, dass nach dieser Begel in dem
ebenangefübrten Beispiele aus Kftlidäsa kein
yamakatvahäniA sei. Die Vermittlung bildet
wohl das vedische /. —
Die paryut8ukhibhü dist. 100 gegebene Be-
deutung »desiderio flagrare« verdirbt den Sinn
des schönen Verses: Es beisst nicht »sehnsüch-
tig sein«, sondern »sehnsüchtig werden«, und
dies liegt nicht im lateinischen Ausdruck.
Burkhard, Sacuntala annulo recognita. 51
8. v. yadi erhält die Verbindung yadi tävat
die Bedeutung: quid? si forte. Auch hier ist
H. B. wieder ganz von B-R. abhängig. Böhtl
übersetzt den ersten der hier in Frage kommen-
den Sätze 6. v. yadi »wie wenn man nun etwa
80 thäte? « und stellt beide Beispiele (Qak. 71, 8.
104, 21.) unter die Bedeutung »ob nicht viel-
leicht«, »vielleicht dassc Das erste Beispiel
Hast sich indess so nicht erklären , wenn wir
mit der Dev. und der südindischen Recension
den Imperativ beibehalten, da eine Verbin-
dung von yadi mit dem Imperativ unzulässig
it. Wie nun yady evam überaus häufig ellip-
tisch gebraucht wird (z. B. Qak. Cb. 6, 17.
117, 8. 125, 7. Malav. 39, 17. u. s. w.), so
muss wohl auch yadi tävat hier elliptisch auf-
gefasst werden = yadi tävad vyavasyasi (evam
kriyatam), ganz wie im Griechischen ei de z. B.
Eurip. Hippolyt. 508 d ö' ovv, m&ov /m.
Zeone zu Viger p. 509. Bollensen zur Ürv.
89, 2. 3.
8. v. rud ist das Sprichwort aranne kkhu mae
rudidam (so mit der bengal. Rec. zu lesen; äsi
ist Zusatz) falsch erklärt. Es heisst nicht: »ich
habe in dem Walde geweint«, sondern »ich
habe in den Wald geweint«, nicht in silva,
sondern »in silvam«. So heisst es in einem
deutschen Liede: »Es ist in den Wald gesun-
gen, wenn ich der mein Leiden klage , die mein
Herz mir hat bezwungen.« cfr. auch das Sprich-
wort »Wie man in den Wald ruft, so tönt es
heraus«. Noch viel weniger hat H. B. das
Sprichwort p. 81, 8. ed. Böhtl. verstanden, da
er-s. t. randhra für diese Stelle die Bedeutung
Vitium aufstellt.
s. y. vad c. visam versucht H. B. die bei
62 Gott gel. Anz. 1878. Stuck 2.
B — R. s. v. gegebene deutsche Bedeutung »be-
währen« durch >non servare« »non teuere« (!)
wiederzugeben. Nun heisst aber vad c. sam
»zustimmen«, also vad. c. visam einfach »nicht
zustimmen«, das Causativum also »nicht zu*
stimmen «Dachen«, das part. perf. pass, folglich
»nicht zustimmen gemachte = »nicht gestattet« ,
»versagt«. So ist Mälav. 49, 20 tado jujjadi
tti täe samvädido attho = wurde gestattet $
Mälav. 72, 8 ist samvädo »zusage« und Malar.
18, B ist mit Shankar Pane/it zu lesen : mä kkhu
attahodi dharini visamväda'issadi. = »sie wird
nichts dagegen einzuwenden habenc; Urv. 27, 5.
dänim tatthabhodi uvvast .... phaie visamva-
dadi = »versagt« die Frucht. Es heisst also,
im Prakrit wenigstens, visamvad nicht »nicht
bewähren«, sondern »nicht gewähren«.
Statt viklava ist viklaba, statt virfaujaA ist
MtfaujaA, statt $&va ist £&ba zu schreiben. Dies
ist die constante Schreibweise der südindischen
Handschriften und Ausgaben, die darin allein
massgebend sind, da sie ganz verschiedene Zei-
chen für v und b haben. Sie und die Ueber-
einstimmung der besten Dev. Handschriften zei»
gen auch, dass Cowell Vararuci p. XIV. un-
streitig im Recht ist, wenn er im Prakrit die
Schreibweise von b für Sanskrit p verwirft.
Der von Beames: A Comparative Grammar of
the modern Aryan Languages of India I, S25
dagegen erhobene Einwand, den auch Damaru
Vallabha Panta in seiner Ausgabe des ^akun-
talum Calcutta 1871 zu theilen scheint, da er
beständig b ßtatt v schreibt, ändert an der
Sache nichts. Er beruht auf dem Irrthum, dass
Cowell v für b schreiben wolle, während es
sich doch nur um das aus p entstandene v han-
delt. Zwischen dem Prakrit der Dramen und
Burkhard, Sacnntala annulo recognita. 53
den heutigen Dialekten ist ausserdem doch noch
em sehr grosser Unterschied. H. B. folgt trotz
seiner Prakritstndien consequent der herkömm-
lichen Schreibweise.
a. t. samudäara werden die Bedeutungen : %d
eonficere; consilium; propositum; quod quis
animo intendit, aufgestellt. Wie H. B. damit
(Jak. 67, 9 ed. Böhtl. erklären will , ist mir
Töllig unverständlich. Ich glaube nicht, dass
man Bedenken tragen darf, (cfr. Böhtl. z. Cak.
üebersetzung p. 70.) fur samudäcära im Prakrit
die Bedeutung »Anrede«, »Begrüssung« aqfzu-t
itellen. Bo ist auoh Qak. Gh. 80, 13 ... gurü
waJfhido ta samudääram parfirajjassa an erklä*
ren » begrüße e ihn«. Die Dgy. Reo, hat, wie
gewöhnlich, hier wieder ein gebräuchlicheres
Wort. Vermittelt wird diese Bedeutung durch
Stellen wie Dir. 44, 7 (haue iam pi deisaddena
urearfadi »wird angeredet«, cfr. audi Ragh. 9, 73.
16, 87. Bollensen a. ürv. 28, 13.
a. t. snmanas wird für p. 74, 23 und p. 76, 3
ed. Böhtl. die Bedeutung : os (oris) angenommen
und gumanomullam mit praemium oris =* co-
poflarium erklärt!! Die erste Erklärung stammt
natürlich wieder aus BöhtlingksCommentar; die
zweite ist wohl H. B-'s eigene Entdeckung«
Nun hat aber snmanas an beiden Stellen, über
die man sich merkwürdiger Weise viel den
Kopf zerbrochen bat , keine andere Bedeutung
als es immer hat, nämlich »Blume« vajjbassa
flumano, oder wie die Granthahandschrift der
Boyal Asiatic Society liest yajhjhakusumam
heisst »die Todtenblumec , also vajjhaQumano
psaddhu» »die Todtenblume anheften«. Es
bezieht sich dies auf den bekannten Brauch
Ytrnrthailte , die zum Tode geführt wurden mit
Blumen zu schmücken wie Opferthiere. Die
54 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
beste Lesart hat P, (Teluguhandschrift des
East-India-Office Mackenzie Collection 108) in-
dem er vajhjhaQumanagam liest. So sagt
Mrcchak. 157, 9 ed. St. der zur Hinrich-
tung gehende Cärudatta: pitrvanasumanobhir
veshfitam me $ariram und p. 176, 8 steht va-
santasena eadhyamk\km c&rudattasya kaitfhäd
apaniya etc. ... H. 6. konnte dies bereits aus
Williams Anmerkung ersehen, der der Wahr-
heit ganz nahe kam. Die zweite Stelle bedeu-
tet daher nur »dies ist der Lohn für die
Blume«.
8. v. hamsa wird die Königin Hamsapadikä
zur cantatrix degradirt.
s. v. har c. vi nimmt H. B. die Bedeutung
»effundere« »profundere« an. Diese Bedeutung
hat das Wort nun aber wieder nur in der Dev.
und südindischen Recension; sonst nirgends.
Anfängern darf man aber nicht' auf Grund
eines schlechten Textes Bedeutungen lehren, die
der Wurzel fremd sind. Bei Kälidäsa heisst
har c. vi entweder »sich belustigen« Ragh. 6, 35.
6, 57. 8, 32. 16, 54. Vikr. 52, 6. 138. 75, 3.
cfr. Cäk. Gh. 24, 6., oder »umherschweifen«
wie Vikr. 67., eine Bedeutung, die ja auch im
Päli die gewöhnliche ist. Dieselbe Bedeutung
ist auch Megh. 61 anzunehmen, wo meine Te-
luguausgabe die gewiss bessere Lesart yadi ca
viharet pädacarena gauri hat und der Commen-
tar viharet mit vicaret erklärt. Statt des vihar
der Dec. Rec. ist in der Qak. überall mit der
bengal. Rec. bäshpatw visarj zu lesen.
Diese Beispiele, deren Zahl ich leicht ver-
mehren könnte, werden genügend zeigen, dass
der Herausgeber auch im Lexicon ganz unselb-
ständig und völlig kritiklos zu Werke gegangen
T&illandier, Serbia. 55
ist. Trotzdem würde das mitFleiss gearbeitete
Wörterbuch brauchbar sein, wenn der Text zu
dem es gehört ein besserer wäre. —
Die glänzende Ausstattung der Ausgabe steht
mit dem inneren Werth in keinem Verhältniss
und ist dem Zweck der Ausgabe nur hinder-
lich. Der Text konnte ohne Mühe auf der
Hälfte der jetzigen Seitenzahl zusammengestellt
Verden und der Preis (4 Thlr. 20 Sgr.) dann
ein niedrigerer sein.
London, Dec. 1872. Rich. Pischel.
La Serbie. — Kara-George et Milosch
par Saint-Rene Taillandier, professeur
a la faculty des lettres de Paris , secretaire gä-
n&al du Ministere de l'instruction publique et
des cultes. Paris 1872.
Der Verf. des oben benannten Buchs ist ein
französischer Patriot und Beamter (»Secretaire
generale) im Unterrichts- und Cultus-Ministe-
riam des Herrn Thiers. Er verfasste eine Reihe
von Artikeln über die neuere Geschichte Ser-
biens und publicirte sie in der Revue des deux
Mondes. Da diese Abhandlungen in Serbien
leibst Anklang fanden und man ihm aus dem
dortigen Ministerium des Innern einen sehr
whmeichelhaften Brief schrieb , in welchem man
leine Talente, seine »grosse Begabung als Ge-
schichtschreiber, Beine sorgfaltige Forschung,
wine mit Wohlwollen verbundene hohe Unpar-
teilichkeit, seinen wohlbegründeten Enthusias-
56 Gott. gel. Anz. 1873. Stfick 2.
mus für das heroische Zeitalter Serbiens« höch-
lich lobte*), so sah er sich veranlasst, seine
Essays zu einem Buche zu vereinigen, das die
Geschichte Serbiens im 19. Jahrhundert nnter
dem Kara-Georg und den ersten Fürsten des
Hauses Milosch umständlich (auf 413 Seiten)
behandelt. Er dedicirte dieses Buch dem jun-
gen jetzt regierenden Fürsten Milan Obreno-
witsch IV., dessen Vorfahren es verherrlicht.
>Wenn man mich fragt«, sagt der Verf. in
der Vorrede, >was mich dazu veranlasst habe,
die Geschichte eines von uns Franzosen so weit
entfernten Landes zu studiren und zu schildern,
so antworte ich einfach, dass dies zum Theil
ein dem Gelehrten natürliches Gefühl der Neu-
gierde (»sentiment de curiosite«) war, dass
ich dabei aber zugleich auch einem der edel-
sten Instinkte unserer (französischen) Race
folgte, von der schon einer der Alten gesagt
hat: »sie sind einfache Leute und folgen rasch
ihren Impulsen (lis sont simples et spontanes«)
nehmen auch gern die Sache der Bedrängten in
ihre Hand«. — »Jeder Franzose«, setzt der
Verf. hinzu, »wird verstehen, was diese Worte
bedeuten. Sympathie für die Schwachen, glühen-
der Eifer, das Recht des unterdrückten zu vin-
diciren! Ja das war in der That unser erstes
Gefühl, unser erster Aufschrei, seitdem wir die
Augen über die Welt aufthaten«.
Jeder Deutsche versteht jene Worte und
jene grossherzige französische Sympathie für
leidende und ringende nichtdeutsche Völker
schon längst anders und wem in Bezug auf die
Tendenz des vorliegenden Buchs noch ein Zwei*
*) Siehe diesen Brief abgedruckt in der Vorrede
pag. m.
Tafflimdier, Serbie. 57
61 bleiben sollte, der braucht nur in der Vor-
rede desselben weiter zu lesen, wie der Verf.
sein eigenes besiegtes Volk und die deutschen
Sieger mit den Serben und Türken in Parallele stellt.
»Diese letzteren«, sagt er, »haben sich in den
serbischen Dörfern nicht barbarischer gezeigt,
ab die Preussen und Baiern in den Gefilden
Frankreichs. Nachdem der serbische Chronist
die Infamien der türkischen Verwüster erzählt
hat, ruft er mit naiver Beredsamkeit aus: »Sie
haben noch genug andere Unmenschlichkeiten
begangen. Wir kennen sie. Aber wollen nicht
davon reden«. — »Giebt es nicht auch bei uns
in Frankreich Tausende von Zeugen und Opfern,
die sich dieselbe Sprache aneignen konnten?«
— Darnach schliesst der Verf. seine Vorrede
mit einem inbrünstigen Gebete für Frankreichs
Rettung, das man aber eben so gut für das
Umgekehrte von einem Gebete in Bezug auf die
Deutschen, die er mit den Petroleusen der
Commune vermischt, halten könnte: > Domine
salvam fac Galliam tuam! Amen! Amen! Ament
Sauve-nous o Dieul nötre Dieul Sauve-nous du
Prussien barbare et du revolutionnaire sauvage;
sauve-nous de l'ennemi qui hait la France et
le sceleYat, qui outrage sa mere! etc.« — Zum
allerletzten Schlüsse seiner langen und leiden-
schaftlichen Expectorationen , die als Vorrede
zu einem ruhigen, historischen Werke eine sehr
unpassende Figur zu machen scheinen, apostro-
phirt der Verf. dann noch ein Mal alle die
ehemaligen und vergangenen Grössen Frank-
reichs: die alten heroischen Könige, Herzöge,
Connetabels, diese Begründer der französischen
Einheit, — die Citoyens von 1789, — die Sol-
daten der Bepublik etc. und darauf die »races
futures«, die »enfants de nos enfants«, und for-
58 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 2.
dert sie auf, ihm in seinem Gedanken bei-
zustehen (»soyez presents ä notre pens4e€) und
das Vaterland zu retten gegen den »Allemand
sans coeur et sans flamme«, gegen den >Prus-
sien hypocrite et savamment barbare«*), »da-
mit Frankreich nicht sterbe, wie seine Feinde
hoffen und prophezeien«.
Dieser Ueberblick der Quintessenz der lan-
gen Vorrede wird wohl hinreichen, um dem
deutschen Leser kund zu thun, wie der Verf.
dazu kam, eine Geschichte Serbiens abzufassen
und zu publiciren. Er erblickt offenbar in Ser-
bien einen trefflichen kleinen Bundesgenossen
für Frankreich im Falle eines zukünftigen Kam-
pfes aller vereinten Slaven und Gallier gegen
die Germanen und er hat daher bei Zeiten mit
seiner Verherrlichung der Kara-Georgs und der
Milosch den Serben so zu sagen etwas Honig
aufs Brod gestrichen.
Was das dabei herausgekommene Buch selbst
betrifft, so ist es allerdings viel historischer,
und etwas ruhiger als die brandfackelartige Ein-
leitung. Aber bedeutsam, neu in seinen Re-
sultaten, würdevoll in der Darstellungsweise oder
auch nur gut und angenehm geschrieben kann
man es doch wohl kaum nennen. Für uns
Deutschen scheint es mir jedesfalls ziemlich ent-
behrlich. Dem Verf., glaube ich, fehlte Allerlei
zur Abfassung einer recht eingehenden und er-
greifenden Geschichte der serbischen Kämpfe
und Tragödien. Vorerst eine Anschauung des
Schauplatzes der Begebenheiten und eine leben-
*) Dieser »wissenschaftlich« oder »gelehrt barbari-
sche Preusse« ist eine originelle Erfindung unseres Fran-
zosen, und verdiente wohl jenen berühmt gewordenen
»affenartig geschwinden Preussen« von 1666 an die
Seite gestellt zu werden«
Taillandier, Serbie. 59
dige geographische Kenntniss desselben, die bei
der Geschichte jedes Landes , namentlich aber
Serbiens so wichtig ist. Der Verf. war nie
selbst in Serbien. Anch versteht er nicht die
Landessprache. Er konnte daher aus serbi-
schen Quellen selbst nichts Neues schöpfen. Er
bat fiir die Erkenntniss seines Gegenstandes
nur die deutsche und französische Sprache mit-
gebracht und er konnte daher auch nur aus
französischen und deutschen Quellen schöpfen,
namentlich aus den letztern, in denen sich ja
anch neben den einheimischen Dokumenten das
Beste und Gründlichste, was über Serbien ge-
schrieben ist, vorfindet.
Vor allen Dingen hat der Verf. natürlich
das Buch: »die Serbische Revolution« von un-
serm Leopold Ranke vorgenommen, und ver-
nmthlich hat diese Schrift, die der Verf. bei sei-
nen deutschen Studien kennen lernen mochte,
zunächst die ganze Veranlassung zu seiner Ar-
beit gegeben. Er mochte anfangs an eine
Uebersetzung denken, fand es aber nachher
besser, eine französische Bearbeitung und Com-
pletirung derselben herauszugeben. Das Buch
ron Ranke ist denn auch, so zu sagen, mit
Haut und Haar in das Werk unseres Verf. wie
ein Stück Zucker im Kaffee aufgegangen. Der
Plan seiner Arbeit, die Gruppirung der Bege-
benheiten ist ganz nach Ranke. Auch begegnet
man überall den Phrasen und Redewendungen
Ranke's, die oft buchstäblich in französisches
Gewand eingekleidet und wiedergegeben sind,
üebrigens — das darf ich nicht verschweigen,
— macht der Verf. hieraus auch gar kein Hehl.
Er dtirt Ranke überall und zollt dem grossen
deutschen Historiker die gebührende Aner-
CO Gott. gel. Anz. 1878. Stfick 2.
kenmmg. Er widerspricht ihm auch nur
selten.
Das Werk von Ranke endet mit der Ab-«
dankung und Vertreibung des alten Milosch
und seines Sohnes Michael und mit dem Re-
gierungsantritt Alexanders , des Sohnes des
schwarzen Georg, im Jahre 1842. Unser Verf.
führt die Geschichte Serbiens dann noch bis
zum Jahre I860, bis zur Wiederkehr und bis
zum bald darnach erfolgten Tode des alten Mi-«
losch fort, fur welche Perlode er dann die Zei-
tungen, verschiedene Reiseberichte und neuere»
insbesondre wieder deutsche Schilderungen Ser-
biens benutzt, namentlich das vortreffliche, um-
fassende und gründliche Werk des Oesterreiohers
F. Eanitz über Serbien. Auch diesem Werke
begegnet man überall bei unserm Verf. wieder
und er zollt demselben ebenfalls wie dem von
Ranke grösste Anerkennung und gerechtes
Lob. Auch die lehrreichen südslavischen Wan«
derungen von Siegfried Kapper, so wie auch das
frühere Reisewerk des preussischen Offiziers
0. Pirch und eben so »das Leben des Fürsten
Milo3chc von dem Deutschen Possart hat er
mehrfach dankbar und anerkennend benutat und
excerpirt. Ich sage »dankbar und anerkennend«,
denn glücklicher Weise vergisst der Verf., wenn
er seinen ihm so brauchbaren deutschen Quellen«*
büchern gegenübersitzt, seine Abneigung gegen
die »Prussiens savamment barbares« fast gänz-
lich. Von andern minder zugänglichen Quellen,
die er benutzt hätte, spricht der Verf. nicht«
Das französische Werk von Cunibert, einem
Leibärzte des Fürsten Milosch, »Essai historique
sur les revolutions de la Serbie« und einige
andere französische Arbeiten waren ihm natür-
lich ebenfalls zur Hand. Aber auffallend ist es
Taillandier, Serbia 61
mir gewesen, keine Spur davon gefunden zu
haben, dass ihm die zahlreichen und wichtigen
historischen nnd poetischen Werke des serbi*
achen Patrioten Milutinowitsch bekannt gewor-
den seien. Vielleicht hat er sich diese nicht
verschaffen können.
Doch was fruchtet es über die Quellen, die
ein Historiker benutzte, noch weitere eingehende
Untersuchungen anzustellen, wenn Einem das,
was er daraus schöpfte und gestaltete, gar nicht
redt gefallen will. Hätte der Verf. auch nur
alle die Bücher, die er sich verschaffen und die
er verstehen konnte, zu einer recht kernigen,
bändigen, oder wenigstens geschmackvollen und
genießbaren Geschichte verschmolzen, verarbei-
tet und gestaltet, so würde ihm doch das grosse
Pablikum, namentlich das französische, sehr
dankbar dafür gewesen sein. Aber ich glaube
durchaus nichts sehr Lobenswerthes von dem
historischen Styl des Verf. sagen zu können.
Derselbe scheint mir weit entfernt von Classici-
tat, niobt zu vergleichen mit der Manier und
bistoriographischen Methode eines Guizot oder
Tbierry oder Thiers. Der Verf. hat eine wun-
derliche, aber bei gewöhnlichen französischen
Geschichtschreibern nicht seltene Manier der
Darstellung. Er unterbricht dieselbe häufig
durch dazwischen eingeworfene Fragen. Er
springt sehr oft aus dem Präteritum in's Prä-
sens und vice versa aus diesem in jenes über,
was seine Erzählung mehr beunruhigt, als,
wie es wohl beabsichtigt ist, belebt. Um
wen Beleg zu dieser Behauptung zu geben,
will ich hier beispielsweise etwas von dem, was
der Verf. bei Gelegenheit der Abdankung dm
alten Fürsten Milosch auf S. $38-340 sagt,
übersetzen : »Ist es nun nöthigc, fragt er sich
k
Oött- 0er' Jäheiten zu erzählen,
ST * ne^ i^rbien8 herabgestürzt
J*. wlta ^hro* tropbe fand statt im Monat
die^fvie Xfdem Monat December 1838,
' jP^jäSS- ^geoi war die Revolution schon
'<u>/> kaiserliche Hattischerif vom 24. De-
t°ti8- ^38 hrtte dem Fürsten einen Senat an
ce&be* gegeben, der beauftragt war, ihn zu
die $e*%en, ^m entgegen zu arbeiten , seine
1ibef**ciü jkhmen«. — > Der Hattischerif gestat-
AktioDwtf dem Fürsten selbst das Recht, die
^Vede* dieses Senats zu wählen. Aber er
^hneb ^m zu8^e^c^ YOr> 8*e un^er den Man-
5 rn zU ne'imenJ welche in Folge ihrer dem
Vaterlande geleisteten Dienste die öffentliche
jfeinung für sich hätten. Das hiess die ehe-
maligen Kameraden des Milosch, welche jetzt
seine Rivalen geworden waren, bezeichnen: die
Simitsch, die Protitsch, die Wutschitsch, die
Petroniewitsch , alle die Ehrgeizigen, welche
sprachen: Milosch verrennt uns den Weg«. —
»Die Fragen drängen sich im Geiste, wenn man
den Milosch eine so unhaltbare Position so
leicht acceptiren sieht. Hoffte er durch seine
persönliche Aktion diese Menschen zusammen-
halten zu können? Oder war es von seiner
Seite eine reine und einfache Unterwerfung un-
ter den Willen der Pforte? Warum versucht
er nicht an das Urtheil der Nation zu appel-
liren? Warum verwirft er nicht wenigstens den
Artikel des Hattisherifs, der ihm befiehlt, sich
mit gebundenen Händen und Füssen seinen hef-
tigsten Feinden zu überliefern? Hat er nicht
das Recht, jene perfide und zweideutige Sprache
nach den Regeln des gesunden Menschenver-
standes zu interpretiren ? — Die Wahrheit ist,
er hat den Kopf verloren lc — »Seit dem er-
Taillandier, Serbie. 63
sten Tage, an dem er versucht, die neue Re-
gienrogsmaschine in Bewegung zu setzen, ist er
darin gefangen wie in einem Schraubstock. In
jedem Augenblick hält ihn ein Hinderniss auf.
Seine Feinde sind da, welche sagen: Nein. -Es
ist ein ewiges, stets wiederholtes, drohendes,
irritirende8 Veto. Er, der sonst Alles verrich-
tet, ist nun zur Unthätigkeit verurtheilt. Da
siebt man ihn eingeschlossen (»Le voilä enferme«)
wie einen Schuldigen in einem Gefangniss. Was
•oll nun werden? (»Que devenir?«) »Er ver-
lasst Serbien unter dem Vorwande eines Be-
suchs bei seinem kranken Sohne in Semlin.
Dort erklärt er, dass er nicht vor der Beruhi-
gung der Leidenschaften zurückkehren werde,
um seinen Posten wieder einzunehmenc. — In
diesem etwas poltrigen, sehr wenig künstleri-
schen und auch nicht sehr anziehenden Style
gebt es das ganze Buch hindurch fort. Ich
kann mir nicht denken, dass das die Herzen
vieler Franzosen für die Sache der Serben er-
wärmen und fesseln wird. Wir Deutschen wer-
den uns über diese, wie gesagt, immer lieber
bei Ranke, Eanitz, Pireh, Possart, Eapper etc.
unterrichten.
Am Ende seines Buches fragt der Verf. sich
und uns, welches Programm die Serbier nach
dem Tode des alten Milosch noch auszuführen
haben. »Ein Programme, antwortet er, »wel-
ches das aller civilisirten Völker ist und das
sich in einigen wenigen Worten zusammenfassen
lasst: sie müssen die Austreibung der Türken
ganz vollenden, — die Festungen ihres Landes
wieder in Besitz nehmen, — ihre nationalen In-
stitutionen befestigen, — den Volksunterricht er-
muthigen, — die Hülfsquellen des Landes ent-
wickeln, — die Ordnung durch die Freiheit si-
64 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
ehern, — und die Freiheit durch die Ordnung
sichern, — endlich ein Muster und ein lebendiges
Beispiel für die verstreuten Glieder der serbi-
schen Familie werden, — und ohne etwas zur
Provocirung der Umgestaltung des orientalischen
Europa's zu thun, sich für alle etwaigen Ereig-
nisse (?) bereit halten — und sich auf das Ni-
veau aller möglichen Glücksfälle (?) stellen«. —
Dies ist allerdings noch Vielerlei und Grosses,
was männliche Anstrengung erfordert. Aber
der Verf. ist gutes Muths. »Serbien«, sagt er9
»wird das Alles erfüllen. Wir sind ganz be*
ruhigt in Bezug auf dieses Volk, über welches
500 Jahre eingr zermalmenden Sklaverei, ohne
ihm Schaden zu thun, hinweggegangen sind,
und das, plötzlich aus dem Schatten des Gra-
bes hervortretend, sich schnell nicht nur vom
Tode zum Leben, von der Sklaverei zur Unab-
hängigkeit, sondern, was noch schwieriger war,
von herrischer Barbarei zu liberaler Civilisation
erhoben hat«.
Bremen. J. G. Kohl.
Wolfgang Ratichius oder Ratke im
Lichte seiner und der Zeitgenossen Briefe und
als Didaktikus in Cöthen und Magdeburg. Ori-
ginalbeitrag zur Geschichte der Pädagogik des
17 ten Jahrhunderts von G. Krause, Herzog-
lich Anhaltischem Hofrathe u. s. w. Leipzig.
Dyksche Buchhandlung. 1872. XU und 182
BS. in 8°.
Da man aus dem vorstehenden etwas unge-
lenken Titel schliessen möchte, dass man es
mit einer darstellenden Abhandlung zu than
Krause, Wolfgang Ratichius oder Ratke. 65
litte, so bemerke ich gleich an dieser Stelle,
dan die rorliegende Schrift eine Sammlung von ~
137 meist bisher ungedruckten urkundlichen
ßtöcken über unsern Gegenstand ist, die, in
fiaf Abschnitte getheilt , nur manchmal durch
einige verbindende Worte aneinandergereiht
sacl von einzelnen erläuternden Anmerkungen
begleitet, durch ein »einleitendes Vorwort« er-
öffnet werden, das auf die Bedeutung dieser
Veröffentlichung hinweisen soll. Diese Bedeu-
tung ist, nach der Meinung des Herausgebers,
derart, dass die bisherige Auffassung und Wür-
digung des Ratichius weichen und einer neuen,
gänzlich veränderten Platz machen muss. Um
die Richtigkeit dieser Ansicht zu prüfen, wird
et, bevor wir den Inhalt unsrer Schrift betrach-
ten, nothig sein, mit kurzen Worten die Stel-
lung genau zu bestimmen, welche man bisher in
ziemlich übereinstimmender Weise dem vielge-
nannten Pädagogen zugewiesen hat.
Die Literatur über Ratichius ist nicht sehr
gross: sie besteht in wenigen selbstständigen -
Abhandlungen, in Programmen, in Abschnitten
grösserer pädagogischer Werke, und vor Allem
in vier von Direktor Niemeyer 1840—1848 ver-
öffentlichten Programmen, die sich durch Mit-
teilung mancher Urkunden auszeichnen, welche
in der vorliegenden Publikation wiederholt, aber
durch wichtige neue vermehrt worden sind. Alle
diese Arbeiten Bind benutzt und in meisterhaf-
ter Weise 2U einem Gesammtbilde zusammen*
gefasst worden von K. von Raumer im 2. Bande
»einer Geschichte der Pädagogik.
Wollen wir danach in Kurzem die Bedeu-
taag des Ratichius zusammenfassen, welche Rau-
M* mit der einen treffenden Bezeichnung
»Wortführer der Neuerer« angedeutet hat,
•o können wir sagen: er war ein selbstständiger,
6 -■
66 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
von Hass gegen das Alte erfüllter, neue Ideen
fassender und zu ihrer Durchführung begeister-
ter Mann, der, weil er ungelehrt war und sich
eifrig nur in das ihm erkennbare oder, wie er
sich ausdrückte, ihm von Gott geofienbarte Ge-
dankenreich versenken konnte, in diesem Wir-
kungen zu erzielen hoffte und Leistungen ver-
sprach, wie sie vor ihm niemals erreicht und
auch durch ihn wirklich nicht erfüllt wurden,
ein Mann, an den einmal gewonnenen Ueber-
zeugungen fest, ja hartnäckig festhaltend, der
wol einsah, dass er zur Erreichung seines Zieles
Mitarbeiter brauchte, und doch sie nicht zu tief
in sein Heiligthum eindringen lassen wollte, der
daher sich oft aus begeisterten Freunden heftige
Feinde, aus treuen Anhängern erzürnte Verfol-
ger schuf; ein Mann von freier Denkungsart,
der jedes äussere Band hasste und der sich
doch an Fürsten und Grosse anschliessen
musste, um sein Werk zu vollenden, und in
Folge dessen durch seine Gesinnung in die ge-
fahrlichsten Widersprüche gerieth; religiös frei-
sinnig, dabei aber in beständigem Verkehr mit
frommen Fürsten und in einer Zeit lebend, die
in religiöser Kurzsichtigkeit und glaubenseifri-
gem Fanatismus ihres Gleichen sucht ; ein Mann,
der zum Reformator wol die Neuheit der Ideen,
die innere Geistesgluth und die Festigkeit der
Ueberzeugung besass, dem aber die gewinnen-
den äusseren Gaben, die freundliche Liebens-
würdigkeit, die ruhige Rede der Ueberzeugung
völlig fehlten.
Dieses Bild des Ratichius, wie ich es nach
den bisherigen Schilderungen zu zeichnen ver-
sucht habe, hält der Herausgeber für falsch
und fasst, nachdem er den Inhalt der von ihm
veröffentlichten Aktenstücke kurz angegeben
hat, seine Anschauung in den Worten zusam-
r
Krause, Wolfgang Ratichius oder Ratke. 67
men: »Hiermit sei es Fachverständigen anheim-
gegeben, ob und wie sie nach Massgabe dieser
Publikation den idealen Ratich*) mit dem
realen Katke auszugleichen vermögen, und
ob die erschütterte Grundlage seines Ruhmes
noch ausreichend befanden wird , ihn ferner als
eben geistig und sittlich befähigten, eifrig und
ehrlich fur das Wohl der Schule wirkenden und
leidenden Reformator ansehen zu können; oder
ob nicht sein ganzes Wesen und Treiben die
Merkmale eines pädagogischen Phantasten und
Abenteurers verräth, der fest eingehüllt im
Mantel des Geheimnisses verharrt, aber in
schlauer Weise darch dunkle, dünkelhafte Re-
den und erborgte Arbeiten so lange Aufsehen
und Bewunderung zu erregen sucht, bis die
feierlich verheissenen Thaten in allem Ernste
von ihm gefordert und nicht geleistet werden«.
In diesem Streite der Meinungen glaube ich
mich entschieden zu der bisher vertretenen An-
steht bekennen zu dürfen und will die Berech-
tigung dazu durch eine Darlegung des Inhalts
unseres Buches erweisen, dessen Werth ich
übrigens sehr gern anerkenne, ohne die Auf-
fassung des Herausgebers theilen zu können.
Dass diese Auffassong aus den Quellen gezogen
ist, will ich nicht leugnen , doch kann ich nicht
umhin, gleich an dieser Stelle zu bemerken,
dass in dem Buche mehrfach ein speeifisch an-
haltiscber Patriotismus hervortritt, der dieVer-
muthung nahelegt, dass demselben auch gewisse
apologetische Zwecke nicht fremd seien, und 2.
dass die Behauptung, Ratichius habe »erborgte
*) Schon an einer früheren Stelle hatte der Herausg.,
Termnthlich gegen Raumer, bemerkt, dass Rat. sich nie-
aals Baiich schreibe, trotzdem glaube ich nicht, dass
diese Abkürzung des latinisirten Namens als irgendwie,
imtatthnft beseichnet werden kann.
6*
68 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
Arbeiten« statt der seinigen vorgezeigt, sich aus
den hier veröffentlichten Aktenstücken nicht er-
weisen lässt.
Was nun den Inhalt des vorliegenden Baches
anbetrifft, so machen nur drei Abschnitte,
welche die Beziehungen des Ratichius zu der
anbaltischen Fürstenfamilie behandeln, und zu
denen die anhaltischen Archive dem Herausgeber
das gesammte, früher nur zu geringem Theile
von Direktor Niemeyer benutzte, Material ge-
boten haben, Anspruch auf Vollständigkeit, der
erste, welcher R's Leben bis zur Anstellung in
Cöthen verfolgt, will nur Beiträge zur »vorläu-
figen Cbaracteristik des Ratichius c geben und
der fünfte durch einzelne spätere Stücke die
dargebotene Schilderung vervollständigen. Ich
hebe kurz die Hauptpunkte hervor und begleite
sie mit einigen Bemerkungen.
Die öffentliche Wirksamkeit des Ratichius
beginnt mit dem J. 1612, in welchem er dem
zu Frankfurt versammelten Reichstage einen
Unterrichtsplan übergibt — übrigens ist dieses
im Frankfurter Archiv befindliche Memorial
vom 7. Mai 1612, das Raumer abschriftlich vor-
lag (Gesch. d. Päd. 3. Aufl. H, S. 10 A. 3; und
das nicht allein den Jenaer Professoren, »son-
dern auch andern befremdlich fürkommen c
(Krause S. 11), noch nicht gedruckt, seine Be-
kanntmachung aber recht wünschenswerth —
der zwar beim Reiche keine Unterstützung fin-
det, den Verf. aber mit dem Pfalzgrafen Wolf-
gang Wilhelm, dem Landgrafen von Hessen, des-
sen Räthe sich dem kurze Zeit in Giessen wei-
lenden Ratichius freudig anschliessen, und der
Herzogin Dorothea Maria von Weimar in Ver-
bindung bringt, welche, nachdem sie durch
günstige Gutachten aus Giessen und Jena dazu
ermuntert worden, einen Gesandten, Kromeyer,
Krause, Wolfgang Ratichius oder Ratke. 69
nach Frankfurt schickt, der, ebenso wie der
Giessener Professor Helvikus, den Didaktikns
nach Augsburg begleitet. Hier tritt nun freilich
bald die Spaltung ein: Kromeyer verlässt Augs-
burg, nachdem er nicht die von ihm erwarteten
hinreichenden Mittheilungen empfangen, auf Auf-
forderung der Herzogin sendet R. aber Einiges
— freilieb ist gerade dieser Brief nicht vorhan-
den oder wird wenigstens nicht mitgetheilt — •
und erhält daför Dank (S. 21); auch Helvikus
kennt sieb von ihm unter heftigen Klagen, Ton
denen die bittersten gegen R's herbes, geheim-
nissvolles Wesen gerichtet sind. Darauf tritt
Ratichius eine, vielleicht schon früher geplante
Wanderreise an, wir finden ihn, in sehr kurzen
Zwischenräumen, in Nürnberg, Ulm, Weimar,
Erfurt, in Waldeck, Pyrmont, Gassei, wo die Be-
gegnung mit Moritz von Hessen keine allzu-
frrandschaftliche war und als trübe Erinnerung
von ihm noch in späterer Zeit erwähnt wird,
endlich längere Zeit in Frankfurt, das ihn ver-
mothlich als Mittelpunkt des kaufmännischen,
speriell buchhändlerischen Verkehres anzog, von
wo aus er auf Aufforderung des berühmten
Orientalisten Buxtorf nach Basel zieht, einen
Theil seines dortigen Aufenthaltes aber wegen
religiöser Spöttereien im Gefängniss zubringt.
Erst dann, im April 1618, folgt er dem schon
früher an ihn gelangten Bufe nach Göthen.
Betrachten wir diesen wichtigen Lebensab-
schnitt, so bemerken wir allerdings das hastige,
nnruhvolle Wesen des Ratichius, das seiner
Person viele Feinde macht, die aber, was
sehr zu betonen ist, Anhänger und Fort-
bildner seines Systems bleiben, ebenso wie,
was gleichfalls hervorgehoben zu werden ver-
dient, der einzig wirklich bedeutende Gelehrte,
mit dem Batiduus während seines Lebens in
70 Gott. gel. Anz, 1873. Stück 2.
Berührung kam, Buxtorf, sich, soweit mir be-
kannt ist, niemals mit ihm entzweite.
Die drei folgenden Abschnitte handeln nun
im Einzelnen über die anhaltischen Verhältnisse.
Fürst Ludwig, nur unterstützt von dem Herzog
Johann Ernst von Weimar, während die übrigen
verwandten Fürsten sich weigerten, an der Be-
förderung des Werkes Theil zu nehmen, begann,
im Vereine mit dem von ihm dazu berufenen
Ratichius, an der Herstellung des Erziehungs-
werkes rüstig zu arbeiten.
So forderlich eine solche lebhafte persönliche
Theilnahme des Fürsten sein musste, so störend
konnte sie auch wegen der vielfachen Rücksich-
ten werden, die man auf den hoben Herrn zu
nehmen hatte, namentlich deswegen, weil Lud-
wig, wie aus einer Stelle (S. 63) unsrer Ver-
öffentlichung hervorgeht, selbst als Lehrer auf-
trat: er hat deutsch gelehrt und an einer italie-
nischen Grammatik, die nach der neuen Methode
verfasst werden sollte, gearbeitet. Rechnen wir
dazu das uns schon bekannte eigentümliche,
abstossende Wesen des Ratichius, die ihm un-
gewohnten Formen des Hoflebens, über deren
beengende Fesseln er einmal klagt (vgl. S. 75), —
und ich denke, dass wir seine Klagen nicht als
erdichtet zurückweisen dürfen — ; die religiöse
Verschiedenheit — Fürst Ludwig war Calvinist
— , die wenigstens von Ratichius stark betont
wird, und wenn nicht beim Fürsten selbst, so
doch bei glaubenseifrigen Beamten, namentlich
dem oft genannten Superintendenten Streso,
deutlich hervortreten mochte, zudem eine in
jenem auf Religiosität sehr erpichten Zeitalter
doppelt leicht erkennbare und übel vermerkte
religiöse Lauheit seitens des Ratichius — man
klagt bald, dass in der Schule nicht genug Re-
ligion gelehrt würde (S. 67), und wirft ihm vor
Krause, Wolfgang ßaticbius oder Batke. 7J
in Weimar niemals die Kirche besticht und das
Abendmahl genommen zu haben (S. 151) — :
ausserdem den ganzen Hass der Zunftgelehr-
ten, die in grosser Anzahl zur Mitwirkung be-
rufen worden waren, gegen den Didaktikus , der
seine Kenntnisse und Gedanken hauptsächlich
och selbst verdankte, der nicht regelmässig die
Universität besucht hatte, der weder Magister
noch Doktor war, einen Hass, den wir am be-
llen mit den eignen Worten eines der gelehrten
Herrn wiedergeben: »es wahr mir absurdissi-
nram, das Homo idiota et indoctus solte gelehr-
ten Leutten vorschreiben können, wie Sie die
Disciplina8, scientias und artes conscribiren,
tradiren undt proponiren solten, da sie sich
är leben langk aufgelegt, viel Jahr dociret undt
also scientiam, usnm et experientiam hatten,
Er aber von denselben nicht das geringste ver-
stünde oder wüste. Das kam mir gleich vor,
als wenn einer mir den Wegk nach Rom zeigen
volte und hette sein Lebetage nichts davon ge-
boret, viel weniger das er dessen kundlich, oder
den selbsten gereiset hette«; und endlich die
privaten Verhältnisse des Ratichius, die aller-
dings nicht ganz klar vorliegen, aus denen aber
sofiel erkennbar ist, dass er sich, während er
Torher nur immer von der Didaktika als seiner
lieben Braut gesprochen hatte, nun wirklich ver-
lobte, and sich durch dieses Ereigniss, dem eine
Heirath allerdings nicht gefolgt zu sein scheint,
fon seinen Berufsgeschäften mannichfach ab-
sieben Hess (vgl. S. 66, 78, 133; S. 138 »mein
Junge«, muss wohl als Diener erklärt werden),
— rechnen wir dies Alles zusammen, so können
wir, auch ohne die Entwicklung näher zu ken-
nen, annehmen, dass die Zustände sich nicht
illzuerfreulich gestalten mussten. Aber es
würde nun der Wahrheit wenig entsprechen,
72 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
wenn wir die Schuld der schlimmen Verwicklun-
gen allein dem Raticbius beimessen nnd die
eigentümlichen Verhältnisse, in welche er ein-
trat , die Persönlichkeiten , mit denen er zu
thun hatte, gar nicht mit in Rechnung ziehen
wollten.
Nach der Ankunft des Ratichius in Köthen,
die, wie wir sahen, im April 1618 stattfand,
dauerte es noch länger als ein Jahr, bis zum
18. Juni 1619, ehe die Schulanstalten, denn es
scheinen zwei gewesen zu sein, von denen die
eine für die fremden, die andere für die Stadt-
schüler bestimmt war, eröffnet wurden, nachdem
vorher die Mitwirkenden berufen, die Stunden-
pläne festgestellt, Instruktionen erlassen, und,
was für die Folge besonders wichtig ist, fünf
Männer erwählt worden waren, die neben zwei
fürstlichen Räthen und dem die Oberleitung
führenden Ratichius eine bis ins Kleinste gebende
Aufsicht über äussere und innere Vorkommnisse
der Schule haben sollten. Diese Revisoren klag-
ten nun bald über verschiedene hervorgetretene
Mängel, besonders über das Fehlen der Disciplin,
wogegen Ratichius an der Persönlichkeit der
Revisoren Manches auszusetzen hatte und eine
grössere Beachtung für seine Didaktik verlangte,
behufs deren er Predigten empfahl, zu deren
Anhören die Bürgerschaft genöthigt werden
sollte. Der Fürst lehnte eine Entscheidung über
Personenfragen in dem Zeitpunkt, in dem sich
die Angelegenheit nun befände, ab, ertheilte
vielmehr dem Ratichius über sein unangemesse-
nes Verhalten gegen die Genossen einen Ver-
weis , und fühlte sich bald darauf wegen R*s
Benehmen gegen einen Lehrer und der von ihm
einseitig bewirkten Aufnahme eines Schülers ver-
anlasst, neue Klagen gegen seinen Didaktikua
zu fähren und ihm die erbetene Enthebung von
Krause, Wolfgang Ratichius oder Ratke. 79
der Oberleitung der Schulanstalten zu gewäh-
ren. Damit aber waren die Zwistigkeiten nicht
zu Ende, im Gegentheil mehrten eich die Kla-
gen und Ratichius nnd die Revisoren stehen sich
in heftigen wechselseitigen Anklagen gegenüber,
welche der Fürst durch eine, mehr den letzte-
ren geneigte, Entscheidung eher durchschneidet,
ab wirklich beschwichtigt, eine Entscheidung,
die Ratichius mit der resignirenden , den Für-
sten aber unangenehm berührenden Erklärung
versieht: »Soll unä muss dieses Alles Also sein,
So soll und muss Ich solches Auch lassen ge-
schehene. Nach manchen schriftlichen und
mündlichen Verhandlungen, in denen Ratichius'
beständig seine Schuldlosigkeit betheuerte, da-
gegen die Mitarbeiter und Revisoren als Ur-
heber der Mängel hinstellte, sich bitter über
die Art und Weise, mit der man gegen ihn
verfuhr, beklagte, und in dltsen Angriffen und
Beschwerden häufig die schärfsten und beleidi-
gendsten Ausdrücke brauchte, ohne dass wir frei-
lich beurtheilen können, ob nicht in den Ver-
haltnissen Manches lag, das ihn in diese ge-
reizte Stimmung bringen musste, wird er am
6. Okt. 1619 in einem, wie wir der historischen
Treue wegen berichten müssen, allerdings sehr
angeheiterten. Zustande, nach Wannsdorf ins
Gefangniss abgeführt, um dort bei schmaler
Kost und in einsamer Haft, in welcher ihm
zwar das Schreiben gestattet war, aber doch
nur so, dass jedes Schriftstück an das fürst-
liche Hoflager geschickt wurde, so »verwahret
zu werden, dass er nicht abhanden, viel weniger
Jemandes ohne vorbewust S. F. Gr. zu ihm
komme«. Als Trostmittel gab ihm der Fürst
m seine Haft eine Bibel mit folgender Inßchrift:
»Diese Bibell schenke ich Wolfgango Ratichio,
von hertzen wünschend, dass er darinnen mit
74 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 2.
Andacht lese, daraus seine Sünden erkennen,
bereuen, sich bessern und nicht mehr den geist
der lügen, Verleumdung und Verwirrung als
diese tage und mehrmals geschehen, leiten und
fuhren wolle lassen«.
So ist nach einer kaum viermonatlichen Daner
die Wirksamkeit des Ratichius in Eöthen zu
Ende, die hochgespannten Erwartungen enden
mit einer kläglichen Enttäuschung. Ich kann
und will nun nicht versuchen, diese Thatsache
zu läugnen, auch keineswegs den Ratichius von
aller und jeder Schuld freisprechen, vielmehr
räume ich offen ein, dass die grossen Verspre-
chungen, welche R. in übermässigem, ungerecht-
fertigtem Vertrauen auf seine neue Lehrkunst
machte, sich durchaus nicht erfüllten, aber es
erscheint mir ebenso unberechtigt, nun alle
Schuld nicht nur für das Misslingen der neuen
Einrichtungen, sondern auch für die persönli-
chen Verwicklungen ihm aufzubürden. Nament-
lich ist das Verfahren des anhaltischen Fürsten,
wie es bei dieser Gefangensetzung und später
noch deutlicher hervortritt, nicht geeignet, die
günstige Meinung zu bestätigen, welche der
Herausgeber von ihm erwecken will: die Be-
handlungsart erinnert doch mehr an den sou-
veränen Herrn, der die schweren Kosten, welche
durch die Berufung, Erhaltung und Unterstützung
des vielversprechenden Informators entstanden
sind, nun, nachdem sich die Verheissungen als
betrügerisch erwiesen haben, an der Person des
Lehrers zu rächen gewillt ist.
Der dritte Abschnitt (S. 88—128) bandelt
über die in Anhalt ausgeführten Schuleinrich-
tungen in dem Jahre nach R's Gefangennehmung.
Diese nun möchte der Herausgeber als Werk
des anhaltischen Fürsten hinstellen und von je-
der Mitwirkung des R. befreien. Dass eine
Krause, Wolfgang Ratichius oder Ratke. 75
solche in dem Sinne, dass K. mit Hand ange-
legt , die Pläne angegeben und ausgeführt babe,
nicht stattgefunden haben kann, ist selbstver-
ständlich , aber dafür, dass in der nun einge-
führten Schulordnung sich kein geistiges Fort-
wirken R'scher Ideen, kein Hinübernehmen sei-
ner Vorschläge findet, die er, der bei jeder Un-
terweisung das Mündliche dem Schriftlichen vor-
zog (S. 36), aufzuschreiben stets Bedenken trug,
dafür ist der Beweis durchaus nicht geliefert«
Selbst wenn der Versuch gemacht werden könnte,
grosse schwerwiegende Differenzen zwischen dem
Scholplane, der während des Aufenthalts des
Batjchius in Gothen, und der Ordnung, die zur
Zeit seiner Gefangenschaft ausgeführt wurde,
nachzuweisen, würde die gemeinsame Grundlage
beider doch nicht verkannt werden können; die
Aussage der Beamten aber, welche, als Fort*
8etzer des angefangenen Werkes von demselben
Fürsten ernannt, der in heftiger Erregung den
Urheber ins Geiangniss hatte werfen lassen, eif-
rig erklärten , dass man ohne Ratichius dasselbe,
ja Besseres zu Stande bringen könnte, hat na-
türlich kein entscheidendes Gewicht. Ueber dem
schroffen, unliebenswürdigen, manchmal vielleicht
unleidlichen Manne dürfen wir nicht den selbst-
ändigen Denker, über dem zur That ungeeig-
neten, zur Ausfuhrung unfähigen. Schulmanne
dürfen wir nicht den vergessen, welcher den
Anstos8 zu schönen pädagogischen Thaten wirk-
lich gegeben hat!
Doch betrachten wir die ferneren Schicksale
unseres Pädagogen. Aus dem Geföngniss, in das
ihn derselbe Fürst gesetzt, der ihm früher die
wärmste Freundschaft entgegengebracht hatte,
schreibt er an ihn im Tone eines Mannes, der
rieh mit seinem Werke eins weiss, der in dem
Schicksale, das ihn betroffen hat, weniger die
78 Gott, gel Anz. 1873. Stück 2.
eigene Gefahr sieht und fürchtet , als die Schwie-
rigkeiten, die ans seiner schlimmen Lage für die
Arbeit seines Lebens hervorgehen können. Wäh-
rend ein Abenteurer, der nach manchen glück-
lich durchgeführten Täuschungen von dem ver-
dienten Missgeschick ereilt wird, in dieser uner-
warteten Lage das Zagen seiner Feigheit nicht
verbergen kann, behält Ratichius seine Mannes-
würde und sein Selbstbewusstsein, sein Vertrauen
auf seine Unschuld, das ihn dem Fürsten als
Antwort auf die ihm geschenkte Bibel die Mah-
nung zusenden läset, auch er möge fleissig die-
ses Buch zu Rathe ziehn (S. 1 86) , die Hoffnung
auf den Sieg , durch die ermuthigt er kühn die
Didaktika, wie sie jetzt in Köthen eingeführt
werde, als sein Werk erklärt (S. 137). Aber
seine Lage war schlimm genug. Denn der Fürst
hörte weder auf die direkt noch indirekt ihm
zugehenden Klagen des Gefangenen und hatte
die ernst ausgesprochene Absicht, denselben in
strenger Haft zu halten und durch ordentlichen
Process aburtheilen zu lassen. Wir kennen die
Vorwürfe, welche dem Ratichius gemacht und
welche ihm nun gänzlich erfolglos nochmals von
einer besonders ernannten Commission entgegen-
gehalten wurden: mangelnde Erfüllung der ge-
gebenen Versprechen, Schmähung und Verfol-
gung der Genossen und Mitarbeiter, Unehrer-
bietigkeit und Ungehorsam gegen den Fürsten;
dazu kommen nun noch einzelne aus den Reden
und Briefen des Ratichius von dem Fürsten ge-
sammelte Beschwerdepunkte, die, als aus ge-
kränktem Ehrgeiz und heftiger Gemüthserregung
entstammend, von uns schwerlich als genügendes
Fundament einer Anklage angesehen werden
können.
Nachdem Ratichius den Wunsch ausgespro-
chen hatte, mit zwei ihm von früher bekannten
[
Krause , Wolfgang Ratichius oder Batke. 77
Wittenberger Professoren W. Franzius und Jakob
Hartini sich zu unterreden, werden diese dazu
aufgefordert, weisen aber das Verlangen ab und
überhäufen den Angeklagten mit Vorwürfen und
guten Rathschlägen, Andere bringen, aufgefordert
und unaufgefordert, neues Material herzu, so dass
der Fürst, au einer Entscheidung gedrängt, end-
lich, nach sechsmonatlichem Zaudern, die Frage
leinen Räthen vorlegt, was denn nun mit Rati-
chius geschehen solle (März 1620). Diese bean-
tragen zunächst eine Vervollständigung der Ak-
ten, denn, wie ihre sehr zu beachtende Aeusse-
nuig lautet: »ist den acten nicht einverleibt,
was Ratichius eigentlich gelobt und vertröstet,
wie weit er es gebracht, was er verrichtet, woran
der mangel und wie hoch die von ihm verur-
sachte uncosten sich erstrecken« (S. 161), — eine
Forderung, von deren Erfüllung übrigens nicht
weiter die Rede ist — , meinen aber doch, im
Verlaufe desselben Aktenstücks, dass, wenn auch
>itzt eigenthqh nicht also determiniret, oder
frondlich davon discutiret werden« könne, der
orst die Strafe auf 10—20 Jahre Gefängniss
oder Zuchthaus bestimmen dürfte.
Eine solche Strafe würde auch Ratichius ge-
wiss zu erdulden gehabt haben, wenn nicht einige
Fürsten für ihn Fürsprache eingelegt hätten, in
Folge deren er, allerdings nur nach erniedrigen-
den Bedingungen, seine Freiheit erhielt. Er
musste nämlich einen Revers ausstellen und den-
selben eidlich bekräftigen, dahin lautend, dass
er mehr versprochen habe, als er zu leisten fähig
gewesen wäre, dass er den Fürsten und andre
angesehene Männer geschmäht habe, dass er da-
her eine bedeutende Strafe verdiene und, weil sie
ihm erlassen und Gnade für Recht erwiesen wor-
den wäre, verspreche, die erlittene Haft an Nie-
atandem zu rächen. Nach geleisteter Urfehde
78 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 2.
wurde er entlassen; am 1. Juli 1620 befand er sich
auf der Reise, die ihn seiner neuen Heimat zuführte.
Seine neue Heimat war Magdeburg und über
die schon im folgenden Jahre von dem dortigen
Rathe mit dem Fürsten Ludwig gepflogenen re-
sultatlosen Verhandlungen belehrt uns der fünfte
Abschnitt der vorliegenden Publikation, der,
sich auf R's Beziehungen zu dem anbaltischen
Fürsten beschränkend, am Schluss einen Brief-
wechsel zwischen diesem und der Gräfin Anna
Sophia von Schwarzburg-ßudolstadt aus dem J.
1633 mittheilt.
Ich habe mich in den vorstehenden Bemer-
kungen nur wenig auf die Unterrichtsmethode
des Ratichius, auf den Werth und Unwerth sei-
ner einzelnen pädagogischen Ansichten eingelas-
sen, und zwar aus dem Grunde, weil auch das
vorliegende Buch es nicht mit einer Kritik die-
ser Anschauungen und Versuche, sondern mit
einer Beurtheilung der Person, des Wesens und
des Characters zu thun hat. Diese Be- oder
Verurtheilung, welche der Verf. in, wie mir
scheint, partikularistischem Interesse versucht,
wollte ich als nicht berechtigt zurückweisen.
Auch die Ausgabe leidet an manchen Män-
geln. Für die einzelnen Stücke, namentlich des
ersten Abschnitts, wäre eine genauere Quellen-
angabe erwünscht gewesen; in dem Abdrucke
finden sich viele Fehler; bei den meisten Brie-
fen fehlt die Unterschrift, bei vielen Anfang und
Ende; bei einem (S. 23 Nro. 27) ist gar nicht
ersichtlich, an wen der Brief gerichtet ist; die
chronologische Ordnung ist manchmal nicht ge-
nügend gewahrt (vgl. Nro. 20 u. 21 S. 17 fg.,
Nro. 45 u. 46 S. 35, Nro. 12 u. Nro. 14, S. 65),
Die Anmerkungen sind ziemlich dürftig: über
viele Personen , die kurz genannt werden, erhal-
ten wir keine weitere Belehrung, z. B. über einen
Ciofi, Inscriptiones latina et graeca etc. 79
Philibert, der, wie es scheint, mit Ratichius in
naher Verbindung stand (s. S. 25, 32, 35 und
36, andre Namen begegnen S. 24, 33, 65) ; bei
Schriften, von denen in den Briefen die Rede
ist, wird nicht angegeben, dass und wann sie
gedruckt sind (S. 13 Nro. 13, S. 15 Nro. 16)
Tgl. dazu Raumer S. 481 Nro. 5 und 6).
Doch ist die Sammlung immerhin werthvoll
wegen der neuen Mittheilungen, die sie über die
Schicksale einer hochinteressanten Persönlichkeit
enthält.
Berlin. Ludwig Geiger.
Inscriptiones latina et graecae cum
carmine graeco extemporali Quinti
Solpicii Maximi cum notis per Aloisium
Ciofi Adyoc. Editio altera cum Appendice.
fiomae 1871. 8. SS. 50.
Lectio inscriptionum in sepulchro
Q. Sulpicii Maximi ad portam Salariam
iterum vindicata per Aloisium Ciofi Adv.
Romae 1872. 8. SS. VI und 57.
Es handelt sich um die Inschriften, welche in
diesen Blättern 1871 S. 1036 ff. besprochen
wurden und in Italien auch noch von Fabio
Gori behandelt und von Friedländer Darstel-
lungen aus der Sittengeschichte Roms 3 S.
324 kurz erwähnt sind. Das Gedicht des Sul-
pieius hat, wie Ciofi , Lectio p. 56 angiebt,
Achille Monti in italienische Verse übersetzt.
In den oben aufgeführten Schriften vertheidigt
der Verf. mit einer für einen Italiener und Laien
anerkennenswerthen Belesenheit in der griechi-
schen Poesie seine Textgestaltung und Erklärung
gegen die abweichenden Ansichten Viscontis und
Benzens. Und wenn er im ersten Epigramm
(Lectio p. 3) €V(pijfM>v schützt, aber mit and <nö-
P Juno? verbindet (lingua favente), nicht, wie Hen-
80 . Gott, gel Anz. 1873. Stück 2.
zen wollte, mit yodfAfuxrog, so hat er Recht.
Ebenso wenn er im zweiten Epigramm Uu-oidtov-
X&inopivtov nicht mit Henzen von den durch
Sulpicius besiegten Musen, sondern von dem
Unterlassenen Gedichte desselben versteht. Aber
weder hier lässt sich i£ So für in ado, noch in
dem Gedicht des Sulpicius v. 19 iov für ipov
nehmen (Lectio S. 13 ff.). Denn in Jedem
Fall kann das Pronomen der dritten Person
für die erste und zweite Person nur dann
stehn, wenn es sich um ein reflexives Verhält-
nis« handelt. Hier aber wird im Epigramm
Maximus und im Gedicht des Maximus Helios
angeredet: dort also ist B nur Versehn des
Steinmetzen fur K21 und im Gedicht des Maxi-
mus ist iov allerdings wahrscheinlich, da sonst
kein anderer Vers desselben in zwei gleiche Hälf-
ten zerfallt, aber es ist dann für gov zu nehmen.
— Ganz unmöglich ist, was Ciofi v. 21 f. geschrie-
ben hat oi per ydo avtijp
'Ptiijv dXXotqV ovdh xaxdtsoov lösv "OXvpnog
und Lectio S. 15 ff. eifrig vertheidigt. Weder
konnte dXXoxqiov vor oddi apokopiert werden
noch Hesse es sich von Pbaethon verstehn noch
kann o£d$ hier für od gesetzt sein. Wenn end-
lich Ciofi Inscriptiones S. 40 f. und Lectio S.
20 fi. glaubt, dass nach ov pä ydo — die Ne-
gation bei tldev nicht fehlen könne, was er nur
nach ov tot /*« — und ov ydq pd zulässsig erachtet,
so ist die Sorgfalt, mit welcher er hier scheidet
und gesammelt hat, alles Lobes werth, aber
richtig ist die Beschränkung nicht.; denn ,z. B.
Antiphanes sagt (Athen. 6 p. 226. D. Meinek.
Com. gr. 3 S. 86) od pä JUx ut&dg elodyova*
ßacxdrovs. Auch mit andern Erörterungen des
Herrn Verf. kann man nicht einverstanden sein,
doch fehlt hier der Raum zu weiterer Bespre-
chung. ____________ H. S.
81
G 5 1 1 i n g i 8 c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stack 3. 15- Januar 1873.
La legende Athenienne, etude de mythologie
eomparee par Emile Burnouf. Paris 1872.
215 88.
Nachdem der Verf. in Gap. 1 eine kurze
description physique gegeben, wobei er die Wich-
tigkeit der Lücke zwischen den Gebirgszügen des
Hymettos und Pentelikos besonders hervorhebt,
da der Beobachter in der Stadt, vorzüglich auf
der Akropolis selbst, zur Zeit des längsten Ta-
ges den Aufgang der Sonne in jener genau be-
obachten konnte, während in den übrigen Zei-
ten des Jahrs der Hymettos denselben ver-
deckte, wendet er sich in Cap. 2 zu den faits
astroDomiquee. Die in ihrem jährlichen Laufe
scheinbar von einem bestimmten Puncte aus-
gehende und dahin zurückkehrende Sonne brachte
den Alten den Begriff des Jahrs und der von
der Akropolis aus sichtbare Aufgang derselben
m Zeit des Sommersolstitiums macht es völlig
erklärlich, dass dieser Zeitpunct zum Anfangs-
termin des attischen Jahrs erhoben wurde. Nach
dem Verf. wurden schon früh unter priester-
82 Gott. gel. Anz. 1873. Stücfi 3.
lieber Aufsicht auf dem Kamme des Hymettos
und nördlich in der Lücke zwischen ihm und
dem Brilessos Steine, Merkzeichen aufgestellt,
welche einem fest bezeichneten Puncto auf der
Akropolis die Stellen des Horizonts angaben, an
denen in den kritischen Zeiten des Jahrs, dem
Sommer- und Winter-Solstiz, dem Aequinoctium,
die Sonne Morgens zuerst dem Auge erschien.
Das heutige Kloster des St. Johannes Kynigos,
an dessen Stelle der Verf. einst ein Heiligthum
des Apollon Kynios annimmt, diente nach
ihm zur Bezeichnung des Sonnenaufgangs am
längsten Tage; das Kloster Asteri zur Bezeich-
nung des Sonnenaufgangs während des Aequi-
noctium; der Altar des Zeus Ombrios auf der
Höhe des Hymettos, dessen Reste noch heute
erhalten, zur Bezeichnung des ersten Sonnen-
standes während des Wintersolstiz. Der Aus-
gangspunet, von dem aus diese Beobachtungen
gemacht, die Merksteine ihren Platz erhalten,
ist dem Verf. der Altar der Athena Parthenos
gewesen. Der Verf. nimmt, gestützt auf die in
und neben der Grundmauer des Parthenon er-
haltenen Reste einer älteren Grundmauer, deren
Richtung gleichfalls noch zu erkennen, an, dass
dieser Punct einst ein anderer gewesen. Die
Axe dieser Grundmauer des älteren Parthenon
weist fast 3 Meter weiter nach Norden als die
des jüngeren Parthenon. Durch den im Laufe
der Jahre langsam aber stetig sich verändern-
den Sonnenaufgang musste sich notwendig eine
Incongruenz .des Beobachtungspunctes mit den
verschiedenen Sonnenaufgängen und ihren Merk-
steinen ergeben und man hat dieselbe beim Bau
des neuen Parthenon dadurch auszugleichen ge-
wusst, dass man, die Merksteine selbst als un-
verrückbar auffassend, diesem eine etw^s andere
Buibou£ La legende Athenienne etude, de myth. 83
Orientirung gab, so dass nun wieder dem mit-
ten vor dem Altar des Tempels, also in der
verlängerten Axe dieses selbst, stehenden Beob-
achter die-Sonnenaufgänge der kritischen* Jahres-
zeiten sich mit den Merksteinen deckten. Der
Verf. berechnet aus den stetig nach Süden dem
Auge abfallenden Sonnenaufgängen, welche Ver-
änderung praktisch allerdings erst im Laufe
mehrerer Jahre sich herausstellt, die Grund-
legung des alteren Parthenon als etwa im Jahre
554 stattfindend, was jedenfalls der Wahrschein-
lichkeit entspricht.
Dieses ganze Verfahren, obgleich selbst die
That sachen, auf welche er sich stützt, zum Theil
hypothetisch, ist scharfsinnig und geistreich und
dem Rec. sehr wahrscheinlich. Es ist aber ein
unrichtiger Scbluss, wenn der Verf. nun aus der
Bichtung der durch den Mittelpunct des Par-
thenon und des vor diesem befindlichen Altars
gehenden Axe noch eine weitere Folgerung zie-
hen will : jene soll dem ersten Erscheinen der
Morgenröthe zur Zeit des Aequinoctium ent-
sprechen. Die Richtung des Parthenon war ja
eben durch die Rücksicht auf die drei bestimm-
ten, dem Sonnenaufgang zur Zeit des Sommer-
und des Winter-Solstiz, sowie des Aequinoctium,
entsprechenden Merksteine so unweigerlich vor-
geschrieben, dass eben keine andere möglich
war und wenn dieselbe dem ersten Erscheinen
der Morgenröthe zur Zeit der Tag- und Nacht-
gleiche entspricht, so ist das eben ohne selb-
ständige Bedeutung, sondern hängt mit dem
Verhältniss des Parthenon zu den ein für alle
mal als feststehend betrachteten Puncten des
Horizontes zusammen. Damit fallen aber alle
Folgerungen, welche der Verf. aus diesem Um-
, stände auf die Bedeutung der Morgenröthe für
\
84 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
Mythologie und Cult zieht, zusammen und nur
die hohe Wichtigkeit der Sonne selbst tritt
klar hervor.
Nachdem der Verf. in Cap. 3 sich zur le-
gende d1 Athena gewandt und hier zunächst die
verschiedenen Tempel der Göttin in Athen auf*
gezählt hat, spricht er seine Ansicht vom We-
sen dieser Göttin dahin aus, dass sie die Mor-
genröthe sei. Bekanntlich hat zuerst Max Mül-
ler diese Erklärung gegeben und sodann über«
haupt die Meinung ausgesprochen, fast der Ge-
sammtinhalt Aller und besonders der griechischen
Mythologie drehe sich um das Verhältniss des
Sonnengottes zur Göttin der Morgenröthe. Der
Verf. schliesst sich ihm hierin also an. Nach-
dem er die Ableitung des Namens Athena von
dem ägypt. Neith mit Recht verworfen, prüft er
die Benfey'sche Ableitung, welcher TQimvta
*A#ava mit zend. Thraetaona äthwyäna verbin-
det. Der Verf. glaubt diese verwerfen zu müs-
sen: so sicher ihm die Uebereinstimmung von
Thraetaona äthwyäna mit scr. Trita äptya
scheint, so unbegründet ist ihm der weitere
Schritt, jenes mit dem griechischen zusammen-
zubringen. Aber was er dagegen vorbringt, hat
kaum irgend welche Berechtigung. Wenn er
sagt: en effet le grec n'est pas venu du perse
et il est bien certain que la forme sanscrite
äptya est plus pure que la forme zende, so darf
man doch wohl mit demselben Hechte sagen:
eben so wenig ist das Griechische aus dem Scr.
gekommen. Der Zusammenhang der griechi-
schen mit den eränischen Sprachen Vorder-
asiens und Kleinasiens ist aber nicht nur wahr-
scheinlich, er ißt selbst nachzuweisen (vgl. W.
Sonne's Progr. zur ethnologischen Stellung der
Griechen. Wismar 1869) und es ist also von
Burnouf, La legende A thenienne, ßtude de myth. 85
vornherein weit mehr Wahrscheinlichkeit vor«
banden, die griechischen Worte mit eranischen,
ab mit Scr. Worten zusammen zu bringen.
Der Verf. erklärt den Namen *A&av& als
ahum, fem. des adj. ahana morgendlich; und
da diese Bezeichnung häufig von der Morgen-
röthe gebraucht wird, so scheint ihm die Iden-
tität beider sicher. Dazu kommt, dass das du«
hita Divas, wie die Aurora mehrmals in den an
sie gerichteten Hymnen genannt wird, der \h>-
7**W /A«c, wie Athena schon Hes. theog. er«
scheint; dass ferner das mürdhä Divas, welches
als der Geburtsort der Göttin bezeichnet wird,
dem Haupte des Zeus zu entsprechen scheint,
aus welchem nach griechischer Auffassung die
Göttin entsprang; nun wird auch die Mutter
Metis mit scr. mati oder sumati, dem Gebet,
zusammengebracht, welches häufig vor dem Er-
scheinen der Morgenröthe angestimmt diese her-
vorruft, erzeugt.
Diese Etymologieen des Verf. haben durch-
aus nichts beweisendes. Als %faydiqt 4ib<; wird
nicht Athene allein in der griechischen Mytho-
logie bezeichnet, sondern dieser Name kommt
auch andern Göttinnen zu, die der Verf. selbst
wohl kaum als Gottheiten der Morgenröthe fas-
sen wird. Was aber die Erklärung der Geburt
der Göttin aus dem Haupte des Himmels, wel-
ches hier also nur die Gegend des Ostens be-
deuten soll, betrifft, so würde damit doch nur
die Athene als eine Göttin des Lichts bewiesen
werden, da alles Licht, nicht bloss Morgenröthe,
sondern auch Sonne und Mond, in seinem Auf-
gange an den Osten gebunden ist«
Im Allgemeinen aber muss man sich aufs
entschiedenste gegen ein Verfahren wenden, wel-
ches von scheinbar unabweislichen Etymologieen
86 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 8.
ausgehend das Wesen der Götter zu erklären
sucht. Wer da weiss, welcher Missbrauch ge-
rade mit solchen Etymologieen in der Mytholo-
gie getrieben ist, wie man Alles, geradezu Ent-
gegengesetztes, durch Etymologisiren in die Na-
men und das Wesen der griechischen Gottheiten
hineingetragen hat, der wird verlangen, dass
man zunächst aus den Mythen, aus den Cult-
gebrauchen, aus den Eigenschaften etc. der Gott-
heiten selbst ihr Wesen zu erschliessen sucht
und wird die Ableitung des Namens nur für
ein nebensächliches, höchstens wünschenswertes
Moment halten.
Was nun aber die an den Namen der Athene
sich knüpfenden Mythen etc. betrifit, so hat der
Verf. auch kaum einen Versuch gemacht, auf
sie näher einzugehen und eine Bestätigung sei-
ner Erklärung zu suchen: denn die Behandlung
der Mythen von Athena und Hephaestos und von
dem Kampfe der ersteren mit Poseidon, welche
im weitern Verlaufe des Buchs gegeben wird,
genügt einmal nicht, anderseits aber ist damit
doch nicht annähernd der reiche Kreis von An-
schauungen,' welche sich an diese Göttin knü-
pfen, erschöpft. Wenn der Verf. von ihrem
morgendlichen Erscheinen, von ihrem Licht-
wesen eine Reihe von Beinamen wie dgvdsQxyg,
o*g>&alfitng} yXavx<5m$, ßovdsux, ßoaQfiia, iqydv^
etc. ableitet, so konnte er mit demselben Rechte
etwa alle Gottheiten der griechischen Mytholo-
gie zu Gottheiten der Morgenröthe machen :
denn theils führen diese Namen, wie 3%vd€Qxyg
und ähnliche, fast Alle nach ihrem Wesen als
Himmelsmächte, d. h. als am Bimmel schaffend
und sich bewegend und daher selbstverständlich
den gesammten Umkreis der Erde unter sich
habend; theils sind sie, wie nobovxog, ßovXatog
f
I
Buraouf , La legende Athenienne, 6tude de myth. 87
if^alog etc., ans einem bekannten Streben des
Verehrers erwachsen, die einzelne Gottheit zum
Schützer seines gesammten Lebens, aller seiner
Handlungen zu machen und kommen daher gleich-
falls allen Hauptgottheiten zu.
Genauer geht der Verf. auf den Namen Tq*~
ivrfc ein und glaubt in ihm ebenso wie in Trita
eine Beziehung zum Somatrank zu erkennen,
welcher, am dritten Tage in Gährung überge-
gangen, dann erst als das würdige Opfer der
Götter angesehen wurde. Aber Rec. denkt, um
die Beziehung auf die Dreizahl, die auch er
darin erkennt, herauszufinden, braucht man nicht
zu jenen vedischen Anschauungen zurückzugehen,
sondern findet eine genügende Erklärung in der
griechischen Mythologie selbst. Tqnoyiveya ist
keine andere als die drittgeborene d. h. die in
drei verschiedenen Erscheinungen sich offen-
barende, die eine Dreieinheit bildende Gottheit.
Als eine solche erscheint nicht nur Athene in
zahlreichen Beziehungen — Rec. erinnert nur
an die drei Thauschwestern, die häufig mit ihr
identificirt wesentlich mit ihr Eins sind, sowie
an die ihr geweihten dritten Tage sämmtlicher
drei Dekaden des Monats — sondern auch an-
dere Göttinnen weisen dieselbe für ihr Wesen
äusserst bedeutungsvolle Beziehung auf. Am be-
kanntesten ist die Hekate, bei welcher man den
allmäligen Uebergang von den drei Personen
Eines Wesens in die TqI^oq^oq und in die Drei-
einheit deutlich verfolgen kann. Auf die eigent-
liche Bedeutung dieser Dreizahl kann Rec. hier
aber nicht weiter eingehen.
Das Verhältniss der Athene zu Hephaestos,
welches allerdings auf die einstige unsittlichere
Auffassung jener einen Schluss erlaubt, bezeich-
net der Verf. als das Verhältniss des Feuers, sei
A I
88 Gott, gel Anz. 1873. Stück 3.
dieses nun das himmlische oder irdische} zur
Morgenröthe : das irdische Feuer würde hier
natürlich das heilige Opferfeuer sein. Aber die
äusserst wechselnde Auffassung der Aurora in
den Veden, indem sie bald als Geliebte des
Agni, bald als die des Sonnengottes, bald als
die Mutter dieser, dann aber auch wieder als
seine Freundin und Gefährtin, oder als die der
A$vin bezeichnet wird, beweist, dass dieses Ver-
hältniss in der vedischen Religion nicht über
eine poetische Auffassung hinaus gekommen ist«
Die Dichter der Hymnen bezeichneten die Göt-
tin völlig wechselnd je nach ihrem Standpuncte,
ihrer Auffassung etc.; es hatte sich also, wie
man mit völliger Sicherheit daraus schliessen
darf, damals noch keine allgemein gültige Auf-
fassung der Ushas gebildet, die hätte Anspruch
darauf machen können, als wesentlicher Bestand-
theil der Religion zu gelten. Ein solches Ver-
hältniss, wie es z. B. zwischen Himmel und Erde
durch die gesammten Hymnen der Veden sich
ohne Schwanken hindurch zieht, weist allerdings
auf eine angewurzelte Vorstellung hin und darf
mit Recht auch in den andern indogermanischen
Religionen gesucht werden; aber ein so schwan-
kendes Verhältnis8, wie es die Ushas zu Agni
und zu den verschiedenen Namen und Wesen
der Sonne in den Veden darbietet, kann mit
keinem irgendwie einleuchtenden Grunde mit
Mythen griechischer und anderer Religionen zu-
sammengebracht werden. Denn die Ueberein-
stimmung kommt im Grunde darauf hinaus,
dass hier wie dort ein Liebesverhältniss zwischen
einer weiblichen und einer männlichen Gottheit
erscheint, welches mit mehr oder weniger Be-
reitwilligkeit von Seiten jener gewährt wird.
Die Beinamen \nnia% %ahvtug und ähnliche
Barnouf, La Ugende Athenienne, ätudede myth. 89
erinnern den Verf. an den Wagen der Morgen-
röthe, wie derselbe mehrfach der Ushas beige-
legt wird. Nun werden aber ähnliche Beziehun-
gen einer ganzen Reihe von Gottheiten beige-
legt und mit demselben Rechte könnte man
wieder z. B. einmal Apoll, sodann Hermes zu
Gottheiten der Morgenröthe machen, zwei We-
sen, die ihrer Bedeutung nach so grundver-
schieden sind, wie Licht und Dunkel, und von
denen keine die Morgenröthe ist. Es kam doch
darauf an, nicht das zu erklären, was Athene
fflH andern gemeinsam hat, .sondern das, was
sie besonders und ausschliesslich characterisirt :
sonst mus8te der Verf. eben jenes in seiner all-
gemeineren Beziehung auch zu den andern Gott-
heiten erklären.
Sodann geht der Verf. auf die kriegerische
und schützende Seite der Athene über. Mit
Recht hebt er hervor, dass in den Veden der
Kampf des Lichts gegen das Dunkel überall
hervortritt; setzen wir hinzu: nicht nur in den
Veden, in allen Mythologieen und Religionen ist
dieser Kampf Kern und Mittelpunct des ge-
ttmmten Glaubens. Aber es ist äusserst miss-
lich fur den Verf., gerade hier aus der Ushas,
vie sie uns in den Veden und besonders im
ßig-Veda entgegentritt, auf eine Wesensgleich-
heit dieser und der Athene schliessen zu wol-
len. Denn gerade bei keiner Gottheit tritt die-
ser Kampf weniger hervor, als bei der Morgen-
lüfte. So wahr und schön und mannigfaltig
sie von den Sängern der vedischen Hymnen ge-
schildert wird — obgleich sie stets doch nur
eine untergeordnete Gottheit bleibt — , so sel-
ten ist ihr prinzipieller Gegensatz gegen Nacht
und Dunkel ausgesprochen. Die paar Mal,. wo
es von ihr heisst, dass sie den Genius des Dun-
8
^
90 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 3.
kels vertreibe, ihn zurückdränge, wollen abso-
lut gar nichts beweisen: gerade die Ushas wird
mit Vorliebe als Schwester, nicht als Gegnerin
der Nacht bezeichnet. Und während Athene
ganz vorwiegend als die gerüstete, kriegerische
auftritt, findet sich — wenigstens im Rig-Veda
— nicht Eine Stelle, welche der Ushas eine Waffe
in die Hand giebt: stets sind es die röthlichen
strahlenden Lichtgewänder, wenn sie bekleidet
dargestellt wird, in welchen sie erscheint. Hier
ist also ein offenbarer Gegensatz zwischen
Athena und Ushas. Und wenn der Verf. die
Mythologieen des Apoll und anderer Lichtgott-
heiten heranzieht, um die Waffen der Athena
und ihren Kampf gegen das Reich des Dunkels
zu erklären, so beweist er eben nur das Eine,
dass Athene eine Lichtgöttin ist und Rec. ist
der letzte, welcher dies leugnet.
Die Aegis ist dem Verf. der Lichtraum des
Ostens beim Erscheinen der Morgenröthe und
das Gorgoneion der unmittelbar dem Aufgange
der Sonne vorangehende Glanz dieser oder sie
selbst. Zunächst würde daraus folgen, dass die
Aegis im Grunde Athene selbst wäre; denn eben
der röthliche Schimmer des Ostens vor dem
Aufgange der Sonne ist doch die Morgenröthe.
Sodann würde das Gorgoneion die Sonne selbst
sein: denn auch wenn der dem Sonnenaufgange
selbst unmittelbar voraufgehende Glanz allein
als Gorgoneion gefasst würde, so dächte ich
doch, es gehörte wenig Reflexion dazu — und die
Hymnen der Veden beweisen es aufs bestimm-
teste — , diesen Glanz als schon von der Sonne
selbst ausgehend zu betrachten, nicht aber als
eine weitere, selbständige Erscheinung zu fassen.
Aber der Verf. scheint selbst nichts dawider zu
haben, dass man das Gorgoneion als Sonne
Bofflouf, La legende Athenienne, etude de myth. 9 1
selbst fegst, da er ausdrücklich sagt : on peut-
etre le soleil meme ä. son lever. Danach wäre
abo die Vereinigung der Aegis mit dem Gor-
goneion der Verein der Morgenröthe mit der
Sonne. Wie nun aber der Verf. selbst den Per-
sens r°Qr°9°vos als den durch den Aufgang der
Sonne vernichteten Glanz jenes Vereins erklären
kann, wodurch die Ungeheuerlichkeit entsteht,
dws die* Sonne sich selbst, oder wenigstens ih-
ren eigenen Glanz mordet, ist Rec. unerklär-
lich. Rec. denkt doch, jener Glanz wird durch
die erscheinende Sonne nicht schwächer, son-
dern stärker, überwältigender. Der Verf. trennt
eben den Glanz der Morgenröthe völlig von die-
ser selbst ab und will beide als durchaus ver-
schiedene Erscheinungen gelten lassen, aber ich
wüaste nicht, was von der Morgenröthe übrig
bleibt, wenn man ihren Glanz, ihr Leuchten,
ihre äussere Erscheinung nimmt. Der Verf.
bitte sich doch in Erinnerung rufen sollen, mit
welchem Entzücken die Sänger der vedischen
Hymnen die Erscheinung der Sonne mit ihrem
wunderbaren Glänze herbeirufen: wenn da auch
häufig dieser Glanz als ein kaum zu ertragen-
der dargestellt wird, so überwiegt doch die
Freude, die Begeisterung über das Kommen des
Lichts, über den Sieg desselben so völlig alles
andere, die Sonne, das Licht, der Glanz wird
als eine so absolut gnädige freundliche Macht
gtfasgt, da88 auch nicht die leiseste Berechti-
gung für jene entgegengesetzte Anschauung übrig
bleibt, den blendenden Glanz als etwas beson-
deres abzutrennen und zum Gorgoneion zu ma-
chen, welches nun durch die Sonne selbst erst
getodtet wird.
Was der Verf. über die Schlangen sagt ist
richtig. Die Schlangen aller Mythologieen be«
8*
92 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
ziehen sich auf die Wolkenbildung des Him-
mels, ein Moment, welches von unendlicher
Wichtigkeit für die Erklärung der Mythen ist.
Die äusserst verschiedenen Beziehungen, in de-
nen die Wolken ihrer Form, Gestalt, Farbe,
Wesen nach erscheinen und zu den andern
Mächten des Himmels, der Sonne, des Mondes
etc. treten, haben eine sehr reiche Mannigfaltig-
keit in ihrer Auffassung geschaffen.
In yXavx&mg sieht der Verf. eine Beziehung
zur Eule, dem Vogel der Athene: le pretre,
sagt er, qui avant le lever du soleil offrait le
sacrifice ä l'Athena les entendait encore autour
de lui, accompagnant sa priere de leur cri ca-
dence; la chouette etait alors done naturelle-
ment l'oiseau d' Athena : dieses naturellement ist
Rec. nicht klar. Dass die Eule ein Nachtvogel,
welcher das Dunkel liebt, das Licht hasst und
flieht, ist doch wohl eine unbestreitbare Wahr-
heit. Ist aber Athene die Göttin der Morgen-
röthe, welche den Tag bringt, alle Lichtgötter,
wie die vedischen Hymnen so mannigfach sagen,
wieder zur Erde, zu den Menschen herabfuhrt,
so bestand ein principieller Gegensatz und
Feindschaft zwischen dieser Göttin und jenem
Vogel und die enge Beziehung beider bleibt völ-
lig unerklärlich. Wenn der Verf. zur Erklärung
des Sonnengottes als yoQyoipdvos sich auf Indra
beruft, von welchem ein Hymnus gleichfalls er-
zählt, dass er die Ushas auflöst, vernichtet, so
lernen wir hier beiläufig, dass der Verf. Indra
als Sonnengott fasst: Rec. hatte bislang die
Auffassung des Indra als des Himmelsgottes als
eine allgemein angenommene und unzweifelhafte
betrachtet.
Nachdem der Verf. noch zwei Gruppen von
Worten, deren eine mit Kvv-, die andere mit
Burnouf, La legende Athenienne, etude de myth. 93
Avk- anfangend, eine sehr bekannte Bolle in
der griechischen Mythologie spielen, worauf Reo.
Her nicht naher eingehen kann, behandelt hat,
bespricht er in Cap. 4 die legende de Poseidon.
Der Verf. betrachtet diese Gottheit nicht
ab auf die Herrschaft über die Gewässer der
Erde beschrankt, sondern sieht in derselben
in umfassenderer Bedeutung ursprünglich den
Gott der himmlischen Gewässer. Rec. ist mit
ihm hierin völlig einverstanden, möchte aber
noch weiter gehen. Poseidon — die Ahrens'-
sche Erklärung des Namens scheint dem Verf.
unbekannt zu sein — ist selbst ein Himmels-
gott: er ist wesentlich gleich, ja ohne Zweifel
in vielen Culten identisch mit dein altgriechi-
schen Ztig opßQiog. Es muss auffallen, class
dem Verf. bei der Betrachtung des Poseidon
nicht der indische Varuna zur Vergleichung sich
dargeboten hat: Indra und Varuna in der indi-
schen Mythologie stehen in demselben Verhält-
nis« zu einander, wie Zeus und Poseidon. Ist
Indra die entschieden jüngere Gottheit des Him-
mels, deren Kern und Mittelpunct das Licht,
der Glanz ist, so ist Varuna der ältere Him-
melsgott, und der Mittelpunct seines Wesens
gerade umgekehrt die dunkle Seite des Him-
mels, obgleich sich auch bestimmte Beziehungen
zum Lichte finden. Diese beiden Gottheiten re-
präsentiren zwei Perioden der vedischen Mythen-
entwicklung. Aehnlich verhält es sich mit Zeus
und Poseidon: doch ist Rec. der entschiedenen
Ansicht, dass hier zugleich historische Momente
mit ins Spiel kommen, indem Zeus und Posei-
don als die obersten Himmelsgötter auf zwei
verschiedene Stammgruppen des griechischen
Volks zurückzuführen Bind, deren Cult neben
«n*mW sich erst allmälig gestaltet hat.
94 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 3.
Die Vereinigung des Poseidon mit der De-
meter Erinnys ist dem Verf. wieder die Ver-
einigung des himmlischen Lichts mit der Mor-
genröthe, aus welcher das Sonnenross entspringt.
Hier ist Alles baltlos. Giebt der Verf. dem Po-
seidon mit Recht gerade als characteristisch die
Beziehung zum himmlischen Wasser und damit
zum himmlischen Dunkel , mag dasselbe nun als
Wolke oder als nächtliches Dunkel gefasst wer-
den, so muss es doch sehr auffallen, dass nun
plötzlich die entgegengesetzte Seite des himm-
lischen Wesens, das Licht, zum Ausgangspuncte
fur die Erklärung dieses Mythus genommen
wird. Ja indem der Verf. den Poseidon geradezu
mit dem indischen Parianya identificirt, der
ihm — obgleich er Burner's Aufsatz über diese
Gottheit nicht zu kennen scheint — geradezu
der Regen, die regnerische Wolke ist, wird das
durch nichts motivirte Umspringen noch uner-
klärlicher. Indem er die Erinnys mit Max Mül-
ler als Morgenröthe fasst — entgegen der
Kuhn'schen Erklärung — , stützt er sich auf die
ganz vereinzelte Angabe eines vedischen Hym-
nus, nach welcher es von der Morgenröthe heisst,
dass sie wie ein glänzendes Ross erscheint.
Dass dieses nur ein poetisches Bild, ein Ver-
gleich, ist klar: der Verf. macht diese verein-
zelte Anschauung zur Grundlage seiner ganzen
Auffassung. Das der Vereinigung dieser bei-
den entspringende Ross ist die Sonne: dass der
griechische Mythus gerade von der nur mit An-
strengung erfolgenden Zähmung jenes Rosses
durch die Sonnenheroen Herakles, Adrastus etc.
spricht, wodurch doch die Verschiedenheit, ja
gewissennassen der Gegensatz des Rosses und
des Reiters ausgesagt wird, ist dem Verf. kein
Bedenken. Ob die ganze Auffassung, das Licht
Bmrnouf, La legende Athenienne, etude de myth. 95
des Himmels sich mit dem Glänze der Morgen-
rotfae vereinend und die Sonne erzeugend zu
denken, eine wirklich naheliegende oder über-
haupt nur mögliche ist, will Reo» nicht unter-
suchen.
Völlig verschieden von dem arkadischen My-
thus der Erzeugung der Despoina durch Posei-
don und Demeter ist dem Verf. der eleusinische
Mythus, in welchem an die Stelle der Despoina
die Persephone und an Stelle des Poseidon Zeus
tritt Hier soll Demeter in der That die Erde,
Zeus der Himmel und Persephone die Vegeta-
tion sein: welche Bedeutung aber der Verf.
eigentlich der Despoina giebt, ist dem Reo. un-
klar geblieben. Da die Demeter die Morgen-
röthe sein soll, so weiss man in der That nicht,
welche Rolle man der aus der Vereinigung der
Morgenröthe mit dem himmlischen Lichte ent-
springenden Tochter zuweisen soll. Sonnen-
gottinnen scheint der Verf. mit Recht nicht an-
zunehmen, auch ist ja die Sonne schon in dem
Arion vertreten: der Verf. hat es sich jedenfalls
leicht gemacht, trotzdem er länger von der
Despoina spricht, ihr Wesen völlig zu verhül-
len. In der Erklärung der eleusinischen Sage
▼on der Vereinigung des Zeus Ombrios mit der
Demeter (Gaea) schliesst sich der Verf. im All-
gemeinen der bekannten Auffassung an.
Am Schlüsse des Gap. spricht der Verf. über
den Kampf der Athene und des Poseidon. Mit
Recht fasst er die Erzeugung der Quelle in ur-
sprünglicher Bedeutung als Erzeugung des
himmlischen Wassers: der Gegensatz zwischen
Athena und Poseidon ist aber nicht in so be-
schränktem Maasse, wie der Verf. will, als der
Gegensatz der MorgenAthe gegen das in den
Werten sich zurückziehende Dunkel zu fassen.
96 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 3.
Recht deutlich aber tritt die Unrichtigkeit der
Erklärung des von Poseidon stammenden Bos-
ses hier hervor: wie kann Poseidon besiegt ge-
nannt werden, wenn die Sonne, die unmittel-
bare Erzeugung desselben, nach des Verf. eige-
ner Ansicht die Morgenröthe mordet?
In einem letzten (5.) Gap. bespricht der
Verf. die legende des rois. Als wirklich origi-
nale Gestalten lässt er aber nur den Erech-
theus, Eekrops und Pandion gelten. Im Allge-
meinen spricht der Verf. Beine Ansicht dahin
aus, dass die alten heroischen Gestalten nur
Widerholungen, secundäre Formen der alten
Götter sind und so ist ihm Erechtheus, den er
falschlich mit Erichthonius zusammen wirft, der
Sonnengott, welcher aus der Vereinigung der
Morgenröthe (Athene) mit dem Opferfeuer des
Morgens (Hephaestos) hervorgeht. Wenn die
Tradition an Stelle der Athene Zeuxippe setzt,
so ist ihm das nur ein Versuch die Jungfräu-
lichkeit der Göttin zu schützen, da Zeuxippe
von einer wesentlichen Function jener ihren Na-
men erhalten habe und im Grunde diese selbst
sei. Weil nun Ereohtheus häufig mit Poseidon
identificirt wird, obgleich jener doch als Sonnen-
gott ursprünglich dem Osten, dieser dem We-
sten angehört, so hilft sich der Verf. dadurch,
dass er gleichsam das Mittel aus diesen beiden
Extremen zieht und in dem mit Poseidon iden-
tificirten Erechtheus den dritten Schritt, die
dritte (richtiger die zweite) Station des Sonnen-
gottes sieht. Bekanntlich wird von Vishnu aus-
gesagt, dass er 3 Schritte am Himmel mache:
der erste bringt ihn an den östlichen Horizont,
so da 88 er Allen sichtbar wird, der zweite auf
die Höhe des Himmels*4— die heiligste Station
— , der dritte führt ihn wieder in den Westen
Burnout La legende Athenienne, ätude de myth. 97
herab. Erechtheus würde also ein anderer
Vishnu sein oder eigentlich nur der auf die
zweite Station gebannte Sonnengott. Das ist
jedenfalls eine sehr sinnreiche Manier, princi-
pielle Gegensätze auszugleichen, nur fürchte ich
wird der Verf. wenige Gläubige finden.
Auch der Kampf zwischen Erechtheus und
Eumolpos soll nach des Verf. Meinung nichts
historisches enthalten. Da Eumolpos als der
8ohn des Poseidon, welcher letztere dem Westen
angehört, und der Ghione, der Tochter des Bo-
reas, bezeichnet wird, so ist damit die Abkunft
desselben genügend bezeugt: als Sohn von Nord
und West ist er der Nord- West und diese Rich-
tung weist direct nach Eleusis, weshalb die
Heusinier, das Heer des Eumolpos, eben nichts
anderes sind, als die dem Athener von Eleusis
her wehenden Nordweststürme, die in Eumolpos
einheitlich repräsentirt werden. Der Name des
letzteren erinnert den Verf. an die Maruts, die
Sturmgeister der vedischen Mythologie: dass
diese aber ganz consequent als die Helfer des
hdra im Kampfe gegen das Dunkel, das Böse
erscheinen, also einen geradezu entgegengesetz-
ten Character haben, hindert den Verf. nicht,
im Kampfe des Erechtheus und des Eumolpos
nur den Gegensatz der Sonne gegen die Stürme
des Westens und Nordwestens zu sehen. Nach-
dem der Verf. noch den Namen Erechtheus mit
dem Tedischen Anstanden! identificirt und einige
andere Etymologieen gegeben hat, wendet er
sich zu Kekrops , in welchem er den vedischen
Kacyapa erkennt, um mit dem Pandion zu
schliesaen, dessen Name dem Verf. eine theil-
weise Uebersetzung des tedischen vifwadeva
ist, womit bekanntlich die Gesammtheit der
Hauptgötter der vedischen Mythologie bezeich*
08 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
net wird. Rec. muss es sich versagen, genauer
auf die Darlegung dieser Ansichten und ihre
Widerlegung einzugehen und erwähnt nur, dass
überall auch die untergeordneten Gestalten der
verschiedenen Mythencomplexe mit vedischen
Namen und Wesen . zusammengebracht werden.
Will man ein allgemeines Urtheil über die
vorliegende Arbeit fallen, so ist zunächst zu
sagen, dass des Verf. Verfahren, alle Namen
und Personen der griechischen Mythologie mit
solchen der Veden zusammen zu bringen, ein
durchaus verfehltes ist. Auf diese Weise wird
die griechische Mythologie zu einer abgeblassten
Gopie der indischen. Es heisst aber von der
schöpferischen Phantasie der Griechen eine
äusserst geringe Meinung haben, wenn man
diese nur als Nachbeter, ihre ganze Mythologie
als ein starres Festhalten an den aus der Ur-
heimath mitgebrachten Formen auffassen will.
Gerade die griechische Mythologie weist eine so
organische Fortbildung der ursprünglich ge-
meinsamen Gottheiten auf, wie keine andere.
Die Vergleichung der vedischen Mythologie
mit der griechischen und mit den andern indo-
germanischen Mythologien * ist von einer kaum
hoch genug zu schätzenden Bedeutung. Aber
diese liegt viel weniger in der Vergleichung und
Identification einzelner Gestalten, als in der Er-
kenntniss des eigentlichen Characters, des Ge-
sammtwesens der indogermanischen Mythologie.
Dass der religiöse Glaube der Indogermanen
von Haus aus in absolutem Sinne eine Natur-
vergötterung war, dass die so vergötterten Na-
turerscheinungen ferner fast ausschliesslich auf
die am Himmel zur Erscheinung kommenden
Mächte, des Himmels als solchen, der Sonne,
der Wolkenbildung, des Mondes etc. sich be-
Burnouf, La legende Athenienne, etude de myth. 99
schrankten, kann nach der Bekanntschaft mit
den Hymnen besonders des Rig-Veda nicht mehr
geleugnet werden. Aber nun die gesammte re-
ligiöse Anschauung aus der vedischen Mytholo-
gie einfach in die griechische übertragen ist so
verfehlt wie möglich. Wie die Sprache sich
hier und dort zu völlig selbständigen Schöpfun-
gen gestaltet hat, so haben auch die Mytholo-
gieen beider einen völlig selbständigen Charac-
ter. Ist die indische Mythologie ein mit gross-
artiger Phantasie gestaltetes Reich, in dem die
Machte ohne fest ausgeprägtes System noch
durcheinander wogen, so hat die künstlerische
Natur der Griechen die Gottheiten ihrer Mytho-
logie zu so einheitlich idealen Gestalten erho-
ben, dass hierin fast keine Vergleichung mög-
lich ist. Tritt ferner in der indischen Mytho-
logie ein solches Uebergewicht der Tagesmächte
über die nächtlichen Gestalten hervor, dass für
diese fast kein Platz übrig bleibt, so bietet da-
gegen die griechische Mythologie ein so völlig
gleichmäßiges Beherrschen aller Zeiten una
aller Naturkreise dar, dass auch hier wieder
die griechische Mythologie als die organischere,
vollkommnere erscheint. Ein weiteres für die
Gestaltung der griechischen Gottheiten sehr
wichtiges Moment übersieht der Verf. vollstän-
dig, die Berührung mit semitischen Religionen
und Mythologieen. Dass gerade diese auf die
Umformung und Ausbildung der älteren Gestal-
ten griechischer Mythologie von grosser Bedeu-
tung gewesen ist, kann hier nur angedeutet wer-
den. So hat gerade Athene in Bezug auf ihre
kriegerische Seite eine ganz bestimmte Beein-
flussung von der Astarte erfahren, worauf schon
Ernst Curtius hingewiesen hat.
Verfehlt ferner ist es, wie es in dem
.» * +
100 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 3.
vorliegenden Werke meines Wissens zuerst ge-
schieht, auch den gesammten indischen Opferri-
tus auf Griechenland zu übertragen. Wenn der
Verf. die heiligen Handlungen des Opfers, ides
Gebets, 'den Somatrank, den Agni — der aber
keineswegs, wie der Verf. annimmt, eine auf
das Opferfeuer beschrankte Bedeutung hat —
einfach wieder auf Griechenland übertragt, so
zeugt das von einer sehr geringen Bekanntschaft
mit griechischer Mythologie und griechischem
Cult. Auch hier ist der griechische Geist viel
organischer, als der indischer dem Griechen ist
die heilige Handlung nie zur göttlichen Persön-
lichkeit geworden, sondern er hat als seine
Götter nur die himmlischen Mächte gefasst.
Die vedische Mythologie erscheint hierin auf
einem viel kindlicheren Standpuncte, indem sie
überall noch Personificationen vornimmt, wo der
griechische Geist schon weiter geschritten ist und
Handlungen, Erscheinungen, Zustände als Aus-
fluss oder Zubehör höherer Persönlichkeiten
fasst.
Wenn der Verf., oder richtiger M. Müller,
dem jener hierin nur folgt, die Morgenröthe als
den Kern der weiblichen Gottheiten der griechi-
schen Mythologie fasst, so ist das wieder ein
völlig unmotivates Uebertragen des indischen
Standpuncts in den griechischen Glauben. Die
Morgenröthe, welche der Inder noch zu einer
selbständigen Gottheit macht und ihr eine ge-
wisse, aber keineswegs so umfassende Bedeutung
beilegt, wie Müller und der Verf. anzunehmen
scheinen, ist dem griechischen Geiste schon
kaum mehr eine selbständige Gestalt: nur
ganz vereinzelte mythische Beziehungen werden
ihr gegeben; ihre Bedeutung ist fast nur eine
poetische; man hatte eben erkannt, dass sie
Bomouf, La legende A thenienne, etude de myth. 101
nichts selbständiges, ihre Erscheinung nur der
Ausfluss des Sonnenglanzes sei. Wollte der
Verf. seine Annahme, dass das Verhältniss
zwischen Sonne und Morgenröthe Kern und
Mittelpunct der Mythologie der Lichtmächte sei,
beweisen, so musste er nicht nur die indische
Mythologie, er musste gleicherweise die eränische,
ja alle indogermanischen Mythologieen heran-
ziehen und in allen die Verehrung der Morgen-
röthe wenigstens als sehr bedeutsames Moment
nachweisen. Es würde ihjn dieses allerdings sehr
schwer geworden sein: besonders die eränische
Mythologie, von der man doch wenigstens eine
gewisse Cebereinstimmung in dieser Beziehung
mit der indischen vor Allen erwarten sollte,
weist so gar keine Spur dieses Cults auf und
trägt überhaupt einen so völlig selbständigen
Character, dass schon dieser Umstand den Verf.
hätte abhalten sollen, indische Vorstellungen
als selbstverständlich in griechischen wieder zu
finden. Jedenfalls aber muss es sehr auffallen,
dass der Verf. auch nicht den leisesten Versuch
macht, andere Mythologieen und besonders die
eränische mit in seine Betrachtung hineinzu-
ziehen: kaum erwähnt wird diese.
Mit Recht weist der Verf. auf die Bedeutung
des Gegensatzes von Licht und Dunkel hin.
Dieser Gegensatz ist dem Rec. nach dem Er-
gebniss seiner Studien Centrum aller Mytholo-
gieen und Naturreligionen. Verdienstlich sind
hier die Arbeiten BreaTs. Auch die verglei-
chenden Mythologen Deutschlands betonen die-
sen Gegensatz mehr und ipehr; der Verf. hat
aber Recht, wenn er sich gegen die Ergebnisse
der Forschungen dieser letzteren wendet. Be-
kanntlich finden Kuhn, Schwartz u. s. w. — vgl.
auch die Ztschr. für Völkerpsychol. — , denen
102 Gott. gel. Aus. 1873. Stück 3.
sich nun auch Benfey angeschlossen hat, den
Blitz, das Gewitter fast als Ausgangspunkt der
gesammten Mythenbildung und -erklärung. Es
ist das aber ebenso einseitig, als wenn M. Mül-
ler und Buraouf die Morgenröthe zur ersten
Göttin machen. Vor allem aber ist dagegen
Einsprache zu erheben, den Blitz selbst als
Persönlichkeit zu fassen und von besonderen
Blitzgottheiten zu reden. Der Blitz ist in allen
Mythologieen nie etwas anderes als ein unor-
ganisches Wesen, meist eine Waffe, ein Keil,
ein Schwert u. dgl., welches für die Entschei-
dung des Kampfes zwischen Licht und Finster-
ni&8 von grosser Bedeutung ist, aber nur inso-
fern es als Werkzeug in den Händen dieser
kämpfenden Mächte erscheint. Das Gewitter
ist allerdings als der Höhepunct jenes Gegen*
satzes von Licht und Dunkel betrachtet, aber
der regelmässige Wechsel von Tag und Nacht,
der allgemeine Gegensatz zwischen Wolkendun-
kel und Tageslicht, hat, weil organischer und
von umfassenderer allgemeinerer Bedeutung, eine
viel höhere Wichtigkeit in ihrem Processe als
jener immer nur als Ausnahmezustand aufge-
fasste Vorgang des Gewitters.
Die Deutung der Königssagen Athens von
Seiten des Verf. ist nicht [ohne Berechtigung,
aber gleichfalls zu einseitig aufgefasst. Aller-
dings ist auch Rec. der Ansicht, dass die
Heroen, die Könige eines Stamms, je älter sie
sind, desto unverfälschter, den Character der
Hauptgottheiten des Stamms an sich tragen:
aber wenn der Verf. sich etwas mehr mit der
ältesten Geschichte der griechischen Stämme be-
schäftigt hätte, so würde er wohl zuderUeber-
zeugung gekommen sein, dass das historische
Moment in der Deutung dieser Stammsagen eine
BaraonfjLa legende Athenienne, etude de myth. 103
lehr bedeutende Rolle spielt. Es ist eben so
einseitig dieses letztere allein gelten lassen zu
wollen als nur das mythische Moment als be-
rechtigt anzuerkennen. Nichts ist aber natür-
licher, als dass die Stammsagen den Character
der Hauptgottheiten des Stamms widerspiegeln.
Kein einziger der indogermanischen Stämme hat
och eine bestimmte Erinnerung von seinen Wan-
derungen nach der späteren Heimath erhalten:
selbst die leisen Anklänge an solche Erinnerun-
gen, wie man sie bei den Indern und Eräniern
bat finden wollen, mochten sich kaum bestäti-
gen, sondern eine mythische Bedeutung haben.
Es wird dadurch bewiesen, dass man diese Wan-
derzüge keineswegs als die eigentliche Helden-
zeit der Stämme fassen darf, die reich an grossen
Thaten das Volk zu selbständigen Gharacteren
machten und sodann auch mit Notwendigkeit
ein Bewusstsein seiner Kraft schufen , welches
stets eine Erinnerung an dieses Selbständig-
werden bewirkt. Jene Wanderungen müssen ein
60 einförmiges Gepräge getragen haben, dass
ne nichts der Erinnerung würdiges boten. Dass
die Stämme noch nicht fähig waren, solche Er-
innerungen festzuhalten, ist nicht richtig: denn
die grossen Thaten der Götter haben alle Stämme
rieh gleichmässig bewahrt. Jene Wanderungen
— deren Ausgangspunct aber mit Benfey weiter
in den Westen oder Nordwesten gesetzt werden
mnas, als gewöhnlich geschieht — waren eben
80 arm an Thaten, indem die ungeheuren Flä-
chen, welche durchzogen wurden, Baum genug
boten, bei den leisesten Berührungen mit frem-
den Stammen auszuweichen, dass dieselben
wirklich nur als Wanderungen , nicht als
Kämpfe betrachtet werden müssen. Erst als die
griechischen Stämme, um von diesen speciell zu
104 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 3,
reden, in Griechenland selbst eingezogen sind
und hier ein Stamm sich über und neben den
andern schiebend keinen Raum mehr zum Wei-
terwandern findet und so zur hartnäckigen Ver-
theidigung des nun gewonnenen Sitzes gezwun-
gen wird, beginnt die Heldenzeit, wirkliche
Kämpfe, Heldendichtung, Festhalten jener Tha-
ten in der Erinnerung. Aber im Gedächtnias
haftete schon ein anderer, viel grossartigerer
Kampf, derjenige der Gottheiten des Lichts und
des Dunkels. So verschmolzen auf dem Wege
einer notwendigen Apperception die späteren
geringen eigenen Kämpfe des Volkes mit jenen
uralten gewaltigen Kämpfen, die als festes und
unentreissbares Eigenthum ein für allemal in
den Geistern hafteten. Die grossen Männer,
welche als Vorkämpfer der Stämme aufgetreten
waren, nahmen den Character der gnädigen, hoX*
fenden Gottheiten an; die Feinde traten in das
Verhältniss der Dämonen der Finsternisse Welche
den Lichtmächten widerstanden; die besonderen
Umstände des Orts, der Zeit, Zufälligkeiten ver-
schmolzen mit dem Locale, der Zeit, den sonsti-
gen Umständen der Götterkämpfe. Man kann
diese Verschmelzung historischer Thatsachen
und Kämpfe und Personen mit denen des Glau-
bens durch die gesammten Stammsagen verfol-
gen: je älter die Sagen, desto mehr treten die
göttlichen Eigenschaften etc. allein hervor; je
weiter sie in die Geschichte herabkommen,
desto mehr geschichtliche Züge mischen sich
ein, bis nach und nach der rein historische
Charakter sichtbar wird. Das historische Ele-
ment aber einfach aus den Stammsagen aus-
löschen, heisst sich die Sache auf Kosten der
Wahrheit sehr leicht machen. Gerade jene Ver-
schmelzungen göttlicher und menschlicher Kampfe
Bunioiif, La legende Athenienne,^tudede myth. 105
md Thaten auf dem Grunde einer umfassenden
Apperception machen die Stammsagen so inter«
essant, aber auch so schwer zu deuten. Nur
eine sehr genaue Erforschung der verschiedenen
och durchkreuzenden Wanderungen der griechi-
schen Stamme und der sehr mannigfaltigen
Stammelemente in den einzelnen Landschaften
und ihrer Schicksale kann im Verein mit der
richtigen Deutung der göttlichen Mächte jener
Stimme selbst hier zur Wahrheit gelangen.
Noch auf Ein Moment will Bec. zum Schlüsse
aufmerksam machen, welches für die Mythen-
deutung von einer sehr hohen, aber noch nie
genügend berücksichtigten Bedeutung ist. Es ist
dieses der Gült Bec. ist auf Grund seiner
Studien der Ansicht, dass der Gült nur die ir-
dische Wiederholung himmlischer Vorgänge ist.
Je kindlicher der Standpunkt des Menschen,
desto ausgebildeter, drängender ist das Bedürf-
n», das Gesehene, Erlebte nachzuahmen, dar-
zustellen und ans diesem unabweislichen Drange
der menschlichen Natur zur dramatischen Nach-
ahmung des Erfahrenen ist der Cult, dessen An-
finge und Grundlagen in die indogermanische
Urzeit zurückreichen, erwachsen. Der Gült ist
mm aber vom Verf. absolut gar nicht berück-
sichtigt. Es muss aber als eine, wenn auch
vielleicht nicht immer vollkommen erfüllbare
Forderung ausgesprochen werden, dass die
Mythendeutung die einzelnen Göttergestalten
nach allen ihren Richtungen, nach ihren Eigen-
schaften und Beinamen, nach ihren Mythen-
und Beziehungen, nach ihren Gultgebräuchen
und Darstellungen, in sämmtlichen Details, er-
klärt und von einem einfachen Kern des We-
sens ausgehend das allmälige Wachsen und
Kcfagestalten desselben verfolgend eine Ge-
9
106 Gott. geL Am. 1873. Stück 3«
schichte des organischen Werdens der Gott-
heiten giebt.
Göttingen. Otto Gilbert.
Franz Overbeck, Ueber den pseudo-
justinischen Brief an Diognet. Pro-
gramm für die Beet or a tsf ei er der Uni-
versität Basel. Basel 1872.
Auf dem Wege einer sehr umsichtigen und
lehrreichen Untersuchung gelangt der Verfasser
dieser Abhandlung zu dem überraschend neuen
Ergebnis, dass der vielgepriesene »Brief an
Diognet« nichts weniger als die Perle christ«
licher Literatur des zweiten Jahrhunderts, son-
dern vielmehr eine Fiction der nachconstanüni-
sehen Zeit sei. Der aus früheren Veröffent-
lichungen bekannte Standpunct Overbeck's gibt
sich auch hier in mehr als einer unzulässigen
Behauptung kund, wie z. B. die ist, dass Justin
der Märtyrer, welcher doch unter anderem ge-
gen Marcion geschrieben hat, noch keinen neu*
testamentlichen Kanon kenne (S. 31). Es
scheint auch das Interesse, einen unbequemen
Zeugen für einige neutestamentliche Schriften
aus der Zeit Hadrians oder gar Trajans loszu-
werden, nicht ganz unwirksam gewesen zu sein*
Aber der Gang der Untersuchung bleibt unver-
worren mit derartigen Neigungen und Voraus-
setzungen; so kann auch die Beurtheilung davon
absehn.
Sehr richtig zunächst würdigt Overbeck das
Zeugnis der Ueberlieferung. Es gibt überhaupt
keine andere aus dem Alterthum herrührende
Notiz über den Brief an Diognet als das %ov
ovtov (sc. VovGtivov) rrgdg Jdyvipov in der von
Otto benutzten, jetzt verbrannten strassburger
Handschrift, welche entweder, was Overbeck
Overbeck, Ueb. d. pseudojustBrief a. Diognet. 107
S. 5 mit Eeobt for wahrscheinlich erklärt, mit
der von H. Stephanus der editio princeps zu
Grande gelegten identisch oder deren Zwillings*
Schwester ist. Hält man sich, wie trotz ver-
einzelten Widerspruchs jetzt allgemein geschieht,
davon überzeugt, dass Justin nicht der Verfas-
ser sein kann, so entsteht von dieser Seite auch
siebt der mindeste Grund, den Brief gerade
Zeitalter Justins zuzuweisen; denn »das
der Ueberschrift über die Zeit des Briefs
bangt ganz an dem über seinen Verfasser« (S.
9). Wenn man sich trotzdem mehr oder weni-
ger nnbewu88t durch das unrichtig befundene
handschriftliche Zeugnis in der Feststellung der
Entstehungszeit beeinflussen liess, so beging man
denselben Fehler, wie wenn man es dem mura*
tarischen Kanon zwar nicht glauben will, dass
der Bruder des römischen Bischofs Pius den
Hirten des Hermas geschrieben hat, doch aber
an diesem Irrthum oder dieser Conjectur einen
Anhalt fur die Bestimmung der Abfassungszeit
des Hirten zu besitzen meint. Solchen Zeug-
nissen gegenüber gilt's entweder Glauben oder
▼olle Freiheit der Kritik. Im vorliegenden Fall
hängt es lediglich vom Charakter der Schrift
und den in ihr selbst liegenden Zeichen der
Zeit ab, ob wir sie dem zweiten oder irgend
einem anderen Jahrhundert, in welchem das
Gbtistenthum gegenüber dem antiken Heiden-
thnm vertheidigt und empfohlen worden ist, zu-
erkennen sollen. Mit Geschick beseitigt Over-
beds die äusserlichen Beobachtungen , durch
welche man sich in das frühere oder spätere
nachapoetolische Zeitalter bannen liess. Das
Präsens, in welchem die Schrift c. 3 von dem
jüdischen Opfercultus redet, könnte allerdings
höchstens eine von Niemand mehr verfochtene
9*
108 Gott, gel Abz. 1873. Stück 3.
Abfassung vor dem Jahre 70 beweisen, taugt
aber auch dazu ebensowenig, wie tdas gleiche
Präsens im Brief des Clemens an die Korinther
c. 41 oder in des Josephus Schrift gegen Apion
II, 23. Wenn man in den Worten vnd 9Iov-
daUav dg dkXdgwkin noXepovvxcu, xcd ini KEXXq-
vmv dwfxovTcu c. 5 eine Beziehung auf die Be-
lästigung der Christen seitens der Juden zur
Zeit des Barkochba zu erkennen meinte, so be-
streitet Overbeck S. 11 mit Recht Otto's Be-
hauptung , dass nofopetv neben <W xm? der stär-
kere Ausdruck sei. Eigentlich kann jenes Wort -
doch jedenfalls nicht genommen werden, da die
aufständischen Juden nicht mit den Christen,
sondern mit den heidnischen Römern im Krieg
lagen. Somit hat die Phantasie freien Spiel-
raum, unter der Anfeindung der Christen sei-
tens der Juden sich jede beliebige Bethätigung
feindseliger Gesinnung vorzustellen. Unpassend
für jene Epoche ist auch das dg äXXotpvXot, da
unter den Christen, mit denen es die Juden da-
mals zu thun hatten, wenigstens ebensoviele Ju-
den als NichtJuden waren. Der Ausdruck er-
innert vielmehr an die Zeit, in welcher Euseb.
praep. I, 2, 5; XV, 62, 18 geschrieben wurde.
Ferner passt die zu allen Zeiten unglückliche
Floskel: xcci ttjv ahtav t^g ix&Qctg slrulv ol
(HCovptsg ovk i%ovow (c. 5 cf. Joh. 15, 25) auf
die Heiden nicht, für deren Hass der Verfasser
selbst c. 2 wenigstens einen Grund angegeben
hatte, am allerwenigsten aber auf die Juden der
Zeit, um welche Justin seine apologetischen
Schriften abfasste (vgl. z. B. dial. c. Tryph. c.
16. 17.). Durch überzeugend richtige Auslegung
von c. 7 extr. beseitigt Overbeck S. 7. 13 auch
den Schein, als ob sich dort eine besonders leb-
hafte Erwartung der Wiederkunft ausspräche,
(Wbeck,T7eb.d.pseudojust.Briefa.Diognet. 109
md erinnert daran, class eine solche ancb in
späteren Perioden zu finden ist. Man vgl. nnr
etwa, was Firmicus Maternus in seinem den
Kaisern Constantias nnd Constans gewidmeten
Buche de errore profan, rel. 15, 3 sq. 25, 3
tagt So kanp denn anch die Betonung der
Neuheit der Erscheinung des Christenthums im
Gegensatz zu Heidenthum und Judenthum c. 1.
9 kein Zeichen der Abfassung gerade im zwei-
ten Jahrhundert sein, zumal sie hier mit einem
grossen theoretischen Mangel, mit der Verkennung
aller geschichtlichen Vorbereitung des Christen-
thums, zusammenhängt. Noch Eusebius sagt,
das« neuerdings erst (vsuöd praep. er. I, 1, 2;
vvv ... mrayjpq I, 1, 10) die neutestamentliche
Offenbarung erfolgt sei, und will die Frage er-
altern: tf ovr äv ytyotto %d xa& «pag JfAw,
*d %k t vstnsQtopog %ov /Kot;; I, 2, 2 cf. 5, 12.
Enthält somit die Schrift keine äusserlichen
Zeichen der Zeit, welche die landläufige An-
nahme ihrer Entstehung vor der Mitte des
zweiten Jahrhunderts nahelegen könnten, so
wird dieselbe durch den inneren Charakter der
ßchrifk geradezu ausgeschlossen. Overbeck zeigt
«rirodlich, dass weder die Bestreitung des Hei-
denthums (S. 14 — 17), noch die des Juden-
timms (S. 18—25), noch endlich das hier ge-
zeichnete Bild des Christenthums (S. 26—31)
tai wirklichen Verhältnissen und den literari-
schen Analogien des zweiten Jahrhunderts ent-
spreche. Wenn der Verfasser die heidnische
Beügion lediglich unter dem Gesichtspunct des
Bilderdienstes betrachtet und alles Uebrige, was
darüber und dagegen zu sagen wäre, fur über-
flüssig erklärt c. 2, so ist das freilich eine im
vierten Jahrhundert sogut wie im zweiten auf-
tifflige und durch keine literarische Absicht zu
^
HO Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
rechtfertigende Rohheit. Selbst zu der Zeit, da
der Untergang des Heidenthums ohne sonder«
liehen Glauben sich voraussehn liess, und die
euhemeristische Deutung christlicher Seite all-
gemein als die wahre Enthüllung der mytholo-
gischen Geheimnisse gepriesen ^urde, wie bei
Eu8ebius, Lactantius, Firmicus, wurde der Bil-
derdienst als eine untergeordnete Form der Re-
ligionsäusserung behandelt, und der Kampf rich-
tete sich gegen den volkstümlichen Götter-
glauben selbst als eine noch wirksame Macht
des Lebens, oder gegen die physikalischen und
theologischen Umdeutungen der Mythen von Sei-
ten der restaurirenden Philosophien. Und ea
war nicht bloss Wiederholung biblischer Ge-
dankenreihen, sondern ein Beweis des Eindrucks
von der andauernden religiösen Gewalt des
Heidenthums, wenn die genannten Apologeten
und noch Spätere, wie z. B. Augustin (de civit.
dei n, 10; IX, 18 sqq.) Götterglauben und
Götzendienst auf die Dämonen zurückführten«
Fremdartig würde in dieser Hinsicht sowie durch
seine bloss verächtliche Behandlung der Philo-
sophen als elender Gaukler c. 8 der Brief an
Diognet auch im vierten Jahrhundert dastehn.
Aber am allerunwahrscheinlichsten ist es doch,
dass ein literarisch gebildeter Christ zur Zeit
Hadrians durch rhetorische Verhöhnung des
Fetischismus auf einen höherstehenden Heiden
einen Eindruck beabsichtigt haben sollte. Ana-
logieen finden sich erst in späterer Zeit.
Athanasius z. B. in seiner misrathenen Jugend-
Schrift sieht bei seiner Schilderung des Heiden-
thums (adv. gentes c. 8 — 29) wenigstens auch
ganz von jenem mysteriösen Hintergrund ab.
Ich weiss nicht, ob es zufällig ist, dass audi
sonst einige Berührungen zwischen dieser freüich
Orerbeck, Ueb. d. pseudo just. Brief a» Diognet 111
g*ns Anderes bezweckenden, an einen Christen
gerichteten Apologie und dem Brief an Diognet
ach aufdrängen, ich meine nicht. Gemeinplätze
wie der, welcher ad Diogn. 4 extr. und Äthan.
idr. gent. 1, aber gewiss auch anderwärts zu
finden ist, sondern theologische Eigentümlich-
keiten, wie die ausschliessliche Betonung des
Verhältnisses, in welchem der präexistente Chri-
stus oder Logos zur natürlichen Weltordnung
stehen soll (ad Diogn. 7; Äthan, adv. gent.
40 sqq.). — In einer Apologie des zweiten
Jahrhunderts vermisst man eine Widerlegung
oder doch eine Erwähnung der aber die Chri-
sten umlaufenden Verläumdungen und einen ge-
schichtlichen Beweis für die Wahrheit des Chri»
stenthums. Letzteren macht ihm seine sonder-
bare Stellung zum Judenthum unmöglich. Ne-
ben einem unumwundenen katholischen Bekennt-
nis, welches jeden Versuch einer Herleitung aus
gnoetischen Kreisen ausschliesst (vgl. Overbeck
8. 21), 'und gelegentlicher homiletischer Verwen-
dung des Alten Testaments begegnet uns hier
eine Verhöhnung der jüdischen Cultuseinrichtun-
gen, eine Ablehnung jedes religionsgeschichtli-
chen Zusammenhangs zwischen Altem Testament
und Christenthum, so schroff und — wegen des
inneren Widerspruchs muss man sagen — so
gedankenlos, wie sie bei keinem Schriftsteller
des zweiten Jahrhunderts, auch nicht im Brief
des Barnabas, riel eher aber, wie Overbeck S.
36 f. nachweist, bei nachconstantinischen Schrift-
stellern ihre Parallele und ihre Erklärung findet.
Auch was Overbeck 8. 26 ff. über die für das
zweite Jahrhundert unwahre Schilderung des Le-
bens und der Weltstellung der Christen sagt,
raste ich nur durch weitere Belege zu bestä-
tigen und halte das negative Ergebnis seiner
Untersuchung überhaupt für gesichert.
112 Gott. gel. Anz. 1873/ Stack 3.
Als verunglückt dagegen wird die positive
Annahme zu bezeichnen sein, dass der Brief an
Diognet eine unter Justins des Märtyrers Na-
men ausgegebene Fiction sei (S. 14. 42 ff.)* Den
einzigen Anhalt dazu bietet die Ueberschrift der
einzigen Handschrift und die hier vorliegende
Verbindung mit anderen pseudojustinischen Schrif-
ten. Aber pseudojüstinisch im eigentlichen Sinne
des Worts sind auch die in der Handschrift
vorangehenden Schriften nicht mit Ausnahme der
6x&€<fts ntavBc&g, welche gleich im Eingang als
ein Werk des berühmten Apologeten sich zu er-
kennen gibt und als ein Werk Justins eine starke
handschriftliche Verbreitung und, wie die Noten
bei Otto zeigen, eine dem Zweck der Fiction
entsprechende Verwerthung wenigstens vom 6.
Jahrhundert an gefunden hat. Dahingegen ver-
dankt der unmittelbar vor dem Brief an Diognet
stehende kurze hiyoq nqiq "Ekkf/vag seine Auf**
nähme unter die unächten Schriften Justins nur
ebenso wie unsere Schrift dem tov ct&tov dersel-
ben einzigen Handschrift. Sollte sie wirklich
mit einem der beiden von Eusebius h. e. IV, 18
angeführten, schon ihm als justinisch überliefer-
ten X6yo$ nqoq "EXXfjvaq identisch sein, so wäre
sie ebenso wie das Buch tuqI (tovaQxtac eine vor-
constantinische, schon damals, wahrscheinlich mit
Unrecht, dem Justin zugeschriebene Schrift. Aber
pseudojüstinisch ist weder diese Schrift gegen
die Hellenen, noch jene über die Einheit Gottes.
Sie verrathen durch nichts die Absicht, fur
Werke Justins gelten zu wollen. Das gilt auch
von dem Xoyoq nctQcuvenxdg, denn die Beziehung
auf Reisen des Verfassers, die ihn nach Alexan-
dra en (c. 13) und Cumä (c. 37) geführt haben,
konnten keinen Leser späterer Jahrhunderte
darauf bringen, dass hier Justin der Märtyrer
rede. Es kann sich also nur fragen, ob diese
(Werbeck, Ueb. d. pseudojusi Briefs. Diognet. 113
exhortatio mit Recht, oder irrthümlicher Weise
frohe schon dem Justin zugeschrieben wurde,
due Frage, die noch nicht entschieden ist. Pseu-
äojustinisch ist sie jedenfalls ebenso wenig, als
etwa der schon im Jahrhundert seiner Abfassung
dem» Apostel Barnabas« zugeschriebene Brief des-
halb das Werk eines Pseudobarnabas ist, weil der
Gefährte des Paulas ihn nicht geschrieben ha«
ben kann.
Jede Fiction hat ihren Zweck, und den durch
keine deutlichen Indiden nahegelegten Verdacht
«Der Fiction auszusprechen, ohne einen Zweck
derselben entdeckt zu haben und nachzuweisen,
ist eine durch herrschende schlechte Gewohn-
bäten nicht zu entschuldigende Bequemlichkeit.
Aber ein Zweck, den ein Schriftsteller des vier-
ten oder fünften Jahrhunderts damit verfolgt
haben konnte, dass er Justin dem Märtyrer diese
▼on allen dogmatischen, kirchenpolitischen und
asketischen Tendenzen sichtlich unberührte Apo-
logie unterschob, ist in der That unerfindlich.
Abgesehn davon aber setzt die blosse Absicht,
1 fir Justin gelten zu wollen, die Verwendung ge-
I ^8er hiefur zweckdienlicher Mittel voraus. Sei
' einem Sendschreiben wie dies wäre das nächst-
liegende Mittel eine Grussüberschrift wie die:
iowftivoq Ztpa xal JSsqijvw %otq ädsfapotq %aiqHV
j (corp. apologet. ed. Otto 'iV, 58). Sie fehlt un-
\ «wer übrigens in Briefform gehaltenen Schrift.
Sie konnte zufällig abhanden gekommen sein;
I ftta sie allein würde auch keinem PseudoJustin
genügt haben, wenn's ihm wirklich beim Mangel
mehr praktischer Tendenzen wesentlich darauf
angekommen wäre, seiner Schrift den Schein
®aei jostinischen zu geben. Innerhalb der Schrift
selbst müssten sich Beziehungen auf die Persön-
fchkeit» die literarische Thätigkeit und die Zeit-
114 Gott, geh Adz. 1873. Stück 3.
läge des auch im vierten und fünften Jahrhun-
dert noch berühmten Märtyrers und Apologeten
finden. Eine derartige Beziehung würden die
Worte änotitoXmv yspdpsrog fMx&^g ylvoiMn d$-
ddöxaXoq t&vmv (c. 11) allerdings enthalten, zu-
mal vom Standpunct der späteren Zeit, welche
mit dem Namen Apostelschüler und den ähnli-
chen immer freigebiger wurde, wie denn z. B.
Hieronymus gerade auch Justin und sogar Ire-
näus neben Polykarp und Ignatius zu den viri
apostolici rechnet. Aber mit gutem Recht schei-
det Overbeck S. 8 mit den meisten Neueren c.
11. 12 vom Briefe ab als ein nur zufällig mit
demselben zusammengerücktes Fragment einer
anderen Schrift. — Der Name Diognet kommt,
wie Overbeck selbst erinnert, in den verschieden-
sten Zeiten so häufig vor, dass Leser des vierten
oder fünften Jahrhunderts durch denselben un-
möglich an den sehr unberühmten Diognet er-
innert werden konnten, den Marc Auref einmal
seinen Lehrer nennt. Der Name kann also auch
nicht erfunden sein, um der Schrift das Ansehn
einer justinischen zu geben. — Wenn Overbeck
S. 42 endlich in dem Verhältnis von Frage und
Antwort, welche sich wie Plan und Ausführung
zu einander verhalten, einen Beweis der Fiction
findet, so ist zu erinnern, dass aus c. 1 nicht
einmal deutlich wird, ob Diognet dem Verfasser
selbst oder Anderen die dort aufgezählten Fra-
gen vorgelegt, ob er sie schriftlich oder ge-
sprächsweise ausgesprochen hat. Was könnte
namentlich in letztgenanntem Fall den Verfasser
gehindert haben, die Fragen, welche der vor*
nehme Herr mit der obligaten Versicherung sei«
nes ganz besonderen Interesses, aber auch mit
der Unbestimmtheit, die solchen Leuten eigen
ist, fallen Hess, ein wenig zu ordnen und zu
Overheck, Ueb. d. pseudojust. Brief a. Diognet. 116
pracisiren, so dass die beabsichtigte Antwort
den Fragen entsprach? — Enthält somit der
Brief an Diognet nichts, was uns mit mehr oder
weniger Geschick auf eine fingirte Zeitlage und
Persönlichkeit des Verfassers hinwiese, nnd auch
nichts, was absichtslos den Fälscher anzeigte, so
bleibt nichts übrig, als ihn für das zu nehmen,
wofür er sich ausgibt, für eine an einen vor-
nehmen Mann, den man nicht mit langen Ab-
handlungen behelligen darf, und überdies an
einen Mann, dem die heidnische Religion eben-
sowenig als die Philosophie ein Heiligthum ist,
gerichtete kurze Belehrung über das Christen-
thum im Gegensatz zu Heidenthum und Juden-
thnm. Nach dem Tode des Maximinus kann
sie nicht gesehrieben sein; denn die Verfolgung >
der Christen ist noch im Gange. Wenn ferner
auch dem Urtheil Overbecks S. 41 nicht geradezu
widersprochen werden soll, dass die christologi-
seben Aussagen sich mit dem dpoov&ov ver-
tragen, so mü8ste es wenigstens bei einem grie-
chischen Schriftsteller der nachnicänischen Zeit
doch sehr auffallen, dass ihm kein einziger an
die dogmatischen Gegensätze des vierten oder
gar des fünften Jahrhunderts erinnernder Aus-
druck entschlüpft wäre. Andrerseits spricht
Alles gegen eine Abfassung im zweiten Jahr-
hundert, und es wird das bleibende Verdienst
dieser Abhandlung sein, das bewiesen zu haben.
Aber nichts, was nicht bei jeder beliebigen An-
nahme über die Entstehungszeit anstössig bleibt,
spricht dagegen, dass der Brief etwa zwischen
den Jahren 250 und 310 geschrieben wurde.
Die Rhetorik blühte immer üppiger in der Kirche,
ohne an den ernsten dogmatischen Kämpfen des
folgenden Jahrhunderts schon ein Gegengewicht
zu haben. Das Christenthum wurde weltförmiger
als je zuvor, ohne schon in der Weltflucht eines
116 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
massenhaften Anachoretenthums seine asketische
Tendenz gesichert zu sehn. Damals wurde die
überwiegend unerfreuliche Generation lehrender
und kirchenleitender Persönlichkeiten geboren
und erzogen, welche dann Constantins Sieg er-
lebte. Die Christen begannen sich als »die Seele
der Welt« zu fühlen und richteten sich darauf
ein, die ihnen folgerichtig gebührende Herrschaft
über den Körper anzutreten. Der Verfasser die-
ser Apologie steht nicht mehr in einem ernsten
geistigen Kampf mit dem antiken Heidenthum.
Zeitlage und Stimmung machen es ihm möglich,
im Vorgefühl des äusseren Sieges seiner Religion
diesen Aufsatz zu schreiben, dessen ziemlich
wohlgesetzte Worte den Mangel an Wahrheits-
gehalt nur zu lange verdeckt haben.
Th. Zahn.
Untersuchungen über die gothischen Adverbien
und Partikeln von Adalbert Bezzenberger,
Dr. phil. Halle, Verlag der Buchhandlung des
Waisenhauses 1873.
Die vorliegende Schrift legt wiederum ein
rühmliches Zeugniss ab von dem Eifer und Er-
folg, womit an hiesiger Universität unter der er-
probten Leitung des Hrn. Professor Benfey, dem
der Hr. Verf. seine Erstlingsarbeit gewidmet,
sprachvergleichende Studien betrieben werden.
Es ist freilich ein dorniges Feld, das der Hr.
Dr. Bezzenberger sich zum Anbau ausersehen,
und daher selbstverständlich nicht zu erwarten,
dass er bei erstem Angriffe alle Räthsel gelöst
habe; im Einzelnen jedoch ist mancher glückliche
Grifl gethan und hat der Hr. Verf. erwiesen,
dass er für sprachvergleichende Studien wohl aus-
gerüstet seine wissenschaftliche Laufbahn antrete.
Die Arbeit behandelt sämmtliche Adverbien
und Partikeln der gothischen Sprache, die nach
Bezzenberger, Unten« üb. d. goth. Adverb, etc. 1 17
dem Auslaut geordnet in drei Kapiteln vorge-
fahrt werden: Kap. 1 bis S. 54 beschäftigt sich
mit den Adverbien auf ö und ba, in Kap. 2 S.
55—95 kommen die Adverbien und Partikeln auf
e, a, i, u, ei und au zur Sprache, in Eap. 3 S. 96
bis Schlu88 werden die adverbialen Bildungen
mit consonantischem Auslaut abgehandelt. Bei
dem grossen Beichthume neuer und theilweise
schlagend richtiger Deutungen, die der Hr. Verf.
giebt, muss sich Bec. leider versagen, auf alle
beachtenswerten Einzelheiten einzugehen; nur
einige besonders gelungene Punkte seien hier
hervorgehoben. So stellt Dr. B. S. 29 uf-tö foug
gewiss richtig zu ahd. iba Vermuthung, lat. -opi-
nus in opinio, nec-opinus; nicht minder schön
ist die Deutung von alia-, all als al-na-, part. pf.
pass, von alan öl, lat. alere ; uhteigö zu rechter
Zeit sammt uhtiuga- Zeit habend und uhtvon-
Horgenzeit sind vom Verf. völlig richtig von bi-
fibta- gewohnt abgetrennt und höchst glücklich
mit sskr. ak-tu lichte Farbe, Licht; dunkle
Farbe, Nacht verglichen und damit der Wurzel
ang blank machen zugewiesen. Die verwandten
Sprachen bestätigen diese Combination völlig*
fih-ta in bi-üh-ta gewohnt steht nämlich für
unh-ta (wie thuh-ta für thunh-ta von thunk-ian
dünken) und entspricht genau dem lit. j-unk-ti
gewohnt sein, mit dessen Particip j-unk ta-s sich
goth. fihta- völlig deckt; ohne Nasal erscheint
die Wurzel im altbulg. v-yk-nqti gewöhnen, uku
doctrina, sskr. uc ucyati gewohnt sein. Dagegen
steht goth. uh- in uh-teigö, wie Hr. B. nach-
weist, für 6h (= onh) und es entspricht dem
vorauszusetzenden germanischen onh-ti- frühe
ganz genau das lit. Adverb ankszti frühe. Hier
ist sz hinter k und vor t nach litauischer Weise
eingeschoben, wie in auk-sz-ta-s hoch = alt-
118 Gott, gel Anz. 1873. Stück 3.
preußs. auk-ta-s hoch = lat. auo-tu-s von aug
wachsen, und ank-ti frühe ist also = german.
onhti-, öhti- frühe. — Andere Deutungen des
Hrn. Verf. erscheinen mir freilich etwas zu kühn,
wenn sie sich auch immer in den Schranken
wissenschaftlicher Möglichkeit halten. So will
Hr. B. S. 81 filigri latibulum mit Hinblick auf
ga-ligri concubitus (ga-f-l&g liegen) von filhan
bergen abtrennen und es als fi-ligrja- deuten,
sodass fi dem sskr. api = inl = lat. ob ent^
spräche. Nun ist allerdings zuzugeben, dass,
wenn, wie nicht zu bezweifeln, goth. bi nhd. bei
dem Bskr. abhi, goth. bai, ba beide dem lit.
abu, sskr. ubha entsprechen, der Reflex von sskr.
api, ini allerdings im Gothischen als fi erscheinen
könnte; allein dass dieses Praefix sich im gan-
zen Gebiete des Germanischen nur in der einen
gothischen Composition fi-ligrja- sollte erhalten
haben, scheint mir doch bedenklich. Der Hr.
Verf. meint durch seine Deutung den Einschub-
vocal im Gothischen ganz beseitigen zu können,
allein in anaks plötzlich = sskr. ahjas plötzlich,
und in miluki- Milch, das doch offenbar vom
germanischen melkan malk, nhd. melken molk
nicht getrennt werden kann, haben wir doch
zwei sichere Beispiele eines eingeschobenen Vo-
cals, und so würde ich die Ableitung des Worts
filigrja- von filhan bergen unbedenklich finden.
Der Deutung der gothischen Adverbia und
Partikeln auf ö und ba aus einer gemeinsamen
Grundform -vant scheinen mir schwere Bedenken
entgegenzustehen. Für die Contraction eines ur-
sprünglichen ava zu goth. ö führt der Hr. Verf.
allerdings die schlagende Analogie von vigös du,
1 aus vegha-vasi ins Feld, und so ist die laut-
liche Möglichkeit des Entstehens von 6 aus ava-nt
wohl zuzugeben; wider die Deutung aus vant
*—
Beaenberger, Untere, fib. d. goth. Adverb, etc. 119
■pricht jedoch, dass -vat als Adverbialsuffix — «Joe
= tavat, ijoe = yävat abgerechnet — auf euro-
K"' ehern Boden nicht nachzuweisen ist, dass also
ungen wie nr-vat wie ein Mann u. s. w. auf
das Sanskrit beschränkt zu sein scheinen. Frei-
lich weist der Hr. Verl mit Gründen, denen man
nur zustimmen kann, die Haltlosigkeit der bisher
versuchten Deutungen der Adverbien auf ö =
urdeotsch ä nach. Mit Scherer verwirft er die
Erklärung der ö-Adverbien als alter Instrumen-
tale, ebenso weist er die Unbrauchbarkeit des
und. Ablativsuffixes -ftat für die Deutung der
fraglichen Bildung als Ablativ nach; wie aber,
wem im goth. ö ein alter Ablativ des Feminins
läge, wenn also thathrö, hvathrö, utathrö, die,
wie der Hr. Verf. sagt, alle deutlich ein woher
bezeichnen, aufs engste mit Bildungen, wie lat.
eztri(d) infra(d) conträ(d) zusammengehörten?
Diese Möglichkeit hätte vielleicht einer näheren
Prüfung unterzogen werden können. — Der Ver-
such die Adverbien auf -ba ebenfalls ans dem
Suffixe vant zu deuten, hat mich, aufrichtig ge-
standen, nicht überzeugt. Das secundäre Suffix
vant ist auf nordeuropäischen Boden gar nicht
nachzuweisen, ags. heorot, abd. hiruz, nhd. Hirsch
enthält in seinem ersten Theile heru- das lat.
cervu-s = xBQapd-e gehörnt, das Suffix ta je-
doch (Grundform heru-ta) ist schwerlich mit
pan in xeqo-peyT zusammenzustellen. Auch der
Versuch, goth. Adverbien auf ba Bildungen an-
derer Sprachen mit dem Suffixe -vant gleichzu-
setzen, scheint mir nicht gelungen ; goth. aglu-ba
ist wohl nicht = dxlvdrert- , vielmehr gehört
aoth. agla- zum ved. agnala schlimm, böse und
damit zur Wurzel agb <XrXP> ; d%-M-g Todesdun-
kel ist aber von än-aqot blind, d/g-iw-c kurz-
sichtig, «fcrgrf-f farblos, lat. aqv-ilu-s dunkel,
120 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 3.
lit. ak-la-s blind, ap-j^k-ti erblinden, Farbe ver-
lieren u. s. w. nicht zu trennen; ebenso ist ga-
redaba bereit wohl nicht mit dem späten sskr.
rädhä-vant reich von rädhä = radhas geradezu
zu identificiren, vielmehr stimmen beide Wörter
nur in der Wurzel überein, goth. red = sskr.
radh. Ein sskr. gharvavant, dem der Hr. Verf.
goth. glaggvaba gleichsetzt, findet sich im Peters-
burger Lexicon nicht, endlich hat auch die Gleich-
setzung von sunjaba mit sskr. satyavant nichts
Ueberzeugendes. Allein der Hauptgrund, wes-
halb die Deutung des goth. ba aus vant wohl
aufzugeben, ist der, dass der Uebergang von ur-
sprünglichem v in b sich innerhalb des Gothi-
schen durchaus nicht nachweisen lässt, ausser in
Eigennamen, die von Fremden — Griechen und
Römern — überliefert sind, welche natürlich
den Lauten einer fremden Barbarensprache nicht
gerecht werden konnten. Der Hr. Verf. wird
den Versuch, ba aus vant abzuleiten, wohl selbst
bald aufgeben, wenigstens verurtheilt er, streng
genommen, denselben schon mit den Worten S.
25 »An Eigennamen also, die freilich oft ihren
eignen Gesetzen folgen, und, wenn sie Fremd-
wörter sind, oft schon in verstümmelter Gestalt
überliefert wurden, lassen sich diese Uebergänge
(von b zu v, von v zu b) hinreichend nachweisen ;
ein anderes strictes Beispiel für den angenomme-
nen Lautwechsel (vonvzub) aber aufzufinden ist
mir weder im Gothischen noch in den übrigen
deutschen Dialecten gelungen«.
Möge der Hr. Verf. uns bald wieder auf einem
Felde begegnen, zu dessen Anbau er so hervor-
ragende Befähigung besitzt und möge er in den*
freimüthigen Urtheile des Rec. einen Beweis der
Theilnahme erblicken, mit welcher derselbe sei«
nen Arbeiten folgt. A. Fick.
121
Gft ttingiseh e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsiebt
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 4. 22. Januar 1873.
Voyage en Bussie, au Caucase et en Perse,
dans la Mesopotamie, le Kurdistan, la» Syrie, la
Palestine et la Turquie execute pendant les
aim&s 1866, 1867 et 1868 par T. M. Chevalier
Lycklama a Nijeholt. Tome premier.
Paris et Amsterdam 1872. 8.
Der Verfasser des oben genannten Reisebe-
richts, Herr Lycklama a Nijeholt, ist ein hol-
landischer, in der Provinz Friesland begüterter
Edelmann, dessen Phantasie sich von Jugend auf
mit Reisen, fremden Ländern und namentlich
mit den grossen Kulturwiegen des westlichen
Asiens beschäftigte, während er, als Liebhaber
der alten Menschheitsgeschichte, für die neue
und junge Welt in Amerika, Australien etc. kei-
nen Sinn hatte. Lange studirte er die Geschichte
und Geographie jener Länder, Persiens, Klein-
asiens, Palästinas etc. und träumte von einer
dabin zu unternehmenden Reise, für die er auch
bei Zeiten sich sowohl wünschenswerte Sprach-
kenntnisse als auch eine solide allgemeine Gei-
stesbildung aneignete.
10
122 Gott, gel Anz. 1873. Stück 4.
Da ihn keinerlei Amtspflichten banden und
er sich anch sonst im Besitze der nöthigen
Reisemittel , eines unabhängigen Vermögens, be-
fand, so machte er gleich einen grossen Reise-
plan für mehrere Jahre und mehrere orientalische
Kaisertümer und Königreiche. Persien aber
war das Land, das ihm dabei als vornehmstes
Ziel vorschwebte. Er beschloss dasselbe auf
dem russischen Landwege über den Kaukasus
zu erreichen und machte sich im April des Jah-
res 1865 auf den Weg. Er besah sich zuerst
Russland, die deutschen Ostseeprovinzen, Peters-
burg, Moskau, die Wolga, auf welcher er zum
Kaspischen Meere hinabging. Von Astrachan
segelte er nach Baku und reiste von da weiter
nach Tiflis, von wo aus er während eines halb-
jährigen Aufenthalts mehrere Ausflüge, unter an-
dern einen über den Kaukasus hin- und zurück
unternahm. Im Frühling 1866 ging er von
Tiflis über Eriwan nach Tauris und Teheran and
von da nach Ispahan. Die Ruinen von Pasar-
gadae und Persepolis studirte er im Detail, be-
suchte Schiras, ging von da zum Persischen
Golf und schiffte auf diesem nach Bassora, um
den Winter 1866/67 in Bagdad zuzubringen
und von dort aus die Ruinen von Babylon ge-
nau kennen zu lernen. Im Mai 1867 verlieas
er Bagdad, um Persien noch einmal in einer
andern Richtung zu durchwandern, Teheran wie-
der zu sehen und unterwegs Kirmanscha und
Ecbatana (Hamadan) zu besuchen* Im Herbst
1867 verliess er Teneran und Persien für im-
mer und schlug den Weg nach Syrien ein, um
sich für einige Zeit in Aleppo niederzulassen.
Auf der Reise dahin waren seine Haupt-
stationen: Hamadan (zum zweiten Male), persi-
sches und türkisches Kurdistan, Ninive (Mosul),
r
Lycklama a Nijeholt, Voyage^ en Orient. 123
Edessa (Orfa) und andere Plätze am Tigris and
Euphrat. Den Winter 1867/68 verbrachte er
in Aleppo und reiste yon da im folgenden Früh-
jahr ober Antiochien nach Alexandrette, wo er
sieh für das heilige Land einschiffte. Auf der
Fahrt dahin besuchte er die verschiedenen sy-
rischen Häfen und bereiste dann während eini-
ger Monate das heilige Land in verschiedenen
Richtungen. Von Jerusalem nach Jaffa kehrte
et su Schiff nach Beirut zurück , um nun das
Innere von Syrien zu durchkreuzen, von dem er
auf der Herreise nur eine Partie gesehen hatte.
Er besuchte Damaskus, Homs, die Ruinen von
Palmyra, die Ismaeliten, Coele-Syrien, Baibeck,
den Libanon und das Land der Drusen.
Im Herbst 1868 kehrte er endlich nach
riertehalb Jahren von Syrien über Kleinasien
und Gonstantinopel nach Europa und längs der
Donau nach Holland zurück, woselbst er auf
seinem Landsitze in Friesland ein bald vielbe-
suchtes Museum aus den mitgebrachten Cultur-
und Kunstgegenständen errichtete. Auch be-
schäftigte er sich theils dort, theils in Paris mit
der Sichtung und Anordnung seiner Reisetage*
bächer und stellte aus ihnen in französischer
Sprache einen Bericht zusammen, der auf vier
ziemlich starke Bände berechnet ist. Von die-
sen liegt der erste Theil vor, welcher die Schil-
derung der Reise durch Russland bis an die
Glänze Persiens enthält.
Der Verfasser ist kein Gelehrter, was er
nicht verfehlt, seinem Leser mehrere Male mit
aufrichtiger Bescheidenheit zu bemerken. Aber
er ist ein sehr wohl unterrichteter, gebildeter,
humaner, vofurtheilsloser und dabei ein äusserst
geduldiger, langmüthiger und muthiger Herr
ton sehr gesundem Menschenverstände und gu~
124 Gott, geh Anz. 1873. Stück 4.
tem Geschmack, und dies sind lauter Eigen-
schaften, die für Reisen, namentlich in unbe-
quemen Gegenden, unschätzbar sind und ein
gut Theil Gelehrsamkeit aufwiegen. Er hat bei
seinen Reisen keine speciellen Absichten, son-
dern verfolgt nur den allgemeinen Zweck, sich
über Alles, was einen gebildeten Europäer an-
ziehen kann, durch Selbstanschauung zu unter-
richten und darnach durch seine Mittheilungen
auch einem gebildeten Leser denselben Vortheil
zu verschaffen. Er scheint weder politische
oder nationale, noch religiöse Vorurtheile zd
besitzen. Er beurtheilt die verschiedenen christ-
lichen Sekten und ihre Kirchenbräuche sehr
rücksichtsvoll und tolerant und eben so die Mo-
hamedaner, Juden, Feueranbeter. Er hat keine
Antipathie gegen die Slaven oder Russen. Er
weiss sich auch mit den Türken, Kurden und
Persern auf einen cordialen Fuss zu setzen. Er
liebt auch, obgleich nicht blindlings, das Gute
an den Franzosen und schreibt aus besonderer
Liebe zu ihrer schönen Literatur in ihrer
Sprache. Uns Deutschen aber ist er vor Allen
geneigt und gewinnt sogleich die Freundschaft
des deutschen Lesers durch Alles, was er über
die Deutschen, die ihm auf seiner Rebe begeg-
nen, mit grosser Anerkennung bemerkt. Der
deutschen Sprache ist er ganz mächtig, und von
unsern weit verstreuten Landsleuten sammelt er
daher viele dankbar von ihm angenommene Be-
lehrungen.
Kaum hört er bei seiner Ankunft in einem
russischen oder kaukasischen Orte von einer in
der Nähe existirenden deutschen Golonie, so
läsßt er alsbald anspannen, fahrt hinaus und
verlebt dann »einige seiner schönsten Reisetage
im Geplauder mit den guten, gastfreundlichen,
Lycklama a Nijeholt, Voyage en Orient. 125
Sim so sympathischen Schwaben«, die Alles bei
rich so nett und sanber eingerichtet haben.
Aber auch gegen andere Nationalitäten ist er,
vie gesagt, freundlich und theilnehmend dispo-
nirt, sogar wenn er übel von ihnen behandelt
wird, z. B. wenn er, wie ihm dies ein Mal im
Kaukasus geschieht, in einen Haufen von meh-
reren Tausend auswandernden Tscberkessen ge-
lith, die ihn für einen Bussen nehmen und ihn
daher sehr höhnisch spottend, ja bedrohlich be-
handeln, die er aber entschuldigt, bemitleidet,
und denen er, nachdem er ihnen entschlüpft ist,
hinterdrein als armen, von einem harten Schick-
tal betroffenen Leuten alles Gute wünscht.
Einem Manne von solchen Dispositionen
musaten sich wohl überall Thore und Herzen
öffnen und er hat daher wohl Vieles zu sehen
und zu bemerken Gelegenheit gehabt, was einem
minder freundlichen und gewandten Reisenden
▼erschlossen blieb. Diesen Eigenschaften, d. h.
rieb selber hat er es zu verdanken, dass seine
ganze fast vierjährige Reise so glücklich verlief,
ohne schlimme Gollisionen mit Polizei, groben
Postmeistern oder andern Behörden und Gewalt-
habern. Sogar auch die Räuber, Osseten, Be-
duinen, Kurden, Drusen und Haiducken haben
ihn ganz ungeschoren gelassen. »Leider«, sagt
er zu wiederholten Malen, »könne er kein einzi-
ges pikantes Abenteuer dieser Art seinem Le-
ier auftischen«.
Wie gegen die Menschen überall höflich und
gütig, so ist er auch gegen die Reisebeschwer-
den, Strapazen und Unannehmlichkeiten, die
Wetter und böse Zufalle über ihn verhängen,
äusserst geduldig. Er verliert nie seinen Gleich-
mütig wenn seine Pferde den Dienst versagen
oder sein Wagen zusammenbricht, weiss sich
126 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 4.
vielmehr in allen Verlegenheiten leicht und ge-
schickt zu helfen. Er klagt und jammert auch
nie, wenn es Tage lang vom Himmel regnet und
die Gebirgswege unergründlich sind, und wir
sind daher bei einem so gestimmten Autor vor
Uebertreibungen sicher. Werden ihm die Stra-
pazen zu viel und die Umstände gar zu schlimm,
so richtet er sich an irgend einem Orte ein
und wartet vernünftig und geduldig ab, bis
seine Kräfte wiederkommen und der Himmel
günstiger wird.
So anspruchslos und einfach wie sein ganzes
Wesen ist auch die Weise seiner Darstellung
und Erzählung. Er giebt uns einen schlichten,
ungefärbten Bericht und eine gewissenhafte Be-
lehrung über alles Erlebte und Geschaute. >Je
ne fais point de vers«, sagt er, »c'est bien
assez de reproduire en humble prose ce que je
vois plutot, que ce, que je sens«. Dabei ist er
nichts weniger als ein pedantischer, absprechen-
der und superkluger Lehrer, der Alles besser
weiss. Vielmehr stellt er sich mit uns Lesern,
seinen Schülern, auf einen äusserst gemüthlichen
und zuweilen fast naiven Fuss. Alle Augen-
blicke redet er seinen »geneigten Leser« an, ge-
steht ihm, dass er etwas, was Jener vermuth*
lieh gerne erfahren möchte, nicht weiss, ent-
schuldigt sich bei ihm, wenn er ein Mal glaubt,
ihm durch Wiederholung oder Umständlichkeit
lästig gefallen zu sein. Kurz und mit einem
Worte, wir haben es mit einem natürlichen und
liebenswürdigen Mann zu thun und das sagt
für einen Beisenden und die Brauchbar-
keit seines Reiseberichts, ich wiederhole es, sehr
viel. Ein so disponirter Reisender, wenn er
auch kein Gelehrter ist, bringt Vieles heraus
LycUama a Nijeholt, Voyage en Orient. 12T
«ad an den Tag, was nachher ein Gelehrter ge-
brauchen und weiter verwerthen kann.
Uebrigen8 versteht es sich von selbst, dass
fies Bach wie Alles in der Welt seine Schwäche
zu haben scheint: und wohl nicht Jeden in allen
Backsichten befriedigen wird.
Namentlich wird man in der ersten Partie die«
sea Bandes Vieles, was der Verf. vorbringt, über-
flüssig halten, so gleich seine apergus der Ge-
schichte der deutschen Ostseeprovinzen, und
auch der Gesammtgeschichte Busslands, mit wel-
cher er sein Werk eröffnet. Für uns Deutsche
wenigstens ist darin gar nichts Neues und eben
so wenig fur die Bussen. Zudem kommen darin
einige, wie mir es scheint, sehr irrige Anschau-
ungen vor. So spricht der Verf. wiederholt
(z. B. S. 216) von einer Blüthezeit und Macht
Novgorod's vor Burik, von der unsere Ge-
schichtschreiber nichts wissen.
Der Verfasser setzt überhaupt jedem neuen
Lande, zu dem er gelangt, eine solche Ueber-
sicht seiner Gesammtgeschichte voran. Dies
scheint mir für einen Beisenden etwas zu me*
thodisch and zu lehrbuchartig. Ein Beisender
soll zwar selbst die Geschichte und Vergangen-
heit des beschauten Landes möglichst gründlich
kamen, damit er die Gegenwart desselben rich-
tig zu erfassen und zu beurtheilen vermöge.
Aber was wir Leser von ihm verlangen, ist
doch in der Hauptsache nur die Beschaffenheit
und Darstellung dieser Gegenwart während der
Anwesenheit des Autors, und dabei mag er uns
denn allerdings, um uns Alles verständlich zu
machen, an Früheres, das aber zweckmässig
ausgewählt werden sollte, erinnern. Aber eine
ganze Geschichte des Landes von Adam an hat
in den meisten Punkten gar keine Beziehung zu
128 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 4.
den heute geschauten und beschriebenen Din-
gen und ist daher für den Reisebericht reiner
Ballast.
Auch über Petersburg und über Moskau
bringt der Verf. wenig Neues, wiederholt viel-
mehr meistens nur, was man schon bei Herrn
Schnitzler, Herrn Marmier, dem Marquis de Ca-
stine etc. gelesen hat. Mich däucht, der Verf.,
für den der Orient, der Kaukasus, Persien etc.
das eigentliche Ziel und Hauptthema seiner
Reise war, hätte sich gar nicht auf Wiederholung
einer allgemeinen Schilderung der russischen
Hauptstädte einlassen sollen. Dagegen steckt
in diesen beiden Städten schon viel Orientali*
sehes , Persisches und Tatarisches, und wenn der
Verf. dem etwas mehr nachgejagt und uns ge-
zeigt hätte, wie und in welchen Elementen und
Verhältnissen der Orient schon bis an die Ost*
see hinanreicht und worin hier schon Propyläen
des Orients zu finden sind, so würde er uns da-
durch einen grösseren Dienst erwiesen haben,
als durch abermalige Schilderungen von der
Beiterstatue Peters d. Gk, vom Winterpalais,
vom Newsky Prospect, oder von dem viel be-
sprochenen Brande von Moskau und dem noch
nicht ganz bekannten Anstifter desselben etc.
Auch seine Dampfschifffahrt auf der langen
Wolga hinab von N. Nowgorod bis Astrachan hat
dem Verfasser nicht zu vielen Bemerkungen Ver-
anlassung gegeben, die in historischer, geogra-
phischer oder staatswirthschaftlicher Hinsicht
interessant oder neu wären, obgleich ich glaube,
dass es an Gelegenheit zu solchen nicht gefehlt
hätte. Auch fiel es mir auf, dass der Verf.
manche russische Lokalnamen stark corrumpirt
hat. So z. B. batavisirt er den Namen der
ziemlich bekannten Wolgastadt »Kosmodemianskc
Lycklama a Nijeholt, Voyage en Orient 129
(so benannt nach den beiden Apothekerheiligen
Kosmas und Damianus) zu »Kosmoden-Jansk«
nsd zwar drei Mal auf einer Seite (S. 170).
Den berühmten Ort »Makarieu« nennt aer Verf.
wiederholt »Mikariewc (z. B. S. 168). »Suxdal«
Mbreibt er statt Susdal (z. B. S. 119). Die /
Kreisstadt Tscheboksarij nennt er »Tschabak-
aar«, die Stadt »Singilei« schreibt er Singala
(8. 185), und dass dies keine Druckfehler sind,
acheint ans der Wiederholung derselben Ent-
«teünngen hervorzugehen. Wie die Russen bei
den russischen Namen, so werden auch wohl —
Bebenher sei es bemerkt, — die Franzosen bei
den französischen Redewendungen des Verf. viele
Hollandismen entdecken und zuweilen über die
Unbeholfenheit mancher Constructionen etwas
Schein, z.B. wenn er (S. 458) sagt: »Beaucoup,
et je suis de ceux-lä, croient, que etc.« (Viele
*nd ich bin einer von ihnen, glauben, dass etc.),
oder S. 180: »Je ne peux rien dire par moi-
awme de cet endroitc (Ich kann von diesem
Orte nichts aus eigener Anschauung sagen), oder
S. 187: »Je me fais spectacle de tout« (Auf
Reisen wird mir Alles, was ich sehe, ein inter-
auntes Schauspiel), oder S. 188: »La ville de
Samara est entierement construite ä la mo-
derne«, »on y fait beaucoup d'affaires sur le
rauf«. S. 201 sagt er beim Anschauen einiger
geschickt ausgeführter Manövers berittener Ta-
taren: >('a ete pour nous une veritable reprd-
aa&tationc (Das war für uns ein wahres Schau*
apiel). — Ueber Polizei und Passformalitäten im
lauern von Russland, bei dem Uebertritt von
«ner Provinz zur andern beklagt er sich — nicht
ganz richtig — so: »ces »formalites deviennent
vraiment fastidieuses surtout ne quittant la
tere Russe que pour gagner une autre province
11
130 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
du m&me empirec. Statt des richtigeren fran-
zösischen Adjectivums »Caucasien« gebraucht er
immer sein hollandisirtes »Caucasique« : la
Bussie Gaucasique, les terres Gaucasiques etc.
Die erwähnten Versehen in der Rechtschrei-
bung russischer Namen werden den Leser an-
fanglich vielleicht stutzig machen und ihm als
kein gutes Prognostikern für die correcte Ortho-
graphie der Namen im Eurdenlande und ande-
ren weniger bekannten Gegenden erscheinen.
Auch werden die vielen wenig sagenden und
zum Theil wirklich trivialen Bemerkungen dee
Verf. auf seiner Wolgafahrt die Erwartungen
des Lesers nicht sehr hoch spannen. Allein
man wird finden, dass, je mehr man mit dem
Verf. in die rauhen Länder vordringt, Alles,
Interesse des Reiseberichts, Bedeutsamkeit der
Bemerkungen und auch Rechtschreibung der
Namen, besser wird und crescendo geht, und ich
möchte daher den deutschen Leser warnen, dass
er sich beim Anblick der anscheinend wirklich
in mancher Beziehung schwachen ersten Hälfte
des Buchs nicht verleiten lasse, das Gabze als
etwas Gewöhnliches bei Seite zu legen.
Sogleich wie er Astrachan an der Mündung
der Wolga verlässt und mit lauter asiatischen
Passagieren in einem unbequemen Schiff und in
furchtbarem Unwetter über das caspische Meer
segelt, scheint ein anderer Geist über den Verf.
und sein Buch zu kommen. Was er über die
Feueranbeterstadt Baku und über seine be-
schwerliche Fahrt im Thale des Kur hinauf nach
Tiffis sagt, ist Alles sehr interessant und wohl
das Neueste, was wir über diese Gegenden von
einem europäischen Reisenden gehört haben. In
Tiflis, wohin er später zurückkehren will, läset
er sich kaum Zeit zum Umspannen. Es drängt
Ljcklanja a Nijebolt, Voyage en Orient. 131
ihn, den Best der guten Jahreszeit noch schnell
zur Besichtigung des Kaukasus sowohl auf sei-
ner asiatischen als auf der europäischen Seite
n benutzen. Mit derselben fünfspännigen rus-
sischen Tazantasse, mit welcher er am Kur
Mnanfgefrommen war, trabt er über den höch-
sten Backen des Kaukasus hinüber, lässt sich
in das Thal des Terck und in die Steppen am
Nordfusee des Gebirges herab, wo er sich in
dem in neuerer Zeit berühmt gewordenen kau-
kasischen Kurorte Piatigorsk (»Fünfbergen«)
tob seinen Anstrengungen eine Zeit lang erholt,
indem er uns zugleich eine anmuthige Schilde-
rung von der Lage, dem Leben und der Umgebung
dieses russischen Baden-Baden giebt. Um noch
Einiges, was er auf der Hinreise versäumt ha-
ben könnte, nachzuholen, kehrt der Verf. auf
demselben Wege, auf dem er gekommen war,
aus Europa nach Asien zurück. Seine kaukasi-
sche Reise fiel gerade in eine sehr interessante
Zeit, nämlich in das Jahr der Bewältigung der
letzten Widerstandskämpfe der Tscherkessen un-
ter Schamil und der Auswanderung dieser ar-
men tapferen Leute nach der Türkei. Der
Verf. schildert diese beklagenswerte Auswan-
derung, der er auf Schritt und Tritt begegnet,
mit derselben Theilnahme und Lebhaftigkeit,
die er auch unsern deutschen Colonisten in dor-
tigen Gegenden widmet.
Nach diesem ersten Akt seiner grossen Reise
er sich für einen Winter in Tiflis nieder,
ran sich dort für den zweiten Akt, die persische
Reise, vorzubereiten, namentlich um sich mit
Hülfe dortiger Personen die persische Conver-
sationssprache anzueignen. Auch studirt er da-
selbst noch ein Mal seinen Chardin und die
Werke anderer Reisenden und Geographen über
132 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
das westliche Asien. Da er sich in Tiflis ganz
gemüthlich einrichtet und mit der dortigen
Gesellschaft, Hohen und Niedern, Europäern
und Asiaten, freundlichen Umgang pflegt, so
setzt ihn dies in Stand, uns ein recht detaillir-
tes und zweifellos sehr getreues Gemälde dieser
stets an Bedeutung wachsenden Hauptstadt des
gesammten russischen Eaukasiens und Arme-
niens, die nach ihm jetzt schon 60,000 Einwoh-
ner zählt, ihrer Bewohnerschaft und ihrer Ge-
schichte zu geben , und diesem Gegenstande
widmet er denn auch über 100 Seiten seines
Bandes, die zu den lehrreichsten und inter-
essantesten Partien desselben gehören. Nur
das Capitel von der Geschichte des Landes
(Georgiens) hätte wohl Mancher wieder lieber
etwas kürzer gehabt. Den Reisenden will man
immer lieber unterwegs sehen, mit Augen und
Ohren in die Natur und Welt hinausspürend,
als in der Studirstube, Auszüge aus alten Chro-
niken machend, besonders wenn sie nur in- sehr
entfernter Beziehung zu der zu erläuternden
Gegenwart stehen. — Seinen alten Chardin und
das neue Prachtwerk des Grafen Stackeiberg
über den Kaukasus (»Le Gaucase pittoresquec)
scheint mir der Verf. auch ein wenig zu oft
auszuziehen. Ein Mann, der selbst so viel er-
lebt und angeschaut hat, wie er, sollte stets
muthig mit seinen eigenen Erlebnissen hervor-
treten und nicht zu oft aus allzugrosser Be-
scheidenheit und Gewissenhaftigkeit die Aus-
lassungen Anderer citiren, die wir besser an-
derswo suchen und lesen können. Der Verf.
klagt ja schon ohne dies zuweilen, dass er viele
seiner interessanten Ausflüge aus Mangel an
Baum unbeschrieben lassen müsse. Manchen
Raum für diese hätte er gewinnen können,
Lycklama a Nijeholt, Voyage en Orient. 133
wenn er noch einige historische Excurse und
Excerpte bei Seite gelassen hätte.
Unter denjenigen Ausflügen, die er von Tiflis
ins in die Umgegend zur speciellen Kenntniss-
nahme des Schauplatzes der Geschichte Geor-
giens machte, ist fur ihn und seine Leser einer
der lehrreichsten und anziehendsten der Ritt
nach »Schamschawilde« gewesen. Es ist dies
ein altes in einem der wilden Eaukasusthäler
äusserst romantisch gelegenes Schloss, der Stamm-
sitz der Fürsten Orbeliano, eines der vornehm-
sten Vasallengeschlechter des ehemaligen König-
reichs Georgien, auf deren Geschichte der Verf.
mehrere Male zurückkommt und deren Wechsel-
▼olle Existenz und Lebensweise er schildert. —
Wenn der Verf. auf einem solchen Gebirgsritte
Ton seinem dummen Wegweiser so irre geführt
wurde, dass er statt auf der Südseite des Ber-
ges, zu der er wollte, auf der Nordseite ankam,
so verwünscht er nicht, wie wohl es andere
minder muntere Beisende thäten, das Land mit
sammt seinen Leuten, sondern er sagt, sein
Wegweiser habe durch den Irrthum seine Reise-
freuden um einen halben Tag verlängert, und
wenn er auf einer solchen Tagesreise alles mög-
liche Ungemach zu bestehen hatte, so findet er
das nicht wie andere bequeme Leute abscheu-
lich oder barbarisch, sondern vielmehr »sehr
poetisch« und nennt es eine »zwölfstündige kleine
Odyssee«. — Ohne Archäologe, Geologe oder
Botaniker oder Feldmesser von Profession zu
sein, fuhrt uns der Verf. mit seiner guten Laune
und mit seinem für Alles empfanglichen, stets
lernbegierigen Sinn besser als mancher Andere
in das Leben der Natur und der Menschen je-
ner entlegenen Gegenden ein. Dazu ist er, ob-
gleich er hundert Mal bedauert , dass er nicht
134 Gott. gel. Anz. 1873. Stück l.
zeichnen kann, doch etwas von einem Künstler.
Er gedenkt nämlich oft seiner holländischen
Maler und zeichnet uns mit Worten die Natur-
scenen und Interieurs, die sie, wie er sagt, etwa
in Farben darstellen würden, wenn sie bei ihm
wären.
In der Mitte März 1866 verliess der Verf.
Tiflis und Schlug den Weg nach Armenien und
Persien ein. Er besuchte Eriwan und auf dem
Wege dahin den grossen 6000 Fuss hoch liegen-
den See Goktscha und das in der Mitte des
Sees auf einer kleinen Insel existirende Kloster
gleiches Namens, dessen Gründung in die ersten
Zeiten des ChristenthumB hinaufgehen muss, da
selbst das sogenannte »Neue Klostergebäudec
schon 1000 Jahre alt ist. Daß >Alte Haus«
liegt daneben in Ruinen. Den Schmutz oder
Staub, den man aus den heiligen Gebäuden die-
ses uralten Etablissements an Kleidern und
Schuhen aufnimmt, putzt man nur ab, tun ihn
sorgfaltig aufzubewahren. Denn er ist ebenfalls
heilig und hat man etwas davon in der Tasche,
so ist man gegen allerlei Krankheit geschützt.
Ein Diener des Verfassers sammelte sich eine
kleine Provision davon, die er seiner weit weg
wohnenden Mutter mitbringen wollte, und den
charmanten europäischen Herrn selbst nahmen
der Abt und die Mönche in diesem Erdwinkel
mit einer besonders für ihn veranstalteten Feier-
lichkeit und Illumination ihres Klosters auf.
In Eriwan und in dem weltberühmten Bi-
schofssitze Etschmiadzin besah und besuchte
der Verf. auch Alles, was ein gebildeter Beisen-
der dort besichtigen, besuchen und kennen ler-
nen muss, philosophirte mit den Mönchen, stö-
berte in ihrer Bibliothek, wohnte anmuthigen
Soireen bei den dort commandireüden russischen
Ljcklama a Nijeholt, Voyage en Orient. J 36
Generalen und Gouverneuren, die ihn äusserst
freundlich aufnahmen, bei, kutschte nach einigen
Tagen in südöstlicher Richtung im Thale des
Araxea wieder weiter fort. Eine Besteigung des
Ararat war in der frühen Jahreszeit unthunlich.
Marzregen, Schneeschmelze, Ueberschwemjnung
machte selbst das Weiterkommen mit fünf Pfer-
den im Thale schwierig genug. Er giebt uns
einige launige Schilderungen seiner Leiden, sei-
ner dürftigen Mahlzeiten, so wie auch der Sta-
tionen, Scenen, Menschen und Begegnisse am
Wege. Der Leser, der sich durch ihn lebhaft
in die ferne Gegend versetzt fühlt, ist ihm sehr
dankbar dafür. Er, der unbefangene und naive
Verf. selbst, aber weiss das nicht und bittet
seine lieben Leser wegen seiner Mittheilungen
um Verzeihung, was er gewöhnlich thut, wenn
er sich ein Mal hat gehen lassen. »Solches De-
tailc, sagt er, »kehrt so oft in meiner Erzäh-
lung wieder. Ich hoffe der Leser wird mich
deshalb entschuldigen, und ich ersuche ihn zu
glauben, dass ich den ganzen Ueberdruss, den
er dabei empfinden muss, wohl begreife«. (Je
prie le lecteur de croire, que j'en comprends
tont le fastidieux). Aber grosser Gott, das ist
das gewöhnliche Geschwätz von uns Touristen
und übrigens hat, wie der Geist und das Herz,
so auch der Magen sein Gedächtnisse
Mit diesen Bemerkungen und dann noch mit
einigen ernsteren Betrachtungen über das Te-
stament Peters des Grossen, über russische Po-
litik im Oriente kommt unser trefflicher Herr
ober Nachitschewan in Dschulfa, einem kleinen
Orte am Araxes, an der Gränze des Landes der
Tausend und einen Nacht an. Hiermit . schlies&t
der erste vor uns liegende Band des Werks,
auf dessen Fortsetzung man nach Allem , was
136 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
voraufging, und nach dem aufgestellten ziemlich
grossartigen Reiseprogramm wohl recht begierig
sein kann. Ein so intelligenter und vielfach
begabter Mann wie der Ritter Lycklama a Nije-
holt wird wohl im Stande sein, selbst den Be-
richten des alten Ghardin und anderer Franzo-
sen, des geistreichen Morier und anderer Eng-
länder, des gründlichen Brugsch und anderer
Deutschen noch manches Neue hinzuzufügen.
Bremen. J. G. Kohl.
Der alte und der neue Glaube. Ein Be-
kenntnis8 von David Friedrich Strauss.
Leipzig, Verlag von S. Hirzel, 1872. 374 S.
in kl. 8.
Wären die Gel. Anz. ausnahmslos nur zur
Würdigung solcher neuer Bucher bestimmt
durch welche die Wissenschaft sei es mehr oder
weniger aber doch wirklich gefordert wird, so
würden wir das eben genannte neue Buch hier
besser übergehen, da es von einer des Namens
werthen Wissenschaft sich weit entfernt hält.
Berücksichtigen wir es dennoch an dieser Stelle,
so geschieht das nur weil es seiner Aufschrift
nach zwar nur ein Bekenntniss sein, dieses Be-
kenntniss aber doch auf dem Grunde der reinen
und strengen Wissenschaft unsrer Zeit sich er-
heben und nichts bringen will als ihre heute
(wie vorausgesetzt wird) feststehenden wohl ge-
sichteten und geläuterten Ergebnisse. Danach
gehört also diese neue Schrift zu beurtheilen
dennoch ganz in unsre der Wissenschaft gewid-
meten Blätter. Hinzu kommt aber dass hier ein
Strauss, Der alte und der neae Glaube. 137
Mann im Namen der Wissenschaft etwas be-
kennen will der seit bald 40 Jahren vor den
Augen vieler Leser in allerlei Wissenschaftlichem
herumgearbeitet hat und hier seinen eignen Wor-
ten nach an der Schwelle des Alters wie ein
letztes Vermächtniss der Welt übergiebt, aber
audi das nicht bloss im eignen sondern im Na-
men solcher die er vorne 8. 4 als geheimniss-
voll unbekannte Wir einfuhrt, dann in der
Mitte 8. 176 als »Wir Philosophen und kriti-
sche Theologen« bezeichnet, und schliesslich S.
293 ff. am offensten obgleich im Widerspruche
damit ab »Wir viele Tausende und nicht die
schlechtesten in allen Landen, keineswegs bloss
Gelehrte und Künstler, sondern Beamte und
Militärs, Gewerbtreibende und Gutsbesitzer« be-
schreibt. Man sieht er meint nicht bloss alle
die besten Deutschen, sondern die besten ge-
bildetsten und gebietendsten aller jetzt irgendwo
Lebenden. Ja der Verf. hat sich in dieses kleine
Wortchen Wir gar so rein vertieft dass er da-
nach sogar in die vier verschiedenen Köpfe sei-
nes Buches eine wünschenswerte Einheit bringt,
und nach einer unbedeutenden kleinen Ein-
leitung
1. mit der Frage beginnt »Sind wir noch
Christen ?c einer Frage mit der er uns anderen
übrigens von vorne an hätte verschonen können,
da die Sachkenner nie gezweifelt haben dass der
Verf. seit über 30 Jahren überhaupt kein, und
vorher nur ein höchst zweifelhafter Christ war.
faderthat thut er hier nichts als dass er seine
laugst bekannte vollkommne Unklarheit ja (man
muss sagen) grobe Unwissenheit über Bibel und
Cbristentbum in möglichst wenigen aber mög-
lichst glatten Worten darlegt, und das Christen-
tbum nun vielleicht zum lOton Male vernichtet
138 Gott, gel Anz. 1873. Stück L
zu haben meint obgleich er es nicht im minde-
sten weder nach seinen geschichtlichen Quellen
noch nach seinem ewigen Wesen und unsterb-
lichen Leben versteht. Kein Sachkenner wel-
cher die früheren Schriften des Verf. kennt,
wird über diese seine neueste Bede von Dingen
die er niemals gründlich erkannt hat, anders
urtheilen können. Wenn der Verf. ruhig und,
wie es sich für einen wissenschaftlichen Mann
ziemt, lernbegierig um sidh bücken mag, so
wird er leicht sehen dass nicht Moss seine eigpen
vor 37 Jahren aufgestellten Meinungen über das
Neue Testament (dem Alten blieb er ebenso wie
sein Tübingischer Lehrer Baur ausserdem im-
mer ganz fremd) sondern auch die eben dieses
seines Lehrers heute, ja schon seit 20 — 30 Jah-
ren so vollständig widerlegt und seitdem eine
so ganzlich verschiedene Biblische Wissenschaft
emporgekommen ist, dass nur noch sehr wenige
und höchst unbedeutende Nachzügler auf den
Wegen wandeln die er einst einschlug, dasChxi-
stenthum aber seitdem gerade am meisten auch
bei den wissenschaftlichen Männern so wenig an
Achtung verloren hat dass es vielmehr wie nie-
mals früher bei ihnen hochgeschätzt und als
das einzige sichere Heilmittel -für die allgemei-
nen Schäden auch wieder unserer jüngsten Zeit
erkannt wird. Was hilft es dass er dieses nicht
sehen will? meint er alle diese Männer müss-
ten mit ihm rückwärts gehen, statt dass sie
eben im besten Vorrücken zu einem guten d. i.
heilsamen Siege begriffen sind? Aber er nenne
uns (wenn er für sich im Rückzuge verharren
will) von den vielen Tausenden seiner Anhänger
deren er sich rühmt einen einzigen sachkundi-
gen namhaften Mann, der mit ihm zurückbleiben
will! Eine solche Forderung zu stellen ist man
Strauss, Der alte und der neue Glaube. 139
wwomehr berechtigt, je stolzer der Verf. hier
von den vielen Tausenden seiner Anhänger re-
det . obne auch nur einen zu nennen. — Wie
aber alles was der Verf. bei seiner ersten Frage
sagt als alte verlegene Waare tief unter unsrer
beatigen Wissenschaft steht, ebenso trifft das
2. bei seiner folgenden Präge zu »Haben
wir noch Religion?« S. 92—144. Denn vor
allem müssen wir sagen der Verf. wisse diese
Frage nicht einmahl so zu stellen wie sie zu
stellen ist wenn sie einen klaren Sinn haben
soH. Wer jemals darüber nachgedacht hat
was Religion sei, der weiss dass ohne alle Aus-
nahme jeder Mensch der denken kann in und
mit seinem Denken aiuch Religion d. i. irgend
etwas bat wovor er sich furchten oder worauf
er Rücksicht nehmen zu müssen meint. Weil
dieses aber tausenderlei Dinge und darunter
audi sehr vierkehrte und falsche sein können, so
bat man längst begriffen dass man in jedem be-
stimmten Falle nur fragen dürfe ob jemand
wahre oder falsche Religion habe. Allein man
braucht nur zu sehen wie unser Verf. ;S. 94
sieh den Ursprung der Religion unter Menschen
denkt, um zu begreifen dass er folgerichtig nichts
von alle dem anerkennen kann was man bis jetzt
unter Menschen Religion nannte. Er meint
nämlich, weil die Natur dem Menschen gleich-
gültig gegenüber stehe, diese unheimliche Gleich-
gültigkeit aber ihm zuwider sei, so könne er
sich gegen sie nur dadurch retten dass er sich
selbst in sie hineintrage, sie ihm dann nicht
mehr ein unmenschliches sondern ein menschen-
ähnliches Wesen : scheine, und er so eine Hand-
babe empfange sie zu fassen, sie anzureden, ihr
zu schmeicheln, ihr zu opfern u. s. w. Doch
das sind blosse Worte die der Verf. macht:
140 Gott gel. Anz. 1873. Stück 4.
was er sich dabei klares denke, wird niemand
begreifen. Was soll das heissen: die Natur
stehe dem Menschen gleichgültig gegenüber, der
Mensch aber trage sich in sie hinein weil er
diese Gleichgültigkeit nicht leiden möge? Das
wäre höchstens ein kindisches Spiel, ein närri-
sches Handeln das nicht lange dauern würde.
Aber wie kann sich denn der Mensch in die
Natur hineintragen? will der Verf. sich irgend-
etwas dabei denken, so muss er meinen der
Geist des Menschen denke sich in sie hinein:
allein woher der Geist, da der Verf. von vorne
an nur an Sinnliches und Sichtbares denkt,
nur dieses von Ewigkeit sehr bis in alle Ewig-
keit dasein lässt und eben deshalb Gott läng-
net? Aber Gott zu läugnen ist er ja von vorne
an nur deshalb entschlossen um sich desto leich-
ter von dem Christenthume und jeder wahren
Religion zurückziehen zu können: also erdichtet
er sich die Entstehung einer Religion ohne Gott
bloss um desto sicherer vor aller wahren Reli-
gion d. i. vor Gott fliehen zu können. Allein
eine Religion ohne Gott oder Götter war be-
kanntlich auch allem Heidenthume vollkommen
fremd : und so will uns der Verf. nicht etwa ins
Heidenthum zurück sondern in ein unbekanntes
dunkles Etwas hinein fähren was noch tausend-
mahl schlimmer als alles Heidenthum ist.
Man sieht hieraus dass der Verf. zwar in
der Gottesläugnung und in der Forderung der
Mensch solle gottlos sein mit dem vor kurzem
verstorbenen Ludw. Feuerbach übereinstimmt,
welcher obwohl ein älterer Mann selbst erst
durch ihn auf solche Wege geführt wurde, aber
in der Erklärung der Möglichkeit wie man in
bequemer Weise gottlos werde von ihm abweicht.
Die Schulphilosophie ist das einzige welches bei«
Strauss, Der alte und der neue Glaube. 141
den gemeinsam ist: und eben dieses ihr einziges
Mittel um vor den Augen ihrer Welt ihre Gott-
losigkeit als richtige Lehre zu erklären and An-
hänger zu gewinnen, entzweiet sie. Als das
eiste Buch dieses Geistes welches L. Feuerbach
in die Welt setzte um die Gottlosigkeit des Hrn. D.
F. Strauss weiter zu verbreiten nach Tübingen
kam, war ich Zeuge wie der Lehrer dieses Dr. th.
Baut durch es so bezaubert wurde dass er, weil
doch nun nicht bloss ein sondern zwei gerne
seleeene Schulphilosophen sich öffentlich enthüllt
hatten, offen zu ihnen übergehen wollte: er be«
dachte sich jedoch alsdann noch, und verschob
seinen Beifall auf eine spätere Zeit. Aber auch
Herr Zeller bedachte sich damals in Tübingen,
und machte 60gar öffentlich Einwürfe gegen
Feuerbach. Dieser fühlte sich allmälig sehr ver-
lassen, und starb so. Auch Hr. Strauss Hess
diese Geige nicht weiter laut erschallen, wandte
sich vielmehr andern Bestrebungen zu.
Jetzt scheint ihm dagegen die günstige
Deutsche Zeit gekommen sein Jugendspiel wie-
der aufzunehmen und jedem Deutschen lieb und
werth zu machen. Allein weil er doch immer
viel glätter bleibt als seine ihm zu Schülern ge-
wordenen Lehrer Baur und Feuerbach waren,
bo will er dennoch auch heute den Namen Re-
ligion nicht ganz verwerfen; und so meint und
lehrt er S. 238 f. der Inbegriff aller Moral sei
nie zu vergessen dass man Mensch sei, der der
Religion nie zu vergessen dass die Welt »kein
vildes Chaos von Atomen oder Zufallen sei, son-
dern alles nach ewigen Gesetzen aus dem einen
Urquell alles Lebens aller Vernunft und alles
Guten hervorgehe c Da erscheinen also plötz-
lich Dinge die nach allem was er sonst sagt
völlig unerwartet sind. Sonst gelten ihm Dinge
142 Gott. gel. Am. 1873. Stück 4.
•
als Leben Vernunft Gutes als durch ein blindes
Zusammentreffen der rohen Urstoffe entstanden,
und ein Wort wie Urquell ist bei ihm wie seit*
samer Weise bisweilen auch Gott, göttlich u. 8. w,
nur Ueberbleibsel von Dingen die er getödtet
zu haben meint und doch wieder als lebten sie
für ihn noch in den Mund nimmt. Aber warum
dies Religion und jenes Moral sein soll, begreift
man um so weniger da nie Vergessen über-
haupt keine Religion ist. Man sieht demnach
hieraus nur was auch aus allen anderen An-
zeichen folgt, dass ihm alle Fol gerech tigkeit
des Denkens fehlt und er einige Ausdrücke aus
keiner denkbaren andern Ursache beibehält als
weil sie seinen öden Grund etwas zu überkleiden
dienen. Nachdem er nun aber in solcher Weise
inderthat bewiesen hat dass wir keine des Na-
mens werthe Religion mehr haben, wirft er, um
etwas an die Stelle zu setzen,
3. die Frage auf »Wie begreifen wir die
Welt?« und man begreift dass ihm die Antwort
darauf die grosse Hauptsache werden muss, weil
er ausser dem lieben Ich nichts als die Welt
anerkennt. Wirklich giebt er nun hier S. 145
— 224 mit einer gewissen Anstrengung etwas
neues: die Welt muss ihm ja Gott ersetzen.
Weil er aber nicht einmahl in jenem Sinne Na-
turforscher ist in welchem es Kant war, viel-
mehr in solchen Fragen der Physik sich nur
zum Schüler der Herrn Darwin Virchow Moritz-
Wagner und anderer Männer des neuesten Welt-
geistes macht, so ersieht man daraus < inderthat
nur wie leicht und bequem es solche neueste
Naturforscher mit ihrer Wissenschaft gerade d&
nehmen wo sie am strengsten sein sollte. Was
der Verf. von sich aus hinzusetzt, besteht aus
reinen Einbildungen welche man wohl den alten
Strauss, Der alte und der neue Glaube. 143
Philosophen schulen der Stoiker Epikureer u. s. w.
heute verzeihen kann, die aber bei einem heu-
tigen Philosophen oder doch (wie er sich rühmt)
philosophisch gebildeten Manne zu finden mehr
als überrascht. Lernen dagegen kann man hier
niehts als dass jedem der sich selbst gottlos
macht, auch die ganze Welt gottlos wird. Und
erfahren kann man hier weiter nichts als wie
geschickt unser Verf. weil er nun einmahl (wir
wissen nicht ernstlich warum) von Gott nichts
wissen will, eben da beständig sogar in densel-
ben Grundgedanken und beliebten Redensarten
die Natur setzt wo man bis jetzt von Gott
redete. Sogar wo ein Hegel noch von Gott oder
tod Geist sprach, lässt dieser sein alter Schü-
ler die Natur etwa wie die Astarte oder eine
sonstige alte Göttin auf den Schauplatz treten:
md so dünkt ihm ein Satz wie »Empfunden
hat ach die Natur schon im Thiere: aber sie
will sich im Menschen auch erkennen« Wunder
welche tiefe Weisheit zu enthalten. Allein wie
die Natur das thue und das vermöge was ihr
hier zugeschrieben wird, versucht der Verf. nicht
einmahl zu erklären ; und wir finden in alle dem
so wenig ein kraftvolles und frisches wissen-
schaftliches Leben, dass wir darin nur das Er-
starren und Absterben jeder bessern Wissen-
schaft sehen können. — Allein weil der Verf.
einer solchen Dogmatik auch noch eine ent-
sprechende Moral anhängen zu müssen fühlt, so
stellt er
4. seine letzte Frage so: »Wie ordnen wir
user Leben ?€ Und hier erst wird er ganz
lebendig. Es ist die bekannte neueste Zeitluft
welche ihm neues Leben eingeathmet hat und
die er nun durch dieses Buch auch allen andern
heute Lebenden einhauchen möchte. Der Meta-
144 . Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
physiker oder vielmehr reine Physiker und Na-
turanbeter welcher bisher Theologe und halber
Philosoph war, wird hier zu einem der Tausend
Zeitungspolitiker von heute; und wer seine Ge-
danken und Reden bis dahin nicht verstand, fin-
det sie hier so enthüllt dass man den Schleier
nicht erst hinwegzuziehen braucht. Aber indem
er noch näher zeigen will wie man alle bisherige
Religion und die ihr entsprechende Sittlichkeit
durch viel bessere Mittel ersetzen könne, schal-
tet er S. 297 — 362 zwei Zugaben ein, wo er
zeigen will dass die Deutschen an ihren neueren
Dichtern und Musikern schon alles besitzen was
sie zur Erfrischung und Läuterung ihres Gei-
stes (wenn man überhaupt im Sinne der Lehre
des Verf. vom Geiste reden kann]) nur zu wün-
schen haben. Goethe ersetze die Bibel, über
welche der Verf. S. 295 so entsetzlich und so
absichtlich abschreckend redet dass man sie am
besten verbrennen sollte; und die grossen Mu-
siker mögen dann weiter auch alle Kirche er-
setzen, da diese ja gänzlich überflüssig ja (wenn
der Verf. hier ein gutes Buch veröffentlicht hat)
nur höchst schädlich ist. Was will man mehr?
oder wozu ist es nöthig hier die Zeitungsgedan-
ken des einstigen Schülers Hegel's noch weiter
zu berühren? Die ganze neueste Deutsche Zeit
ist ihm ja ein Meer von Wonne und Seligkeit.
Nur schade dass der entzückte Lobredner die-
ser Tage an einer bösen Stelle S. 287 einen
Mischlaut dazwischen werfen muss, indem er
nicht Worte genug finden kann die »Ideen
welche jetzt eine zahlreiche und keck umgrei-
fende Klasse der Gesellschaft durchdrungen ha-
ben, als ein üppiges Mistbeet insbesondre für
den Raubmorde zu bezeichnen.
Allein woher diese »Ideen« kommen, hütet
Strauss, Der alte und der neue Glaube. 145
er rieh sorgfaltig zu fragen oder näher zu unter-
suchen. Denn sein Gewissen würde ihm dann
sagen müssen dass er selbst zu den Vätern die-
ser Ideen gehöre: wie kann aber ein Gewissen
haben wer den Gewissen d. i. Gott nicht haben
will? Wie sich demnach das ganze Buch in
grellen Widersprüchen und oberflächlichem Ge-
rede hinzieht, so schliesst es mit einem Miss-
habe der nicht schriller und einem Räthsel über
imsre eigne Zeit welches nicht drückender sein
kann. Aber solche Selbstwidersprüche ziehen
sich bis in die Fassung der Aufschrift des neuen
Buches. Denn der Verf. mag sein Buch als
»Der alte und der neue Glaube« benennen, weil
es ihm wohlgethan scheint seine eignen Meinun-
gen und Einbildungen als einen > Glauben« der
Welt mitzutheilen, wenn diese ihn sich aneignen
und ihn für ihre früheren Einsichten und Ueber-
zeugungen eintauschen will. Er mag den Ver-
such dazu im Vertrauen auf diese unsre neueste
Zeit machen, und sehen was sich weiter dabei
ereigne* Allein inderthat hört alles was der
Mensch in einem besseren Sinne > Glauben c
nennt, vollkommen auf wenn mit Gott auch alles
Unsichtbare geleugnet wird. Der richtige Name
für dieses Buch wäre >Der alte Glaube und der
neue Unglaube«:, und doch wäre auch dieser
wiederum sehr wenig zutreffend, da der Verf.
nicht einmahl weiss was der von ihm sogenannte
alte Glaube sei und es sich daher sehr leicht
macht ihn durch wohlfeile Redensarten und
leere Erdichtungen verächtlich zu machen.
Denn das Aergerlichste und durchaus Un-
heilbarste an diesem Buche ist dass der Verf.
den Haas gegen das Christenthum welchen er
bei sich durch die Länge der Zeit immer nur
noch harter . und steifer hat auswachsen lassen,
12
146 Gott. gel. Ana. 1873. Stuck 4.
endlich hier in vollen Strömen ergießet, obwohl
er ihn nirgends als einen gerechten und unver-
meidlichen beweist. Das Christentum, dieses
einzige ächte Heil mitten in der kranken Men-
schenwelt, welches kein Mensch wirklich so wie
es ißt rein erkennen und in sich aufnehmen kann
ohne in ihm auch für sich den einzigen sichern
Anker seines Lebens zu finden, ist ihm nun
einmahl das schwarze Thier und der Prügel-
junge zugleich ; und während ihn einst als einen
der neun theologischen Repetenten in Tübingen
einige theologische Professoren wegen seiner
höchst unreifen Jugendschrift etwas unweise be-
handelten aber leider durch die steigende Schuld
seiner eignen späteren Werke ihr Unrecht in
Recht umgewandelt sahen, wirft er seinen Un-
muth auf das vollkommen schuldlose Christen-
thum (ich sage nicht dass die Christenheit
schuldlos sei), ja auf Christus selbst I Er hat
diese Vorwürfe nirgends bewiesen, weder in sei*
nen früheren weitschweifigen Büchern noch in
diesem Taschenbüchelchen; und da sie längst
gründlich widerlegt sind, würde man seine Mühe
unnütz vergeuden wenn man sie heute noch ein-
mahl vor aller Welt widerlegte : dennoch wieder-
holt er sie hier, als wüsste er nicht dass sie
längst widerlegt sind. Und wohl fühlte er auch
schon lange dass seine von jedem bessern Sach-
kenner zurückgewiesenen Versuche nach der ge-
meinen Redensart kein Glück mehr machten,
und wandte sich anderen wenn auch entfernter
liegenden doch mehr oder weniger nahe ver-
wandten Feldern zu: als offenbar nur die neue-
ste politische Wendung der Dinge in Deutsch-
land ihn noch einmahl auf seine alten unreifen
Versuche zurückführte und er nun in diesen
Buche alles eilig nachholt was ihm zur Krönung
Strauss 9 Der alte rind der neue Glaube. 147
Werkes noch zu fehlen schien. Er ist
nun ganz der Deutsche Voltaire des 19 ten Jahr-
hunderte geworden , wie dieser vor jeder un-
ruhigen Volksbewegung zitternd und doch durch
seine Drucksachen allen Umsturz befördernd,
alles Geistliche ebenso wie alles Christliche un-
versöhnlich hassend, und wenn nicht selbst wie
r* dichtend doch heute einen neuern Dichter
in den Himmel erhebend, als sollte dieser
bqb neben einigen andern heute Lebenden den
Menschen der Gegenstand der Anbetung sein.
Von jetzt an wenigstens kann der Verf. nicht
wieder in seinen schwankenden Zustand zurück-
gehen, nachdem er in den langen Zwischenzeiten
seine ganze Meinung unverhüllt auszusprechen
allerlei Bedenken getragen. Niemand kann sich
iber ihn länger täuschen: und wir halten dieses
ßr einen guten Gewinn. Es ist nun sonnenklar
geworden was aus dieser Richtung endlich wer-
den muss; und die welche von Anfang an aber
aach später durch alle ihre Schlangenwendungen
hindurch beharrlich vor ihr warnten, haben voll-
standig Becht behalten. Die Geister müssen
sieh jetzt weit schärfer scheiden als dies so viele
fruherhin für nothwendig hielten. Und wer et-
was genauer auf die Zeichen der Zeit achtet,
kann die Anfinge dieser günstigen Wendung
schon jetzt erkennen. Aber auch die letzte
Spur der jetzt so handgreiflich gewordenen bö-
sen Folgen und Ueberbleibsel dieser gesammten
verkehrten Richtung muss verschwinden , wenn
den Verderben gründlich abgeholfen werden soll
Der Verf. ist seit seinem gedankenlosen Jesu-
leben von 1835 der wahre Vater der Tübingi-
•chen Schale geworden, da sein Lehrer Baur
äch im wesentlichen selbst zu seinem Schüler
nachte und bis zu seinem Tode aus den Täu-
12*
n
148 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
gehangen dieser Schule sich nicht wieder zurecht-
zufinden wusste, obgleich er ja freilich weil er
seine öffentliche Lehrstelle als Theologe nicht
aufgeben wollte, diesem seinem Schüler und
Leber zugleich nicht folgerichtig genug werden
konnte. Diese Schule sieht jetzt endlich wohin
ihr Führer sie bringen musste: und einen sol-
chen Führer nicht vom ersten Augenblicke an
richtig erkannt zu haben ist der stärkste Beweis
ihrer Ungeheuern Verirning. Die Schule war
von Anfang an eine blosse Kirchenschule: sie
wollte dann aber eine reine Philosophenschule
sein, und wenigstens den Ruhm beanspruchen
die freie und die ächte Wissenschaft in allem
als das Höchste zu schätzen. Allein wie hätte
sie auch nur diesen einseitigen Vorzug sich wirk-
lich erwerben können, da ihr Führer inderthat
eine ächte freie Wissenschaft weder kannte noch
übte ? Hätte er sich auch nur in ihr die rechte
Mühe gegeben, so würde sie ihn zu einer wah-
ren Religion und daher zum Ghristenthume zu-
rückgeführt haben. Denn keiner kann auf ir-
gend etwas schwieriges, sei es in der Wissen-
schaft oder in anderen edeln Lebensbeschäfti-
gungen, die ganze Kraft eines reinen Geistes
hinwenden, ohne auch dadurch sei es unbewuss-
ter oder bewusster ein Christ zn werden. Un-
ser Verf. aber hat niemals irgend eine schwie-
rigere wissenschaftliche Aufgabe in ihrem gan-
zen Ernste genommen und ohne Selbstsucht mit
Liebe zur Sache zu lösen gesucht : wer das etwa
früher noch nicht wusste, kann es endlich hier
so augenscheinlich bemerken dass ihn keine
Selbsttäuschung mehr entschuldigen kann. Die
Tübinger Schule ist jetzt mit ihm gerichtet; und
die einzige Frage welche am Ende bleibt, ist
nur noch die ob die Deutsche Wissenschaft
Grohnwald, Das Stickstoffoxydul-Gas etc. 149
I nachdem sie sich durch die Täuschungen einer
I mit dem Mangel an aller wahren Religion un-
zertrennlich verknüpften falschen Wissenschaft
to weit hat in die Irre führen lassen, endlich
noch bessere Wege einzuschlagen den Muth ge-
winne oder nicht, oder Tum zu dem Buche am
nächsten zurückzukehren) ob sie zu den Wir
des Verf. sich zählen wolle oder nicht.
H. E.
Das Stickstoffoxydul-Gas als Anaestheticum
Ton Dr. Carl Grohnwald, prakt. Zahnarzt
in Berlin. Berlin. Gutmann'sche Buchhand-
hing 1872. 44 Seiten in Octav und 2 litho-
graphirte Tafeln.
Es lä8st sich nicht verkennen, dass die An-
wendung der anästhesirenden Mittel zum Zwecke
der Hervorrufung einer zur Ausführung chirur-
gischer Operationen geeigneten Narkose gegen-
wärtig in Begriffe steht, eine erfreuliche Meta-
morphose zu durchleben. Bei dem Gebrauche
anderer Medicamente gilt der Standpunkt längst
als ein überwundener, dass die Aufgabe des
Arztes sich darauf beschränke, ein als heilsam
bewährtes oder für heilsam gehaltenes Arznei-
mittel bei einer bestimmten Krankheit zu ver-
ordnen. Die Hauptaufgabe des Therapeuten
vielmehr, ja wir möchten sagen, die eigentliche
Kunst des Heilens ist das Individualismen, d.h.
in jedem einzelnen Krankheitsfälle dasjenige
Arzneimittel auszuwählen, welches der Be-
schaffenheit der Persönlichkeit und den beson-
deren Umstanden des pathologischen Zustandes
150 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
oder Vorganges angemessen ist. Es ist auf-
fallend, dass gerade bei denjenigen Mitteln, de*
ren Entdeckung den grössten Triumph der Arz-
neimittellehre unseres Jahrhunderts ausmacht,
der erwähnte oberste leitende Grundsatz der
Therapie so wenig Beachtung gefunden hat. Die
Aerzte sind gewohnt, auf das eine oder andere
anästhesirende Mittel zu schwören und dieses
ausschliesslich zu benutzen. Man wendet in
Boston und Lyon bis auf den heutigen Tag den
Aether als Anaestheticum an; in den meisten
übrigen Ländern und Städten ist man demsel-
ben untreu geworden und folgt der Fahne des
Chloroforms. Grosse Schlachten sind in den
wissenschaftlichen Journalen und in medicini-
schen Gesellschaften zwischen den Partisanen
beider Medicamente gekämpft worden; beson-
ders an der Seine hat man mit vielem Elan und
grossem Aufwände von Phrasen gestritten. Aber
in allen diesen Discussionen ist die Frage ge-
wesen, ob der Aether, ob das Chloroform das
einzig richtige Anaestheticum sei, während man
correcter und angemessener verfahren wäre,
wenn man untersucht hätte, ob es nicht
Fälle gebe, in denen das eine vor dem
andern den Vorzug verdiene? In Wirk-
lichkeit lehrt die Erfahrung, dass beide Sub-
stanzen sich keineswegs ausschliessen, und diese
Momente zu präcisiren, in denen das Chloroform
oder der Aether ihre bestimmten Indicationen
finden, das ist der Punkt, auf welchen es unse-
res Erachtens ankommt und durch dessen Er-
ledigung die Lehre von den anästhetischen Mit*
teln erst ihre wahre wissenschaftliche Basis er-
hält. In England, wo die Chloroformtodesfalle
am zahlreichsten beobachtet worden sind, so
zahlreich, dass in der letzten Zeit fast all-
Grohnwald, Das Stickstoffoxydul-Gas etc. 151
wöchentlich ein neuer Fall berichtet wird , hat
man sich vielfältig bemüht, an die Stelle des
Chloroforms andere organische Artefaote zu
setzen, denen man aus theoretischen Gründen
eine mindere Gefährlichkeit Zutraut. Allge-
meine Anwendung haben nur das von Snow
empfohlene Amylen und in neuerer Zeit Ri-
chardson's Schützling, das Methylenbichlorid
gefunden. Ihren Zweck haben sie eben so we-
nig wie die gepriesenen Mischungen von Aether,
Alkohol und Chlorofortn und das in allerjüng-
iter Zeit in Deutschland befürwortete Aethy-
lidenchlorid erreicht; alle diese Stoffe haben
trotz ihrer beschränkten Anwendung schon zu
Todesfallen Veranlassung gegeben. Ueberall
aber ist auch hier die Fragestellung eine ver-
kehrte gewesen. Man hätte auch diese Sub-
stanzen nicht als unfehlbare Ersatzmittel des
Chloroforms hinstellen, sondern die Grenzen ge-
nau bestimmen sollen, innerhalb deren sie nach
den vorliegenden Untersuchungen und Erfahrun-
gen ihre besondere Indication finden.
Diese von uns seit Jahren vertretenen An-
sichten giebt uns die in der Ueberschrift ge-
nannte kleine Schrift über Sticköfcoffoxydul als
Anästheticum auszusprechen Gelegenheit. Wir
begrussen das Erscheinen derselben mit um so
grosserer Freude, weil sie uns den Beweis lie-
fert, dass die im Jahre 1868 von Amerika aus
gemachten Anstrengungen, auch Europa für den
Gebrauch des Lustgases als Anästheticum zu
mteresortn, in Deutschland nicht auf unfrucht-
baren Boden gefallen sind. Wir glauben, ge-
stützt auf das reiche Material, welches die
Chloroformliteratur einerseits und die im lets-
ten Quinquennium massenhaft angewachsene
Literat** des Sti6kst0ff»ydulö andererseits dar-
152 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 4.
.-*-'
bietet, unsere Ansicht dahin aussprechen zu kön-
nen, dass bei kleinen Operationen von etwa
einer Minute Dauer, insbesondere also beiZahn-
extractionen die Gefahren der Chloroformanwen-
dung in keinem Yerhältniss zur Grösse der Ope-
ration stehen und so dieses Mittel hierin eine
Contraindication findet, während wir im Stick-
stoffoxydul ein Agens besitzen, welches gerade
für diese Fälle passt, während es für Operatio-
nen von längerer Dauer, sich keineswegs geeig-
net erweist. Die Statistik der Chloroformtodes-
fälle hat zu der Erkenntniss des eigenthümlichen
Factums geführt, dass eine unverhältnissmässig
grosse Anzahl derselben bei Gelegenheit von
Zahnextractionen und ähnlichen unbedeutenden
Operationen vorgekommen ist. Man hat die
Erklärung für diese Thatsache, welche von je-
dem neueren Bearbeiter der Chloroformcasuistik
hervorgehoben wird, in dem Umstände gesucht,
dass bei solchen Operationen nicht tief genug
chloroformirt werde, so dass der betreffende
Patient sich nicht in voller Anästhesie befinde
und die von ihm wahrgenommene Erschütterung
einen deleteren Einfluss auf die Centraltheile
des Nervensystems oder das Herz äussere. Mag
dies richtig sein oder nicht (die Erfahrungen bei
Stickoxydulnarkose scheinen dagegen zu spre-
chen, weil auch hier häufig in einem Stadium
operirt wurde, wo zwar das Schmerzgefühl auf-
gehoben ist, aber nicht jede Empfindung fehlt,
so dass der Operirte die Zahnextraction als
Ruck oder Knacken empfindet), die Thatsache
selbst kann nicht weggeläugnet werden und ihr
gegenüber steht das ebenso verbürgte Factum,
dass bei den nämlichen Operationen die An«
wendung des Stickstoffoxyduls kaum eine Ge-
fahr für das Leben bedingt Man glaube nicht,
Grohnwald, Das Stickstoffoxydul-Gas etc. 153
dass die Zahlen hinsichtlich der Anwendung des
Stickstoffoxyduls zu klein sind, um zu Schluss-
folgerungen zu berechtigen. Grohnwald allein
stützt sich auf die nicht unerhebliche Summe
von 3000 Beobachtungen, klein allerdings im
Vergleiche zu der Statistik, welche der Ameri-
kaner Colton im Jahre 1868 der Londoner
Odontological Society vorlegen konnte. Sie be-
stand in nahezu 28,000 Zeugnissen von Perso-
nen, welche zum Zwecke der Zahnextraction mit
Stickstoffoxydul anästhesirt waren. Man halte
dieselben nicht fur Humbug, denn Colton hat
fast in jeder grösseren Stadt Amerikas beson-
dere dentistische Institute angelegt, in welchen
unter Anwendung seines Narcotisationsverfahrens
Zahne schmerzlos ausgezogen werden. Dazu
kommt noch eine reiche Casuistik des als Bet-
ter der Kaiserin Eug&rie auch in nichtärztlichen
Kreisen bekannt gewordenen Zahnarztes Evans,
und eine Menge von Fällen Hesse sich auch aus
der englischen Literatur der letzten 4 Jahre zu-
sammenstellen. Wir glauben nicht zu irren,
wenn wir die Summe der Narcotisationen durch
Stickstoffoxydul bis auf den heutigen Tag auf
nahezu 100,000 veranschlagen. Nun bringt uns
allerdings die amerikanische Literatur einige da-
bei vorgekommene Todesfälle. Es ist nicht, wie
Grohnwald glaubt, ein einziger vorgekommen,
sondern wir haben bis jetzt davon vier aufge-
funden, von denen indessen einer ganz gewiss
als nicht stricte hiehergehörig abgezogen werden
muss. Denn es handelt sich dabei nicht um
eben Patienten, sondern um ein gesundes Indi-
viduum, welchem der Gehülfe eines Dentisten
zum Zeitvertreib so lange Stickoxydul einflösste,
bis er aus seiner Asphyxie nicht mehr erweckt
werden konnte. Hierfür kann offenbar das Ver-
154 Gott, gel An?. 1873. Stück 4.
fahren der Anästhesirdng mit Stickoxydulgas
nicht in Anspruch genommen werden trod auch
in den übrigen drei Fällen sind wir geneigt, mit
Grohnwald eine grosse Fahrlässigkeit anzu-
nehmen, und nur bei einer solchen halten wir
es überhaupt für möglich, dass Menschen in der
Narkose zu Grunde gehen. In allen diesen Fal-
ten würde übrigens höchst wahrscheinlich die
von Grohnwald angegebene VorsichtemasB-
regel, den zur Faradisation des Phrenicus not-
wendigen Apparat stets zur Hand zu haben,
das Leben der Aspbyktischen 2u retten im
Stande gewesen sein. Wie ganz anders beim
Chloroform, wo selbst bei der grössten Vorsicht
und bei der genauesten Beobachtung des Patien-
ten dennoch plötzlicher Tod durch Syncope er-
folgen kann, und wo dann in manchem Falle
die sorgfältigste und mühsamste Anwendung
aller erdenklichen Wiederbelebungsmittel erfolg-
los bleibt. Die oben erwähnten Todesfälle durch
Stickoxydul sind leider ohne Details mitgetheilt
und lassen daher eine genauere Analyse nicht
zu; nur bei dem einen ist bemerkt, dass der
Patient an einer ausgebreiteten Lnngenaffeotion
(Tuberculosis?) gelitten habe. Nun ist von
Co 1 ton und auch von Evans hervorgehoben
worden, dass die Inhalation des Gases zu
Blutungen disponire und es wäre nicht unmög-
lich, dass gerade mit Blutung verlaufende Lungeit-
affectionen eine Contraindication des Stickstoffe
oxyduls darstellen. Grohnwald hat diesen
Umstand weniger berücksichtigt, aber wenn es
auch in dem Bereiche der Möglichkeit liegt,
dass nicht völlig von Stickoxyd freies Gas in
den bisher publicirten Beobachtungen zu? Ent-
stehung der Hämorrhagiem Anläse gab, so müs-
sen doch diese Angaben der amerikamÄChen
Grohnwald, Das Stickstoffoxydul^Gas etc. 155
Zahnarzte im Auge behalten werden, Grohn-
wald scheint ausschliesslich bei Individuen,
welche früher an Hirnapoplexie gelitten haben,
den Gebranch des Stickoxyduls als contraindi-
cärt zu betrachten, weil er ans der durch das
Gas verursachten Röthe des Gesichtes anf das
Vorhandensein einer Eopfcongestton schliesst.
Wenn wir aber das Stickstoffoxydul als ein
licht bei längeren Operationen anwendbares An-
ästbeticum bezeichneten, so haben wir dies un-
geachtet der bereits unter dem Einflüsse des*
selben ausgeführten längeren Operation gethan.
Bekanntlich hat Carnochan zuerst das Gas
in dieser Richtung versucht und eine Kranke,
deren Mamma er exstirpirte, 15 Min. lang in
Stickoxydulnarkose halten lassen; später sind
sogar 20—25 Min. lange Operationen unter Ge»
branch des fraglichen Betäubungsmittels ausge-
führt Aber es kann nicht in Abrede gestellt
werden, das bei dieser Anwendungsweise das
Gas in Hinsicht der Gefahrlosigkeit keine Vor-
zuge vor den andern Anästheticis besitzt, da-
gegen bezuglich seiner Application Inconvenien*
zen darbietet, welche Chloroform und Aether
nicht zeigen. Diese Inconvenienzen , welohe
hauptsächlich darin ihren Grund haben, dass
das Anästheticum ein Gas ist, als Grund gegen
seine Anwendung überhaupt zu benutzen, wäre
ein thörichtes Unterfangen, denn sie können
vermieden werden; schlechter freilich für die
Privatpraxis als für die Operationszimmer be-
schäftigter Aerzte und für die Hospitalpraxis,
wie dies Grohnwald im dritten Abschnitte
seiner 8chrift nachweist, und sie müssen ver-
mieden werden, weil es sich darum handelt, das
Menschenleben vor Gefährdung zu bewahren.
In der Kritik des Sau er' sehen Verfahrens
156 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 4.
far langer dauernde Zahnoperationen ein Ge-
menge von Stickoxydu], atmosphärischer Luft
und Chloroformdampf zu benutzen, sind wir mit
Grohnwald völlig einverstanden. Dasselbe
involvirt offenbar alle Gefahren des Chlorofor-
xnirens, denn das Stickoxydul ist, wie dies schon
1865 Ludimar Hermann nachwies und wie
dies neuere Untersuchungen von Frankland
unzweideutig darthun, nicht im Stande, gemäss
der Anschauung von Davy im Blute Sauerstoff
abzugeben und dadurch aen Lebensprocess zu
unterhalten, und mit Recht gilt es bei der An-
wendung des Chloroforms für unerlässlich, den
Sauerstoffzutritt zur Lunge nicht völlig anszu-
schliessen. Die Menge atmosphärischer Luft in
dem fraglichen Gemenge ist schon an sich sehr
gering und wird durch jede Inspiration noch
vermindert. Jedenfalls ist Sau er 's Verfahren
für die Zahnärzte völlig entbehrlich, weil, wie
Grohnwald nachweist, die Inhalation des reinen
Gases in einer Sitzung mehrmals hintereinander
vorgenommen werden kann und zwar immer mit
prompteren Erfolge, da der Patient jedesmal
regelmässiger athmet, ohne dass die Narkose
länger dauert, oder lästige Nebenerscheinungen
hervortreten.
Grohnwalds Schrift beginnt mit einem
historischen Abschnitte, der die Geschichte der
Stickoxydulnarkose ziemlich vollständig giebt.
Richtig ist Horace Well s als der Erfinder
der Methode angegeben, doch ist der Zeitpunkt
nicht genau präcisirt, wo die erste Anwendung
geschah. Es war am 10. December 1844, wo
der genannte amerikanische Zahnarzt sich selbst
in der Stickstoffoxydulnarkose einen Zahn extra-
hiren Hess. Uebersehen scheint von dem Verf.
der Umstand, dass bereits im Jahre 1866 im
Grohnwald, Das Stickstoffoxydul-Gas etc. 157
Wiener allgemeinen Krankenhause von Berg-
harn er Versuche mit dem Gase angestellt wor-
den. Im zweiten Abschnitte bespricht Grohn-
wald Bereitungs weise und Eigenschaften des
Stickoxyduls, im dritten die Aufbewahrungs-
nnd Inhalationsapparate, welche auf den beiden
beigegebenen Tafeln abgebildet sind. Die Kritik
der einzelnen Apparate ist überzeugend; die
Tom Verf. für nothwendig erachtete grössere
Weite des Athmungsrohrs, damit der Patient be-
Juem inbaliren könne, hat auch schon früher
Sattlin gefordert.
Im vierten Abschnitt giebt Grohnwald
seine eigenen Erfahrungen in anziehender und
anschaulicher Weise, woraus die Beobachtungen
fiber die Reihenfolge, in welcher die einzelnen
Nerven bei der Narkose afficirt werden, beson-
ders beachtungswerth erscheinen. Einzelne eigen-
thümliche Erscheinungen sind detaillirter mitge-
teilt. Nach Mittheilung einer Statistik der von
ihm ausgeführten Narkosen giebt er zum Schlüsse
noch einige eigene Beobachtungen über Aethy-
Udenchlorid.
Bei der vorzugsweise praktischen Tendenz
des kleinen Buches wird man wohl kaum einen
Abschnitt über die Theorie der Stickstoffoxydul-
narkose vermissen. An sich wäre eine solche ja
allerdings nicht ohne Interesse, da ja das Stick-
stoffoxydul eine ganz andere Wirksamkeit be-
sitzt wie die übrigen gebräuchlichen Anästheti-
cum. Uebrigens hat sich ja aber bei keinem
Stoffe der Satz, dass alle Theorie genau sei, so
sehr erwiesen, wie gerade bei dem in Bede
stehenden Gas. Ais im Jahre 1866 Patruban
die Versuche von Berghamer in einer öster-
reichischen Zeitschrift zur allgemeinen Kenntnias
brachte, trat der Einfuhrung des bei uns neuen
168 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
Betäubungsmittels, die Theorie seiner Wirkungs-
weise hemmend in den Weg. Ludimar Her*
mann hielt dem neuen Mittel und seinen An-
hängern sofort vor, dass es nur durch Erzeu-
gung von Asphyxie wirke und stellte an die
hirurgen die Frage , ob es zulässig sei, einen
Patienten dadurch in Anästhesie zu versetzen,
dass man ihn ersticke oder erwürge. Freilich
lag es nahe, hier in Bezug auf Aether und Chloro-
form die Gegenfrage zu stellen, ob es gestattet
sei, Jemanden dadurch zu anästhesiren, dass
man ihn vergifte. Ist doch in Wirklichkeit die
Chloroformnarkose eine Intoxication und zwar
nicht bloss in ihren ersten Stadien! Nun, die
theoretische Opposition hat den Fortschritten
des Verfahrens keinen Hemmschuh anlegen kön-
nen; das beweisen vor Allem Grohnwalds
neueste Studien, denen wir aus vollem Herzen
Leser und Nachahmer wünschen.
Theod. Husemann.
Leberecht ü hl ich in Magdeburg. Sein Le-
ben von ihm selbst beschrieben. 2. Auflage.
Gera, Verlag von Paul Strebel. 1872. 108 S.
Uhlich, mögen wir nun mit ihm überein-
stimmen oder nicht — und Ref. bekennt, in
wesentlichen Stücken nicht mit demselben ein-
stimmig zu sein — stellt gleichwohl den Reprä-
sentanten einer Geistesrichtung dar, die eine
überaus weite Verbreitung in unserer Zeit hat,
und namentlich in dem ersten Jahrzehnt der
Regierung Friedrich Wilhelms IV. ist der Ein«
flu*» des Predigers zu Pömmelte und später zu
Leberecht Üblich in Magdeburg. 169
Magdeburg ein ganz ungeheurer gewesen. Da-
her ist eine Lebensbeschreibung dieses Mannes
dann allerdings von hohem Interesse, und be*
senders eine solche , die er selbst verfasst hat
und in der er also das Facit seines eigenen Le-
bens und Strebens zieht, darf von dem Histori-
ker nicht ausser Acht gelassen werden. Auch
ist die vorliegende, ungeachtet ihrer Kürze und
ihres etwas summarischen Verfahrens, der Art,
dies man aus ihr den Mann und seine Partei
genau kennen lernt. Üblich giebt sieh in der*
Silben, wie er gewesen ist, ehrlich und aufrieb*
tig und ohne viele Schminke, wenn man nicht
das für Schönfärberei halten will, dass er, wie
jeder Parteimann, meint, das Recht allein auf
seiner Seite zu haben, und mit ziemlicher Un-
befangenheit werden wir auch in die Wandelun-
gen angeführt, die er und seine Partei vom Bar
tionalismus nach alter Halle'scher Schule bis
som völligen Radicalisms durchgemacht hat.
So ist es denn wirklich ein Stück Geschichte
am unsrer nächsten Vergangenheit, was uns in
dem Lichte vorgeführt wird, in welchem es einer
der Betheiligten von seinem Standorte aus ge-
meint hat betrachten zu müssen, und dafür kann
man dann jedenfalls nur dankbar sein ; nur dass
denn freilich die Einseitigkeit und Befangenheit
des Urtheils über Personen, Ereignisse und Be-
strebungen sich auch von selbst versteht und
mit in den Kauf genommen werden muss. Sei-
nen Gegnern, vor allen Dingen den Männern
der preußischen Regierung steht Üblich noch
im J. 1872 ganz so gegenüber, wie etwa die
Bevolution8männer aus der achtundvierziger Zeit,
und an der Herbigkeit des Urtheils über sie ist
bei ihm Nichts gemildert worden. Das sieht
man namentlich an dem, was er S. 27 über
160 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 4.
Friedrich Wilhelm IV. und den Minister Eich-
horn sagt: es kann dasselbe nicht abfälliger,
aber, wie Jeder sagen muss, der die Dinge aus
den Acten und nicht bloss aus Zeitungsartikeln
kennt, auch nicht schiefer und unzutreffender
sein und charakterisirt sich ganz und gar als
das parteiliche Urtheil eines Mannes, der darun-
ter hat leiden müssen, dass die Leiter der
preussischen Politik auch noch andere Rück-
sichten sich zum Massstabe dienen Hessen, als
nur die Bestrebungen Uhlich's und seiner Ge-
nossen. Solche Stellen machen auf den wirk-
lich Kundigen allerdings einen peinlichen Ein-
druck, und sie finden sich genug in dem Buche,
aber — am Ende gehören auch sie mit als ein
integrirender Theil in das Charakterbild hinein,
das Uhlich hier von sich selbst hat entwerfen
wollen, nur dass man diese Urtheile nicht als
objective Wahrheit betrachten und sich im
Gegentheil stets erinnern muss, wie sie nur der
subjective Reflex in der Seele dieses Mannes
sind. Nur als solcher haben sie denn aber
auch eine Bedeutung, und die wahren Charakter-
bilder der Personen und Parteien, über welche
Uhlich von seinem Standpunkte und aus seinen
subjectiven Erlebnissen heraus urtheilt, werden
wir freilich anderswo suchen müssen, als in die-
sem Buche.
F. Brandes.
161
Gff tt ingiseh e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stack 5. 29. Januar 1873.
Römische Bildwerke einheimischen
Fundorts in Oesterreich herausgegeben
Ton Alexander Conze. 1. Heft. Drei Sarko-
phage aus Salona. Mit Tafel I — IV. (Aus dem
22. Bande der Denkschriften der philos.-histor.
Klasse der Kais. Akademie der Wissenschaften).
Wen, Gerold und Sohn, 1872. 20 Seiten und
4 Kupfertafeln in Grossquart.
Ein altes Heimathsrecht wird mir es zuge-
standen in diesen Blättern die Anzeige einer
eigenen Arbeit zu bringen. Es soll darin von
dieser Arbeit selbst, so weit sie oben genannt
vorliegt, deren Beurtheilung selbstverständlicher
Weise Andern zusteht, wenig die Rede sein; ist
dieselbe doch schon ihrem Umfange nach nur
Etwas zu Kleines, um viel Aufheben von ihr zu
machen. Etwas Grösseres ist schon der Plan,
zu dessen Ausführung mit dem einen Hefte der
Anfang gemacht ist, und Etwas wiederum noch
Grösseres sind die Aufgaben, welche hier in
diesem Grenzlande deutscher Wissenschaft und
antiker Kultur der klassischen Archäologie sich
13
162 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 5.
stellen und zu deren Lösung neben Erfüllung
der Pflichten ihres Lehramtes mitzuwirken die
Vertreter dieses Faches an den österreichischen
Universitäten eine besondere Aufforderung an
sich herantreten sehen. Schon dadurch wird die
Aufmerksamkeit des Universitätslehrers der
klassischen Archäologie in üesterreich nach die-
ser Seite hin durch die Universitätsthätigkeit
selbst gelenkt, dass hier mehr als an den mei-
sten deutschen Universitäten das akademische
Studium der Archäologie auf eine Praxis vorzu-
bereiten hat, einigermassen vergleichbar dem
Schulfacbe, mit Rücksicht auf das die übrigen
philologischen Disziplinen auf der Universität ge-
lehrt und gelernt werden, vergleichbar dem
Pfarramte, der Ausübung der Heilkunde und
wie sonst die Lebensberufe heissen, für welche
sich die überwiegende Mehrzahl aller Studenten
das Rüstzeug auf der Universität zu holen
kommt. Die Aemter also, um es nun so aus-
zudrücken, auf welche archäologisches Studium
in den akademischen Jahren einen Anspruch
verleihen soll, sind die Konservatorenstellen,
welche in einem Lande wie Oesterreich mit
denkmalreichen Provinzen wie Dalmatien, mit
Ruinenplätzen wie Aquileja, und unter vielfach
gar zu wenig zur Schätzung antiker Ueberreste
vorgebildeten Bevölkerungen, eine grosse Bedeu-
tung für die Alterthumswissenschaft haben. Dass
diese Aemter einstweilen wenigstens unbesoldete
sind, kann insofern nicht ausschliesslich als ein
Nachtheil angesehen werden, als dieser Umstand
es mit sich bringt, dass sie in der Regel nur
neben einer Gymnasiallehrerstelle gesucht und
verliehen werden dürften, so also auch in die-
ser Praxis der Archäologie die gesund erhaltende
Verbindung mit der übrigen Philologie gesichert
r
Conze, Römische Bildwerke etc. 163
wird. Das Oberschulkollegium für die Kouser-
vatorenstellen ist in. Oesterreich die Central-
kommission für Erhaltung und Erforschung der
Baudenkmale, wie sie mit einem etwas zu eng
gefassten Namen heisst, eine Behörde, welche
durch dankenswerthe Leistungen schon längst
die Aufmerksamkeit zumal der Erforscher mittel«
alterlicber Kunst auf sich gezogen hat, der es
aber gerade, weil jene too mir eben dargelegte
Verbindung you Universität und Praxis schon
auß Mangel Ton Vorbedingungen für dieselbe
bisher kaum bestand, an geeigneten Organen
ihrer Tbätigkeit an Orten fehlte, wo die lieber-
reste des klassischen Alterthums im* Vorder-
1 gründe stehen. Die Konservatorenstellen auch
an solchen Orten sind bis jetzt in der Regel
nicht Gymnasiallehrern übertragen, die Gymna-
siallehrer auch bislang in der Regel für diesel-
ben nicht mit * der nöthigen Vorbereitung ver-
seben; denn der Archäologie wurde an den öster-
reichischen Universitäten nur äusserst sporadi-
sche Pflege zu Theil und nicht besser erging es
der lateinischen Epigraphik, welche doch, wie
ohne Weiteres einleuchtet, für die auf der Uni«
versität zu gewinnende Vorbildung der Konser-
vatoren sogar mehr als gleichbedeutend mit der
Archäologie ist. Erst wenn archäologisch-epi-
graphische Uebungen, mag man sie nun in Ge-
stalt eines Seminars konstituiren oder nicht,
auf den Universitäten unter tüchtiger Leitung
getrieben werden, kann das, was ich ausführte,
zur vollen Verwirklichung gelangen. Sobald
aber, um darauf zurückzukommen, der Univer-
sitätslehrer der genannten Fächer dieses Ziel,
um darauf hinzuarbeiten, ins Auge fasst, rucken
ihm die antiken Ueberreste des ganzen Staates
in unmittelbare Nähe, fordern, dass er selbst
164 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 5.
mit ihnen schon um seiner Schaler willen, die
sie künftig unter Händen haben sollen, sich
vertraut mache, während sie sonst ihrer Art
nach wenigstens auf den Archäologen nicht die
volle Anziehungskraft ausüben können, wie die
Werke besserer Kunstepochen, als sie hier
durchschnittlich in den Funden vertreten sind.
Hiermit ist, fast klingt es entschuldigend,
erklärt, wie ich bei freierer Wahl sonst mehr
der Erforschung griechischer Kunst mich zu-
wendend, hier in Wien den Plan gefasst habe,
eine grosse Anzahl spätrömischer Provinzial-
arbeiten, so gut ich es vermag, herauszugeben.
Hierbei jpt mir eine nicht gewöhnliche Gunst zu
Theil geworden, für welche der Dank dem kais.
Unterrichtsministerium, so wie der kais. Aka-
demie der Wissenschaften gebührt. Das erstere
setzt mich in den Stand auf alljährlich wieder-
holten Reisen mir die Kenntniss der vorhande-
nen, einer ersten oder doch einer genügenderen
Bekanntmachung wartenden Ueberreste in eige-
ner Anschauung zu erwerben, die andre bietet
die Mittel zur Herausgabe und zwar so bemes-
sen, dass nicht, wie bei ersten Editionen von
Bildwerken auch niemals geschehen sollte, in
Folge eines Schlendrians, der in dem Gedruck-
ten die Hauptsache, in den Tafeln nur mehr
oder weniger nebensächliche Beilagen zu sehen
pflegt, den Abbildungstafeln ihre volle Bedeutung
verkümmert zu werden braucht. Was heraus-
gegeben wird, soll ohne Luxus, aber nach Mög-
lichkeit getreu und vermittelst einer möglichst
guten Technik herausgegeben werden; eine
solche Technik ist und bleibt aber in den mei-
sten Fällen — was auch neben ihr, Manche blen-
dend, aufgewachsen ist — der alte, edle Kupfer-
stich, dem die Photographie als vorbereitende
Conze, Romische Bildwerke etc. 165
Gehülfin, doch möglichst nicht allein, dienen
mag. Ich will nun auch dafür an dieser Stelle
den Dank nicht noch einmal, wie es in der
Publikation selbst geschah, zurückhalten, dass
auch hier eine besondere Gunst meinem Unter-
nehmen zu Theil wurde, indem nämlich mein
Freund Louis Jacoby sich berathend und hel-
fend bei der Ausführung der Tafeln mir zuge-
sellte, während seinen Schülern und für den
architectonischen Theil zweier Tafeln des ersten
Heftes einem hierin besonders virtuosen Arbei-
ter in der Person des (aus Hameln gebürtigen)
Baltemeyer die eigentliche Ausführung der Plat-
ten übertragen wurde.
Es erschien aus verschiedenen Gründen un-
zweckmässig erst den ganzen Vorrath von Zeich-
nungen aufzusammeln und dann als ein ge-
schlossenes Werk die ganze Ausgabe ans Licht
treten zu lassen; mitbestimmend war auch der
Wunsch der kais. Akademie, die von ihr unter-
stützte Arbeit in ihren Denkschriften erscheinen
zu sehen. Die Separatausgabe der Hefte dieser
Denkschriften ermöglicht später dennoch die Zu«
sammenstellung der einzelnen Hefte zu einem
gesonderten Ganzen. Oertlich Zusammengehörig
ges soll bei der Herausgabe möglichst zusam-
mengehalten werden, doch wird es nur in den
einzelnen Heften möglich sein, das strenger ein«
zuhalten, gelockerter wird unvermeidlicher Weise
schon die topographische Ordnung in der Auf-
einanderfolge der Hefte ausfallen müssen. So
ist schon jetzt die Absicht aufgegeben, welche
im Vorworte zum ersten Hefte ausgesprochen
ist, den Salonitaner Monumenten im zweiten
und dritten Hefte Werke gleichen Fundorts fol-
gen zu lassen. Das zweite, bereits in Arbeit
begriffene Heft wird vielmehr ausser einem
166 Gott. get. Anz. 1873. Stück 5.
langst nicht unbekannten, aber noch niemals ge-
nügend herausgegebenen Römerdenkmale Steier-
marks, dem grossen Grabsteine mit Darstellun-
gen aus der Orpheussage, noch eine Anzahl
andrer zu Pettau (Poetovio) befindlicher Sculp-
turen bringen. Es war meine erste Absicht ge-
wesen, mit den Steiermärkischen Fundstücken
die ganze Publikation zu beginnen und deshalb
hat hier der Zeichner schon am meisten vorge-
arbeitet , doch drängten sich zwei erst ganz kürz-
lich auf Anordnung des kais. Unterrichtsmini-
steriums bei Salona ausgegrabene und dem un-
ter Leitung des neuen Direktors und Konser-
vators Gymnasialprofessors M. Glavinitsch einer
besseren Zukunft entgegensehenden Museum zu
Spalato überwiesene Sarkophage, so wie ein
ebendaher stammender in Fiume, durch ihre
Bedeutsamkeit zu sehr in den Vordergrund, um
nicht ihnen vielmehr im ersten Hefte den Vor-
rang zu gewähren.
Der erste Sarkophag bietet in seinem Relief
aus der Sage von Phaidra und Hippolytos eine
zur besseren Kenntniss der zu Grunde liegenden
Originalkomposition werthvolle Wiederholung
eines Campanaschen Sarkophags in Paris.
Der zweite Sarkophag vermehrt die Reihe
ältestchristlicher Skulpturen um ein reiches und
mannigfach eigentümliches Exemplar. Was
meine Behandlung im Texte anlangt, so muss
ich am Meisten bei der dieses christlichen Sar-
kophags sogar hoffen, dass es mir noch nicht
gelungen ist bis zu dem Erreichbaren vorzu-
dringen und ich bitte in diesem Sinne bessere
Kenner der altchristlichen Jahrhunderte, unter
denen auf de Rossi sich am Ersten die Blicke
wenden, hier berichtigend oder weiterführend
die Erklärung neu aufzunehmen«
Cpnze, Römische Bildwerke etc. 167
Der dritte, leider nur zertrümmert in Frame
wiedergefundene Sarkophag mit Jagdszenen weist
uns noch die Ueberreste einer höchst lebensvoll
gedrängten Komposition. Hier ergeht ein ein-
dringliches Mahnwort an die Konservatoren auf-
wachten, was für Schätze bis in die neuste Zeit
rohester Vernichtung preisgegeben waren.
Werke von solcher Bedeutung, wie relativ
unter spätrömischen Bildwerken diese drei Sar-
kophage immerhin erscheinen müssen, werden
bei der Fortsetzung meiner Publikation kaum
mehr oder nur sparsam sich wiederholen. Was
nachkommen wird, will ich also zwar im Einzel-
nen nicht überschätzen, im Ganzen aber doch
als kunst- und kulturgeschichtlich unverächtlich
in Schutz nehmen. Die Geschichte der griechi-
schen Kunst hat zu beginnen mit Arbeiten, die,
im Einzelnen ziemlich unbedeutend, in grösserer
Zahl erst belehrend über das Werden zu uns
zu sprechen beginnen und mit einer Verflachung
in die Breite ohne hervorragendes Einzelne en-
det die griechisch-römische Kunst, so erst durch
Anfang und Ende recht deutlich zu einem ab-
geschlossenen Ganzen zusammengefasst. Der
Forscher, der bis zu jenen unansehnlichen Quell-
bächen hinaufsteigt, wird auch den versanden-
den Strom bis an seine Mündung verfolgen wol-
len, wenn die Mehrzahl der Betrachter auch,
wie auf der Rheinfahrt, dem an Schönheiten
reicheren Mittellaufe mit gutem Hechte immer
den Vorzug geben wird.
Wien. Conze.
168 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
Prolegomena critica in Vetus Testamentum
Hebraicum quibus agitur I. de codicibus et de-
perditis et adhuc exstantibus. II. de textu Bibli-
orum Hebraicorum qualis Talmudistarum tem-
poribu8 fuerit. Scripsit Hermann L. Strack,
pbil. Dr. Lipsiae, J. G. Hinrichs bibliopola,
1873. — VIII und 131 S. in 8.
Der Verf. dieser Schrift regt vorne dfe Frage
an warum das Griechische Neue Testament seit
den letzten 40 Jahren nun schon so oft in
neuen sogenannten kritischen Ausgaben bear-
beitet sei, die Hebräische Bibel aber seit de
Rossi keine neue Bearbeiter gefunden habe.
Man könnte diese Frage genauer so stellen
warum die Hebräische Bibel seitdem ihr Masso-
rethisches Wortgefüge während der ersten Zei-
ten nach Erfindung der Buchdruckerei erträg-
lich sicher festgestellt war, im wesentlichen im-
mer nur in diesem selben Wortgefüge abgedruckt
werde? Womit dann die andere Frage zusam-
menhängt: ob dieses wirklich bis heute ein so
grosses Unheil gewesen sei, und was man heute
thun müsse um diesem Unheile sofern ein sol-
ches sich herausstellt entgegenzuwirken? Hätte
der Verf. die vorläufigen Fragen seiner Abhand-
lung so gestellt, so würde er die Leser sogleich
von vorne an auf den richtigen Standort der
Betrachtung geführt haben.
Die Sache ist nun dass dieser Unterschied
wie er sich heute herausstellt, nicht so zufallig
entstanden ist und sich noch immer erhält. Die
alten grossen Geschicke der Christlichen Bibel
von der einen und der Hebräischen von der
andern Seite sind eben zu verschieden gewesen
als dass dieser Unterschied sich nicht hätte bil-
den müssen. Denn die Hellenistische Bibel
Strack, Prolegomena crit. in Vetuß Test. Hebr. 169
welche mit den N. Tuchen Büchern vermehrt
die Christliche wurde, hat zwar schon in den
Torchristlichen Zeiten mancherlei Versuche ihr
Wortgefnge gut zu erhalten über sich ergehen
lassen müssen; und ähnliche wiederholten sich
dann unter den Christen mit ihrer Bibel wäh-
rend der ersten Jahrhunderte nach Chr., bis
diese endlich in den späteren Jahrhunderten des
Mittelalters bei der allgemein einreissenden Er-
schlaffung des Christenthumes die immer starrer
gewordene Gestalt annahm welche man die By-
zantinische nennen kann. Seitdem sich aber
das Judenthum vom Gbristenthume völlig los*
gerissen hatte, erstarkte in diesem sofort auf
die nächsten entscheidenden Jahrhunderte hin
der Zug zur sorgfaltigsten ja ängstlichsten Er-
haltung seiner Bibel in der Gestalt welche die
herrschende Schule für die richtige hielt; eine
Sichtung welche sich dort schon vor dem Ha-
drianischen ja vor dem Vespasianischen Kriege
als kommend verfolgen lässt, die aber erst nach
diesen alleinherrschend wurde. Je mehr nun das
Judenthum in diesen Zeiten zur blossen Schule
wurde, und in dieser selbst nur jene Richtung
allein sich als die herrschende behauptete, desto
eifriger wurde zwar die Sorgfalt die Hebräische
Bibel in ihrer für die beste gehaltenen U e b e r-
lieferung d. i. Massora zu erhalten, aber
desto einseitiger und der herrschenden Zeitrich-
tung gemäss (man kann nicht anders sagen als)
desto ängstlicher bildete sie sich aus. Jenem
Theile dieser grossen Sorgfalt verdanken wir
die von uns heute nicht dankbar genug anzu-
erkennende gleissmässige feste und sichere Er-
haltung des damals für das beste gehaltenen
Wortgefüges: was würde den Finsternissen und
Zerstörungsgelüsten des Mittelalters gegenüber
14
170 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
ans der Hebräischen Bibel sonst geworden sein!
Diesem Theile der bewundrungswürdigen Sorg-
falt der Massoraschule sind aber alle die Ein-
seitigkeiten und theilweisen Missverständnisse
zuzuschreiben welche dem Werke anhaften.
Hieraus versteht sich demnach von selbst
was heute zu thun sei. Man hat in unsern Ta-
gen endlich sich die Freiheit genommen den
textus receptus des Griechischen Neuen Testa-
ments nach unsern heutigen reicheren Hülfs-
mitteln und besseren Einsichten vielfach und
theilweise wirklich viel richtiger festgestellt neu
herauszugeben : allein bei der Hebräischen Bibel
ist das weder nöthig noch so leicht auszufüh-
ren. Denn das Massorethische Wortgefüge ist
ähnlich dem Texte des Indischen Veda schon
durch die alten Gelehrten so sorgfaltig als es zu
ihrer Zeit möglich war nicht nur festgestellt
sondern auch in das so vollkommne Gesetz einer
Vocalisation und Accentuation gebracht dass
man es gar nicht so leicht ändern kann. Dar-
aus folgt freilich nicht dass wir es für das wirk-
lich beste halten: schon im 17 ten und 18 ten
Jahrhunderte haben christliche Gelehrte unge-
mein stark an ihm rütteln wollen; und nach-
dem diese meist voreiligen Versuche die Scheu
an ihm zu rütteln so arg angeregt hatten dass
Gelehrte wie Rosenmüller in Leipzig und Gese-
nius in Halle vor 50 Jahren den gedruckten
Text kaum irgendwo anzutasten wagten, hat uns
seitdem der allgemeine Fortschritt der A. Tuchen
Wissenschaft schon längst dahin geführt dass
wir heute die Mängel des Massorethischen Wort-
gefliges mit einer unwidersprechlichen Sicherheit
erkannt haben von der man früher keinen Be-
griff hatte. Manche haben die Freiheit dieses
Wortgefüge zu verbessern heute schon sehr
I
Strack, Prolegomena crit. in Vetos Test. Hebr . 171
fibertrieben: aber auch diesen Uebergriffen der
richtigen Freiheit ist entgegengearbeitet, sodass
wir jetzt uns gar nicht mehr täuschen können
auf dem rechten Wege zu sein. Allein diese
unsre heutigen Verbesserungen mitten in das
ltas8orethi8che Wortgefüge so aufzunehmen wie
wir sie in unsre Uebersetzungen aufzunehmen
kein Bedenken tragen, würde thöricht sein: die-
ses dichte Geflecht lässt sich eben in solcher
Weise nicht zerreissen. Das richtige ist also
zwar dieses Wortgefüge immer wieder so abzu-
drucken wie es nun einmal unveränderlich ge-
worden ist, daneben aber in Anmerkungen die
Lesarten zu verzeichnen welche sich nach un-
sern heutigen Einsichten als die besseren ergeben,.
Und wenn eine solche neue Aosgabe des A. Ts.
von kundigen und geschickten Händen unter-
nommen würde, so würde sie ihren Nutzen ha-
ben, weil die richtigeren Lesarten auch wo sie
heute schon mit grosser Sicherheit wiedererkannt
wurden in zu vielen neueren Büchern zerstreut
sind als dass sie von manchen Augen nicht
übersehen werden sollten.
Daneben wäre es Zeit die Arbeit Kennicott's
und de Rossi's welche die irgendwo auf Erden
noch auffindbaren Handschriften der Hebräischen
Bibel zu vergleichen begannen, jetzt wieder auf-
zunehmen und so weit zu vollenden als es nur
irgend möglich ist. Man kennt jetzt Hand-
schriften die man damals noch nicht aufgefunden
hatte, und darunter einzelne verhältnissmässig
sehr alte oder sonst merkwürdige: und noch ist
nichts geschehen sie alle sorgfaltig zu verglei-
chen. Auch lässt sich hoffen dass in den ent-
fernteren Gegenden der Erde welche erst jetzt
recht zugänglich werden, manche uns noch ganz
unbekannte Handschrift aufgefunden werde. Mag
14»
172 G<ft. gel A*z. 1873, Stuck 5.
nun eine solche erneute sorgfältigste Durch-
suchung zuletzt ergeben dass alle heute irgendwo
in den weiten Räumen der Alten Welt noch
auffindbare Handschriften sämmtlich schon dem
Massorethischen Wortgefüge nach seiner uns
heute bekannten doppelten Bearbeitung folgen:
so vermindert sieb zwar dadurch die Zahl unse-
rer Hülfsinittel das ursprüngliche Wortgefüge
wiederherzustellen; allein die Furcht vor einem
solchen möglichen letzten Ergebnisse darf uns
nicht verhindern alles zu versuchen was nach,
dieser Seite hin möglich ist. Denn erst wenn wir
auch nach dieser Seite hin sicherer reden können
als heute, wird jene neue Ausgabe des Hebräi-
schen A. Ts. von welcher ich oben redete mit
der wünschenswerthen Vollständigkeit unternom-
men werden können.
Der Verf. des oben bemerkten Werkes han-
delt jedoch nur die beiden in seiner Aufschrift
genannten Fragen aus dem weiten Umfange aller
hieher gehörenden ab. Er hat zu dem Zwecke
mit grossem Fleisse alles berücksichtigt und
nützlich zusammengestellt was er aus älteren
oder neueren und neuesten Quellen schöpfen
konnte. Da er aber dem ganzen wichtigen Gegen-
stande auch ferner seinen Fleiss zu widmen ent-
schlossen ist, so ist zu wünschen dass er in eine
Lage gesetzt werde um die zertreuten Hülfs-
mittel dazu welche nur durch Reisen zu errei-
chen sind benutzen zu können. Für den Augen-
blick kann man zufrieden sein dass nur über-
haupt einer der jetzigen jüngeren Gelehrten un-
ter uns so viel Zutrauen in sich findet seinen
mühsamen Eleiss einem solchen schwierigen
Gegenstande zu widmen. H. E.
Schmidt, D. Verwandtschaftsverh. d. indog. Sp. 1 73
Die Verwandtschaftsverhältnisse
der indogermanischen Sprachen von
Johannes Schmidt. Weimar, Hermann
Böhlau. 1872. IV nnd 68 Seiten iit
Octay.
Die sehr anziehende nicht bloss, sondern na-
türlich auch im höchsten Grade wichtige Frage
nach den Verwandtschaftsverhältnissen der indo-
germanischen Sprachen unter einander ist schon
zu wiederholten Malen behandelt worden, in der
Regel aber nur mehr gelegentlich oder nur in
Bezug auf bestimmte ausgewählte kleinere
Gruppen von Sprachen. Im oben benannten
Bache aber, dessen wesentliche)* Inhalt schon in
einer der Sitzungen der sprachwissenschaftlichen
Section der letzten Filologenversammlung zu
Leipzig zum Vortrag gekommen ist, will Johann
nes Schmidt nun mal die Hauptfrage an und
for sich und in Bezug auf sämmtliche Haupt-
gnrppen des indogermanischen Sprachgebiets einer
prüfenden Behandlung unterziehen.
Und was ist sein Resultat? Hören wir es in
seinen eigenen Worten: »Wollen wir nuü die
Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen
Sprachen in einem Bilde darstellen, welches die
Entstehung ihfer Verschiedenheit veranschaulicht,
so müssen wir die Idee des Stammbaumes gänz-
lich aufgeben«. In der That ein im allerhöch-
sten Grade verwunderliches Resultat: denn dass
alle indogermanischen Sprachen unter einander
verwandt Bind, hat man doch immer für eins
der bedeutendsten Ergebnisse der vergleichen-
den Grammatik angesehen. Alle wirkliche Ver-
tfändtttbfcft Aber beruht auf »Stammbäumen«,
Auf dem Zurückführen einer t gewissen Menge
durch beliebig viele und oft vielfach verzweigte
174 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
Mittelglieder auf eine frühere Einheit. Den
Stammbaum unter wirklich verwandten Sprachen
aufheben wollen, würde dem ganz gleich sein,
unter sich verwandten Menschen ihren Stamm-
baum entreissen zu wollen, es heisst gerade den
einfachsten Thatsachen ins Gesicht schlagen.
Denn wie alle Menschen von Eltern abstammen
und ihnen die Verwandtschaftskennzeichen ange-
boren werden, so wird auch jedem Einzelnen zu-
nächst durch die Eltern (und wo es nicht die
natürlichen sind, können wir mit vollem Recht
von den geistigen Eltern sprechen) seine Sprache
gegeben, sie geht von ihnen auf ihn über. Die-
jenigen, verbältnissmässig immer nur Wenigen,
aber, die im Laufe ihres Lebens ihre Mutter-
sprache (die also auch von der Sprache selbst
charakteristisch genug bezeichnet ist) etwa auch
ganz aufgeben und eine ganz fremde Sprache
sich vollständig aneignen, nehmen diese wieder
(und wäre es auch erst durch verschiedene Mit-
telglieder) von solchen, deren Muttersprache es
war, so dass also auch so das Grundverhältniss
gar nicht zerrissen wird. Wie nun aber alles
Irdische und insbesondere alles auf den Men-
schen sich Beziehende steter Veränderung unter-
worfen ist, so ists namentlich auch mit der
Sprache und man kann aussprechen, dass kein
Kind die von den Eltern ererbte Sprache nach
allen Richtungen ganz und gar unverändert be-
wahren wird, die Sprache wird und muss, und
sei es in noch so geringem Grade, im Laufe der
Zeit sich verändern. Solche Veränderung aber
besteht nicht bloss in einfacher Umgestaltung
des Vorhandenen, sondern sie äussert sich auch
noch anderswie. Wo wirklich noch voller Le-
benstrieb ist, wird sich auch wohl einiges ganz
Neue bilden, auf der andern Seite wird auch
Schmidt, D. Vetrwandtschaftsverh. d. indog. Sp. 175
r
■ Sein
B manches Alte ganz erlöschen, und dazu weiter
leicht auch noch aus Nachbargebieten allerlei
Fremdes aufgenommen werden. Diese drei Ver-
haltnisse aber sind überall genau abzuwägen,
wo sich8 um genauere Feststellung jener Ver-
wandtschaftsverhältnisse handelt; man hat sich
überall wohl zu hüten, bei ihrer Abwägung nicht
das Unwichtige vor dem Wichtigeren, vor dem
Wesentlichen, aus dem Auge zu verlieren. In
dieser richtigen Abwägung besteht nun aber
alle Schwierigkeit der genaueren Bestimmung
der fraglichen Verwandtschaftsgrade. Wir wis-
sen aus hundert wesentlichen Puncten, dass das
Franzosische im Abstammungsverhältniss zum
Lateinischen (und nicht etwa zum Keltischen
oder zum Deutschen) steht: soll dieses Haupt-
verhfiltnisB nun etwa nicht mehr gelten, weil
das Französische zum Beispiel nicht bloss ein
altes paier zu p&re umgebildet hat, sondern weil
es auch eine Modusform faurais »ich würde
haben« sich ganz neu gebildet hat, oder weil es
zum Beispiel das alte Wort uxor »Gemahlinn«
eragebü88t hat, oder weil es das Wort riche
»reich« aus dem deutschen Sprachgebiet aufge-
nommen hat? Die wesentlichen Kennzeichen ha-
ben uns das Verwandtschaftsverbältniss des
Französischen zum Lateinischen bestimmt, und
in Vergleich mit dem muss sich alles andre
unterordnen.
Was ists nun aber, das an die Stelle des
Stammbaums in den verwandten Sprachen ge-
setzt werden soll? Wie wenig klar das ist, das
zeigt sich schon darin, dass es in einem Bilde
gegeben wird, das gleich darauf durch ein an-
deres wieder ersetzt werden soll und schliess-
lich dem Leser etwa noch durch andre zu er-
setzen anheim gestellt wird. Hören wir wieder
176 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
Schmidts eigne Worte. Nach Ablehnung des
vom Stammbaum hergenommenen Bildes sagt er
>Ich möchte an seine Stelle das Bild der Welle
setzen, welche sich in concentrischen mit der
Entfernung vom Mittelpunkte immer schwächer
werdenden Ringen ausbreitet. Dass unser
Sprachgebiet keinen Kreis bildet, sondern höch-
stens einen Kreissector, dass die ursprünglichste
Sprache nicht im Mittelpunkte, sondern an dem
einen Ende des Gebietes liegt, thut nichts zur
Sache«. Ein bestimmter Ausgangspunkt wird
hier also doch ebenso wohl angenommen wie
bei dem Bilde des Stammbaums und bei den
Wellen möchte man auch insofern noch eine
stammbaumähnliche Reihenfolge denken , dass
etwa aus Welle B die Welle C hervorgehend
angenommen würde, aus G dann D, aus D wei-
ter E und so fort, oder auch, dass wie B direct
vom Ausgangspunkt A ausströmte, so vorher
C, noch früher D und so fort; aber dass viel-
mehr an eine gränzenlose Verschwommenheit
gedacht wird , ist aus dem deutlich , was so-
gleich folgt: »Mir scheint auch das Bild einer
schiefen vom Sanskrit« [das aber doch nicht
das Ursprüngliche sein kann] »zum Keltischen
in ununterbrochener Linie geneigten Ebene nicht
unpassend. Sprachgränzen innerhalb dieses Ge-
bietes gab es ursprünglich [soweit wir Sprachen
kennen, sind ihre Gränzen überall deutlich ge-
zogen 1] »nicht, zwei von einander beliebig weit
entfernte Dialekte desselben A und X waren
durch continuirlirhe Varietäten B, G, D und so
weiter mit einander vermittelt. Die Entstehung
der Sprachgränzen oder, um im Bilde zu blei-
ben, die Umwandelung der schiefen Ebene in
eine Treppe, stelle ich mir so vor, dass ein
Geschlecht oder ein Stamm, welcher sum Bei«
r
Schmidt, D. Verwandtschaftsverh. d. indog. Sp. 177
spiel die Varietät F sprach, durch politische,
religiöse, sociale oder sonstige Verhältnisse ein
Uebergewicht über seine nächste Umgebung ge-
wann. Dadnrch wurden die zunächst liegenden
Sprachvarietäten G, H, I, K nach der einen,
£, D, G nach der anderen Seite hin von F
unterdrückt und durch F ersetzt. Nachdem
dies geschehen war, gränzte F auf der einen
Seite unmittelbar an B, auf der anderen un-
mittelbar an L, die mit beiden vermittelnden
Varietäten waren auf gleiches Niveau mit F
auf der einen Seite gehoben, auf der anderen
herabgedrückt. Damit war zwischen F und B
einerseits, zwischen F und L andererseits eine
scharfe Sprachgränze gezogen, eine Stufe an die
Stelle der schiefen Ebene getreten«.
Mit allem diesem, müssen wir betonen, ist
gegen einen Stammbaum doch ganz und gar
nichts bewiesen. Mag F, um in dem gegebenen
Beispiele zubleiben, auch sieben Sprachnachbar-
gebiete verschlungen haben, aus denen allen es
möglicher Weise auch einiges aufgenommen
bat. uns bietet sich wieder die einfache Frage:
woher stammt F? Und wenn wir antworten:
von A, so können wir weiter wieder fragen, wo-
her stammt das weiter liegende L, und wir mö-
gen auch wieder, wo eben nicht etwa ein deut-
liches Abstammen desL vonF sich erweist, auf
A geführt werden, und so können wir F und
L Schwestersprachen nennen und aus ihnen bei-
den können sich unleugbar wieder jüngere Spra-
chen entwickeln, die, wenn wir sie uns auch
geographisch einander ganz nah gerückt denken
wollen, doch unter einander nothwendig wieder
nicht so eng zusammenhangen können, als ihre
Muttersprachen F und L. Also haben wir wieder
einen Stammbaum : ihn für die Sprachen ableug-
178 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
nen zu wollen , erscheint uns ebenso unmöglich,
als heute noch irgend einer überhaupt geschicht-
liche Entwicklung der Sprachen ableugnen wird
und als weiter bestritten werden kann, dass die
Menschen überhaupt verwandtschaftlich zusam-
menhängen und ihren Stammbaum haben.
Ausserordentlich schwierig allerdings bleibt
immer und wird immer bleiben die sprachlichen
Verwandtschaftsverhältnisse genau zu bestimmen,
da unsre Eenntniss früher gesprochener Spra-
chen für uns immer nur eine sehr bruchstück-
artige ist und uns unzählige Mittelglieder, die
doch vorhanden gewesen sein müssen, ganz und
gar unbekannt sind. Jene Schwierigkeit aber, die
Verwandtschaftskennzeichen mit dem wenigen
Material, das uns noch zur Verfügung steht,
genau abzuwägen, hat Johannes Schmidt ver-
leitet, die nothwendig zu Grunde liegende natür-
liche Verwandtschaft ganz abzuleugnen.
Aber wie seine Ausführung in Bezug auf die
zu erwägenden Einzelheiten auch durchaus nicht
scharf genug ist, das wollen wir noch an einem
Beispiele näher beleuchten. Von Seite 4 und
insbesondere 6 an wird eine ganze Reihe von
Zügen angeführt »welche eine engere Verwandt«
schaft zwischen den nordeuropäischen Sprachen«
[das ist Slavisch, Lettisch und Deutsch] »be-
kunden«, wie sie auch uns von einiger Wich-
tigkeit zu sein scheinen. Darunter ist aber ge-
rade das, was von der allergrössten Wichtigkeit
ist, durchaus unrichtig beurtheilt, nämlich »die
doppelte Declination der Adjective, je nachdem
sie bestimmt oder unbestimmt sind«, die, wie
Seite 5 bemerkt wird, in der fraglichen Be-
ziehung auch schon von Schleicher hervorge-
hoben ist. Gemeinsam , heisst es, sei diese
Unterscheidung wohl, aber nur in der söge-
Schmidt, D. Verwandtschaftsverh. d. indog. Sp. 179
nannten inneren Sprachform, denn die Mittel,
durch welche sie ausgedrückt werde, seien in
beiden Sprachzweigen verschieden ; während das
Deutsche seine Adjectiva, wenn sie bestimmt
seien, zu N-Stämmen erweitere und substan-
tivisch flectire, füge das Slavolettische an das
seist selbst flectirte Adjectivum das flectirte
Pronomen ja-. In dieser Auseinandersetzung
sind ganz und gar nicht zusammengehörige
Dinge völlig vermengt. Die deutsche Adjectiv-
flexion in N-Stämmen oder nach Jakob Grimms
Ausdruck die schwache Adjectivflexion hat im
Slavolettischen gar keine Analogie, weder in
der innern noch in der äussern Sprachform, sie
ist ganz eigenthümlich deutsch, aber auch ge-
meindeutsch und insofern auch wieder von be-
sonderer Wichtigkeit für den indogermanischen
Sprachstammbaum. Die doppelte Adjectivflexion
des Slavolettischen hat im Deutschen ein ganz
anderes Abbild, und zwar sowohl in der innern
als in der äussern Sprachform, nämlich die
attributive (langer Weg) und die prädicative
(der Weg ist lang) Adjectivform. Die Ueber-
einstimmung in solcher Eigenthümlichkeit aber
ist so ganz eigenartig und bedeutungsvoll, dass
man sagen darf, sie allein kann immer genügen,
die engere Verwandtschaft zwischen Slavisch,
Littauisch und Deutsch allen anderen indoger-
manischen Sprachen gegenüber zu erweisen.
Solchem ausgeprägten Verwandtschaftsmerk-
mal gegenüber können die »zahlreichen Erschei-
nungen, in welchen das Slavolettische mit dem
Arischen übereinstimmt, vom Deutschen aber
abweicht«, wie sie von Seite 13 bis 14 zusam-
mengestellt werden, gar nichts verschlagen. Es
wird aber nicht unwichtig sein, auch sie noch
etwas näher zu betrachten. Es wird hervorge-
180 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 5.
hoben, class der alte singulare Instrumental auf
bhi und der plurale auf bhis, der alte plurale
Locativ auf sva, der einfache und zusammengö-
setzte Aorist, das alte Futur auf tjdmi^ das alte
Perfectparticip auf vans, das Supinum auf tum
im Gegensatz zum S lavischen und Littauischeü
im Deutschen (Gothischen) so gut wie ganz ver-
loren gegangen seien, aber es braucht doch
wohl kaum bemerkt zu werden, dass alle solche
Verluste keine bestehende Verwandtschaftsgrade
vermindern können. Da das Littauische die
Aoriste verloren habe, die das Slavische sich
bewahrte, heisst es weiter gar, dass das Slavi-
sche dem Arischen auch grammatisch näher
stehe, als das Littauische. Es ergiebt sich viel-
mehr einfach, dass alle jene Verluste im Sta*
visch-Littaui8ch-Deutschen noch nicht eingetreten
waren und dass natürlich im Slavisch-Littaui-
schen auch die Aoriste nocb bestanden.
Mit der »bestimmten c Adjectivdeclination
wird das persische Kesra descriptionis zusammen-
gestellt, aber es bedarf doch auch das wieder
keiner genauem Ausführung, dass, wenn der an-
gegebene Zusammenhans auch gewiss unleugbar
besteht, doch der Gebrauch jenes persischen
Kesra noch immer weit genug abliegt von der
eigentümlich ausgebildeten slavisch-littauisch-
deutschen Adjectivflexion. Dann wird Gewicht
gelegt auf den pronominellen Genetiv altpersisch
tnandj altbaktrisch mana, littauisch mdno, alt-
bulgarisch tnene, von denen das gothische tneina
abliege: mit diesen Formen ist aber für die
Verwandtschaftsfrage gar nichts anzufangen,
ehe sie genauer erklärt sind. Die Ueberein-
stimmung des suffixalen gothischen n in tneina
mit der slavischen und littauischen Form ist
jedenfalls beachtenswert!^ und wenn did pörsi-
r
Schmidt, D. Verwarf tschaftsverh. d. indog. Sp. 181
sehen numa etwa aus mama hervorgingen, wie
es das Altindische immerhin wahrscheinlich
! macht, so können sie möglicher Weise von der
slavisch-littauisch-deutschen Form viel weiter
abliegen, als es uns scheint, wie in der Bildung
der Fürwörter ja überhaupt auch eine sehr
grosse Mannichfaltigkeit entwickelt ist, in Bezug
I auf die hier genügen mag, an die der angeführ-
! ten Genetivform im Griechischen (ipsTo, igtev,
fyov, p<w), im Lateinischen (t»«t), im Armeni-
schen (im) gegenüberstehenden Bildungen zu
, erinnern, die alle ohne gründlichere Prüfung
für nähere oder fernere Verwandtschaft noch
| nichts beweisen können.
Dass das littauische visas und altbulgarische
flfjiz oder visu- ,all, jeder' nur im Altpersischeu
tifa,, altbaktrischen vzgpa-, altindischen espea-
Entsprechendes habe, was weiter angeführt wird,
beweist vielmehr wieder gar nichts; es zeigt nur,
I dass die entsprechende Form im Deutschen,
nachdem dieses sich vom Littauisch-Slavischen
getrennt, zu leben aufhörte — oder, kann man
auch als möglich hinzufügen, sich nur noch,
wie gewiss noch unzähliges Andre, unsern blö-
den Blicken entzieht. Eben so wenig kann na-
türlich die vollständige Flexion des Pronominal-
Btamms at>a ausschliesslich im Eranischen und
Altbulgarischen (ocü) etwas beweisen.
Keine europäische Sprache, ausser dem Sla-
vischen, wird weiter als gewichtig hervorgeho-
ben, habe Dvandva-Composita , die als Duale
flectirt werden. Nun so sind sie, entgegnen
wir, überall, trotz aller sonstigen Verwandt-
schaft, erloschen oder als etwas sehr natürli-
ches im Slavischen neugebildet, oder möglicher
Weise auch vom Osten her neu aufgenommen.
Die Präposition ajtbulgarisch radi und alt-
182 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
persisch rädij ,wegen' mit dem Genetiv, die
»sich sonst nirgends findet«, lässt sich aber
doch in unmittelbar zugehörigen Wortstämmen
verfolgen : natürlich aber können solche verein-
zelte etymologische Zusammenstellungen , wie
wir schon oben betonten, für nähere oder fer-
nere Verwandtschaft keinen abschliessenden Be-
weis liefern. Es bedarf deshalb auch die Prä-
position sam als »selbstständiges Worte, die
sich nur im Slavolettiscben, Altbaktrischen und
Altindischen finden soll, keiner weiteren Erwä-
gung. In einigen Eigenthümlichkeiten des Zah-
lensystems, den Zahlcollectiven für fünf, neun,
zehn, und dem ordinalen privü »der Erste«,
wird weiter noch vorgebracht, stehe das Slavi-
sche dem Arischen wieder näher als selbst das
Littauische. Womit aber, möchten wir dagegen
fragen, soll denn bewiesen sein, dass das
Littauische jene Eigenthümlichkeiten nicht auch
früher besessen hat? Das Zusammenstimmen
des slavischen bogü »Gott« mit dem altpersi-
schen baga, altbaktrischen bhaga und altindi-
schen Bhaga», sowie das des slavischen sventü
und littauischen szv&ntas ,heilig' mit dem alt-
baktrischen ^petita- soll für dasselbe sprechen,
hat aber selbstverständlich ebenso wenig wirk-
lich beweisende Kraft. Auf der andern Seite
soll eben so viel gelten, dass der indogermani-
sche Gott Djäus nur den Slavoletten und Era-
niern verloren gegangen sei. Dann wird noch
als höchst wichtig angeführt die übereinstim-
mende Benennung des Heirathens bei Slavoletten
und Ariern, so wie die des Schreibens bei Sla-
ven und Persern, und zum Schluss noch auf ein
Verzeichnis8 von einundsechzig Worten und
Wurzeln hingewiesen, die bisher nur in den
slavolettischeii und arischen Sprachen nachge-
Schmidt, D. Verwandtschaftsverh. d. indog. Sp. 1 83
wiesen seien, was genauer nachzuprüfen uns
ganz überflüssig erscheint. Will man das in
allen indogermanischen Sprachen vielfach zu be-
obachtende Aussterben von Wörtern als Beweis
für nähere oder fernere Verwandtschaft anfüh-
ren, so möchte vielleicht auch der Beweis mög-
lich sein, dass das Französische, das bekannt-
lich viele Wörter des Lateinischen verlor, die
dieses noch mit dem Deutschen theilt, dem
Deutschen näher stehe, als seiner unleugbaren
Ahninn und ähnliches mehr.
Wenn Johannes Schmidt nach seinen Aus-
führungen über die speciellen Uebereinstimmun-
rn zwischen dem Slavolettischen und Arischen
15 zum Schluss ausruft »Was sollen wir nun aus
allem dem für den Stammbaum schliessen?« und
in Antwort darauf meint, dass man das Slavo-
lettische eben so wenig vom Arischen losreissen
dürfe als man es näher an den arischen Zweig
als an das Deutsche rücken dürfe, also nach
beiden Richtungen ein ineinander Fliessen be-
hauptet, »es bleibt also keine Wahl, wir müs-
sen anerkennen, »dass das Lituslavische einer-
seits untrennbar mit dem Deutschen, anderer-
seits ebenso untrennbar mit dem Arischen ver-
kettet ist«, so müssen wir dem auf das Be-
stimmteste widersprechen. Gegen einen speciell
engen Zusammenhang zwischen Slavisch, Lit-
tauisch und Deutsch ist wirklich Beweisendes
durchaus nichts beigebracht, und was als wis-
senschaftliches Resultat einmal als feststehend
gewonnen ist, das soll man nicht mit allerlei
scheinbar Widersprechendem wieder ins Schwan-
ken bringen, sondern zunächst aufs Genaueste
prüfen, wie das scheinbar Widersprechende von
dem gewonnenen festen Standpunkt aus aussieht.
Den Stammbaum aller indogermanischen
■
184 Gatt gel. Anz. 1873. Stück 5.
Sprachen, wie er, wenn sie wirklieb als unter-
einander verwandt gelten sollen, bestehen
muss, da keine wirkliche Verwandtschaft ohne
Stammbaum bestehen kann, nach allen Richtun-
gen genau festzustellen, ist ganz gewiss eine
höchst schwierige Aufgabe, und namentlich des-
halb schwierig, weil wir, wie wir schon oben
hervorhoben, zahllose Mittelglieder gar nicht
kennen, nur wissenschaftlich construiren, und
weil wir nach vielen Richtungen durchaus nicht
wissen, wie weit auch wieder gegenseitige Be-
rührungen und Beeinflussungen unter einzelnen
Verwandten eingetreten sein mögen, ganz ge-
wiss wird man sich der Lösung der Aufgabe
aber immer mehr nähern, je mehr man es ver-
stehen wird, die Geschichte einzelner Wörter
und Wörtergruppen und grammatischer Bildun-
gen mit grossester Präcision klar zu legen.
Einige kahle Wörterzusammenstellungen und
Anführungen von Lücken in ihnen, die vielfach
unzweifelhaft nur auf Kurzsichtigkeit beruhen,
können dabei nicht überviel bedeuten.
Das Hauptverdienst des Schmidtschen Bu-
ches beruht darin, dass es die wichtige Frage
nach den Verwandtschaftsverhältnissen der In-
dogermanischen Sprachen, die meist nur ganz
nebensächlich behandelt schien, überhaupt mal
wieder energisch und gewiss mit Scharfsinn und
in sehr anregender Weise in Angriff genommen
hat, und wollte man streng sein, so sollte man
bei jeder einzelnen sprachwissenschaftlichen
Untersuchung, bei aller etymologischen Forschung
vor allen Dingen allezeit zunächst jene Frage
nach dem Verwand tschaftsverhältniss der je in
Frage kommenden Sprachen möglichst deutlich
sich vor die Seele bringen und nur von diesem
Gesichtspunkt aus zunächst urtheilen.
Dorpat. Leo Meyer.
r
I Zdtschr. £ vaterl. Geschichte n. Alterthtttnsk. 185
I Zeitschrift für vaterländische Geschichte trod
I Alterthnm8kunde. Herausgegeben von dem
Verein far Geschichte und Alterthumskunde
Westfalens durch dessen Directoren Dr. W. E.
Giefere in Paderborn und Dr. H. Rump in
Munster. 3. Folge. 10. Band« Mit 4 lithogra-
phirten Tafeln. Münster 1872. 368 Seiten.
Dieser Band der genannten Zeitschrift ent-
halt 8 Abhandlungen.
1) Geschichte der Herrschaft und der Stadt
Ahaus. Von Dr. Karl Tucking S. 1-103, die
Fortsetzung der Abhandlung in Band 8. Hier
ist geschildert die zweite Periode der Ahauser
Geschichte, nämlich Ahaus unter fürstbischöf-
licher Regierung, 1406 — 1803; dazu kommen als
Beilage Abdrücke von 4 Urkunden Bischofs
Erich von Münster. Die Abhandlung ist vor«
zugsweise ron lokalem Interesse; mit dem Ur-
theil des Verf. über Christoph Bernbard von
Galen, der am 19. Sept. 1678 zu Ahaus starb,
kann ich nicht übereinstimmen. Doch würde
eine weitere Auseinandersetzung mich hier zu
weit abfuhren. Ein allgemeineres Interesse
kann beanspruchen
2) Die Bestrebungen Münsters nach Reichs-
freiheit. Von Dr. Wilhelm Sauer. S. 103—
141. Der Verf. weist nach, wie Münster schon
früh nach Reichsfreiheit gestrebt, ja die äusser-
ten Mittel für diesen Zweck angewandt hat:
eine ansehnliche Truppeumacht und Bündnisse
mit den Auswärtigen. Erst unter Christoph
Bernhard wurde dem ein Ziel gesetzt; unter
ihm wurde 'jede freiheitliche Regung und mit
ihr die Blüthe der Stadt mit Waffengewalt für
immer vernichtet'.
Dr. Sauer hat seinem höchst lesenswerthen
15
186 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 5.
Aufsätze 5 (neue) Beilagen aus dem hiesigen
Landesarchive beigefügt; n. 6 und 7 hatte ich
bereits Zeitschrift XXVII, 337. 338 abdrucken
lassen; sie stammen aus dem Archiv Chigi in
Born ; doch wird man sie auch hier gewiss will-
kommen heissen. S. 131 kommt Verf. auf ähn-
liche Bestrebungen Paderborns zu sprechen, S.
111 auf solche Magdeburgs. Letzteres suchte
zur Zeit des westfälischen Friedenscongresses
durch seinen Burgermeister Otto von Guericke
die Reichsfreiheit zu erlangen ; er war vom 29«
Okt. 1646 bis 12. August 1647 in Munster und
Osnabrück in dieser Angelegenheit thätig. Möge
uns Dr. Sauer noch mehr so schöne verfassungs-
ge8ch ich t liehe Arbeiten liefern.
3) Das Lehen am Exsternsteine. Nachtrag
zur Abhandlung in Band 7. Von Otto Preuas
in Detmold. S. 141—155.
4) Die Feier des Vitusfestes in alter Corvey-
ßcher Zeit. Von Pfarrdechant Dr. Kampschulte
in Höxter. S. 155—175.
5) Die Kalandsbruder8chaften , insbesondere
diejenigen, welche in der alten Diözese Pader-
born theils bestanden haben, theils bestehen.
Von Bieling in Paderborn. S. 175—238. Mit
werthvollen Urkunden.
6) Westfälische Hausmarken und verwandte
Zeichen. Von Dr. Ernst Friedländer. S. 236 —
263. Auf diese, von Homeyer selbst sehr gün-
stig beurtheilte Abhandlung beziehen sich die
4 lithographirten Tafeln, welche 600 verschiedene
Zeichen geben. Da Homeyer ein Urtheil fiber
die Arbeit abgegeben hat, so bescheide ich mich,
zu bemerken , dass die Bedeutung der Haus-
marke die ist, dass die Hausmarke in kürzester
Weise die Beziehung einer Person zu einer
Sache ausdrücken mil. Es gehören deshalb
Zeitschr. f. vaterl. Geschichte tu Alterthumsk«, 187
hierhin auch die Steinmetzzeichen. 'Der Haupt-
charakter der westfälischen Marken ist der der
Binderune, selbst bis in späte Jahrhunderte
hinein; daneben kommen freilich die Marken
auch lediglich als Zierrath eines anderen Zei-
chens und verknüpft mit Buchstaben vor; in
einzelnen Fällen gestalten sie sich zum Bilde
(Nr. 298 — 301 z. B. sind Leitern) und erschei-
nen besonders häufig als sog. Wolfsangel in
Siegeln und Wappen, auch jetzt noch blühen-
der Geschlechter, z. B. Nr. 279 (Galen)
Die geschwungene Linie ist in Westfälischen
Marken selten, und überhaupt ist meist die
möglichst einfache Form beliebt worden, ein
Zeichen dafür, dass die Marke in ausgedehnte-
ster Weise zum Einschneiden ... in Gegen-
stände aller Art angewendet wurde . . .' Die
Markenzeichen zerfallen 1) in Hausmarken, auch
in Wetterfahnen angebracht. (Die Wahrneh-
mung, dass in Schleswig der verheirathete Sohn,
der bereits im Besitze einer eigenen Marke ist,
beim Tode des Vaters die väterliche Marke
übernimmt, lässt sich in analoger Weise auch
in dem Schleswig überhaupt verwandten Münster-
lande machen'. 2) Handzeichen (für des Schrei-
bens Unkundige), von Kaiser Justinian aner-
kannt!. 22 §. 2. C. (6. 30V 'Die Personen, welche
sich dieser Rechtswohltnat bedienten, werden
sich nun häufig statt eines einfachen Kreuzes-
zeichens, bei allem Festhalten an demselben,
und vielleicht in Erinnerung an die ihnen be-
kannten Runen, eine charakteristische Form da-
für geschaffen haben, welche so als Vorläufer
einer in späteren Zeiten eigentümlich gestalte-
ten Marke gelten kann. . Mir liegen 4 Urkunden
vor, aus denen sich eine reiche Ausbeute sol-
dier charakteristischer Kreuze machen liess,
15*
168 Gott. gel. Ana. 1873, Stuck 5.
und welche zugleich beweisen, dass es im 9ten
und noch am Ende des 12 ten Jahrh. mit der
Schreibfertigkeit hoher Würdenträger der Kirche
oft trübe genug ausgesehen hat Das erste
hierher gehörige Diplom ist Mai 890 zu Forch-
heim ausgestellt (Wilmans weetfäl. Kaiserurkun-
den 1, 526 ff.) .... Die Namen der unter-
schriebenen Prälaten sind von der Hand des
Notars aufgezeichnet, aber über denselben be*
finden sich Kreuze mannigfaltigster Form und
mit verschiedener Tinte gezeichnet. Wir geben
dieselben unter Nr. 309 — 328 genau nach dem
Original facsimilirt in der Reihenfolge der unter«
schriebenen Namen, nämlich der Erzbischöfe
von Mainz und Köln, der Bischöfe von Würz-
burg, Verden, Metz, Speier, Osnabrück, Eich-
städt, Hamburg, Verdun, Paderborn, Passau,
Halberstadt, Minden, Münster, und von 5 Aeb-
ten, unter denen sich der von Corvev befindet.
Der mit unterzeichnete Bischof von Hildesheim,
hat kein Kreuz hinzugefügt. Die 2te Urkunde
mit eigentümlichen Handzeichen .... ist vom
Papst Lucius III. am 27. Febr. 1183 zu Velletri
ausgestellt (Erhard C. D. Nr. 431). unterzeich-
net haben die Bischöfe von Porto und Albano
. . . ., die 3 Kardinalpriester Vivianus, Laborans
und Ranerius, und der Kardinaldiakon Gratia-
nus .... Die Urkunde vom 3. März 1196 so-
dann, in welcher Papst Coelestin III. dem Klo-
ster Wedinghausen seinen Güterbesitz bestätigt,
ist vom Papste und 18 hohen Würdenträgern
der Kirche, meist Kardinalpriestern und Kardi-
naldiakonen, unterfertigt. Vor jeder Namens-
formel . . . befindet sich das eigenhändig gezeich-
nete Kreuz, und zwar unterscheiden sich sämmt-
liche 19 Kreuze durch eigentümliche Zusätze
von einander .... Das Kreuz des Papstes be*
Zeitechr. f. vaterl. Geschichte u. Alterthumsk. 189
r
I findet deb im oberen Theile zwischen den bei-
I den concentrischen Kreisen, welche zwischen
■ rieh den Wahlspruch und innen die Namen
Petri und Pauli und den des Papstes enthalten.
Der Handschriftenband des k. Staatsarchivs Msc.
II 39 enthält S. 11 ff. eine Kappenberger Ur-
kunde desselben Papstes, in welcher dieselben
Unterfertiger mit denselben Kreuzzeichen zu fin-
den. In der Wedinghauser Urkunde ist zwischen
Johannes und Hugo eine Zeile Lücke, hier aber
steht an dieser Stelle die Unterschrift des Kar-
dinalpriesters Guido mit dem Zeichen, welches
in Nr. 590 abgebildet ist. Endlich besitzt auch
eine ungedruckte Urkunde Honorius III. furs
Kloster Wöltingerode Diöc. Hildesheim vom 6.
Okt. 1216 neben den Unterschriften der Kardi-
nale 12 eigenthümliche Kreuzzeichen, welche de-
nen der Wedinghauser Urkunde sehr ähnlich
sind'. Aus der Verschiedenheit der Kreuze
icheint sich allerdings zu ergeben, dass wir es
Wer nicht bloss mit dem Kreuze zu thun ha-
ben, welches jeder Bischof noch heute seiner
Namensunterschrift vorsetzt. Dass bei Bürgern,
die des Schreibens unkundig waren, die Namens-
unterschrift durch ein Markenzeichen ersetzt
wurde, folgt aus der vom Verf. S. 244 ange-
fahrten Stelle. 'Ein weiteres Zeugniss für die
immer weiter sich verbreitende Sitte, seine
Harke dem Namen beizufügen, besitzt Münster
in einigen grossen silbernen Ketten, welche an-
gesehenen Schützengesellscbaften der Stadt ge-
hören .... Jeder Schützenkönig, und ein Sol-
cher wird alle 3 Jahr neu bestimmt, muss ein
sübernes Schildchen mit eingravirtem Namen
tmd Datum an die Kette fügen lassen. Der
8ddH des jedesmaligen jüngsten Königs bleibt
ffir das laufende Triettnium an besonders hervof-
190 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
ragender Stelle, im Schnabel oder am Halse des
Vogels aufgehängt. Der silberne Vogel der
> Grossen Schützen« trägt eine goldene Krone,
und hält im Schnabel den ältesten Schild von
1559. Unter der sehr bedeutenden Anzahl der
übrigen Schilde habe ich 37 gefunden, welche
neben dem Namen des Stifters die Hausmarke
desselben aufweisen Der silberne unge-
krönte .Vogel der 2ten Kette steht auf einem
Aste, an welchem 3 Schilde hangen ; der in der
Mitte hat die Inschrift: Dieser Vogel gehöret
der Schütten uffr Bodenburg und um Aegidii
Kirchoff ao 1 680 uffgerichter Bruderschafft, und
die zu beiden Seiten befestigten tragen die Na-
men der ältesten Könige ; unter den zahlreichen
übrigen Königsschilden dieser Kette enthalten
noch neben den Namen 8 die Hausmarken'.
Ausserdem hat die grosse Schützenbruderschaft
einen silbernen vergoldeten Brustschild , auf
welchem sich um ein Mittelbild 13 kleinere
Schilde mit Hausmarken und den Anfangsbuch-
staben des Namens ihrer Inhaber befinden.
Eine andere Schützenkette mit 7 verschiedenen
Markenzeichen hat Archivsekretär Dr. Sauer hier
nachgewiesen. Auch auf Grabsteinen wird* oft
die Marke eingemeisselt. Verf. verweist auf den
Anzeiger f. Kunde der deutschen Vorzeit, Jahrg.
1863 Nr. 5, 6 und 7, wo 472 Nürnberger Mar-
ken von den Kirchhöfen S. Johannes und S.
Rochus mitgetheilt sind. 3) Siegel. Die Sitte,
seine Marke als Siegel zu gebrauchen, war in
Westfalen sehr häufig; auf diese Weise wurde
die eigenhändige Namensunterschrift ersetzt.
'Es ist von Michelsen (Die Hausmarke S. 57)
darauf aufmerksam gemacht worden, dass die
Marke eine doppelte Natur hatte. Entweder
war sie ganz dinglich, d. h. sie klebte dem
Zeitsclir. f. vaterl. Oeschichte u. Alterthumsk. 191
Grundstücke an, und vererbte mit diesem fort,
und ward unter Lebenden extradirt, oder sie
war durchaus persönlich, so dass in derselben
Familie die verschiedenen Mitglieder verschiedene
Marken führten9. Verf. weist nun an 2 Fami-
lien in Münster, Hölscher und Modersonne, nach,
wie in den Familien der Charakter der Marke
derselbe zu bleiben pflegt, die einzelnen Fami-
Uenglieder aber kleine Abänderungen einführen,
die jedoch den Charakter der Marke nicht ver-
wischen. Wir erinnern hier daran, dass die
Familie Modersonne eine alte angesehene Mün-
stersche Familie war, aus der Johann von Ley-
den eine seiner Königinnen wählte. 4) Familien-
wappen« Sie haben sich offenbar aus den Fa-
milienmarken durch Vererbung gebildet. Verf.
fuhrt verschiedene Beispiele an, so das der Fa-
milie von Galen (seit 1284). Ich mache hier
noch auf das gräflich Oeynbausensche Wappen
aufmerksam, eine Leiter, deren verschiedene
Wandelungen ich Gott. gel. Anz. 1871 Stack 15
beschrieben habe. Wer zweifelt, dass dies Wap-
pen ursprünglich eine Familienmarke war, da
auch Dr. Friedländer unter seinen Marken Lei-
tern hat (Nr. 298—301)? Das erste Siegel der
von Oeynhausen, welches Graf Julius von Oeyn-
hausen mittheilt, ist das von Johann v. 0. 1366
Mai 13. 5) Die Steinmetzzeichen. Der Verf.
verweist bezuglich ihrer auf die Literatur bei
Otte Handbuch der kirchl. Kunstarchäologie des
deutschen Mittelalters, 4. Aufl. 1, 624 ff. Bei-
spiele bieten die Dome zu Regensburg (Otte)
mad Köln, so wie der 1569 im schönsten Re-
naissancestil erbaute Stadtkeller in Münster
griediänder) , das Heidelberger Schloss, das
ierer Katastergebäude, der Trierer Marsberg
(den.). 6) Die Meisterzeichen, wohin auch die
192 G<Ht gel. Anz. 1873. Stück 5.
der Münzmeister gehören. 7) Die Monogramme.
8) Die Eigenthumszeichen, an Gemälden, Meissel-
werken, ja selbst an Mauerwerken. 9) Die
Kaufmannszeichen auf Verpackungen.
7) Beziehungen Westfalens zu den Ostsee-
ländern, besonders Livland. Von Caspar Geis*
berg. Nach dem Tode des Verf. revidirt von
Dr. Karl Tucking. S. 263—305. Nach einer
Einleitung schildert Verf. zunächst die Erobe-
rung Livlands bis zur Vereinigung der Schwert-
brüder mit dem deutschen Orden. Er gesteht,
dass diese Eroberung in den Grundzügen von
den verschiedenen Berichterstattern überein-
stimmend überlieiert ist; 'eine geringere oder
grössere Verschiedenheit dagegen zeigt sich bei
der weitern Ausführung des Gemäldes durch
verschiedene Verf. in der Vertheilung von Licht
und Schatten'. Dieser Verschiedenheit ist der
Rückblick gewidmet. Usingers deutsch-dänische
Geschichte ist nicht benutzt.
8) Der Priesteryerein der Domkrypta zu
Paderborn. Von Dr. Julius Evelt in Paderborn.
S: 305-323).
9) Die Festversammlung und Ausstellung der
Münsterschen Abtheilung am 21. Sept. 1869.
S. 323 — 351. Eine ausfürliche Beschreibung der
Feier des 45jährigen Stiftungsfestes der Münster«»
sehen Abtheilung des Vereins. Ein wahrhaft
glänzendes Fest, zu welchem die Stadt Münster
das Rathhaus, das Curatorium des Ständehauses
den grossen Sitzungssaal und alle andren ver-
fügbaren Räume des Ständehauses, der westfäli-
sche Kunstverein die Räume des StadtkeUen*
das Domkapitel den altehrwürdigen Kapitelsaal
und die Kunstschätze des Doms, die Paulinische
Bibliothek ihre Räume, der Bischof Johaan.
Georg eine grosse Anzahl der werthvQllßtea,
Zeitechr. f. vaterl. Geschichte a. Alterthumsk. 193
Xnnstgegenstände aus dem Diöcesanmuseum und
der 8. Florentiusverein eine Anzahl neuerer
Kunstwerke zur Verfügung stellte. Auch Pri-
vate, besonders der Adel, betheiligten sich stark
an Hinsendung merkwürdiger geschichtlicher und
kunstgescbichtlicher Gegenstände. Die Haupt-
ausstellung befand sich in den Bäumen des
Ständehauses, wo die Mitglieder des Comites die
Erklärung übernahmen. Der Verein zählte an
diesem Festtage 597 Mitglieder, von denen 314
der Paderborner, 283 der Münsterschen Ab-
theilung angehörten.
10) Chronik des Vereins. Dieselbe ist dies-
mal von besonderer Wichtigkeit. Die Zahl der
Mitglieder hat ganz ungewöhnlich zugenommen;
das grosse Vereinsfest hatte die Aufmerksamkeit
in den weitesten Kreisen auf den Verein gelenkt;
gegenwärtig zählt die Abtheilung Münster 275
ordentliche Mitglieder. Besondere Wichtigkeit
hatten diesmal die Verhandlungen. 'Das hohe
k. Oberpräsidium hatte am 5. Aug. 1870 ....
den Vorstand des Vereins um ein Gutachten er-
sucht, ob und wie 6ich die Bearbeitung und
Veröffentlichung einer . . . Kunsttopographie West-
falens fuglichst erzielen lasse .... Die Ansicht
der Versammlung ging dahin : dass die Herstel-
lung . . . nur aufs angelegentlichste befürwortet
werden könne . . . und dass nach der Ansicht
des Vereines die Angelegenheit am besten da-
durch gefordert werde, wenn die hohe Staats-
regierung einen bewährten Archäologen durch
Gewährung von Reisestipendien in den Stand
setzen wolle, nach und nach alle historisch und
künstlerisch bemerkenswerthen heimathlichen
Statten in Augenschein zu nehmen . . . Wichti-
ger noch war Folgendes. In den letzten Mona-
ten des Jahres 1871 verlautete, dass auf Anre-
194 Gott, gel Anz. 1873. Stfick 5.
gung Sr. Excellenz des neuernannten Oberpräsi-
denten Wirkl. Geheimen Rathes von Kühl-
wetter eine Reihe hoch angesehener Männer
in Münster zusammengetreten sei, um die erfor-
derlichen Schritte zur Gründung eines Vereins
einzuleiten, der die Bestrebungen und Interessen
der verschiedenen, über ganz Westfalen verbreite-
ten wissenschaftlichen, künstlerischen und gewerb-
lichen Vereine gewissermassen zusammenfasse,
neue, den Bedürfnissen der Gegenwart ent-
sprechende Vereine dazu schaffe, und allen die-
sen Vereinen für ihre Verhandlungen und Auf-
führungen, wie für ihre Sammlungen und Aus-
stellungen ausreichende und würdige Räume in
einem grossen Provinzialmuseum darbiete1.
Es wurde nun an den Verein die Frage gestellt,
ob und event, unter welchen Voraussetzungen
der Verein Willens sei, sich anzuschliessen. Die
Berathung darüber fand am 11. Jänner 1872
statt; der Verein erklärte sich bereit, aber un-
ter Wahrung seiner vollen Selbstständigkeit und
Selbstverwaltung, unter der weitern Bedingung,
dass ihm ausreichende Räumlichkeiten zur Ver-
fügung gestellt würden, im Ganzen ein Stock-
werk von 75' Länge und 45' Breite. Hoffen
wir, dass S. Excellenz der Herr Oberpräsident
von Kühlwetter, dessen unermüdliche Sorgfalt
und Thätigkeit überall in der Provinz neues re-
ges Leben hervorgerufen und schon so manches
Nützliche und Dankenswerthe geschaffen hat, in
nicht zu langer Zeit diesen grossartigen Plan
durchfuhren kann, zu dessen Verwirklichung je-
der Sohn der rothen Erde, dem die Ehre seines
Landes am Herzen liegt, nach Kräften mitwir-
ken muss.
Münster. Dr. Florenz Tourtual.
Feldner, D. Ansichten Seb. Franks y. Woerd. 195
Die Ansichten Sebastian Francks
Ton Woerd nach ihrem Ursprung und
Zusammenhang dargestellt von Dr.
August Feldner. Berlin. Calvary und
Comp. 1872. 3 7 SS. in 4°.
Diese Schrift hätte wohl kaum eine Be-
sprechung in einem gelehrten Blatte erfahren
dürfen, wenn sie ihrem ursprünglichen Zwecke
— sie war als Abhandlung in dem Jahresbericht
der Dorotheenstäd tischen Realschule in Berlin
veröffentlicht worden — treugeblieben wäre, sie
verlangt nun aber, da sie durch den Buchhandel
der gelehrten Welt zugänglich gemacht worden
ist, auch an dieser Stelle eine Beurtheilung.
Bei einer solchen wird aber vor allen Dingen
die Frage aufgeworfen werden müssen, ob denn
überhaupt eine neue Schrift über Franck not-
wendig war. Ich glaube dieselbe verneinen zu
dürfen. Denn in der That hat Franck, nachdem
er fast zwei Jahrhunderte — es bleibe dahinge-
stellt, ob absichtlich oder unabsichtlich — ver-
gessen worden war, das seltene Glück gehabt,
in rascher Aufeinanderfolge Männer zu finden,
die sich eingehend und mit grosser Liebe mit
seinem Leben und schriftstellerischen Wirken
beschäftigt und so das Unrecht früherer Zeiten
gesühnt haben. Als einer der ersten hat Ha-
gen im zweiten Bande seines Buches : Der Geist
der Reformation und seine Gegensätze Erlangen
1844 S. 314—396 die Aufmerksamkeit auf ihn
gelenkt und sein Gesammtwirken, vor allem aber
seine Stellung zur Reformation, in einer leben-
digen, durch ein gründliches Studium von Francks
Schriften gehaltvollen, Skizze entrollt. Daraufhat
Gosche: Seb. Franck als Geograph Berlin 1853
die eine nicht unwesentliche Seite seines Wir-
196 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
kens gezeichnet, Bischof Seb. Franck und
die deutsche Geschichtschreibung. Beitrag zur
Cu1turge8chichte vorzüglich des 16. Jahrhunderts
Tübingen 1857 seine hochbedeutende Thätigkeit
in anderer Beziehung trefflich geschildert, und
endlich hat Hase erst in jüngster Zeit: Seb.
Franck von Word der Schwarmgeist. Ein Bei-
trag zur Reformationsgeschichte. Leipzig 1869
ein ziemlich ausführliches Lebensbild Francks
gegeben, eine Arbeit, die, durchaus gerechtfer-
tigten Anspruch auf wissenschaftliche Gründlich-
keit erhebend, sich doch nicht auf die Gelehrten
allein beschränkt, sondern an einen grösseren
Leserkreis wendet.
Ich begnüge mich hier mit dieser kurzen rem
bibliographischen Angabe über die selbstständige,
hervorragende, Franck behandelnde Literatur«
Denn diese Angabe soll nur den Thatbestand
aufzeigen, nicht aber eingehend den inneren
Werth des Geleisteten controlliren. Wollte ich
letzteres, so würde ich, namentlich im Hinblick
auf Stellen wie Hase, S. 102 fg. u. a. die Auf-
fassung Hagens weit mehr als die meinige an-
erkennen.
Mit Rücksicht auf diesen Stand der Litera-
tur ist daher wohl die Frage erlaubt: was be-
zweckt diese neue Arbeit ? Will sie die gewonne-
nen Resultate umstossen und durch neue er-
setzen ? Das würde ihr schwerlich gelingen, aber
sie versucht es keineswegs. Freilich meint der
Verf. nach einer flüchtigen Kritik der Vorarbeiten :
»Der Werth unseres Schriftstellers scheint des-
halb oft überschätzt zu werden, weil man ein-
zelne Züge seiner Thätigkeit und einzelne An-
sichten von ihm hervorhob, weniger aber sich
eine Gesammtansicht zu verschaffen suchte. Dies
ist wegen der eigenthÜmEchen Art seiner Schrift-
Feldner, D. Ansichten Seb. Francks v. Woerd. 197
ßtellerei und wegen des verschiedenartigen In-
halte seiner Schiliften nicht leicht. Diese Ab-
handlung tritt daher auch nur als ein Versuch
auf. Es wird sich indess hoffentlich zeigen, dass
ans der gefundenen Gesämmtauffassung unseres
Franck sich die abweichenden Urtheile sowohl
der Zeitgenossen als auch der Neueren recht wohl
erklaren, wie sie denn auch dankbar benutzt
worden sind«.
Und auch dem Titel nach möchte man ver*
mutben, in der vorliegenden Abhandlung einer
wirklichen Gesammtdar Stellung zu begegnen, da-
her will ich gleich an dieser Stelle erklären,
dass der Titel nicht richtig gewählt ist. Denn
unter Entwicklung irgendwelcher Ansichten »nach
ihrem Ursprungec muss man doch verstehen,
dass das geistige Wesen des Mannes, um den es
sich handelt, untersucht, seine Beeinflussung durch
Lehrer, durch zeitgenössische Schriftsteller und
Zeitverhältnisse dargestellt, und so deutlich ge-
macht werde, auf welche Weise er zu den An-
sichten gelangt sei, die er als die seinigen be-
kannte; einer solchen Untersuchung begegnet
man hier keineswegs. Unter Darstellung des
Zusammenhangs der Ansichten verstehe ich das
Aufzeigen der inneren Zusammengehörigkeit, des
nothwendigen Sichergebens der einen Anschauung
aus der andern, während wir hier nur die ein-
zelnen Anschauungen, nach Rubriken geordnet,
hinter einander gestellt finden, eine Anordnung,
die den logischen Zusammenhang schon deshalb
nicht erkennen lässt, weil in ihr selbst die Will-
kür einigermas8en gewaltet hat. Fragen wir
endlich, ob das Vorliegende eine »Darstellungc
ist, so muss ich auch diese Frage entschieden
verneinen. Denn das, was uns geboten wird, ist
nichts anders, ab eine Mittheilung einer grossen
198 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 5.
Anzahl Franck'scher Ausspräche nach gewissen
Gapiteln, häufig unterbrochen durch kurze Aus-
rufungen und Bemerkungen des Verf., durch
welche zur Erklärung .der mitgetheilten Stellen
nichts beigetragen, wohl aber die subjektive Auf-
fassung des Verf. erkennbar wird. Nun sind
Hagen, namentlich aber Hase in der Wieder-
gabe solcher Stellen keineswegs sparsam gewesen,
ein erneuter Versuch einer solchen Sammlung
war daher durchaus nicht geboten. Was endlich
den Abdruck der Stellen selbst betrifft, so herrscht
darin grosse Willkür, denn während an einigen
Stellen seltsame Formen und Wörter des Origi-
nals beibehalten werden, wird in andern, und
zwar in den meisten, eine fast ganz neuhoch-
deutsche Uebertragung gewählt..
Ich verkenne keineswegs, dass der Hr. Verf.
in den Schriften Franck's sehr belesen ist, ich
möchte auch nicht in Abrede stellen, dass er
Bein System in sich wohl verarbeitet, die ge-
legentlich über dasselbe geäusserten Anschauun-
gen für sich wohl begründet und dargelegt hat,
nur läugne ich, dass diese Arbeit in der vor-
liegenden Abhandlung, wie das dem Titel nach
hätte versucht werden müssen, in irgendwelcher
Weise mitgetheilt worden ist. Vielmehr besitzen
wir in derselben bloss eine Collektaneensamm-
lung zu einer Darstellung, nicht die Darstellung
selbst. Und da es nur in sehr geringem Masse
nothwendig sein dürfte, eine solche aufs Neue zu
geben — nur die politischen und socialen An-
schauungen Francks scheinen mir einer beson-
deren Besprechung werth, denn was unser Verf.
im 20. Abschnitt: »Communismusc bietet, ist
sehr dürftig und das von Hase S. 134 A. 2 an-
geführte Schweriner Gymnasialprogramm v. Deth-
ioff aus dem J. 1850 ist mir nicht zugänglich —
Feldner, D. Ansichten Seb. Francks v. Woerd. 199
10 wäre das Einzige , was uns Noth thäte, eine
Ausgabe der Schriften Francks im Auszuge, ein
Auszug, der aber nicht nach systematischer An-
ordnung der Dinge, sondern nach der chronolo-
gischen Reihenfolge der Schriften gegeben wer-
den mü8ste.
Betrachten wir nun im Einzelnen die Art und
Weise, in welcher der Verf. seinen Gegenstand
behandelt, so werden wir die obengerügte Will-
kur leicht erkennen.
Nachdem der Verf. nämlich dem Ganzen eine
kurze Einleitung voraufgescbickt, einige Worte
über Francks Leben und Schriften gesagt hat,
bespricht er die Ansichten: von Gott an sich;
Ton dem Worte Gottes im Allgemeinen ; von der
Schöpfung, und wendet sich dann zur Betrach-
tung der Frankschen Anschauungen über den
Menschen. Kaum aber hat er von dem Menschen
im Allgemeinen, von der Sünde und von dem
inneren, geistlichen Menschen gesprochen (Abschn.
7 — 9), so kehrt er wieder zu Gott zurück und
redet von seiner Offenbarung, woran sich dann
naturgemäss die Abschnitte über die angebliche
Erwählung des Volkes Israel und über das Ge-
setz, insbesondere das Yerhältniss des Alten und
Neuen Testaments reihen (10— 12). Damit ist
der Weg gebahnt, um über Christus zu sprechen
(hier ist zum zweiten Male fälschlich die Nro. 12
gesetzt), woran sich der Abschnitt über das Werk
Christi schliesst (als 13a bezeichnet, während ein
b nicht folgt). Darauf folgt ein Abschnitt über
die Lehre von Gnade, Glaube, freiem Willen,
Wiedergeburt und Gerechtigkeit, also über die
im Beformation8zeitalter am meisten besproche-
nen und bestrittenen Punkte, die durchaus nicht
entsprechend ihrer Wichtigkeit behandelt wer-
den, und deren Durchnahme sich an den 9. Ab-
200 Gott, gel« Aüz. 1873. Stück 5.
schnitt weit' besser anreihen würde. Mit die-
sem Abschnitt ist ein anderer über den heiligen
Geist in einem Abschnitte zusammengestellt
(14a und b), nicht mit Recht, da der folgende
Abschnitt über das freie christliche Leben un-
mittelbar an die Lehre von der Wiedergeburt
anknüpft. Auch würde sich damit der 19. Ab-
schnitt: von der Kirche, den Sakramenten und
Ceremonien gut zu einem Ganzen vereinigt ha-
ben, während er hier durch drei Abschnitte,
welche über den seltsam ausgedrückten Satz:
»Gott ist der Welt Teufel«, über die Ansichten
von der Schrift und von der Predigt handeln,
getrennt wird. Von dem 20. Abschnitt über
»Communismus« ist schon gesprochen worden,'
die beiden letzten, Francks Auffassung über Kunst
und Wissenschaft, über Geschichte behandelnd,
bedürfen keiner weiteren Erörterung.
Mit diesen Worten will ich die Anzeige dessen, was
uns der Verf. bietet, beenden. Denn weder im Hinblick
auf diese Leistung, noch mit Rücksicht auf diesen Ort
scheint es mir passend zu sein, eine Kritik der Franck-
sohen Ansichten zu geben, und ebensowenig meine ich
nöthig zu haben, die kurzen Deklamationen des Verf. zu
bestätigen oder zu widerlegen. Nur Eins will ich hervor-
heben. Der Umstand, dass Franok an den Stellen, in
welchen er die Bedeutung von Kunst und Wissenschaft
für den Menschen erörtert, verschiedene, ja geradezu ent-
gegengesetzte Anschauungen äussert, z. B. die beiden
Paradoxa : »Menschliche Kunst und Wissenschaft ist schäd-
lich und verwerfliche und »Wunder ist es, was einem
die Historien Nutz bringen«, erscheint nach der ganzen
aphoristischen Weise, in welcher der Verf. solche Aus-
sprüche mittheilt, wunderlich und völlig unbegründet.
Dass aber in dieser Beziehung widersprechende Behaup-
tungen nicht auf Francks sog. mystische Schwärmerei zu
schieben sind, sondern dass darüber auch Dichter wie
Sophokles, alte Weise, wie die Verf. der Bücher des A. T.
ungewiss waren, hat z. B. Schopenhauer, Parerga und
Paralipomena I S. 362, auseinandergesetzt.
Berlin» Ludwig Geiger.
201
G 0 t 1 i n g i s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Bttick 6. 5. Februar 1873.
•I
Canti popolari veneziani, raccolti da Dom.
Giuseppe Bernoni. Venezia Tipografia Fon-
tana-Ottolini. 1873. 129 Seiten Octav.
Die Einheimsung der italienischen Volkslieder
schreitet rostig fort und die neuesten Samm-
lungen derselben von Casetti und Imbriani für
die südlichen Provinzen so wie von Pitre für
Sicilien habe ich an dieser Stelle (1871 S. 655)
und in den Heidelb. Jahrb. (1872 S. 522) be-
sprochen. Zu diesen kommt nun die vorliegende,
die sich den genannten, spezieller aber den
schon früher über Venetien erschienenen Samm-
lungen anschliesst, von welchen letztern die von
Widter und Wolf (Wien 1864) wegen ihrer lite-
rarischen Ausstattung ganz besonders schätzens-
werth und daher auch zur Vergleichung hier
vorzugsweise berücksichtigt ist. Was die rubri-
cirten Canti betrifft, so enthalten sie meisten-
teils Liebeslieder in der Form der Strambotti,
untermischt mit Scherz- und Spottgedichten, so
wie einige Wiegen- und Einderlieder u. s. w.,
aber auch eine Reihe Balladen, von denen ich
16
202 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
die wichtigsten näher bezeichnen will. Ehe ich
jedoch dazu schreite, muss ich bemerken, dass
die in Rede stehende Sammlung in 12 Puntate
(Heften), jede von 16 Seiten, mit eigener Pagini-
rung und Liedernumerirung erschienen ist, wo-
durch das Auffinden so wie das Citiren sehr er-
schwert wird. Ich bezeichne daher im Folgen-
den die Puntata durch P und fuge die Lieder-
nummer derselben hinzu. — P. V no. 1 Donna
Lombarda. Das Lied stimmt fast gang mit der
von Nigra bekannt gemachten venezianischen
Version überein; verschieden jedoch ist die bei
Wolf no. 72; s. die Anm. S. 91 und füge hinzu
Bolza, Canzoni pop. comasche, Sitzungsber. der
Wiener Akad. Phil.-hist. Abth. Bd.LIII S. 668:
»L'Awelenatoc ; Ferraro, Canti pop. monferrini.
Torino-Firenze 1870 no. 1 »Donna Lombardac.
Hinsichtlich des Veigiftens durch Schlangenfleisch.
8. meine Nachweise GGA. 1870 S. 395 f. zu no.
120. — P. V no. 2 MonchUa. Variante von
Wolf no. 73 »La Figlia del Contec s. dazu die
Anm.; füge hinzu Ferraro 1. c. no. 3 »La Li-
be rat rice« und meine Anzeige von Grundtvig's
Danmarks gamle Folkeviser GGA. 1869 S. 1970 f.
— P. V no. 3 Le tre Sore lie. Vgl. Wolf no. 76
»L'Anello«; Ferraro no. 36 »II Monile caduto
nel mare«; Casetti e Imbriani 2, 116. GGA.
1872 S. 1918. — P.V no. 4 La bella BruneUa.
Wolf no. 74 »La Contadina alia Fönte«; Bolza
no. 57 »L'Amantedelu80«; Heidelb. Jahrb. 1867
8. 182 und GGA. 1870 S. 393 f. zu ühland no.
101. — P. V no. 6 *La Bella riposaea«. Wolf
no. 78 La superba Mantovana, nebst der Anm.
Der Schluss der vorliegenden Version »Vive le
altre donne e vivarö anca mi« findet sich auch
bei einem andern Liede, worin eine Bewerbung
zurückgewiesen wird, s. Wolf S. 65 Anm. Die
Bernoni, Canti popolari veneziani. 203
drei Mühlen, welche sich in den zwei vorher-
gehenden Zeilen die treue Frau beilegt, sind drei
gewöhnliche Mahlen und wollen nur sagen, daß*
sie wohlhabend genug sei, keines Ernährers zu
bedürfen ; bei Wolf hingegen sind es drei Wun*
dermühlen, welche (ohne Aufschütten) weisses
und gelbes Mehl so wie Nelken mahlen und die
der Verführer zu besitzen sich rühmt. Auch
bei Bernoni P. XII p. 15 werden in einem Ein*
tierliede dem Vater zum Neujahr zwei Mühlen
gewünscht, von denen die eine Scudi, die andere
Zecchinen mahle. Vgl. über derartige Wunder-
mühlen meine Nachweise in Benfey's Or. und
Ooc. 2, 276, und in den Heidelb. Jahrb. 1869
S. 187; füge hinzu Tarbe Bomanoero, wo eine
Mühle Gold, die zweite Silber, die dritte Liebe
mahlt. In einer andern Version dieses Liedes
(bei Puymaigre Chants pop. du pays messin p.
174—6) sind statt der Wundermüblen Schiffe
eingetreten ; doch nur aus Missverständniss, denn
jene sind das ursprüngliche. Auch die neugriech.
Volkslieder kennen dergleichen Mühlen ; so heisst
es in Chasiotis SvUotf etc. (s. G6A. 1869 S.
1581) p. 33 no. 12 : %aXsv*t pvXovg daidsxa xt*
olovt *rös pvXwvddatq , — ntvts yäX4&ow p$
vsqö xai 2$* [ri %6 ydlctj — x i tfhog 6 xctlU-
itpc vdli&n pi to idxQV; und in einem andern
Liede ebencL p. 53 no. 43: Movv' $%st, ptttovg
dddsxa, tt dlifhmr p$ %6 ydXa, — - *' irag ftf-
hg UQßdpvloq, 7idXi9(si) pl tö lUTiiQ*. — P.
T no« 7 Cecilia. Wolf no. 85 »La povera Ci-
düa* nebst Anm. Es ist das Thema von Shake-
speare's Measure for Measure 8. Simrock's Quel-
len u. s. w, I, 152 ff. (2 A.). Füge hinzu Fer-
raro no. 21 »Cecilia«; Milk y Fontanals, Obeer-
▼aciones etc. >La dama de Reus«; s. Ferd.
Wolf Proben poring, und catalon. Volksroman-
204 Gott. gel. Am. 1873. Stück 6.
zen in den Sitzungsber. der Wiener Akad. phil.«
bist. Abth. Bd. XX S. 157 f. Die norditalieni-
sche Ballade ist auch in Sicilien bekannt; s.
Pitre, Studi di poesia pop. Palermo 1872 p.
294 f. S. auch Oesterley's Nachweise zu Kirch-
hofs Wendunmuth Buch VI Gap. 243 (Stuttg.
Lit. Verein). Noch will ich bemerken, dass in
den vielfachen* Versionen dieser Sage, wo die
Frau für die geopferte Ehre nur den Leichnam
ihres Gatten erhält, ihre Täuschung davon her-*
kommt, dass sie sich bloss dessen Losgebung,
nicht aber zugleich sein Leben ausbedingt.
Klüger ist die Heldin einer alten spanischen
Romanze, die Schwester Don Alonso's, der von
seinem und ihrem Bruder, dem kastilischen Kö-
nig Don Sancho, gefangen gehalten wird und
zum Tode verurtheilt ist. Sie erlangt von die-
sem Don Alonso's Freilassung, bedingt sich aber
zugleich auch sein Leben aus (»Pidoos ä mi
hermano, — que lo teneis en prision. — P14-
ceme dijo, hermana, — manana os lo dar6 yo.
— Vivo lo habeis de dar, vivo — vivo que no
muerto, nö. — Mal hayas tu, mi hermana, —
y quien tal te aconsejö, — que manana de
manana, — muerto te lo diera yo«). — Wolf
und Hofmann, Primavera y Flor etc. 1, 122.
— P. V no. 8 La Pastorella. Wolf no. 77 und
Ferraro no. 68 mit gleicher Ueberschrift; s.
auch die Anm. bei beiden; ferner Puymaigre p.
141 f. »La Bergere et le Loupc — P. IX no.
1 // Ritarno della Guerra gehört so wie no. 7
// finto PeUegrino in den grossen Kreis der Lie-
der von dem unerkannt heimkehrenden Gatten,
der die Frau treu befindet. Im wesentlichen
stimmt mit erstem Liede Ferraro no. 41 »II
Ritorno«, mit letztem Wolf no. 81 »La Moglie
fedele«; Ferraro no. 25 »II falso Pelegrino«; s.
Bernoni, Canti popolari veneziani. 205
auch GGA. 1870 S. 395 meine Zusätze zu üh-
land no. 116 und dessen Anm.; fuge hinzu Fer-
raro no. 37 »La Sposa del Crociato«; Grundt-
vig Danmarks Gamle Folkev. no. 254 »Tro som
Guide — P. IX no. 1 La Incontaminata. Fer-
raro no. 2 »La Monferrina incontaminata« nebst
dessen Nachweisen ; Gasetti und Imbriani 2, 1 f.
— P. IX no. 6 // Soldato Volontär io. Ferraro
no. 39 » A more sfortunatoc nebst den Nach-
weisen. — P. IX no. 8 »La Sposa colta in
fallo*. Ferraro no. 70 »H Marito gelosoc und
dazu dessen Nachweise so wie die meinigen in
den Heidelb. Jahrb. 1870 S. 875; füge hinzu
Islenzk Fornkvaedi ved Svend Grundtvig og Jon
Sigurd8on no. 34 »Olöfar Kvaedi« nebst Nach-
weisen. — P. XI no. 1 L'Onestä alia Prota.
Ferraro no. 67 »II finto Fratello«; füge hinzu
Uhland no. 121 »Das Südeli« und die Nach-
weise dazu so wie die meinigen in Pfeiffers Ger-
mania 14, 96 (wo statt Uhland no. 273 zu le-
sen Uhland S. 273 no. 121 und statt Puymaigre
u. s. w. no. 357 1. p. 357). — P. XI no. 4
// FigHo del RS d'lnghilterra. Ferraro no. 56
mit gleicher Ueberschrift. Puymaigre p. 174
»Le jeune Tambour« und die Nachweise. — P.
XI no. 5 La Guerriera. Ein Bruchstück; voll-
ständig bei Wolf no. 79 »LaFiglia coraggiosa«;
b. d. Anm. ; Ferraro no. 38 »La Bagazza guer-
riera« und meine Anzeige Heidelb. Jahrb. 1870
S. 874. — P. XI no. 6 La Monachella. Wolf
no. 90 mit gleicher Ueberschrift nebst Anm.;
Ferraro no. 65 »La Monachetta« nebst den
Nacbw. — Ausser den bisher angeführten
Balladen oder erzählenden Liedern, zu denen
ich Parallelen anführen konnte, enthält die vor-
liegende Sammlung auch noch eine Anzahl sol-
eher, zu denen mir dergleichen nicht gegenwärtig
206 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
sind, wie z. B. P. IX no. 3 L'Innamorala dei
Soldati, wo eine Dirne, obwohl von dem Solda-
ten, mit dem sie davon gelaufen, heimlich ver-
lassen und dann von dem verzeihenden Vater,
zu dem sie zurückkehrt, gewarnt, dennoch nicht
von den Soldaten abstehen will. — P. IX no.
4 Amor di Fratello. Nach dem Rathe des Bru-
ders und entgegen dem der Mutter folgt ein
Mädchen dem Geliebten aufs Meer, wo er sie
ertränkt, so dass sie in ihrem letzten Augen-
blick der Worte der treuen Mutter und des fal-
schen Bruders gedenkt. — P. IX no. 5 La
bella Francese. Sie wird von ihrem nach Hause
kehrenden Gatten, einem Soldaten, ermordet
und dieser auf der Flucht von der Justiz einge-
holt. Der Grund des Mordes erhellt nicht und
das Lied scheint unvollständig. Andere erzäh-
lende Lieder übergehe ich und erwähne nur
noch einige, die zur Verspottung der Mönche
und namentlich der Beichtiger dienen ; so P. XI
no. 7 Padre Scarpazza, wo ein Bettelmönch am
Hause der Donna Francesca um Almosen bittet,
jedoch, eingelassen, statt der angebotenen Speise
die Dame um etwas ganz Anderes angeht und
deshalb von ihr mit Schande und Spott fortge-
jagt wird. Aehnlich ergeht es P. XI no. 10
Frä Fabio. — P. XI no. 8 Fanforica. Dieser
wackere Geistliche will weder Wittwen noch
verheiratbete Frauen zur Beichte hören, sondern
nur Jungfrauen, deren eine er bei dieser Gele-
genheit nach Strasse und Hausnummer ihrer
Wohnung fragt, welche sie ihm auch zu einem
nächtlichen Stelldichein bereitwillig mittheilt. —
P. XI no. 9 II Padre capuccino. Von einer Frau
zur Anhörung der Beichte ihrer sterbenden Toch-
ter gerufen, vernimmt er von dieser, dass sie be-
reits dreimal gesündigt und mit ihm das vierte
r
Bernoni, Canti popolari veneziani. 207
Mal sündigen wolle, nach welcher Beichte sie
dann zur grossen Freude der den Mönch und
seine Heilkraft segnenden Mutter frisch nnd ge-
sund das Bett verläset, nach neun Monaten je-
doch ein hübsches Enäblein gebiert, das dem
Capuzinervater sprechend ähnlich sieht. Auch
P. VII no. 83 heilt ein Mönch ein krankes Mäd-
chen durch eine ebensolche Beichte und P. IV
no. 21 erzählt eine andere Dirne, wie der Beich*
tiger sie vor allen Dingen gefragt, ob sie mit
einem Liebsten umgehe, und auf ihre ihn zu-
rechtweisende Antwort erwiedert habe, es sei
dies ja keine Sünde; denn er selbst, obschon
Mönch, sei gleichwohl verliebt. Debar dieses
Geständniss darf man sich nicht sehr wundern,
da in einem neapolitanischen Volksliede sogar
der Papst einem verliebten Mädchen nicht nur
ihre Schuld vergiebt, sondern sogar hinzufugt:
»E si non fosse santo papa io — Sarria de li
primmi 'nnamoratic. Casetti e Imbriani 2, 385
no. XII. Dergleichen Hiebe gegen die Fleisches-
lust der ehelosen Geistlichkeit finden sich über-
all in den Volksliedern. — Von den übrigen Stü-
cken der vorliegenden Sammlung erwähne ich
noch P. VII no. 18 eine kürzere Fassung als
Wolf no. 2 »La Visita«, ferner P. IX no. 12 flro-
prietari e Coltivaiori, Klagen eines Feldarbeiters
über seinen Gutsherrn, der ihn hart arbeiten
lasse und dann den geringen Tagelohn nicht
zahle, sondern ihn nur mit Schlägen traktire;
endlich P. XII no. 4 Caterinella, wo der Vater
die Tochter auffordert mit ihm zum Tanze zu
gehen und sie ihm erst folgt, als er ihr das
Nöthige angeschafft; die zwei letzten Verse lau-
ten: »Ben scarpata, ben calzata, ben camisata
— Ben cotolata la figlia mia!« Vgl. hierzu
Bolza no. 40 und Heidelb. Jahrb. 1867 S. 179«
^ i
208 Gott gel. Ana. 1873. Stack 6.
Von den kleinern Liedern, Strambotti, welche
die Mehrzahl bilden, kann ich nur einige hervor-
heben; so gleich P. I no. 1, worin die Schön-
heiten einer Frau auf zehn beschränkt sind,
während die Zahl derselben sonst bis auf dreissig
oder gar sechzig gesteigert wird; s. 66 A. 1868
S. 1919; füge hinzu Reiffenberg zur Cronique
de Philippe Mouskes II, 825 8. v. Beaute. In
dem Strambotto P. I no. 47 sagt ein Mädchen,
sie wolle einen Burschen ohne Hemd und Hosen
heirathen, »perche so (son) 8 tufa de dormir
sola«, womit zu vergleichen das längere Lied
Wolf no. 24 »La Ragazza stufa di dormir sola«,
öanz anders freilich lautet es gleich hinterher
no 48: »Cara, se ti savessi (tu sapessi) el mari-
dare, — Te passaria la vogia (vogiia), in fede
mia ; — Co* xe (quando e) la sera per andar in
letto, — El pie a la cuna e la creatura al peto
(petto)«. Eine seltsame Zusammenstellung bie-
tet P. IV no. 20: »Amor e merda e tuta 'na
missianza (tutta una mischianza); — La sera
bona per el mal de denti, — La matina bona
per el mal de panza: — Amor e merda e tuta
na missianza«. Dass man im Volke das zweite
der angeführten Mittel gegen Zahnweh und Leib-
weh brauche, ist mir ganz unbekannt, obschon
es sonst in der Volksmedicin zuweilen vorkommt;
s. Wuttke Deutscher Volksaberglaube 2. A. Ber-
lin 1869 im Reg. 8. v. Menschenkoth. Ehedem
spielte es eine noch grössere Rolle laut Paulli-
ni's »Heilsame Dreckapotheke, wie nämlich mit
Eoth und Urin die meisten Krankheiten glück-
lich geheilt werden«. Frankf. 1696 und oft. —
Den Schluss von Bernoni's Sammlung bilden eine
Anzahl Wiegen- und Kinderlieder, von denen
einige auch in andern Ländern vorkommen,
worauf ich aber hier nicht weiter eingehe. Wenn
• Zahn, De notione peccati etc. 209
Bim auch die in Rede stehende Samraltfng,
welche zunächst fur das venezianische Volk be-
stimmt ist, ohne alle literarische Nachweise und
sprachliche Erklärungen auftritt, so enthält sie
doch mancherlei dem Freunde und Forscher der
Volksdichtung sehr Willkommenes, wie aus den
Angeführten Beispielen erhellt, worunter die epi-
schen Lieder, sfo weit -sie schon früher bekannt
gemacht waren, fast sämmtlich als wichtige Va-
rianten auftreten, und sie wird daher nicht ge-
ringe Verbreitung finden, zumal der Preis (3 Lire)
ein sehr niedriger ist.
Lattich.* Felix Liebrecht
Zahn, Adolphud, Lie. theol., v. d. min.
apud aedem cathedraletn Haiensem: De notione
peccati, qtiata Johannes in prima epistola docet
commentatio. Curvata resurgo. Halis Saxonum,
prostat apud B. Mühlmann, MDCCGLXXIL
Pap. 62.
Auf diese, in recht fliessendem Latein ge-
schriebene Abhandlung meint Ref. um so mehr
hinweisen zu sollen, als ihm in der That schei-
nen will, dass durch dieselbe ein werthvoller
Beitrag zur Erklärung des 1. Johannes-Briefes
überhaupt tend namentlich zur Aufhellung ein-
zelner schwieriger Stellen desselben gegeben wor-
den sei.
Namentlich die Stelle 3, 9, wo davon die
Bede ist, dass, wer aus Gott geboren sei, nicht
Bündige und nicht sündigen könne, ist so oft ein
Kreuz der Interpreten gewesen, da sie offen-
bar doch von Christen und Gliedern der Christ-
17
210 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6. •
liehen Gemeinde gilt, aber eben deshalb nicht
bloss mit der allgemeinen christlichen Erfahrung,
sondern anch mit solchen Stellen des Briefes
selbst in Widersprach zu stehen scheint, welche,
wie a. A. Cap. 1, 8 f. und Cap. 5, 16, von einer
Fortdauer der Sünde auch innerhalb der christ-
lichen Gemeinschaft und bei denen reden, die
als »Brüderc bezeichnet werden dürfen. Wie
nun die Behauptung, dass der Christ, der sage,
er habe keine Sunde, sich nur selbst betrüge,
mit der in Cap. 3, 9 enthaltenen, dass der aus
Gott Geborne nicht sündige und nicht sündigen
könne, zu vereinigen sei, ist immer von Neuem
von den Auslegern gefragt worden ; aber man
darf nur die von dem Verf. S. 30 ff. angeführten
AusleguDgsversuche ansehen, um alsbald zu er-
kennen, mit wie wenig Glück und Geschick hier
meistens die Vereinigung versucht worden ist,
wie man sich in der Regel nur mit Ausreden
beholfen hat und oft sogar mit einer gänzlichen
Abschwächung, um nicht zu sagen, Verdrehung
des wirklichen Sinnes von Cap. 3, V. 9.
Und eine eben solche Schwierigkeit bietet
dann weiter auch die Stelle Cap. 5, V. 16 ff.,
wo zwischen der Sünde »zum Tode« und sol-
chen Sünden, die nicht zum Tode sind, unter-
schieden und von dem Verf. des Briefes aus-
drücklich die Anweisung gegeben wird, dass
man für »die Sünde zum Tode« nicht bitten
solle. Bekanntlich Bind über die dieser Stelle
zu Grunde liegende Anschauung des Apostels
die Ausleger auch sehr auseinander gegangen
und, wenn man aufrichtig sein will, so hat ein
grosser Theil derselben überhaupt nicht gewusst,
was hier unter der Sünde zum Tode und nicht
zum Tode zu verstehen sei, während die römi-
sche Kirche denn freilich von dieser Stelle eine
2fahn, De notione peccati etc. Hi
Anwendung gemacht hat, die am wenigsten zu
billigen sein dürfe: der ganze Unfug mit läss-
lichen und nicht lässlichen Sünden, der dort so
oft getrieben worden ist, hat in dieser Stelle
sein apostolisches Fundament finden zu können
gemeint*
Unter solchen Umständen war es daher wohl
angezeigt, die noch längst nicht zum Abschluss
gekommene Untersuchung wieder aufzunehmen,
und Ref. meint nun behaupten und anerkennen
zu dürfen, dass dies von dem Verf. in einer
Weise geschehen ist, welche denselben nicht
bloss als einen überaus sorgfaltigen und beson-
nenen Interpreten erscheinen lässt, sondern
welche auch den Weg betreten hat, auf dem
allein eine wirkliche Lösung der hier sich dar«
bietenden Schwierigkeiten zu finden sein dürfte:
er sucht zuvor den Begriff von Sünde, den Jo-
hannes überhaupt vor Augen hat, festzustellen,
um dann yon da aus auch zu einer nähern Er-
klärung dieser einzelnen Stellen zu gelangen,
und zwar thut er nun dies in einer jedem Un-
befangenen gewiss durchaus einleuchtenden Weise,
indem er yon dem Gegensatze ausgeht, den Jo-
hannes in diesem Buche überhaupt bekämpfen
will und dann eben daraus denjenigen Begriff
der Sünde herleitet, um den es hier sich
handelt.
Nach des Verf., wie Ref. meint, mit grosser
Evidenz nachgewiesenen Ueberzeugung hat es
der Brief von Anfang bis zu Ende mit den in
Cap. 4 V. 1 ff. genannten »falschen Propheten«
und »Antichristen« zu thun. Auf diese deutet
schon der Eingang dieses Briefes und sie sind
es, die überall bekämpft werden als Diejenigen,
welche die Offenbarung der Liebe Gottes in
Christo leugnen und das auf diesem Grunde ge-
17*
m Gftt &l An«. 1873. Stück 6.
scbloaywQe Gemeinschaftsband zu zerreissen
aroh^n. Durch den ganzen Brief, sagt der Verf.,
verlgitadigt der Apostel die Liebe Gottes und
ermahnt auf das Eindringlichste, dass dje Liebe
unter den christlichen Brüdern, bewahrt werde»
aber doch nur eben deshalb, weil cum. wimmo
suo dolore Apostolus cognover&t caritote Dei
per Antichristos sublata simul omne caritatis
fraternae Studium ex ecclesia evanescere. Fra-
trum communionem videt dir upturn, undique
imminens odii et contemptus mutui periculnm,
nam, quupi Antichrist! eos, qui apo$toUcam
doctrinajn studioee servabant, odio persecuti ipsi
primum in ecclesia locum tenere in animo ha-
berent, ecclesia olim florens et caritatis vinculo
cpnjuncta jam miserabilem dispersi gregis spe-
ciem praebebat«. Und eben daraus leitet er
nun den eigenthümlichen Begriff der Sünde ab,
wie er dem Apostel vorgeschwebt hat: die
Sünde ist eben nichts Anderes, als dies völlig
negative Verhalten der »falschen Propheten €
Gegenüber der in Jesus geoffenbarten göttlichen
liebe und dies dadurch bewirkte Zerreissen des
Liebesbandes unter den Christen. »Peocatum,
ut disputationis nostrae summam dicamus«, sagt
der Vqrf,, nihil aliud est, nisi Antichristorum
quique eos secuti sunt in Christum et fratres
christianos injustitia et violatio ejus legis quae
in Christo revelatft et fidem et caritatem iinpe-
rat. Peccare est non manere in Christo, in fide
semel suscepta, in fratrum communione semel
inita, denique ex fide et caritate excidere in in-
fidelitatem et odium. Ideo peccatum et peccare
earn habent vim propriam, quae ex toto eccle-
siae statu necessitate quadam sequi tur«.
Aber indem nun der Verf. aufwiese Weise
den Begriff der Sünde, wie er den Ausfuhrungen
Zafcft, De notion* peccati ete. tli
dieses Briefes überhaupt zu Grande liegt, naher
bestimmt tiftd festgestellt bat, wird es da nun
nicht in der That leicht, auch zu erkenftten, wafc
es denn im Sinne des Johannes heisst, dass *dift
ans Gott Geborenen nicht sündigen titod hifcht
sündigen können, weil der göttliche Sa&feh Ök
ihnen bleibte? und auf welche Weise mit die«
sem Ausspruche der andre zu vereinige* fet,
dass »wir uns nur selbst betrügen tttod dife
Wahrheit nicht in uns sein Würde, wenn Wi*
sagen wollten, wir hätte* keine Sünde«? Das«
dies letztere Wort nach des Apostels Meinung
eben so gut ton den treuen Gliedern der christ-
lichen Gemeinschaft gelten soll, wie jenes erfttö,
ist unzweifelhaft, aber der scheinbare Wider-
spruch hebt sich durchaus, wenn wir an die
obige Definition der von den > Antichristen* be-
gangenen Sünde denken als derjenigen , Welche
Johannes Cap. 8 V. 9 im Auge hfet und vor der
er in seinem Briefe überhaupt warnen will. Die
Unvollkommenbeit des Znstandes, in Folge des«
sen auch sie im Allgemeinen Sünder sind, bleibt
auch hei den treuen Christen bestehen, Aber
jene antiehristliche Sünde, jenen völligen Ab-
fall, jenes gänzliche Zerreissen des Getnein-
schaftsbandes mit Gott und knit den Brüdern
können sie nicht begehen, weil der göttliche Sa*
men, das neue religiöse Lebensprincip, ia ih*
nen ist.
»Qui ex Deo natus est«, so fasst der Verf.
hier seine Resultate zusammen, »ita nön (riecüt
atque fit potest quidein peetiArt, üt sedüetortftfe
doctrinam et opera secutus, cum iisque södet*
tate eonjunetus Dei filium et una cum filiö pa-
trem, ergo verum et unum Deum Seitoel & de
cognitum dilectumque aböögandö rejiciaf uüaque
eint Deo etiam eos removeat, qtti ear Deo nati
214 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 0.
sunt, fratres suos cbristianos, qnos olim cari-
täte amplexus est. Qui cum multorum pecca-
torum in Deum et fratres commissorum sibi
conscius sit, attamen in ipsis Ulis perpetrandis
non peccat, quia ex communione Christi fratrum-
que non excedit, sed peccatorum confessione re-
mi8sioneque Christo proprior est eique con-
junctus manet. Verbo et veritate Dei, quae una
cum Spiritu sancto in eo habitant eumque di-
rigunt, semper id efficitur, ut in luce evangelii
versetur, quae et sui ipsius cognitionem et Dei
intelligentiam in eo conservat. Johannes totum
renatorum vitae genus eorumque statum justum
intuens, eos non posse peccare contendit, quia
quamquam sint et maneant peccatores, tarnen
sint et maneant in communione Dei et ecclesiae
christianae«. Es kann wohl kaum geleugnet
werden, dass, die Worte des Apostels unbefan-
gen und in ihrem Zusammenhange mit dem
Ganzen des Briefes erwogen, dies die Meinung
des Johannes in der in Rede stehenden Stelle
gewesen ist, auch schon deshalb, weil kein
andrer Ausweg gefunden werden dürfte, um
den oben genannten Widerspruch wirklich aus-
zugleichen. Aber so gelangen wir denn nun auch
schliesslich zu einer richtigen Erkenntniss des-
sen, was hier bei Johannes unter »Sünde zum
Tode« zu verstehen ist: es ist eben keine andre,
als die oben genannte der »Antichristen«:
»transgressio ex cognitione et fide Christi cari-
tateque fraterna in infidelitatem et odium et
Dei veri eccleeiaeque christianae amissio«, ein
Abfall, von welchem auch in anderen neutesta-
mentlichen Stellen und mit ähnlicher Strenge
! geredet wird, wie Cap. 5, V. 16 ff. unseres Brie-
fes. Vgl. Ebr. 10, 26 f.
Sei diese sorgfältige Arbeit des bereits auch
Zahn, De notione peccati etc. 215
durch andre schriftstellerische Leistungen rühm«
liehst bekannten Verf. denn der Beachtung be-
stens empfohlen, und das nm so mehr, als die-
selbe yon einem grossen Sinne der Unbefangen-
heit Zengniss giebt, der den Verf. beseelt. Na«
mentlich sehen wir das in der Art, wie er, der
Eeformirte, auch die Aussprüche Luthers zu wür-
digen weiss, selbst auch da, wo sie mit solchen
Calvins nicht übereinstimmen. Es tritt darin
ohne Zweifel der Geist der reformirten Kirche
schön hervor, die sich zwar durch die Concor*
disten hat ausstossen lassen müssen, die aber
gleichwohl das Band der Gemeinschaft auch mit
Luther und seiner Kirche zu bewahren gesucht
und das Wort des Apostels aufrechterhalten hat:
Alles ist euer. Ref. freut sich, auch in diesem
Sinne mit dem Verf. übereinzustimmen.
F. Brandes*
Hvgiea. Hedicinsk och farmaoeutisk mä-
nadsskrift utgifven af svenska Läkare-Sällskapet
redigerad af Dr. A. Jäderholm under med-
verkan af A. Kjellberg, Dr. W. Netzel,
Prof. Dr. C. J. Kossander och Prof. Dr. E.
Oedmansson. Trettiafjerde bandet. Stock-
holm 1872. XIII, 716 und 343 Seiten in
Octav.
Svenska Läkare-Sällskapets nya
handlingar. Serien IL Delen HI og IV.
Stockholm 1871. VI und 201, sowie 146 Seiten
in Octav.
Wir haben in diesen Blättern wiederholt auf
das rege wissenschaftliche Treiben, welches auf
216 Gott, gel Adz. 1873. Stück 6.
medicinischem Gebiete in den scandinavischen
Staaten und besonders in Schweden sich inner-
halb der letzten Jahre entwickelt hat, aufmerk-
sam gemacht. Wenn wir dies an dem im Nor-
disk medicinsk arkiv und in den Verhandlungen
der Aerzte zu Upsafc veröffentlichten Arbeiten
darlegten, würden wir. ein schweres Unrecht be-
gehen, wollten wir nicht auch auf die Verdienste
hinweisen, welche sich in Bezug auf die Verbrei-
tung medicinischer Kenntnisse im Norden die
älteste Vereinigung schwedischer Aerzte, die
Svenska Läkare-Sällskap, Jahr aus, Jahr ein er-
wirbt; Das Streben derselben giebt sich im
verflossenen Jahre in besonderer Weise dadurch
kund, das 8 die Gesellschaft ihr Organ, die
Hygiea seit Anfang 1872 unter einer neuen Re-
daction in einem weit grösseren Umfange hat
erscheinen lassen, neben welchem sie auch noch
mehrere grössere Arbeiten unter dem Titel
»Neue Abhandlungen c publicirte.
Das hauptsächlichste Verdienst der Hygiea
besteht darin, dass es die schwedischen Aerzte
mit den vorzüglichsten Leistungen des Auslandes
in gediegener Weise bekannt macht. Während
das nordische Archiv die in den scandinavisoben
Ländern veröffentlichten medicinischen Studien
in grosser Vollständigkeit durch treffliche Aus-
züge bekannt macht, so weit 6ie nicht selbst als
Onginalien in demselben mitgetheilt sind und
damit das Ausland in den Stand setzt, sich über
die Fortschritte c|er Heilkunde und über die
Errungenschaften der Forschung im Norden
rasch und sicher zu orientiren, abstrahirt die
Hygiea vollständig von der auszugsweise^ Mit-
theilung nordischer Publikationen und wendet
mit um so grösserer Sorgfalt ihre Aufmerksam-
keit den deutschen, englischen und franjösi^ohea
Jäderholm, Hygiea. 3 IT
Arbeiten zu. Sie bringt dieselben in einer sol-
chen Vollständigkeit wie keine andere schwedi-
sche Zeitschrift, aus deren Zahl z. B. die Ver-
handlungen des ärztlichen Vereins zu Upsala
nur diejenigen auswärtigen Leistungen berück-
sichtigen, welche in der Gesellschaft zu Vor-
trägen Veranlassung gegeben haben. Dass die
Hygiea sich als excerpirencjes Saromeljournal,
welches dem schwedischen Arzte das Neueste und
Beste aus der Fremde bietet, ein grosses Ver-
dienst um die Erweiterung der Kenntnisse der
Fachgenossen in der Heimatb sich erwerben
muss, dass sie gewissermassen von keinem schwe-
dischen Arzte mit wissenschaftlicher Tendenz ent-
behrt werden kann, ist unsere aufrichtige Mei-
nung, die sich vor Allem darauf gründet, dass
die betreffenden Referate überall, wo wir sie
eingesehen haben, mit der grössten Sachkennt-
nis?» Klarheit und Präcision gearbeitet sind.
Aber auch für das Ausland ist die Hygiea
keineswegs ohne Bedeutung und Interesse. Denn
sie bietet, von den besprochenen wissenschaft-
lichen Auszügen abgesehen, eine Fülle in ihrer
Heimath entstandenen Materials, dessen Kennt-
nissnahme sich ganz entschieden der Mühe lohnt
Dieses Material besteht zunächst in einer nicht
unbedeutenden Anzahl von Originalabhandlungen,
dann in Mittheilungen aus dem Sanitätscollegium,
gestützt auf ärztliche Rapporte, welche auch
reiche Beiträge zur medicinischen Gasuistik lie*
fern, endlich in den Verhandlungen der Svenska
Läkare Sällskap selbst, welche mit besonderer
Paginirung einen höchst erfreulichen Anhang
der Hygiea bilden. Auch die beiden in der lieber«
Schrift genannten Theile der Neuen Abhandlungen
machen einen integrirenden Bestandteil des vor«
liegenden Jahrgangs der Hygiea aus. Die Nya
218 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 6.
handlingar werden nämlich gratis mit der Hygiea
abgegeben und enthalten solche Abhandlungen
von Mitgliedern der Gesellschaft, deren Aufnahme
in die Hygiea wegen ihres Umfanges nicht thun-
lieh ist.
Unter den Originalmittheilungen ist von
grösserem allgemeinem Interesse namentlich das
Protocoll über die Leichenöffnung König Carl XV.
(auszugsweise in No. 3 des Jahrgangs 1873
der Deutschen Klinik mitgetheilt) , woraus er*
hellt, dass der Verstorbene an Enteritis chro-
nica ulcerosa mit nachfolgendem Marasmus zu
Grunde gegangen ist. Ebenso hat, namentlich
fur Deutschland, ein Bericht des Generaldirec-
tors Berlin grössere Bedeutung. Derselbe giebt
einen neuen Beleg fur die Thatsache, welche
wir demnächst auch bei uns zu verificiren Ge-
legenheit haben werden, dass die Einfuhrung
einer neuen Pharmakopoe und die Ausfuhrung
der in ihr gegebenen neuen Vorschriften stets
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist.
Schweden hat, wie Deutschland, ein ausseror-
dentlich wohleingerichtetes Apothekenwesen und
trotz alledem treten bei der Revision die mannig-
fachsten Uebelstände dem Visitator entgegen,
trotz Privilegien und Goncessionen vertreiben
einzelne Apotheker öffentlich und en gros, an-
dere im Geheimen und en detail Geheimmittel
von unbekannter Composition. Wie mögen da
die Verhältnisse erst in Ländern sein, wo eine
Geregelte Revision der Apotheken fehlt und wo
ie freie Goncurrenz die Besitzer derselben
zwingt, sich durch Nebenverdienste ihr täglich
Brod zu versebaffen! Möge uns ein gütiges Ge-
schick bei der demnächstigen Regaining der
deutschen Apothekerverhältniste vor einem Da«
naergeschenke der Freiheit bewahren.
Jäderholm, Hygiea. 219
Aus der Reibe der Originalabhandlungen he-
ben wir die Mittheilung von H. Nordenström
über die Heilung von 3 Fällen von Empyem
durch Einspritzung antiseptischer Lösungen. So
interessant an sich schon die Erzielung eines
günstigen Erfolges durch das betreffende Ver-
fahren erscheint, so knüpft sich doch an den be-
treffenden Aufsatz noch ein anderes specifisch
schwedisches Interesse. In zwei Fällen musste
nämlich Nordenström nach erfolgloser An-
wendung yon Carbolsäurelösung seine Zuflucht
zu einem Erzeugnisse schwedischer Industrie,
dem Amykos- Aseptin von Gähn in Upsala, neh-
men. Es ist dies ein bei uns bis jetzt sehr we-
nig bekannt gewordenes Präparat zum Schutze
von Fleisch wider Fäulniss und Schimmelbildung,
welches nach den in Upsala angestellten Ver-
suchen die Beachtung des Auslandes wohl zu
verdienen scheint. Die Zusammensetzung ist
keine unbekannte. Das ursprünglich von G a h n
angegebene Antisepticum, welches er als Aseptin
bezeichnete, ist Borsäure in Lösung, welche
Gähn sodann, als sich durch Versuche von Ny-
8tröm ergab, dass zwar das Auftreten von
Fäulniss, aber nicht von Schimmelbildung da-
durch verhütet werde, mit einem Auszuge von
Gewürznelken versetzt hat, deren da* Schim-
meln verhütende Wirkung bereits früher vielfach
technisch, z. B. bei der Dintenfabrikation Ver-
wendung fand. Dieses modificirte Aseptin ist
nun das von Nordenström angewandte Amy-
kos-Aseptin, das man in Schweden abgekürzt
als Amykos bezeichnet. Nordenström hat
auch zwei Fälle von Favus mitgetheilt, die durch
Carbolsäure geheilt wurden. Dass diese Be-
handlungsweise der Tinea favosa zum Ziele füh-
ren kann, bezweifeln wir nicht; bei den Gefah-
MO Gott. gel. Abz. 1873. BtSck 6.
ren aber, welche die Permeabilität der Haut
für Carbolsäuredämpfe bedingt, möchten wir
diese Behandlungsmethode nicht unbedingt em-
pfehlen.
Therapeutisches Interesse bietet auch ein
Aufsatz von A. Kjellberg über die Behand-
lung angeborener Atelektase. Kjellberg hatte
sehr günstige Erfolge von der fortgesetzten An-
wendung warmer Wasserdämpfe in einem stark
erwärmten Zimmer und empfiehlt als besonders
zweckmässig einen sogenannten Dampfschrank,
d. h. einen aus Filzlappen construirten Ver-
schlag, in welchem die Lagerung des neuge-
borenen Kindes und die Entwicklung der Wasser-
dämpfe stattfindet.
Ueber die übrigen Originalabhandlungen kön-
nen wir nur summarisch berichten, sie betreffen
fast alle Zweige der Heilkunde und bieten nicht
allein dem Chirurgen und Augenarzte, sondern
auch dem Geburtshelfer und selbst dem Phar-
makogen eine willkommene Bescherung. Für
Letzteren bat 0. Th. Sandahl durch seine
pharmakogno8tische Beschreibung über Cortex
Cundurango gesorgt, ein auch bei uns viel be-
sprochenes aus Ecuador zunächst nach Amerika
importirtes und von dort nach Europa herüber-
geschafftes, leider den gehegten Erwartungen
keineswegs entsprechendes Krebsmittel. Die
nordischen Reiche sind somit auch nicht von
diesem Besuche verschont geblieben, ja wir er-
sehen sogar aus dem Umschlage des November-
heftes der Hygiea, dass die durch ihre Geld-
schneiderei bekannt gewordenen amerikanischen
* Inhaber des Monopols des fraglichen Krebsmit-
tels eine Niederlage ihres Cundurangoextracts in
Kopenhagen errichtet haben.
Unter den Originalarbeiten sind besonders
Jädedkolm , Hygiea. 221
stark Gynäkologie und Chirurgie vertreten. Eine
der enteren Disciplin angehörige Arbeit von
Netzel über Intrauterinblutungen ante partum
leitet das erste Heft des vorliegenden Jahrgangs
ein. Ferner gehören hierher die Mittheilungen
Ton Bergstrand über Atresia vaginae mit
Haematometra, von Falck und Sköldberg
über Ovariotomie und von Mal mb erg über
«men Fall von Placenta praevia. Der Chirurgie
Eshören an die Beschreibung eines Falles von
uxatio pedis mit Diastase der Unterschenkels-
knoohen und Zerreissung des Ligamentum in-
terosseum, ein Aufsatz von Lindh über die
Transplantation von Hautstücken auf Geschwüre
nach Versuchen im Serafimerlazareth, ein Be«
rieht von 8 antes son aus der chirurgischen
Abtheilung des Serafimerlazareths und die
von demselben Verf. herrührende Beschreibung
zweier Fälle von myelogenen Sarkom. Bergh
beschreibt und empfiehlt das von Wecker an-
gegebene Verfahren der Täto wirung von Leu-
komen der Hornhaut, theils zu kosmetischen
Zwecken, theils zur Hebung der Sehschärfe.
Auch die Otiatrie geht nicht leer aus, indem
Lil jenroth über die Entfernung fremder Kör-*
per aus dem äusseren Gehörgange eine lesens-
werthe Abhandlung liefert.
Mit grosser Genugthuung haben wir die Ver-
handlungen der Svenska Läkare Sällskap verfolgt,
die von dem Eifer der Mitglieder ein beredtes
Zeugni86 ablegen. Die in derselben gehaltenen
Vorträge zeigen hinsichtlich ihres Inhalts eine
ausserordentliche Mannigfaltigkeit und riefen zum
Theil lebhafte und interessante Discussionen her«
vor. So knüpfte sich an einen Vortrag Ja d er-
hol ms über arsenhaltige graue Tapeten ein»
längere. Debatte über chronische Arsenikvergif-
222 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
tung, welche nicht unbeträchtliche casuistische
Mittheilungen über diese streitige Affection in
sich schlos8. Noch grössere Dimensionen nahm
die an einem Chloroformtodesfall sich schliessende
Discussion über dies so oft discutirte Anaesthe-
ticum an. In den meisten Sitzungen wechselten
die Vorträge mit Demonstrationen von Präpa-
raten, unter denen besonders die neuesten Er-
rungenschaften der Materia medica, wie das lös-
liche Eisenoxyd, das Xylol, das Grotonchloral
u. a. m. eine Bolle spielten. Ueberhaupt sind
die Pharmakologie und Toxikologie in diesen
Verhandlungen nicht zu kurz gekommen und die
Herren Berlin, Hamberg und Sandahl
haben sich keine Gelegenheit entgehen lassen,
interessante Mittheilungen aus diesen Gebieten
zu machen und demselben Freunde zu ge-
winnen.
Was den Inhalt der dem vorliegenden Jahr-
gange beigegebenen Nya handlingar betrifft, so
wird der erste Theil vollständig von der vor-
trefflichen Abhandlung A Im ens über Trink-
wasseruntersuchungen ausgefüllt. Ueber diese
Arbeit brauchen wir eine eingehendere Bespre-
chung nicht zu geben, da sie nach einem von
dem Verf. selbst gemachten Auszuge im Monats-
blatte für medicinische Statistik und öffentliche
Gesundheitspflege mitgetheilt und somit auch
deutschen Lesern leicht zugänglich ist.
Im zweiten Theile finden sich drei Abhand-
lungen. Die erste von Fr. T holander giebt
eine Kritik und Beleuchtung der neueren An-
sichten über Menstruation. In der zweiten giebt
Sandahl eine Darstellung der Lehre von der
Entwicklung sowie der geographischen Verbrei-
tung der Entozoen des Menschen« Die dritte
bildet ein vom Bataillonsarzt Ho Im ström an
Woker, DeEräsmeRoterodamnstud.irenicis. 223
das Sanitätscollegium erstatteter Reisebericht
aber die Kriegshygieine und Krankenpflege im
letzten deutsch-französischen Kriege.
Tb. Husemann.
De Erasmi Roterodami studiis ire«
nicis, Dissertatio historica ... quam
publice defendet Philippus Woker.
Paderbornae 1872. 48 pp. in 8°.
Diese fleissige Bonner Doctordissertation
schliesst sich einer Reihe früherer, zum Theil
gleichfalls in diesen Blättern besprochener Ar-
beiten, z. B. Liessem's 'über Hermann v. Busch,
Creman8' über Jakob von Hochstraten, Reich-
lings über Johann Murmellius an, Arbeiten,
welche in Folge der Anregung entstanden, die
yon Wilhelm Kampschulte, dem bedeuten-
den Kenner und hervorragenden Bearbeiter der
humanistischen Literatur, ausging. Nun ist auch
er, sein schönes nnd grosses Werk über Johann
Calvin unvollendet zurücklassend, der Wissen-
schaft entrissen worden, nnd auf dem Arbeits-
felde, auf welchem er selbst herrliche Früchte
gezeitigt hat, wird sein Verlust um so schmerz-
licher vernüsst werden, als nun auch die Reihe
der Arbeiten, welche durch ihn hervorgerufen
worden und welche, wenn sie auch nicht immer
vollendet waren, doch als brauchbare Special-
arbeiten verwendet werden konnten, leider viel
zu früh für die Wichtigkeit des Gegenstandes
abgebrochen sein dürfte. Von wie grossem Se-
gen aber eine solche von dem Leiter nach be-
stimmten Gesichtspunkten vorgenommene Arbeits-
224 Gatt. gel. Anz. 1873. Stück 6.
theiluDg auf einem kleineren oder grösseren
wissenschaftlichen Gebiete ist, bedarf wohl kaum
weiterer Ausführung. Wenn aber auch diese
äussere Einwirkung geschwunden ist, so wird
darum die Erinnerung an den gründlichen For-
scher, an den geschmackvollen Darsteller, der
sich in seinen Werken selbst ein schönes Denk-
mal errichtet bat, in dem Kreise der Gleich-
strebenden nicht erlöschen.
Betrachten wir nun die Arbeit, die in pietäts-
vollem Sinne dem Lehrer Kampschulte gewid-
met ist.
Erst vor Kurzem ist in diesen Blättern
(GGA. 1872 S. 1921—1963) über ein grösseres
Werk, welches das Leben des Erasmus behan-
delt, unserm Verf. aber freilich noch nicht bekannt
sein konnte, ausfuhrlicher Bericht erstattet wor-
den und so mag die Besprechung dieser Arbeit
unmittelbar an jene anknüpfen. Denn um eine
Biographie des ErasmuB, welche berechtigten
Anforderungen entsprechen würde, zu ermög-
lichen, müssen erst noch manche Specialarbeiten
geliefert werden, welche einzelne Seiten der
vielfachen Thätigkeit dieses einen Mannes be-
leuchten oder Aufklärungen über Personen ge-
ben, welche auf sein Leben und Wirken von
Einfluss gewesen sind. Die vorliegende Ab-
handlung ist eine Arbeit der ersteren Art, sie
will eine, um nicht zu sagen, die hauptsächliche
Eigenthümlichkeit des Erasmischen Wesens be-
leuchten, die Friedensliebe, welche ihm zu sei-
nen Lebzeiten verschiedenartige Beurtheilung
zugezogen und in den .folgenden Zeiten dazu
gedient hat, ihn der Charakterlosigkeit zu be-
schuldigen.
Betrachten wir nun, wie sich der Verf. sei-
ner Aufgabe entledigt hat, so bemerken wir zu-
Woker, De Erasmi Boterodami stud, irenicis. 225
erst, dass er, wie dies bei einer Dissertation
kaum anders möglich ist, keine umfassende
Zeitstudien bietet, sondern sich fast ausschliess-
lich mit den Erasmischen Quellen begnügt, diese
aber selbstständig und genau durchforscht hat«
Nachdem er in einer kurzen Einleitung ausge-
führt hat, wie Erasmus durch seine Erziehung,
namentlich durch die Einflüsse, welche in Paris
auf ihn ausgeübt worden waren, zu antikirch-
Kchen Ansichten geführt wurde, setzt er aus-
einander, dass die friedliche, rersöhnliche Ge-
sinnung, zu der sein Charakter ihn von vom*
berein bestimmte , durch den Umgang mit den
Engländern, besonders mit Thomas Monis, er«
weckt und befestigt worden sei. Das Letztere
muss ich doch in Abrede stellen. Denn wenn
man bedenkt, dass Erasmus gerade dem Monis
seine gegen die damalige Kirche am härtesten
auftretende Schrift, das Lob der Narrheit, wid-
met, wenn man die von Monis ausdrücklich ge-
nug ausgesprochene Begeisterung für Reuchlin
und fur seine Kampfesweise (vgl. m. Reuchlin
S. 339 A. 1), die, wie wir wissen, selbst eifrigen
Freunden nicht gefiel, erwägt, so wird man
seine conciliatorische Wirksamkeit nicht allzuhoch
anschlagen dürfen.
Die nun gewonnene friedliche Gesinnung sucht
Erasmus während der ersten Periode desReuch-
linschen Kampfes zu bethätigen und wendet sich
der Theologie zu, da er erkennt, dass die Zeit
des Bauens gekommen sei. Der hier vom Verf.
gewählte Ausdruck: tempus aedificandi passt
nicht, weil man die angeführte Thätigkeit nicht
eigentlich als theologisches Bauen, als Reformi-
ren bezeichnen darf, und weil man durch ihn
leicht verfuhrt werden könnte, die humanistische
Thätigkeit im Gegensatz zur theologischen als
18
226 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6j
eine zerstörende zu betrachten, während sie
doch als eine neugründende, wenn auch im be-
ständigen Streit gegen das Alte wirkende ange-
sehen werden muss.
In solcher Gesinnung verharrt Erasmus auch,
als sich der Parteikampf im Reuchlinschen Streit
verschärft und zur Publikation der von ihm miss-
billigten Dunkelmännerbriefe führt. Bei der
Schilderung dieser Zeit widerspricht sich der
Verf. offenbar selbst, wenn er S. 5 sagt: studio-
rum conjunctio cum iis qui oppositions spiritu
nimi8 longe proferebantur, omnino soluta est und
S. 6; amor bonarum literarum nullo modo im-
minuebatur, denn es sind ja eben die gemein-
samen Studien, die mit dem Namen bonae literae
bezeichnet werden.
Im Gegensatz zu den humanistischen Plän-
keleien und heftigen Schlachten legt Erasmus
immer grösseres Gewicht auf die Theologie und
gründet ein förmliches System derselben. Die
beiden Hauptgrund sätze desselben nämlich: 1.
das Verlangen nach Rückkehr zur Einfachheit
der alten Kirche und 2. die Forderung der
Wahrung völliger Einheit in der Kirche werden
vom Verf. bestimmt und gut auseinandergesetzt.
Doch bin ich nicht der Ansicht, dass die eben
besprochenen Ausführungen wirklich in den In-
halt des ersten Capitels gehören, das die
Gründe entwickeln soll, durch welche Erasmus
zu seinen Friedensbemühungen geführt wurde;
sie gehören vielmehr bereits zu der Schilderung
der Bemühungen selbst.
Als Quellen dieses und des folgenden Ab-
schnitts dienen die häufig betrachteten Schriften
des Erasmus: Methodus oder ratio verae theo-
logiae und Querela pacis, ferner eine Schrift:
Polemos. Von dieser citirt der Verf. (S. 7 A. 2)
Woker, Do Erasmi Roterodami stud« irenicis. 227
eine zu Coin ohne Angabe des Jahres und des
Druckers erschienene Ausgabe, vermuthet, dass
die Schrift 1517 erschienen sei, weil ein Eras-
misches Buch desselben Inhalts, die Querela pa-
cts, gleichfalls diesem Jahre angehöre und nimmt
S. 12 A. 6 diese Vermuthnng als erwiesen an.
Grade die Gleichheit des Inhalts scheint mir
nun dagegen zu sprechen, dass beide Bücher
demselben Jahre angehören, denn ein so viel-
seitiger, lebendiger Schriftsteller, wie Erasmus
war, konnte eher zu verschiedenen Zeiten den*
selben Gegenstand ähnlich behandeln, als in
demselben Jahre seine Anschauungen wieder-
holen.
Abgesehen aber von der Frage nach der
Zeit des Erscheinens fragt es sich, was es denn
für ein Bewenden mit der fraglichen Schrift
habe. Denn eine Schrift unter dem angegebe-
nen Titel: Polemos sive belli detestatio findet
sich in keiner Gesammtausgabe der Werke des
Erasmus, ist auch, soweit mir (bekannt, noch
nirgends besprochen; einen so glücklichen Fund
hätte daher der Verf. besser ausnutzen, ihn
seinem ganzen Werthe nach beschreiben und
würdigen sollen. Da der Verf. dies nicht gethan
hat, so sei es gestattet, eine kleine Nachlese zu
halten.
Die vom Verf. angeführte Ausgabe habe ich
allerdings nicht erlangen können, dagegen habe
ich auf der hiesigen kön. Bibliothek eine ge-
funden, welche auf dem Titelblatt nur die
Worte: Bellum, per Des. Eras. Roterodamum,
auf S. 3 nochmals die Bemerkung: Autore Des.
Erasmo Roterodamo, dann sogleich die ersten
Worte der Schrift und auf dem letzten Blatt die
Notiz: Argentinae apud Jo. Prys. Mense Augusto,
An. MD XX. (68 SS. in kl. 8°) enthält. Schon
18*
1
S28 . Gott. .gel. Anz. 1873. Stück 6.
der Umstand, dass dieselbe weder Vorrede noch
Widmung, zwei unentbehrliche Zuthaten Erasmi-
scher Schriften, enthält, ist auffällig, noch selt-
samer, dass sie ohne jede in den Gegenstand
einführende Bemerkung mit den Worten: Dulce
bellum inexpertis, einem bekannten Sprächwort,
anhebt, fast unerklärlich, dass sie mit dem
Satze: Sed longius quam par est huic digressioni
videbimur immorati his qui de proverbiis quam
de pace belloque malunt audire schliesst. Die
erwünschte Aufklärung erhalten wir aber da*
durch, dass wir unsere Schrift mit der grossen
Sprüchwörterausgabe des Erasmus (Opera ed.
Lugd. Bat. 1703. vol. II coli. 951—970) ver-
gleichen und erkennen, dass diese angebliche
Schrift nur ein Abdruck der Erasmiscben Er«
klärung zu dem Sprüchwort: Dulce bellum inex-
pertis ist, ein Abdruck, der wohl nicht von
Erasmus selbst veranstaltet, unter verschiedenen
Titeln: Polemos, bellum und D. b. i. erschienen
ist und zwar unter dem letzteren am häufigsten,
wie wir dies aus Panzer, Annal. typogr. VI, 200 ;
VII, 262. 414; VIII, 83, 91 (vgl. auch die eng-
lische Uebers. das. VII, 254) erfahren.
So ist das Dunkel, welches auf dieser Schrift
zu ruhen schien, aufgehellt und forschen wir
weiter, so sehen wir, dass unser Sonderabdruck
in der Schrift: Krieg — Büchlein des Friedes:
Ein Eng desFrides wider alle lärmen, auffruhr
und Unsinnigkeit zu kryegen . ... 1539 in 4°,
welche nach Hase: Seb. Franck 1869 S. 128
vonFranck herrühren soll, mit grosser Vorliebe
benutzt ist. Aus dieser Schrift, über die eine
eigne Untersuchung nicht unlohnend sein würde,
sei nur eine Notiz unserm Verf. zum besonderen
Studium empfohlen. In dem Bellum heisst es
(meine Ausgabe p. 59): Verum hisce de rebus
Woker, De Erasmi Roterodami stud, irenicis. 229
omnibus aliquanto copiosius audietur cum eda-
mas libram cai titulum fecimus: Antipolemo
quem olim Rhomae vitam agentes ad Julium II
Romanum pontificem conscripsimus eo tempore
quo de bello in Venetos suscipiendo consultaba-
tur und in der Franck'schen Schrift (fol. LXXb) :
»in seinem (des Erasmus) Antipolomo (I) zu
Bom an Babst Juliano geschriben zur Zeit als
wider die Venediger zu krigen beradtschlagt
ward . . ., wirt der krieg nach aufweysung des
titelß als ein uncbristenlich ding hefftig wider*
fochten and allen Christen widerrathenc; ist
über diese Schrift, die Franck, seinen Worten
nach zu schliessen, nicht gesehen hat, etwas be-
kannt?
Ueber das zweite Gapitel kann ich mich
kurz fassen. Es ist überschrieben: De Erasmi
gtudiis ante ortum Lutheri certamen pacis causae
dicatis und handelt über die in den politischen
und geistigen Kämpfen bewährte Friedensliebe,
über das erstere mit Zugrundelegung der eben
besprochenen erasmischen Schrift, über das letz-
tere mit Benutzung der von Erasmus im Reuch-
linschen Streit geschriebenen Briefe. Es ist
eine zwar nichts Neues bietende, aber ganz
fleissige Zusammenstellung, in der es nur auf-
fällig erscheint, dass der Verf. sich mit ängst-
licher Sorgfalt der Citation irgend welcher Be-
arbeitungen enthält, ein Verfahren, das an und
fur sich nicht zu missbilligen, leicht als Prun-
ken mit fremder Gelehrsamkeit gedeutet werden
könnte.
Das dritte Capitel (S. 19-46) handelt
De Erasmi studiis irenicis post natam Lutheri
causam apparentibus und erzählt, dass Erasmus
sich anfänglich Luthers Ideen zugeneigt, aber
gegen die Art seines Auftretens Abneigung ge-
230 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
zeigt habe, dass er dem ungestümen Vordringen
der Einen und der heftigen Gegenwehr der An-
dern gegenüber immer nachdrücklicher Ruhe
und Mässigung gefordert habe. Da seine Rath-
schläge aber weder von Lather noch von den
Katholiken befolgt wurden, so zieht er sich im«
mer mehr zurück. Denn dem Friedensapostel
mussten die Mittel, welche die Anhänger der al-
ten Richtung gegen die neue Lehre brauchen
wollten, bassenswerth und auch das von dem
kirchlichen Oberhaupt verhängte Strafdekret,
die päpstliche Bannbulle, ungehörig erscheinen;
als das einzig richtige Verfahren auf dem Worm-
ser Reichstage, auf welchem die Sache zur Ver-
handlung kommen sollte, dünkte ihm, dass die
ganze Streitfrage einigen unbescholtenen und
gelehrten Schiedsrichtern zur Entscheidung über-
geben würde. Die Schilderung der Thätigkeit
des Erasmus über diesen Punkt, die, soviel ich
weiss, früher noch nicht recht ausgeführt wor-
den ist, bildet einen hübschen Abschnitt in der
Arbeit des Verf.: das Streben, Rathschläge zu
ertheilen, die Sache in ruhige Geleise zu brin-
gen, und dabei doch der sehnsüchtige Wunsch,
sich nicht zu compromittiren , im Hintergründe
zu bleiben und von dort aus zu wirken. Und
als in Worms seine Rathschläge nicht befolgt
wurden, wendet er sich wieder nach Rom in
dem sehr bekannten Briete an Papst Adrian
und zieht sich, nachdem er auch dem neuge-
wählten Papst Clemens VII. einen die friedliche
Ausgleichung anrathenden Brief geschrieben, der
aber wie die früheren nicht beachtet wurde,
von dem Versuch einer Einwirkung auf die be-
stimmenden Mächte zurück. Auch hört er in
der nächsten Zeit fast gänzlich auf, schrift-
stellerisch seine früher geäusserten Ansichten zu
r
Woker, De Erasmi Roterodami stud, irenicis. 231
vertreten, denn die Schrift, welche er in Form
einer Unterredung zwischen dem Lutheraner
Trasymachus, dem Katholiken Eubulus und dem
Schiedsrichter Philalethes herausgeben und in
der er zeigen wollte, wie auf friedlichem Wege
eine Reformation hergestellt werden könnte, hat
er nicht geschrieben. Erst als in den letzten
Jahren des dritten Jahrzehnts des 16 ten Jahr-
hunderts Luther und einzelne Führer seiner
Partei fur eine kurze Zeit den Muth sinken
Hessen, die Gegenpartei dagegen stolz das Haupt
erhob und durch die heftigen Drohungen, welche
sie in ihrer Siegesgewissheit ausstiess, ahnen
Hess, welches Schicksal sie bei wirklich errun-
genem Sieg ihren Feinden bereiten werde,
glaubte er wieder das Wort ergreifen zu müssen,
aber jedem öffentlichen Auftreten feind gewor-
den, vermied er selbst in Augsburg (1530) zu
erscheinen oder dem Kaiser mit seinen Rath-
schlägen zu nahen, sondern begnügte sich, dem
Cardinal Campegius und Melanchthon das mit-
zutheilen, was er zu thun für gut fand. Waren
bisher alle seine an geistliche und weltliche
Fürsten gegebenen Rathschläge unbefolgt ge-
blieben, so hatte er in seinen letzten Jahren
einmal das Glück, dass ein Fürst, der Herzog
von Jülich, seinen Worten Gehör schenkte und
nach den von Erasmus gegebenen Winken die
von ihm in seinem Lande gegebene Kirchenord-
nung verbesserte. Diesem ersten Schritte einer
wirklichen öffentlichen Wirksamkeit folgten aber
keine weiteren (denn ob das Bruchstück eines
Briefes, das, wie der Verf. nachweist, nach Augs-
burg gerichtet, gleichfalls zur Beilegung religiö-
ser Streitigkeiten der beiden Parteien bestimmt
war, von irgend welchem Erfolge begleitet war,
ist mehr als zweifelhaft), sondern Erasmus be-
232 Gott, gel Anz. 1873. Stück 6.
gnügte sieb seitdem damit, seine Ansichten mit
solchen gleichgesinnten Freunden auszutauschen»
welche sich auch in der theologischen Literatur
einen nicht unbedeutenden Namen erworben ha-
ben, mit Julius Pflug, dem Bischof von
Naumburg, und Georg Wicel, dem vielseitig
begabten Schriftsteller, der freilich während sei-
nes Lebens als Apostat von den Protestanten
heftig verfolgt wurde, und fasste in einer Schrift,
gleichsam einem an die Nachwelt gerichteten
Yermächtniss , endlich seine Anschauungen zu-
sammen: »De sarcienda ecclesiae concordia
deque sedandis opinionum dissidiisc, in welcher
er die Uebel der Zeit nochmals in lebendiger
Weise schilderte und deren Heilung in der schon
früher oft empfohlenen Weise einflussreichen
Männern ans Herz zu legen versuchte.
Diesem ganzen Capitel, das einen wichtigen
Gegenstand allerdings nur von einer Seite,
aber klar und gründlich behandelt, kann ich
meine volle Zustimmung nicht versagen. Es
setzt einfach und schlicht die vielfältige Schrift«
stellerische und praktische Thätigkeit des Eras-
mus auseinander, hält sich fern von allen über-
flüssigen Deklamationen und folgt strenge dem
chronologischen Gange der Ereignisse, dem ein-
zig richtigen Wege, um in dieser für die Wür-
digung des Erasmus wichtigen Frage die nöthige
Klarheit zu erlangen.
Den Schluss macht ein Exkurs: De origine
ordinationum quas dux Juliacensis ann. 1532 et
1533 evulgavit, in welchem eine bereits in der
Abhandlung angedeutete Frage weiter ausge-
führt wird.
Um auch einige Einzelheiten hervorzuheben,
so bemerke ich zu S. 2, dass das Moriae en-
comium zwar in England vollendet wurde, dass
Woker, De Erasmi Roterodami stud, irenicis. 238
sieh Erasmus aber bei dessen Erscheinen Dicht
mehr dort befand; zu S. 5 A. 1, class ein Gitiren
der Epistolae obsc. vir. nach einer Frankfurter
Ausgabe von 1757 jetzt, bei dem Vorhandensein
neuer, guter und allgemein bekannter Ausgaben
ungehörig ist; zu S. 6 A., dass es nach den in
letzter Zeit vielfach geführten Untersuchungen
durchaus keines Nachweises mehr darüber be-
darf, dass die Lamentationes obsc. vir. wirklich
von den Kölnern verfasst worden sind. In der
Polemik gegen das Stiohartsche Buch (vgl. 7, 1 ;
20, 10; 21, 4; 26, 2) geht der Verf. vielleicht
manchmal etwas zu weit, aber im Wesentlichen
ist seine Beurtheihmg auch die meinige (vgl.
G. G. A. 1870 p. 1721—1730). Der Satz S.
19: Non ita multum post Lutheri ortam causam
foedus inter eum et Reuchlinistas factum est ist
in dieser Allgemeinheit nicht richtig, ebenso-
wenig die Behauptung (1. c), dass Luther vor
seinem öffentlichen Auftreten gegen den Ablass-
handel dem Erasmus unbekannt gewesen sei,
denn bei den nahen Beziehungen beider Männer
zu dem Erfurter Kreise wird wohl auch die
Kunde von dem Wittenberger Professor zu Eras-
mus gedrungen sein.
Das angezeigte Schriftchen, dem, nach den
Scblus8Worten zu schliessen, vielleicht eine grössere
Ausarbeitung folgen wird, ist ein willkommener
Beitrag zur Erkenntniss des Erasmus.
Berlin. Ludwig Geiger.
Entstehung und Entwickelung der geistli-
chen Schauspiele in Deutschland und das
Passionsspiel im Ober- Ammergau. Von Emil
Knorr. Leipzig und Lissa Scheibeische Buch-
handlung. 1872. 151 SS. gr. Oct.
Das uns zur Besprechung vorliegende Bach-
284 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 6.
geht auf zwei Vorträge zurück, nach persönli-
cher Anschauung und den vorhandenen Quellen,
wie es auf dem Titel heisst, zum Besten der
Kaiser-Wilhelm-Stiftung für deutsche Invaliden
des Feldzugs 1870/71 gehalten. Wenn auch
einige Stellen mehr den Freund, als den tieferen
Kenner dieses Literaturzweiges verrathen, so ist
doch in der Hauptsache eine richtige Auffassung
und gefallige Anordnung des Stoffes nicht zu
verkennen, und kann Ref. einem Buche, das
ohne selbstständige Forschung doch von leben-
diger Aneignung und warmer, fast begeisterter
Auffassung eines so edlen und wichtigen cultur-
historischen Thema's zeugt, nur die verdiente
Verbreitung wünschen. Auch können wir dem
Herrn Verfasser nur Glück wünschen zu der
Energie, mit der er am Schluss (S. 151) sich
gegen den sittlichen Unwerth unserer modernen
Bühnen-Literatur wendet, und den auf dem
Kriegstheater so glänzend geschlagenen bösen
Feind unseres Vaterlandes*) auch aus den Schlupf-
winkeln der Bretterbühne zu treiben versucht.
Bei dem Interesse, welches das in Rede
stehende Gebiet neuerdings beansprucht, wird es
erlaubt sein, hier einige andere Arbeiten auf
demselben Felde noch kurz zu erwähnen. Ab-
gesehen von den noch immer sich mehrenden
Monographien über das Ammergau er Passions-
spiel, ist es zunächst eine Schrift des Herrn
Prof. Bechstein in Rostock: das Spiel von
den zehn Jungfrauen, ein deutsches Drama des
Mittelalters (Rostock, Ernst Kuhn 's Verl. 1872,
58 SS.), die ich zu nennen habe. Ursprünglich
als Vortrag gebalten ist auch diese Arbeit zu-
nächst fur weitere Kreise bestimmt, doch ist in
*) Herr Knorr bezeichnet sich als Hauptmann in der
Armee.
Knorr, Entst. u.Entwick. d. geistl. Schausp. etc. 235
den nachgeschickten Anmerkungen auch anf das
gelehrte Interesse in neuanregender Weise Rück-
sicht genommen. Ebenso ist auch die Schrift
des Herrn R. P. W ü 1 c k e r : Das Evangelium
Nicodemi in der abendländischen Literatur (Pa-
derborn, Verlag von F.Schöningh 1872 101 SS.)
eine recht dankenswerthe, das geistliche Spiel-
gebiet zwar nur indirect, aber durchaus nicht
unwesentlich berührende Arbeit. Derartige
ezacte Specialuntersucbungen mögen Einiges,
was Ref. in seiner Gesch. der geistl. Spiele in
Deutschland*) über das Verhältniss dieser dra-
matischen Literatur zu den kirchlichen Quellen
natürlich nur in einer mehr allgemeinen Weise
bemerkt hatte, zu modificiren Anlass finden,
doch scheinen mir die Differenzen meines Stand-
Eunkts von dem des Herrn Wülcker theils uner-
eblich, theils noch unentschieden. Wenn ich
S. 184 mich dahin ausgesprochen, dass die deut-
schen Spielredactoren die Apokryphen sehr dis-
cret benutzt hätten, so lag mir dabei nament-
lich die Vergleichung des deutschen mit dem
franz. und engl. Weibnachtspiel vor, und ich
glaube, dass die gründlichste Nachprüfung hier
nur wird zustimmen können* Reichere Einwir-
kung der Apokr. findet sich bei uns in diesem
Falle eigentlich erst in den letzten Ausläufern,
und kommt hier namentlich die »schöne christ-
liche Action yon der Geburt . . . Jesu Christie
des Joh. Cuno aus dem Jahre 1595 (vergl. Wein-
hold W. Sp. S. 174, meine geistl. Spiele S. 61)
in Betracht. Li den andern Spielkreisen wird
das Verhältniss nicht wesentlich anders sein:
fur das Evang. Nicodemi Hesse sich bei dem
gehaltnen und ernsten Character dieses pseude-
pigraphen Buches am ehesten eine Ausnahme-
*) Vergl. G. G. A. 1872 St 5.
23$ Gott. gel. Anz. 1873. Stück 6.
stellang annehmen, doch sind auch hier die mei-
sten der von Herrn Wülcker nachgewiesenen An-
klänge eben nur Anklänge und einzelne Remi-
niscenzen, die überdies hier und da zweifelhaft
bleiben*). Ein so behagliches Ausbeuten der
Pilatusacten und des Descensus aber, wie wir es
in der epischen Dichtung schon im 12. Jahrh.
(z. B. in der Urstende des Eonrad von Heimes«
fürt) finden, ist dem älteren geistl. Spiel durch-
aus fremd; etwas Aehnliches tritt hier erst mit
dem 14. Jahrb., aber auch dann nicht in dem
Grade ein. Der Gang Setbs nach dem Para-
diese (Ev. Nicod. IV) wird übrigens nicht nur
in dem Bedentiner Spiel, sondern ausführlicher
in dem nd. Schauspiel, das von Schönemann als
»Sündenfall« edirt ist (Han. 1855) v. 1326 fg.
vorgeführt, wobei zweifelhaft bleibt, ob der Verf.
hier zunächst das nd. sog. Hartebdk oder eine
andere Quelle benutzt hat. Weitere Benutzung
dieser Episode des Et. Nicod. weist Schönemann,
der sie als solche zwar nicht erkannt zu haben
scheint, in der Einl. S. IX Anm. nach. — Be-
züglich des Verhältnisses der geistl. Spiele zu
den kirchlichen (kanonischen wie apokryphen)
Quellen bittet Bef. jetzt übrigens auch seine
Brochure: Ueber die kritische Behandlung der
geistl. Spiele (Halle 1873 Verlag der Buchh. des
Waisenhauses) zu vergleichen. — Endlich sei
hier noch bemerkt, dass S. 264 meiner geistl.
*) In den Fragmenten ans Muri (vergl. Wüloker 8.
69) will ich eine Anlehnung an das Ev. Nicod., mochte
sie auch nur unbewusst geschehen sein, nicht bestreiten
— aber braucht man animal in amme (Plnr.) tu andern»
weil die betr. Rede im 8inne von Mehreren gehalten ißt?
Wenn ich anima lesen wollte, so meinte ich nicht, dass
nur eine Seele in der Hölle geweilt habe, sondern dass
una pro ceteris das Wort ergriffen habe. Auf die Er-
klärung des 1 in animal lege ich aber kein Gewicht.
Carridre, De Psalterio Salomonis etc. 237
Spiele die Wendung über die Verpönung der
geistl. Spielübung in Berlin nicbt ganz correct
ist. Aus den zu Grunde liegenden Documenten
(vergl. ebendort Anm. 1 und 2) erhellt, dass
die Initiative durchaus von der churfürstl. Regie-
rung ergriffen wurde, und die Geistlichkeit nur
einen ziemlich passiven Consens gab. Es war
demnach auch hier*) wesentlich die Staatsge-
walt, welche die freiere Cultusform inhibirte,
nicht die protestantische Kirchenform als solche;
R Wilken.
De Psalterio Salomonis disquisitionem histo-
rico-criticam scripsit Augustus Car ri ere
Luneraco-Caletus. Argentorati ezcudebat J. H.
Eduardus Heitz, MDGGCLXX. 50 S. in 8.
Diese kleine aber inhaltreiche Schrift war im
J. 1870 eben fertig gedruckt um zu einem öfient-
lichen Doctoracte in Strassburg zu dienen, als
der Krieg losbrach und ihr Verf. sehr schmerz-
lich in ihn und seine Folgen verflochten wurde.
Erst jetzt, nachdem er in Paris an der JScole
des hautes etudes eine seinen Kenntnissen und
Bestrebungen entsprechende Anstellung als Pro-
lessor gefunden hat, findet er Gelegenheit sie zu
veröffentlichen. Sie verdient dies auch wegen
ihrer wissenschaftlichen Vorzüge vollkommen ;
und sollte sie die letzte der alten Universität
Strassburg werden, so muss man sagen dass diese
mit keiner besseren ihr Leben beschliessen konnte.
Sie betrifft ein altes Buch welches erst in
unsern neuesten Zeiten mit Sorgfalt untersucht,
nun auch in der Reihe der Apokryphen des A. Ts
wohin es gehört und sonst schon einige Male neu
gedruckt ist. Unsre Leser kennen den neuesten
Stand der schwierigen geschichtlichen Untersu-
chung welche sich um dieses merkwürdige kleine
*) Wie später in Baiern und Gestenreich.
238 Gott, gel Anz. 1873. Stück 6.
Buch drehet, aus der Beurtheilung der grösseren
Schrift des Katholischen Geistlichen Geiger
über es, welche in die Gel. Anz. 1871, S. 841 —
850 aufgenommen wurde. Gegen diese Schrift
Geiger' s gehalten ist die des Dr. Garriere ob-
wohl erst jetzt erscheinend zwar die ältere: allein
sie enthält vieles sehr richtige und nützliche,
was man in jener vergeblich sucht; und man
wird sie jedenfalls mit Theilnahme und vielfacher
Belehrung lesen. Dennoch bedauern wir in Be-
zug auf die geschichtliche Frage welche das kleine
Buch an uns stellt, den Verf. mit Hrn. Geiger
den Irrthum theilen zu sehen alsob es erst durch
Pompeju8' Eroberung Jerusalem's veranlasst sei.
Der Unterz. hat (was dem Verf. unbekannt ge-
blieben war) wiederholt in den jüngsten Zeiten
d&rauf hingewiesen das Buch müsse durch Pto-
lemäos' I. Eroberung Jerusalem's veranlasst, dem-
nach auch bedeutend älter sein als man seit
Movers gewöhnlich meinte. Wir wollen dieses
nun hier in Bezug auf dieses neue Werk noch
etwas weiter ausführen.
Die Zustände der Zeit aus welchen diese Lie-
der hervorgingen, werden^. 17, 5 — 22 undeut-
lichsten d. i. am ausführlichsten geschildert:
und was sonst in ihnen in Bezug darauf sich fin-
det, stimmt mit diesen deutlichsten Hinweisungen
vollkommen überein. Nun ist aber unverkennbar
dass die erste Wende hier v. 5 — 12 über Heiden
klagt welche gewaltthätig und zerstörerisch da
die Herrschaft an sich rissen wo nur Israel nach
den damals wieder sehr regsamen Messianischen
Hoffnungen unter dem verheissenen Messias dem
Davidssohne herrschen sollte. Nur dieser grosse
Gegensatz zwischen Heiden und Israel trägt in
diesem Gebete alles: und otg ovx htiiyystXto v. 6
vgl. 7,9. 12,8 die welchen du (Gottl) keine
Verheissung gabst dass sie das Land be«
r
Carrier e, De Psalterio Salomonis etc. 23ft
sitzen sollten die es aber dennoch gewaltthätig
an sich rissen, sind eben die Heiden. Aber diese
sind es auch welche nach y. 7 vor Uebermnth
das Reich wie es nach v. 5. 8 in diesem Lande
sein sollte, nicht so achteten und würdigten wie
es sein sollte : denn unstreitig fehlt v. 7 (ähnlich
wie v. 22) ein ovx vor ifovro, und ßaotlsiccv be-
zieht sich auf v. 5 zurück, wie es sogleich v. 8
weiter erläutert; die Lesart ßaotXswv welche man
im cd. Vindob. gefunden hat, kommt sofern sie
die Krone d. i. die Herrschaft bedeuten kann,
auf dasselbe zurück, ist jedoch dichterischer, und
mag deshalb ursprünglicher sein. — Wenn sich
dann aber in der zweiten Hälfte dieser Wende
von v. 8b an (die Versabtheilung ist hier sehr
übel) die Rede zur Hoffnung und Bitte hinwen-
det, so tritt da Ptolemäos Lagü so sichtbar als
möglich als der damalige Eroberer Jerusalem's
hervor, indem gehofft wird Gott werde die be-
schriebenen Heiden dadurch strafen dass er »einen
dem Heldengeschlechte fremden Mann gegen sie
sich erheben« und sie durch Bürgerkriege zer-
fleischen lassen werde. Wir meinen nämlich dass
man für das vollkommen sinnlose fjQittür noth-
wendig tiQwoav lesen müsse: keine Verbesserung
liegt auch den Buchstabenzügen nach näher;
aber auch das Jj/t*wv des Cd. Vindob. konnte
leicht aus der richtigen Lesart durch zu flüchti-
ges Lesen entstehen. Das Heldengeschlecht ist
das Alexanders: dieses war im J. 320 vor Chr.
noch nicht erloschen, sondern das nach dem
menschlichen Rechte zum herrschen berufene;
Ptolemäos Lagü aber gehörte nicht zu ihm, son-
dern war wie alle die damals um die Weltherr-
schaft streitenden Diadochen ein blosser Empor-
kömmling. Und so war damals die Hoffnung
nicht ohne Anhalt dieser streitbare Emporkömm-
werde durch den Krieg selbst die Herr*
240 Gott, gel Anz. 1873. Stück 6.
schaft der Heiden brechen, wie einst Kyros
das Babylonische Reich zertrümmert hatte.
Wenn sodann derselbe doppelte Inhalt dieser Wende
sich in allen folgenden Zeilen v. 13—61 nur viel ausführ-
licher wiederholt und in der nächsten Wende v. 13—22
die Zerstörung Jerusalem's und des Volkes wie es damals
war weiter beschrieben wird, so liegt darin nichts was
nicht vollkommen auf dieselbe Zeit paaste. Und von selbst
versteht sich dann dass unter den westlichen Lan-
d em (Jvaftafy v. 14 die Afrikanischen mit dem damals
schon gegründeten aber besonders auch durch Judäische
Gefangene bevölkerten Alexandrien gemeint werden. Zu
bedauern ist freilich dass die rein erzählenden Nachrich-
ten über jene Eroberung und harte Behandlung Jerusa-
lem's durch den ersten Ptolemäer welche wir jetzt noch
haben, sehr kurz lauten: dies erklart sich jedoch leicht
daraus dass wir von den ebenso wüsten als weit und breit
entzündeten Diadochenkämpfen überhaupt jetzt nur sehr
unvollkommne Erzählungen besitzen; und für Jerusalem
kommt noch besonders hinzu dass man durch den bald
folgenden grossen Umschwung der Dinge dort schon nach
einigen Jahren Ursache hatte das Andenken an diese wü-
sten Zwischenereignisse möglichst auszutilgen; denn es
folgten die langen Zeiten wo man sich zu Jerusalem un-
ter der Ptolemäischen Herrschaft noch am meisten wohl
befand. Allein die Hülfsmittel die für den Augenblick
sehr hohe Bedeutsamkeit jener Eroberung Jerusalem's
richtig zu würdigen, häufen sich dennoch jetzt immer
mehr: wie wir auf die dazu sehr diensame neuliche Hie-
roglyphen-Entdeckung im vorigen Jahrgange der Geh
Anz. 8. 1579 f. hinwiesen.
Wird nun auch der sogenannte Psalter Salomo's in
seine richtige Zeitfrist gerückt, so wird damit wiederum
eine Lücke sehr nützlich ausgefüllt und ein neuer voll-
erhaltener Ring gewonnen um auf dem weiten Stabkreise
der Geschichte keine solche Lücke zu lassen. DaBs das
Bücheichen aber noch verhältnissmässig alt sein muss
und nicht viel jünger als der kanonisch gewordene Psalter
sein kann, erhellt auch aus den ihm beigefugten Bei-
schriften welche ganz denen dieses Psalters gleichen und
an die Uebersetzung desselben durch die LXX erinnern.
Wobei wir nooh kurz bemerken dass das rilog welches
sich in cd. Aug. am Ende von V» 9 findet, wahrschein-
lich aus *k fo tilog = ijäfcJJO^ verkürzt ist und demnach
ursprünglich als Ueberschrift zu y>. 10 gehörte. H. S.
241
Gft U in gi s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König]. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 7. 12. Februar 1873.
Martensen, H., Dr. theol., Bischof von
Seeland: Hirtenspiegel. Zwanzig Ordinations-
reden. Deutsch von AI. Michelsen, Prediger.
Autorisirte Ausgabe, 1. Sammlung, Gotha, G.
Schloessmann, 1870. 193 Seiten. 2. Sammlung,
ebendas. 1872. 224 Seitten.
Dies nunmehr mit dem 2. Bande abgeschlossene
Werk des berühmten Dogmatikers hat keinerlei
wissenschaftliche Form und konnte sie nicht ha-
ben. Was es bietet, sind, wie schon der Titel
sagt, Amtsreden, welche der Verf. in seiner Eigen-
schaft als Bischof von Seeland und zwar bei
feierlichen Gelegenheiten gehalten hat, und da
versteht es sich von selbst, dass Ton und Form
nur erbaulich sein konnte. Nicht deduciren und
entwickeln konnte hier der Redner, nicht in
folgerechten Schlussformen ein wissenschaftliches
System in Beziehung auf seinen Gegenstand,
aufbauen, sondern das Wissenschaftliche musste
hier höchstens als Voraussetzung gelten und
des Redners Aufgabe war mehr die des Er-
xmerns und des Ermahnens auf der Grundlage
19
242 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 7.
einer bereits gewonnenen gemeinschaftlichen
Ueberzeugung, als die des Begründens einer sol-
chen Ueberzeugung selbst. Namentlich aber
gegenüber denen, welchen zuerst diese Beden
gegolten haben, den nach vollendeten wissen-
schaftlichen Studien in ihr Amt einzuweisenden
und auf dasselbe zu verpflichtenden Pastoren,
wäre ein Dociren in solchem Munde noch viel
weniger angebracht gewesen, als gegenüber einer
Gemeinde, der die Predigt doch auch immer
noch neue Erkenntnisse vermitteln soll. Aber
wenn es denn daher nun auch durchaus unan-
gemessen wäre, den Massstab strenger Wissen-
scbaftlichkeit an diese vom Moment erzeugten
Erbauungsreden zu legen, so hat doch gleich-
wohl die Wissenschaft hier ihr Amt zu thun
und zu fragen, ob diese Reden denn nun auch
wirklich den Boden der Wissenschaftlichkeit un-
ter den Füssen haben. Müssen gerade sie nach
Form und Ton auch wohl ganz erbaulich sein,
so ist doch auch gerade von ihnen noch viel-
mehr, als von anderen Erbauungsreden zu for-
dern, dass sie auf der Höhe der Wissenschaft
sich halten ; und namentlich dass sie den Gegen-
stand, um den sie sich bewegen, »das geistliche
Amte, das »Amt des Hirten c, wie der Verf. es
gern nennt, in dem Lichte geläuterter Erkennt-
nis8 betrachten, wie sie die wirklich wissen-
schaftlichen Forschungen an die Hand gegeben
haben, das ist eine Forderung, die wir ganz un-
bedingt auch an ein Erbauungsbuch, zumal bei
solcher Veranlassung und von solchem Verf. ge-
schrieben, stellen dürfen.
Aber da darf denn nun auch anerkannt wer-
den, dass dieser Forderung hier vollauf Genüge
geschehen ist. Wir greifen aus der ganzen
Reihe von vierzig Beden nur diejenigen heraus,
Martensen, Hirtenspiegel. 248
welche sieh ganz besonders mit des geistlichen
Amtes Bedeutung und Stellung in der Gemeinde,
also mit den Fragen befassen, über welche in
unseren Tagen hauptsächlich der Streit der
Parteien geführt worden ist ; aber gerade da ist
es denn eine Freude, zu sehen, wie der Verf.
allemal den Punkt zu treffen vermag, auf den
ee ankommt, und wie er, ohne die Stellung des
Pastors über ihr natürlich ihr zukommendes
Mass zu erheben, doeh aber auch weit davon ent-
fernt ist, dieselbe herabdrücken zu lassen und
sie der Bedeutung zu entkleiden, welche ihr der
Natur der Sache nach gebührt. Von jenen
Uebertreibungen, welche in einer gewissen Partei
der lutherischen Kirche in jüngsten Zeiten zum
Vorschein gekommen sind und die man vor dem
Vorwurfe hierarchischer Ueberhebung nach Art
der papistischen Kirche kaum in Schutz nehmen
kann, finden wir bei dem Verf. keine Spur; im
Gegentheil, gleich die erste Rede ist dazu an*
gethan und angelegt, hier den Verirrungen der
genannten Art einen festen Damm entgegen zu
setzen. »Unseres Amtes zu warten«, heisst es
da mit recht scharf accentuirten Worten, »dazu
gehört vor Allem, dass wir uns bewusst werden
und wohl darauf achten, was des Herrn Wille
sei in Betreff dieses Amtes, dass wir die Be*
deutung, die es für die menschliche Gemein-
schaft hat, wohl erwägen, insbesondere aber
beherzigen, dass es ein Amt des Dien ens ist
und nicht des Herrschen s, nach dem Vor-
bilde des Heilandes, welcher selber nicht ge-
kommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern
dass *er diene und gebe sein Leben zu einer
Erlösung fur Viele«. »Es hat«, heisst es da
weiter, »eine Zeit in der Kirche gegeben, da
user Amt ale ein Herrscheramt sieh geberdete
244 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
und sogar die höchste Gewalt und Autorität in
der menschlichen Gesellschaft ausübte, da die
Leute im Allgemeinen des Wahnes lebten, Got-
tes Thron sei vom Himmel auf die Erde verlegt,
der heil. Geist und seine Segnungen seien ein
für alle Mal an den Priesterstand gebunden,
da die Glieder dieses Standes als Mittler zwi-
schen Gott und den Menschen auftraten, und
ihre Gewalt sich nicht auf geistliche Dinge
allein, sondern auch auf die weltlichen erstreckte,
sogar über die Königreiche dieser Welt sich die
Herrschaft anmasste und möglichst zur Geltung
brachtet. Allein von solchen Dingen will der
Verf. ganz und gar Nichts wissen. »Wir wol-
lene, sagt er, »Gott von ganzem Herzen dan-
ken, dass unser Amt diese Bedeutung nicht
mehr hat, welche ihm niemals von dem Herrn,
sondern nur von Menschen beigelegt war, wir
wollen Gott danken, dass wir unsers Amtes in
der evangelischen Kirche zu warten haben,
welche in allen Dingen auf das Evangelium zu-
rückgeht, welche uns lehrt, dass nur ein Mitt-
ler ist zwischen Gott und den Menschen, Jesus
Christus, welche das allgemeine Priesterthum
aller Gläubigen, die Gleichheit aller Christen
vor unserm Gott und Heilande predigt, jeden
Christen, auch den schlichtesten, zu Gottes
Wort in der heil. Schrift ladet, damit er nach
Gottes Wort und Gewissen unsre Rede selbst
prüfe, durch lebendigen Herzensglauben zur
Gemeinschaft Christi, zu dem Geheimniss der
Versöhnung persönlichen Zugang habe und dem
Höchsten geistliche Opfer, Opfer des Gebetes
und der Liebe durch Jesum Christum bringe«.
Das ist denn freilich etwas wesentlich Anderes,
als was Andre in unseren Tagen von dem
»Gnadenmittelamte« gemeint haben lehren zu
Martensen, Hirtenspiegel. 245
Bollen. Nach Martensens nüchterner und doch
tiefsinniger Auffassung ist des Eirchenamtes
Aufgabe das Evangelium zu predigen und die
Sakramente stiftungsmässig zu verwalten» aber
immer hat es das allgemeine Christenthum zur
Voraussetzung und ist ein Amt in der Gemeinde,
nicht über derselben, zum Dienste an ibr,
nicht sie zu beherrschen und an Stelle Gottes
und Christi die Gnade zu spenden. So tritt es
auch in den anderen Beden, die dies Thema be-
handeln, deutlich hervor, z. B. I, 8; II, 4;
II, 16; n, 19. u. a. a. 0., und immerfort hat
der Redner diese evangelischen Grundüberzeu-
gungen zur Voraussetzung.
Aber damit ist er nun doch weit entfernt,
dem Amte des Predigers irgend etwas von dexa
zu vergeben, was ihm zukommt: das allgemeine
Priestertbum macht das besondere Amt nicht
überflüssig, und einen Zustand der Kirche, wo
Jeder sich aufwerfen könnte Lehrer zu sein,
will der Verf. ganz und gar nicht geduldet wis-
sen. Auch ist der »Hirte« wohl ein Diener an
und in der Gemeinde, aber nimmermehr in der
Weise, dass derselbe von der Willkür der Ge-
meinde abhängig sein und seine Predigt nach
ihrem Wünschen und Gutdünken einrichten müsste.
Der Prediger ist zunächst und zu oberst »Die-
ner Jesu Christi« und nur als solcher hat er
den Dienst in der Gemeinde, und das ist so
sehr der Fall, dass es geradezu das Amt ver-
untreuen hiesse, wollte er in seiner Amtsführung
sich von der Willkür der Gemeinde abhängig
machen, »Menschen zu gefallene reden und han-
deln. Hier sind es denn allerdings sehr gewichtige
Wahrheiten, welche der Verf. anderen Richtungen
unsrer Zeit entgegen hält, denen, welche mei-
nen, dar Prediger sei nur Organ der Gemeinde
$46 Gott. gel. Ans. 1873. Stuck 7.
und nur dazu da, auszusprechen, was das Be-
wusst8ein der jeweiligen christlichen Gemein-
schaft füllte, und Ref. kann nicht umhin, seine
Freude darüber auszudrücken, "dass auch eben
dies einmal in der hier vorliegenden Weise zur
Sprache gekommen ist. Recht sehr möchte er
wünschen, dass namentlich das in Samml. I, 8
und Samml. II, 4 Gesagte eingehend erwogen
und beherzigt würde: es könnte das doch zur
Beseitigung so mancher Unklarheiten dienen,
die jetzt noch bei der sog. liberalen Richtung
sich finden und die nicht weniger zu Verwirrun-
gen und Verirrungen Anlass geben, wie die
hierarchischen Velleitäten auf der anderen Seite.
Sonst möchte Ref. noch aufmerksam machen
auf Samml. II, 1 : »Das Neue und das Alte in
der Predigt des Evangeliums« als auf eine
überaus geistreiche und sinnige Behandlung des
sonst nicht eben sehr leichten Textes Matth. 1 3,
52, der aber für eine Ordinationsrede überaus
passend ist, und eben so auf II, 11: »Die ge-
sunde Lehre«, und II, 13: »Das Salz der Erde«.
Doch hebt Ref. diese Stücke nur heraus, weil sie
ihm besonders gelungen zu sein scheinen, nicht
aber um die anderen dadurch in Schatten zu
stellen. In ihnen allen ist des Predigtamtes
verantwortungsvolle Bedeutung auch für unsre
Zeit recht und in einer überaus ansprechenden
und verständlichen Form in' a Licht gestellt, und
es möchte das besonders verdienstlich sein in
einer Zeit, wo man, wie der Verf. selbst an«
deutet, nach der entgegengesetzten Seite im
Vergleich zu früheren Jahrhunderten abzuwei«
eben nur zu sehr geneigt ist. Hatte man früher
des geistlichen Amtes Stellung und Bedeutung
übertrieben, so möchte man sie jetzt um so
mehr herabsetzen, als ob dasselbe ganz ent-
Martensen, Hirtenspiegel* 247
behrlich sei und auch wirklich bald abgethan
werden müsste; aber jedenfalls ist der eine Irr-
thum so schlimm, wie der andre, nnd es ist
gut, dass hier einmal mit recht nüchternem
Ernste das Sichtige gezeigt worden ist, zumal
das, was der Verf. zeigt, auch in der That als
richtig einleuchten muss. —
Weniger befriedigt sind wir denn freilich
durch Einzelheiten, mit denen wir nun einmal
nicht übereinstimmen können. So redet der
Verf. z. B. von der »Nationalität« fast so, als
ob da ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen
Christenthum und Nationalität bestände, wenig-
stens klingt es so, als sähe er auf die Bestre-
bungen, den Nationalitäten Geltung zu verschaf-
fen, mit einer gewissen Missachtung herab. Aber
eben da dürfte es denn doch erwünscht gewesen
sein, dass die Verhältnisse ein wenig eingehen-
der durchdacht und tiefer erforscht worden
wären. Vielleicht haben wir uns die Auslassun-
gen des Verf. hier daraus zu erklären, dass
allerdings in seiner Heimath Dänemark mit dem
Nationalitätsstreben ein nicht gerade erquickli-
ches Spiel getrieben worden ist; aber das sollte
doch nicht zu Einseitigkeiten verleiten. Und
eben so hätten wir einzelnen Widerspruch ge-
gen das in Beziehung auf die Union Gesagte
auf dem Herzen, II, 14: »Unser evangelisch-
lutherisches Bekenntnisse. Es ist ganz recht,
dass die Stellung der evangelischen Kirche gegen-
über dem Papismus noch ganz dieselbe sein
muss, wie im 16. Jahrhundert, ja, dem »Infalli-
blenc zu Rom gegenüber wohl gar noch um
ein bedeutendes geschärft; aber ob die Spannung
zwischen den beiden Reformationskirchen noch
irgend welchen Grund der Fortdauer habe, das
ist denn doch zweifelhaft. Was der Verf. als
248 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
die wesentlichen Eigentümlichkeiten der luthe-
rischen Kirche nennt, das sollte man doch auch
bei der reformirten nicht vermissen. Doch das
sind Einzelheiten, und im Allgemeinen kann
die Bedeutung des Werkes dadurch nicht be-
einträchtigt werden. Sei es denn zu allseitiger
Erwägung empfohlen I F. Brandes.
D. Francisco Garcia Ayuso, El estudio de
la filologia en su relacion con el Sanskrit.
Madrid 1871. 8°. X, 376 S.
Dieses Werk enthält weit mehr als sein Titel
erwarten läset, nämlich nicht weniger als eine
Art von Encyclopädie der gesammten Sprach-
wissenschaften, die mit seltener Sprachenkennt-
nis8, mit einer überraschenden Belesenheit in
der Fachliteratur (das angehängte Register der
benutzten Werke .zählt deren 371 auf, die nicht
etwa aus gelehrter Prunksucht zusammengestellt,
sondern fortlaufend im Texte verwerthet sind)
und mit im Ganzen gesundem Urtheil abgefasst
ist. Und zu so hervorstechenden Eigenschaften
der die Spuren solider deutscher Universitäts-
bildung tragenden Arbeit kommt hinzu, dass sie
die erste ihrer Art in Spanien ist, da die spa-
nische Sprachforschung seit Herväs geschwiegen,
da sie an der Begründung der sogen, indoger-
manischen oder vergleichenden Sprachwissen-
schaft gar keinen Antheil genommen hat. Wie
sich hierans von selbst ergiebt, für das Vater-
land des Verfassers macht diese Arbeit Epoche;
für den deutschen Leser bietet sie aus eben den-
selben Gründen, die sie unserer Anerkennung
Ayuso, £1 estudio de la filologia etc. 249
r
I bo werth machen, nichts Neues: sie ist wesent-
lich aus deutschen Quellen geschöpft. Dennoch
wild ja auch Bekanntes durch den Zusammen-
hang, in dem es gesagt ist, und durch die Per-
son, von der wir es hören, in ein neues Licht
geruckt, insbesondere muss in einer so jungen
Disciplin, wie die Sprachwissenschaft das Ürtheil
eines kenntnissreichen und unparteiischen Aus-
landers, muss auch für deutsche Fachmänner die
Stellung ins Gewicht fallen, die Ayuso in den
so zahlreichen principiellen wie Detailcontrover-
sen unserer Wissenschaft einnimmt. So halte
ich es für Pflicht, nachdem ich schon früher auf
die Bedeutung dieses Werks für Spanien anderswo
kurz hingewiesen habe, in diesen Blättern einige
solcher streitigen Punkte herauszugreifen und
Ayuso's Ansicht darüber mitzutheilen, nicht ohne
meine eigene wenigstens anzudeuten.
Wie gesagt lässt sich unser Werk als eine
Encyclopädie der Sprachwissenschaft am rich-
tigsten bezeichnen, und zwar finden sich im An-
schluss an W. y. Humboldt und Heyse die all-
gemeinen Grundbegriffe derselben im ersten
Haupttheil in 5 Capiteln erörtert, von wo aus
der Verf. vermittelst einer Besprechung der ver-
schiedenen morphologischen und genealogischen
Principien der Classification der Sprachen in
den 7 Capiteln des zweiten Theils, der Haupt-
masse seines Werks , zu einer Characteristik
und Geschichte der wichtigsten Sprachtypen ge-
langt, wobei er sich entschieden gegen die von
Max Müller angenommene »turanische« Familie
ausspricht; der dritte Theil enthält dann eine
ßtoffreiche, aber recht übersichtliche Geschichte
der filologia, d. h. vorzugsweise der Grammatik,
und dieser Theil ist es begreiflich, auf den sich
das erwähnte Interesse deutscher Fachgenossen
20
250 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 7.
hauptsächlich concentriren muss. Doch ist es
eine principielle, von Ayuso in dem ersten, all-
gemeinen Theil gut erörterte Frage unserer
Wissenschaft, welche ich hier zunächst zur
Sprache briDgen will: die grosse, viel ventilirte
methodische Grundfrage nach dem Verhältniss,
der Abgrenzung der Sprachwissenschaft gegen-
über anderen Wissensgebieten. Nicht als ob
das gleich nachher anzuführende Urtheil des
spanischen Gelehrten hierin massgebend sein
könnte oder als ob ich gar der Meinung wäre,
selbst eine so intricate Frage im Vorbeigehen
lösen zu können, sondern es kommt vor Allem
darauf an, sich die tief liegenden Gegensätze
bewusst zu halten, welche bei dieser nun schon
über ein Jahrzehnt dauernden Controverse in
Conflict gerathen sind, und auf diesen geschicht-
lichen Hintergrund zunächst hinzuweisen, scheint
mir um so mehr geboten, als darauf bisher so
viel ich sehe noch gar nicht, auch in der neue-
sten hieher gehörigen Schrift von Clemm *) nicht,
aufmerksam gemacht worden ist. Ohne Zweifel
ist es eine öfter in der Geschichte der Wissen-
schaften hervortretende Erscheinung, dass zwei
grosse Wissensgebiete lange Zeit nicht ausge-
schieden werden, sei es wegen Mangel an Klar-
heit in den Grundbegriffen, sei es, weil ein gan-
zer grosser Complex von Thatsachen unbeachtet
oder doch zusammenhangslos bleibt; letzteres
kann aber sehr wohl geschehen, da ja nicht
jedes Zeitalter für gewisse Wahrheiten gleich
empfänglich ist, und kein auffallenderes Beispiel
gibt es hierfür, als den heutzutage fast unbe-
*) Die Rede »Ueber Aufgabe und Stellung der class.
Philol.« etc. (Giessen 1872), die übrigens Jedem, der sich
fur Methodologie der Philologie und der Sprachwissen-
schaft intereseirt, warm empfohlen werden kann.
Ayuso, £1 estudio de la filologfa etc« 251
greiflichen Mangel an Verständniss, welchen die
ältere Grammatik und Philologie den greifbar-
sten Thatsachen der Sprachgeschichte und
Sprachenverwandtschaft gegenüber bewiesen hat.
Plötzlich wird dann irgend eine grosse Ent-
deckung gemacht, durch welche Licht und Zu-
sammenhang in eine Reihe bis dahin unver-
standener Erscheinungen kommt; alsbald wirkt
dieselbe als Gährungsstoff und Sonderungsgrund,
eine neue Disciplin tritt ins Leben und erhebt
Anspruch auf Gleichberechtigung mit den älte-
ren Wissenschaften. So hat in der Philologie
die Entdeckung des Sanskrit gewirkt; indem
Bopp seine vergleichende Grammatik schrieb,
trat das Studium der Grammatik überhaupt in
ein ganz neues Stadium, aus einer Hilfswissen-
schaft der Philologie stieg sie zu dem Rang
einer selbständigen Wissenschaft empor, allein
sie stiess mit ihren gerechten Ansprüchen auf
den zähen Widerstand einer älter berechtigten
Partei, der ciassiechen Philologen. Nun ist es,
wie mir scheint, lediglich die Missachtung,
welche die neue Richtung von Seiten der Philo-
logen zu erfahren hatte, sind es jene Anfein-
dungen, die kein ruhmreiches Blatt in der neue-
ren Geschichte der Philologie bilden, welche die
schroffe Absage zu erklären vermögen, die ein
Sprachforscher von der Bedeutung Schleichers
der Philologie entgegengeschleudert hat, freilich
nicht zum Vortheil seiner eigenen Forschung.
Und nur als eine Reaction gegen das ablehnende
Verhalten der Philologie wird überhaupt der
ganze durch Schleicher, noch mehr durch Max
Müller's Vorlesungen in die weitesten Kreise ge-
tragene Zug der Auflassung derer verständlich,
welche die Sprachwissenschaft von ihrem tra-
ditionellen Kreise von Verwandten, den histori-
20*
252 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 7.
sehen Discipline^ losreissen und unter die Na*
turwissensebaften einstellen wollen. Von der
begreiflichen und legitimen Opposition gegen die
negirenden Tendenzen vieler Philologen haben
sich diese Sprachforscher zu weit treiben lassen ;
weil die Sprachwissenschaft nicht alsbald als
das was sie ist, als eine selbständige historische
oder philologische Disciplin anerkannt wurde,
sollte sie nun ganz dem heimathlichen Boden
entrissen und in den Kreis der Naturwissen-
schaften verpflanzt werden, dem sie doch fremd
und fern gegenübersteht.
Eine neue und sinnvolle Auffassung gleich-
wohl, von der die Welt Anfangs so überrascht
war, dass sich erst allmälig gegnerische Stim-
men Gehör zu verschaffen vermochten. Diese
aber bekämpften theils Max Müller auf einem
eigenen Felde der populären Argumentation,
indem sie das anscheinend natürliche Wesen der
Sprache, ihre vermeinte Unabhängigkeit von der
Willensthätigkeit der Einzelnen aus dem unauf-
hörlichen Gegeneinanderwirken der einzelnen
Individuen erklärten, die also nicht, wie Max
Müller will, durchaus gar keine, sondern im
Gegentheil alle Macht über die Sprache haben
— usus norma loquendi (Whitney); von sprach-
philosophischer Seite wurde nachgewiesen , dass
die Sprachwissenschaft ihre Basis nur in der
Psychologie, einer Geisteswissenschaft, finden
kann (Steinthal); endlich hat auch die empiri-
sche Sprachforschung selbst sich gegen die Los-
reissung von der Philologie ausgesprochen,
hat insbesondere Gurtius durch Beispiel und
Lehre bewiesen, dass die Sprachwissenschaft
ihren Zusammenhang mit den geschichtlichen
Wissenschaften nicht aufgeben darf und soll.
Hier ist es nun ein bedeutsames Zeichen der
Ayuso, El estudio de la filologfa etc. 253
Zeit, dass auch der spanische Sprachforscher
seine Stimme zu Gunsten der historischen Auf-
fassung der Sprachwissenschaft in die Wag-
schale legt; mit Steinthal erblickt er in der
Psychologie ihre Grundlage, mit Cnrtius erkennt
erden engen Zusammenhang der lingüestica mit
der Philologie bereitwillig an, beansprucht aber
fur sie die Geltung einer eigenen Wissenschaft,
worauf sie auch nach der deutschen Ansicht
den gerechtesten Anspruch erheben darf — so
gut als z. B. die Aesthetik, die Mythologie, die
Archäologie. So scheint man sich überall wie-
der mehr und mehr von dem historischen Grund-
zug der Sprachwissenschaft zu überzeugen, dar-
aus darf man aber die bisher sanguinische
Hoffnung schöpfen, dass auch der »Riss zwi-
schen linguistischer und philologischer Gramma-
tik« endlich ausgeglichen werde. Auch in der
empirischen Forschung fehlt es ja nicht an an-
nähernden Schritten dazu von Seiten der Lin-
guisten, indem immer mehr eine geistige Auf-
fassung der Sprache an die Stelle der blossen
Lautbeobachtung tritt; so in dem ganzen heuti-
gen Betrieb der Etymologie, wenn man ihn z. B.
mit Bopp's glossarium comparativum vergleicht,
so ist die alte mechanistische Theorie von den
sogenannten Bindevocalen von Gurtius selbst,
der sie früher vertrat, durch den rationelleren,
geistigeren Begriff des thematischen Vocals ver-
drängt worden, so beginnt sich auf Grund der
Etymologie und Lautlehre, die in der riesigen
Arbeit eines halben Jahrhunderts ihrem Ausbau
nahe geführt ist, das Gebäude der vergleichen-
den Syntax zu erheben. Gerade in dem Wider-
streit der Parteien kann man mit L. Lange *) das
*) Worte L. Lange's in der Rede über Ziel und Me-
thode der syntakt Forach., Verh. d. Gott. Phil. vers.
1852.
254 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
belebende, Fortschritt yerbeissende Princip der
Sprachwissenschaft erblicken und als Frucht des-
selben eine Geschichte der indogermanischen
Sprachen erhoffen*); erst dann aber kann sie ge-
schrieben werden, wenn auch nach der geisti-
gen, Yornämlich nach der syntaktischen Seite
hin die indogermanischen Sprachen noch weiter
erforscht sein werden, als Bürgschaft aber für
die baldige Vorherrschaft der geistigen Methode
in der Sprachforschung darf ohne Zweifel dieses
spanische, also von ganz unbetheiligter Seite ab-
gegebene Urtheil angesehen werden.
Der zweite Abschnitt unseres Werks, aus
dem ich die Entzifferungsgeschichte der Hiero-
glyphen und der Keilschriften hervorhebe, bietet
aus dem oben erwähnten Grunde nichts Neues,
ist aber fleissig zusammengestellt und enthält
nur Ausgaben aus erster Quelle. Das Pehlevi
rechnet Ayuso zu den semitischen Sprachen,
als deren genauer Kenner er sich bereits in
einer arabischen Grammatik gezeigt hat; im
Einzelnen folgt er ganz den besonders durch die
scharfsinnige Untersuchung der Inschriften so
erfolgreichen Forschungen Haug's, wonach in
der Erklärung des Mittelpersischen drei Stufen
zu unterscheiden sind: auf das ganz überwiegend
semitische »chaldäische Pehlevi«, wie es Haug
nennt, folgte das Pehlevi der Sassanidenkönige,
die es um 300 n. Chr. zur Reichssprache erho-
ben haben, ein dem Schein, d. h. der Schrift
nach semitischer, der Wahrheit, d. i. der Aus-
sprache nach aber wesentlich arischer Dialect,
der z. B. das Wort Fleisch in der Schritt durch
*) Lange in »Die Bedeutung der Gegens&tse in.
den Ansichten über die Sprache für d. Entwicklung der
Spraohwiss.c. Gieasen 1865.
Ayuso, El estudio de la filologia etc. 255
das semitische bisra ausdrückte, wofür man aber
das persische gosht las (Huzvaresh); endlich
gelangte auch die Schrift dazu die semitischen
Elemente auszustossen in dem Pazend-Pehlevi,
welches dem Neupers. ungemein nahe steht.
Bei dem Abschnitt über die iranischen Sprachen
hätten ausser dem Ossetischen, Avghanischen
und Armenischen, wohl noch andere Dialekte
herangezogen werden dürfen, z. B. von den aus-
gestorbenen der der politischen Skythen, dessen
iranischer Charakter durch Müllenhoffs bahn-
brechende Forschungen erwiesen ist. Beachtens-
werth aber scheint mir, dass der Verf., der die
Grammatik des Ossetischen ausfuhrlich zerglie-
dert, über die Structur der avghanischen und
der armenischen Sprache ein vorsichtiges Schwei-
gen beobachtet, das er mit dem ungenügenden
Zustand der grammatischen Hülfsmittel motivirt.
In der That dürfte eine nähere Untersuchung
den angeblich iranischen Charakter des Armeni-
schen schwerlich bestätigen, worüber es freilich
geboten ist sein Urtheil so lange zurückzuhal-
ten, bis Mordtmann's Entzifferung der altarme-
nischen Inschriften erschienen sein wird; fur
das Avghanische aber, über das die bevorstehende
Heraasgabe der Grammatik von Trumpp, des
intimsten Kenners dieser Sprache, viel neues
Licht verbreiten wird, dürfte sich eine Mittel-
stellung zwischen Iranisch und Indisch heraus-
stellen, wie sie der geographischen Lage des
Landes entspricht. Denn gerade was die In-
finitivbildungen dieser Sprache (auf äl) betrifft,
60 lassen sie sich keinenfalls mit Fr. Müller
aus demZend erklären, wie mir bei einer Unter-
suchung über den Infinitiv im Indogermanischen
entgegengetreten ist; damit fällt aber der Haupt-
beweiß, durch den dieser Gelehrte seine An-
256 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 7.
nähme einer sehr engen Verwandtschaft des
avghanischen mit dem altbaktrischen Idiom zu
stützen suchte.
Von speciellem Interesse für den deutscher!
Leser ist der dritte, literarhistorische Theil;
der Verf. hat darin Benfey's bekanntes Werk,
auch das Steinthal'sche u. a. pflichtmässig ver-
wertet, aber auch manches eigene treffende Ur-
theil über literarische Erscheinungen, besonders
aus der neuesten Geschichte der deutschen
Sprachwissenschaft hinzugefügt, im Ganzen von
der Entwicklung der Sprachwissenschaft, dieser
universalsten aller Wissenschaften ein mehr
figurenreiches, als überall klar auseinandertre-
tendes Gemälde entworfen, wobei ihm für die
Darstellung der semitischen und der indischen
Nationalgrammatik seine genaue Eenntniss der
betreffenden Sprachen wohl zu Statten kam.
Wunderbarer Contrast der indischen und der
griechischen Sprachforschung ! Mit der resoluten
Gon8equenz, welche auch die indische Specula-
tion auszeichnet, unterwarfen die indischen väi-
jäkaranas, d. i. Zerleger, Analytiker den Riesen-
leib ihrer Muttersprache dem anatomischen Mes-
ser ihrer grammatischen Forschung, lösten sie
die Wörter und Formen in ihre einfachsten Be-
standteile auf und gelangten so zu dem für die
ganze Folgezeit so unermesslich fruchtbaren Be-
griff der Wurzel, Hessen sie auch nicht den
Bruchtheil einer Sylbe unbeachtet und schufen
durch treue und ezacte Beobachtung eine Laut-
lehre, die den Resultaten der neueren Physiolo-
gie an Genauigkeit der Distinction nahe kommt,
begründeten sie die Etymologie in einer Weise,
welche die etymologischen Kunststücke der Grie-
chen und Römer aufs tiefste beschämt und der
wissenschaftlichen Durchforschung auch der ver-
A yuso, El estudio de la filologia etc. 257
wandten Sprachen die wesentlichsten, nicht ge-
nug anerkannten Dienste geleistet hat. Hierauf
hingewiesen zu haben ist ein Verdienst unseres
Verf. 's, der freilich dabei Benfey zum Vorgänger
gehabt hat; neu ist, was er auf p. 342 nach Er-
wähnung von Pänim's Einreihung der Vocale un-
ter die betreffenden Organe, wodurch diesem in
einer viel gepriesenen Entdeckung der neueren
Physiologen und Philologen die Priorität zu«
komme, weiter mittheilt: »Das so oft angestaunte
Dreieck [nämlich die drei Grundyocale a, i, u]
von Orchell, der sogenannte Colossi! der he-
bräischen Wissenschaft (nur in Spanien und
Frankreich) ist ein Schwindel [una farsa], weil
derselbe von den Indern entlehnt ist, deren Li-
teratur am Anfang des Jahrhunderts in Europa
bekannt wurdec
Mit ganz anderen Charakterzügen als die in-
dische tritt uns schon in ihren ersten Entwick-
lungsstadien die griechische Grammatik ent-
gegen; wie sich aus der uralten Streitfrage der
griechischen Philosophenschulen, ob die Sprache
fvae* oder Sias* entstanden sei, die ersten An-
sätze der Grammatik entwickelten, wie sich
dann das Wiederaufleben des alten Streits unter
der neuen Devise: avaXoyiq oder dvmiuxUql
noch bedeutsamer für den Fortschritt der Sprach-
wissenschaft gestaltete und im Anschluss daran
das ganze System der Grammatik wesentlich in
der Weise aufgebaut wurde, wie es noch heute
besteht, ist recht verdienstlich dargestellt, wäh-
rend doch noch vor gar nicht so langer Zeit
eine Autorität auf grammatischem Gebiet jenen
ganzen Streit für vix tanto hiatu dignum erklä-
ren konnte*). Freilich das Product dieser gan-
*) Classen in seinen Primord. gramm. Graeo.
258 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
zen auf dem Boden der Philosophie oder viel-
mehr des Rationalismus stehenden Sprachfor-
schung des Alterthum8 war am Ende doch nur
die formale Grammatik, also »ein Haufe yon Re-
geln ohne Zusammenhang, welche die Richt-
schnur abgehen sollen für den Gehrauch der
grammatischen Formen und für die Syntax; für
alles das was sich dieser Richtschnur nicht fü-
gen will, hat man die ungemein bequemen,
überall anwendbaren Bezeichnungen bei der Hauet,
welche in der grammatischen Kunstsprache Figu-
ren heissen : Pleonasenus, Ellipse und Enallage ! ! «
Mit diesem treffenden Urtheil über die griechi-
sche Grammatik im Allgemeinen ist das Lob
nicht recht zu vereinbaren, welches Ayuso mit
Benfey den Leistungen der Griechen auf dem
Felde der Syntax spendet; auch diese Seite ih-
rer Sprachforschung, auch die Satzeintheilung vor-
nämlich, jene Kategorieen der Adversativ-, Con-
ditional-, Concessivsätze u. s. w., die noch immer
sich durch unsere Schulgrammatiken hindurch-
ziehen , trifft doch derselbe Vorwurf wie die ge-
sammte Sprachwissenschaft des Alterthums, auch
sie stehen ganz auf dem Standpunkt der Logik und
sind also einer völligen Umgestaltung durch die
neuere psychologisch-historische Grammatik im
höchsten Grade bedürftig*). Wie die Inder,
die Griechen, so haben auch zwei semitische
Völker, die Hebräer und die Araber, Grosses
in der Sprachwissenschaft geleistet und sich ein
eigenartiges, der Structur ihrer Sprache ge-
mässes grammatisches System zurecht gemacht,
wie hier ausführlich entwickelt wird; ist doch
die Grammatik die universalste aller Wissen-
*) Vgl. Jolly Ein Kapitel vergleich. Syntax München
1872 p. 8 f.
Ayuso, EI estudio de la filologla etc. 259
Schäften, an deren Ausbau die verschiedensten
Nationen erheblichen Antheil genommen haben
und nicht am wenigsten solche, denen ein altes
Vorurtheil gerne den Namen von Cultnrvölkern
absprechen möchte. Um so werthvolier und be-
deutender erscheint aber aus diesem Gesichts-
punkte die geistige Arbeit derjenigen Nation,
welcher es vorbehalten war, den von so ver-
schiedenen Seiten, nach einer Mannichfaltigkeit
von grammatischen Systemen und Terminolo-
gieen zusammengetragenen Stoff kritisch zu sich-
ten, geistig zu durchdringen und zu vergleichen,
den stolzen Bau der vergleichenden Sprach-
wissenschaft darauf zu errichten. Die Verdienste
der deutschen Philologie werden denn auch von
dem spanischen Forscher unumwunden aner-
kannt, nicht ohne wehmüthige Seitenblicke auf
sein Vaterland, so wenn er p. 277, nachdem er
seinen Landsleuten die Vortheile und epoche-
machende Bedeutung für die Wissenschaft aus-
einandergesetzt hat, welche Zeitschriften, wie
den Kuhn'schen zukommt, ausruft: »Ist auch in
unserem lieben Vaterland der Moment gekom-
men, durch solche Mittel die philologisch-lingui-
stischen Studien zu fördern?« bis jetzt hätten
freilich die wissenschaftlichen Zeitschriften Spa-
niens in der Regel nur den niedrigsten Partei-
zwecken gedient. Schleicher's Verdienste um
die Detailforschung werden nach Gebühr ge-
würdigt, sein Compendium mit Bopp's Gramma-
tik eingehend verglichen: »Bopp umspannte
weit mehr . . . Schleicher verstand es mit siche-
rem Tact aus dieser Fülle von Stoff eine Aus-
wahl zu treffen, ... ein einfaches und klares
Bild zu zeichnen, aus dem man die Eigentüm-
lichkeiten und den allgemeinen Typus der gan-
zen Familie erkennen kann, eine wichtige Auf-
260 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
gäbe der vergleichenden Studien c etc. Dagegen
erfahren Schleicher's sprachphilosophische Schrif-
ten eine scharfe Verurtheilung, bei der freilich
der streng kirchliche Standpunkt des Verf.
massgebend gewesen ist, wie auch in seinem Ur-
theil über die escuela racionalista alemana un-
ter den Semitisten, z. B. wenn er in Hitzig's
Methode die seltensten Spitzfindigkeiten in der
Textkritik, die abgeschmacktesten Etymologieen
zu finden meint, durch die er den Wörtern jene
Bedeutungen zu geben suche, die seine rationa-
listischen Anschauungen begünstigen. Das ist
eine Probe orthodoxer Auffassungen, an denen
das sonst mit freiem und weitem Blick ge-
schriebene Buch nicht eben arm ist; aber wo
der confession eile Standpunkt des Verf.'s nicht
ins Spiel kommt, da ist sein literarisches Urtheii
durch Unbefangenheit und genaue Sachkenntniss
schätzbar und kann wie oben der Beachtung
deutscher Fachgenossen empfohlen werden, wo-
bei ich mir noch erlaube als Beleg hiefür auf
Ayuso's eingehende und liebevolle Charakteristik
eines so schwierigen und echt deutschen Schrift-
stellers wie W. v. Humboldt hinzuweisen, dessen
Werken er, wie der erste Theil des Buches be-
weist, ein eingehendes Studium gewidmet hat.
Die Leetüre des zweiten, sehr fleissigen Haupt-
abschnitts insbesondere ist solchen fur den ersten
Anlauf anzurathen, welche, des Spanischen mäch-
tig, sich einen Einblick in die grammatische
Structur der meisten Sprachen zu verschaffen
wünschen, überhaupt ist das spanische Werk
zur Einführung in die Sprachwissenschaft nicht
ungeeignet und hat vor M. Müller's Vorlesungen
eine instructive Geschichte der Schrift, vor
Whitney die schätzbare Geschichte der Sprach-
wissenschaft voraus, wie es überhaupt weit
Garcin de Tassy, Langue et Litt. Hindoustanies. 261
mehr eine gelehrte Arbeit ist als das englische
und amerikanische Werk; freilich lässt, auch
yon der religiösen Tendenz abgesehen, die breite
Ausführung einzelner sehr bekannter Punkte,
die Uebergehung anderer, kurz die ganze Hal-
tung des Werks nirgends vergessen, dass es für
ein spanisches Publicum geschrieben ist, was
zwar dem Verf. keineswegs zu verargen ist,
aber einer Uebersetzung unübersteigliche Schwie-
rigkeiten entgegenstellen dürfte.
Würzburg. Julius Jolly.
La Langue et la Litterature Hindoustanies
en 1872. Revue annuelle par M. Garcin de
Tassy, roembre de l'Institut etc. Paris. Li-
brairie Orientale de Maisonneuve et Cie. 1873.
109 Seiten Grossoctav.
Hinsichtlich der Genesis und des Inhalts der
von dem berühmten Orientalisten herausgegebe-
nen, auch theilweise bereits in mehreren indi-
schen Zeitschriften übersetzten Jahresberichte
über die hindostanische Sprache und Literatur
habe ich in der Anzeige des vorjährigen für
1871 (Heidelb. Jahrb. 1871 S. 873 ff.) einige
Mittheilungen gemacht und setze dieselben nun
auch über den heurigen für 1872 fort, mich da-
bei wiederum auf Hervorhebung einzelner Punkte
beschränkend. Selbstverständlich dauert der
heftige Sprachkampf zwischen Muselmännern
und Hindus, Urdu und Sindhi, zwischen arabi-
scher Schrift und Devanagari noch immer und
wird wohl sobald kein Ende nehmen, bei wel-
cher Gelegenheit denn auch gewisse Dinge ganz
262 Gott, geh Anz. 1873. Stück 7.
so wie in Europa betrieben werden, indem man
Bittschriften an die Regierung durch Freunde,
Untergeordnete und sogar Schulkinder unter-
schreiben lässt, wie dies z. B. der Schulinspec-
tor zu Benares, der Babu Schiv-pra§a, ein
grosser Gönner und Fürsprecher des Hindi, ge-
than, wobei die höchstens 5000 Unterschriften
in den Journalen seiner Partei mit der statt*
liehen Zahl »200,000« prangten. Bemerkens*
werth ist ferner eine Rede, welche der Unter-
gouyerneur von Bengalen, Herr G. Campbel, bei
Gelegenheit der Grundsteinlegung für das Cen-
tral-College zu Mazattarpur am 7. Nov. 1871
gehalten und wobei er auf den Unterricht im
Englischen im Gegensatz zum Urdu so wie zu
den gelehrten Sprachen, nämlich der persischen
und arabischen, nach Ansicht Garcin de Tassy's
ein viel zu grosses Gewicht gelegt hat. Diesen
heftigen Angriff auf das Urdu wiederholte
Campbell bald darauf in noch schärferer Weise
in einer Staatsschrift, welche Garcin de Tassy
vollständig mittheilt und mit sehr bittern An-
merkungen und Widerlegungen begleitet. Was
die indischen Zeitungen betrifft, so ersehen wir,
dass in den nordwestlichen Provinzen statt der
26 im Jahre 1869 im darauffolgenden Jahre
33 erschienen (20 Urdu, 6 Hindi, 5 in beiden
Sprachen, 1 Bengali; ; im J. 1870 kamen dazu
noch 8 literarische Zeitschriften (6 Urdu, 1
Sanscrit und 1 Sanscrit-Englisch). Ueberhaupt
erschienen in den genannten Provinzen so wie
in dem Pundschab, Aude und den Centralpro-
vinzen zusammen 60 Zeitschriften. Ausserdem
geben die verschiedenen gelehrten Gesellschaften
in Indien auch noch riQala (Sitzungsberichte)
von Zeit zu Zeit heraus. Diese Journale bilden
einen Theil der neuen Hindustaniliteratur,
Garem de Tassy, LangueetLitt.Hindoustanies. 263
welche durch die neue Organisation des öffent-
lichen Unterrichts hervorgerufen worden ist,
nach welcher in den Staatsschulen das Studium
der englischen Sprache und Literatur obligato-
risch oder doch besonders begünstigt ist. Die
Hindus, welche die englische Regierung der
frühern muselmännischen vorziehen, haben fast
gar keine besondern Unterrichtsanstalten, da sie
keinen Anstand nehmen, die europäischen zu
besuchen; anders jedoch denken die Muselmän-
ner und sie besitzen daher eigene Schulen.
Ueberhaupt zeigt sich unter ihnen ein allgemei-
nes Erwachen aus dem langen Schlafe und re-
ligiöser Enthusiasmus oft in Verbindung mit
Fanatismus tritt überall hervor. In Srinogar,
der Hauptstadt in Kaschmir, in welchem Lande
sie neun Zehntheile der Bevölkerung bilden, fie-
len im Sept. 1872 bei Gelegenheit eines Moschee-
baues der Schiiten die viel zahlreichern Sunni-
ten über jene her, tödteten eine grosse Menge
derselben nebst deren Kiedern, nothzüchtigten
ihre Weiber und verbrannten ihre Häuser. »Ce
n'etait pas le moyen de convaincre les dissidents
des erreurs que les Sunnis leur attribuent; mais
les musulmans ne sont pas les seuls qui seser-
vent de ce genre de preuves«, bemerkt hierzu
Garcin de Tassy. Auch auf die ausserindischen
Muhamedaner wirft derselbe einen Blick bei die-
ser Gelegenheit und hebt hervor, wie auch in
der europäischen Türkei und sogar in Albanien
der Islam seit einigen Jahren neues Leben ge-
wonnen und der Feldzug des Khedive inAbyssi-
nien zur weitern Ausbreitung desselben in Afrika
beitragen wird, wo er ohnedies fast überall zur
Herrschalt gelangt ist. Man erfährt hierbei,
dass in Sierra Leone eine moslemitische Universi-
tät besteht, an welcher tausend Zöglinge, auch
264 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 7.
weibliche, den Studien obliegen, so wie dass
sich heutzutage ßogar zu Mecca eine Druckerei
vorfindet. Der Freund Garcin de Tassy's, der
gelehrte Orientalist A. Sprenger, äussert sich
über dieses Wiederaufleben der Orientalen da-
hin, »da 98 in weniger als hundert Jahren das-
selbe auf die neuere europäische Cultur zurück-
wirken und der Geistesentwickelung eine uner-
wartete Richtung verleihen werde. Die Werke
jener Völker werden den Europäern ebenso nütz-
lich sein wie ihnen selbst, und da die Orienta-
len den letztern gleichstehen, ja sie in mancher
Beziehung übertreffen, so könnten sie leicht in
einer nicht zu fernen Zeit in dem allgemeinen
Fortschritt der Menschheit die erste Stelle ein-
nehmen. Im zweiten Jahrhundert unsrer Zeit-
rechnung und sogar später noch gehörten einige
der ausgezeichnetsten Schriftsteller Syrien, As-
syrien und Nordafrika an, und es könnte leicht
wieder so kommenc Dass in der Provinz
Tunan im südwestlichen China die Moslemim,
welche dort Panthays heissen, seit einigen Jah-
ren nach heftigem Kampfe gegen die Regierungs-
truppen einen eigenen Staat gebildet haben, ist
aus den Zeitungen bekannt. Letzterer, nach
dem Namen der Hauptstadt Tali oder Talifa
genannt, besitzt die Ausdehnung von England
und Wales, und Prinz Hassan, der Sohn des
Sultans Suleiman, ist unlängst an der Spitze
einer Gesandtschaft in London angelangt, nach-
dem er vorher incognito Peking besuchte, wo-
selbst 200,000 Muselmänner leben. Auch in
andern Provinzen des chinesischen Reiches fin-
den sich zahlreiche Bekenner des Islam; so zu
Tschin-han-fou, der Hauptstadt der Provinz
Tschen-si, 50,000; zu Kuldscha, der Hauptstadt
der gleichnamigen Provinz, welche die Russen
Garcin de Ta8sy,LaDgue et Litt. Hind onst anies. 265
im vorigen Jahre besetzt hielten, sind unter
7700 Eingebornen fast 5000 Muhamedaner und
nur 1700 Chinesen. Gleiches Verhältniss herrscht
wahrscheinlich in den andern Städten jener Ge-
genden und die chinesischen Muhamedaner ver-
stehen sich trefflich unter einander, wozu auch
noch eine unter ihnen umlaufende Prophezeiung
kommt, welche den Sturz der chinesischen Re-
gierung und die Ersetzung derselben durch eine
muhamedanische verheisst. Kehren wir nach
Indien zurück, so ersehen wir, dass zu Aligarh
Bine grosse muselmännische Universität nach
dem Vorbild von Cambridge gegründet werden
soll, sobald die nöthigen Geldmittel vorhanden
sind; im vorigen August waren bereits 30,136
Rupien (75,740 Franken) zusammengekommen.
Es sollen dort die theologischen und profanen
Wissenschaften (auch Latein) gelehrt, als Unter-
richtssprache das Hindustani (Urdu) gebraucht
und der Anstalt eine Moschee beigegeben wer-
den. Bei der feierlichen Preisverteilung, welche
am 30. Nov. 1871 an dem University College
zu Lahore stattfand, theilte der Kanzler des-
selben, Dr. Leitner, in seiner Rede unter an-
derm mit, dass die Beiträge von einem Lak
(100,000) Rupien auf di;ei Lak gestiegen sind
und sich im nächsten Jahre wahrscheinlich noch
vermehren werden. In den nordwestlichen Pro-
vinzen wurden die 8110 Schulen und drei
Colleges im J. 1870—71 von 204,103 Zöglingen
besucht, worunter 11,243 Mädchen, also 524
mehr als im vorhergehenden Jahre;- 276 Zög-
linge haben die Regierungsschulen mit dem Zeug-
niss der Reife für die Universität verlassen ; und
die Kosten des Unterrichts beliefen sich auf
1,939,465 Rupien (4,758,660 Franken 50 Cent.).
Gelehrte Gesellschaften von Eingebornen befin-
21
266 Gott, gel Am. 1873. Stück 7.
den sich zu Labore, Batala, Aligarh, Lucknow,
Muzaffarpur, Calcutta etc. Die Studenten der
muselmännischen Universität zu Calcutta haben
einen Debating -Club (wissenschaftlichen Verein),
bei dessen feierlicher Jahressitzung am 3. Aug.
vorigen Jahres ein junger Redner in einem Vor-
trage die Ansicht vertheidigte, die vorgeblich
sinnlichen Genüsse des muselmännischen Para-
dieses seien nur allegorisch zu verstehen und
keine andern als die den Christen verheissenen
Freuden. Am 14. Febr. hielt der Babu Eeschab
Tschandar Sen, der Vorsteher des Brahma-
Samaj (hinduische Reformpartei), seinen jährli-
chen Vortrag in Gegenwart von Tausenden Ein-
geborener und Engländer. Er ist seltsamer-
weise der Ansicht, dass die Aufhebung der Ka-
sten zum Socialismus führen würde, da er sie
für die Stützen der öffentlichen Moral und der
Aristokratie, die ibm unentbehrlich scheint, an-
sieht; allerdings will er die hinduische Gesell-
schaft nicht zerstören, sondern nur sie vom
Götzendienst befreien. Anders die im Pendschab
neuentstandene Secte der Euka, die ungefähr
zwei* bis dreihunderttausend Mitglieder enthält,
meist Handwerker. Obwohl sie nämlich Gobind
Singh als ihren Gesetzgeber und den Granth
als ihre heilige Schrift anerkennen, so sind sie
doch verschieden von den Sikhs, indem sie auch
die letzten Reste des Hinduismus verwerfen,
welche sich noch bei diesen finden. Demnächst
bespricht der Verf. ausdrücklich das Werk des
Rev. James Long Scriptural Truth in Oriental
Dress. Calcutta 1871, welches die sinnbildlichen
Ausdrücke der Bibel durch ähnliche erklärt, die
sich in den orientalischen Sprachen finden. Nach
Garcin de Tassy's Ansicht ist diese Arbeit
ebenso gelehrt wie wichtig und anziehend, wes-
GarrindeTassy,LangueetLitt.Hindou8taiiie8. 267
halb er zahlreiche Beispiele daraus mittheilt,
yon denen ich eins oder zwei wiederhole.
Psalm 121, 4 heisst es: »Siehe, der Hüter
Israels schläft noch schlummert nicht«. Die
Hindus glauben, dass ihre Götzenbilder wirklich
schlafen, und erst neulich noch wollte ein fana-
tischer Hindu einen Tempelwächter zu Mathura
ermorden, der ihn hinderte, eine Pagode zu be-
treten, weil der Gott schliefe. — Ev. Matth. 3,
16 steht: >Da that sich der Himmel aufc
(är€<px$fl<nxy ol ovoavol) für: »Die Wolken zer-
streuten sich«; ebenso sagt man im Hindustani;
wobei ich auch an das homerische vrnQoayij
al&iJQ erinnere. — Ev. Marc. 14, 3 zer-
bricht eine Frau ein Glas mit köstlichem
Nardenwasser und giesst es auf Christi Haupt.
Zerbrechen heisst hier »aufmachen, öffnen«,
in welchem Sinne auch das hindustan. torna ge-
braucht wird. — Ebend. 14, 51 und Ap. Gesch.
5, 6 steht »die Jünglinge« (ol veaviokot.ol veri-
s£qo$) für »die Diener, die Sklaven«. Das ara-
bische gulam »Jüngling« wird in demselben
Sinne gebraucht, womit man auch naTg, puer,
so wie das mhd. »Degen, Knappe, Knecht« ver-
gleichen kann. — Im Jahre 1862 schlug man
die Zahl der Katholiken in Indien auf 878,691
an, jedoch soll dieselbe jetzt bedeutend abge-
nommen haben; die der eingeborenen Episko-
palen oder sonstigen Protestanten beläuft sich
jetzt auf 180,000, worunter eine stets wachsende
Zahl yon Vornehmen und Gebildeten ; so ist un-
längst Prinz Suleiman, der Enkel des letzten
Grossmoguls, dem Beispiel seines Vaters gefolgt
und zur Hochkirche übergetreten. Der vor-
liegende Jahresbericht schliesst, wie seine Vor-
gänger, mit einer Nekrologie oder wie die In-
dier sagen, »Nachrichten aus dem Reiche des
21*
^ i
268 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 7.
Todes«, woraus ich nur erwähne, dass am 12.
Aug. v. J. der Prinz Gulam Muhammad, der
letzte Sohn des berühmten Tippu Saheb, im Al-
ter von 78 Jahren zu Calcutta gestorben ist.
Andere Todesfälle angesehener mit Indien oder
dessen Wissenschaften in irgend welcher Be-
ziehung stehender Personen so wie sonstige sehr
interessante Nachrichten muss ich übergehen
und will schliesslich nur noch den Wunsch hin-
zufügen, dass es dem gelehrten, bereits hochbe-
jahrten Verfasser noch lange vergönnt sein möge,
die so lehrreichen Jahresberichte über sein zwei-
tes Heimathsland zu veröffentlichen.
Lüttich. Felix Liebrecht.
Uhlands Schriften zur Geschichte der Dich-
tung und Sage. Achter Band. Stuttgart. Ver-
lag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. 1873.
VI und 626 Seiten gross Octav. (Schwäbische
Sagenkunde).
Es sind nun fast acht Jahre her, seitdem
der erste Band der nachgelassenen Schriften
Uhlands erschien und in dem Masse, wie sie
ans Licht traten, gaben sie wiederholt Veran-
lassung, den Empfindungen Ausdruck zu ver-
leihen, welche sie bei dem Leser in immer
höherm Grade hervorrufen mussten, nämlich der
Bewunderung der darin sich kundthuenden um-
fassenden Gelehrsamkeit, welche zugleich bis in
die minutiösesten Einzelheiten einzudringen nicht
unterlies8 und bei einem so hocbpoetischen
Geist wie dem Uhlands kaum vorausgesetzt wer-
den konnte, und andererseits dem tiefen Be-
Uhlands Schriften z. Gesch. d. Dicht, n. Sage. 269
dauern darüber, dass die gründlichen Forschun-
gen, welche als Ergebniss aus denselben hervor-
gingen, theils nicht zum Abschluss gekommen,
überhaupt aber nicht schon viel früher der
Welt waren übergeben worden, da sie dann be-
reits seit einer langen Reihe von Jahren beleh-
rend und fördernd gewirkt hätten. Doch wäre
es überflüssig, hierauf von neuem ausführlich
einzugehen; die Bemerkung möge genügen, dass
auch der vorliegende Band zur Bestätigung des
eben Gesagten dient und jene Gefühle wiederum
auf das lebendigste hervorruft. Wir stehen hier
yor den Grundlagen und der theilweisen Aus-
führung eines mächtigen Baues, der »schwäbi-
schen Sagenkunde«, dessen Vollendung leider
unterblieben ist, während das bereits davon
Ausgeführte, obwohl es nur eine massige Höhe
erreicht hat, gleichwohl deutlich erkennen lässt,
was das Ganze geworden wäre, wenn es sich
bis zur krönenden Kuppel emporgewölbt hättet
Jedoch wie dem auch sei, jedesfalls >wenn die
Könige bau'n, haben die Kämer zu thun«, und
so bleibt mir wenigstens die Genugthuung, über
das von Unland bereits Vollendete, wenn auch
nur mit kurzen Worten, Bericht zu erstatten.
Von dem auf zwei Bände berechneten Werke
ist nämlich nur der erste und auch dieser nicht
ganz zum Abschluss gebracht worden, aber er
enthält gleichwohl umfangreiche Untersuchungen
über die suevisch-alamannische Vorzeit, nämlich
nach einleitender Darstellung der historischen
Verhältnisse der Sueven und Alamannen eine
Darlegung der suevischen Stammsage und ihrer
Verbreitung nach dem skandinavischen Norden,
so wie unter den Normannen, Angelsachsen und
Staren. Hinsichtlich der S. 47 Anm. 134 er-
wähnten universalis columna (quasi sustinens
270 Gott. gel. An*. 1873. Stück 7.
omnia, Irminsäule) will ich bemerken, class be-
kanntlich auch Augustin De Civ. Dei 7, 1 einen
Jupiter Tigülus erwähnt, die von ihm ange-
führte Erklärung jedoch »quod tamquam tigü-
lus mundum contineret ac sustineretc^ sicher-
lich nicht die ursprüngliche Bedeutung trifft,
da diese vielmehr auf Jupiter als Klotz oder
Holzsäule hinweist, welche Gestalt anfangs wohl
alle alten Götterbilder hatten; vgl. z. B. die
Joxava, so wie auch Festus bemerkt: »Delubrum
dicebant fustem delibratum, hoc est decortica-
tum, quem venerabantur pro deoc Ebenso
wird es sich mit der universalis columna ver-
halten haben und diese anfanglich nur eine
einfache columna oder Holzsäule gewesen sein*
Weiterhin (S. 91), von Tyrfing sprechend, sagt
Uhland, dass es nicht das einzige Heldenschwert
des Nordens sei, an dem so grausame Eigen-
schaften und Geschicke hängen, und fugt mehrere
Beispiele hinzu, denen sich auch das in der
Hromund Greipsopssage vorkommende Schwert
Brynthvari anschliesst, welches alle Tage Blut
kosten musste. Dass von dergleichen Schwer-
tern auch der ausserskandinavische Norden
weiss, zeigt Uhland (8. 89) an einem Beispiel
der Kalevala; doch die Finnen standen mit den
Skandinaven in engem Verkehr; in weit grösse-
rer Entfernung dagegen befinden sich die Japa-
nesen, welche gleichfalls derartige blutdürstige
Schwerter kennen. Mitford, Old Japan. London
1871. I, 113 berichtet nämlich, dass die von
dem berühmten Waffenschmiede Muramasa, der
vor mehreren Jahrhunderten lebte, verfertigten
Schwerter, deren einige noch jetzt vorhanden
sind, hartes Eisen durchschneiden, als wäre es
eine Melone, dabei aber nach Menschenleben
dürsten und in der Scheide nicht ruhig bleiben
UMands Sobriften z. Gesch . d. Dicht, u. Sage. 271
können. Sie machen ihre Besitzer wie wahn-
sinnig und treiben sie entweder zu blindem
Blntvergiessen oder zum Selbstmord an. Hin-
sichtlich der yon Uhland (S. 115) erwähnten
Steine am Gerichtsort und zur Königswahl er-
wähne ich, dass ein Beispiel von erstem sich
auch am Areopag in dem Xidoq vßqsoaq und JU-
&og dvcufoiag fand, von letztern in dem Steine
su Scone, auf den die schottischen Könige nach
ihrer Wahl treten mussten, den aber Eduard I.
nach London brachte, wo er sich jetzt in der
Westmönsterabtei unter dem Stuhl Eduards
des Bekenners befindet. Was die ausfuhrliche
Besprechung der sich an das Schwert Tyrfing
und dessen Besitz Svafrliomi knüpfenden Waffen-
sage anlangt, so bemerkt Uhland, dass sie für
das Folgende mehrfache Wichtigkeit habe, für
den nächsten Zweck aber, die Deutung des
Suevennamens, das Ergebniss abwerfe, dass
Svafr gleichbedeutend mit Schwert sei. Die
folgende Untersuchung nämlich, die über die
Sage von Swawa, zeigt, dass auch ihr Name
zum Schwerte sowohl wie zum Volksnamen ein-
leuchtenden Bezug gewinnt. Uebrigens ist nach
UMands Ansicht (S. 201) die Sage von Helgi
und Swawa, diese svevische Wölsungensage,
nicht bloss Namensage, sie ist die älteste schwä-
bische, vielleicht deutsche Heldendichtung, ein
Typus schwäbischen Namens und Wesens, zurück-
zufahren auf Germania 18 : so zu leben, zu ster-
ben und neu zu leben, obschon sie nicht bloss
im Stil und Namenwerk, sondern auch in ihrem
innern Wesen von der nordischen Zubildung be-
troffen worden. Besonders hervorzuheben in
diesem Abschnitte ist unter anderm das (S.
172 ff.) über den französischen Namen Heüequin
(abgeleitet von Helgo, Helgonis) und die maisnie
272 Gott. gel. Adz. 1873. Stack 7.
HeUequin (das wüthende Heer) Dargelegte, und
namentlich willkommen ist die Bemerkung über
den räthselhaften Karolus quintus (Grimm Myth.
894), wonach die auf letztern bezügliche Stelle
bei Vincent. Bellov. nur ein viel späterer Zu-
satz sein kann, da Karl der Fünfte, zu dem
allerdings der heil. Dionysius als Schutzherr
der Könige von Frankreich gehört, erst 1380
gestorben ist, wobei es sich eigen trifft, dass
eben diesem fünften Carl bei seinen Lebzeiten
ein 1371 bis 1375 verfasstes Buch gewidmet
wurde, in welchem bereits der mesgnee HeUe-
quin mit ihrem herkömmlichen Namen Erwäh-
nung geschieht. — In dem dritten Hauptab-
schnitt werden die auf die Wanderung und
Neusiedlung der suevisch-alamannischen Völker
bezüglichen Sagen durchforscht und dabei auch
die Iringsage eingehender Erörterug unterworfen,
als deren Ergebniss sich zeigt, dass Iring we-
der der Geschichte angehört, noch auch ur->
sprünglich der Heldensage; in ihm ist vielmehr
der Ebergang zum Walde, das Bild des land-
flüchtigen Recken, persönlich geworden, der Ver-
triebene zieht die Strasse Ebrings, der Eber-
beiden; in die Sage vom Untergang des thü-
ringischen Reiches ist Iring dadurch gekommen,
dass König Irmenfrid und sein flüchtiges Heer
die Ebringsstrasse fuhren; so sangen die älte-
sten Lieder von diesem weitkundigen Ereigniss;
auch an Etzels Hofe, der Freistätte geächteter
Helden (namentlich der Wöchige), lebt Iring in
Gemeinschaft mit solchen, mit Irnfrid und Ha-
wart, eben nur weil sie den Iringsweg gingen,
und dass er bald Thüringer, bald Däne, bald
Lothringer heissen kann, spricht wieder für seine
allgemeine Bedeutung; vom bildlichen Ausdruck
zur Persönlichkeit gelangt und in die epische
Handlung eingedrungen, verleugnet er gleich-
Unlands Schriften z. Gesch. d. Dicht, u. Sage. 273
wohl auch in den einzelnen Zügen seinen Uiv
sprang nicht. Die Sternenstrasse nach ihm zu
benennen, war jedoch sein thüringisches Helden-
thum wenig geartet, auch hierbei muss zum
weitern Sinn seines Wesens gegriffen werden,
fur den irdischen Weg der Heimathflüchtigen,
deren Vertreter Iring ist, ergab sich ein gross»
artiges Gegenbild in der Himmelsstrasse, auf
die derselbe Name tibertragen ward. Darf man
aber von der mittelalterlichen Vorstellung, wo-
nach dieser unermessliche Zug zahlloser Sterne
nicht bloss dem einzelnen Pilger, sondern einem
ganzen Heere von Glaubensstreitern die Bahn
vorzeichnete, auf die altgermanische Meinung
zurückschliessen, so war die Iringstrasse das
leuchtende und weisende Himmelszeichen für
jene allgemeine Heerwanderung der Völker, die
aas ihren alten Wohnsitzen in ungekannte Ferne
drängten oder getrieben waren. Auch darf
nicht unberührt bleiben, dass die letzte und
weiteste Sueven Wanderung , die zu Anfang des
5. Jahrh. in Gemeinschaft mit Westgothen und
Wandalen unternommene, genau denselben Weg
nahm, der nachmals dem Kaiser Karl ; und sei-
nem Heere am Sternhimmel gezeigt wurde. In-
dem bei dieser Veranlassung Uhland vom Eber
als Bild der Kühnheit und Streitbarkeit spricht,
erwähnt er auch die andere Weise desselben,
beim Anblick eines Menschen plötzlich stehen
zu bleiben und endlich, wenn dieser näher
kommt, in den Wald zu fliehen. Ebergleich
werden heisst also in diesem speciellen Sinne
feldflüchtig werden, und dieser Umstand, der
endlich sogar als wirkliche Verwandlung aufge-
fasst wurde, erklärt auf das genügendste die
ursprüngliche Vorstellung die den Worten
»gialti glikir verfia gumna synir« (Havamäl
130) zu Grunde liegt (S. 232 ft). — Der vierte
274 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 7.
und letzte Abschnitt, der von dem Götterwesen
der Sueven und Alamannen handeln sollte, bie-
tet nur einen ganz kleinen Theil des ursprüng-
lich beabsichtigten Inhalts und bricht dann plötz-
lich ab. — Hierauf folgen die von Uhland schon
früher in Pfeiffer's Germania als Beiträge zur
schwäbischen Sagenkunde bekannt gemachten
Abhandlungen, welche wie alles übrige in die-
sem Bande noch Gebotene dem Hauptwerke,
hätte Uhland es vollendet, eingefügt worden
wären. Ich brauche auf dieselben hier nicht
näher einzugehen, da diese hinlänglich zur
Kenntniss gelangt sind, obwohl es ganz will-
kommen erscheint, sie mit jenem, so viel davon
vorbanden ist und welchem sie eigentlich ange-
hören, vereinigt zu sehen. Nur zu einzelnen
Stellen will ich die eine und die andere Parallele
oder sonstige Bemerkung hinzufügen; wie zu der
Sage von dem Bitter von Wurmlingen, dessen
Rüstung mit Spiegelgläsern behängt war, so
dass er den durch sein eigenes Bild in Staunen ver-
setzten Lindwurm mit dem Speer durchstechen
konnte (S. 335). Ebenso lässt Alexander bei
Julius Valerius einen Schild sieben Ellen lang
und breit machen und einen sehr grossen Spie-
gel darauf, wodurch der Basilisk beim Anblick
seiner selbst augenblicklich stirbt; 8. Val. Schmidt
zu Straparola S. 288. Gleich nachher (S. 336)
sagt Uhland: »Die zwei nachbarlichen Wurme
bezeichnen deutlich das noch unbewältigte Ge-
wässer der beiden Flussthäler, an deren Grenz-
scheide der Wurmlinger Berg aufsteigt ; Verglei-
chung anderer Drachensagen, namentlich der
Heldenthat Schrutans von Winkelriet und ihrer
Oertlichkeit würde dies noch mehr ins Klare
stellen c. Dies ist ganz richtig; vgl. Paulus
Cassel, Drachenkämpfe I. Berlin 1868 S. 44 f.
106 Anm. 27. Füge hinzu, dass ein Nebenfluss
Uhlands Schriften z. Gesch. d. Dicht, n. Sage. 275
der here gleichfalls Brae heisst, ein Flüsschen
in der Terra di Lavoro Dragone, ebenso eine
Quelle bei Korinth Dragonera and eine andere
in Malta Dragonara. Andererseits muss ich
mich gegen die Annahme »niemals vollstrecktet
mythischer Strafen und Bussen ältester Rechts-
sage« (S. 416) erklären und verweise deshalb
auf meinen Aufsatz »Eine alte Todesstrafe« in
Benfey's Or. und Occid. II, 269 ff. Hinsichtlich
des Feuerathem s, der Zornesflamme, welche
Dietrich aus dem Munde fährt (S. 517), will
ich bemerken, dass auch in dem Lai d'Haveloc
le Danois (Keller Altfranz. Sagen I, 2) gleich
anfangs erzählt wird, wie der Knabe in seiner
Jugend die Eigenschaft hatte, dass so lange er
schlief, eine Flamme ihm aus dem Munde aus-
ging von dem heftigen Feuer, das er im Leibe
hatte, und diese Flamme gab einen so lieblichen
Duft von sich, dass man an keinem Menschen
einen bessern finden konnte. Dieser Zug ist
vielleicht aus der Dietrichsage in die französi-
sche Sage hineingekommen und daselbst miss-
verständlich anders gewandt worden; da indess
in der Vorrede zum alten Heldenbuch jene Eigen-
schaft Dietrichs damit erklärt wird, dass er,
von einem Geist erzeugt, selber ein solcher ge-
wesen sei, so mag darin ein uralter, vielen Völ-
kern gemeinsamer Glaube enthalten sein, wonach
ein solcher Feuerathem auf überirdische Ab-
stammung und Kraft hinwies, denn auch bei
den Grönländern findet sich die Vorstellung,
dass die Angakoks (Priester) und Iliseetsoks
(Hexenmeister) an ihrem Feuerathem erkannt
werden. Rink, Eskimoiske Eventyr og Sagn.
Supplement. Kjöbenh. 1871 p. 201. Was end-
lich die Sagen von entrückten Nationalhelden
bei andern Völkern als den Deutschen betrifft,
so verweise ich zur Ergänzung der von Uhland
276 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 7.
S. 577 (s. auch S. 586 Anm. 2) angeführten
zuvörderst auf Dunlop S. 472 f. Anm. 167, so
wie im Nachtrag S. 540 f., dann aber besonders
auf Fio, Sagnet om Olger Danske. Ejöbenh.
1869 p. 73 ff. 90 ff., wo dergleichen Sagen auch
ausserhalb Europa sowohl in Asien und Amerika
wie in den Südseeinseln nachgewiesen werden;
füge hinzu die Sage von dem grossen Helden
der Brahmanen, Parasuräma, der noch in dem
Mahendragebirge leben soll; 8. Max Müller,
Essays 2, 297 f. Das hier in Rede stehende
Fragment »der entrückte Kaiser Friedrich« bil-
det schon einen Theil der dreizehn einzelnen
gleichfalls zu dem Hauptwerk gehörigen Bruch-
stücke, die hier zum ersten Male mitgetheilt
sind und den darin enthaltenen Andeutungen
nach wiederum die Nichtvollendung jenes innig
bedauern lassen; so z. B. ausser dem eben er-
wähnten vom entrückten Kaiser das von den
Glockensagen, von den Schwabenstreichen, von
der Tellsage u. s. w. Einige sind sehr kurz
und enthalten eben nur Notizen pro memoria,
darunter auch eins, welches eine seltsame Ueber-
8chrift trägt und aus dieser kaum den Inhalt
muthmassen lässt; man sollte glauben, es handle
sich darin von irgend einem Gespenst, nicht
aber von einer römischen Inschrift; und wer
weiss, ob nicht der »Genlok« unter andern Um-
ständen Veranlassung zu mancherlei Sagen ge-
geben hätte, wie ja viele aus Missverständniss
entstanden sind. Die wenigen Zeilen des Frag-
ments gestatten dasselbe vollständig mitzutheilen.
»In einem Hause zu Mittelstadt ist ein Stein
mit Bildern eingemauert. Ein Alterthumsfreund,
der in diesen römische Laren findet, machte dem
Hausbesitzer den Stein feil und der Handel war
schon am Abschluss. Da legte die Altmutter
des Hauses Widerspruch ein; es habe nur Un-
Uhlands Schriften z. Gesch. d. Dicht, u. Sage. 277
heil gebracht, als man den Genlok ausgebrochen,
gleich in der folgenden Nacht sei der Falbe im
Stalle gefallen. Der früher verkaufte Genlok
war ein ähnlicher Mauerstein mit dem einge-
hauenen Namen (gen. loa, genio loci). Der
Stein mit den Laren steht noch in der Mauer
und der Kauflustige muss sich gedulden bis die
Altmutter heimgegangen ist. Nach der Erzäh-
lung des Herrn Pfarrers Memminger am 24.
September 1852«. Das letzte Bruchstück, wie-
derum nur ein sehr kurzes, ist überschrieben
>Märchen«; und was hätte Uhlands poetisches
Gemüth, sein umfangreiches Wissen, nicht Tief-
sinniges, Gedankenreiches über einen solchen
Gegenstand darzulegen gewusstl Er sagt:
»Warum soll nicht über Aschenbrödel in einer
Vorlesung gesprochen werden? Es wurde darüber
gepredigt, gepredigt von der kunstreichen Kanzel
des Strassburger Münsters«. Auch scheint Uh-
land der Ansicht gewesen zu sein, dass die Mär-
chen nicht sämmtlich einen mythologischen Ur-
sprung haben und das Volk dieselben auch als
freie Gebilde seiner Phantasie schuf; so nämlich
verstehe ich die Schlussworte dieses Fragments:
»Wir können auch von der Armuth empfangen.
Sie holt den Kindern der Reichen aus dem be-
schneiten Winterwalde den grünen Christbaum
der Phantasie. Die Mythologie ist reich, aber
so reich ist sie nicht, dass sie aus ihrem Ge-
bröckel eine Märchenwelt erzeugen könnte«.
Wir sind nun beim Ende des vorliegenden
Bandes wie der ganzen Sammlung der von Uh-
land hinterlassenen Schriften zur Dichtung und
Sage angelangt und wollen nicht auf die Gefühle
eingeben, die uns beim Abschied von den posthu-
men Werken' eines in jeder Beziehung so edlen,
reichbegabten Geistes erfüllen müssen, der sei-
nen Pflichten als Mensch, als Patriot, als Mit«
278 Gott, geh Anz. 1873. Stack 7.
burger in der vollsten Ausdehnung gerecht
wurde, der als Dichter zu den Hauptzierden
unsres Vaterlandes gehört, der als Gelehrter
bei seinem Leben schon eine gleiche Stelle hätte
einnehmen können, wenn er es über sich ge-
bracht, seine Arbeiten ans Licht zu geben. Doch
dies erinnert uns eben daran, dass der Abschied
von seinen gelehrten Arbeiten nur ein zeit-
weiliger ist; denn immer wieder von neuem wird
der Forscher zu ihnen zurückkehren und aus
der reichen Fülle derselben schöpfen. Gerade
dieser umstand lässt es aber auch sehr unan-
genehm empfinden, dass den vorliegenden acht
Bänden nicht ein genaues Register beigegeben
worden ist, welches die darin enthaltenen Schätze
bequemer zugänglich gemacht hätte als sie jetzt
sind. Sollte es zu spät sein, diesem sehr em-
pfindlichen Mangel noch nachträglich abzuhel-
fen? Es ist ja sonst für die Herausgabe dieser
schriftlichen Hinterlassenschaft Uhlands alles ge-
schehen, was geschehen konnte; in welcher Be-
ziehung der nun bereits gleichfalls hingeschiedene
Pfeiffer so wie Keller und Holland nicht etwa
bloss die Pflichten als Herausgeber, sondern auch
die der innigen Liebe und Freundschaft für den
verewigten Dichter auf das sorgfältigste erfüllt
und sich so zugleich Ansprüche auf den wärm-
sten Dank der Gelehrtenwelt erworben haben.
Zu Uhland selbst aber mich noch für einen Augen-
blick zurückwendend, zu ihm, dessen Herz sein
Lebelang für unsres Vaterlandes Glück und Ehre
geschlagen, glaube ich mit Wiederholung seiner
in vorliegendem Bande gelegentlich des »Wai-
sen« der deutseben Kaiserkrone geäusserten
Worte hier in seinem Geiste zu scbliessen:
»Möge das ewige Licht, das Auge Gottes selbst,
unsres Volkes Leitstern sein!«
Lüttich. Felis Liebrecht
Magnus, Ophthalmoskopischer Atlas. 279
H. M ag n u s, Ophthalmoskopischer Atlas. 14
chromolithographirte Tafeln in Folio, 5 Gesichts-
feld-Tafeln. 76 Abbildungen und 88 Seiten Text
Leipzig. W. Engelmann. 1872.
Dieser neue ophthalmoskopische Atlas geht
aus der Klinik von Förster in Breslau hervor, er ist
Ton dessen langjährigem Assistenten gezeichnet und
zusammengestellt. Der Verf. verfolgt die Tendenz,
die Ophthalmoskopie practischen Aerzten und Stu-
direnden vertraut zu machen. Gegenüber den bei-
den vorhandenen Bildwerken derselben Art muss
der vorliegende Atlas gerade dieser Tendenz wegen
sehr rühmend hervorgehoben werden. Während
jene, schon durch die Jugend der Disciplin veran-
lasst, mebr interessante, als prägnante Fälle be-
rücksichtigten, ist gerade die planmässige, lehr-
hafte Zusammenstellung dieses Werkes nicht ge-
nug anzuerkennen. Jede Tafel und fast jede Figur
ruft dasselbe angenehme Behagen hervor, welches
die Besonnenheit der Arbeit erweckt« Freilich
möchte Ref. den Plan des Verf., praktische Aerzte
dem Ophthalmoskope nahe zu bringen, nicht für
richtig halten ; schon die Technik ist so schwierig,
dass sie nur denen geläufig wird, welche das In-
strument täglich gebrauchen. Der Augenspiegel
ist ein Instrument nur für Ophthalmologen. Wie
schwer es auch dem Verf. wird, jene Tendenz
durchzufuhren, beweist schon die Erwähnung des
st a. Dagegen kann der Atlas nicht genug den
Studirenden empfohlen werden, welche sich für
eine Zeit oder ganz der Ophthalmologie widmen
wollen. Er dient dem Lehrzwecke in muster-
gültiger Weise.
Die sehr instructive Erklärung der Tafeln er-
leichtert das Studium des Werkes bedeutend, die
eingefügten Krankengeschichten sind ausgezeich-
net Es ist ferner für das Studium ausseror-
$80 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 7.
deutlich passend, dass immer das durch + 3
erzeugte umgekehrte Bild gezeichnet ist. So viel
als möglich hat der Verf. dieselben Fälle in den
verschiedenen Phasen ihres Verlaufes wiederholt
abgebildet.
Auf Tafel I fehlt unter den Figuren der phy-
siologischen Form die Abbildung eines völlig
normalen Hintergrundes , dagegen sind auch pa-
thologische Befunde aufgenommen, so Fig. 6
und wahrscheinlich Fig. 4; auch die Deutung
der Figur 8 als normale möchte nicht zulässig
sein. Abbildungen amblyopischer Augen sollten
niemals als normale Befunde wiedergegeben wer*
den. In der Darstellung des Glaucoms auf tab. II
findet sich nur in einer Figur die grüne Färbung
der Pupille wiedergegeben. Tafel III— VIII be*
handeln die Veränderungen der Retina, zu ihnen
gehört noch Fig. 2 auf Tafel XIV. Eine Kritik
der einzelnen Abbildungen würde nicht fördern,
nur die Abbildung der retinitis pigmentosa lässt
zu wünschen übrig. — Auf Tafel JX sind die
Farbennuancen der Ghorioidea sehr schön darge-
stellt und auf Tafel X— XIV folgen die patho-
logischen Bilder der Ghorioidea. Der Verf. ver-
zichtet auf eine genaue Scheidung der Chorioi-
ditisformen, da bis jetzt pathologische Anatomie
und Augenspiegelbefund noch nicht aufeinander
passen. Ein praktischer Arzt würde bitter das
Fehlen einer Abbildung von Ghorioideatuberkeln
vermissen.
Die Zeichnung der Figuren ist bis auf wenige
Ausnahmen durchaus zu loben. Die Ausstattung
des Werkes ist angemessen und schön. R.
In der Anzeige des Buches von F. D. Strauss ver-
bessere man
S. 140 Z. 14 her far sehr
8. 142 Z. 1 wie für das erste als
8. 147 Z. 21 Sehlaogen win düngen.
961
Gff ttingisch e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
ßtttck 8. 19. Februar 1873.
Das moderne Schöffengericht. Von
H. A. Zachariä, Staatsrath, Doctor und Pro-
fessor der Rechte in Göttingen. (Heft 12 der
Deutschen Zeit- und Streitfragen. Flugschriften
zur Eenntniss der Gegenwart. Herausgegeben
Ton Fr. von Holtzendorff und W. Oncken). Ber-
lin 1872. C. G. Lüderitz'sche Verlagsbuchhand-
lung, Carl Habel. 64 S. 8.
So allgemein heutiges Tages die Ueberzeu-
gung von der Notwendigkeit einer Betheiligung
des Volkes an der Rechtspflege, insbesondere in
Strafsachen, ist, um eine Garantie für die Aus-
übung derselben im volkstümlichen Sinne, im
Gegensatz zur blos juristisch-technischen Anwen-
dung der Gesetze, zu gewinnen und damit das
allgemeine Vertrauen in die Gerechtigkeit der
Richtersprüche zu stützen und zu stärken, so
ist doch die Frage, in welcher Weise das
laienhafte Element bei der Rechtspflege zu be-
nutzen und mit dem juristischen in Verbindung
zu setzen sei, gegenwärtig eine der wichtigsten
Streitfragen, besonders da die in der Vorberei-
22
282 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 8.
tung begriffene Reichsgesetzgebung für Civil-
und Criminalgerichtsverfahren und die not-
wendige Gerichtsorganisation sich alsbald für
eine der vorliegenden und in Streit befangenen
Alternativen wird entscheiden müssen.
Wie vor dem Jahre 1848, mehr wissenschaft-
lich als practisch, der Streit über den Vorzug
der Schwurgerichte vor den ständigen rechtsge-
lehrten Richtercoliegien an der Tagesordnung
war, indem selbst die in den Kammern hervor-
tretenden Reformbestrebungen mehr nur auf Her-
stellung eines nach den Forderungen der Münd-
lichkeit und des accusatorischen Prinzips ge-
stalteten öffentlichen Verfahrens, im Gegensatz
zu dem heimlichen oder nicht-öffentlichen, in
ganz Deutschland, mit Ausnahme der s. g. Rhein-
provinzen, noch herrschenden, Inquisitions-Pro-
cesses gerichtet waren, — wie unter Anderem
die sehr interessanten Kammerverhandlungen im
Königreich Sachsen, die vom v. Savigny'schen
Ministerium für Gesetzesrevision ausgegangenen
>Prinzipienfragen der Strafprocessordnung« und,
wenn es noch erlaubt ist, darauf Bezug zu neh-
men, des Unterzeichneten Schrift: »Ueber die
Gebrechen und die Reform des Deutschen Straf«
Verfahrens« von 1846 bekunden, — so trat mit
jenem Jahr, in Folge der sich überall geltend
machenden starken politischen Strömung, ein
von Ueberstürzung nicht ganz freier Wende-
punkt ein, indem sich jetzt in den meisten Staa-
ten rasch und ohne ruhige Prüfung dessen, was
man adoptirte (wozu damals keine Zeit war)
ein öffentlich-mündliches Verfahren mit Schwur-
erichten nach dem französischen
orbild von der Gesetzgebung der Einzel-
etaaten ins Leben gerufen und practisch durch-
geführt wurde, wobei sich freilich alsbald man-
f
Zacharia, Das moderne Schöffengericht. 288
cherlei Wandelangen, namentlich in Betreff der
Schwurgerichte und ihrer Competenz bemerkbar
machten. Nur eine Deutsche Gesetzgebung
war es, welche mit einer gewissen Selbstständig-
keit ihren eigenen Weg gieng, z. B. in Betreff
der rechtlichen Stellung der Staatsanwaltschaft,
der möglichst gleichen Berücksichtigung der
Interessen der Verteidigung, der zur Feststel-
lung der Schuld erforderliches Einstimmigkeit
der Richter und Geschwornen, der gleichmässi-
gen Behandlung der Berufungsfrage u. 8. w.
Dies war die Braunschweigsche Straf*
processordnung von 1849, die aber lange fast
gar keine Beachtung und erst später mehr
Nachahmung bei andern deutschen Gesetz-
gebern fand.
Allerdings lässt sich nicht verkennen, dass
die wesentlich französische Einrichtung der
Schwurgerichte, obwohl sie, wie in Frankreich,
nur bei den Verbrechen (crimes), nicht aber bei
den Vergehen und Uebertretungen (delits et
contraventions) nach der in Deutschland in ver-
schiedener Weise durchgeführten Abgrenzung
dieser drei Classen von Strafsachen, Anwendung
fand, alsbald in Deutschland Wurzel schlug und
getragen von der Sympathie der grossen Menge,
besonders in der von den Franzosen ihnen vin-
dicirten Eigenschaft einer politischen Ga-
rantie der individuellen Freiheit, so festen Be-
stand gewann, dass, trotz der mehr und mehr
erkannten inneren Gebrechen der Institution,
die deutschen Gesetzgeber — mit wenigen, durch
das Gebahren einer rücksichtslosen Reaction er-
zeugten Ausnahmen — nicht auf den Gedanken
kommen konnten, sie in Betreff der ihnen zu-
gewiesenen Straffalle zu verdrängen und wieder
ständige, nur mit gelehrten Juristen besetzte,
284 Gott. gel. Al&z. 1873. Stück 8.
Gerichte an ihre Stelle treten zu lassen. Alle,
welche ein sachgpmässes Urtheil zu fallen be-
rufen waren, müssten aber doch zugleich er-
kennen, class hauptsächlich nur in der damit
gewährten, bei den übrigen Strafsachen aber in-
consequenter Weise ganz versagten, Mitwir-
kung des laienhaften Elements, oder in
ihrer Eigenschaft als Volksgerichte, der
Grund ihres Vorzugs liege und von diesem
Standpunkte aus wurden die Schwurgerichte in
Deutschland gegen eine reactionäre, auf Aus*
schlus8 der volkstümlichen Seite hinarbeitenden,
Wissenschaft und Gesetzgebung auch von sol*
chen in Schutz genommen, welche früher die
EinführuDg derselben gar nicht gefördert hat*
ten, wie jenes z. B. auch vom Unterzeichneten in
der 1860 erschienenen ersten Abtheilung seines
Handbuchs des deutschen Strafprooesses §. 17, —
nicht Mos der empfohlenen Rückkehr zu der
frühern Einrichtung ständiger Gerichte sondern
auch den ungenügenden Vergleichs- und Vermit-
telungs- Vorschlägen gegenüber, — geschehen ist.
Es gieng auch hier wie mit dem Ei des
Columbus. Musste man erkennen, dass der
Grundfehler des modernen Schwurgerichts in
der Zerreissung der an sich ein untrennbares
Ganze bildenden Functionen der Urtheilsfallung
und der Vertheilung derselben an die juristisch-
technische und die laienhafte Hälfte der Schwur-
gerichte lag, ohne ihnen die Möglichkeit einer,
alle concreten Umstände umfassenden, Verstän-
digung zu gewähren, — so lagaugenscheinlich der
Gedanke sehr nahe, durch die vollständige Ver-
einigung der beiden, für gleich unentbehrlich
erachteten, Elemente zu einem organischen
Ganzen die Basis für eine Gerichtsorganisation
zu gewinnen, die zugleich den ' ,x ^ —
Zachariä, Das moderne Schöffengericht. 285
Tortheil gewähren konnte, in einer, wenn auch
quantitativ verschiedenen, homogenen Weise für
die processualische Behandlung aller Straf-
sachen verwendet zu werden und damit die qua-
litativ ganz verschiedenartige Gestaltung der
Strafgerichte fur die hauptsächlich nach Art
und Grösse der bevorstehenden Strafe geschie-
denen drei Classen der Straffälle zu beseitigen.
Das Verdienst, diesem Gedanken zuerst einen
gesetzlichen Ausdruck gegeben zu haben, ge-
bührt, wie in der oben angezeigten Schrift des
Unterzeichneten bei näherer Darlegung des Stan-
des der Frage in der deutschen Gesetzgebung
(8. 14 f.) besonders hervorgehoben wird , der
Hannoverschen Gesetzgebung von 1850 durch
Einrichtung der fur Polizeistrafsachen eingesetz-
ten, aus einem rechtsgelehrten Richter und
zwei Schöffen bestehenden, Schöffengerichte,
wobei den Gesetzgeber nur eine, in den da-
maligen Verhältnissen erklärbare, Schüchtern-
heit davon abhielt, seinem Gedanken die wfin-
schenswerthe Gonsequenz zu geben und ihn zu-
nächst wenigstens auch bei den Strafgerichten
mittlerer Ordnung (den Strafkammern der Ober-
gerichte) zur Geltung zu bringen. Auch auf
letztere das moderne Schöffengericht, — wel-
ches sich, wie gleich zu Anfang der obigen
Schrift gezeigt wird, von den altern deutschen
Schöffengerichten nicht unwesentlich unterschei-
det, — übertragen zu haben, ist dagegen aller-
dings dem um die sächsische und auch die
deutsche Strafgesetzgebung so hochverdienten
Generalstaatsanwalt Dr. Schwarze, zu ver-
danken. Nur Schade, dass er, im Vergleich mit
dem hannoverschen Vorgang, insofern einen
Schritt zurückthat, als er (worin ihm auch die
Sächsische Gesetzgebung von 1868 folgte) die
386 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 8.
Schöffen nur zur Entscheidung bei der Schuld-
frage zugezogen wissen wollte, was von ihm
mit einer gewissen Hartnäckigkeit auch noch
auf den letzten Juristentagen vertreten worden
ist, obwohl es fast auf der Hand liegen dürfte,
dass damit für die Zukunft des Schöffengerichts
keine Proselyten gemacht werden konnten, wie
besonders auch auf den Juristentagen zu Stutt-
gart (1871) und zu Frankfurt a. M. (1872)
sichtlich hervortrat. Wenn sich aber letzterer
nach einer eben nicbt sehr befriedigenden De-
batte für die Beibehaltung der Schwurgerichte
aussprach und die Schöffengerichte nur für die
Gerichte niederer und mittlerer Ordnung
acceptirte, so kann damit selbstverständlich die
Frage, besonders für die zukünftige Gerichtsor-
ganisation des Deutschen Reichs, nicht als ent-
schieden betrachtet werden, und dies um so we-
niger, als die Mehrheit des, eine sehr ungleiche
Repräsentation des Juristenstandes gewährenden,
Juristentaga offenbar mehr durch politische
Sympathieen als durch ruhige objective Erwä-
gungen zu einer Beschlussfassung bestimmt
wurde, bei welcher die Hauptfrage v ob die
Schwurgerichte, unter Beibehaltung der un-
natürlichen und nachtheiligen Scheidung der
richterlichen Functionen bei der Urtheilsfallung,
auf ihrer eigenen Basis verbesserungsfähig seien?
gar keine eingehende Erörterung gefunden hatte.
Näher auf diese Debatten einzugehen, muss
einer andern Stelle vorbehalten bleiben, beson-
ders da auch die oben angezeigte Schrift, welche
bereits im Juni 1872, wie am Schlüsse dersel-
ben bemerkt ist, geschrieben wurde, nicht dar-
auf Rücksicht nehmen konnte. Sie tritt, wie
kaum besonders bemerkt zu werden braucht,
mit grosser Entschiedenheit für das moderne
Zachariä, Das moderne Schöffengericht. 287
Schöffengericht ein und behandelt die Frage in
drei Abschnitten: I. Einleitende Be-
trachtungen, S. 1 f . II. Der Stand der
Gesetzgebung in Deutschland, S. 14 f.
HL Die Zukunft des Schöffengerichts,
S. 32 f. Der Verfasser erklärt sich in der wei-
tern Ausfuhrung und nähern Begründung der
einzelnen Punkte für das Schöffengericht: »A.
weil sich mit ihm die Forderung einer volks-
tümlichen Strafrechtspflege ebenso gut
und noch in ausgedehnterem Maasse verwirkli-
chen lässt, als mit dem Schwurgerichte (S. 36 f.);
B. weil die unverbesserlichen Mängel der
Urtheilsfallung mit Geschwornen, wie sie sich
besonders aus der Trennung einer an sich un-
theilbaren Aufgabe und deren Vertheilung an
verschiedene selbstständig und unabhängig von
einander agirende Organe ergeben, durch das
Schöffengericht und nur durch das Schöffenge-
richt vermieden werden; G. weil sich mit dem
Schöffengericht eine viel einfachere, har-
monischere und gleichartigere Construc-
tion der ganzen Strafgerichtsverfassung und des
Strafverfahrens verwirklichen lässt, als dies un-
ter Beibehaltung des, wenn auch in dieser oder
{"ener Hinsicht verbesserten, Schwurgerichts mög-
ich ist«.
An die ausführlichere Begründung dieser
Hauptsätze schliessen sich dann noch die For-
derungen, welche der Verf. (S. 60 fj für die
Bildung und Gestaltung des Schöffengerichts
aufstellen zu müssen glaubt. Indessen werden
die hier in Betracht kommenden Hauptpunkte,
in Betieff der Bedingungen für die Berufung
zum Schöffenamt und dessen Dauer, hinsicht-
lich des Zahlenverhältnisses zwischen Schöffen
und ständigen Richtern, bezüglich des bei den
1
288 Gott, gel Am* 1873. Stück 8.
Schöffen nothwendig zuzugestehenden freiem Be*
cusation8rechts und der Anerkennung des Rich-
teramts in seinem rollen Umfange bei den zur
Bildung des Gerichts erforderlichen Schöffen, in
der Torliegenden Schrift, unter Vorbehalt weite-
rer Ausführung, nur andeutungsweise hervor*
gehoben.
Inzwischen ist nun der schon seit längerer
Zeit vorbereitete Entwurf einer Deutschen
Strafprozessordnung veröffentlicht wor-
den. Wir glauben denselben fast in jeder Be-
ziehung ab ein ausgezeichnetes und vortreffliches
legislatorisches Product bezeichnen zu dürfen,
besonders auch deshalb, weil er, wie von dem
auf der Höhe der Wissenschaft stehenden be-
kannten Verfasser desselben zu erwarten war,
eine vollständige Verwertbung der wissenschaft-
lichen Errungenschaften der Neuzeit bekundet
und im Gegensatz zu den meisten jetzt in Gel-
tung befindlichen Gesetzgebungen, durch Aner-
kennung von Principien, welche dem Deut-
schen Geist und Rechtsbewusstsein entsprechen,
eine wirkliche Beform des Deutschen Straf-
prozesses anbahnt« So beruht er denn auch,
was wir mit besonderer Freude und Genug-
tuung constatiren, (obwohl in ihm selbst noch
keine näheren Bestimmungen darüber vorkom-
men, welche vielmehr dem Gerichtsorganisations-
Gesetz vorbehalten sind) auf der Voraussetzung
der Adoption des Schöffengerichts in sei-
ner vollen Bedeutung für alle Strafsachen; und
wenn nach dem vorliegenden Entwurf der Straf-
prozessordnung selbst darüber noch ein Zwei-
fel bleiben könnte, so würde er durch die Mo-
tive widerlegt werden, wo (S. 8) bei Zusammen-
stellung der wesentlichen Abweichungen des Ent-
wurfs Ton dem in Deutschland (überall oder
ia, Das moderne Schöffengericht. 289
meistens) bestehenden Strafprozessrecht, als
Neuerungen hervorgehoben werden: »I. Die
Strafartheile werden in erster Instanz nicht
mehr von rechtsgelehrten Richtern allein, son-
dern fiberall unter Mitwirkung von Laien
gefallt. II. Die erkennenden Gerichte erster
bistanz sind Schöffengerichte. Sie zerfal-
len in die Grossen, Mittleren und Klei-
nen Schöffengerichte. III. Die Grossen
Schöffengerichte treten an die Stelle der
seitherigen Geschwornengerichte. IV.
Die Schoflen üben in gleichberechtigter
Stellung mit den rechtsgelehrten Richtern das
Richteramt in seinem vollen Umfange aus.
V. Gegen die Urtheile »der Schöffengerichte fin-
det keine Appellation statt«. — Mit die-
ser Beseitigung der Appellation oder Berufung
in Betreff der s. g. Thatfrage, als einer mit dem
Prinzip der Mündlichkeit unverträglichen Insti-
tution, wofür auch der Unterzeichnete schon
längst sich erklärt hat (Handb. des Strafproc.
Th. II. §. 168 Goltdammer's Archiv Bd. XIX
S. 209 f.), mit der daraus sich ergebenden Be-
schränkung des Gerichts höherer Instanz auf
die rechtliche Würdigung der Sache — er-
klärt sich zugleich zur Genüge, weshalb der
Entwurf das Institut des Schöffengerichts in sei-
ner Realisirung auf die Gerichte erster Instanz
beschränken konnte und musste.
Dass es noch manchen Kampf kosten wird,
um dem Schöffengericht über die Schwurgerichte
den Sieg zu verschaffen, ist gewiss. Wir hoffen
aber auf diesen Sieg zunächst in der zur Prü-
fung der ausgearbeiteten Entwürfe niederzu-
setzenden Reichscommission, dann im Bundes»
rath und schliesslich auch im Reichstag um so
zuversichtlicher, als sich mehr und mehr unab»
23
290 . öött. gel Aüz. 1873. Stade &
hängige and vorurtheihfreie Stimmen ffir das
Schöffengericht erheben» Eine solche macht
sich auch in sehr eindringlicher Weise geltend
in einer jüngst erschienenen kleinen Schrift, de-
ren Anzeige wir alsbald mit der unsrigen in
Verbindung setzen wollen, nämlich in:
Die Frage des Schöffengerichts, geprüft an
der Aufgabe der Geschwornen. Von Dr.
Hugo Meyer, ordentl. Professor der Rechte
zu Erlangen. Erlangen 1873. Verlag von
Andreas Deichert. 54 S. 8°.
Der Verf. dieser Schrift, in der gelehrten
Welt zur Genüge bekannt durch seine anerkannt
tüchtige Schrift »That- und Rechtsfrage im Ge-
schworenengericht, insbesondere in der Frage-
stellung an die Geschworenen« (Berlin 1860),
die auch auf die Praxis nicht ohne Einfluss ge-
blieben ist, — und später durch seine vortreff-
liche Abhandlung über »Das Strafverfahren ge-
gen Abwesende« (Berlin 1869) u. s. w. stimmt
im Resultate mit dem Unterzeichneten, dessen
oben angezeigte Schrift er auch schon benutzen
konnte, völlig überein. An eine nähere Darle-
gung des Standes der Streitfrage über Ge-
scbwornen- oder Schöffengericht knüpft er eine
besonder 8 eingehende Prüfung der bei der Ur-
theilsfällung in Strafsachen zu lösenden Auf-
gabe und zeigt mit schlagenden Gründen, dass
dieselbe, vermöge der anscheinend so einfachen,
in der That aber unnatürlichen Scheidung der
richterlichen Functionen im Geschwornengericht,
mit letzterem auf eine genügende und der Ge-
rechtigkeit entsprechende Weise nicht gelöst
werden könne. Die Schrift erscheint insofern
besonders als eine weitere Ausführung " des
zweiten Hauptpunktes in der Schrift des Unter-
zeichneten (S. 51 f.) und liefert durch eingehend*
Paris, Diss, Crii s. le po&ne lat. du Ligurinus. 2d 1
Besprechung der hier entstehenden Detaitfragen
den bündigsten Beweis, dass eine gründliche
Heilung der im Schwurgericht hervortretenden
Gebrechen nur durch die Adoption des Schöffen-
gerichts zu bewirken sei. Wir haben diese
Schrift mit grosser Freude begrfisst und em-
pfehlen sie aus Tollster Ueberzeugung der Be-
achtung Aller, welche sich für die hochwichtige
Frage interessiren.
H. A. Zachariä.
Dissertation critique sur le poeme latin du
Ligurinus attribue ä Günther, par Gaston
Paris. Paris 1872. 8°. VIII und 97 SS.
Eine Abhandlung von Rudolf Köpke, »Der
Ligurinus und die Gesta Heinrici imperatoris
metrice«, die letzte Beilage zu seiner Hrotsuit
Ton G anderen ei m, lenkte im Jahre 1869 auf
diese beiden interessanten lateinischen Gedichte
von neuem die Aufmerksamkeit. Die Gesta
Heinrici hatte zuerst Pertz in einer akademi-
schen Vorlesung vom 13. März 1848, Archiv X,
S. 75 ff., fur eine humanistische Fälschung,
wahrscheinlich von Conrad Celtis, erklärt: ihm
trat 1856 in einem kurzen Anhang zum IL
Bande seines Kaiser Heinrich IV., S. 427 ff.,
Floto, und überzeugend 1857 in den Nachrich-
ten von der Göttinger Universität, S, 13 ff.
G. Waitz . entgegen. Der Ligurinus galt seit
der Unechtheitserklärung Senkenbergs 1737
vielen, seit der Erneuerung des Verdicts durch
Jacob Grimm 1843 fast allen Vertretern histo-
risch-philologischer Kritik für ein humanistisches
23*
29a Gott. gel. Anz. 1B73. Stück 8.
Machwerk. Köpke unternahm es nun in der
genannten Abhandlung die Senkenberg-Grimm'
sehen Gründe gegen die Authenticität des Li-
gurinu8, und die, welche Pertz gegen die Echt-
heit der Gesta Heinrici vorgebracht, weiter aus-
zuspinnen und mit neuen zu vermehren. Er
glaubte die gegen die ungerechtfertigten An-
griffe von Aschbach siegreich verteidigte Echt-
heit der Werke der Hrotsuit weiterhin durch Con-
frontierung derselben mit jenen beiden Fälschun-
Sen stützen zu können. Waitz antwortete für
as Gedicht über Heinrich IV. Sachsenkriege
mit einer nochmaligen eingehenden Untersuchung,
welche aus der Art der Ueberlieferung, aus
Sprache, Vers und Inhalt beweist, dass es. >so
gewiss ein Werk der Literatur des elften Jahr-
hunderts sei, wie irgend eins das uns erhalten
ist«; zugleich besorgte er aus der Editio prin-
ceps und einer davon unabhängigen Handschrift
eine neue Ausgabe, Abhandlungen der Kgl. Ge-
sellsch. der Wissenschaften 1870, Bd. XV, S. 1 ff.,
auch besonders abgedruckt: Das Carmen de
belle Saxonico oder Gesta Heinrici IV. Kurz
vor der Fertigstellung des Druckes starb Köpke,
sodass er nicht mehr seinen Irrthum als sol-
chen erkennen und zurücknehmen konnte.
Im Sommersemester 1869 hatte Waitz das
Carmen de bello Saxonico in den von ihm ge-
leiteten historischen Uebungen behandelt, und
zunächst das Interesse an der Echtheit dieses
Gedichts veranlasste den Referenten, auch den
Ligurinu8 näher ins Auge zu fassen: echt mit-
telalterliche sprachliche und poetische Eigen*
thümlichkeiten fanden sich hier wieder, und bald
erwiesen sich die zahlreichen von Senkenberg,
Grimm und Köpke vorgebrachten Argumente für
die Unechtheit als unhaltbar. Waitz , der
Paris, Diss, crii s. le poeme lat. da Ligurinus. 293
schon 1845 in Schmidts Zeitschrift für Ge-
schichtswissenschaft, Bd. IV, S. 105, sich ge-
schont hatte, den Verdammungsurteilen ent-
schieden beizutreten, und der selbst schon, ver-
anlasst vornehmlich durch die Angaben der
Editio princeps über den Ebracher Codex, von
dem in der 'Quellenkunde' ausgesprochenen Ur-
teil zurückzutreten geneigt war, ermunterte zu
genauerer Untersuchung: unter seiner fördern-
den Leitung, zum Teil in den 'Uebungen'
selbst, entstand dann die Abhandlung, Forschun-
gen XI, 142 ff., welche den Ligurinus als
authentisches Werk des Mittelalters (1186. 87)
darthut.
Völlig unabhängig davon beschäftigte sich
mit einer Widerlegung der Ausführungen Köpke's
seit dem Monat August*) 1870 in der von den
deutschen Armeen eingeschlossenen französi-
schen Hauptstadt der durch seine Arbeiten über
mittelalterliche Sprache und Literatur rühm-
lichst bekannte Herr Gaston Paris , welcher
selbst früher die These von der Unechtheit des
Ligurinus adoptiert hatte. Nachdem im Sep-
tember 1870 Herr Thurot in einer Vorlesung
über den Laborintus des Eberhard (nicht mehr
Bethuniensis !) in der Academie des inscriptions
et belles-lettres, vergl. Gomptes rendus de
l'Acadämie, 1870, Septembre, p. 263, auf die in
Aussicht stehende Arbeit hingewiesen hatte, las
sie Herr Paris im Januar 1871, und sie erschien
•) Da Herr Paris 8. VII sagt: et mon concurrent
avait du commencer son travail juste en mime temps que
mot, mag hier bemerkt werden, dass meine Arbeit beim
Ausbruch des grossen Krieges, Juli 1870, in allen Haupt-
sachen fertig war. Auf sie hinweisen konnte ich
schon in dem Nachtrag zu Waits, Carmen de bello
Saxonico, 8. 66.
294 G6tt. gel. Anz. 1873. Stück &
als Appendix zu den Comptes rendus des seanoea
de Pann6e 1871, Bulletin de Janvier et Ferner,
Tome VII, S. 91—152. Da er vor dem Druck
der seinigen von meiner Abhandlung 'des ren*
seignements tres-vagues' erhielt, gab er sie ohne
die sorgfältige Revision, die er ihr sonst zuge«
dacht, so wie er sie gelesen hatte (ebenda S,
91, Note 1). Die Untersuchung des Referenten,
zugleich mit den Forschungen, welche Paria
selbst inzwischen noch hatte anstellen können,
boten den Stoff zu einer neuen Vorlesung über
den Gegenstand.
Einen Abdruck dieser beiden mit einander
eng verbundenen Abbandlungen giebt das vor-
liegende, Herrn Rudolf Reuse, Professor am
protestantischen Gymnasium zu Straesburg, ge-»
widmete Büchlein.
Der gelehrte und scharfsinnige Kritiker
kommt, wie die genannte Abhandlung in den
Forschungen, oft auch mit denselben Beweis-
mitteln, zu dem Resultat: der Ligurinus ist ein
echtes Werk aus dem Ende des 12 ten Jahrhun-
derts (1187), und der Dichter trägt, wie er da*
beabsichtigte, wesentlich bei zum Ruhme dee
grossen Kaisers: le chantre de Frtdäric, quand
son authenticity sera reconnue, ne perdra plus
la place tres« honorable a laquelle il a droit
dans Thistoire littlraire de TEurope et particn«
lierement de l'Allemagne au moyen Ige.
In dem Dichter selbst glaubte ich früher
einen Italiener zu erkennen: Wattenbach erhob
dagegen sofort in seiner sonst zustimmenden
Abhandlung in von Bybel's Hietor. Zeitschrift Ein-
spruch, und ich liess meine Bedenken um so
leichter fallen, da es mir gelang, die Persönlich-
keit des Dichters selbst wieder ausfindig zu
machen« Herr £aris hat gleich in seiner ersten
Paris, Diss« exit. s. le po&me lat. da Ligurinus. 295
Vorlesung sich dafür ausgesprochen, dasa da*
in Frankreich gebildete Dichter ein Pent*
scher sei, und eingehend widerlegt er S, 77 ff,
meine frühere Annahme. Auch er hat sich
dann aber verleiten lassen, den Namen Gun-r
ther zu verwerfen: le Ligurinus est pour nous
et restera sans doute une oeuvre anonyme; der
Name Günther in der Subscription des Ligurit
nus stamme aus einer Identificierüng des Pich«;
ters mit dem von Trithemius genannten Gunthar
von St Amand (f 1 107), Verfasser einer Passio
8. Cyrici (so statt Cyriaci, wie Herr Paris zu?
erat bemerkt). Aber dies ist so wenig richtig,
wie meine frühere Ableitung von der erst 1604
gedruckten Historia Constantinopolitana ; die
Identificierung erfolgte erst, als man den in de»
Handschrift Günther genannten Dichter suchte;
Trithem selbst unterscheidet richtig die be\i
den Günther, indem er jenen zu 1100, den
Verfasser des Ligurinus zum Jahr 1189 setzt.
In Wirklichkeit hiess unser Dichter Günther;
er war Weltgeistlicher und Magister bis 1106,
wo er ins Cisterzienserkloster Paris bei Sigolte-
heim im Elsass als Novize eintrat. Bald ward
er Prior, und wir verlieren seine Spur um
1212, obgleich er nach einer Notiz der Fortr
setzer von Moreri und von Potthast noch bis
ins Jahr 1223 gelebt haben soll Ausser Solir
marine and Ligurinus schrieb er die pro-
saischen Werke: Historia peregrinorum (1194),
Historia Constantinopolitana (1207), de oratioae,
ieiunio et elemosyna (1210. 12), vgl. meine
Studien zur Geschichte der Herzogin Matilde,
S. 16, Note 1, und die nähere Ausführung For?
schungen zur deutschen Geschichte Bd. XIII,
Heft 2 rietet noch im Druck). Die beiden letz-
teren Schriften sind bei Migne ,mit der DümgeV
296 Gott. eel. Anz. 1873. Stück 8.
sehen Ausgabe des Ligurinus zusammengedruckt,
und es ist ein Spiel des Zufalls, dass Herr Pa-
ris, der gerade jene Ausgabe benutzte und aus
der Vergleichung von Stellen der Hist. Const,
mit dem Tractatus de oratione die Identität des
Autors dieser beiden constatiert, nicht einen
Schritt weiter ging, diese Werke auch mit dem
Ligurinus genauer zusammenzuhalten: seinem
Scharfblick ware wohl kaum der Sachverhalt
entgangen.
Herr Paris behandelt zunächst eingehend die
Geschichte des Ligurinus. Betont wird dabei
die Bemerkung von Dümge, Praei S. LVI, das
von ihm benutzte Exemplar der Editio princeps,
jetzt in der Freiburger Universitätsbibliothek,
ursprünglich von Conrad Peutinger selbst dem
Tübinger Grammatiker Jacob Heinrichmann
f nach 1560) geschenkt, enthalte für Buch I —
I Correcturen, welche mit den von Ritters-
husius, vergl. dessen Praef. S. Bs, benutzten
öfters übereinstimmten. Er schliesst daraus,
dass dieselben direct auf den Codex zurück-
gehen. Referent hatte, weil jene Correctu-
ren oft willkürlich sind, und weil Dümge
selbst bemerkt, dass sie nicht von Peutingers
Hand stammen, in ihnen nichts weiter gesehen
als Conjectures Nun hat aber Herr Paris für
Buch HI— V in der Bibl. nationale, lat. 11347,
eine Handschrift gefunden aus dem Anfang des
16. Jahrhunderts, welche nach den nicht anzu-
tastenden Resultaten der von ihm angestellten
Collation direct auf den Ebracher Codex zurück-
zuführen ist. Hier (P) finden sich Abweichun-
gen von der Editio princeps (A), welche mit
Varianten in den von Rittershusius (Acc) und
Dümge (Ac) benutzten Exemplaren stimmen, so
dass dadurch auch für letztere ein director Zu-
«
Paris, Diss. crit. s. le poeme lat. du Ligurinus. 297
sammenhang mit dem Codex wahrscheinlich ge-
macht wird: doch ist hier Vorsicht anzuwenden,
denn z. B. III, 57 bezeugen A und P für den
Ebracher Codex die Lesart Sic, während das
von Dümge benutzte Freiburger Exemplar St
corrigierte; und V, 364 (vgl. unten) hat Ac
eine von A und P durchaus abweichende Cor-
rector. Interessant ist es aber zu bemerken,
dass an verschiedenen Stellen die vielleicht von
Peutinger herrührenden Errata der Ed. princ.
mit den richtigen Lesarten von P stimmen,
während sie andererseits recht oft gegen die
fibereinstimmenden Lesefehler von Ed. princ.
und P den richtigen Text bieten*). Daraus
folgt einmal, dass Peutinger oder einer von sei-
nen Freunden bei der Anfertigung des Druck-
fehlerverzeichnisses die Handschrift selbst vor
Augen, und weiter, dass der Schreiber von P
die Augsburger Ausgabe nicht zur Hand hatte,
also vor 1507 die Copie nahm. Durch die
Yermuthung, dass der erst 1507 beendete
Druck der Editio princeps schon im Jahre
1500, wo spätestens Celtis den Codex fand,
begonnen habe , schafft Herr Paris Baum zur
Erklärung der weiten Verbreitung, die das
Epos vor der Fertigstellung des Druckes gewon-
nen hatte: in der Zwischenzeit sind neben Ab-
schriften vielleicht auch Aushängebogen ein-
zelner Bücher verbreitet und für die Vorlesun-
gen an den Universitäten benutzt worden. Man
begreift nicht recht, warum der Verfasser, ge-
stützt auf eine sehr vage Notiz des Caveus, dem
die Ausgabe von 1507 nicht vorlag, das Vor-
handensein einiger Exemplare mit der Jahres-
♦) Ersten» z. B. EI, 11. 50, 111; V, 66. 144. 682;
letztere* in, 189. 891. 450. 463. 619; IV, 112. 140. 188.
204. 271. 872; V, 484. 515. 546.
298 Göti gel Am. 1873. Stück 8.
zahl 1500 auf dem Titelblatt nachzuweisen flieh
bemüht (S. 12), die doch wohl den nächstfolgen-
den Herausgebern nicht unbekannt geblieben
Bein dürften. — Ich übergehe hier die Aus-
führung über den Namen Günther, der, wie ich
an anderm Orte zeige, doch aus dem Ebrecher
Codex stammt (Note 9. 30 verwechselt Herr
Paris durch ein Versehen den Titel Ghronicon und
Annales Hirsaugienses, und das von Dümge sig-»
nalisierte in England befindliche 'poema de
Barbarossa' ist nicht Manuscript, sondern ein
mit einer Handschrift verglichener Druck). Auf*
merksam verfolgt Herr Paris die weiteren Schickr
sale des Werkes von der Unechtheitserklärung
Senkenbergs bis auf unsere Tage und zeigt,
wie die moderne Kritik auf dem einmal betre*
tenen Wege immer weiter sich verirrte: die Ge-
fahr, der Wilmans bei der Bearbeitung des Wil-
helm von Apulien sich nahe fühlte, bis er die
Handschrift von Avranches fand, beweist, wie
sehr man bei der Beurteilung soloher poeti-
scher Bearbeitungen der Geschichte sich ge*
wohnt hatte falsche Gesichtspunkte anzulegen.
Ein zweiter Abschnitt des ersten Teils (S.
29 — 51) thut die Authenticität des Ligurinus
dar, völlig überzeugend für jeden, der ohne
Vorurteil die Sache betrachtet. Der Reihe
naeh werden die von Köpke reproducierten und
erweiterten Senkenbergschen Gründe widerlegt,
fast Schritt für Schritt sich deckend mit dem
entsprechenden Abschnitt in Forschungen XI,
S. 256 ff. Neu ist der Hinweis auf die Erb-
schaftsansprüche Weif VI. auf die Matildinischen
Güter (S. 39), und die Verwandtschaft des*
selben mit Friedrich (S. 40), die Erläuterung
des freimüthigen Standpunktes unseres Dichters
gegenüber Kaiser und Papst an Garnier de
is, Diss, crit s. le po&me lat. da Ligurinus. 299
Pont-Sainte-Maxence (S. 45) und ähnliches, wo-
gegen einige kleine Versehen, die meist weiter«
hin corrigiert werden, gar nicht in Betracht
kommen. Zu den S. 44 gegen Köpkes Mis-
deutnng richtig erklärten Versen Lig. X, 641 ff.,
wo das Gedicht seinen Antor als Vater, parens,
bezeichnet, giebt Günther selbst eine hübsche
Erklärung de orat. IX, c. 4: Gott nennt sich
Vater aller Geschöpfe eo videlicet loquendi modo,
quo quis eius rei, cuius ipse primus inventor
est, nt poematis vel artificii, pater appellatur.
Noch einmal S. 49 auf die vorgebliche Autor-
schaft von Celtis zurückkommend, zeigt Paris,
gestützt auf eine genaue Kenntnis der einschlä«
gigen Literatur, dass Celtis und die Humanisten
überhaupt als lateinische Dichter weit unter
dem Verfasser des Ligurinus stehen und auch
nicht annähernd die hier vorliegende Form«
Vollendung besitzen.
S. 51 — 55 sind dem Solimarius gewidmet,
dem ersten grösseren dichterischen Werke des
Autors, über den ersten Kreuzzug, verfasst 5
Monate vor Beendigung des Ligurinus, 1186.
Das von mir als Schlussstein benutzte Gitat
dieses Werkes im Laborintus des Eberhard bil*
dete für Herrn Paris den Ausgangspunkt der
ganzen Untersuchung. Sehr dankenswert ist
die Erläuterung der wichtigen Verse Lig. I,
729 ff., wo Günther einen im Solimarius ge-
machten Fehler corrigiert, durch Heranzie-
hung romanischer Kreuzzugspoesie, aber wenn
Herr Paris aus übereinstimmenden Zügen den
Schluss ziehen zu dürfen glaubt, dass der Soli-
marius vielleicht ursprünglich in einem der
beiden grossen Dialecte Frankreichs gedichtet
war, so geht er zu weit. Rumor und famae
vnlgata sind unzuverlässige Nachrichten im
800 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 8.
Gegensatz zu der historischen Wahrheit, dem
historicus ordo, hier so gut wie rumor Lig. VI,
46, wo Ragewin, G. F. III, c. 1 seine Quelle
war; die Verse
Hanc tarnen historie seriem plerique retain
Gonfundunt variantque suo, solique decorem
Roberto magni gaudent adscribere facti,
weisen hin auf schriftliche, selbstverständlich la-
teinische, Quellen, wie sie auch Gilo von Paris
in seinem Epos über denselben Gegenstand
zugrunde gelegt hatte. Es ist von vornherein
unwahrscheinlich, dass derselbe deutsche Ver-
fasser, der sich im Ligurinus mit klar ausge-
sprochener Absicht so eng an seine zuverlässi-
gen Quellen anschliesst, und der sich als 'doctus'
so selbstbewusst dem Laienvolke gegenüberstellt,
kaum ein Jahr früher romanische Poesie sollte
in lateinische Verse gebracht haben.
Der Schlus8 der ersten Abhandlung, S. 56
— 61, stellt übersichtlich zusammen, was sich
aus dem Gedichte selbst über den Autor ent-
nehmen lässt: meine auf breiterer Grundlage
aufgebaute Ausfuhrung Forsch. XIII, Heft 2
(Abschnitt II) wird zur Ergänzung und zur Be-
richtigung einzelner Punkte dienen. Bei der
Würdigung des historischen Wertes unseres
Gedichts hat sich der Verfasser fast zu sehr
durch Grimms Urteil beeinflussen lassen. Der
Dichter selbst verweist zwar die Historiker auf
seine Quelle, die Gesta Friderici Ottos und
Bagewins :
Si quem igitur rerum prolixior ordo, fidesque
Incorrupta juvat, doctorum scripta virorum
Gonsulat atque ipso latices de fönte petitos
Hauriat,
und noch de orat. IE, 3 weiss er, quanto fons
rivuli* wis dignior atque prestantior. Aber
Paris, Diss. crit. s. le poeme lai da Ligurinus* SOI
wenn auch Günther mit liebenswürdiger Be-
scheidenheit nur seiner Verse wegen gelobt sein
will, ans liegt hierin nicht sein einziges Ver-
dienst : gerade der Umstand, dass er sich seiner
Quelle oft aufs Wort anschliesst, ermöglicht
uns an verschiedenen Stellen, wo die Hand-
schriften nicht aasreichen, die richtige Textge-
staltung von Otto und Rage win; an anderen
Stellen bietet er die richtige Interpretation für
dieselben, und seine Abweichungen, sowie die
Zusätze, die er macht, sind gar nicht so unbe-
deutend. Sehr richtig sagt auch Herr Paris
selbst: c'est aussi un temoignage digne d 'atten-
tion, bien qu'indirect, qu'il apporte a Phistoire
par la composition meme de son poeme et le
ton qu'il y prend. La splendeur du regne de
Frederic, l'admiration dont il avait frappe ses
contemporains, s'y refletent avec veritö. £n le
pla$ant ä cöte de Cesar et de Charlemagne, le
Sete nous rend l'impression de l'AUemagne du
I* siecle; il contribue reellement pour sa part,
comme il voulait le faire, ä la gloire du grand
empereur.
Zu der nun folgenden eingehenden Bespre-
chung meiner früheren Arbeit erlaube ich mir
nur noch ein paar Bemerkungen.
Wäre ich nicht auf dem oben angedeuteten
Wege schon bevor ich die erste Abhandlung
des Herrn Paris erhielt von meinem Irrthum
zurückgekommen, so hätte mich die Ausführung
S. 77 ff. überzeugen müssen, dass unser Dichter
Dicht Italiener, sondern Deutscher war, obgleich
nicht alle von mir vorgebrachten Gründe wider-
legt sind und nicht alles was hier geltend
macht wird volle Beweiskraft hat. Da aber
deutsche Nationalität Günthers ausser Zweifel
gestellt ist, kann es sich nur noch fragen, ob
302 Gott* gel. Anz. 1878. Stück 8.
man ihm, wie Herr Park thut, die persönliche
Bekanntschaft mit Ober- und Mittelitalien ab-
streiten darf. Man wird zugeben, dass die ge-
naue Kenntnis der Verfassungsverhältnisse in
den lombardischen Städten, die Beschreibung
der Yeroneser Clause nnd Venedigs, die Worte
über Viterbo III, 243 und der Blick vom Berge
Gaudia auf Rom (IV, 10 ff.), die bis auf die
Kleidung sich erstreckende genaue Charakteri-
stik der Lombarden und ähnliches für einen,
der Land und Volk nie gesehen hatte, mehr als
auffallend sein würden: bei weitem schwächer
sind die Gründe, die zur Annahme berechtigen,
der Dichter habe in Paris sich einige Zeit auf*
gehalten. Und war denn nicht die Wanderlust
gerade damals unter der studierenden Jugend
in Deutschland zu Hause? Das S. 81, Note 90
hervorgehobene 'nos procul absentes' im Gegen«
satz zu 'oculata fides' Lig. IV, 612 ff. ist Um-
schreibung ton Otto G. F. H, c. 26. So wenig
wie Otto war der Dichter Augenzeuge der von
ihm verherrlichten Thaten, aber eine Nicht*
kenntnis des Schauplatzes dieser Thaten selbst
kann man aus jener Stelle nicht folgern.
S. 69, Note 82. Ob in der ersten Ausgabe
von Nauclerus (1501) der Name Guntherus be*
reite sich findet, habe ich nicht feststellen
können. Forsch. XI, S. 172, Note 6 citierte ich
nur mit Verweisung auf Dümge, Praef. S. XVUL
Da aber Bebel schon 1500 den Namen kennt
(ibid. S. 173; Paris S. 8), ist die Sache ziem-
lich irrelevant. Ja, man könnte angesichts des
Guntherus Alemannia bei Bebel, das sich als
Correctur in dem Freiburger Exemplar (Ac)
wiederfindet, glauben, dass die Subscription des
Codex zu dem Namen auch schon letzteren Zu-
satz geboten habe.
I
, Diss, crit. b. Id podme lat. da Ligurinus. 808
S. 71, Note 84. Den engen Zusammenhang
der lateinischen Poesie des Mittelalters mit der
antiken Poesie hatte ich S. 190 recht stark be*
tont, mit Nennung der am meisten gelesenen
Autoren, unter denen auch Lucan. Jede ein-
zelne der aufgeführten Formeln auf ihre alte
Quelle zurückzuführen konnte da nicht meine
Aufgabe sein, wo aus der Uebereinstimmung mit
mittelalterlichen Schriftwerken die Authen-
ticity dargethan werden Bollte.
S. 72. 73. Die Deutung der fünf Monate
auf fünf Jahre wird fallen müssen ; aber bei der
Abfassung seines zweiten Werkes hält sich Gun*
ther, obgleich ein kleines Flüchtigkeitsversehen
mit unterläuft, für gut unterrichtet, wie er es
auch in der That war.
Die genaue Vergleichung der Pariser Hand-
schrift mit der Editio princeps S. 91 ff. giebt
uns ein anschauliches Bild von dem Ebracher
Codex, der auf keinen Fall das Archetypon
war, wahrscheinlich aber aus der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts stammte. Man
wird sich dem aus glücklicher Gruppierung der
Lesarten gewonnenen Resultat des scharfsinnigen
Kritikers unbedingt anschliessen, dass hier eine
unmittelbare Abschrift aus dem Ebracher Codex
vorliege: es ist wohl kaum Grund zur Annahme
einer Zwischenstufe vorhanden, um so weniger,
da nach dem, was wir oben andeuteten, die
Copie vor 1507 angefertigt sein muss. — Lig.
Ill, 266, wo der Migne'sche Abdruck, welcher
Herrn Paris vorlag, liest: deserto, wie P, hat
übrigens Dümge selbst: diserto; die Ueberein-
stimmung ist also lediglich Zufall. — III, 462
lasse ich das 'gallica' der Ed. princ. gegen
bellica nunmehr gern fallen. — IV. 447 scheint
incautos doch auch zu dem Text der G. F«
304 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 8.
besser zu passen; man muss, will man es
festhalten, freilich annehmen, dass der sonst
sclavisch getreue Abschreiber in P hier zu dem
auch in A gemachten Lesefehler ibi (statt in)
die übrigens aus dem unmittelbar vorhergehen-
den 'claudere' leicht zu gewinnende Correctur
clausos hinzugefügt habe. Einen Zusammen-
hang von P mit Ac würden wir darum noch
nicht annehmen. — III, 341: Najestate hat auch
A; es gehört also unter die erste Rubrik auf
S. 92. — V, 364 liest A:
JE gregio Manuell orator miserat urbis,
und P:
A: gregio Manueli orator miserat urbis;
der Codex Hess also nur den Anfangsbuchstaben
des ersten Wortes zweifelhaft. Dem gegenüber
ist sicher reine Gonjectur die mit Hülfe des
drei Verse vorher stehenden 'graia ab urbe' in
Ac hergestellte Lesart:
Rex graiae Manuel oratum miserat urbis.
Aus P und Ac bildet nun Paris:
A grata Manue/ oratum miserat urbe,
mit vier bedeutenderen Aenderungen dem Codex
gegenüber. Dagegen glaube ich meinen frühe-
ren Vorschlag aufrecht halten zu müssen (a.a.O.
S. 169):
JEgregie Manue/ moderator miserat urbis.
Das 'moderator' ist angedeutet durch das i hin-
ter Manuel , . und stützt sich auf Lig. VI, 389,
wo es an derselben Versstelle steht, vgl. Stat.
Theb. III. 1 ; die Aenderung eines o in e ist in
der Ed. princeps häufiger noth wendig; aus
einem undeutlichen M im Codex sind die bei-
den Punkte hinter dem A in P leicht zu er-
klären ; und vereinzelt findet sich ja ae in Hand-
schriften aus dem Anfang des 13 ten Jahrhun-
derts noch immer, und zwar nicht selten an
Paris, Diss, crii s. le po&me lat. da Ligurinus. 305
Stellen, wohin es nicht gehört. Endlich ist das
'oratum' in den Worten Otto's, G. F. c. 29:
qui ex parte principis sui Manuel advenerant,
nicht motiviert, moderator aber deckt sich mit
princeps.
Zum Schluss müssen wir noch rühmend an-
erkennen die gefällige, sehr lesbare Form, welche
Herr Paris seiner Untersuchung zu geben wusste;
und äusserst wohlthuend ist in jetziger Zeit —
wir erinnern an Ernst Renan — der vorurteils-
freie, objective Ton gegenüber den deutschen
Vertretern der Wissenschaft, deren jüngere
doch, wie er selbst andeutet, in der Zeit, wo
er seine Abhandlung schrieb, vielleicht beschäf-
tigt waren ä preparer l'attaque, qui peut de-
truire notre ville. Wenn auch die deutsche
Forschung dem Verfasser um eine kleine Spanne
Zeit zuvorgekommen ist, so beeinträchtigt das
nicht den Wert der völlig unabhängigen Ar-
beit. H me semblait piquant, heisst es S. VI,
de sortir de Paris avec une petite victoire rem-
port& 8ur la critique allemande, et il ne me
deplaisait pas, en ce moment surtout, de resti-
taer gänäreusement ä la couronne poetique de
l'Allemagne un fleuron dont eile s'etait depouilläe
avenglement elle-meme.
Kloster Ufeld. Dr. A. Pannenborg.
24
806 Gott, gel Ana. 1873. Sttiak &
Das Gothische Verbum in sprachver-
gleichender Hinsicht dargestellt von C. W. M.
Grein, Dr. phü. Cassel 1872. Verlag voa
Theodor Kay. 75 SS. gr. Oct.
Zunächst die Frage, warum schreibt man
meist immer noch Gothisch für das richtigere
Gotisch, das uns doch in dem Ambrosianischen
Kalender-fragment in dem Compositum Gutthiuda
so deutlich vorliegt? — Herr Grein hatte in
seiner Schrift Ueber den Ablaut (1862) uns
eine grammatische Studie vorgelegt, die hier
wieder aufgenommen und durch Berücksichti-
gung auch des sog. schwachen Verbums erwei-
tert ist. Beschränken wir uns auf die gegen*
wärtige Arbeit, so liegt ihr Hauptwert meines
Eracbtens nicht in der weitern, sondern viel-
mehr in der engern Sprachvergleichung, d. b.
in der Herbeiziehung der dem Gotischen so
nahe stehenden anderen niederdeutschen Dialecte,
namentlich des Angelsächsischen, auf welchem
Felde Hr. Grein bekanntlich besonders verdient
ist; dagegen können wir uns weder die Theorie
des Ablauts, wie sie Herr Gr. im Anschluss an
Bopp sich gebildet hat, für das deutsche Sprach-
gebiet recht aneignen, noch seine Scheidung der
schwachen Verba adoptiren. Doch will Ref.
sich nicht in unerquicklichen Ausstellungen an
einer fleissigen und verdienstlichen Arbeit er-
gehen, vielmehr einen bescheidenen Versuch wa-
gen, für den Ablaut auf germanischem Gebiet
eine einfachere Erklärung zu geben. Für das
Sanskrit schliesse ich mich im Ganzen der An-
sicht Holtzmanns an, d. h. ich glaube, dass
hier durchaus nicht der veränderte Accent allein,
sondern daneben Vocal-accommodation oder :
f
■
■
Grein, Das Gothisehe Verbum. 807
•
Umlaut sm erblicken ist*), und auch FäHe wie
scr. coräy&mi von cur sind wol ähnlich aufzu-
fassen. Dagegen ist eine gleiche Erklärung des
gotischen Ablauts einerseits bedenklich, da
man Umlaut im Gotischen sonst nicht kennt,
und andrerseits vielleicht unnöthig, da sich hier
eine andere, naher liegende Erklärung darbietet.
Die Aehnlichkeit der gotischen und der San-
skrit-Conjugation ist überhaupt wohl vielfach
überschätzt worden: neben einigen, vielleicht
zum Theile auch nur scheinbaren Analogien fin-
den sich sehr bedeutende Differenzen, welche
nicht übersehen sein wollen.
Im Gotischen giebt es bekanntlich neben
ablautenden noch reduplicirende Verba, während
die anderen deutschen Dialecte scheinbar nur
ablautende (und schwache) Verba noch aufwei-
sen, indem die Reduplic-sylbe mit der Stamm-
sylbe zu8ammenflos8, ebenso wie auch in einigen
lateinischen Verbis. Nichts scheint nun näher
zu liegen, als auch die im Gotischen schon
ablautenden Verba als ursprünglich reduplici-
rende zu erklären, und es ist damit von mir
nichts Neues gesagt. In Praeteritis wie band,
bundum ist einfach die Beduplicationssylbe ab-
gefallen, diese Classe der ablautenden (bei
Grein die II) steht den wirklich reduplicirenden
am nächsten, denn in beiden Fällen hat die
Länge der Stammsylbe, die theils durch Doppel-
consonanz, theils durch vocalische Länge gewirkt
war, die Verschmelzung der Stammsylbe mit
dem Redupi. praefix wenigstens im Gotischen
noch aufgehalten. So nämlich wird man die
Erscheinung, welche Holtzmann (Altd. Gr. S. 3)
so ausspricht: »nur langsylbige Verba können
*) Vgl« Holtzmann Ueber den Ablaut S. 7,
24*
808 Gott, geh Anz. 1873. Stück 8.
(im Gotischen) redup Heiren« wohl etwas rich-
tiger auffassen.
Was die übrigen ablautenden Verba betrifft
(Classe I, III — V Grein), so fassen wir hier zu-
nächst nur das Präteritum in's Auge.* Sobald
man nun zugiebt, dass im Gotischen die Re-
dupl.-sylbe früher den Vocal a zeigte, wie im
Sanskrit, so erklärt sich in Cl. I nemum aus
nanamum (und ebenso lat. egi aus agagi, san-
skr. sedivä aus sasadiva), in Cl. Ill för aus fa-
far, forum aus fafarum*), aber auch in Gl. IV
staig aus stastig, und in Gl. V bauth (= baud)
aus ba bud. Dass in dem einen Fall die Con-
traction in Sing, und Plur. gleichmässig durch-
griff, in dem andern nur entweder im Sing, oder
Plural, wird kaum andere als phonetische
Gründe haben, für den völligen Abfall der Re-
dupl-sylbe in nam, ötigum, budum lag ja die
Analogie der Cl. II band, bundum vor.
Im Präsens zeigt nur Cl. III den ursprüng-
lichen Vocal, in I und II ist a zu i herabge-
sunken, in IV und V erscheint fur i und u ei
und iu. Wie erklärt sich nun steiga und biuda
mit ihrem scheinbaren Guna? Nimmt man
mit Holtzmann an, dass in Cl. III im Präsens
ein j verloren ging, also fara (vermittelst fära?)
für farja steht, so kommt man leicht weiter
dazu, auch steiga aus stigja, biuda aus bud ja **)
*) Zwischen e und o, den beiden gewöhnlichen Ver-
tretern von ä im Gotischen hat wohl nur der Wohl-
klang unterschieden. Vergl. Scherer D. Spr. S. 14.
**) biudan passt doch der Bedeutung nach nicht
recht zu nvv&dro/ua*, sonst würde ich biuda = bunda
gerne gelten lassen. Dagegen ist ein trans. Verbum
von derselben Wurzel nahe gelegt durch die Composite
gebieten, entbieten, sowie durch Bote und Büttel, um
die nhd* Formen zu wählen.
Grein, Das Gothische Verbum. 309
tu fi. w. zu erklären, und lüka aus lukja. Man
hat schon früher die Analogie des gr. « und sv
in Präsensstämmen wie Xeinco, oreixco, (psvym
mit diesem goth. ei und iu anerkannt, und ich
stehe nicht an, auch diese gr. Formen ent-
sprechend zu analysiren, also ysvyca = tpvyjao
= 1. fugio, %svxm (neben tvyxdvw) aus tvrx*» =
tvyju, arslxco aus mtyjm (vergl. lat. vestigium)
nt-Qalvw aus JUQavjto u. s. w. Im Lat. entspricht
dem 6$ (a») natürlich T, dem ev ein ü, z. B. in
düco = ducjo neben ducis*). In manchen Fällen
mag das ei des Präsens auch als Ersatzdehnung
für älteres in (an) zu betrachten sein und iu
= un anzusetzen sein Cgiuta = fundö) wie
dies yon J. Schmidt Zur Gesch. des indog. Voc.
S. 48 fg., S. 133 fg. scharfsinnig ausgeführt ist:
die Hauptsache scheint mir, das ei und iu des
got. Präsens als besondere Präsensformen und
nicht in gleicher Weise wie die nur scheinbar
so nahe stehenden Vocale des Praeteritums zu
erklären. Ebenso glaube ich bei den sogen,
schwachen Verbis einer selbstständigen Auffas-
sung beider Tempora das Wort reden zu müs-
sen. Wenn das Präsens durch ja verstärkt
ward, so braucht darum im Praet. nicht ida zu
erscheinen, viele derartige Verba gehen ablau-
tend, wie bidja, frathja, farja u. s. w., vielleicht
auch biuda = budja u. s. w. und die Intran-
sitiven wie fullna = fullnja ziehen im Praet.
ödavor. Allerdings hat ein gewisser Schematismus
(das Öfter sogen. Pedantische der d. Sprache) in
den meisten Fällen den Vocal des Präsens mit
dem des Praet. in Einklang gesetzt. — Grein
versucht eine Scheidung der got. schwachen
Verba in solche auf aja und fija**), erstere von
*) Got. tiuha = mhd. ziuhe, g. tuhja = zücke,
**) Nach L. Meyers Vorgang.
310 Gott. gel. Ahz. 1873. Stück 8.
Subst. auf a, die zweite von Subst. auf & durch
das Suffix ja gebildet — aber diese Subst. sind
wie 8. 46 eingeräumt wird, oft schon im Sanskr.
nicht mehr nachzuweisen, und auch sonst spricht
Einiges dagegen. Wenn wir z. B. im Sanskr.
karunaja vor uns haben, so zeigt das Subst.
karuna bekanntlich sowohl a als &, je nachdem
es masc. oder fem. ist, und Grein selbst setzt
S. 55 oben karuna als Grundform an. Warum
also nicht karunaja? Die Dehnung des a Hesse
sich hier ja leicht anders erklären: ich glaube
dass überall das Suffix aja vorliegt, dies aber
nicht = a + ja, sondern einfach = i ist, wie
ja schon die indischen Grammatiker i als Cha-
racter der zehnten Conj.-klasse angesetzt ha-
ben4'). Dies aja konnte zunächst zu ä werden,
in habä = habaja, oder mit weiterer Dehnung
zu 6, wie in salbö = saibaja. (habajis = ha-
bais, salbajis = salbäs, salbos). Nur sehr
künstlich aber gelingt die Erkennung des urspr.
aja in Verbis wie nasjan, sokjan : nur der
Imper. nasei (vergl. S. 47) soll das erste a ge-
wahrt haben, überall sonst ist aja zu ja eynko-
pirt! Aber nicht bloss überall sonst genügt
die Annahme des Suffixes ja (entsprechend also
der vierten Conj.-klasse im Sanskr.) vollkommen,
sondern ich dächte auch im Imp. nasei liegt
nur nasi vor, entsprechend dem so lehrreichen
hiri, das Grein als abweichend anführt**).
Dies im Auslaut ebenmeist zu ei = t gedehnte
i ist nichts weiter als das Suffix ja, das wohl
ebenso wie aja auf die Grundform i zurückzu-
führen ist. Vergl. auch sokeis = sökjis.
•
*) Vergl. Bopp Kürz. Sanskr. gr. §. 271 Amn.
**) Der künstlichen Erklärung Bopps, wonach hiri
sa hidrö-i schließet sioh auch Soberer S. 204 an.
Grein, Das Göthischö Vortam. 811
Was das Präteritum betrifft, so kann ich
weder nach Weise der Früheren*) da aas dad
erklären, noch mit Leo Meyer Goth. Spr. S«
130 in freilich weit richtigerer Weise — da =*±
dida statuiren, denn mit dem Schwinden • der
Reduplic-sylbe wäre das einzige Element, wo«
durch das Präteritum als solches bezeichnet
wurde, verfluchtigt. Eine andere Erklärung wird
sich durch Betrachtung des scheinbar so ano-
malen iddja ergeben. Wenn auch Scherer S.
204 über Alle zu Bpötteln scheint, die iddja
nach Holtzmann noch anders als dieser, näm*
lieh = ijaja auffassen konnten, und L. Meyer
G. Spr. S. 116 eß »nicht minder bedenklich«
findet, iddja = idida anzusetzen, so muss ich
▼on meinem beschränkten german. Standpunkt
doch letzterer Erklärung beipflichten**), da das
ags. eode sich so nur analog erklären läsftt»
Aber dies ags. eode (zunächst gleich g. afda,
dann =» ida, beides nur theoretisch) zeigt uns
nun auch, dass idida (vermittelst idda?) auch
zu einfachem ida werden konnte, und diesselbe
ida erkenne ich im Prät. nas-ida, und glaube
auch hab-aida, salböda analog erklären zu kön-
nen. Denn neben i-dida muss eine ältere Form
i-dada oder i-daida existirt haben, letztere dein
•aida des schwachen Präteritum^ besonders ge-
recht und wohl durch idada idoda auch dem
-6da in salböda zu Grunde liegend. Im Ags.
finden wir im Prät. -ede, «ode und vereinzelt
ade: die beiden ersteren Formen lassen sich
leicht auf eode zurückfuhren oder auf (unge*
brochnes) ide, letztere tritt dem altnord. Ge-
brauch näher, wo -ada (urspr. äda?) fur got.
*) Ebenso freilich ftöoh Grein» noch wieder 8.49.
**) D. h. ich setze iddj* =» i-did*
S12 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 8.
-aida und -oda begegnet. Ich glaube, dass die*
868 -ada, and ebenso abd. -ota -und -eta zu-
nächst nur mit got. öda gleichzusetzen sind
und mit solchen Formen, wo got. ä erscheint
(habä, habän), aber nicht mit got. -aida« Das
ausserordentlich häufige Zusammenfliessen der
drei schwachen Gonjug.-klassen in den übrigen
Dialecten (abgesehen vom Gotischen) erklärt
sich durch Annahme einer ursprünglich gemein-
samen Bildungsweise des Praeteritum's, die dann
auch auf analoge Behandlung des Präsens in-
fluirt haben wird. In Bezug auf die entspr.
Verba im Griech. bemerke ich nur, dass ich
auch diese durchaus nicht alle für Denomina-
tiva halte, denn wie sollte z. B. aus q>tkog q>*~
Xetv gebildet sein und nicht ydovv ? Nur das
kann ich zugeben, dass in der Regel der Con-
tractionsYOcal der gr. Verba contracta analog
dem Vocal des bereits bestehenden Substantivs
gewählt ward, also upav anal. npij = **/*<£,
luö&ovp anal, (jho&os. Auch die Ansicht, als
ob diese im Deutschen so gen. schwachen Verba
für jüngere Bildungen zu halten seien, ist mir
fremd: ursprünglich wird jedes indogerm. Ver-
bum*) eine Gausal-, Intensiv-, Inchoativ-form
u. s. w. besessen haben, ähnlich wie dies uns
die semitischen Sprachen, namentlich das Ara-
bische, noch deutlich erkennen lassen**). Nur
so viel kann man wohl zugeben, dass das com-
ponirte Praet. dieser sog. schwachen Verba
noch etwas unursprünglicher ist als das fieda-
plicationspraeteritum, obwohl auch hier nur
durch den Usus die Bestimmung getroffen sein
*) VergL fienfey Kurze Sanskr. Gr. §. 67.
**) Ueber den Reichthum des Türkischen an Gonjug.-
klassen vergl. M. Müller Lectures on the science of
language (sec. edit) p. 314 fg.
Grein, Das Gothische Verbum. 313
kann, class die Verbindung der Reduplic. mit
dem reinen Verbalstamm als Character des er-
zählenden Tempus sich Geltung verschaffte.
Eine Bezeichnung der Zeit kann ja weder in
dem reinen Stamm an und für sich, noch in
der Redupi. liegen, diese letztere ist vielmehr
ursprünglich Kennzeichen der Intensiv-klasse,
die jedem Verbum zu Gebote stand*). Man
sieht aber leicht, wie der Begriff einer verstärk-
ten Handlung zu dem einer verwirklichten oder
geschehenen führen konnte: oder es lässt sich
auch so fassen, dass die Verdoppelung der
Handlung, wie sie durch die Redupi. angedeutet
ward, einerseits zum Begriff der verstärkten
Handlung (in der Intensivform) andrerseits zu
dem der ein- oder mehrmal**) bereits ge-
schehenen Handl. (im Praet.) führte.
Es sei mir erlaubt, in diesem Zusammenhang
noch kurz über die sog. Praeteritopraesentia,
über die Grein S. 64 fg. handelt, mich dahin
auszusprechen, dass ich in got. vait, lait, daug
= vavit, lalis, dadug Ueberreste eines Sprach-
zustandes zu erkennen glaube, wo die Verbin-
dung des reinen Stamms mit der Redubl. noch
nicht einen temporalen Character involvirte, so
dass ich diese sog. Praeteritopraesentia vielmehr
als alte Intensivbildungen erklären möchte, die
natürlich zur Bildung ihres Praeter, eines an-
dern Auskunftsmittels als der Redupi. bedurf-
ten, da diese schon in anderm Sinne bei ihnen
verwandt war. Aber sagt man vielleicht, sind
nicht die Flexions-Endungen in vait, vitum und
*) Vergl. Benfey a. a. 0. §. 67, §. 154.
**) In Wirklichkeit würde man wohl umgekehrt von
der öfteren zu der einmaligen Handlang den Begriff ver-
engt haben.
814 Gott gel. Am. 1873. Stück 8.
dem entspr. ofcfa*) etc. ganz die des Praeteri-
tums? Ich bemerke für jetzt nur, dass über
die Flexions-Endungen der einzelnen Tempora
die Acten auch noch nicht geschlossen sind.
Darf man nun nicht oftfa, vait etc. in dem
Sinne etwa Perfectopraesentia nennen, dass sie
eigentlich Praesentia, aber von so veralteter
Form sind, wie sie die Schulgrammatik nur
noch als Form des Praeteritums kennt? Bei
einigen dieser got. Verba, namentlich bei
kann, tharf, gadars, skal, man, 'ganah, ist es
sigar möglich ohne Annahme einer abgestosse-
nen Reduplicsylbe einfach ältere Formen des
Praesens anzunehmen, so dass kann für kanja
oder kannja (vermittelst kanna), tharf für tharbja,
-dars für -darsja (== gr. ^orpotf») u. s. w. ste-
hen würde**). Nach der Analogie des Praet.
brann von brinnan ward nun kann als Praeter,
behandelt und flectirt, doch zeigen die Verba
skal, man und mag noch bemerkenswerthe Ab-
weichungen (vergl. Grein S. 70), worunter na-
mentlich magum (für megum = gebum) der
Annahme eines urspr. Präsens günstig erscheint.
Manches freilich scheint auf den ersten Blick
sehr dagegen zu sprechen, z. B. wenn im Got.
neben kann (aus kannja?) = noscere ein kannja
= notare, notificare steht. Aber man hüte
sich ja irgend einem Suffix eine von Anfang
an unveränderlich feste Bedeutung beizu-
*) Das ich aas Fa Frfa, Fmrta, Foufu erkläre.
Auf andere gr. Bildungen wie UXoma kann ich hier
nicht eingehen. Doch sanskr. vivöda erkläre ich (wie
tut6da) nicht ganz nach Anal, der gr. und got. For-
men, sondern als umgelautete Form.
*•) Auf Westpfehls Gesetz möchte ich mich aber
nicht stützen.
Grein, Das Gothische Verbum. 315
legen*): auch das Suff, -ja hat durchaus nicht
immer Factitiva gebildet, im Ahd. z. B. hat
kannjan (Graff IV, 428) durchaus dieselbe Be-
deutung wie kunnan, so wie jetzt im Nhd. ken-
nen und können nur leicht nüancirt, und im
Grunde identisch sind. — Gegen die Deutung
von skal als Praeter* eines Verbum skilan, wie
Grimm, und gegen die Gleichsetzung von g.
skal mit skr. skbal, wie Kuhn sie vorschlägt
(vergl. Grein S. 65) spricht u. A. dies, das der
Begriff labi, peccare, debere dem Verbum ur-
sprünglich fremd scheint, skuld ist Mc. II, 26
bedeutet nicht debitum est, sondern lege con-
cessum est, und die Nome Skuld ist bekannt-
lich keine Schuldgöttin, sondern nur mit dem
Begriff der regelrechten Folge oder der Zukunft
ausgestattet. Doch würde ich Kuhn's Erklärung
noch eher folgen. Sind diese Vermuthungen
über die sog. Praet. praesentia gegründet, so
hätten wir hier (abgesehen von den praeterita-
len Flexionsendungen) Ueberreste alter Prae-
sentia mit reinem, weder verstärkten noch ge-
schwächten Stammvocal. Was übrigens den ge-
schwächten Stammvocal in Praesentien wie binda,
bidja, giba u. b. w. betrifft, so wird es mir im-
mer wahrscheinlicher, dass die Schwächung hier
stets nur secundär nach vorheriger Erweiterung
des Stammes durch die Suffixe ja, na (oder n)
va «ingetreten ist, vergl. Grein S. 38—56. Von
der W. bad z. B. wird zunächst das Präsens
badja (m-), dann bidja (m-) und bida (m-) ge-
bildet sein, ob unter Mitwirkung einer früher
anders gearteten Accentuirung, oder nicht, bleibt
zweifelhaft. Etwas Aehnliches scheint die Schwä-
chung des wurzeln, ar zur in skr. Präsentien
*) Vergl. u. A. L. Tobler Germ. XVI SS. 10, 80, 81.
316 Gott, gel Adz. 1873. Stück 8.
wie rnömi neben araömi von W. am, (Grein
S. 32) sowie das i für a in lat. confringo und
ähnlichen Verben vorzustellen. Den ursprüng-
lichen Vocal behauptet das Praeter, auch im
Ahd. in solchen Fällen, wo man früher Rück-
umlauf anzunehmen liebte: ich sehe hier mit
A. Höfer (Germ. XV, 50 fg.) eben nur Nicht-
umlaut. Ob durch die Variation des Stammes
im Präsens immer eine Begriffsmodification er-
folgte, ist sehr zweifelhaft: am ehesten kann
man noch dem Suffix ja (resp. aja), mag man
es nun auf i oder t zurückfuhren, die Andeu-
tung einer Bewegung nach einem gewissen Ziel,
oder eines Wunsches zuschreiben, und die deut-
sche Sprache scheint (abgesehen etwa von den
besprochnen Praet. praesentien) kein anderes
Bilduügsmittel für Causativa und Intensiva*)
besessen zu haben. Aber nicht selten sind mit
-ja oder -aja abgeleitete Verben doch auch durch-
aus intransitiv, so frathja, <f>evyu> = lat. fugio,
oder gar inchoativ, wie ahd. tagen = illucescere
und ähnliche Bildungen auf -en. Aus der Wur-
zel i gehen liessen sich diese verschiedenen
Functionen doch wohl noch am ungezwungen-
sten herleiten. Andrerseits braucht aber nicht
erat durch das Suffix -ja die transitive Bedeu-
tung erzeugt zu sein, g. threihan z. B. , das J.
Schmidt sicher mit Recht dem ahd. dringan
gleichsetzt, und das somit lautlich auch unserm
nhd. dringen entspricht, hat gleichwohl die Be-
deutung unseres nhd. drängen. Im Ahd. hat
dringan, bidr., gadr, drangön u. s. w. transiti-
*) Zwischen diesen beiden Classen scheint mir im
Deutschen nicht mehr zu unterscheiden nöthipr. Ich
gehe damit nur einen Schritt weiter als L. Tobler in
seinem schätzbaren Aufsatz über die Verba Intens, im
Deutflohen (Germ. XVI., 1 fg.)
Grein, Das Gothische Verbum. 317
Ten, indringan dagegen mediale Bedeutung, man
sieht daran deutlich, wie aus dem zufalligen
Nebeneinander der Bildungen erst mit der Zeit
geregelte Begriffsfestsetzung erwachsen ist. An
demselben Beispiel lässt sich die schwankende,
ursprünglich wohl dem Begriff nach ziemlich
gleichgiltige Weise der Bildung des Praeteritums
beleuchten: während wir im intransitiven Sinn
ich drang, im transitiven ich drängte bilden,
und das Ahd. ih drank und ih drangöta gleicher-
weise im trans. Sinn verwendet, zeigt das Got.
ein Praet. thraih im trans. Sinne. Ward dies
nur nach Analogie von steiga, staig gebildet,
oder ist tbraih = tathrih? Auch das Letztere
lässt sich wohl denken, da das n in threihan =
thringan wohl auch nur zur Präsensverstär-
kung ist.
Vielleicht sind auch alle drei Bildungen der
sog. schwachen Verba im Deutschen nur auf
dasselbe Suffix -ja zurückzuführen: im Ahd. be-
gegnet z. B. nebeneinander das ganze Kleeblatt
in sagen, sagön und (ga) eagjan. Die beiden
ersten Bildungen würden dann aus sagan =
Sagjan entstanden sein*), und im Gotischen
deuten Formen wie habä (für habai) auf Bil-
dungen wie salbo nahe hin, und habais scheint
wiederum einer Form wie sokeis (von sokja)
die Hand zu reichen.
*) Yergl. faran faran ans farjan.
Wilken.
318 Götfc gel. Ans. 1873. Stüok 8.
Henke, Dr. E. L. Th.: Eine deutsche
Kirche. Marburg, N. O. Elwert'sche Univerai-
tats-Buchhandlung. 1872. 23 Seiten.
Dies Heft enthält eine Rede, welche der nun
schon verewigte Marburger Kirchenhistoriker im
vorigen Jahre am Geburtstage Sr. Majestät des
Kaisers und Königs Wilhelm I. gehalten hat,
und je mehr das darin Gesagte in Beziehung
steht zu der gerade jetzt so wichtig gewordenen
Frage nach dem Verhältniss zwischen Kirche
und Staat und nach der Neugestaltung des evan-
gelischen Kirchenwesens im deutschen Reiche,
um so mehr dürfte die Aufmerksamkeit darauf
zu lenken sein, zumal es auch von einem Manne
kommt, dessen Wort und Meinung gerade über
diese Fragen doch immerhin ein Gewicht hat.
Allerdings der erste Theil der Rede, einen ge-
schichtlichen Ueberblick über das bisherige Ver-
hältniss zwischen Staat und Kirche gebend, ist
weniger beachtenswertb: er bringt kaum etwas
Neues, und höchstens könnte man durch die ge-
schickte Zusammenstellung des schon Bekannten
und durch das scharfe Hervorheben derjenigen
Gesichtspunkte sich angezogen fühlen, aufweiche
es bei der Beurtheilung und zum Yerständniss
des geschichtlichen Verlaufes denn freilich an-
kommt. Dagegen was Beachtung verdient, ist
einmal die Einleitung und dann vor allen Din-
gen der 2te Theil, in welchem der Verf. aus-
einandersetzt, was vor allen Dingen gefordert
werden muss, wenn die Lösung der kirchlichen
Aufgaben namentlich auch in Beziehung auf die
evangelische Kirche in befriedigender Weise ge-
lingen soll. Der Verf. denkt mit Bestimmtheit
an die Möglichkeit, dass eine deutsche Kirche
eben so gut hergestellt werde, wie ein deutscher
Staat. »Jetztc, sagt er, »hat auch wieder die
Henke, Eise deutsche Kirche. SI9
neue Erfahrung von dem, was die hergestellte
deutsche Eintracht vermocht hat, das Verlangen
erneuert nach Beseitigung aller unter Deutschen
noch bestehenden Trennungen, welche, wie sie
aus Zwietracht entstanden sind, diese auch im-
mer wieder zerstörend in Brand bringen kön-
nen, und diesmal mehr noch, als von den evan-
gelischen Deutschen her, welche einander noch
im letzten October auch den ersten Schritt zu
mehr Frieden unter einander verweigert haben,
hat sich von den katholischen Deutschen her,
welchen die auf ihnen noch liegende römische
Fremdherrschaft zu drückend geworden ist, und
aus ihrer christlichen und deutschen Sehnsucht
noch mehr Gemeinschaft mit ihren evangelischen
Volksgenossen, worin sie diese jetzt übertreffen,
der Ruf vernehmen lassen nach einer deut-
schen Kirchec, und er meint nun auch gar
nicht, dass es, obgleich »diese Gegensätze so
alt und dadurch so stark geworden und auch
durch so viele äussere Verhältnisse befestigt
sind, müssige Ideologie und leerer Traum sei,
Ton einer deutschen Kirche zu reden c Von
der »älteren und stärkeren Gewohnheit des He-
gens und Pflegens der alten Zersplitterung und
der unberechtigten Eigentümlichkeiten«, in die
wir nach den Befreiungskriegen »in Staat und
Kirche wieder zurückgesunken waren«, will er
nicht viel mehr wissen, und er schliesst sich da-
bei unverholen an ein Wort Döllingers an: »es
muss wohl möglich sein«, nämlich die kirchliehe
Einigung der Deutschen herzustellen, »denn es
ist Pflicht«. Namentlich aber für die Union der
Evangelischen unter einander tritt er recht warm
ein und freut sich der kaiserlichen Versicherung,
dass »die Aufrechterbaltung der Union sein fe-
ster Wille und Entschluss sei«. Aber was nun
S20 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 8.
zu than sei, am endlich zu dem Ziele zu ge-
langen, das sucht der Verf. in seinem 2ten
Theile zu zeigen, nicht zwar, wie die Ȋusseren
Hindernisse« zu beseitigen seien: von diesen
meint er, »sie, wie sie in den Macht- und Eigen-
tumsverhältnissen beständen, würden wohl noch
lange brennend fortwirken«. Aber die inner-
lichen Vorbedingungen will er näher in's Licht
stellen, und da sucht er denn zu zeigen, dass es
drei Hindernisse seien, die da überwunden wer-
den müssten und die noch sehr verbreitet seien :
»es wird«, sagt er, »1) noch zu wenig unter-
schieden zwischen Religion und Theologie, es
wird 2) noch zu viel unterschieden zwischen
Kirche und Staat und zu viel Heil erwartet von
der Trennung beider, und es wird 8) noch viel
zu viel unterschieden zwischen christlich und
deutsch«, und wie das zu verstehen und wie es
abzustellen sei, das setzt er dann weiter aus
einander . . . Ohne Zweifel höchst wichtige Ge-
sichtspunkte und die verdienen, beachtet und
durchdacht zu werden, auch wenn man in
dem Einen und Andren mit dem Verf. nicht
einverstanden sein sollte. Die innerlichen Ur-
sachen unsrer kirchlichen Zerklüftung sind in
der That durch diese drei Gesichtspunkte ange-
deutet, und wenn sich diese Hindernisse der Ein-
heit überwinden Hessen, so würde man auch
über die äusseren ganz gewiss sich »leicht und
um so eher vergleichen und hinwegsetzen lernen«.
Auch käme die evangelische Kirche dabei wohl
schwerlich zu kurz, vielleicht dass sie nur um
80 mehr zu dem erhoben würde, was sie sein
will und soll, zu einer Kirche, die nur evange-
lisch ist. Aber — es wird noch viel Arbeit ko-
sten, bis es dahin kommt
F. Brandes«
r
32 t
Gß M in gisc h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 9. 26. Februar 1873.
Griechische Reliefs aus Athenischen
Sammlungen herausgegeben von Richard
Schöne. XXXVIII Tafeln in Steindruck mit
erläuterndem Text. Leipzig; Druck und Ver-
lag von Breitkopf und Härtel. 1872.
Das schöne zur Besprechung vorliegende
Werk ist unter selten günstigen Umständen ent-
standen, indem der Herausgeber, Gelehrter und
Künstler in einer Person, die Zeichnungen sei-
ner Tafeln selbst anfertigen konnte. Die Vor-
theile einer so glücklichen Combination sind in
dem vorliegenden Falle besonders einleuchtend,
wo es sich um die möglichst stilgetreue Re-
production von Monumenten handelte, die bei
der Zartheit ihrer Ausführung durch die Zeit
besonders gelitten haben und es oft galt durch
Corrosion bis auf leichte Schatten reducirte Um-
risse festzuhalten.
Wenn nicht nur die Entstehungsweise, son-
dern auch die Schönheit der Zeichnungen und
die geschmackvolle Anlage des Ganzen an eine
andere Musterpublica tion : Stackeibergs Gräber
25
820 Gott. gel. Anz. 18TS. 8** *
zu thun sei, um endü^ ^ ^ doch ein ver-
langen, das sucht ^ ^'x/feider Werke die
Theile zu zeigen ^^S^ wir seit vierzig
Hindernisse« pt \/J$ti* Antike objectiy zu
meint er, »s: ^^^J bedeutende Fortschritte
thumsverhiT ^.^^
lange br<- $J% ffegö des lithographischen
liehen V jfi/tfYw einer so tüchtigen Kraft,
stellen, flfa ^$g Unternehmen gewonnen war,
drei T -jirflJg* verloren gegangen ist, musste
den Jtflt^geber selbst am fühlbarsten und
»ep /srft'fsteü sein (s. S. 21 u.). Doch wird
sc' ^/*%r richtig finden, dass er von der me-
T V *ii Bcpr°duction durch die Photolitho-
$ß&t welche die Feinheit der Striche zer-
/^^bstand genommen hat und zu dem alten
sffyen Verfahren zurückgekehrt ist; mit die-
e& ist hier in der That ganz Vorzügliches
Eistet Die Abbildungen unterscheiden sich
Ä^t nur von den vollkommen unbrauchbaren
ta der Ephemeris, sondern lassen auch die etwas
ungeschickten, des steten Correctivs der muster-
haften Beschreibungen nur zu sehr bedürftigen
des Müller- Schöllschen Werkes, ja selbst die be-
deutend anspruchsvolleren der Lebas'schen Pu-
blication weit hinter sich. Letztere sind oft
nur scheinbar genau und die gesuchte Treue in
der Wiedergabe zufalliger Beschädigungen thut
nicht selten der Hauptsache Eintrag. Das an-
genehme Gefühl der absoluten Verlässlichkeit
bis ins kleinste Detail verlässt uns bei Schöne
nirgends.
Dem Text, welchem in einer Publication die-
ser Art selbstverständlich erst die zweite Stelle
zukommt, kann man kein grösseres Lob ertbei-
len, als wenn man bemerkt, dass der Verf., in-
dem er der Versuchung widerstanden, das in
Schone, Griechisohe Reliefs. 323
T
M den Tafeln gegebene Material blos als An-
Mknüpfungspunct für gelehrte Ezcurse zu be-
Änutzen, sich durchaus an das Wesentliche hält
^und stets auf diejenigen Fragen zu antworten
bemuht ist, die man zunächst stellt oder viel-
mehr die man zunächst und vor Allem stellen
sollte.
Alle äusseren die einzelnen Stucke betreffen-
den Angaben sind mit grösster Sorgfalt zusam-
mengebracht. Wenn dabei der handschriftliche
Katalog des Pittakis unberücksichtigt geblieben
ist, so kann Ref., der sich von der absoluten
Werthlosigkeit des in demselben auf die Akro-
polis bezüglichen Theils selbst überzeugt hat,
dies nur billigen. Pittakis bat in dieses im
Jahre 1843 angelegte Verzeich niss zu beliebigen
Zeiten Beliebiges eingetragen ; nachweislich
stehen mehrere der hier von ihm gegebenen No-
tizen in directem Widerspruch mit zum Theil
früher von ihm selbst gedruckten Angaben;
einige dunkle Richtiges enthaltende Reminis-
zenzen mögen wohl unterlaufen, im allgemeinen
jedoch kann, was dort geboten wird, nur irre
fuhren. Im übrigen ist die schon jetzt recht
weitschichtige Litteratur aufs sorgfaltigste aus-
gezogen und aufs umsichtigste benutzt worden.
Es ist nicht leicht zu verkennen, dass die ein-
fach und 8achgemä8s gehaltenen Bemerkungen
des Herausgebers auf der breiten Basis tief-
gehender die gesammten Alterthümer Attikas
überhaupt umfassender Studien beruhen. Dies
tritt namentlich in den allgemeineren Bemer-
kungen zu Tage, die der Verf. an drei Stellen
mehreren der Natur der Sache nach zusammen-
gehörigen Monumentenreihen voraufgeschickt hat.
Den Kern der ganzen Publication und zu-
gleich ihre Hauptmasse bildet eine Anzahl von
824 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
Beliefs die öffentlichen Urkunden zum Schmuck
beigegeben waren. Schwerlich wird man irren,
wenn man annimmt, dass diese Stelen durchweg
auf der Akropolis aufgestellt waren, obwohl
namentlich die ausserordentliche Menge der dort
oben gefundenen Grabmonumente aufs deutlichste
beweist, dass nicht Alles, was man dort aus
den Mauern mittelalterlicher Bauten herausge-
löst oder aus dem hochliegenden Schutt hervor-
gezogen hat, ursprünglich sich dort befand. Je
grösser nun die Zahl der auf dem beschränkten
Felsplateau theils angehefteten, theils frei auf-
gestellten Inschriftensteine war, um so mehr
musste für die am meisten dabei Interessirten
das Bedürfniss sich geltend machen, die sie be-
treffende Inschrift wo nicht auszuzeichnen, so
doch kenntlich zu machen ; und dies geschah in
der angemessensten Weise durch jene Titel-
reliefs, die, wie Schöne aus den mitunter er-
haltenen Kostenangaben über die Inschrift scharf-
sinnig geschlossen und überzeugend dargethan
hat, in der Regel von den Privatpersonen oder
den fremden Gemeinwesen, denen der Atheni-
sche Staat eine Ehre ertheilt, oder mit denen
er einen Vertrag geschlossen, auf eigene Kosten
beigefügt sind. Mitunter scheint auch die In-
schrift selbst von ihnen bezahlt zu Bein und
Schöne ist vorsichtig genug in den »Berichtigun-
gen« zu S. 20 noch ausdrücklich zu bemerken,
dass wir in Betreff der sich auf Methone, Neo-
polis, Samos und Kios bezüglichen Beschlüsse
über diesen Punct nichts Sicheres mehr aus-
machen können.
Die Richtigkeit jener Annahme scheinen mir
nun auch einige der Reliefs selbst zu bestäti-
gen. So sind der heroische Vertreter Methones
und die Personification von Neopolis der die
Schölle, Griechische Reliefs. 325
Stadt repräsentirenden Athene gegenüber be-
deutend kleiner gebildet. Schwerlich hätte der
Demos von Athen bei zugestandener Gleichbe-
rechtigung jener Städte auf diese äussere
"Weise seine Superiorität zum Ausdruck gebracht,
während es ganz natürlich scheint, wenn die
Bundesgenossen das factische Verhältniss so
darstellten. Wenn dagegen die mutmassliche
Sikelia (n. 49) der Stadtgöttin in gleicher Grösse
und Würde gegenübersteht, so wird auch das
wiederum nicht ganz zufällig sein.
Dem verschiedenen Inhalt der Dekrete ent-
sprechend scheinen sich schon sehr bald nach-
dem die Sitte jenes Stelenschmucks aufkam —
etwa im letzten Viertel des fünften Jahrhunderts
— verschiedene Typen ausgebildet zu haben,
die jedoch nie schematisch angewandt und über-
tragen sind, sondern innerhalb derer sich auch
der untergeordnetere Künstler mit der erfreu-
lichsten Freiheit bewegt. Wenn die Darstellung
häufig den Character des Votivreliefs trägt und
der Geehrte in anbetender Haltung vor der
Gottheit erscheint, so ist damit entschieden die
Form des Dankes gegen diese gewählt. Beach*
tet man jedoch die Geringfügigkeit des Schmucks,
so wird man es, glaube ich, jedenfalls nicht zu
stark betonen, dass das fremde Gemeinwesen
oder der Einzelne — stets handelt es sich doch
um sehr respectable Stifter — durch jene künst-
lerische Beigabe der Stadtgöttin seine besondere
Verehrung zu beweisen dachte*).
*) Bathykles aus Magnesia stellte auf dem von ihm
auf Staatskosten gefertigten Thron des Apollon Amy-
klaeos aas eigenem Antrieb Bilder der Chariten und der
Artemis Leukophryne auf, unzweifelhaft zum Dank für
die glückliche Vollendung seiner umfangreichen Arbeit;
aber man wird ein immerhin so stattliches Weihgesohenk
326 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
Schon ans dem Gesagten ist hervorgegangen,
dass der Reliefschmuck jener Stelen nichts
änsserlich Hineingetragenes ist. Wenn man
ihn auch in gewisser Weise mit dem Vignetten-
schmuck unserer Drucke vergleichen kann, so
tritt er doch nie, wie dieser so oft, beziehungs-
los auf. Durchgängig ist man bestrebt gewesen
das in der Inschrift Ausgesagte, soweit es mög-
lich war, bildlich anzudeuten. Leicht Hess sich
die symbolische Handlung der Bekränzung zur
Darstellung bringen, bei Verträgen musste man
sich mit Handreichung oder Ausgiessen einer
Spende begnügen; vieldeutiger ist die Darstel-
lung der blossen Adoration.
Als natürliche Vertreterin Athens erscheint
stets die Stadtgöttin ; im übrigen half man sich
so gut man konnte. Natürlich waren Personi-
ficationen nicht zu entbehren und wo für diese
eine bestimmte Gbaracteristik nicht leicht zu
finden war, auch die Inschrift nicht den sicheren
Aufschlu8s über sie gab, griff man ohne Bedenken
zu dem einfachen Auskunftsmittel der Namens-
beischrift. Schwerlich würde ohne solche selbst
ein antiker Beschauer in der verschleierten, sinnen-
den Figur hinter Athene auf dem Relief no. 94 eine
BovXij, oder gar in der Frau mit dem von der
Schulter geglittenen Chiton (n. 63) — dem Mo-
tiv einer gewissen Lässigkeit — eine Evta^ta
erkannt haben. Die Sikelia in no. 49 wird mit
Sicherheit aus dem Zusammenhang des Decrets
selbst erkannt; die oben vollständig zerstörte
Platte lässt aber auch die Möglichkeit einer
nicht mit diesen Reliefs zusammenstellen wollen. Euer
bleibt neben der sob on hervorgehobenen practischen
Seite der Sache die alle Klassen der Bevölkerung durch-
dringende Freude an angemessener künstlerischer Aus-
stattung das wichtigste Motiv.
Schöne, Griechische Reliefe. 327
ausserdem noch beigeschriebenen Erklärung zu.
In der männlichen Figur auf no. 50 kann man
nur einen Vertreter Methones sehen, vermuth-
lich einen Heros; hier war der Hund gewiss
nicht ohne Absicht beigegeben; doch reichen,
wie Schöne gezeigt hat, unsere Mittel zu einer
genugenden Erklärung nicht aus. Auffallend
und bis jetzt ohne Analogie ist die Vertretung
von Ikos durch einen Ikier (denn auf diese
kleine Insel nordöstlich von Euböa nicht auf
Kios scheinen die historischen Verhältnisse des
Jahres der datirten Inschrift zu führen), daher
auch wohl die Beischrift. Besonders merkwür-
dig ist die Repräsentation von Neopolis — sehr
wahrscheinlich der thrakischen Stadt dieses Na-
mens — durch eine Figur, in welche, wie die
eng geschlossenen Beine, die archaischen Falten-
motive, der Ealathos auf dem Kopfe zeigen,
und endlich eine von Schöne aufgefundene
Münze beweist, sehr starke Reminiszenzen an
ein dort verehrtes Idol übergegangen sind. Wo
Beischriften fehlen und die den Schlüssel ent-
haltenden Inschriften weggebrochen sind, befin-
det sich der Erklärer allerdings grade diesen
Monumenten gegenüber in besonderer Rat-
losigkeit. Nur selten hat in solchem Falle die
Deutung die Garantie voller Sicherheit. Viel-
leicht — aber auch nur vielleicht hat der
Herausgeber bei dem ausserordentlich schönen
Relief der Schatzmeisterurkunde des Jahres 400
(no. 54) das Richtige getroffen: Eine mit Scep-
ter und Stephane ausgestattete Frauengestalt
steht hier der Stadtgöttin, der sie die Hand
reicht, gegenüber. Wenn es sehr wahrschein-
lich ist, dass die Schatzmeister die Urkunde
wie ihren Schmuck selbst besorgten, so wird
derjenige Erklärungsversuch durchaus hinfallig,
328 Gott gel. Anz. 1873. Stack 9.
der in dem Relief die Zufriedenheit der Göttin
mit der Amtsführung ihrer Schatzmeister aus-
gedrückt glaubt und in Folge dessen in jener
Figur eine Arche oderEutaxia sieht. Allem
Anschein nach ist eine Göttin dargestellt und
zwar eine Göttin, welche die in dem dürftigen
Inschriftenrest genannten alio* &$ot vertreten
soll. Nimmt man auf den allgemeinen Eindruck
der bedeutenden fast grossartigen Erscheinung
die nöthige Rücksicht, so ist die Zahl der Gott-
heiten, die in Frage kommen können, eine sehr
geringe und unter diesen hat nach einer frei-
lich fünfundzwanzig Jahr jüngeren Urkunde De*
meter wieder die grösste Wahrscheinlichkeit für
sich. Die Veranlassung zu dem Reliefschmuck,
der auf den Schatzmeisterurkunden sonst nur
noch in einem einzigen Fall (n. 71) für uns
nachweisbar ist, sieht Schöne wohl mit Recht
darin, dass jene wie diese Stele den Anfang
einer grösseren Reihe bildete. Bei no. 71
sind wir nicht einmal so glücklich das Re-
lief vollständig zu besitzen. Wäre es möglich
in der kurzbärtigen, thronenden Figur mit
dem Scepter einen Zeus zu erkennen, so würde
die von ihm, wie es scheint, entlassene davon-
eilende weibliche Figur, von der leider nur der
Rücken erhalten ist, das nächste Anrecht auf
den Namen der Iris haben.
Keine Gestalt erscheint häufiger und ist
leichter erkennbar als die Athenes; in der Re-
gel ist sie stehend gebildet worden und alsdann
nimmt man vollkommen deutlich wahr, wie das
classische Goldelfenbeinbild des Phidias den
untergeordneten Künstlern, welchen diese Re-
liefs verdankt werden, durchaus massgebend ge-
wesen ist. Ihre Phantasie war für immer in
einer bestimmten Richtung angeregt und zugleich
Schone, Griechische Reliefe. 329
gebunden, ohne dass selbst da, wo die Göttin
in vollem Waffenschmuck mit der Nike auf der
Hand erscheint an eine bewusste Nachbildung
der Statue zu denken wäre. Für die Recon-
struction derselben kommen daher selbst Reliefs
wie das unter no. 62 abgebildete jetzt nur noch
in zweiter Linie in Betracht. War doch auch
der eine Grundzug der Statue des Parthenon,
die architectonisch streng geschlossene durch
die Umgebung selbst bedingte Anlage hier am
wenigsten zu verwerthen , wo Athene sich als
theilnehmende, den menschlichen Interessen zu-
gewandte Göttin zeigen soll. Durchgehend ist
der Kopf deshalb mehr oder minder geneigt.
Kein vorgeschriebenes Ceremoniell hindert sie
übrigens daran , die sich ihr Nahenden auch
sitzend zu empfangen. Bemerkenswerth und
für die Auffassung der Göttin bezeichnend
ist es, dass die Künstler äussere Mittel die-
selbe zu heben verschmähen. Nie erscheint
sie auf einem Thronsessel, ein einfacher kaum
Geglätteter Felssitz genügt ihr vollkommen. Voll
hrfurcht und doch voll Zuversicht kommt man
ihr überall entgegen und schön sagt der Ver-
fasser S. 22 : es spiegele sich in diesen Darstel-
lungen auf liebenswürdige Weise das nahe, fast
mütterliche Verhältniss, in welches der Volks-
glaube die Göttin zu ihrer Stadt und ihren
Athenern setzte und die Leibhaftigkeit, mit der
ihre Gestalt nicht nur in der Phantasie der
Künstler, sondern auch in dem Gemüthe der
Menge lebte.
Selten erscheint sie daher auch vollkommen
gerüstet und mit allen den Attributen, mit de-
nen das Tempelbild ausgestattet war. Der fried-
liche häusliche Character, wie ihn die sitzende
Athene am Ostfries des Parthenon offenbart, ist
26
330 Gott gel Aa*. 1873. Stück 9,
vorzugsweise betont worden. Mehrfach sieht
man sie baarhäuptig (sie hält auch wohl den
Helm auf dem Schooas , wie an der Balustrade
des Niketempels) ohne Lanze und Schild, auch
ohne Aegis mit dem drohenden Gorgoneioa.
Die meisten dieser Reliefs gehören nachweislich
dem vierten Jahrhundert an, also der Zeit der
höchsten Kunstblüthe , die sich denn auch in
diesen Erzeugnissen des Kunsthandwerks nicht
nur erkennen lässt, sondern erstaunlich rein und
klar abspiegelt. Das ausgebildetste Gefühl für
Schönheit der Form und der Linien war allen
diesen »Handwerkern« eigen, und nur selten
kommen bei schwierigeren Aufgaben Verstösse
vor wie, worauf der Herausgeber selbst auf-
merksam gemacht hat, die unschönen Deber-
schneidungen bei no. 79. Dabei zeigt sich auch
hier im Kleinen jenes edle Masshalten, das sich
in dem vollen Bewusstsein die Technik völlig zu
beherrschen doch zu keiner Ausschreitung fort-
reissen lässt und die Zweckbestimmung des
Bildwerks stets im Auge behält, endlich in den
bedeutenderen Stücken jene die ganze Figur*)
durchdringende Zartheit der Empfindung, die
nie zu blosser GoDvention erstarrt.
Ueber die Art des Reliefs, das hier zur An-
wendung gekommen ist, ist schon von Michaelis
bei Gelegenheit des Parthenonfrieses sehr Rich-
tiges bemerkt worden; in diesen anspruchslose-
ren noch einfacheren Werken treten die Eigen*
thümlichkeiten desselben fast noch reiner und
ungebrochener hervor: (Vgl. S. 21). Das Haupt-
gewicht fallt durchaus auf die nur durch eine
sehr bescheidene Innenzeichnung belebte Sil-
*) Hierüber ist kürzlich Vortreffliche« gesagt wor-
den von Kekulo in seinem Katalog des akademi«
scheu Kunstmuseums au Bona zu no. 169»
Scfcone, Griechische Beliefs. 331
honette, deren Umrisse fast senkrecht auf den
Reliefgrund projicirt sind. v
Als nahe verwandt und sich mehrfach mit
ihnen berührend sind mit den Urkundenreliefs
eine Anzahl Votivreliefs publicirt; auch von die-
sen ist ein grosser Theil auf der Akropolis ge-
funden. Dieselben waren theils zum Anheften
bestimmt und haben mitunter noch die dazu
dienenden Bohrlöcher, theils wurden sie ver-
mittelst eines unten befindlichen Zapfens einge-
setzt ; endlich haben wir es mit Reliefverzierun-
gen kleiner viereckiger Basen zu thun, die das
eigentliche Anathem trugen. Diese Reliefs ent-
behren für uns allerdings des Vortheils einer
genauen Datirung, doch zeigt schon der Stil,
daas sie sich über einen grösseren Zeitraum ver-
teilen als die Urkundenreliefs, die, wie bemerkt,
vorwiegend ins vierte Jahrhundert fallen.
Besonders merkwürdig ist das Bruchstück
eines acht archaischen Reliefs, das uns Athene
mit Schild und gezückter Lanze in dem durch
die panathenäischen Preisamphoren bekannten
Typus vorfuhrt, den man neuerdings gewiss mit
Unrecht wieder für die Promachos des Phidias
in Anspruch genommen hat. Arch. Ztg. 1872.
S. 43.
Das Fragment no. 83, das zu einem Relief
von recht bedeutenden Dimensionen gehört ha-
ben muss, repräsentirt eine Stufe des bedeutend
vorgeschritteneren Archaismus. Die Modellirung
des Körpers unter dem Gewände und die durch
die Biegung des rechten Beins motivirten Fal-
ten sind schon ganz vortrefflich gelungen*).
*) Man beachte in dieser doch gewiss vorpolykleti-
schen Sculptor den Unterschied zwischen Stand und
Spielbein, den noch nicht alle Kaiisthistoriker aufgege-
ben haben mit Plinius für eine Erfindung des argivi-
26»
I
832 Gott gel. Anz. 1873. Stück d.
Ans der Zeit diesseits der höchsten Kunst-
blüthe rührt offenbar her no. 87, merkwürdig
durch zahlreiche Farbenspuren und das ganz
naturalistisch wiedergegebene Porträt des ado-
rirenden Mannes. Ebenso werden die roher
gearbeiteten no. 104 — 107, von denen eins (no.
106) sogar nachgeahmt altertümlichen Stil hat,
schwerlich früh anzusetzen sein. Die grösste
Masse der von Schöne publicirten Reliefs dieser
Art fällt aber wieder in die beste Zeit und wir
haben auch hier Stücke von ausserordentlicher
Schönheit.
Namentlich verdient unter ihnen no. 57 ge-
nannt zu werden, von dem leider gewiss nur
der kleinste Theil auf uns gekommen ist, ent-
haltend zwei ruhig nebeneinander stehende
Frauengestalten, die nicht auf die eleusinischen
Gottheiten zu beziehen mir kein Grund vorzu-
liegen scheint. Mögen auch die Armbewegungen
der weiter Zurückstehenden den Gedanken an
das Motiv des Spinnens nahe legen, so ist doch
6chon die Möglichkeit einer solchen Beschäfti-
gung durch den Umstand ausgeschlossen, dass
die vordere Figur ganz dicht an ihre Seite ge-
rückt ist. Es scheint mir kaum zweifelhaft, dass
sie mit der Linken ein durch Malerei hinzuge-
fügtes Scepter aufstützte, wie ihre Begleiterin
ein ähnliches Attribut, offenbar aus Metall hin-
zugefügt, leicht mit der Linken fasste. Die
rechte Hand kann nach dem wagrecht vorge-
streckten Oberarm kaum anders als mit einem
Kranz ergänzt werden. Da nun die Figur,
welcher dieser aufs Haupt gedrückt wird, weit
über den Bruch hinaus nach links befindlich zu
sehen Bildhauen zu halten. S. Overbeck Gesob. d.Pla*
atik 1' S. 361.
Schöne, Griechische Beliefs. 333
denken ist, sie auch bedeutend kleiner gebildet
gewesen sein muss als die beiden Gottheiten,
so wird man die zwei letzten von der Beischrift
erhaltenen Buchstaben HP ohne Zwang nur auf
eine von diesen, wahrscheinlich doch die zurück-
stehende beziehen können. Ob sich ausser jener
als den Kranz empfangend vorausgesetzten Figur
noch eine zweite der Göttergruppe näher ge-
rückte vorfand, ist nach den undeutlichen Resten
links in der Kniehöhe der Figuren nicht aus-
zumachen, doch scheint die Kopfneigung der
mutmasslichen Kora darauf hinzudenten. Wäre
mehr erhalten, so würde von diesem Monument
aus vielleicht einiges Licht in das Dunkel fal-
len, das noch immer über wichtigen Theilen
des grossen eleusinischen Reliefs im Theseion
lagert. Die von Schöne vorgetragene Vermu-
thung (Beziehung auf die Kekropstöchter) gewinnt
bei der Kleinheit des Monumentes durch den
Fandort (Bezirk des Heiligthums der Athene
Ergane) keine Stütze von Belang.
Theile von Votivreliefs sind auch ohne Zwei-
fel die von Schöne unter no. 66. und 67 ver-
öffentlichten Fragmente. Das Sujet von no. 66
bleibt leider räthselhaft. Dass die in der 1.
Ecke allein deutlich erkennbare Hand einer er-
wachsenen Figur angehöre, ist mir auch jetzt
noch durchaus wahrscheinlich, ebenso, dass sie
einen Gegenstand emporreicht, den die vor der
Erdöffnung knieende Frau in Empfang nimmt;
nur ist jener viel zu klein, um an Erichthonios
denken zu können.
Das darunter abgebildete winzige Fragment,
das sich jetzt in der Cisterne befindet, giebt
grade soviel, als zu dem Versuch einer Deu-
tung reizt Ein Kind streckt aus einer runden
Schachtel die Aermchen einer rechts vor der-
»34 Gott. «el. Anz. 1873. Stack 9.
selben stehenden Frau entgegen, von der nur
ein Fuss und ein Stückchen des Gewandes er-
balten ist. Mit Schöne an die Oeffnung der
Kiste des Erichthonios durch die Kekropstöchter
zu denken verbietet nicht nnr das Fällen der
Schlange, sondern namentlich die in dem gerin-
gen Rest noch deutliche, vollkommene Ruhe der
Frau; so wird es gerathen sein zu überlegen,
ob nicht vielmehr der auf der Schwelle des
delphischen Tempels ausgesetzte und von der
Priesterin gefundene Jon (Eurip. Ion v. 36,
1350, 1380) zu erkennen sei, dessen Geburt
ja grade zu dem Felsen der Akropolis in aller«
nächster Beziehung steht. Zu erinnern wäre
dabei daran, dass Jahn das schöne von Ussing
(Reisen und Studien Taf. 2) publicirte Relief-
fragment mit der Darstellung eines kinder-
tragenden Hermes auf denselben Mythos be-
zogen bat. (Arch. Ztg. 1860 S. 128).
Die jetzt schon ziemlich zahlreichen Reliefs,
auf welchen Nymphen unter Anführung des Her-
mes einen Reigen zu beginnen scheinen, sind
noch um zwei Nummern (117 und 118 vermehrt
worden; von diesen ist das erstere besonders
interessant, weil es nicht nur wie sonst die ge-
hörnte Maske des Flussgottes, sondern auch
den Vordertheil seines Stierkörpers zeigt.
Dieselbe Besonderheit bietet übrigens nooh
ein ringsum gebrochenes, sehr abgeriebenes
Fragment eines solchen Reliefs in der Cisterne,
das Schöne entgangen zu sein scheint. Hier
packt — dies war mir deutlich und wird auch
durch die sehr genaue Beschreibung, die Carl
Curtius auf meine Bitte von dem Fragment ge-
macht hat, bestätigt — der nackte, an Kopf
und Beinen stark verstümmelte Hermes den
Flussgott am linken Hörne.
Schöne, Griechische Reliefe. 835
Kirastmvthologisches Interesse erregt die in-
BChriftlich beglaubigte Darstellung eines Zn)f
tptkof. — um ihn als solchen erkennen 211 lassen
war allerdings die Inschrift nöthig, denn für
das Bild an sich, würden viele andere Bezeich-
nungen ebenso passend erscheinen. Mit einer
schätzbaren, leider bis auf die Beine zerstörten
Reliefdarstellung des Zeig gfriog wird mein Rö-
mischer Catalog das bezügliche in Overbeds
Kunstmythologie gegebene Verzeichniss der Cul-
tusgestalten des Zeus bereichern.
Nicht immer übrigens ist es bei dem jetzigen
Zustand der uns erhaltenen Fragmente leicht zwi-
schen Urkunden und Votivreliefs zu scheiden;
immerhin sehr beachtenswerte Fingerzeige giebt
hier die Umrahmung und Einfassung der Bildtafel,
die durchaus nicht willkührlich, sondern der ver-
schiedenen Bedeutung der Reliefs entsprechend
gewählt ißt, was von Schöne in der Einleitung
vielleicht noch hätte hervorgehoben werden kön-
nen. Die an Urkunden angebrachten Reliefs sind
der Natur der Sache nach ein ßehr untergeord-
neter Theil der ganzen Stele, das zeigt sich am
deutlichsten wohl bei nö. 115, wo dasselbe ganz
oben in die rechte Eckfc des Inschriftensteinfi
gerückt ist und einer Einfassung vollkommen
entbehrt. Aber auch, wo eine ftolche vorhanden
ist, pflegt sie einfacher und anspruchsloser aufzu-
treten. Die Trennung des Reliefs von der In-
schriftenstele ist selten so stark nach unten
markirt, wie auf no. 52, oder, wenn dies ge-
schehen ist, wird der Eindruck davon dadurch
zum grössten Theil wieder aufgehoben, dass auf
der trenftetiden Leiste schon die Inschrift be-
ginnt (n. 53 und 59); ebenso ist klar, dass die
ausserordentlich schwere Bekrönung von no. 54
336 Gott gel. Anz. 1873. Stück 9.
sich nicht allein auf das darunter befindliche
Relief, welches sie erdrücken würde, sondern
auf die ganze Stele bezieht.
Anders die Votivreliefs, bei denen es darauf
ankommt hervorzuheben, dass die Darstellung,
welche sie enthalten, zu nichts Weiterem in
Beziehung stehe. Dieselbe ist daher nicht
nur regelmässig seitlich durch Parastaden be-
gränzt, sondern über den stark vorspringen-
den Deckbalken erscheint häufig noch die
Nachbildung eines den Abschluss nach oben
markirenden Ziegeldachs; das Ganze stellt sich
wie der Durchschnitt eines Innenraumes dar,
wobei aber jede realistische Anschauung den
Alten fern lag, wie z. B. schon das Votivre-
lief von Oropus mit der prachtvollen Quadriga
zeigt.
Diese Beobachtungen lassen allerdings nur
das durchgebende Princip erkennen, im einzel-
nen Falle scheinen Inconsequenzen nicht ausge-
blieben zu sein, so dass Schlüsse aus ihm allein
niemals zu ziehen sind.
Nicht unmöglich ist es allerdings, dass bei
besserer Erhaltung wir auch den Grund, ein-
sehen würden, 'warum mitunter von der übli-
chen Form abgewichen, warum z. B. bei der
Deere tstele no. 108, deren Inschrift vollkommen
verlöscht ist, die Selbstständigkeit des Reliefs
so stark hervorgehoben wurde.
In einer eigenthümlichen Verlegenheit befin-
det man sich bei no. 57, wo das vollständige
Fehlen der Parastaden und der schwache Ab-
schluss nach oben zunächst die Annahme eines
Urkundenreliefs empfiehlt, was es doch schlech-
terdings nicht gewesen sein kann. In solchen
Fällen wird zu bedenken sein, dass wir nicht
immer wissen können, wie die Reliefplatten ur-
Schone, Griechische Beliefs. 337
sprünglich angebracht und befestigt waren. Bei
no. 83 und no. 105 — 107 wird man mit Wahr-
scheinlichkeit ein Einlassen in eine Mauer oder
einen Felsen annehmen.
Ganz vereinzelt steht mitten unter diesen
Urkunden und Votivreliefs da das im Museum
der archäologischen Gesellschaft befindliche
Marmorfragment no. 56, in welchem ein glück-
licher Blick den Best einer Darstellung erkannt
hat, die uns in einem schönen Belief der Mar-
ciana vollständiger erhalten ist. Schöne glaubt
nun weiter gehend dies Belief mit einem andern
des Museums von Brescia, mit dem es schon
früher zusammengestellt ist, in directe Verbin-
dung setzen und annehmen zu dürfen, dass
beide demselben Friese angehört. Ich würde
dieser Vermuthung, welche durch die Gleichar-
tigkeit des Gegenstandes, die Gleichheit des
Earniesses und der Belieferhebung sehr empfoh-
len wird, unbedingter beistimmen, wenn nicht
die sehr bestimmten Provenienzangaben die
Sache doch recht unwahrscheinlich erscheinen
Hessen. Zwar liegt für das Belief der Marciana
ein Ausgrabungsbericht nicht vor; doch wissen
wir bestimmt, dass es sich bis zum Jahre 1586
in Born in der Sammlung des Gardinais Grimani
befand, wo es Fulvio Ursini zeichnen liess (vgl.
Gott. Nachr. 1872 S. 55). Dass damals An-
tiken von Brescia nach Born gebracht, ist voll-
kommen unglaublich, und dass wiederum das
jetzt zu Brescia befindliche in der That dort am
Ende des siebenzehnten Jahrhunderts gefunden
wurde, so gut bezeugt ^ dass daran mit Grund
nicht gezweifelt werden kann. Die Memorie
Bresciane des Ottavio Bossi, Brescia 1693 waren
dem Herausgeber schwerlich zugänglich; ich
setze deshalb die betreffende Notiz hierher.
S38 Gott. gel Ate. 1873. Stück fr.
Sie findet sich S. 61: Poco di sopra da quella
chiesa di Santa Oiulia, che ie Monaehe harn*
rinchiusa a i nostri tempi net Monaster oy fu
giä il Tempio S AppolUne pochi anni
sono vi si cavarono pezzi di Mosaica e motti
marmi bianchi vergati di beretino et un pezzo
di freggio istoriato nobilissimo che dimostra
Vecceüenza de gli Artefici di questo Tempio
hora posseduto dal Nob. Sig. GiuV Antonio
Aueroldi per regalo di M on sig. IUustrissimo e
Reuerendissimo Vescovo Gradenigo; dabei ein
sehr schlechter Holzschnitt. Leider fehlt an
dem Relief zu Brescia unten ein Streifen, so
dass die ursprüngliche Höhe nicht genau aus-
gemittelt werden kann. Was- den Kamiess be*
trifft, so muss doch wohl unter diesen Umstän-
den hervorgehoben werden, dass die in beiden
wiederkehrende Composition eine nicht nnge*
wohnliche ist, und dass die Messung seiner Ge-
sammtbreite eine Differenz ton zwei Cm. erge-
ben hat.
Wenn Grabmonumente auch von vorn herein
von dem Plan der ganzen Sammlung ausge*
schlossen waren, so wird man dem Heraus-
geber doch nur Dank wissen, dass er der Ver-
suchung nicht widerstanden hat, einige sachlich
oder stilistisch besonders interessante Stücke auf
Tf. 29 mitzutheilen.
Von diesen zeigt das unter nö. 122 publi-
cise oben und unten zerstörte Relief in den
unter der Gewandung hervortretenden Körper-
formen beider Frauengestalten einen beim er«
sten Eindruck fast carricirt erscheinenden alter-
thflmlichen Stil. Nichts desto weniger würde
man doch irren, wenn man hier an eine späte
Nachahmung denken wollte. Abgesehen von
der Süsseren Unwahrsebeinlichkeit, zeigen sich
Schone, Griechische Reliefe. 839
doch auch die sehr deutlichen Merkmale des
wirklichen Archaismus in der strengen Einhai*
tnng der idealen Oberfläche und der nichts we-
niger als schematischen Behandelung der Falten.
Stil und Gegenstand erinnern an das von Win-
ckelmann auf Jno Leukothea bezogene Relief
der Villa Albani, dessen grosse Lieblichkeit und
Anmuth durch eine Vergleichung erst ins rechte
Licht tritt.
Diesen Kern der ganzen Sammlung — denn
auch die wenigen Grabreliefe wird man zu die»
aem rechnen — umschliessen nun mehrere Ta-
feln durchaus verschiedenen Inhalts.
Zunächst die ganze Sammlung eröffnend die
von Schöne zuerst vollständig gesammelten
Fragmente vom Figurenfries des Erechtheions.
Vieles Neue ist hier hinzugekommen, manches
dagegen als nicht hierhergehörig ausgeschieden
worden* Leider hat sich bei der sehr müh-
samen Zusammenstellung ergeben, dass die Zer-
störung der betreffenden Marmorfragmente —
yon denen mit Sicherheit keines mit den in den
Baurechnungen genannten identificirt werden
kann — eine zu weitgehende ist, um auch nur
den Zusammenhang und die Bedeutung des Gän-
sen erkennen zu lassen. Nur das scheint
sicher, dass in der Mitte der Ostfront ganz en
face Athene thronte, rechts und links ihr zuge-
wandt gleichfalls sitzend eine Anzahl olympi-
»eher Götter, von denen Apollon durch den
mit Wollbinden geschmückten Dreifusskessel
kenntlich ist. An den offenbar mit Bezug auf
einander gebildeten göttlichen Frauen, von de*
nen jede ein nacktes Kind auf dem Schooss
hält — Bei Schöne unter no. 2 und 6 so ge-
ordnet, dass die symmetrische Composition so-
fort ins Auge fallt — ist bis jetzt jeder Erklä-
840 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
rungsversuch gescheitert. Die Figur der Athene
anlangend, so fehlen zwar jetzt die sie als solche
äusserlich kennzeichnenden Theile, indem nur
die untere Hälfte vom Nabel an erhalten ist,
aber durch die Enfacestellung ist dieselbe als
Mittelpunkt der Stirnseite des Tempels kennt-
lich gemacht und bei einem Heiligthum der
Athene hat keine Göttin grösseres Anrecht auf
jenen Platz als sie selbst. Der Vermuthung
Schönes, es möchte hier eine Nachbildung des
alten Igoavov vorliegen, kann ich allerdings nicht
beitreten. Zunächst scheint mir der steife, ge-
zwungene Eindruck der sitzenden Figur nicht
durch Nachahmung veranlasst, sondern ledig-
lich durch die Schwierigkeit der gestellten
Aufgabe die Göttin ganz von vorn gesehen,
sitzend zu bilden. Die bis zum Extrem steil
gestellten parallelen Schenkel sind — was doch
auch Schöne kaum entgangen sein wird, obgleich
er es nicht hervorhebt — auf die starke Ver-
kürzung bei der Ansicht von unten berechnet,
und die Gewandung zeigt keine Spur von Ar-
chaismus, der doch so unverkennbar in das
Figurchen der Artemis von Neopolis no. 48
fibergegangen ist.
Irgendwie zwingende Gründe zu der Annahme
einer solchen Nachbildung liegen also nicht vor
und an und für sich hat es doch keine Wahrschein-
lichkeit, dass man eine wenn auch freie Nach-
bildung des Götterbildes gleichsam als Anzeige
dessen, was der Andächtige im Innern des Tem-
pels zu erwarten habe, über den Eingang des-
selben gesetzt haben sollte. So begründet ich
ferner Schönes Einwendungen gegen Jahns An-
sicht halten muss, dass in der ausschreitenden
lanzenschwingenden Göttin das alte Schnitzbild
Schöne, Griechische Reliefs. 311
der Athene Polias zu erkennen sei*), so scheint
mir doch die Beweiskraft der Stelle desAthena-
foras unterschätzt, der doch auch nach Förster
ein Fälscher war, sondern sich nur in Bezug
auf kunstgeschichtliche Daten keines sehr treuen
Gedächtnisses erfreute. An der betreffenden
Stelle nun (C. 14 der Legatio) ist schon des-
halb kaum anzunehmen, dass er sich irrt, weil
er einen für seine Zwecke vollständig gleichgül-
tigen Gegensatz hervorhebt, veranlasst ohne
Frage durch eine deutliche Erinnerung an das
Bild selbst, das er, Athener von Geburt und
von heidnischen Eltern, doch wohl kennen
mus8te. Dass wir uns das Bild aufrecht ste-
hend in Palladienform zu denken haben zeigen
ausserdem die Worte Tertullians im Apologeti-
cus XVI**), die sich nur auf die Athene Polias
beziehen lassen. Eine solche Bildung ist für
ein dumtig äyaXfia auch von vorn herein die
wahrscheinlich ste.
Als ein schönes Specimen decorativer Scul-
ptor aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts
vor Chr. stellt sich uns auf Tf. 5 und 6 die
von Pistokrates und Apollodoros im Dionysos-
theater geweihte Basis dar, die ursprünglich
unzweifelhaft das eigentliche Anathem trug.
Zwischen den reichen aus Reben, Epheu und
Pinienzapfen gebildeten Festons erscheinen
*) S. 12. »An einem Götterbilde, das man vor«
zugsweise zu nennen pflegte, wenn es galt, das Aelteste
und Ursprünglichste in dieser Art aufzuführen, werden
wir nicht Züge voraussetzen dürfen, welche von den
Alten ausdrücklich den Neuerungen des Dädalus beige-
gezählt werden«.
**) Quaoto distinguitur a crucis stipite Pallas Attica
et Ceres ftaria, quae sine effigie rudi palo et informi
ligno proBtant.
942 Gott gel Ana. 187». Stück 9.
aflßserst characteristisch gebildete Masken des
bärtigen Silen. Die Zeichnung ist meisterhaft
ausgeführt.
Auf die Sepulcralreliefs folgen dann auf Tf.
30 — 35 eine Anzahl bemalter Thonreüefs, zum
Theil (was bei der Zerbrechlichkeit dieser Mo-
numentengattung nicht Wunder nehmen kann)
arg verstümmelt. Schöne theilt die Reliefs
in mehrere Classen, je nachdem die Figuren
nicht nur ringsum an den Contouren abgeschnit-
ten, sondern auch durchbrochen gearbeitet sind.
Letztere zeigen nach ihm einen durchweg alter-
thümlicheren Character. Bei der verhältniss*
massig geringen Anzahl der bis jetzt bekannt
gewordenen Stücke scheint mir mit Klügmann*)
bei dieser Coincidenz der Zufall noch nicht
ausgeschlossen. In die Deutung von n. 132 auf
die Bändigung des Pegasus gestehe ich mich
noch nicht ganz hineinfinden zu können. Schöne
scheint die beiden schmalen Streifen, die von
der rechten erhobenen Hand des Bellerophon
ausgehen für herabhängende Zügel zu halten;
als ich das Relief zeichnete schien mir der
kürzere der Rand des Petasos zu sein. Die
Feinheit und Accuratesse der Ausführung die*
ser auch sachlich sehr interessanten Reliefs
wird auch hier noch augenfälliger durch eine
Vergleichung mit einem derselben Gattung ange-
hörigen Monument, das kürzlich auf attischem
Boden zum Vorschein gekommen ist. (Arch.
Ztg. von 1872 Tf. 63), Wenn die Motive auch
durchaus das Lob verdienen, das ihnen der
Herausgeber spendet, so ist die Ausführung
doch eine weit derbere und mit der Durchbil-
dung der Formen kaum ein Anfang gemacht.
Den Besohluss des ganzen Werkes bildet
*) Bull deU' Inst 1872 p. 286.
Schöne, Griechische Belieb. 343
eine Auswahl Terracottafigürcben : Genredar-
stellungen von zum Theil ausserordentlich hu-
moristischer Auffassung. — Eine mystische
Läuterung durch Feuer stellt vermuthlich das
Elfenbeinrelief no. 148 dar; ein zweites no. 149
bezieht der Herausgeber wohl mit Recht auf die
Krodfaeitspfiege des Dionysos.
Die Ausstattung der Publication, welcher
eine Unterstützung von Seiten der k. Akademie
der Wissenschaften in Berlin zu Theil wurde,
ist was die Tafeln sowohl ak auch was den
Druck betrifft, von unnöthigem Luxus wie von
kahler Dürftigkeit gleich weit entfernt; Nichts
wünscht man anders. Fr. Matz.
Recherohes sur la religion premiere de la
race Indo-Iranienne par C. Schoebel. Paris,
Maisonneuve et Cie, 1872. — 172 S. in 8.
Jehova et Agni. Etudes biblico-vediques
sur les religions des Aryas et des Hebreux dans
la haute antiquite, par J.-B.-F. 0 b ry juge
honoraire et membre de Pacademie d'Amiens.
le et 2e Fascicules. Paris, A. Durand et Pe-
done Lauriel, 1870. LXXV und 153 S. in 8.
Diese zwei Schriften welche wir ihres ähn-
lichen Inhaltes wegen hier zusammenstellen,
sind übrigens unter sich höchst verschieden.
Der Verfasser der ersteren ist unseren Lesern
schon als Verfasser unter anderen einiger klei-
ner Abhandlungen über den Pentateuch bekannt:
solche Gegenstände der Forschung bleiben je-
doch heute noch immer sehr schwierig und un-
dftüüich so lange man über das Zeitalter und
844 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
die gesaibmte Eigenthümlichkeit der sehr ver-
schiedenen grösseren oder kleineren Stücke aus
welchen der Pentateuch oder vielmehr mit dem
B. Josüa Hexateuch zusammengesetzt ist, noch
keine richtige und nach allen Seiten hin ge-
nügende Einsicht erworben hat, oder auch die
Wahrheiten darüber welche seit dem letzten
halben Jahrhunderte erworben sind sich nicht
aneignen mag. In dem vorliegenden Buche wen-
det sich Herr Professor Schöbel in Paris (wel-
cher, uns persönlich unbekannt, viele Seiten
der Deutschen Wissenschaft dort offenbar recht
glücklich vertritt) einem leichteren und doch wie-
der wenigstens entfernter verwandten Gegen-
stande zu. Denn dieser Gegenstand hat zwar
ebenfalls seine noch heute nicht geringen Schwie-
rigkeiten, kann aber doch leichter bewältigt
werden weil er von allen unsern nächsten Vor-
urteilen Streitigkeiten und Parteiungen ganz
fern liegt, während er doch durch seine eigne
Bedeutung für uns sehr anziehend ist, oder
doch (um heute etwas deutlicher zu reden) we-
nigstens für solche ungemein anziehend sein
muss welchen wie alle wahre Religion so vor-
züglich auch die Frage nicht gleichgültig ge-
worden ist: welche Religion schon die Herzen
der ersten uns näher bekannten Völker der
Erde bewegt habe? Völker welche übrigens
ganz ausserhalb des Kreises standen in welchem
(wie wir wissen) die wahre Religion zuerst die
Sache einer ganzen grossen Gemeinde oder eines
Volkes wurde, mögen wir sie Heiden oder wie
sonst nennen. Wir kennen aber nur vier Völ-
ker dieser Art deren Schriftthum und deren all-
gemeine Bildung uns aus einem so hohen Alter-
thume bekannt ist oder doch uns heute wieder
90 weit hinreichend erkennbar werden kann class
Schoebel, Becherches s. la religion prem. etc. 345
wir yon der grossen Mühe welche eine genaue
Erforschung solcher uralter Schriften und Zeiten
yon uns fordert, einen entsprechenden Nutzen
erwarten mögen. Allein so nahe uns das
Aegyptische Alterthum in unsern Zeiten sonst
nach so vielen Seiten wieder getreten ist, so
können wir doch fiber die Religion des ältesten
Aegyptischen Volkes bis jetzt noch nicht viel
sicheres und umfassendes wissen, solange wir
seine heiligen Schriften nur erst wieder so un-
vollständig und unvollkommen wie bisher ken-
nen. Dass die Sinesen 'schon vor Kung-tsö
heilige Schriften kannten, ist durchaus unwahr-
scheinlich; und die übrigen uralten Schriften
welche dieses alte Volk besass, sind infolge der
gewaltigen Bewegungen und Erschütterungen
welche Eung-tsö's Lehre über jenes uralte grosse
Reich herbeiführte, theilweise aber auch durch
die eigne Schuld jenes seines grössten Weisen
nur sehr unvollständig und entstellt erhalten.
So bleiben denn bis jetzt nur die heiligen
Schriften der Inder und des Zendvolkes als die
wichtigsten und sichersten Quellen jener Erfor-
schungen übrig; und deren Verständniss hat
nun in den letzten Zeiten unter uns viele er-
freuliche Fortschritte gemacht, da auch die Gä-
tha's als der älteste und für uns noch immer
am schwersten verständliche Theil des Avesta
unserm näheren Verständnisse sich allmälig im-
mer mehr erschliessen.
Der Verf. hat nun diesen beiden Quellen, so-
wohl der so ungemein vollströmend fliessenden
Indischen als der bis jetzt weit engeren und
schmäleren Zendischen eine ernste Erforschung
gewidmet, und vieles von ihrem so höchst eigen-
thümlichen Inhalte sehr treffend erkannt. Er
vergisst aber daneben auch nicht was die mei-
27
346 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
ßten heute gerne vergessen oder doch in seiner
hohen Wichtigkeit nicht genug beachten: eine
tiefer eingehende Yergleichung dieses Inhaltes
mit dem der Bibel, vor allem in den Theilen
dieser welche sei es wegen ihres höheren Alters
oder wegen ihres besondern Inhaltes ammeisten
leäue solche Yergleichung sowohl fordern als zu
unserer bessern Belehrung ertragen. Was er
nach dieser Seite hin hier erörtert, scheint uns
inderthat einer näheren Beachtung sehr werth
zu sein: aber auch was er abgesehen von der
Bibel als neue Beobachtung auffuhrt, enthält
vieles zum genaueren Nachdenken anreizende.
Wir wollen von beiderlei Arten des Haupt-
inhaltes dieser Schrift hier einige etwas wich-
tigere Beispiele vorführen.
Der Verfasser bemerkt an einigen Haupt-
stellen seiner Schrift es sei sehr beachtenswerth
dass die Indischen h. Schriften der ältesten Zeit
aber auch die ältesten Zendschriften nichts von
den heiligen Gebräuchen bei der Geburt der
Heirath und dem Tode des Menschen enthielten,
welche doch in späteren Zeiten von einer so
hervorragenden Wichtigkeit würden. Wir wol-
len nun nicht die Folgerungen besprechen
welche er daraus abzuleiten geneigt ist: welche
Folgerungen die dem Verf. so weitab stehenden
heutigen Verspötter und Verächter wahrer Re-
ligion daraus ableiten möchten zumahl wenn die
Sache überhaupt richtig wäre, wollen wir hier
absichtlich übergehen, da der Verf. dieses in
seinen eigenen Gedanken leicht weiter verfolgen
kann. Allein die Sache selbst wie der Verf. sie
sich denkt, scheint uns grundlos. Denn von
der einen Seite ist die Forderung dass diese
heute erhaltenen ältesten Schriften auf solche
Dinge viele Bücksicht nehmen sollten, insofern
Schoebel, Rechercbes s. la religion prem. etc 347
unbegründet als sie nur Lieder enthalten: man
könnte sonst z. B. auch aus dem Psalter des
A. TS schliessen wollen das Volk Israel habe
zu jenen Zeiten als die Psalmen entstanden
noch gar keine solche heilige Gebräuche gekannt ;
und oberflächliche Geister wären heute bereit
genug einen solchen Schluss zu ziehen , vielleicht
um alsbald darauf Gott weiss welche weiteren
Schlüsse zu bauen. Sodann ist hier zu beden-
ken dass solche Gebräuche seit unvordenklichen
Urzeiten sehr wohl in den einzelnen Häusern
bestehen können ohne dass die öffentliche Re-
ligion anf sie oder wenigstens auf sie alle zu-
gleich einen so grossen Einffuss ausübt; das
Brabmathum war 'aber auch schon während
jener seiner ältesten Anfange ebenso wohl wie
das Zarathustrathum eine öffentliche Religion.
Die Hauptsache ist aber schliesslich dass solche
heilige Gebräuche bei den drei grossen Ereig-
nissen einziger Bedeutung welche jeder erwach-
sene Mensch erleben muss oder doch sämmtlich
erleben kann und in jenen Urzeiten fast aus-
nahmslos erlebte, durch ihre eigne Bedeutung
sich selbst gar bald zu heiligen gestalten, sollte
dies auch der Unverstand der Menschen in spä-
teren Zeiten häufig übersehen oder gar verhin-
dern wollen. Auch würde ja eine öffentlich an-
erkannte d. i. ihren Sinn und ihren Willen
öffentlich und wirksam auszudrücken befugte
Religion solche Gebräuche niemals in ihren
Kreis ziehen, wenn sie nicht der Hauptsache
nach längst in den Häusern und Geschlechtern
seit unvordenklichen Zeiten beständen. Doch
müssen wir dabei einen nicht unbedeutenden
Unterschied machen, welchen der Verf. übersieht
und auch deshalb in den hier zu besprechenden
Irrthum fallt. Es ist sehr wohl möglich dass
27*
348 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 9. ' '
solche heilige Gebrauche bei der Gebart ent-
weder gar nicht oder doch weniger genau gel-
ten, auch von einer öffentlichen Religion nicht
näher in ihren Kreis gezogen werden. Allein
dann vertritt eben der folgende Eintritt in das
Jünglings- oder Knabenalter mit seinen nun
erst recht beginnenden besonderen Rechten und
Pflichten desto notwendiger ihre Stelle. Und
hier scheint uns der Verf. zu irren wenn er
meint die Anlage eines heiligen Gürtels oder
eines ähnlichen Zeichens wodurch sich das
Brahmanenthum ebenso wie das Zarathustra-
thum von anderen Religionen so eigentümlich
unterscheidet, habe bei ihnen keine höhere Be-
deutung: während sich doch leicht beweisen
lässt dass sie bei ihnen (wenn man auf das
Wesentliche sieht) dieselbe Bedeutung hatte
welche bei anderen alten Völkern der Beschnei-
dung zufiel, zunächst jener weit älteren und
ansich erklärlicheren welche der im Volke
Israel endlich (aber erst mit und nach Mose)
gewöhnlich gewordenen vorausging. Es scheint
uns aber heute doppelt unentbehrlich alle solche
(man könnte sagen) unverfängliche und daher
ewig nothwendige und im wesentlichen unwan-
delbare Verhältnisse wohl zu beachten.
Was aber die oben bemerkte Vergleichung
der zwei (wie man allerdings kurz sich aus-
drücken kann) Arischen Religionen mit der Bi-
blischen betrifft, so muss sie desto näher auf
die letzte Frage wegen einer Urreligion des
Menschengeschlechts führen, je sicherer sich be-
weisen lässt dass diese beiden grossen Religio-
nen welche zur Zeit der Sassaniden unzweifelbar
so gut als ganz Asien mit Ausnahme eines klei-
nen westlichen Striches beherrschten, wirklich
aus einer letzten Quelle fliessen und diese
Schoebel, Recherches s. la religion prem. etc. 349
Quelle landlich genommen gar nicht so weit von
jener Stelle ablag wo auch der letzte Ursprung
der Biblischen zu suchen ist. Wir dürfen vor
dieser Frage wegen der Urreligion nicht zu-
rückbeben, ebenso wenig wie vor der Frage
nach einer menschlichen Ursprache und mensch«
liehen Urgesittung: allein nur die äusserste Vor-
sicht kann uns dabei vor dem Aufstellen oder
auch vor dem zähen Festhalten und verkehrten
Vertheidigen schwerer Irrtbfimer schützen. Un-
ser Verf. giebt nun zwar zu dass die beiden
Arischen Religionen zuletzt aus dieser Quelle
flössen, und sucht das im Anfange seiner Schrift
auch durch einige neue Gründe zu erweisen.
Indem er aber ebenso stark hervorhebt dass
dennoch zwischen beiden schon von dem Inhalte
der Gatba's an ein sehr weiter Unterschied sei,
was auch die genauere Wissenschaft gar nicht
läugnen kann, scheint er uns auf der andern
Seite in die Gefahr zu fallen das gesammte
Zarathustrathum viel zu spät zu machen als es
inderthat ist. Hier kehren die bekannten Ein-
würfe wieder dass die öffentlichen Ausschreiben
der Persischen Grosskönige von Zarathustra
nichts wissen u. s. w. Die Urgeschichte dieser
Religion ist freilich heute noch nicht genau ge-
nug wieder bekannt: allein der Verf. scheint
uns hier vorzüglich zu übersehen dass die Spal-
tungen welche in eine weitverbreitete Religion
einreissen, die äusserste Ausdehnung erreichen
können, vor allem was Namen oder was den
Ruhm oder den Ruf von Menschen betrifft.
Wer darf in der Shfah die drei ersten Ghalifen
oder in der Sunna den Ruhm a und die Rechte
'Ali's anerkennen? wo lebt bei den Samariern
der Name und der Ruhm Jerusalem's, ja bei-
nahe das ganze Alte Testament? Die Frage
350 Gott. gel. Amz, 1873. Stück 0.
wäre hier vor allem, was die Zertriitöfmerung
der Herrschaft der Mager durch den ersten
Dareios zu bedeuten habe, und' wie weit deren
Herrschaft vor Dareios sich wirklich erstreckte.
Doch verkennen wir deshalb nicht dass des
Verf. Versuche die Urreligion zunächst der Ari-
schen Völker in Asien wiederzuerkennen sehr
verdienstlich sind und für die Zukunft alle Auf-
munterung verdienen. Er stellt S. 185 schon
eine kurze Uebersicht alles dessen auf was man
den Glauben dieser Arischen1 Urreligion nennen
könnte: wobei jedoch das oben über die heili-
gen Gebräuche bemerkte übersehen ist; dass
sich aber auch in diesen ein Glaube ausspreche,
sollte man nicht läugnen. Kühner ist dass er
behauptet man könne noch im Pentateuche die
Urbilder oder Urerzählungen von den Götter-
sagen der Arier wiedererkennen. Wenn man
dieses von der einen Seite mit der richtigen
Einschränkung von der andern in seiner rich-
tigen Ausdehnung auf das ganze A. T. (denn
den Pentateuch dabei allein abzusondern ist
verkehrt) behaupten will, so würden wir nicht
viel dagegen einzuwenden haben: allein das
notwendigste ist dabei das Zeitalter der ver-
schiedenen im A. T. zusammengeflossenen Schrif-
ten zu unterscheiden, was unser Verf. übersieht.
Wenn er z. B. in der Erzählung vom Paradise
wie wir sie Gen. 2, 5 — 3, 24 jetzt vor unse-
ren Augen haben das Urmuster für alle ähnli-
chen und für die auch in der Griechischen Pro-
metheussage zerstreuten Ueberbleibsel von sol-
chen finden will, so muss man sich doch vor
allem fragen ob gerade diese Erzählung inner-
halb der Bibel selbst die älteste sei oder nicht.
Wir verwerfen demnach das Bestreben des
Verf. nichty sondern wünschen nur dass es noch
Schoebel, Recherc&ess. la religion prem. etc. 351
erleuchteter werde, um desto sicherer eben das
zu erreichen was ihm richtig vorschwebt. Aehn-
lich ist es auch mit der Frage über den Mono-
theismus, welchen er schon in die Urzeiten hin-
aufrücken möchte, wobei man aber vor allem
fragen muss ob man den ernstlich verstandenen
in seiner ganzen Bedeutung oder ob man blosse
Annäherungen an ihn oder Ahnungen von ihm
meine oder nicht. Wenn im Veda Agnis im
gewissen Stellen der oberste Gott genannt oder
auch gesagt wird er sei mit Indra u. s.w. eins;
oder wenn das Zarathustrathum seine beiden
unter sich feindlichen obersten Götter nicht an
den ersten Anfang aller Dinge setzt noch das
Böse bis zu dem allerletzten denkbaren Ende
in seiner Macht bleiben lässt: so mag man
darin richtig Annäherungen an den Monotheis-
mus oder Ahnungen seiner Notwendigkeit
sehen, inderthat aber ist er noch garnicht wirk-
lich da; und alle Geschichte zeigt dass er auf
diese Weise keine wirkliche Macht in der Re-
ligion der Menschen und der Völker werden
konnte.
— Was ist aber nun mit diesem Werke
verglichen das zweite der oben bemerkten!
Sein Verf. bemerkt er habe schon in den Jah-
ren 1831 — 36 sich sehr fleissig mit solchen Un-
tersuchungen über die Urerzählungen der He-
bräer Perser und Inder beschäftigt, später ein
grosses Werk schreiben wollen zum Beweise
dass »Jehova« eigentlich einerlei mit dem
Aegyptischen Ptah und dem Indischen Agnis
sei, endlich aber sich entschlossen den Aegypti-
schen Ptah auszulassen und nur die ursprüng-
liche Einerleiheit des Agnis mit jenem zu be-
weisen. Bei seinem eifrigen .Suchen habe er
jedoch erst nach 1841 gefunden dass der Indi-
352 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9.
sehe Gott Agnis d. i. der Feuergott in den al-
ten Vedaländern sechsmahl sdhaso jahö ge-
nannt werde: und nun meint er in diesen 6
Stellen welche er S. VI aufzählt, den augen-
scheinlichsten Beweis dafür gefunden zu haben
dass dieser Indische Agnis wirklich der Hebräi-
sche »Jehovac oder nach anderer Aussprache
Jaho sei. Das Werk dessen erster TheU hier
vorliegt, gibt jedoch nur den Anfang oder
(wenn man will) die eine Seite dieses Beweises,
die Hebräische, in ihrer ganzen Ausführlichkeit
und Offenheit, mit manchen Abschweifungen in
andere Gebiete.
Wir geben nun zwar gerne zu dass man
über den Namen »Jehova«, über seine wahre
oder bloss vorausgesetzte und als möglich an-
genommene Urbedeutung, über sein Vorkommen
im Alten Testamente oder auch ausser ihm,
sowie über die Geschichte seiner Aussprache
selbst mit allem Nutzen für die Sache der wah-
ren Religion ein sehr umfassendes Werk ver-
fassen und verbreiten könnte; und wir meinen
dass jeder Sachkenner uns darin beistimmen
werde. Sollte ein gründliches und auch nur
alles was wir heute darüber sicher wissen und
einsehen können fleissig und lichtvoll zusammen-
stellendes Werk auch noch umfassender sein
als das von dem Verf. hier beabsichtigte und
theilwei8e veröffentlichte, so würde es immer
seinen guten Nutzen stiften. Allein das hier
vorgelegte ist von ganz anderer Art. Der Verf.
kennt weder den wirklichen Stand unsrer heuti-
gen Wissenschaft, noch beginnt er hier irgend-
etwas was erspriesslich werden zu können ver-
heisst. Er ist im Hebräischen so weit zurück
dass er mit einigen Gelehrten der Reformirten
Kirche wie sie vor 200 — 300 Jahren Waren
J.-B.-F. Obiy, Jehova et Agni. 858
noch den Grundirrthum tbeilt man könne den
ATlichen Gottesnamen rrtf-p ihuh aussprechen,
weil er ja bloss aus den Buchstaben i-h-u-h be-
stehe. Dieser schwere Irrthum fiber die He-
bräische oder vielmehr über alle Semitische
Schrift ging damals von einigen Gelehrten aus
welche übrigens s die würdigsten und verdiente-
sten Männer sein konnten, nur dass sie leider
fiber diese um jene Zeit in der weiten Europäi-
schen Gelehrtenwelt erst recht bekannt wer-
dende und noch mehr angestaunte als verstan-
dene Schrift sich dem verhängnissvollen Irr-
tbume hingaben man müsse diese Schrift wie
eine bekannte Europäische d. b. in ihrem Sinne
wie eine Lateinische oder Griechische lesen, und
alle Hebräischen Vocale und Accentzeichen seien
ein unstatthafter ja beständig irreführender Jü-
discher Zusatz. Aus Furcht vor Irrthum fiel
man damit selbst in. den grössten: doch fand
dieser in der Reformirten Kirche Frankreichs
Englands Nordamerika^ den weitesten Anklang,
und wurde zu einer Sitte welche noch vor 50
Jahren nicht sehr auffallen konnte, die aber
noch jetzt mitten in Frankreich bei dem Verf.
zu finden umso seltsamer ist da er übrigens
sich als einen mit dem neuesten auch Deutschen
Schriftthume nicht unbekannten Mann zeigt.
Wir können aber an diesem Beispiele den all-
gemeinen Zustand der sprachlichen und ge-
schichtlichen Wissenschaft des Verf. hinreichend
schätzen, und finden es überflüssig an dieser
Stelle weiter darüber zu reden. — Was aber
jenes Sanskritische sahasd jahö und den Vedi-
Bchen Agnis betrifft, so wird es gut sein abzu-
warten was der Verf. darüber in einem folgen-
den Theile seines Werkes zu sagen verspricht:
wir werden ihm gerne beistimmen wenn er
354 Gott, gel Anz. 1873. Stück 9.
darüber etwas richtiges aufstellt. Für jetzt
aber sehen wir nur daes der Verf. die früheren
vergeblichen Versuche neuerer Gelehrten den
Gottesnamen Jahve noch bei einem andern Ur-
volke nachzuweisen um einen neuen vermehrt
hat. H. E.
Eulogius und Alvar. Ein Abschnitt spani-
scher Kirchengeschichte aus der Zeit der Maurern
herrschaft. Von Wolf Wilhelm Grafen ■ von B a u-
dissin, Dr. philo s. Leipzig. Verlag von Fr.
Wilh. Gruriow. 1872.
Der Verf. des oben genannten kirchenge-
schichtlichen Werks, Graf W. v. Baudissin, hat
sich schon früher in die gelehrte Welt als ein
Arabist aus der Schule Fleischers eingeführt
durch die sorgsame und anerkennend aufge-
nommene Herausgabe einer alten arabischen
Version des Buches Hiob*). Als eine neue ge-
reifte Frucht seiner Beschäftigung mit den Ära-
bern, zu welchen er durch die verwandten, ihm
speciell obliegenden alttestamentlichen Studien
geleitet wurde, hat der Verf. die vorliegende
Schrift publicirt, in welcher er einen schätzens-
werten Beitrag zur Aufhellung der bis auf die
Zeit der Arbeiten des Holländers Dozy noch
sehr dunklen Geschichte Spaniens unter der
Herrschaft des Islam liefert.
*) Der vollständige Titel dieser Schrift ist: Trans-
lation« antiquae Arabioae libri Jobi quae sapersunt, ex
apograpbo Codicis Musei Britannici nunc primum edidit
atque ülustravit Woliiafl (tail. Fri(L Comes de Baudisein.
Lipsiae. Doerffling et Franke. 1870.
v. Baudissin, Eulogins and Alvar. 355
Der eben genannte berühmte holländische
Orientalist hat zwar in die alte' spanische Od*
schichte dnrch mehrere ausgezeichnete Schriften,
namentlich durch sein Hauptwerk: »Histöire des
Mustdmans d'Espagne« etc. Ordnung geschafft
und das von ihm neueroberte Geschichtsgebiet
durch seine klaren und glänzenden Darstellun-
gen auch einem weiteren Leserkreis eröffnet.
Allein die in dem vorliegenden Buche für die
Geschichte der spanischen Muslims gewonnenen
Resultate waren bisher fur die Kirchengeschichte
Spaniens noch nicht verwerthet. Eine streng
wissenschaftliche Geschichte der altern spanischen
Kirche giebt es überhaupt noch nicht. Es ist
daher verdienstlich, dass der Verf. in einen bis-
her besonders dunkeln Geschichtsabschnitt neues
licht gebracht hat.
Die Episode, welche sich der Verf. zur Unter-
suchung und Behandlung erwählt hat, ist die
Geschichte des Lebens und Wirkens der beiden
spanischen Christen, des designirten Erzbischofs
von Toledo, Eulogius, und seines Freundes Pau-
lu& Alvarus, eines Patriziers aus Cordova. Diese
beiden Männer lebten und erlitten für ihren
Glauben den Märtyrertod in Cordova im neun-
ten Jahrhundert, zu einer Zeit, wo das Interesbe
an den Geschicken der christlichen Kirche unter
den Emiren von Cordova seinen Höhepunkt er-
reicht. Bis dahin hatten die Gegensätze des
Christeritbums und des Islams ohne sich zu be-
rührenrieben einander bestanden, träten aber
nun in Wechselwirkung und die Genannten len- '
ken als Führer einer antimuhammedanischert"
Bewegung die Aufmerksamkeit ganz besonders*
auf sich. Eine todesmuthige Begeisterung be- '
m ächtigte sich damals der Christen von Cord oVäy
und : trieb sie in blindem Fanatismus zu Schma- '
856 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 9.
hungen der muhammedanischen Religion, für welche
das Gesetz die* Todesstrafe bestimmte. Diese
bei aller Verblendung doch bewundernswürdige
Freudigkeit der Selbstaufopferung ist auf den
schlie88lichen Ausgang des Kampfes der christ-
lichen Reiche Spaniens gegen die muhammedi-
sehe Herrschaft von nicht geringem Einfluss ge-
wesen, und die Geschichte des Eulogius und
Alvar trifft daher mit den Anfangen einer Wen-
dung in der Gesammtgeschichte Spaniens zu-
sammen.
Als Quellen für seine Arbeit hat der Verf.
vor Allem die Schriften seiner beiden Helden
selber benutzt. In der Beilage I zu seinem
Buche giebt er eine eingehende kritische Ueber-
sicht über diese Schriften und ihre verschiede-
nen Ausgaben, so wie überhaupt über seinen
ganzen Quellenapparat, auch die andern gleich-
zeitigen kirchlichen Schriftsteller Spaniens.
Es ist hieraus vermittelst eines äusserst müh-
seligen Prozesses, durch den sich der Verf. auf
allerlei bisher unbetretenen Wegen Bahn bre-
chen mosste, ein Buch hervorgegangen, das eine
sehr interessante und vielfach neue Schilderung
der Begebenheiten und des Geistes jenes ent-
legenen Zeitalters enthält. Die Treue und Le-
benswabrheit seiner Darstellung dokumentirt der
Verf. durch eine Fülle vonCitaten gleichzeitiger
Aeusserungen und Belege. — Er giebt zunächst
in einem einleitenden und »Vorgeschichte« be-
nannten Gapitel eine allgemeine Schilderung der
Lage der spanischen Christen unter der Mauren-
herrschaft, entwirft dann ein Bild der Geburt,
Jugend, Lebensstellung und des Charakters sei-
ner beiden Helden. Zuerst werden, an der Hand
von Alvars Briefwechsel, die inneren kirchlichen
Verhältnisse jener Zeit geschildert Lehrstreitig-
v. Baudissin,, Eulogius und Alvar. 357
keiten über ganz abstruse Formeln beschäftigen
die spanischen Theologen unter Umständen.,
welche die ganze Existenz der christlichen Kirche
bedrohen. Jüdischer Fanatismus, der uns in
der merkwürdigen Gestalt eines Apostaten vom
Chri8tenthum, Bodo, entgegentritt, sucht die Un-
gunst der Zeit zum Nachtheil der Christen aus-
zubeuten. Der zunehmende Druck der Obrigkeit
flösst . unter den Emiren Abdarrahman II. und
Muhammad zahlreichen Christen das Verlangen
nach. dem Märtyrertode ein. Es ist ein buntes
Bild blutiger ocenen, das sich hier unserem
Auge entrollt Eulogius und Alvar schüren mit
Schrift und Wort das Feuer der Begeisterung«
Vergebens veranstaltet Abdarrahman ein Concil
des besonnenen und deshalb muhammedanisirten
Theiles der Bischöfe und lässt durch sie das
Martyrium für verboten erklären. Erst als auch
Eulogius den Gerichten Anlass zu seiner Ver-
urteilung gegeben und unter dem Henkerbeil
fefallen ist, beruhigt sich mehr und mehr die
Irregung.
Mit wohlthuend berührendem Contraste zieht
sich durch alle diese Bilder der Leidenschaft-
lichkeit die Zeichnung eines edeln Freundschafts-
bundes zwischen Eulogius und Alvar; und als
der Freund von seiner Seite gerissen, verinner-
licht und vertieft sich die Stimmung des zurück-
gebliebenen Alvar. Es sind Worte innigen
christlichen Gefühls, in denen er nicht lange vor
seinem Heimgang eine »Confession« verfasste.
Wohl nur wenige Jahre nach dem Tode Eulogs
wird auch Alvars Herz durch die harten Schläge
mannichfacher Schicksalswendungen gebrochen.
— Mit einer Schilderung der vereinzelten spä-
teren Martyrien und der Entwickelung der kirch-
lichen Verhältnisse bis zum gänzlichen Aufhören
958 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 9,
der Martyriumsbewegung rundet der Verf. sein
Geschichtsgemälde ab, am Schluss hinaus-
blickend auf den endlichen Sieg des spanischen
Chri8tenthum8 über den Islam.
Der Verf. geht in der ganzen Monographie
mit grosser und umfassender Kenntniss seines
Terrains in specielle Untersuchungen ein, deren
gelehrten Apparat er in den Anmerkungen nie-
dergelegt bat, während der Text in fliessender
Sprache die Resultate zusammenstellt. Der
klare, einfache und anziehende Styl und der
fromme Sinn, der das ganze Buch durchweht,
macht dasselbe auch für das grössere Publikum
interessant.
Wir begrüssen in dieser Schrift den Anfang
wissenschaftlicher Erschliessungen der älteren
sppiypchen Kirchengeschichte. Die Geschichte
der rßformatorischen Bewegungen in Spanien
hat schon seit längerer Zeit Pflege gefunden und
gerade in den letzten Jahren ist das Interesse
auf sie gelenkt worden durch die Fortschritte,
welche in jüngster Zeit die evangelisch-prote-
stantische Predigt in Spanien macht. Es ist
darum an der Zeit, dass der Boden, auf dem
sich diese späteren kirchlichen Ereignisse auf-
bauen, endlich einmal gelichtet wird.
Denkschrift über die von der Königlich
Preussischen Staatsregierung beabsichtigte neue
gesetzliche Regulirung des standesherrlichen
Rechtszustandes des Herzogs von Arenberg
wegen des Herzogthum Arenberg-Meppen. Von
Dr. H. A. Zaphariä, Staatsrath und Prof. d.
B. in Göttingen. Hannover. A. Wolff's Buch-
handlung. 1872. 8°. 32 S.
Zachariä, Denkschrift etc. 3$9
Rechtsgut achten fiber etc. (wie bei der
Denkschrift). Von Dr. jur. Heinrich Zöpfl,
6ro8sh. Badischen Hofrathe, ö. o. Professor der
Rechte an der Universität Heidelberg. (In dems.
Verlage gleichzeit erschienen). 24 8.
Beide Schriften gelangen zu dem fiberein-
stimmenden Resultate, class die, zufolge eines
dem Hause der Abgeordneten vorgelegten Gesetz-
entwurfs von der Königl. Preussischen Staats*
regierung beabsichtigte einseitige Aufhebung
der dem Herzog von Arenberg bisher in dem
Herzogthum Arenberg-Meppen zuständigen Ho-
heitsrechte nach den maassgebenden Rechts-
grundsätzen sich nicht rechtfertigen lasse. Das
Rechtsgutachten von Zöpfl beschränkt sich da-
bei auf eine allgemeine Darlegung des in Folge
der Deutschen Bundesacte Art. XIV feststehen-
den Prinzips, wonach der, durch die Bundesacte
selbst und durch die auf Grund derselben ge-
machten besonderen Feststellungen begründete,
Rechtszustand der Deutschen Standes-
herrn, auch nach Auflösung des Bundes, kei-
ner einseitigen und willktihrlichen Abänderung
durch die Gesetzgebung in den einzelnen Deut-
schen Staaten unterworfen ist, weil es sich hier
gar nicht um Privilegien handelt, die den
s. g. Mediatisirten von den betreffenden Staats-
gewalten verliehen . wurden, sondern um
internationale Vorbehalte, mit welchen sie
der Staatsgewalt der Einzelstaaten subjicirt wur-
den. Die »Denkschriftc geht dabei näher
auf die besondern Verhältnisse des Herzogs von
Arenberg im vormaligen Königreich Hannover,
auf die Folgen der Einverleibung desselben in
Preussische Monarchie, die Bedeutung der
Preussischen Verfassung mit der Declaration
360 Gott. gel. Am. 1873. Stück 9.
vom 10. Juni 1854 für die Hannoverschen
Lande ein und widerlegt die Beschuldigung, dass
der Herzog von Arenberg alle Versuche zu einer
vorgängigen Vereinbarung mit ihm zurückgewie-
sen habe. Dabei wird dokumentirt, dass der
Herzog gegen Einräumung eines Präsentations-
rechts bei der Besetzung der Aemter und Amts-
gerichte in Meppen sich bereit erklärt hat, auf
die Gerichtsbarkeit und die Verwaltungsrechte
in erster und zweiter Instanz zu verzichten und
dass es, auch in Vergleich mit den, verschiede-
nen Deutschen Standesherrn bei der in neuerer
Zeit erfolgten vertragsmässigen fiegulirung ihres
fiechtszustandes von der Preussischen Regierung
fem ach ten, Einräumungen, ein offenbares
unrecht sein würde, ihm auch diese, im Ver-
gleich mit den aufzugebenden Rechten sehr ge-
ringfügige Concession zu verweigern. Leider
haben aber die vor Beginn der Session 1872/73
gemachten Versuche, die Regierung zur Gewäh-
rung der sehr billigen Forderung zu bestimmen,
keinen Erfolg gehabt, indem der betreffende
Gesetzentwurf ganz in der früheren Fassung
und nur mit einigen auf die Motivirung bezüg-
lichen Abänderungen, infolge Königlicher Er-
mächtigung, von den Ministern des Innern und
der Justiz zunächst dem Hause der Abgeordne-
ten (No. 72 der Drucks, dieses Hauses. III. Sess.
1872 — 1873) zur verfassungsmässigen Beschluss-
fassung wieder vorgelegt worden ist.
H. A. Zachariä.
861
Gftttingisch e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stttok 10. 5. März 1873.
Ueber den psychologischen Ursprung der
Baumvorstellung. Von Dr. C. Stumpf, Privat-
docent der Philosophie an der Universität zu
Göttingen. - Leipzig, S. Hirzel. 1873. 324 S.
8. VIII.
Die Frage nach dem Ursprung der Raum-
vorstellung bildet seit längerer Zeit den Kreuzungs-
punct für Untersuchungsreihen, die im Uebrigen
nach sehr verschiedenen Richtungen verlaufen.
Nachdem in der deutschen Philosophie die em-
piristische Theorie Herb art's durch ihren
Gegensatz zum Kant 'sehen Nativismus die
Discussion in Gang gebracht, hat Lotze durch
die eingehenden Untersuchungen seiner Medici-
nischen Psychologie, worin er die Fähigkeit
und den Drang der Seele zur Raumvorstellung
überhaupt für angeboren, die bestimmten und
wechselnden Localisationen aber für erworben
erklärt, das einflussreichste Wort von dieser
Seite gesprochen. Inzwischen war auf rein phy-
siologischer Seite durch die Opposition Wheat-
stone's gegen Joh. Mülle r's Nativismus
28
S62 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
eine ähnliche Bewegung entstanden, die, aus-
gehend von der Theorie des binocularen Ein-
fachsehens, sich allgemach über die ganze
Theorie der räumlichen Wahrnehmung verbrei-
tete. Mit einer ausserordentlichen Vermehrung
der beobachteten Erscheinungen, insbesondere
hinsichtlich der Tiefenvorstellung und des bino-
cularen Sehens, ging die Entwickelung theoreti-
scher Systeme Hand in Hand; bis auch hier
durch nelmholtz' Physiologische Optik ein
Sewisser Abschluss herbeigeführt wurde, den je-
och der grosse Forscher selbst nicht für einen
absoluten zu halten geneigt ist. Eine dritte
Reihe von Untersuchungen endlich ist auf der
britischen Insel ßeit Berkeley (1709) in der
von diesem eingeschlagenen Richtung stetig ent-
wickelt und neuerdings von Alexander Bain
(The Senses and the Intellect, 2. ed. 1864) in
klarer und ausführlicher Exposition zusammen-
gefasst worden. Nach Tendenz und Resultat der
Herbart'schen Doctrin am nächsten verwandt,
scheinen doch diese Untersuchungen fast ohne
Einwirkung auf die obigen Bestrebungen deut-
scher Forscher geblieben zu sein.
Wenn sich die vorstehende Schrift speciell
ȟber den psychologischen Ursprung der Raum-
vorstellungc betitelt, so soll damit gesagt sein,
dass sie sich in erster Linie mit den psycholo-
gischen Fragen beschäftigt, die in Bezug auf
den Ursprung der Raum Vorstellung erhoben wer-
den können; mit den rein physiologischen Be-
dingungen derselben nur insoweit, als dies zu
jenem Zweck erforderlich oder nützlich ist. Un-
ter dem Ursprung aber ist natürlich nicht allein
die erstmalige Bildung bei den Kindern zu ver-
stehen, sondern die Entstehungsweise in jedem
Falle der ganzen Erfahrung; denn die Kaum-
Stampf, Ueb.d.psychol.Ur8pr.d.Raumvor8t. 363
Vorstellung ist ja nicht ein für alleraal vorhan-
den, sondern entsteht jedesmal von Neuem, stets
wechselnd und verschieden.
Hierbei schien es nun vor allem von Wich-
tigkeit, eine Uebersicht der Wege zu gewinnen,
die man im Allgemeinen zur Lösung des Pro-
blemes einschlagen kann. An Stelle der von
Helmholtz eingeführten Classification der Theo-
rien in empirißti8che und nativistische, die na-
mentlich in ihrem erste Gliede nicht hinlänglich
bestimmt definirt erscheint, bediente ich mich
der folgenden. Die Raum Vorstellung bildet sich
entweder als eine besondere Combination der
jeweiligen Sinnesqualitäten, z. B. der Farben,
unter einander (Herbart); oder als eine Com-
bination derselben mit den Qualitäten anderer
Sinne, z. B. mit Muskelgefiihlen (Bain); oder
sie stammt überhaupt nicht aus den Sinnen,
sondern wird durch eine besondere productive
Thätigkeit der Seele zu den Sinnesqualitäten
hinzugefügt (Kant); oder endlich sie wird mit
den jeweiligen Sinnesqualitäten zusammen und
ebenso unmittelbar wie diese durch den betref-
fenden Sinn selbst wahrgenommen (Locke und
der jetzt sog. Nativismus). Unschwer liess sich,
wie auch zum Theil hier angedeutet, den ver-
schiedenen historisch vorliegenden Theorien hier-
nach ihr gegenseitiges Verhältniss bestimmen.
Ich suchte sodann die Glieder dieser Dis-
junction unter Zuhilfenahme der historisch ge-
gebenen Beispiele zunächst hinsichtlich der
Flächenvorstellung des Gesichtssinnes, absehend
von der Tiefendimension , zu prüfen. Hier-
bei blieb nur die vierte Ansicht als haltbar
übrig, welche sich dann auch auf directem Wege
durch eine genauere Betrachtung des Verhält-
nisses zwischen der vorgestellten Qualität und
364 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 10.
der Ausdehnung, in welcher dieselbe vorgestellt
wird, constatiren liess. Es zeigte sich, dasS
die Farbenqualitäten ebenso no th wendig und
ursprünglich in einer gewissen räumlichen Aus-
dehnung und an einem gewissen Orte vorgestellt
werden, wie sie in einer gewissen Intensität
vorgestellt werden, und dass jene räumlichen
Bestimmungen in derselben Weise wie die In-
tensitäten mit8ammt der Qualität direct em-
pfunden werden. Dieses Verhältnids, dutch die
angeführte Analogie genugsam erläutert, erfuhr
dann noch eine genauere Definition hinsichtlich
der Frage, wie wir dazu kommen, ifn Gesichts-
inhalt jene Momente der Qualität, Intensität»
Ausdehnung u. A. überhaupt zu unterscheiden.
Ausserdem blieb, nachdem die Raumvorstellung,
wenigstens nach den zwei ersten Dimensionen,
sich in demselben Sinne wie. die Qualitäten als
psychisch ursprünglich erwiesen hatte, nur noch
die Frage nach den physiologischen Bedingungen
derselben; und hier schien es — in Ermange-
lung sicherer und unzweideutiger Thatsachen —
wenigstens nicht unmöglich, mit E. H. Weber
den blossen physischen Ort der gereizten Ner-
venfasern (oder der entsprechenden centralen
Gebilde) als zureichenden Grund für die vorge-
stellte Oertlichkeit der Qualität, und die Zahl
der Fasern als im Allgemeinen maassgebend für
die vorgestellte Ausdehnung anzusehen.
Durch die ausführliche Discussion der we-
sentlichen Begriffe und Gesetze an diesem ein-
facheren Falle war nun die Behandlung de*
viel verwickeiteren Probleme erleichtert, zu wel-
chen die dritte Dimension, die Vorstellung der
Entfernung, Tiefe, Körperlichkeit Anläse gibt.
Das Verfahren wie das Resultat war im Princip
dasselbe. Die drei ersten Theorien aind audi
Stumpf, Deb. d. psychol. Ursp. d. Raumvorst. 365
hier nicht durchzuführen; und es zeigt sich
ebenso bei genauerer Analyse des Vorstellungs-
inhaltes als naturnothwendig, dass derselbe nicht
bloss nach zwei, sondern sogleich und allezeit
nach drei Dimensionen bestimmt vorgestellt
wird. Alle noch so scheinbaren Gründe für den
absoluten Mangel einer Tiefenvorstellung bei den
wirklichen Gesichtsempfindungen lassen sich
widerlegen. Doch dienten sie, auf eine sorg*
faltigere Scheidung dessen, was von der drit-
ten Dimension ursprünglich vorgestellt (empfun-
den) wird, von dem, was erlernt und aus frühe-
ren Erfahrungen hinzugedacht wird — und das
ist in der That weitaus das Meiste — hinzu-
leiten. Aus dieser Untersuchung erwuchs die
weitere Aufgabe, den Process und die Hilfs-
mittel dieses Lernens psychologisch genau dar-
zustellen; eine Aufgabe, die namentlich hin-
sichtlich der binocularen Parallaxe und der zu-
erst von Dove zuletzt von Donders ange-
stellten Beobachtungen über Unterscheidung des
Reliefs bei momentaner Beleuchtung eingehende
Erklärungen nothwendig machte. Zugleich er-
gab sich aus diesen letzteren in Verbindung mit
Beobachtungen an Doppelbildern eine letzte Be-
stimmung über die Natur des ursprünglich und
direct gesehenen Raumes: er besteht in zwei
nicht conoentri8chen Sphäroiden. Und dies war
endlich auch von Wichtigkeit für die Theorie
des Einfachsehens mit beiden Augen.
Die Raumvorstellungen der übrigen Sinne
boten nun keine wesentlichen Schwierigkeiten
mehr, da weder neue Principien noch ver-
wickelte Thatbestände hier längerer Erwägung
bedurften. Das Ergebniss war, dass sehr wahr-
scheinlich jeder Sinnesinhalt seiner Natur nach
als raumlich empfunden wird, ebenso wie er in
366 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 10.
einer gewissen Intensität empfanden wird; nur
dass die Raumvorstellungen des einen Sinnes
aus grösstenteils naheliegenden organischen
Gründen der Ausbildung in hohem Maasse, die
des anderen nur in sehr unbedeutendem
Maasse fähig sind. Nach dieser Darlegung und
zum Theil im Verlauf derselben erklärte ßich
die Genesis der Vorstellung des Einen unend-
lichen Raumes und des leeren Raumes, die
Unterscheidung des eigenen Körpers von den
äusseren, soweit dieselbe auf Raumvorstellungen
beruht, die vielgenannten Beobachtungen an
operirten Blindgebornen u. dgl. — Der Schrift
beifügen durfte ich eine gütige Mittheilung des
Herrn Hofrath Lotze über mehrere wesentliche
Puncte seiner Theprie der Localzeichen.
Um nach dieser Beschreibung des Ganges
und des wesentlichen Inhaltes auch Einiges über
die Natur der Gründe anzudeuten, will ich hier
aus längeren und an mehreren Stellen des Bu-
ches vertheilten Ueberlegungen ein kurzes aber
gleichwohl stringentes Argument formuliren, das
nur eben durch seine Einfachheit ausser Zu*
8ammenhang mit jenen ausführlichen Erwägun-
gen befremden könnte.
Man kann die Behauptung aufstellen, dass
ein einziger elektrischer Funke hinreicht, um
die entwickelte Theorie dem Princip nach fest-
zustellen. Es ist nämlich möglich, bei gehöriger
Stärke des Funkens in einem dunklen Räume
die vorher unbekannte Gestalt eines nicht zu
grossen Gegenstandes zu erkennen; ja es wird
sogar das Relief im Allgemeinen richtig erkannt.
Nun setzen alle anderen Theorien, wie sie in
der obigen Disjunction charakterisirt wurden,
eine Bewegung des Auges über den Gegenstand
Stumpf, Ueb. d. psycho}. Ursp. d. Raumvorst. 867
hin voraus, sei es, um eine gewisse Succession
von Farbenqualitäten (Herbart), oder um auch
Bewegungsgefühle zu erzengen (Bain), oder um
der Seele, wenn sie die Fähigkeit und den
Drang, Baum Vorstellungen selbstthätig zu pro-
duciren, im Allgemeinen besitzt, doch gewisse
Zeichen zu geben, nach welchen sie verschie-
dene räumliche Anschauungen, die bestimmten
räumlichen Gestalten im einzelnen Falle, erzeu-
gen muss; denn diese Zeichen können, wenn
durch die Netzhaut direct nur Farbenqualitäten
von bestimmter Intensität erregt werden, doch
in nichts anderem als in den durch Augen-
drehung erzeugten Bewegungsgefühlen bestehen,
worin sie denn auch wirklich gesucht werden.
Jede irgend wie in Rechnung kommende Augen-
bewegung ist aber bei einem Anblick, der weni-
ger als den millionten Theil einer Secunde
dauert, vollkommen ausgeschlossen. Somit muss
hier Raum und räumliche Ordnung unmittelbar
empfunden werden.
An Eine Ausflucht liesse sich denken, jedoch
nur kurz. Könnten nicht statt der wirklichen
Bewegungen sowohl als der Bewegungsgefühle
Bewegungserinnerungen dienen? — Ge-
wiss können sie es, sobald nur Momente in der
gegenwärtigen Empfindung vorhanden sind, durch
welche in jedem einzelnen Fall bestimmte
Bewegungen in der Erinnerung reproducirt wer-
den. Denn da die räumliche Vertheilung der
Objectpuncte nicht willkürlich ist, sondern uns
in jedem Fall als eine bestimmte aufgedrungen
wird, so müsste es sich ebenso auch mit den
Bewegungserinnerungen verbalten, deren Folge
die räumliche Yertheilung sein soll; es wäre
also ein System associirender und reproduciren-
der Momente in der wirklichen Empfindung nam-
1
868 Gott, gel Anz. 1873. Stück 10.
haft zu machen, wodurch uns im einzelnen Fall
gerade diese bestimmten Bewegungserinnerungen
und darum diese bestimmten Raumvorstellungen
aufgedrungen werden. Ein solches System ist
nicht aufzutreiben. Wir empfinden nach der
Voraussetzung jener Theorien ausser Muskelge-
fühlen, di^ hier nicht vorhanden sind, nichts
als Farbenqualitäten und deren Intensitäten, die
aber beide bei gleicher räumlicher Vertheilung
unendlich verschieden sein können. Der Aus-
weg ist also abgeschnitten.
Die hier vertretene Anschauung, welche
die Raumvorstellung, statt besondere Kategorien
für sie zu erfinden, durchweg unter die gewöhn-
lichen und bekannten Gesetze des Ursprunges
unserer sinnlichen Vorstellungen subsumirt,
(Entstehung durch unmittelbare Empfin-
dung, Ausbildung durch Associationen und
durch reflectirende Verstandesthätigkeit) dürfte
trotzdem zur Zeit die Mehrzahl der Forscher
gegen sich haben. Ich glaube nicht ganz fehl
zu geben, wenn ich den Grund dafür in einer
Reihe psychologischer Anschauungsweisen suche,
die der Philosophie, vorzüglich einem starren
Eantiani8mus, entsprungen, in die Naturforschung
hinüber gewandert und dort mit dem Bürger-
recht beschenkt worden sind, während die Phi-
losophie bereits zu einer Revision derselben
fortgeschritten ist. Hauptsächlich darum und
um zu diesem Revisionswerk das ihrige beizu-
tragen, sind die vorliegenden Untersuchungen
mit einer Erörterung des Sinnes eingeleitet, wel-
chen man den apriorischen Formen Kant's etwa
noch beilegen kann; und in der gleichen Ab-
sicht ist eine Analyse der Grunde eingeflochten,
welche Herbart als den ersten zu der Behaup-
tung verleiteten, dass nur Qualitatives Ursprung-
Stumpf, Ueb. d. psychol. Ursp. d. Raumvorst. 869
lieh empfanden werde. In der Geschichte der
"Wissenschaften fehlt ea nicht an Beispielen die-
ser Erfahrung, die dem individuellen Denken
wohlbekannt ist: daes sehr frühe Gedanken,
nachdem Zweifel und Schwierigkeiten sich er*
hoben und zunächst zur Verwirrung dann zur
Lösung führten , sich gerechtfertigt aber zu-
gleich verdeutlicht und durchgebildet wieder*
luden. Wie dem auch sei, das Fundament
der obigen Theorie steht nach meiner Ueber-
zeugung unerschütterlich fest. Aber ich bin
weit entfernt, dasselbe von allen einzelnen Thei-
len des Baues zu behaupten. Im Besonderen
möchte ich die Lehre vom Einfachsehen und
hierin wieder speciell das Einfachsehen der
Schielenden und Schieloperirten als einen der
Puncte bezeichnen, bei welchen sich sowohl der
Mangel verwendbaren Materiales als durch-
greifender Gesichtspuncte der Erklärung em-
pfindlich fühlbar macht. Man hat seither wohl
zu wenig geschieden zwischen dem Nativismus
in Bezug auf die Kaumvorstellungen jedes Auges
for sich, und dem in Bezug auf die Gleichheit
bez. Einfachheit der Raumvorstellungen beider
Augen. Obgleich in beiden Beziehungen einer
gemässigt nativistischen Anschauung folgend,
war ich doch auch bemüht zu zeigen, dass die
zweite mit der ersten nicht nothwendig zu-
sammenhange, und wenn ich die erste als sicher
betrachte, wage ich nicht ganz denselben Cha-
rakter der zweiten zu vindiciren. —
Die Psychologie bietet zur Zeit noch der
Probleme mehr als der Erkenntnisse. Einiges
ist ausgemacht, Einiges liegt ganz im Dunkeln,
das Meiste schwebt dazwischen. Unter diesem
aber giebt es gewisse Fragen, die ihrer exaeten
Etttsehekfafig entgegensehen, und dazu gehört in
29
1
370 Gott. gel. Abz. 1873. Stück 10.
erster Linie die gegenwärtige. Denn keine
andere erfreut sich einer ähnlichen Unter-
stützung durch die zwingende Kraft äusserer
Experimente, wenige eines gleichen Interesses
von Seite der Liebhaber und Beförderer unserer
Wissenschaft. Darum möchte die Hoffnung nicht
vergeblich sein, dass die vorgelegte Untersuchung
an diesem Interesse theilnehmen, Ueberzeugung
erwecken und zur Entscheidung in ihrer Weise
beitragen werde. G. Stumpf.
Anselm der Peripatetiker , nebst anderen
Beiträgen zur Literaturgeschichte Italiens im
eilften Jahrhundert, herausgegeben von Ernst
Du mm ler. Halle, Verlag der Buchhandlung
des Waisenhauses. 1872. gr. 8°. VI und
112 SS.
Auf das im November 1871 in diesen Blät-
tern begrüs8te Bändchen, enthaltend die Gesta
Berengarii und andere Beiträge zur Geschichte
Italiens im Anfange des 10. Jahrhunderts, folgte
vor einigen Wochen die vorliegende Sammlung
von Literaturdenkmälern aus dem elften Jahr-
hundert. Wie doit die Gesta Berengarii, so
bildet hier die Rhetorimachia Anselms des Pe-
ripatetiker8 den Kern des Ganzen; wie dort, so
schickt auch hier Dümmler den Texten gründ-
liche historisch-kritische Abhandlungen voran,
aus denen Referent nicht umhin kann, einige
Hauptsachen hier zu wiederholen.
Für Anselm standen dem Herausgeber zwei
Handschriften zugebote. Die eine, Pergament,
früher im Besitz des grossen französischen Ge-
Dämmler, Anselm der Peripatetiker. 371
Schichtschreibers Jacobus Thuanus (f 1617),
dann nach dem Tode des jüngeren de Thou
(f 1677) Eigenthum des Ministers J. Bapt. Col-
bert, ward ihm durch Vermittlung des deutschen
auswärtigen Amtes aus Paris (Bibl. nat. 7761)
zugesandt. Du Cange hatte sie 1678 im Ver-
zeichnis der Quellen zu seinem Glossar erwähnt ;
1744 brachte der Catalogus cod. mss. bibl. re-
S'ae eine etwas genauere Angabe; B. Haureau,
itglied des Instituts, referirte 1861 über In-
halt und Verfasser, in welchem letzteren er
einen Zeugen für den damals noch nicht vor-
handenen Ruhm der Schule von Paris gefunden
zu haben glaubte.
Dümmler zuerst erkannte in der Hand-
schrift (P) mit grös8ter Wahrscheinlichkeit die
Urschrift des Anselm und in den nicht überall
mehr zu entziffernden Randglossen von der Hand
des Autors selbst beigefügte Erläuterungen; er
zuerst nahm von ihr eine Copie und bearbeitete
sie sorgfältig fur den Druck. Die zweite Hand-
schrift (G), aus der reichen Bibliothek des ge-
lehrten Cardinais Nicolaus Cusanus bis jetzt
dem Hospitale zu Cues bei Berncastel an der
Mosel verblieben, wo sie Prof. Franz Xaver
Kraus 1864 wieder entdeckte, ist, wie Dümmler
zeigt, eine Abschrift von P: sie hat keine ein-
zige Lesart von selbständigem Wert und nur da-
durch Bedeutung, dass in ihr ein inzwischen
aus P verloren gegangenes Gedicht und eine
Widmung an Kaiser Heinrich III. (letztere auch
bereits veröffentlicht von Joseph Klein) am An-
fang der Rhetorimachia sich erhalten haben.
Anselm stammte von väterlicher wie mütter-
licher Seite aus sehr vornehmer Familie, was er
selbst mit nicht geringem Stolz erörtert: be-
kannte Erzbischöfe und Bischöfe, von denen als
29*
372 Gott gel. Anz. 1873. Stück 10.
er schrieb Kunibert von Turin und Johannes
von Lucca noch am Leben waren, zählte er zu
seinen Verwandten; eine Schwester Attos von
Cauossa vermittelte den Zusammenhang seines
Hauses mit dem mächtigen Markgrafen Bonifa-
ciuß von Tuscien, und auch mit den Turinern
war er verschwägert. Geboren ward Anselm zu
Bisatis, jetzt Besäte, nicht weit von Pavia. Neh-
men wir an, was Dümmler wahrscheinlich macht,
dass um 1048 Anselm sein Werk abfasste, so
würden wir, da er selbst sich mehrfach als ju-
venis bezeichnet, seine Geburt in das dritte
Decennium des elften Jahrhunderts setzen dür-
fen. Er widmete sich dem geistlichen Stande
und machte seine Studien bei dem seiner Zeit
berühmten Philosophen Drogo zu Parma und
dessen Schüler Sichelm.
Vorher hatte er ein Lehrbuch der Rhetorik
verfasst mit dem Titel (de materia artis': die
Bhetorimachia sollte gewissermassen eine practi-
sche Exemplification sein zu der früher aufge-
stellten Theorie; es geht dies deutlich hervor
aus den Worten der Epistola ad Drogonem S.
19: Quibus in scribendis hec fuit etiam cura,
ut quod de hac arte Hermagoras, Tullius, Ser-
vius, Quintilianus, Victorinus, Grillius, Boetius
nosque etiam in alio nostro opere cui titulus
est : de materia artis, precipiendo conscripsimus,
in hoc brevi opusculo exemplificare satagerem
ex arte. Aus den Randglossen , die wohl zum
Teil auf die 'materia artis9 Bezug nehmen, und
aus directen Citaten erhellt, dass Anselm sei-
nen Studien vor allen die sog. Rhetorik ad C.
Herennium (S. 34) und Cicero's Schrift de inven-
tione rhetorica (S. 34: in libro rhetoricarum
inventionum) zugrunde gelegt hatte. Er nennt
ausserdem Porphyrins (S. 32), Priscianus (S. 33),
Diimmler, Anselm der Peripatetiker. 373
eine Phylippica (3.51) und die leges (Justinians
Institutionen und Julians Epitome der Novellen,
vgl. S. 6); Isidor ist selbstverständlich, ebenso
Vergil, Horaz und Ovid nebst den hervorragen-
den Grössen der lateinischen Theologie; Aristo-
teles, von dessen Schule er seinen Beinamen
entnimmt, wie überhaupt die Griechen, kannte
er natürlich nur aus jenen lateinischen Quellen
und dem was Boethius und andere übersetzt
hatten. Mit grösster Sachkenntnis hat Dümmler
wo es möglich war die Worte fremder Autoren,
auf welche Anselm direct oder indirect sich be-
zieht, gesammelt und unter dem Texte ver-
zeichnet.
Die Rhetorimacbia ist in der Grundidee, und
auch in einzelnen Ausfuhrungen — Anselm legt
sich selbst S. 20 einen sermo iocosus bei —■
ein seltsames Werk. Der Verfasser denkt »ich
als Gegner seinen leiblichen Vetter Rotiland,
der ihm — auch dies ist fingiert — einen Brief
geschrieben hat, in welchem er seinen wissen-
schaftlichen und moralischen Charakter aufs
ärgste angreift. Dieser Rotiland ist in Wirk-
lichkeit ein durchaus unbescholtener, ehrenwerter
Mann. Er selbst und sein Brief bilden nun
aber das Object, an welchem der Peripatetiker
seine Kunst zur Entfaltung bringt. Dem Geg-
ner werden die gröbsten Verstösse gegen die
Rhetorik nachgewiesen, und alle Anklagen,
welche er gegen Anselm geschleudert hat, wer-
den nicht nur widerlegt, sondern in gehäuftem
Masse zurückerstattet. Während dabei Anselm
rieh entpuppt als erste Autorität in der Wissen-
schaft, dessen Ruhm in Italien, Frankreich und
Deutschland nicht seines Gleichen hat, während
er sittlich so rein dasteht von Jugend auf, dagft
selbst die Engel sich nach seinem ümgarig tth*
374 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 10.
nen, wird Rotiland gebrandmarkt als ein elender,
verkommener Geselle, der die Wissenschaft nur
benutzt um sich Gelder zu erwerben zur Be-
friedigung seiner niedrigen Lüste, der Meineid,
Zauber und Mord nicht scheut, wenn er dadurch
seine Buhlerinnen sich geneigt machen kann;
und gelingt ihm dies, so ist er so sehr 'frigid^
natura, dass er 'pulsatus et calcitratus a lecto
miser est eiectus', so einfältig, dass er sich von
andern übertölpeln und beiseite schieben lässt.
Anselm entwirft uns, ohne dass er's weiss, auf
diese Weise höchst interessante Bilder aus dem
socialen Leben seiner Zeit, wie das Dümmler
im Zusammenhange S. 7. 8 näher erläutert hat.
Ausser diesen Sitten- und Culturschilderungen,
dem Stammbaum und den Familiennachrichten,
sind auch beachtenswert Erörterungen über die
Volkssprache, wie die S. 35 über Rotilandus
und Rollandu8, Johannes und Zohanes.
Besonderes Interesse (S. 11 ff.) hat für uns
Anselm als einer der Vermittler des literari-
schen Verkehrs zwischen Italien und Deutsch-
land. Er reiste nämlich mit seinem Werke
durch verschiedene italienische Städte und Bur-
gund, über Basel, Augsburg, Bamberg nach
Mainz, wo er eine philosophische Disputation
mit deutschen Gelehrten bestand, natürlich sieg-
reich, vgl. Einleitungsverse 21. 22:
Littoribus Reni diadema Maguntia regni
Digna laude probat quod tellus Italia donat.
Ueber diese Disputation berichtet er selbst in
der S. 56 — 58 angehängten Epistel an seinen
Lehrer und seine Freunde in Italien: Drogoni
magistrissimo et ejus discipulissimis. Schon
ehe er diesen Brief schrieb war er in Kaiser
Heinrich III. Capelle eingetreten, wie Dümmler
wahrscheinlich macht Ende 1049, Dümmler hält
Dämmler, Anselm der Peripatetiker. 375
es für möglich, aber unwahrscheinlich, class un-
ser Anselm der spätere Bischof Anselm II. von
Lucca (1073 — 86) gewesen: freilich ist zwischen
dem zeitweiligen Lenker der Matilde und unse-
rem Luftfechter, dem strengen Asketen der
Vita Bardoms und unserem naiven Schüler der
Alten ein bedeutender Abstand, aber die hohe
Verwandtschaft unseres Rhetors, seine Wirksam-
keit in der kaiserlichen Gapelle, die von Gregor
veranlasste Busse des Bischofs Anselm für seine
anfangs kaiserliche Haltung sprechen dafür, und
Serade in jener Zeit spiegeln sich ja die Gegensätze
er grossen Welt oft überraschend wieder in
den verschiedenen Lebensperioden einer und der-
selben Persönlichkeit.
Die Widmungsepistel an den Kaiser ist zwar
schwülstig, aber nicht ohne historisches Inter-
esse: seiner starken Hand beugen sich das stolze
Haupt und das übermüthige Herz der Baiern
und Sachsen, über seine Siege jubelt Italien;
die deutschen Völker am linken Rheinufer (Vgl.
S. 9, N. 4; im letzten Absatz der Epistola ist
auch Gallia neben Alemannia Bezeichnung für
deutsches Land, ebenso S. 78, V. 11 u. a.) sind
erregt ob seiner Tapferkeit ; Frankreich (Francia)
erwartet ihn als seinen König, Brittania als Kai-
ser; Ungarn wird bald unterworfen sein, Grie-
chenland, Judea und Germania (er scheint die
östlichen Gegenden Deutschlands im Auge zu
haben), die Saracenen und die übrigen trans-
marinen Länder furchten von neuem der römi-
schen Herrschaft unterworfen zu werden. Solche
Thaten, solche Macht müssen in einem Epos
verherrlicht werden, und unser Anselm selbst
will ein solches abfassen : laudes tue itaque cum
non minus sint Augusti, sed plurime, erit mihi
cum Marone describere. Ausgeführt Bcheint
376 Gott gel. Anz. 1873, Stuck 10.
diese Absicht nicht zu sein, aber charakteri-
stisch ist es doch, dass aus dem Laude, wo die
Gesta Berengarii entstanden, die Absicht mitge-
bracht wurde, die Thaten eines deutschen Kai-
sers in lateinischen Versen zu besingen: man
weiss, wie schon der Sohn dieses Kaisers seinen
Dichter fand.
Es folgen S. 60 ff. sechs Briefe und das
Epitaphium des durch den Einflusa der Matilde
erhobenen Bischofs Heribert von Reggio, aus
einem Codex der Wiener Hofbibliothek See.
XII, No. 792, den 1793 Michael Denis beschrie*
ben hatte. Die Briefe stehen in der Hand"«
schrift zusammen mit einer Erklärung der sie-
ben Busspsalmen, welche Heribert auf den
Wunsch der beiden befreundeten und vielleicht
auch verwandten (vgl. epist. II: iuris naturalis
fedus) Nonnen, an welche die Briefe gerichtet
sind, verfasst hatte. Der Bischof rühmt die
melliflua sermonis dulcedo, den odor suavitatia
in den Zuschriften, welche die beiden Frauen
an ihn richteten; sie heissen dominae und ma-
tres, sind also wohl vornehmer Herkunft, und
mancher Zug erinnert an die Art und Weise,
wie Gregor mit hochgestellten Frauen seiner
Zeit verkehrte. Am Ende des fünften Briefes
verspricht ihnen Heribert einen persönlichen Be-
such, im sechsten, der auf die übersandte
Psalmenerklärung Bezug zu nehmen scheint,
meldet er am Schluss, dass er auf seinem Wege
den marina discrimina entgegen nicht ihr Klo-
ster passieren werde, propter equorum laborem
Die 'Alpes' müssen also, wie Dümmler hervorhebt,
die Apenninen sein und der rex, der ihn zur
Reise veranlasst, ist Konrad , für den er um
die Tochter des Grafen Boger von Sicilian wer-
ben sollte; danach fallt die Abreise in deaSour
Dämmler, Anselm der Peripatetiker. 377
mer 1093, und in demselben Jahre erfolgte
wohl sein Tod auf Sicilien. — S. 69, Z. 10
scheint vor despicere ein 'non' ausgefallen
znsein (oder: respicere?).
Ein dritter Abschnitt, S. 72 ff., bietet die
Rythmen auf Gregor V., Otto III. und Hein-
rich IL
Die 'Versus de Oregorio papa et Ottone
Augu8to' hatte der Herausgeber schon in seinem
Auxilius und Vulgarius abgedruckt. Giesebrecht
und Baxmann versuchten die offen gelassenen
Lücken der nur auf einem schadhaften Blatte
einer Bamberger Handschrift überlieferten Verse
auszufüllen: Dümmler verglich nun die Hand-
schrift noch einmal, und fand u. a. Giesebrechts
Vermuthung zu Vers 34: substrata, bestätigt
(vgl. dazu auch Garm. de hello Sax. in, 290:
to tubstratis miserere !). Die Abfassung fällt ins
Jahr 998. »Die Rückkehr und Herstellung des
vertriebenen Gregor, dem Otto's Freund und
Lehrer Gerbert als Erzbischof von Ravenna zur
Seite stehen sollte, dieser enge Bund zwischen
dem Papstthum und dem streng aber gerecht
waltenden Kaiserthum begeisterte unsern Sänger
zm den diese neueste Wendung begrüssenden
Rythmen«.
Die Versus de Ottone et Heinrico, wenige
Jahre jünger (Ende 1002), sind augenscheinlich
von demselben Verfasser; nicht blos derselbe
Ton und Rythmus (kurze Reimpaare mit vier
Hebungen), dieselbe Absicht und Gesinnung spre-
chen dafür, sondern auch wörtliche Anklänge : so
konnte Dümmler aus II, 17 : ululet palatinm,
I, 29 herstellen: Iubilet palatiutn; das doppelte
nunquam H, 43 spricht für Baxmann's Conjec-
tur I, 10: semper, u. a. m. Anklänge in dem
Carmen de bello Saxonico und der mit dem-
378 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
selben Spruche beginnenden Vita Henrici IV.
(vgl. auch zu I, 3: Convertis ad sublimia, Ipse
te humilia, Wipo, Prov. 19: Melius est se hu-
miliare quam exaltare) lassen vermuthen, dass
diese Rythmen weite Verbreitung fanden. In
dem Verfasser glaubte Giesebrecht einen Italie-
ner zu erkennen, der in der kaiserlichen Ca-
pelle mit den deutschen Verhältnissen bekannt
wurde, und Dümmler ist geneigt ihm beizu-
stimmen. Wattenbach spricht nur von einem
Cleriker aus dem Kreise des Bischofs Leo von
Vercelli: die Verse II, 19. 20:
Vorassent lupi populum, Finis esset omnium,
Ipsi celi compluerent, Elementa ruerent,
erinnern an altdeutsche mythologische Vorstel-
lungen (vgl. das Völuspalied), und die genaue
Aufzählung von Bagoaria, Francia, Alemannia,
Saxonia (dazu der Sclavus), Germania (!) und
Belgica mit den gerade für die Zustände der
Zeit passenden Beiwörtern sind bei einem Italie-
ner allerdings auffallend; der Dichter könnte
immerhin ein in der Umgebung Leos lebender
deutscher Cleriker sein. — II, 15, wo Dumm-
ler in den Text aufgenommen hat : Fugit nostra
cythara, ist wohl aus M und V im Verein mit
einer bekannten Stelle der Vulgata herzustellen :
Nostra luget cithara (vgl. die sog. » Beichte c :
Nunc in factum versa est Cythara Gualteri).
S. 84 - 106 enthalten unter der Ueberschrift:
Gedichte aus Ivrea, nach einer eingehenden Be-
schreibung zweier vom Bischof Warmund der
heil. Jungfrau gewidmeter und noch jetzt im Ar-
chive des Domcapitels zu Ivrea vorhandener
prachtvoller Handschriften (ein Missale und
ein Psalterium) und Untersuchungen über die
Bischöfe Warmund und Ogerius, aus dem Psal-
terium entnommene Hymnen (XV) und ein aus
Dämmler, Anselm der Peripatetiker. 379
150 leoninischen Distichen bestehendes Liebes-
gedicht, deren Verfasser vielleicht Wido hiess
und, wie Dümmler (S. 87) sehr einleuchtend ans
der Handschrift schliesst , ein Domherr von
Ivrea war. Aus Vs. 157. 158:
Contulit Heinricus, cui Saxon servit iniquus,
Ant velit aut nolit, iam sua iussa colit,
wird mit Recht geschlossen, dass das Idyll bald
nach 1075 abgefasst ward. Es ist, wie schon
Bethmann bemerkt hatte, »fiir die Kenntnis der
Hoden, Sitten, der Toilette, der Handelsgegen-
stande, des Luxus sehr interessant«. Die Form
ist nicht gerade ungewandt, aber an einigen
Stellen etwas dunkel; die alten Dichter hatte
der Autor eifrig studiert, doch sind directeRe-
miniscenzen seltener, als man sie sonst in jener
Zeit findet. Vs. 295 'Flaccus' beruht vielleicht
auf einer unklaren Erinnerung an Hör. Od. I,
33. Dürfte man glauben, dass der Verfasser,
wo er von sich redet, wirkliche Facta anführte,
so hätte er nach Vs. 228 Studien halber Spa-
nien besucht; nach Vs. 246 wäre er aus
edlem Stamme, und die aurea forma come,
die in Rom gefeiert wird, wäre vielleicht ein
Hinweis auf germanischen Ursprung, aber das
alles mag poetische Fiction sein« — Vs. 73
möchte das avilla der Handschrift in ovilla
(seil, caro), nicht in a villa zu ändern sein;
Vs. 99: sitis statt situs; Vs. 74 ist wie an an-
deren Stellen, z. B. auch 73 (species oris rosei
datur esse colons) das esse nicht substantivisch
= Leben, zu fassen, sondern 'datur, esse mori'
= es ist gegeben, ist nothwendig, dass ich ster-
ben muss. Vs. 277 würde etwas klarer, wenn
man ändert: Es* veluti suber tumidum über
(tuum), quod preterit (gulam). — Hymnus VI,
1
380 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 10.
7: forum st. thorum; XV, 20 zu ergänzen:
perennem.
Den Scblu88 des Werkes bilden einige dan-
kenswerte Nachträge zu den Gesta Berengarii
imperatori8, in denen u. a. die Ansicht Dänd-
likers, dass der Panegyrist die Kaiser Earl IL
und III. verwechselt habe, mit Recht zurückge-
wiesen wird.
Ueber den Wert der vorliegenden zum weit-
aus grössten Teil bisher ungedruckten, aus in
italienischen, französischen und deutschen Bi-
bliotheken verwahrten Handschriften mühsam
gehobenen, mit umfassender Gelehrsamkeit in
das richtige Licht gestellten Literaturdenkmäler
urteilt der Herausgeber im Vorwort fast zu be-
scheiden. Ist die Geschichte nicht blos eine
Summe von aneinandergereihten äusseren Ereig-
nissen, sind auch diese in ihrem inneren Zu-
sammenhange nur zu erfassen auf Grund der
Kenntnis der geistigen Zustände und Entwick-
lungen, aus denen sie erwachsen sind, so bedarf
ein solches Werk nicht besonderer Empfehlung
oder wohl gar einer »Entschuldigung«. Gehören
diese Denkmäler zunächst der Geschichte Ita-
liens an, für die »grade das eilfte Jahrhundert
in der historischen Ueberlieferung so gar dürf-
tig bestellt ist, dass alles zu seiner näheren
Kunde dienliche Material möglichst vollständig
verwertet werden muss«, so stehen sie doch
auch in engster Beziehung zu Deutschland, wo
*weri der Autoren persönlich wirkten: die Wid-
mung der Rhetorimachia und dieRythmen »ver-
setzen uns lebhaft in die Zeit aufrichtiger An-
hänglichkeit der Italiener an die deutsche Herr-
schaft und ihr römisches Kaiserthumc.
Kloster Ufeld. Dr. A. Pannenborg,
Bathgeber, Strassburg im sechzehnten Jahrb. 381
Rathgeber, Julius, Pfarrer in den Voge-
Ben: Strassburg im sechzehnten Jahrhundert.
1500 — 1598. Reformationsgeschichte der Stadt
Strassburg, dem evangelischen Volke erzählt.
Bevorwortet von K. R. Hagenbach, Dr. und
Prof. der Theol. an der Universität zu Basel.
Stattgart, 1871, Druck und Verlag von J. F.
Steinkopf. 412 Seiten.
Ganz abgesehen von allem Interesse, das
die Hauptstadt des wieder erworbenen Reichs«
landes und deren Geschichte im gegenwärtigen
Augenblicke in Anspruch nimmt, ist gerade der
Abschnitt der Geschichte Strassburgs, welchen
die vorliegende Monographie uns vor Augen
fuhrt, auch schon an und für sich interessant.
Ist es doch gerade die Epoche, welche nicht
allein für das gesammte Leben im deutschen
Vaterlande eine neue Wendung hervorbrachte,
sondern in welcher auch das alte Argentoratlum
seine Blüthezeit gehabt und am Tiefsten mit
eingegriflen hat in die Gestaltung ddt deutseben
Dinge überhaupt: die Zeit der Reformation, die
Zeit, wo Strassburg neben Wittenberg und Zu«
rieh dastand recht eigentlich »wie eine Stadt,
die auf dem Berge lag«, die Zeit, welche für
Strassburg durch die Namen Zell, Butzer, Sturm
und Calvin hinreichend charakterisirt wird. Vor-
her war die Hauptstadt des Elsasses immer nur
eine unter den mancherlei Städten des deut-
schen Reiches, die verdienten, genannt zu wer-
den, weil sie in ihrer Art tüchtig waren und
Tüchtiges leisteten, und hernachmals wurde sie
ja fast völlig dem deutschen Leben entfremdet:
aber im 16 ten Jahrhundert steht sie geradezu
mass« und tonangebend für das gesammte süd-
westliche Deutschland da, und eine Zeit lang
382 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
schien es sogar, als sollte sie das wohlthätige
Mittel- und Vermittlungsglied bilden zwischen
der sächsisch-norddeutschen und der süddeutsch-
schweizerischen Richtung der Reformation , wie
diese in Luther und Zwingli ihre sich hart be-
kämpfenden Vertreter gefunden hatten. Von
Strassburg und seinem grossen Theologen Butzer
ging der erste Unionsversuch zwischen diesen
beiden Richtungen aus, und noch jetzt mag
man es beklagen, dass das Werk, welchem die-
ser Theologe so viel Mühe und Zeit gewidmet
hat, damals keinen besseren Boden im deutschen
Vaterlande fand: es hätte viel Unheil verhütet
werden können. Aber eben deshalb ist es von
höchstem Interesse, gerade diese Tage der alten
und nun wieder neuen Reichsstadt uns wieder
lebendig zu machen, und jedenfalls hat der
Vorredner recht, wenn er ganz besonders den
Umstand hervorhebt, dass »die Geschichte der
Union in den Reformatoren des Elsasses und in
der Verbindung Strassburgs mit den oberdeut-
schen Städten ihre tiefsten Wurzeln hat«.
Auch muss nun dem Verf. das Zeugniss ge-
geben werden, dass er seinerseits Alles gethan
hat, um diese seine Bearbeitung einem grösse-
ren Leserkreise interessant zu machen und dem-
selben die Bedeutung der grossen Zeit zu er-
schlies8en, in welcher seine Vaterstadt als ein
so bedeutsames Glied des deutschen Reiches
dagestanden hat. Allerdings ist es nicht ein
»wissenschaftliches« Werk im eigentlichen,
schulmässigen Sinne, was der Verf. geliefert
hat, und hat er auch ein solches nicht liefern
wollen: er hat das »evangelische Volk« als sei-
nen Leserkreis im Auge gehabt und danach
Zuschnitt und Ton des Buches eingerichtet.
Aber wie er auf der einen Seite den volksver-
Bathgeher, Strassburg im sechzehnten JahrL 383
ständlichen Ton recht gut getroffen, so muss
auf der anderen doch auch anerkannt werden,
dass das Buch auf einer Grundlage tüchtiger
Gelehrsamkeit ruht und dass es ein gar nicht
unbedeutendes quellenmässiges Material ist, wel-
ches in demselben ist verarbeitet worden. Das
merkt und erkennt man überall, dass man hier
an der Hand eines kundigen Führers durch die
wechselnden Zeiten des 16ten Jahrhunderts ge-
leitet wird, und zwar eines Führers, der mit
ächter Simplicität auch die grösste Gewissenhaf-
tigkeit in Hinsicht seiner Angaben verbindet:
es ist überall der solide Boden der Geschichte,
auf welchem wir da umhergeführt werden, und
der Verf. unterlässt es nicht, uns auf Alles,
was wirklich Beachtung verdient, auch mit aller
Sorgfalt aufmerksam zu machen.
Der Gang, den er seine Darstellung hat neh-
men lassen, ist der natürliche, von der Auf-
einanderfolge der Ereignisse selbst vorgezeich-
nete. Nachdem eine »Einleitung« uns die Zeit
von 1500 — 1517 als »Vorbereitung auf die Re-
formation« geschildert und die grossen bahn-
brechenden Gestalten eines Geiler, Wimpfeling
und Sebastian Brandt vor die Augen geführt
hat, stellt der erste Theil die Ereignisse »bis
zur feierlichen Abschaffung der Messe« (1517 —
1529) dar, eine Zeit frisch anstrebenden Lebens,
wo Matthias Zell die Verkündigung des Evange-
liums beginnt und mit allem Muthe für die Neu-
gestaltung der Kirche eintritt und wo die re-
formatorischen Gedanken und Strebungen die
Bevölkerung der Reichsstadt immer mehr er-
greifen und durchdringen, so dass für die »alte
Kirche« kein Boden mehr übrigbleibt. Im zwei-
ten Abschnitte werden wir dann bis in die Zei-
ten des Interims eingeführt (1550), und hier
384 Gott. gel. Anz. 1878. Stück 10«
ist es neben Eapito und Hedio denn namentlich
Martin Bntzer, der im Mittelpunkte der Bege-
benheiten steht, wo das Hauptinteresse auf
die Bemühungen desselben für Erhaltung des
kirchlichen Friedens unter den Evangelischen
fällt, während im dritten Theile, von der Ein-
führung des Interims bis zur Annahme der Con»
cordienformel (1598) hauptsächlich die Kämpfe
behandelt werden, welche auch in Strassburg
um die confeaeionelle Ausgestaltung der Refor-
mationskirche sich bewegten und mit dem Siege
des concordistischen Luthertbums endigten:
Vorgänge, von denen Ref. freilich gesteht, dass
sie auf ihn, wie immer, so auch in der Dar*
Stellung dieses Buches, nur einen überaus pein-
lichen Eindruck gemacht haben, die aber der
Verf. mit aller der Objectivität geschildert hat,
wie sie dem Geschichtschreiber zukommt. Doch
das ist nur der allgemeine Rahmen, in welchem
der Verf. seinen Stoff uns vorgeführt hat: in
den einzelnen Kapiteln, in welche die drei
grossen Abschnitte eingetheilt sind, lernen wir
mit vieler Genauigkeit das ganze strassburger
Leben aus damaliger Zeit kennen. Wir erfah-
ren von dem Bauernkriege, soweit er diese Ge-
genden berührt hat, und von den auch in
btrassburg ihr Heil versuchenden Widertäufern
nicht weniger, wie von den Flüchtlingen aus
Frankreich, welche gerade hier eine so überaus
S astliche Aufnahme fanden; und wie wir von
em hören, was in Strassburg, namentlich durch
den Rector Sturm, für das Schulwesen gethaa
wurde, so hat der Verf. auch unsre Aufmerk-
samkeit auf Butzer'a Thätigkeit für die Refor-
mation in anderen Territorien (im Kölnischen,
Hanau'schen und in England) gelenkt, überall
seine DaisteQung mit individuellen Zügen schmüy
Bathgebef , Strassburg im sechzehnten Jahrh. 385
ckend, wie sie nur ein eingehendes Quellen-
studium an die Hand geben kann, aber wie sie
nothwendig sind, wenn das eigenthümliche Le-
ben des behandelten Zeitraumes auch wirklich
deutlich werden soll.
Mit dem Ende des 16 ten Jahrhunderts
scbliesst das Buch, und seit der Zeit sind frei-
lich Schicksale über Strassburg und das Elsass
gekommen, deren Gedächtniss für uns am We-
nigsten erquicklich ist, die aber doch auch im
Zusammenhange mit dem Schicksale standen,
welches das Werk des 16 ten Jahrhunderts, die
Reformation, überhaupt gehabt hat. Jetzt ist
der Verlust, den unser Vaterland in seiner süd-
westlichen Mark erlitten hatte, denn freilich
wieder gut gemacht, aber möge man denn nun
auch die alten Fehler und Fehltritte vermeiden!
und Ref. meint, das vorliegende Buch könne
auch in dieser Hinsicht Dienste leisten als eine
Mahnung und Warnung für Alle, die es angeht,
namentlich auch für die Männer der evangeli-
schen Kirche. F. Brandes.
Boetius und die griechische Harmonik. —
Des Anicius Manlius Severinus Boetius fünf Bü-
cher über die Musik aus der lateinischen in die
deutsche Sprache übertragen und mit besonde-
rer Berücksichtigung der griechischen Harmonik
sachlich erläutert von Oscar Paul. Mit vielen
Tabellen und Facsimiles. Leipzig. F. £. G.
Leuckart LYI und 379 S. 1872. 8.
Ein neues Buch über antike Musiklehre for-
dert nnwülkührlich auf zu* einer Uebersicbt
30 -
386 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 10.
darüber, wie weit die Forschung bisher ge-
diehen sei, welche sowohl dem Philologen als
dem Kunsthistoriker von jeher ein Acker der
Mühsal gewesen, den man mit Verdrossenheit
betritt, weil die endliche Ausbeute so wenig der
Mühe zu lohnen scheint, wenn die unabreiss-
lichen Scalentabellen und unaussprechlichen
Rechen-Exempel zu nichts weiter dienen sollen
als die spärlichen Denkmäler wirklicher melodi-
scher Kunst mit immer noch zweifelhafter Be-
glaubigung zu reproduciren. Man fragt noch
immer nach der Sicherheit des Erworbenen und
dessen Nutzen für die gesammte Kunstwissen-
schaft.
Berühmte Theoretiker, namentlich aus der
letzten um wälzerischen Zeit von Mattheson
(t 1764) bis M. Hauptmann (f 1868), woll-
ten nun den Urväter-Hausrath ganz abwerfep,
wenigstens die gesammte historisch physikalische
Lehre von Tönen, Tonleitern und Temperaturen
ans der Kunstwissenschaft verbannen, während
man anderswo jene physischen Grundlagen der
gründlichen Kunstbildung nach wie vor un-
entbehrlich achtete, gleichwie die Statik dem
Architekten, die Perspektive dem Maler. Bil-
ligerweise sollte ja eben die Tonkunst als zeit-
bewegliche, desto mehr Antheil nehmen an den
historischen Fortschritten, die während der letz-
ten Jahrhunderte, bei ihr fast sichtbarer als bei
den übrigen Künsten, eben sowohl an die Ent-
wickelung der Naturwissenschaft wie an die ethi-
sche Bewegung der Weltgeschichte geknüpft sind.
— Welchen Einfluss auf die Musik die Hellenen
geübt haben, zeigt eben das Buch des Boetius,
welches den Hauptinhalt der griechischen Ton-
Lehre von Pythagoras bis Aristoxenus und
Ptolemäu8 geistvoll aber mühselig, nicht überall
Paul , Boetkis u. d. griechische Harmonik. 387
klar genug fibertrog, des ungeachtet aber als
Vermittler Ton antiker und moderner Musik die
Hauptquelle der mittelalterlichen Theorie ward,
welche eingeständig obwohl oft missverständig
auf jenem Fundament fortbaute. Wie nun an-
derseits die physikalische Temperaturlehre auf
die moderne Kunst erheblichen Einfluss übte,
hat Helmholtz in seiner Lehre von den Ton-
Empfindungen (1862) geistvoll nachgewiesen,
hiermit sogar manches Eäthsel sowol der alt-
griechischen als der morgenländischen Musik
der Lösung genähert, und damit vieles, was
schon in Bachs und Händeis Zeit theils gesucht,
theils halb entdeckt war, in wissenschaftliche
Ordnung gerückt.
Bei den Gelehrten des Mittelalters bis tief
in die Beformationszeit hinab war Philologie
und Musik Öfter vereint, als im vorigen Jahr-
hundert, das die Einseitigkeit der Berufsstudien
befestigte. Erst in der jüngsten Zeit der in
Tiefe und Breite gewachsenen Sprachforschung
finden sich wieder Sprach- und Musikkunde ver-
eint in Fr. und H. Bellermann, Otto Jahn,
Joh. Franz, Paul Marquard. Aber selbst
diese tüchtigen Meister, so auch der kühn wa-
gende und erfinderische, aber in Ergebnissen
nicht abgeschlossene Rud. Westphal haben
zwar vieles bisher Unklare zurecht gelegt, aber
gewisse Grundlagen noch nicht allseitig so dar-
S »stellt, dass uns ein volles Bild auch nur der
lementarlehre vor Augen stände. Wie sich
zum <ftJ0*9ffta xileiov s. dpsTaßoXov (der stetigen
Molltonleiter) die transponirten Scalen verhal-
ten und wie sich die Anschauung verbundner
und getrennter (Gvvrmpiva-diB&VYiiiva) Tetra-
chorde vollzog, das mögen wir uns allenfalls mit
Hülfe Wittes universalen Tonbrettes so imagi*
30*
388 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
niren, als hätten wir sieben (oder 12) ver-
schieden gestimmte Claviere bei einander, deren
jedes innerhalb seines Bereiches iede Tonleiter
transponirt reproducire; welches Instru-
ment aber von den griechischen dazu geeignet
und wie zu diesem Zweck dessen Einzeltöne
(Tasten, Claves, qt&dyyot, voces) gestaltet, wird
uns weder bildlich noch buchstäblich vor Augen
gestellt. Empfindlich ist dabei unsre Unkenntniss
der antiken absoluten Tonhöhe, &&<uq. Denn
während wir unsre Tonhöhe nach den Schwin-
gungszahlen aussprechen, z. B. a' = 435, vor
70 Jahren a' = 426, C = 64, und dieses
körperlich experimentirend vorstellig machen : so
fehlt uns bis heute ein ähnliches Maass aus je-
ner Zeit, etwa eine beglaubte selbstredende
Stimmgabel aus pompejanischen Trümmern. So
ge8chiehts dass man sich noch immer zankt, ob
der ächte Proslambanomenos modi hypodorii
unserm A, 6, F oder D gleichstehe, was zwar
die Gesammtrechnung nicht hindert, aber das
Einverständnis stört. Bis zu weiterem Austrag
der Sache scheint es gerathen, der allgemeinen
Tradition des Mittelalters zu folgen, also das
grosse A als Grundton der Systeme Katd $4a*v
anzunehmen, wie auch 0. Paul thut S. 260.
Unter diesen Umständen unsrer historischen
Wissenschaft ist jeder Beitrag zur Aufklärung
oder Befestigung des Errungenen willkommen.
Wie hülfreich hiezu, nicht bloss für Ungelehrte
gute Uebersetzungen sind, erfahren wir öfter auf
prosaischem als poetischem Gebiet. Die Musik-
literatur ist spärlich bedacht; nach Meiboms
Antiquae mus. auctores 1652 war langes Still-
schweigen, bis Feussner 1840 Aristoxenus
Rhythmik wohl übersetzt herausgab. Werth-
volle Zeugnisse vorgeschrittener Philologie sind
r
Paul, Boetius u. d. griechische Harmonik. 389
die Schriften der beiden Bell ermann: Fr. B.
Tonleitern der Griechen 1847, H. B. Tinctoris
Diffinitorium (in Chrysanders Jahrb. 1863); zu-
letzt P. Marquard Aristoxenus, Berlin 1868.
— Sehen wir nun das vorliegende Buch an, in
welchem 0. Paul den Vermittler der antiken
und mittelalterlichen Tonsysteme interpretirt.
Die Einleitung S. XVII— LVI enthält:
Ueberblick der altgriechischen Harmonik,
wovon jedoch ein ansehnlicher Theil der schon
früher begonnenen Polemik gegen Fr. Beller-
manns »Tonleitern der Griechen« gewid-
met ist, nebst eingeflochtenen Diagrammen
der Transpositionsscalen des Alypius; zuletzt
Biographie des Boethius nebst Angabe der
Quellen und Ausgaben. — Der Uebersetzung
S. 1—64 folgen Sachliche Erklärungen 165—
277, dann Uebersetzung von Ptolemaeus
Harm. 2, 5—11, S. 279—327 und zuletzt noch
drei Reihen Scaleo tab eilen. — Die Polemik
wider Bellermann welche wie ein rother Faden
das ganze Werk durchzieht, betrifft zuvörderst
die Richtigstellung der Scalen, diese uralte crux
interpretum, über deren Erledigung wir nicht
voreilig verrathen wollen, auf wessen Seite sich
das Zünglein der Wage neigt.
Die Uebersetzung angehend wird man
die durchgängig verständliche und fliessende
Sprache namentlich im Betreff der schwierigen
und ermüdend langweiligen Berechnungen über
Tonverh<nisse, Intervalle (nach fünf verschie-
nen Systemen S. 352), und über alles, was die
harmonischen Proportionen und Tonarten angeht,
gebührend anerkennen, ohne daneben manch
sonderbare Missverständnisse ungerügt zu lassen,
welche um so auffälliger erscheinen, da der
Verf. in mehreren polemischen Schriften einst
390 Gott gel. Anz. 1873. Stück 10.
den Vorrang der Lateinknnde in Anspruch nahm.
Nur einige der auffallendsten Uebersetzungs-
sch wachen zum Beweise:
üebers. S. 7: Boet. 1, 2: Ed. Friedlein (1867)
p. 188, 4: Alii (stellarum cursus) excelsiores
alii inferiores feruntur^ atque ita omnes aequali
incitatione voleuntur »Man hält einige Stern«
bahnen für höher, andre für niedriger und
glaubt« — während volvi und fern offenbar
beide die Bewegung bedeuten , auch ferri
(gleichwie q>i(>s<s$ai) weit häufiger den reissen-
den Schwung, seltener das getragen oder geaagt-
werden bezeichnet
üebers. 10: B. 1, 9: Fr. 196, 13: (Sensus)
neque minima sentire propter — parvitatem po-
test, et majoribu8 saepe confunditur »Der Sinn
kann das Kleinste wegen der Kleinheit — nicht
fühlen, und wird auch oft mit dem Grössten
verschmolzen« statt: kann sowohl d. Kl* —
nicht empfinden, als er (anderseits) vom Gröss-
ten verwirrt, überwältigt wird.
üebers. 22: B. 1, 20: Fr. 206, 17: Parhy-
pate secunda [chorda], quasi juzta hypaten po-
sita »gleichsam als neben Hyp. gestellt«
statt des appositiven »als die (quippe, tanquam)
neben H. gestellte«, was altlateinisch selten,
(Plauti Aul. 4, 1, 6) mittellateinisch zuweilen
vorkommt, und hier unzweifelhaft gemeint ist:
ebenso einige Zeilen später bei Paranete.
üebers. 69: B. 2, 30: Fr. 263, 2: Quodsi
primi (termini) ad secundum, quae est aequa se-
cundi ad tertium proportioni, integri esse semi-
tonii probareluri duo dimidia juncta unum ne-
ces8ario efßcerent tonum. Nunc autem
manifestum est ... non videri etc. ist übersetzt;
»Wenn ... als vollkommener Halbton bewiesen
ist — so können die beiden verbundenen
Paul, Beetius u. d. griechische Harmonik. 801
noihwendig einen Ganzton bewirken« statt:
Wenn — bewiesen wäre — so müssten
(würden) — bewirken, worauf dann apago-
gisch gesagt wird: Nun aber ists nicht so, folg*
lieh . ..
Debers. 151: B. 5, 3: Fr. 355, 6: A Ptole-
maeo autem alio quodam modo armonicae defini-
tur imtenHo, ea scilicet, at nihil auribns rationi«
que pos$U esse contrarium »Von Ptolemäus aber
wird gewissermassendie Anspannung der Harmonie
so definirt, dass nichts dem Gehör und der
Vernunft entgegen sein könne«, während das
Original deutlich genug sagt: »Ptol. beschreibt
[gegen Aristoxenus und die Pythagoreer] die
Absicht (Tendenz) der Harmonik auf
andre Weise, so nämlich dass sie nichts
sinn- und vernunftwidriges sein kann. — Die
durchgehende Uebersetzung Harmonie (statt
Harmonik, Harmonielehre) erweist sich gleich
anfangs als unrichtig, da B. Fr. 352, 4 aus*
drücklich definirt Armonice est facultas diffe-
rentiae ... sonorum sensu et ratione perpen-
dens. Nicht die Harmonie, sondern die Harmo-
nik wägt, rechnet und lehrt. Dem widerspricht
durchaus nicht, dass die Griechen bisweilen
if porta sagen für Tonartsystem z. B. «ppoyfa
tf«e*Kff, <fQvyla (0. P. 249), wo das Adjectir
genugsam Aufschluss über den Sinn giebt: B.'s
armonice bleibt doch immer abstracter Begriff.
Auch die wiederholte Uebersetzung »Qatveta* =
scheintc z* B. B. Uebers. 196 aus Aristox. 15
anstatt »apparet = zeigt siehe, ist auffallend,
einigemal sehr störend, nur zuweilen erträglich.
Dagegen sind auch lobenswerthe Freihei-
ten der Uebersetzung anzuerkennen, welche
dem schwierigen Original durch Satzänderung,
Einschaltung oder Verkürzung wirklich Erläute-
392 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
rang bringen : so namentlich in den Einleitungs-
capiteln z. B. S. 8. 9 fg. , wo Boetius in saube-
rer, fast glänzender Latinität über allgemeine
Principien — philosophische und mathematische
sich ergeht, dabei jedoch manchmal verräth,
wie mühevoll solche Abstraktionen dem römi-
schen Munde fallen, gegenüber der unnachahm-
lichen Leichtigkeit seiner griechischen Vorbilder.
Aehnliches findet statt in seiner Einleitung zur
Arithmetik, mit gleicher Liebenswürdigkeit
und Unzulänglichkeit. — Aber die Gränzen
i'ener Freiheit sind zart und scharf, besonders
>ei der Feststellung stetiger Begriffsworte, De-
finitionen. Die classische Unterscheidung der
xtpfjoig Gvvsxfc *r- duzctftficmxif aus Aristox. 15
gibt B. umschreibend continua -f- intervallo
suspensa (Fr. 199, 3), wo die Debersetzung S.
17 allzutreu nachfolgt mit dem unklaren »stetig
-7- mit dem Intervall schweb end« — während
B. sagen will: mit Zwischenraum — zwischen-
räumlich — gehemmt, (begränzt) aufbewahrt.
— Auch das spätere S. 197 »Intervall-
artig« klingt ungelenk; warum nicht Fliessend
-;- Abgestuft — oder nach Vorbild des Geigen-
spiels : Gleitend ~- Gestuft. Ganz etymologisch
alle fremden Worte nachzuahmen wird niemals
gelingen; genug wenn man stehende Termini
d. h. Einwortige besitzt. — Jenes Schwe-
bend aber verhält sich sogar widerwärtig zum
griechischen Original, wo es heisst (Ar. a. 0.):
ötccv rj (pwpij (pavtj hoxdvou inl plag taoewg.
— Allzu frei erscheinen uns Zusätze und Ver-
kürzungen wie S. 19 von den Gonsonanzpro-
portionen, wo . B. einfach deutlich spricht, wie
in den Rechnungen durchgehende; — dagegen
erscheint passend verkürzt die langwierige Um-
schreibung des B. 1, 10: Fr. 197, 21—198, 8:
Uebers. S. 16.
Paul, Boetius u. d. griechische Harmonik. S93
Der zweite Theil: Sachliche Erklärun-
gen, anfangs einem Commentarius perpetuus
ähnlich, gibt eine mannigfaltige Reihe von Be-
trachtungen und Bildern, auch Excurse weit-
greifender Art, unter denen der über die Flö-
ten, dem Thema des Textes der fremdeste,
allerdings der anschaulichen Betrachtung sich
ergiebig erweist, weil dieses Instrument den anti-
quarischen Resten nach zu urtheilen, der unsri-
gen verwandter scheint als die Lyren und Har-
fen. Aehnlicher Ueberfluss an Excursen wird in
Ambros Gesch. d.M. 1, 476—490 demFlöten-
thum gespendet, freilich dort in der Gesammt-
geschichte an passenderem Orte. — Statt der
noch immer nicht reconstruirten Wasserorgel
— Ctesibii hydraulos — von der B. nirgend
redet, und bei welcher selbst das Citat aus 0.
Pauls Geschichte des Claviers S. 191 n. 3 we-
nig erläutert — wäre hier wohl eher die allge-
meine Betrachtung an der Stelle gewesen, dass
die AiXcodia mit den Barbaren-Namen modus
phrygius, lydius u. s. w. mehr asiatisch einge-
führt sei, (vgl. 0. P. 245), während Kv&agcpdia
und ifkvmdla schon in Homers Zeiten ächthelle-
nisch erscheint: avlol tsvQiyyii; w ßoyv %%ov ist
trojanisch, tpoQfuyy* Xiysiq bedient sich der Hel-
lene Achilles. Dasselbe kehrt im welthistorischen
Maass wieder, indem die Geigen und Harfen
von Anfang mehr den mittelländischen Völkern,
Hindus, Griechen, Germanen und Kelten, da-
gegen die orgiastischen AiXoi sammt 2vQ*yye$ und
2a'Xmyyeg bei Semiten und anderen Barbaren
bevorzugt sind. Solche und ähnliche Sachen
würden sich als Excurse erspriesslich ausweisen,
sobald von allgemeinen Betrachtungen die
Rede sein soll; der Erklärung des B. gehören
sie nicht an.
394 Gott, gel Anz. 1873. Stück 10.
Im Folgenden sind die Erläuterungen bald
fortlaufende, bald summarisch springende: so
wird nach den ersten mit freimütbigen Excursen
ausgestatteten Capiteln 1 — 3 die folgende Reihe
c. 4—9 als hinreichend klarverständlich über-
sprungen, während wir mindestens das c. 6
»Warum das Vielfache für Gonsonanzen pas-
send« doch nicht so leicht verstehen. Freilich
ist dieses Thema, gleichwie das arabische Mes-
set 8ammt allen modernen Theoremen dessel-
ben Inhalts, eine der schwierigsten Fragen,
vielleicht unlösbar für alle Zeitl Aber wäre
hier nicht Raum für einen Excurs, der wenig-
stens die Gränzen unserer Weisheit bescheident-
lich zu Gemüth führte — was kürzlich der Frei-
herr von Tuch er in die scharf zugespitzte
Frage fasste: Wie vermittelt sich das logische
Denkgesetz mit dem physikalischen Schwingungs-
gesetz (vgl. Allg. Mus. Z. 1871 S. 197. 437).—
In ähnlicher Weise würden wir auch an mancher
andern Stelle unsrer Unwissenheit Abhülfe wün-
schen; wäre auch schwerlich je allen Wünschen
entsprochen, so würde doch grössere Gleich-
mä86igkeit der Behandlung der Sache mehr
nützen als die gelehrte Mannigfaltigkeit im Ein«
zelnen.
Dankbar wird man anerkennen, mit welch
fleissiger Sorgfalt die tabellarischen Arbei-
ten ausgeführt sind; eine Anzahl derselben, na-
mentlich die Transpositionsscalen nach Ptole-
mäus, war bereits in des Verf. Habilitations-
schrift (Absolute Harmonik d. Griechen 1866)
enthalten. Sehr willkommen ist die Uebersetzung
von Ptolemäus endgültiger Scalenlehre, colla-
teral mit dem Grundtext gegeben, vorher noch
als Beihülfe Euclid es ttftaywri, (230—244)
nur deutsch. Auch hier wäre das Collate-
Paul, Boetius n. d. griechische Grammatik. 395
rale erwünscht, was uns aus den lieben Bipon-
tinen und Didots so vertraulich anheimelt,
nicht allein als Nothbrücke, sondern auch zu er-
quickendem Verdruss an solchen (nicht gar sei»
tenen) Stellen, wo man sich versucht fühlt, den
geistreichen Latinisten eine zugleich treuere und
klarere Debertragung entgegen zu setzen. —
Doch liest sich hier im Buche Euklid besser;
die collaterale Lesung des Ptolemäus wird er-
schwert durch die im Text eingeflochtenen er-
läuternden Zusätze. Immer ist zu loben, dass
hier — unsres Wissens zuerst — diese Grie-
chen deutsch geworden sind.
Ein abschlüssliches Urtheil über dieses Buch
nach etwaigem Verhältniss der Vorzüge und
Mängel, nach dem Kern-Inhalt, nach seinem
Nutzen für die fortschreitende Wissenschaft würde
eben so langweilige Mühen und ähnlichen Um-
fang des Wissens fordern, wie der Autor dazu
verwendet. Wer sich ihm nun aber nicht con-
genial fühlt, wird das allgemeine Ergebniss
etwa dahin feststellen: Die Darstellungsweise ist
ungleichmäßig sowohl an Treue als Deutlich«
keit, die Erläuterung mehr mannigfaltig an-
regend als einheitlich zwingend, die Frucht des
Ganzen nicht der aufgewandten Mühe entspre-
chend, mindestens höchst zweifelhaft. — Als
mildernde Umstände bei diesen Mängeln dürften
jedoch nächst der anerkannten Schwierigkeit
des Stoffes vornämlich folgende gelten. Er*
st ens die Redeweise der alten Lehrer, welche
unter Voraussetzung der noch lebenden thätigen
Kunst manche Umschreibung überspringen, de*
ren Mangel uns empfindlich ist, z. B. über die
Beziehungen der Stimmen und Listrumente, die
Weise und Uebung der Chromats und Enhar-
monifin, das Verständniss der yMfro*
896 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 10.
und xixyroi, ob überwiegend instrumental ? u. a.
Aehnliche Schwierigkeit könnte den besten heu-
tigen Lehrsystemen nach weniger als tausend
Jahren widerfahren bei gereiften Schülern der
Zukunft. — Zweitens sind aus einzelnen
Wörtern und Wortgebilden, die im Laufe der
Zeit verschiedenen Sinn annehmen, bei unsiche-
rer Sprachkunde Irrungen und Vorkehrungen
eingeschlichen; wie u. a. beim Uebertrag der
Griechischen Tonarten ins Mittellatein. Zwar
ist über solche Anstösse die vorgeschrittene
Philologie annähernd Herr geworden; und den-
noch haben nicht nur &fo*$ und dvvafug [Ton-
Satzung, Tonbedeutung = absolute , relative
Tonhöhe] bis in die neueste Zeit widerstreitende
Erklärer gefunden, sondern auch
%6vog =
tonus =
Ton
Ganzton
$v&pog =
rhythmus =
Rhythmus
Takt
tqonog a
modus =
Weise
Tonart
numerus =
Zahl
CCQftOPta ss
harmonia =
Harmonie
Tonleiter
Enharmonie
Xoyoq sä?
ratio =
Verhältniss
philosophisches
System
in keinesweges überall einstimmiger Terminolo-
gie. — Sonderbar ists u. a. dem Wort *Aq-
uovia ergangen, indem es nicht nur harmonische
Fügung bedeutet, sondern auch, wie 0. P. 249
richtig nachweist, für Tonleiter oder Tonart ge-
sagt wird: agp. ch»(»xisf, Xvdla, ja endlich gar
abusive vorkommt, anstatt y£vo$ Ivaqpoviov =
enharmonische Tonfolge, z. B. Plut. mus. c. 8
%&v tiJQ äQi*ovtas, ähnlich bei Aristox. Bei so
bewandten Umständen ist es kaum wunderbar,
dass das Wunder der Enharmonie, wovon
Paul, Boetiu8 u. d. griechische Harmonik. 397
Plutarch viel Wesens macht, eben zu seiner
Zeit so gut wie unbekannt, schon bei Aristo-
xenus*) Genossen als etwas Fremdartiges ge-
nannt wird, ja sogar in Pindars Zeit wenig
bekannt und nicht beliebt war: öOOjähriger Nach-
klang einer Schönheit, einem Wunderding, das
niemand so eigentlich selbst erlebt hatl Aehn-
liche Mängel zeigen sich auch in der Lexiko-
graphie und Literatur, welche in den Er-
klärungen des Plastischen, Praktischen, Politi-
schen, Poetischen oft sehr ausgiebig sind, im
Musikalischen ungenügend, fast ärmlich. Von
den Musikern sind Alypius und Gaudentius in
vielen gar nicht zu finden; Aristides Quintilia-
nus wird in Obacht genommen, weil er Aristo«
teliker, nicht weil er Musiker ist. Von Augu-
stinus führen die Literatoren wohl gar neben
den Confessionen sein Buch de musica an, wel-
ches jedoch blutwenig von Musik Bagt und eigent-
lich nur die Compilation einer poetischen Metrik
enthält. — . Einzelne Wörter finden sich im
Lexikon gar nicht oder ungenügend erläutert,
z. B. naQacpcopog, iyvnaty, XQ^f*a tonatov; so
auch die Unterschiede von tstQdxoQdov — d*a-
ts<HXdQ<ov || ruv%d%OQdov — didnevxs || ixtdxoQ-
dov — duxnaacüv || erstere als Scalen, dieses als
harmonische Intervalle gesagt. —
In welchem Ansehen Boetius bei den Nach-
kommen stand, wissen wir aus den mittelalter-
lichen Theoreten von frühester Zeit bis aufGla-
rean 1550: es ist die Aufbewahrung der älte-
sten, wahrscheinlich nicht ohne orientalischen
Hintergrund entwickelten griechischen Ton-
*) Schon zu Aristoxenus Zeit soll ein Verflach un-
harmonisches vorzutragen mit Entsetzen aufgenommen
sein, so dass gewisse Hörer darüber Galle spien (foly*
fair); erzählt Ambro* 1, 876 nach Plutarch Probl. 7,8*
S98 Gott, geh Adz. 1873. Stück 10.
Systeme, deren Hauptinhalt zwischen physikali-
schen Messungen und Construction der Tonlei-
tern bewegt, an künstlerischer Ausbeute gerin-
ger ist als man erwartete. Jenes Wissen aber
klar aus einander zu setzen nach dem Grund-
satz »Aller Anfang ist [sei] leicht« — und dem-
nächst die Lücken früherer Interpreten auszu-
füllen^ um ein mögliebst anschauliches Bild des
Ganzen aufzurichten — der Verf. wird sich
dereinst selbst sagen, wie weit ihm das gelun-
gen. Bisher scheint es nicht, dass er den Geg-
ner, welchen er allzu höflich fast niemals ohne
superlative Ehrenprädikate nennt, aus dem Felde
geschlagen und ein Besseres an die Stelle des
überwundenen gesetzt hätte. Vielleicht, dass
uns die versprochene neue Ausgabe des latei-
nischen Boetius (S. p. LH) darüber Aufschluss
gibt. Res ardua, vetustis novitatem dare.
••« E. Krüger.
La Botanique de la Bible. Etude scientifique,
historique, litteraire et exeg&ique des plantes
mentionnees dans la Sainte- Venture ; par Fre-
deric Hamilton. Friz: 16 francs. Avec
vingt-cinq photographies. Nioe, Eugene Fleude-
lys. 1871. XIX und 196 8. in 8.
Die Aufschrift dieses Werkes lässt ungemein
viel erwarten: wissenschaftlich, geschichtlich,
literarisch und exegetisch, was will man mehr?
Allein schon die seltsame Mischung und Zusam-
menstellung dieser vier Beschreibewörter lässt
jeden Sachkenner allerlei Unrath wittern, und
die nähere Erforschung bestätigt alsdann nur zu
Hamilton, La Botanique de la Bible. 399
sehr eine solche Vermuthung. Wir müssen die-
ses Werk, trotzdem dass es von Nizza aus weit*
her genug zu uns kommt, für eins der vielen
geldmacberischen Bücherwerke halten, an wel-
chen die neueste Zeit so reich ist, und die sich
(•o wie auch dieses) wohl durch schönen Druck
und viele Bilder empfehlen, aber bloss um da-
mit die Leerheit ihres Inhaltes zu verdecken.
Der Verf. klagt in der Vorrede darüber dass die
im Hohenliede und noch an einer andern Stelle
der Hebräischen Bibel erwähnte Blume Chahaß-
Jtölet von dem einen der vielen neueren Palästina«
Reisenden mit dieser von dem andern mit Jena:
heute dort wachsenden Blume gleichgestellt
werde : darüber mag man klagen, er selbst aber
gibt uns nichts besseres. Er beklagt es ferner
dass man kein besonderes Werk über die Bibli-
schen Gewächse habe, scheint also von dem
Hierobotanicon des Schweden Olaus Celsius nichts
zu wissen. Er meint die Uebersetzung der LXX
gebe am zuverlässigsten die Hebräischen Namen
der Gewächse wieder, weiss also nicht dass z. B.
D^bn« oder rnVttN obgleich dieser Name schon
den Xanten nach' auf Aloe hin weist an keiner
einzigen der vier Stellen wo er sich findet (Num.
24, 6. tp: 45, 9. Spr. 7, 17. H. L. 4, 14) in
der Hellenistischen Bibel wirklich durch Aloe
erklärt, an der letzten dieser vier Stellen aber
sogar durch blosse Wiederholung der Hebräi-
schen Laute äX«i& wiedergegeben wird; und
doch führt er für seine Meinung mehrere Gründe
an, von welchen keiner zutrifft I Allein vom
Hebräischen weiss er offenbar nichts, wiewohl
er Hebräische Wörter mit Lateinischen Buch-
staben aufführt.
Was soll man nun erwarten wo wirkliche
Schwierigkeiten sich erheben? Was ist z. B.
400 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 10.
die vccQdog numxtj Hark. 14, 3. Joh. 12, 3?
was bedeutet, wenn man es ganz sicher wissen
will, das Wort roattxfj? Das ist nicht einmahl
Hebräisch, und doch könnte man darüber noch
immer sehr gründliche Untersuchungen anstellen.
Was der Verf. aber S. 9 darüber sagt, ist we-
niger als nichts. Und so ist es mit dem ganzen
Inhalte dieses neuen Buches.
Um jedoch dieses Buch nicht ganz ohne eine
etwas näher eingehende Bemerkung zu ent-
lassen, wollen wir hier noch bemerken dass
Castellus einst zur Erläuterung des mouxy be-
merkte: Pist urbs Indica. Aber er gab dafür
keinen näheren Beweis. Es gibt indess aller-
dings eine Indische Stadt ot**j, wie man aus
dem Sh&h-näme I. S. 234 letzte Z. nach der
Ausgabe von Jul. Mohl ersieht: und deren Name
liegt den Lauten nach nicht zu weit ab. Da
nun die Narde ein Indisches Gewächs ist, so
entsteht die Frage ob nicht diese besondere
Art yon ihr dort gemeint sei. Die Vulg. be-
hält wirklich Joh. 12, 3 pisticus bei, muss es
also yon einem Orte verstanden haben; während
ihr spicatus Mark. 14, 3 offenbar als unrichtige
Lesart erst aus diesem pisticus entstand. Sonst
freilich wäre dies spicatus ganz passend, da es
auf das hinführen würde was die Araber J^llL
d. i. A ehre, die Griechen vaqdotstap)^ die
Engländer spikenard nennen.
H. E.
401
G&ttingisc h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 11. 12. März 1873.
DieNormen undihre Cebertretung.
Eine Untersuchung über die rechtmässige Hand-
lang und die Arten des Delicts yon Dr. Karl
Binding, Prof. der Rechte in Strassburg.
1. Band. 1. Abtheil. Normen und Strafgesetze.
Leipzig, Engelmann 1872. XIV u. 233 SS, 8.
Das weitschichtig angelegte Werk, dessen er-
ster Theil hier vorliegt, soll »eine Materie des
allgemeinen Tbeils der gesammten Rechts-
wissenschaft« klar legen. Seine Tendenz ist
mithin eine allgemein juristische ; nur seinem Be-
wei8materiale und überhaupt dem Detail nach
gehört es zur Strafrechtsliteratur.
Das erste Buch, betitelt »Begriff und In-
halt der Norme, beginnt mit der Büge, dass
die heutige Strafrechtswissenschaft, indem sie
das Wesen des Verbrechens in der Uebertre-
tung des Gesetzes finde, regelmässig den Straf-
rechtssatz, nach welchem der Verbrecher be*
urtheilt wird, mit demjenigen Rechtsatze
identificire, welchen er übertritt. Zur bes-
sern Unterscheidung bezeichnet der Verf. selbst
31
402 Gott, gel Adz. 1873. Stück 11.
ausschliesslich den enteren als »Strafgesetz «,
den letzteren dagegen nennt er die »Norm«.
Dieser Sprachgebranch verdient m. E. in der
Hauptsache adoptirt zu werden ; nur dürfte sich
für das Wort »Strafgesetze, das auch in weite-
rer Bedeutung kaum entbehrlich ist, ein mehr
eindeutiges, wie etwa »Strafsatzung« empfehlen.
Das Wesen des »Strafgesetzes« findet der
Verf. (§§ 2 f.) darin, dass der Staat sich da-
durch iür verpflichtet erklärt, sobald gewisse
thatsächliche Bedingungen erfüllt sind, eine
Strafe zu verhängen, und umgekehrt für alle
andern Fälle für nicht berechtigt zur Bestra-
fung. Das Strafgesetz richtet sich daher weder
an das Volk, noch an den Richter, sondern aus-
schliesslich an den Staat selbst. Hiermit ist
einer der bedenklichsten Sätze sogleich in den
Anfang der Untersuchung gestellt worden. Zu-
nächst übersieht der Verf. in seiner Polemik ge-
gen * die Ansicht, dass das Strafgesetz an das
Volk sich richte, dass diese Ansicht vorzugs-
weise auf der Anwendung des Wortes »Strafge-
setz« in weiterm Sinne beruht, in welchem
(gleichviel hier, ob mit Recht oder Unrecht) ne-
ben dem Strafgesetz im engern S. auch die
Norm als wesentlich mitenthalten vorausgesetzt
wird. Für's Zweite ist auch dann noch ein Ge-
setz als an das Volk gerichtet anzusehn, wenn
unmittelbar nur gewisse Klassen desselben ver-
pflichtet werden oder die darin enthaltenen Ge-
bote nur hypothetischer Natur, also immer nur
für diejenigen bindend sind, die sich in den zur
Erfüllung vorausgesetzten Verhältnissen befinden.
Dass aber durch die Strafsatzung (das »Strafge-
setz« im speziellen Sinne des Verf.) gar Niemand
verpflichtet werde, als »der Staat selbst«, das
ist eine Behauptung, deren Beweis durchaus
Binding, Dia Nonnen u. ihre Uebertretung. 403
nicht als vom Verf. erbracht angesehen werden
kann. Gewiss, jede Strafsatzung kann nur den-
jenigen verbinden, der überhaupt in der Lage ist,
dieselbe ihrer Bestimmung gemäss in Ausführung
zu bringen. Und nicht minder gewiss ist kein Rich-
ter, und auch kein anderer Beamter des Staats
für sich allein in der Lage, den vollen Inhalt
der einzelnen Strafsatzung zu realisiren. Allein
zugleich ißt wohl zu bedenken, dass jede Straf-
satzung ganz in derselben Weise und in genau
sot viele Einzelgebote aufgelöst werden kann
und reap, mass, als der Begriff der Bestrafung
in subordinate Begriffe. Wenn daher der Verf.
bemerkt, es sei nicht Sache des Richters zu
strafen, so wäre dies richtig, sofern der Aus-
druck »strafen« das Ganze in sich begreift. Da-
gegen kann man nimmermehr behaupten, die
richterliche Thätigkeit sei gar nicht Ausfüh-
rung eines in der Strafsatzung 'enthaltenen In-
halte, sondern nur Erfüllung des Gebotes: Du
sollst das Gesetz anwenden. Denn eben diese
Pflicht der Gesetzanwendung ist doch ohne die
für die richterliche Thätigkeit im Einzelnen be-
stehenden, aus den Gesetzen zu entnehmenden
Rechtesätze eine reine Abstraktion, sie erlangt
erst Inhalt und damit überhaupt Bedeutung
durch die ganze Fülle der sonstigen Gesetzge-
bung, d. h. für jeden einzelnen concreten Straf-
fall durch das gerade einschlagende Strafgesetz.
Dass dem Richter in seinem Diensteide nur je-
nes abstrakte Gebot vorgehalten wird, das kann
in der Sache so wenig ändern, als etwa die ent-
sprechender* Abstraktionen im allgemeinen Un-
terthaneneide. Ebensowenig ist es wahr, da?s
eine Pflichtverletzung innerhalb der richterlichen
Thätigkeit immer nur tfie Verletzung jenps $11-
gemjeinen «Gebots sei; vielmehr ist es eine Ver-
404 Gott gel. Anz. 1873. Stack 10.
letzung der letzteren Art stets bloss darum,
weil und sofern darin ein Handeln wider die
Gebote eines speziellen Gesetzes liegt. Und
selbst angenommen, nicht zugegeben, die ein-
zelne Strafsatzung enthalte an und fur sich nie-
mals ein verbindliches Gebot für den Richter,
so ist doch jedes Gesetz in seinem Zusammen-
hange mit dem gesammten übrigen Recht auf-
zufassen und es würde zum Mindesten in Folge
dieser jedesmaligen notwendigen Verbindung
auch jede Strafsatzung als ein Gebot an den
Richter: (»Du sollst unter dieser oder jener Vor-
aussetzung auf diese oder jene Strafe erkennen«)
angesehen werden müssen. Am allerwenigsten
darf man sich in dieser Anschauung der Sache
beirren lassen durch den Hinblick auf civil-
richterliche Entscheidungen. Bei den letz-
teren ist es freilich wahr, dass der Richter zu-
nächst nur »Recht spricht« und damit die Nor-
men, deren Eingreifen er constatirt, nicht selbst
realisirt, sowenig er die vielleicht fälschlich für
unanwendbar erklärten Normen übertritt. Die Ge-
setzanwendung im Civilurt h eil ist wirklich dem
Inhalte nach gar nicht Gesetzes be folgung, son-
dern nur Gesetzes erklärung in Beziehung auf
einen bestimmten Fall; die Befolgung wird zu-
nächst den Parteien überlassen, sie haben das
Gesetz, das Rechtsgebot zu erfüllen, das von
dem Richter nur bezeichnet ist. Gerade umge-
kehrt ist es, wie auch der Verf. sicherlich nicht
verkennt, bei der Prozessthätigkeit des Rich-
ters ; alle die Vorschriften, die etwa ein Gesetz
in dieser Hinsicht, also über Beachtung von
Formen u. s. w. macht, sind offenbar an den
Richter adressirt, gerade von ihm können und
sollen sie befolgt werden. Genau dasselbe
aber ist in Bezug auf das Strafurtheil zu be-
Binding, Die Normen u. ihre Uebertretung. 405
hau p ten, insofern es nicht bloss die Subsumtion
unter die fraglichen §§ des Gesetzbuches, nicht
bloss Erklärung ist, dass diese oder jene
Norm übertreten und darum eine gewisse Strafe
verwirkt sei, sondern vielmehr stets zugleich
ein Stück der Bestrafung selbst, für welche die
einzelnen Strafsatzungen ganz ebenso die zu
beobachtenden Rechtsnormen bilden, wie für die
formelle Seite der Bestrafung die Gebote der
Strafprozessordnung. Und zwar liegt der höchst
einfache Grund dieser Verschiedenheit in nichts
Anderem als in dem vom Verf. so richtig her-
vorgehobenen Gegensatze von »Normen c (iu sei-
nem Sinne) und »Strafgesetzen«: die Norm ver-
langt an sich zu ihrer Befolgung niemals ein
richterliches Drtheil, das letztere ist stets nur
ein notwendiges Uebel, sofern Streit entsteht
über Inhalt oder Erfüllung; jedes Strafgesetz
dagegen fordert ganz direct ein richterliches Ur-
theil, um überhaupt befolgt, realisirt zu werden,
stellt aber auch zugleich für dieses Urtheil stets
die Norm auf. Auch die Prozessform kann
an dieser Sachlage gar nichts ändern; der ac-
cusatorische Prozess, sofern er auf öffentliche
Strafübung geht, unterscheidet sich von dem in-
quisitorischen an sich nur durch die Art der
Vertheilung der zur Bestrafung im weiteren
Sinne gehörigen Acte an verschiedene Per-
sonen.
Einen einzigen und auf den ersten Anblick
sehr bedeutsamen Bundesgenossen seiner Ansicht
hat der Verfasser: den Sprachgebrauch. In der
That pflegen wir, wenn nicht immer, so doch
vorzugsweise dem Staate selbst Strafgewalt und
Strafpflicht zuzuschreiben, gerade von ihm sind
wir gewohnt, zu sagen, dass es seine Aufgabe
sei, »das Verbrechen zu strafen«. Allein dieser
406 Gott. gel. Aus. 1873. Stück 11.
i
Sprachgebrauch ist trügerisch oder vielmehr ge-
radezu verwerflich, wenn man von den Voraus-
setzungen absieht, von denen überhaupt die Be-
handlung des Staats (oder irgend einer Körper-
schaft) als Persönlichkeit abhängt. So sehr uns
der Staat als strafendes Subject erscheint,
so wenig ist es streng genommen wahr, dass
der Staat selbst straft; der Staat selbst
thut überhaupt nichts; immer sind es nur die
lebendigen Menschen, seine Organe und Bürger,
in welchen er wirklich ist, und welche das
wirklich thun, was wir als seine Thätig-
keit bezeichnen. Daher ein Gesetz, das in
Wahrheit für Niemand gesetzt, sondern ein
blosser Monolog des Staates über seine Pflichten
sein soll, eine vollständige contradictio in adiecto
ist. Gar nicht davon zu reden, dass der Staat
in jedem solchen Momente, wo er angeblich
seine Verpflichtung im Detail auseinandersetzt,
gerade seine Nicht Verpflichtung bezeugen
würde, indem er seine früheren Erklärungen
EUgleich negirt. —
Die zweite Hälfte des ersten Buches handelt
ausführlich von dem Wesen, dem allgemeinen
Inhalt und Character der »Norme (in dem oben
bezeichneten vom Verf. angenommenen techni-
schen Sinne). Was der Verf. hier über den
»Imperativ« der Normen, ihre Verschiedenheit
nach Form und Zweck und die hiernach sich er-
gebende Classification ausfuhrt, ist voller Be-
achtung werth und wie überhaupt das ganze
Werk reich an anregenden Gedanken. Auch
der energische Hinweis, dass es nicht im Wesen
der Norm liege, absolut zu sein, d. h. für
alle Fälle schlechtweg, Geltung zu beanspru-
chen, ist gegenüber der Thatsache, dass solche
noch immer nicht selten behauptet wird, sehr
Binding, Die Norinefa n. ihre Uebertretuög. 407
wohl berechtigt. Zu weit geht de* Verfasser
freilich, wenn er meint, dass es gar keine ab-
soluten, d. h. nicht nur keine unabänderlichen,
sondern auch gegenwärtig keine ausnahmslosen
Normen gebe. Er verwechselt hierbei selbst
(S. 51) gelegentlich Rechtswidrigkeit und Straf-
barkeit, zwei Begriffe, die er sonst (z. B. auch
S. 52 f.) mit Recht sehr streng aus einander ge-
halten hat. Eine Ausschliessung der Strafbar-
keit ist allerdings bei allen Normen denkbar,
namentlich in dem Falle des § 52 des Reichs-
strafgesetzbuches (psychischer Zwang); dagegen
werden kaum Fälle aufzufinden sein, in denen
Unzuchtshandlungen , wie Ehebruch , Incest,
Nothzucht u. s. w. nicht nur nicht Verbrechen
d. i. strafbar, sondern auch nicht normwidrig
wären. Speziell die vom Verf. S. 51 genannte
Nothwehr kann sich solcher Handlungen
offenbar nie als berechtigter Mittel bedienen. —
Das zweite Buch, über das formelle Ver-
hältniss der Normen zu den Strafgesetzen han-
delnd, beginnt mit einer vergleichenden Characte-
ristik der mosaischen und römischen mit der
neuem Gesetzgebung (§§ 9 und 10). Der Verf.
weist nach, dass in der ersteren die Nor-
men in den Vordergrund gestellt sind, die
Strafsatzungen nur nachfolgen; bezüglich der
neueren Criminal - Gesetzgebung behauptet er,
dass sie in der Regel gar keine Normen ent-
halte, sondern nur Strafgesetze. Da nun für die
Rechtmässigkeit der letzteren die Normen die
unumgängliche Voraussetzung bilden, so bleibt
seiner Ansicht nach nichts übrig, als dieselben
in dem »ungesetzten Rechte« zu suchen.
Es entsteht zunächst die Frage : was versteht
der Verfasser unter »ungesetztem Rechte«?
Soll überhaupt kein Rechtssatz, keine Rechts-
408 Gott. gel. Anz. 187S. Stack 10.
Vorschrift, kein Gebot als gesetztes Recht gel-
ten, das nicht auch in der ausdrücklichen
Form als Vorschrift oder Gebot , mit dem Verf.
zu reden, als Imperativ, in dem Gesetze ent-
halten ist? Dann ist in unserer gesammten
Gesetzgebung nur sehr wenig gesetztes Recht
zu finden, »gesetztes« und »gesetzliches« Recht
sind zwei höchst verschiedene Dinge und Auf-
gabe der Gesetzesauslegung wesentlich, das im
Gesetze zwar enthaltene, aber ungesetzte Recht
aufzusuchen. Es wird auf den ersten Moment
schwer, zu glauben, dass der Verf. eine so von
allem sonstigen juristischen Sprachgebrauche
abweichende Bezeichnungsweise gewählt haben
sollte , deren methodischer Nutzen gar nicht
abzusehen ist, — und doch wird seine Ausfüh-
rung über den Art. 74 der Norddeutschen Bun-
desverfassung, welcher Verbrechen gegen den
Bund und seine Organe mit Strafe bedrohte,
nur unter der Voraussetzung jener absonderli-
chen Redeweise verständlich. Denn hier gesteht
er selbst zu (S. 68), dass die Norm nicht nur
aus der Strafbestimmung zu vermuthen, sondern
in dieser ganz deutlich mit enthalten sei, und
nimmt einzig daran Anstoss, dass sie nicht aus-
drücklich ausgesprochen sei.
Indessen abgesehen einmal von der Nutz-
losigkeit eines derartigen besonderen Sprachge-
brauchs, würde auf Grund desselben immerhin
eine Verständigung möglich sein, wenn nur der
Verfasser selbst consequent daran festgehalten
hätte. Dies ist aber nicht geschehen. Viel-
mehr nimmt der Verf. »gesetztes« und gesetz-
liches (durch Gesetz anerkanntes) Recht offen-
bar für identisch, den Gegensatz von »gesetz-
tem« und »ungesetztem« Recht ganz im Sinne
des jus scriptum und non scriptum, überhaupt
Binding, Die Normen u. ihre Uebertretung. 409
dee allgemeinen Sprachgebrauchs, wenn er we-
nige Zeilen nach der obigen Auseinandersetzung
fortfährt: »Recht ist nicht die Rechtsüberzeugung
der Rechtsquelle (d. i. »des Subjects der Rechts-
erzeugung«), auch wenn sie nicht zur Erklärung
Eekommen ist, sondern Recht ist nur der er-
lärte Rechtswille einer Rechtsquelle. Nun
kennt das Recht durchweg zwei Arten der Wil-
lenserklärung: durch das bestimmungsgemässe
Mittel des Willensausdrucks, die Sprache, und
durch concludente Handlungen. Diese Unter-
scheidung angewandt auf die Erklärung des
Rechtswülens ergiebt theoretisch die Unter-
scheidung von gesetztem und ungesetztem Recht.
Bei dem ungesetzten Recht hat die Willenser-
klärung stattgefunden durch concludente Hand-
lungen«. Gegen alle diese Sätze ist in der
Sache gar nichts einzuwenden ; ich bekenne mich
vielmehr längst zu derselben Ansicht und
zweifle nicht, dass der grösste Theil der Juristen
mindestens für das staatliche Recht (auf das
jedoch der Verf. mit Recht seine Sätze nicht
beschränkt) dasselbe thut. Allein dem oben be-
sprochenen Sprachgebraucbe des Verfassers gegen-
über ist die letzte Begriffsbestimmung von »un-
gesetztem« Recht zu eng, die von »gesetztem«
zu weit.
Es hat nicht ausbleiben können, dass dieser
dualistische Sprachgebrauch den Verf. auch zu
weitern Widersprüchen verführt bat. So folgt
m.E. gerade aus seiner prinzipiellen Auffassung des
ungesetzten Rechts als eines durch concludente
Handlungen erklärten Rechts, dass seine kurz
vorher aufgestellte Ansicht über die Bedeutungs-
losigkeit der Gewohnheit irrig ist. Zwar
leugne ich nicht, dass der Ausdruck »Gewohn-
heit« nicht wohl für alle concludenten Hand-
32
410 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 11.
langen gebraucht werden kann, durch welohe
die fragliche Willenserklärung möglich iß*, dass
insbes. im öffentlichen Recht nicht selten con-
cludente Handinngen von rechtserzeugender Kraft
vorkommen, die nicht den Charakter der Ge-
wohnheit tragen, zumal wenn man bei -letzterem
Worte an einen bestimmten Zeitablauf denkt,
z. B. sofortige allseitige Befolgung einer oetroyir-
ten Wahlordnung. Daher auch der Ausdruck
»Uebungc als Gegensatz zur Erklärung
durch Worte angemessener ist als Gewohn-
heit. Allein eine Handlung für eich allein ist
ebenso gewiss in unserm Falle niemals schon
concludente Handlung , sie müsste denn von
der Gesammtheit ausgegangen d. h. in Wirk-
lichkeit eine Summe gleichartiger Einzelband-
lungen sein. Gerade in der Gleichartigkeit einer
grössern Reihe innerhalb eines bestimmten Krei-
ses vorliegender Handlungen hat aber auch die
neuere Theorie das Wesen gewohnheitrechtlicher
Bildung erblickt und die Rücksicht auf einen
bestimmten Zeitablauf, soweit sie nicht gesetzlich
geboten ist, mehr und mehr als unberechtigt an-
erkannt. Und ist nun diese Gleichartigkeit
einer Anzahl von Handlungen, oder was in
der Sache genau dasselbe besagt, die wieder-
holte gleichmässige Cebung einer bestimmten
Rechtsüberzeugung die Bedingung, unter
welcher die gedachten Handlungen und die ge-
dachte Debung allein als concludent ange-
sehen werden können, so ist sie eben damit
auch Bedingung der vollständigen Willenserklä-
rung, also nimmermehr blosses Erkennungs-
zeichen derselben.
Weiter folgt nach dem Obigen, dass für alle
Normen, Welche nach dem Verf. nur auf unge-
setztem Rechte, also ausschliesslich auf Willens-
Binding, Die Normen n. ihre Uebertretung. 411
Erklärung durch concludente Handlungen be-
igaben sollen, diese concludenten Handlungen
.Auch wirklieb nachweisbar sein xnüssten. Damit
ßtebt jedoch die ganze Methode des Verf. in
.fortgesetztem Widerspruche. Es ist ihm nicht
nur kein einziges Mal in den Sinn gekommen,
einen derartigen Nachweis für nöthig zu halten,
oder gar zu unternehmen, sondern er giebt ( be-
reits »im ersten Buche § 4) selbst eine ausführ-
liche Erörterung darüber, in welcher Weise »die
Nonne ans dem Vordersätze unserer Strafge-
setze abzuleiten sei.
«Und [freilich in vielen Fällen dürfte jener
iNaohweis als sehr unbequem, ja unmöglich sich
enweisen. Wo sind z. B. die concludenten
»Handlungen für die meisten Normen, deren
Uebertretungen in dem 29. Abschnitt des Reichs-
tBtrafgesetzbucbs mit Strafe bedroht werden?
Man kann sich diesem Bedenken gegenüber
nicht dadurch helfen, dass man mit Köstlin
bei der Polizeistrafgesetzgebung die Verbindung
von Verbot (Norm) und Strafsatzung schlecht-
hin behauptet, dagegen nicht bei den eigentlich
peinlichen. Einerseits zeigen die »Blankettstraf-
gesetze c, wie der Verf. sie ganz bezeichnend
nennt, dass das Polizeiverbot durchaus nicht
nothwendig mit der Strafsatzung selbst erzeugt
•wird, vielmehr unter Umständen ein Verweisen
auf andere Gesetzgebungen oder gar erst künftige
Normen angemessen sein kann. Andererseits
beweist der oben besprochene § 74 der Nord-
deutschen Bundesverfassung, dass es auch pein-
liche Strafgesetze giebt, von welchem ganz das-
selbe behauptet werden muss, was Köstlin von
der Polizeistrafgesetzgebung behauptet. Und
tSchUesslich ist doch diese Unterscheidung über-
haupt nur begreiflich, wenn man die materielle
32*
412 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 11.
Neuheit einer Norm ausschliesslich berücksich-
tigt, und die formelle, wenn auch nur indirect
erfolgende Erneuerung d. h. erneute Anerken-
nung einer bereits längst bestehenden Norm
ignorirt. Denn sofern die äussere Fassung der
Polizeistrafgesetze und der peinlichen eine
gleiche ist, bleibt bei gehöriger Berücksichtigung
des letztern Gesichtspunktes nur die Alter-
native: entweder die Norm ist in dem Gesetz
in beiden Fällen mit enthalten, oder in kei-
nem von beiden. Wenn unsere Strafgesetzbücher
auch nur zum Theil als Quelle materiell neuer
Normen aufgefasst werden können, so muss doch
erst recht zugegeben werden, dass die übrigen
formell gleichartigen Bestimmungen derselben
ausser der Strafsatzung zugleich eine erneute
Anerkennung der ihre Voraussetzung bilden*
den, schon seit langer Zeit gültigen Normen in
sich begreifen. Ist dagegen das letztere zu ver-
neinen, so kann auch im ersteren Fall die Norm
nicht aus den fraglichen Strafbestimmungen ab-
geleitet, der Beweis ihrer Existenz muss aus
ganz andern Quellen erbracht werden. —
Die Detailausführungen des Verfassers über
die verschiedenen möglichen Verhältnisse zwi-
schen Norm und Strafgesetz, welche die §§ 12
—23 füllen, sind von der besprochenen Lösung
der prinzipiellen Streitfrage verhältnissmässig
weniger beeinflusst, als man auf den ersten
Augenblick erwarten möchte. Zum Theil wie-
derholt sich vielmehr hier die schon oben er- •
wähnte Erscheinung, dass der Verf. praktisch
und methodisch auf dem von ihm prinzipiell ver-
worfenen Standpunkte steht. So z. B. wenn er
(§ 12) von dem Zusammengreifen gemeiner
Normen und partikularer Strafsatzungen
spricht. Er nimmt hierbei offenbar an, dasa
Binding, Pie Normen u. ihre Uebertretung. 413
alle Normen, deren Uebertretung irgendwie in
einem Reichsgesetz mit Strafe bedroht ist, gleich
den Strafsatzungen gemeines deutsches Recht —
und zwar ebenfalls absolut gemeines —
bilden. Allein dies ist nur dann gerechtfertigt,
wenn man dem Strafgesetzbuche auch die for-
melle Bestätigung und Erneuerung der Normen
zuschreibt; denn ohne diese Annahme ist gar
nicht einzusehen, woher mit einem Male diese
absolut gemeinen Normen gekommen, oder, mit
andern Worten , durch welche concludente
Handlungen ausserhalb der Gesetzgebung, die
bisher nur partikularen, oder doch jedenfalls
nicht absolut gemeinen Normen zu sol-
chen erklärt worden wären.
An die soeben erwähnte Ausführung über die
eigenthümlichen Beziehungen zwischen gemeinen
Normen und partikularen Strafgesetzen und um-
gekehrt, knüpft der Verfasser eine analoge Er-
örterung über die zeitliche Wandelung -des einen
Theils bei Unverändertbleiben des andern,
welche von selbst zu der Lehre von der Rück«
Wirkung der Strafgesetze, sowie zur genaueren
Betrachtung der schon mehrfach genannten
Blankettstrafgesetze führt. Den letzten, aber
zugleich inhaltreichsten Abschnitt des zweiten
Buchs bildet die Darstellung der verschiedenen
»Arten der Verwendung der Normen in den
Strafgesetzen«, der eigenthümlichen Complicatio-
nen, die sich durch das Gegenüberstehen einer
(oder wenn man lieber will, der gleichen)
Norm und mehrerer Strafgesetze, die Gleichstel-
lung mehrerer Normen in einem Strafgesetze,
endlich durch die Beschränkung der Strafbarkeit
auf besonders qualificirte Normübertretungen,
sowie der doppelten Bedingtheit mancher Straf-
drohungen (Antragsverbrechen) ergeben. Es sei
414 Gott. gel. Arts. 1873. Stücfc 11.
verstattet, aus der Fülle der Einzelheiten hier'
zwei Punkte herauszuheben, bei welchen sich
die grosse Wichtigkeit strenger Unterscheidung
von Norm und Strafsatzung trotz alles sonstigen
Gegensatzes deutlich zeigt: die Lehre des Verfas-
sers von der Rückwirkung und die Untersuchung
über Normwidrigkeits- u. Strafbarkeitsmerkmale.
Es darf im Allgemeinen als ein unanfecht-
barer Grundsatz unseres positiven Rechts, wie»
zugleich als eine unabweisbare Forderung der
juristischen Logik betrachtet werden, dass jedes
Gebot oder Verbot als solches nur auf die Zeit
nach seiner Aufstellung bezogen werden darf.
Eine angebliche Uebertretung eines zu der frag-
lichen Zeit noch gar nicht existirenden Gebot«
oder Verbots ist eben keine Uebertretung, kann
gar keine sein, die Ausstattung einer Norm
mit rückwirkender Kraft, oder richtiger gesagt,
die Vorschrift eines Gesetzes, dass für irgend
einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Ge-
setzes die darin erst aufgestellten Normen be-
reits als vorhanden angesehen werden sollen, ist
wie der Verf. mit Recht bemerkt, unter allen
Umständen eine Ungerechtigkeit, für die jedoch
auch kaum ein Beispiel in unserer Gesetzgebung
sich nachweisen lassen dürfte. (Dass die Schluss-
bestimmung des § 4, 3 des R.-Str.-G.-B. als ein
solches gelten müsse, kann- ich nicht zugeben).
Ganz das Gleiche aber würde von einer Straf-
satzung zu behaupten sein, die in wahrhaft ana-
loger Weise mit rückwirkender Kraft ausgestat-
tet, d. h. mit der Massgabe erlassen würde,
dass auch bereits rechtskräftig erkannte oder
gar schon vollstreckte Strafen, die im Einklang
mit der frühern Strafsatzung, aber im Wider-
spruche mit der neuen ständen, nach der letzte«
ren beurtheilt resp. corrigirt werden müssten. In
Binding, Die Normen u. ihre Uebertretung. 415
dem Falle dagegen, den man gewöhnlich als
Rückwirkung eines Strafgesetzes bezeichnet, näm-
lich bei der Anwendung der neuen Strafsatzung
auf eine vor deren Entstehung liegende, aber
bereits nach früherem Rechte strafbare, oder
doch wenigstens verbotenen und nur noch nicht
bestrafte Handlung, findet in Wirklichkeit gar
keine Rückwirkung statt; denn hier besteht ja
die Norm bereits vor der fraglichen Handlung,
die darum auch unzweifelhaft eine Uebertretung
darstellt, und nicht minder ist das für den Fall
einer solchen Uebertretung erlassene neue Straf-
Sibot bereits in Wirksamkeit getreten, als die
estrafung in Frage kommt.
Bis hierher stimme ich mit dem Verf. in
der Sache vollkommen überein, nicht so in der
weiteren Ent Wickelung, die ganz unter dem Ein-
flüsse seiner seltsamen Auffassung des Strafge-
setzes in engerem Sinqe steht. Hier, wie
überall wird man wohl gut thun, vor allen Din-
gen den juristischen und den legislativen, bez.
rechtsphilosophischen Gesichtspunkt streng zu
sondern. Von dem erstem aus kann das Ent-
scheidende nur der Wille des Gesetzes selbst
sein, der in Ermangelung ausdrücklicher Vor-
schriften nach den allgemeinen Grundsätzen
über Gesetzesau8legung aus dem Zusammenhang
des Gesetzes, eventuell der ganzen Gesetzgebung
nach Inhalt und Geschichte zu ermitteln ist.
In keinem Fall ist es selbstverständlich, dass
«ine hypothetische Satzung, wie es jede Straf-
satzung ist, im Zweifel stets unbeschränkt ge-
nommen werden müsse; im Gegentheil lassen
sich ebenso viele allgemeine Gründe dafür bei-
bringen, dass ein Gesetz im Zweifel seine An-
wendung auf diejenigen seine hypothesis erfül-
lenden Thatsachen beschränkt wissen will, die in
416 Gott. gel. Anz. 1873. Stück II.
der Zeit nach seinem Inkrafttreten fallen; schon
der Gebrauch des Praesens im Vordersätze
könnte sehr wohl hierauf gedeutet werden. Am
allerwenigsten ist hiergegen einzuwenden, das
alte Gesetz sei mit dem neuen erloschen und
könne nicht als über seine eigentliche Lebens-
dauer hinauswirkend angesehen werden. Gewiss,
das alte Gesetz ist als solches mit Eintritt des
neuen, jenes aufhebenden schlechthin todt ; allein
soweit das neue Gesetz die Anwendung des-
selben auch für die Zukunft noch fordert, gel-
ten seine Sätze nunmehr kraft des neuen Ge-
setzes. Stellt man sich andererseits auf den
Standpunkt des Gesetzgebers, so ist es ebenso
überflüssig^ wie unzulässig, die Entscheidung in
der Sache selbst (d. h. abgesehen von der hier
weiter nicht in Betracht kommenden Competenz)
von juristischen, positiv-rechtlichen Gründen ab-
hängig zu machen. Damit ist aber auch ent-
schieden, da88 es für diesen Standpunkt über-
haupt an einer festen wissenschaftlichen Grund-
lage zur Zeit fehlt. Zwar eine Verständigung
darüber, worauf es bei unserer Frage de lege
ferenda eigentlich ankommt, dürfte vielleicht nicht
schwer sein. Wohl nur Wenige werden leug-
nen, dass ihre Lösung davon abhängt, wie man
sich das Verhältni8s des Vorder- und Nachsatzes
in dem Strafgesetz oder mit andern Worten
von Normübertretung und Strafe in concreto
denkt. Je enger dasselbe gefasst wird, je mehr
die Strafe als unmittelbar durch dies Verbre-
chen nach Qualität und Quantität gegeben er-
scheint, — wie wenn man z. B. mit Heinze
dieselbe geradezu als den rechtlichen Werth des
Verbrechens ansieht, — um so gewisser wird
zunächst diejenige Strafsatzung, unter deren
Herrschaft die concrete Handlung fiel, auch in
Binding, Die Normen u. ihre Uebertretung. 417
dem neuen Strafgesetz noch Berücksichtigung
verdienen. Allein die Frage nach jenem ent-
scheidenden Verhältnisse selbst wird schwerlich
bald eine allseitig anerkannte wissenschaftliche
Lösung finden. Weit eher dürfte sich die un-
bedingte Geltung des milderen neuen Gesetzes
rechtfertigen lassen. Der Gesetzgeber, welcher
durch die Aufstellung milderer Strafsätze aus-
spricht, dass die bisherigen für seine Zeit zu
hart, also wie jede plus petitio ungerecht sind,
träte in Widerspruch mit sich selbst, wenn er
dennoch die letztere auch nur theilweise noch
als massgebend anerkennen wollte.
Was den zweiten Punkt: die Auseinander-
setzung über Normwidrigkeits- u. Straibarkeits-
merkmale anlangt, so kann ich namentlich nicht
der Art und Weise zustimmen, wie der Verf.
diesen Unterschied dann näher zu bestimmen
sucht. Auf der einen Seite berücksichtigt er
meines Erachtens zu wenig, dass die verschie-
denen Normen nicht sämmtfich einander coordi-
nirt, sondern auch zum Theil subordinirt sind.
So z. B. bildet die Norm: »Du sollst nicht
tödten« zweifellos nur eine Spezialnorm in Ver-
hältniss zu der andern: »Du sollst nicht die
Körperintegrität eines Andern verletzen«; und
ebenso fallt das Verbot der Herausforderung
unter das Verbot des Zweikampfes , so gut, wie
überhaupt jedes Verbot der Haupthandlung auch
da 8 Verbot jeder Vorbereitungshandlung als
solchen in sich schliesst, auch wo die letztere
der gewöhnlichen Regel nach nicht strafbar,
und darum nicht Verbrechen ist. Auf der an-
dern Seite hat der Verf. Recht, Vorsätzlichkeit
und Fahrlässigkeit nicht als Normwidrigkeits-
merkmale aufzufassen. Aber er bleibt dann auf
halbem Wege stehen, indem er in seine negati-
418 Gott. gel. Ana. 1879. Stück 11.
Ten Normen doch wiederum ein »schnldhafU
einschiebt, während die Consequent das Aus«
scheiden auch dieses allgemeineren Moments aus
der Norm und die strenge Auseinanderhaltung
von Normwidrigkeit und Schuldhaftigkeit (d. L
verantwortliche Normwidrigkeit) fordern möchte.
Dass zum Unrecht im vollen und eigentlichen
Sinne des Wortes Beides gehört, wird dadurch
nieht ausgeschlossen.
Doch genug der Einwendungen; können und
sollen sie doch die Thatsache nicht beeinträch-
tigen, dass das ganze vorliegende Werk eine
Fülle von scharfsinnigen und anregenden Erör*
terungen bietet. Am bedeutendsten aber na-
mentlich in den Resultaten ist das dritte Buch
desselben, betitelt : »der ursächliche Zusammen-
hang zwischen Unrecht und Strafe«. Der hier
geführte Nachweis, dass der charakteristische,
wesentliche Unterschied des Verbrechens von
allem andern Unrecht einzig darin besteht, dass
es positivrechtlich strafbares Unrecht ist, die
Ausführung über den grundsätzlichen Gegensatz
von Schadenersatz und Strafe, sowie endlich
über das Delictsmoment in allem Unrecht (§§
26 — 30) scheinen mir in allen wesentlichen Zü-
gen völlig überzeugend. Da ich jedoch furch-
ten muss, dass die vorliegenden Blätter den üb*
liehen Umfang einer Besprechung bereits über-
schritten haben, so will ich mich rücksichtlich
der letztgenannten Darlegungen darauf be-
schränken, sie der Beachtung dringend zu em-
pfehlen. Ob daneben die Polemik des Verf.
gegen den Begriff der »Rechtsverletzungt im
Gegensatz zum »Unrechte völlig gerechtfertigt,
ob seine eigene Ansicht über den Grund der
Reparationsverbindlichkeit annehmbar ist, das
r
Petermamn, Pentateuchus Samarifanus. 419
sind Fragen, durch deren Beantwortung der
Werth der übrigen Ausführungen in keinem
Falle gemindert wird. E. Bierling.
Pentateuchus Samaritanus. Ad fidem libro-
rum 'manuscript orum apud Nablusianos reperto-
rum edidit et varias lectiones adscripsit H.
Petermann. Fasciculus I. Genesis. Berolini
apud W. Moeser. 1872. — 128 8. in 8.
Der Segen Mose's Deut. Kap. XXXIII.
Untersucht und ausgelegt von Wilh e 1 m V o 1 ck,
Doctor der Theologie und Philosophie, ordent-
lichem Professor der Semitischen Sprachen bei
der theologischen Facultät der Universität Dor»
pat u. s. w. — Erlangen , Andreas Deichert,
1873. VI und 194 S. in 8.
Das erste dieser beiden neuen Bücher bann
seinem Inhalte nach umso leichter verkannt wer-
den da es auch nicht eine einzige Zeile Vorrede
oder sonstige Erläuterung enthält. Man kann
nämlich unter dem Samarischen Pentateuche
sehr wohl auch den Hebräischen verstehen so
wie er bei den Samariern in einem bedeutend
abweichenden Wortgefiige sich erhalten hat; und
eine neue aber durchaus zuverlässige Ausgabe
desselben wäre wegen seiner vielen abweichen*
den Lesarten nicht ohne Nutzen. Die vorliegende
Veröffentlichung aber betrifft nur die Ueber-
setzung dieses Samarischen Pentateuches in der
alten Samarischen Landessprache, welche vor mehr
als 200 Jahren in den beiden letzten grossen
Polyglotten zu Paris und London zwar schon
420 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 11.
gedruckt ist, jetzt aber hier nach den vom
Herausgeber neu aufgefundenen Handschriften
sehr verbessert erscheint. Man weiss dass Prof.
H. Petermann vor Jahren in Palästina vorzüg-
lich mit den Ueberbleibseln der alten Samari-
schen Gemeinde in Nablus viel verkehrte: eine
Frucht seiner dortigen Bemühungen ist nun
auch dieses Werk, dem wir eine glückliche Be-
endigung wünschen. Die längst ausgestorbene
Samarische Landessprache in welche der Penta-
teuch der Samarischen Gemeinde übersetzt
wurde, ist ein in vieler Hinsicht sehr eigen-
tümlicher Zweig des Aramäischen, welchen wir
nur aus dieser Uebersetzung und anderen den
alten Samariern einst zum kirchlichen Gebrauche
dienenden Schriftstücken näher kennen. Das
hier neugedruckte Werk hat daher sowohl für
die Bibel als für die Semitische Sprachenkunde
eine besondere Bedeutung; und indem der
Herausgeber es mit einer äusserst genauen Be-
merkung der sehr vielen und verschiedenen Les-
arten welche er den neugefundenen Handschrif-
ten entnimmt neu veröffentlicht, erwirbt er sich
sowohl um die Sprachenkunde als um die Ge-
schichte der Erhaltung und Erklärung des Pen-
tateuche8 gute Verdienste.
Das zweite oben aufgeführte Buch will bloss
den Deut. c. 33 erhaltenen Mosesegen über
Israel erklären, geht aber trotzdem dass es weit
genug angelegt und ausgeführt ist, nicht ein-
mahl von einer Untersuchung über das aus was
man sich unter solchen im Pentateuche erhal-
tenen vielerlei kleineren und grösseren Segens-
sprüchen geschichtlich und sachlich zu denken
habe. Von der grösseren und kunstreicheren
Art solcher dichterischen Segenssprüche besitzen
wir zwei sich gegenseitig viel erläuternde Bei-
Volck, Der Segen Mose's im Deut. 321
spiele an dem älteren Jakobsegen Gen. c. 49
und diesem offenbar jungem Mosesegen. In
beiden werden die zwölf Volksstämme einzeln
aufgeführt und jeder mit einem für ihn passen-
den Segensspruche ausgezeichnet, nur dass die-
ser Segensspruch sich in dem weit älteren
Jakobssegen bei einigen Stämmen wie gegen
des Redenden willen und doch nach höherer
Notwendigkeit unerwartet in ein tadelndes Wort
oder sogar in Fluch umkehrt: während der
spätere Mosesegen die zwölf Stämme strenger
als ein einiges Volk betrachtet, ihnen allen Se-
gen wünscht, und demnach auch in einem Vor-
und Nachworte den rein segnenden Blick auf
das gesammte Volk hinlenkt. Fragt man nun
wie solche dichterische Stücke im Volke Israel
entstehen und zu welchem Zwecke sie in der
Wirklichkeit dienen konnten: so leiten uns alle
die mannichfaltigsten Anzeichen und Beweise
welche sich hier uns bei näherer Untersuchung
aufdrängen, auf folgende Vorstellung. Es war
eine alte Sitte der Morgenländischen Reiche
dass jährlich am Neujahrstage in einer Reichs-
versammlung und in feierlicher Sitzung Ueber-
sichten über den Zustand des Reiches und be-
sonders auch der einzelnen grossen Theile des-
selben gegeben wurden, also auch wohl Dichter
sich erhüben eine solche Ueber&icht von dem
hohem Standorte der Betrachtung aus zu geben,
und ein hoher Priester oder Prophet der Dol-
metscher solcher Gedanken wurde. Eine solche
Sitte versteht sich fast von selbst: sie besteht
aber auch noch heute am Persischen Hofe zu
Teheran; und sie war einst in jenen Urzeiten
des Volkes Israel um so erspriesslicher je mehr
jedes gute Mittel angewandt werden musste das
j3and der losern Einheit der Stämme stets bei
422 Gott. gel. Ajbz. 1873. Stück 11.
jeder treffenden Gelegenheit wieder fester Anzu-
ziehen. Dass nun einzelne solcher Segenssprücha
sich fester erhielten als andere, und man nicht
in jedem Jahre ganz neue dichtete sondern aus
den altberühmten manches mehr oder weniger
verändert wiederholte , ist selbstverständlich :
und die beiden Beispiele davon welche sich jetzt
in den Pentateuch an passender Stelle einge-
schaltet erhalten haben, bestätigen dieses voll-
kommen,; wir können aber so auch die beson-
deren Namen leicht erklären welche diese bei-
den Stücke empfingen und unter welchen sie
zuletzt in das grosse Buch der Urgeschichten
Pentateuch genannt aufgenommen wurden. Denn
in jenen Urzeiten vor der .Entstehung des
menschlichen Könjgthumes kannte man überhaupt
nur »vereinigte Stämme Israel's« oder Jakob's,
nannte also eine solche Segensspruohreibe m
verkürztem Ausdrucke einen Jakobssegen : allein
es kommt hinzu dass in dieser jetzt Gen. c. 49
erhaltenen älteren Segensspruchreihe wirklich
eins der wichtigsten Stücke, der Segen über
Josesph v. 22—26, aus der äussersten Urzeit
lange vor Mose abstammen muss, sich offenbar
immer im Volke als ein Jakobssegen erbalten
hatte, und den festen Grund bildet um welchen
sich die andern Sprüche reihen. Als sodann
das menschliche Eönigthum sich nach Saldino's
Tode spaltete, konnte diese alte Sitte offenbar
in dem Reiche Juda nicht leicht fortgesetzt wer-
den, da es im wesentlichen nur den einen Stamm
Juda darstellte. Desto leichter setzte sie sich
im Beiche Israel fort, wie fast alles andere aus
früheren Zeiten dem Volke durch Gewohnheit
theure mehr oder weniger gut erneuert sich in
ihm zäher fortsetzte. 13a nun in . diesem Zehn-
stämmereicbe nicht David sondern der zu neuem
Volck, Der Sögen Kose's im Deut. 423
Glänze auferweckte Mose alles galt, so ist gar
nicht zu verwundern class die Segensspruchreihe
sich in ihm am liebsten um seinen Namen so
sammelte wie wir das noch jetzt Deut. 33, 4
wörtlich sehen, von seinem Andenken gerne aus-
ging, und demnach ein solches Stück bald all-
gemein der Mosesegen genannt wurde» Ein sol-
cher Mosesegen ist nun im wesentlichen das
Deut. c. 33 eingeschaltete Dichterstfick : jedoch
mit einer Ausnahme welche uns erst vollkom-
men seine jetzige Gestalt erklären kann. Denn
als das Zehnstämmereich zerstört war und das
Reich Juda umso leichter wieder auf das ganze
altheilige Land Ansprüche erheben konnte die
bestimmten geschichtlichen Spuren nach nicht
immer unerfüllt blieben: da konnten auch in
Jerusalem selbst solche Mosesegenssprüche sich
erheben; und ein solcher ist erst der jetzt
Deut. c. 33 zu lesende vollkommen so wie wir
ihn haben. In ihm sind nur die drei Sprüche
fiber Juda Levi und Benjamin v. 7 — 12 neu:
alles andere ist noch wie aus dem Zehnstämme-
reiche. Auch lässt sich leicht beweisen dass
sogar die gesammte Reihe und Folge in welcher
die Sprüche über die einzelnen Stämme jetzt
erscheinen, sich nur in solcher Weise erklären
lässt.
Wir haben es für nützlich erachtet diese
Erörterung über das Entstehen der beiden aus
vielen Rücksichten ebenso schwierigen als wich-
tigen Stücke Gen. c. 49. Deut. c. 33 hier zu
geben, weil wir sie früher noch nirgends zu ge-
lben den Raum und die Zeit fanden, obgleich
ihre wesentlichen Grundlagen schon früher an
'manchen Stellen zerstreut erörtert wurden und
'dort von jedermann leicht gefunden und nähtr
beachtet werden konnten. Was sollen wir also
424 Gott, gel Anz. 1873. Stück 11.
sagen wenn der Verf. dieses neuen Buches jene
heute längst gegebenen ersten Grundlagen zur
sicheren Erklärung des Stückes Deut. c. 33
zwar theilweise an ihren Stellen wirklich aufge-
funden hat, aber sie nicht im geringsten zu
verstehen oder vielmehr zu würdigen und rich-
tig anzuwenden weiss? wird etwas richtig er-
kanntes dadurch vernichtet dass man es ver-
kennt, oder gar so wie der Verf. dies S. 155
versucht es zu verdrehen und zu verlästern un-
ternimmt? Aber der Antrieb welcher den Verf.
so zu verfahren bewegt, ist auch sehr leicht zu
sehen. Er ist ein Nachzügler der Hengsten-
bergisch-Erlangischen Theologenschule, und be-
greift nicht eiuinahl soviel dass diese Schule in
ihren grund verkehr ten Bestrebungen und ihrem
für soviele unserer heute sehr nothwendigen ja
unvermeidlichen Bemühungen sehr schädlichen
Wirken jetzt längst vor aller Welt enthüllt ist;
und so nennen wir ihn hier einen blossen Nach-
zügler, da wir nicht fürchten dass die neuesten
"Wendungen der kirchlichen Dinge in Deutsch-
land dieser Schule wieder zu ihrer vorigen Macht
verhelfen werden. Als ein solcher Nachzügler
treibt er denn auch wieder das bekannte alte
Spiel alle gewissenhafte und gründliche Wissen«
schaft von vorne an zu beschuldigen sie ver-
fahre willkürlich, bringe ungehörige Dinge in
die Bibel, wolle nicht anerkennen dass Mose
alles im Pentateuche von ihm erzählte geredet
oder sogar geschrieben habe u. s. w. Zwar
treibt der Verf. dieses Spiel heute mit einigen
anderen Nachzüglern seiner Art etwas vorsich-
tiger und verdeckter als es vor zehn oder zwan-
zig bis dreissig Jahren getrieben wurde, da er
in seinem Buche vorne von alle dem was er
eigentlich meint nicht offen redet, sondern erat
Vplck, Der Segen Mote's im Deut. 426
am Schlüsse seine wirkliche Meinung offener aus-
bricht, wi sieb überall lieber als ein Mann der
Wis&enscfeaft geben möchte. Allein wenn er
auch nur das wäre was er demnach sein will,
ein Mann guter und gründlicher Wissenschaft,
so könnte er auch als Bibelerklärer und weiter-
hin als Christ gar nicht so handeln wie er hier
jtmndett. Und nur dieses etwas näher zu be-
weisen scheint uns hier der Mühe werth.
Wer nun als ein wissenschaftlicher Mann die
Bibel A. TS sicher verstehen und handhaben
oder anwenden will, muss doch vor allem heute
in den Semitischen Sprachen vollkommen hei-
misch sein; und wenn er auch nicht die auf
diesem weiten und immer noch weiter sich aus-
dehnenden Gebiete auftauchenden neuen grossen
Schwierigkeiten bemeistern kann, so muss er
doch wenigstens einen Satz Semitischer Sprache
in allen seinen Theilen und seinem Geiste rich-
tig aufzufassen fähig sein. Dnser Verf. hat aber
offenbar gar keine irgendwie hinreichende Kennt-
nis? Semitischer Sprachen, und weiss nicht wie
er sich auf diesem Felde als ein sorgsamer und
treuer Arbeiter zeigen müsse. Sog^tr der erste
beste Laie kann das leicht merken, wenn er
auch nur die Uebersetzungen der Hebräischen
Worte liest welche der Verf. als die richtigen
Sibt. Jeder Laie muss danach meinen das He-
roische sei entweder eine höchst unklare und
Abgeschmackte oder eine ganz unverständliche
Sprache : während doch die Schuld hier, so weit
es auf den Zustand unsrer heutigen wissen-
schaftlichen Einsichten und Fähigkeiten an«
kommt9 überall nur an dem Verf. liegt. Was
ßollen z. B. sogleich v. 2 die Worte bedeuten
»Gott Arftt aus heiligen Myriaden, indem von
Seiner Rechten (ausging) Feuer eines Gesetzes
33
426 Gott gel. Anz. 1873. Stück 11.
ihnen«? was kann der Leser sich irgend dabei
denken? Wird derselbe nicht mit Hrn. Strauss
aus Ludwigsburg in seinem neuesten Buche aus*
rufen, wenn die Bibel nichts als solche Worte
enthalte, so sei es nicht der Mühe werth sie zu
lesen und zu beachten? Denn dass solche
Worte wie sie der Verf. übersetzt gar keinen
Sinn geben, ist zu beweisen selbst kaum der
Mühe werth. Allein der Verf. übersetzt auch
da ganz unrichtig wo der Laie allerdings nicht
sogleich das untreffende merkt, und dennoch der
einfache klare und vor allem v der richtige Sinn
dadurch sehr leidet. Er übersetzt z. B. v. 10:
»(die Priester) sollen lehren — , sollen
Rauchwerk bringen«: sollten sie das aber da-
mals etwa bloss und thaten es nicht? wie kann
der Verf. v. 9 das Hebräische Imperf. einfach
durch unsere Gegenwart, v. 10 aber bei der
reinen Fortsetzung davon durch ein Sollen
übersetzen? Aber auch die Hebräische Vers-
kunst beachtet der Verf. nicht wie man sie
doch heute längst richtig beachten und nützlich
verwerthen kann: und wie vieles verliert alles
sein Licht und seine Wahrheit, wenn man auch
nur diese Kunst verkennt! Dass aber der Verf.
nicht selten auch Arabische Wörter und Buch-
staben in seine Erklärung des Hebräischen ein-
mischt, kann in den Augen des Kenners am
wenigsten d&zu dienen den grossen Mangel zu
verdecken: wir können heute leider wieder in
solche Zeiten zurücksinken wq man Hebräisch
zu verstehen meinte wenn man einige Arabische
Brocken einmischte.
Lassen wir jedoch nun alle Semitische
Sprachkenntni8s zur Seite, so gibt es bekannt-
lich bei der Beurtheilung von alten Schriften
und vorzüglich auch bei der so leicht nothwen-
Volck, Der Segen Moses im Deut 427
die werdenden Vergleichung verschiedener
Schriftstücke eine Menge von wichtigen Dingen
die auch jeder der alten Sprachen unkundige
Mann richtig schätzen und nützlich beurtheilen
kann. Der Verf. aber, von jener Einseitigkeit
einer heutigen Theologenschule befangen, hat
auch für solche Dinge kein gerades und gutes
Auge. Wir wollen das kurz an einem Beispiele
zeigen welches für die gesammte richtige An-
sicht über den Mosesegen wie wir ihn Deut. c.
33 haben von Wichtigkeit ist. Bekanntlich be-
ginnen einige der auch künstlerisch ausgezeich-
netsten und dazu grösseren dichterischen Stücke
des A. TS mit einem Hinweise auf die erhabenste
Zeit welche das Volk der wahren Religion er-
lebte, die der Bildung seiner Gemeinde unter
Mose; und alle diese selbst so erhabenen An-
fange höherer Rede Rieht. 5, 4 f. Hab. 3, 3 f.
Deut. 33, 2—4. ip. 65, 8 f. haben in der ge-
sammten Farbe der Rede und der Worte etwas
80 ähnliches dass man leicht sieht wie ein Dich-
ter hier den Vorgang bildete. Alles vereinigt
sich nun dahin diesen uns erkennbaren ältesten
Vorgang in den alten Deboraliedern Rieht, c. 5
zu erblicken. Allein unser Verf. kann das von
vorne an nicht zugeben, weil er (wie oben ge-
sagt) es koste was es wolle vor jeder genauen
Untersuchung der Dinge schon entschlossen ist den
Wortlaut des Mosesegens von Mose selbst abzu-
leiten. So will er denn S. 50 beweisen die Ur-
sprünglichkeit hierin liege nicht bei der grossen
alten Dichterin Debora, sondern bei dem Stücke
Deut. c. 33; und führt als seine zwei Beweise
an: 1) »nicht das ^hkss} (als du auszogst)
Rieht. 5, 4 sondern 'das tta (er kam) Deut.
S3, 2 sei die entsprechende 'Form für die erst-
jnalige Erwähnung des betreffenden Faktums«;
33*
428 Gott. gel. Att. 1873. Stick 11.
aber meint denn der Verl. wirklich vor den
Worten Deut. &3, 2 habe niemand von dieses*
Ereignisse geredet? und dazu steht es jedem
Dichter frei wie er etwas mit Bezug auf das
weiter au sagende veraie ausdrücken wolle; —
«od 2) »der Sinai stehe Deut 33, 2 richtiger
als Rieht 5, 4 f. an der Spitze«: also will er
der grossen Dichterin und Prophetin Debora
vorwerfen sie wisse die Worte nicht richtig zu
setzen, während er nicht einmahl fragt warum
sie die Worte gerade so und der Dichter des
Mosesegens sie wieder anders setze? Wir müs-
sen hier wirklich meinen jeder Laie begreife
wie völlig willkürlich und grundlos der Verf.
urtheile, um auf solche Urtheile — das wich-
tigste zu bauen 1
Der Pentateuch ist nun einmahl ein Buch
welches sich erst im Laufe langer Jahrhunderte
zu der wunderbaren Auswahl der allerverschie-
densten sämroilich aber ausgezeichnetsten Schrift-
stücke ausbildete welche »endlich in ihm zusam-
mengefasst und für alle Zukunft erhalten wur-
den. Dies ist nun einmahl wie ee ist: und we-
der der heutige Dr. Wilh. Volck noch irgend
«ein anderer kann es ändern; wohl aber ist es
■unsre Pflicht, wenn wir den Reichthum und die
Wahrheit der in ihm zusammengefassten Stücke
richtig erkennen und anwenden wollen, sie alle
im einzelnen so wieder zu fassen wie jedes ur-
sprünglich war und ursprünglich verstanden
werden wollte. Dass das grosse Buch wie es
war zuletzt naoh Mose genannt wurde, hat seine
jguten Gründe, kann uns aber nicht zwingen zu
meinen jedes einzelne »Stück in ihm müsse,
auch wenn jede wiederholte und sorgfältigste
Untersuchung uns das Gegentheil beweist, von
Moee selbst vertagst oder auch nur .aus seiner
Volck, Der Segen Mose'ß im Deut. 429
Zeit sein. Vielmehr kann wer in solcher Weise
das Wahre völlig verkennt und zähe verwirft*
auch nicht einmal diejenige Stücke von ihm
sicher erkennen welche wirklich von Mose und
aus seiner Zeit oder sogar aus noch älterer Zeit
abstammen; und so sind die Übeln Vertheidigex
Mo8e's zuletzt seine ärgsten Feinde, weil sie
alles unsicher machen und am Ende nur den
heutigen AUealeugnern in die Hände arbeiten.
Aber das schlimmste ist schliesslich dass sogar
Bokhe heutige Männer wie Hr. Wilh. Volck
sich nicht mehr enthalten können allerlei Ver«
mutbungen über die älteren Gestaltungen des
Pentateuches aufzustellen also mit unsrer ganz
ohne sie entstandenen und von ihnen verläster-
ten heutigen Wissenschaft wetteifern zu wollen,
aber die Dinge dadurch nur immer mehr ver*
wirren, weil sie auch bei diesem Wetteifer von
Unrichtigkeiten ausgehen.
Eben dieses wollen wir hier noch kurz nach-
weisen, da es sprechend genug ist. Der Verf.
meint nachgewiesen zu haben dieser Mosesegen
der doch bloss in der Ueberschrift v. 1 so ge-
nannt wird, sei auch von Mose im groben Wort-
sinne so gesprochen. Allein mitten in ihm wird
ja von Mose erzählt v. 4: und der Verf. fühlt
selbst dass Mose so nicht von sich reden konnte.
Anstatt dieses nun ernstlich zu bedenken und
die rechten Folgerungen daraus zu ziehen, will
er flugs den ganzen Vers streichen 1 Und damit
meint er sich helfen zu können, während sich
kein einziger guter Grund für dies Streiohen
erfinden lässt, die Worte vielmehr, wenn man
nur ihren Zusammenhang mit den übrigen v. 2
— 5 versteht, sich naeh eben diesem Zusammen-
hange gar nicht wegnehmen lassen? Hier wagt
er also 8.45 von Unächtheit zu reden, während
430 Gott. gel. km. 1873. Stück 11.
die bessere Wissenschaft von Unächtbeit zu reden
gar nicht nöthig hat? — Aber ähnliche Neue*
rungen der schlimmsten weil willkürlichsten Art
erlaubt er sich auch sonst. Nach S. 171 will
er c. 1 — 4 vom Deuteronomium ganz losscheiden
als erst nach Mose geschrieben, und dem Mose-
segen seinen ursprünglichen Platz hinter Num.
c. 27 anweisen. Allein nichts ist gewisser als
dass der Anfang des Deuteronomiums c. 1 — 4
von demselben Verfasser ist welcher das übrige
schrieb, und diesem ein grosses Unrecht ge-
schieht wenn ihm genommen wird was ihm ge-
hört. So rein nach grundlosen Einfällen ver-
fährt keine ächte Wissenschaft.
Die Meinung aber der Mosesegen habe an-
fangs hinter Num. c. 27 gestanden bedenkt nicht
einmahl dass er da wo er wirklich steht ganz
gut seinen Platz hat, soweit er nämlich einen
solchen überhaupt im Pentateuche haben konnte.
Denn das eigentümlichste bei dem Mosesegen
ist noch dass er seiner ganzen Sprachfarbe nach
von einem Dichter oder Schriftsteller abstammt
von welchem wir sonst im A. T. nicht das ge-
ringste weiter haben, aber auch ebenso gewiss
seinen Platz im Pentateuche erst empfing als
das ganze grosse Buch sonst schon ebenso wie
es sich erhalten hat vollendet und in Umlauf
gesetzt war. Letzteres folgt mit Sicherheit aus
der durchaus eigenthümlichen Sprachfarbe sei-
ner Ueberschrift v. 1. Ein letzter Herausgeber
des Pentateuches oder vielmehr (mit dem B.
Josua) Hexateuches schaltete dieses besondere
Stück noch ein: und da war für es kein besse-
rer Platz als der den es eben innerhalb des
grossen Buches der Urgeschichten immer gehabt
hat, und wo Mose zum erstenmahle der Mann
Gottes genannt wird. An dieser Stelle sei
Blasel, Hubert Languet. 1. Theil. 4SI
dem Unterz. nur noch erlaubt zu bemerken
daBs zu den Eigentümlichkeiten der Sprache
des Stückes besonders auch die Redensart zu
etwas kommen d. i. etwas bekommen oder
empfangen gehört, wie sie sich bei Nia v. 7 und
bei nntt v. 21 findet. Im Deutschen ist diese
Redensart ganz gewöhnlich, nicht aber im He-
bräischen: und findet sie sich dennoch in die-
sem Stücke, so liegt auch darin ein Merkmahl
dass es von einem Schriftsteller ist von welchem
wir sonst heute nichts weiter hesitzen.
H. E.
Hubert Languet. 1. Theil. Histo-
rische Inauguraldissertation von Ig-
naz Blasel. Breslau 1872. 48 SS in 8°.
Jedem, der die sehr interessanten, aber, wie
mir scheint, noch nicht eingehend genug behan-
delten politischen und religiösen Berührungen
Frankreichs und Deutschlands im 16 ten Jahr-
hundert nur einigermassen kennt, ist der Name
Hubert Languets ein wohl vertrauter« Eine ge-
nügende Biographie dieses vielgenannten Mannes
mussten wir aber bisher entbehren und es ist
daher rühmend anzuerkennen, dass sich eine
junge tüchtige Kraft zur Bearbeitung derselben
entschlossen hat. Denn das vorliegende Heft
ist, wie dies der Zweck anzeigt, zu dem es
herausgegeben wurde, nur der Anfang eines
grösseren Ganzen und »in nicht allzulanger Zeit
beabsichtigt der Verf. ein Gesammtbild von Lan-
guets Leben und Thätigkeit, in Verbindung mit
mannichfachem , noch ungedrucktem Quellen-
432 Gott. gel. Ans. 1873. Stück 11.
material der Oeffentlichkeit zu übergeben t. So
sehr nun die Erfüllung dieser Absicht zu wün-
schen ist, so dringend wird dem Verf. gerathen
werden müssen, sich nicht mit dem in dieser
Schrift verarbeiteten handschriftlichen Material
(einigen in Breslau und Wolfenbüttel aufbewahr-
ten Briefen) zu begnügen, sondern die, soweit
ich nach flüchtigem Durchblick urtheilen kann,
wichtigen und zahlreichen Dokumente, welche
die Pariser Bibliothek besitzt, zu Untersuchen.
Trotzdem nun in dem vorliegenden Büchlein
eine vollständige Biographie nicht geboten wer-
den sollte, so hätten doch wol, meines Erach-
tens, die Hauptbegebenheiten in dem ganzen
Leben des zu Schildernden wenigstens angedeu-
tet, kurz skizzirt werden sollen; da dies nicht
geschieht und die Beschreibung nur bis zum
Jahr 1556 geführt wird, ohne dass der Verf.
eine Vorschau in das Künftige anstellt, wird dad
Interesse der Leser, das wenigstens nach einer
gewissen Abrundung verlangt, zu wenig befrie-
digt, und noch ein anderes Bedenken ist aus-
zusprechen. Gerade für eine Erstlingsarbeit
wäre es durchaus passend gewesen, den that«
sächlichen Boden, auf dem man zu stehen hat,
genau festzustellen , in zusammenhängender
Weise eine Kritik der Quellen zu geben, deren
man sich bei der Darstellung bedienen musste.
Vor Allem der Vita Huberti Langueti ed. Joh.
Petr. Ludovicus. Halle 1700, über die ich, da
ich sie mir leider nicht verschaffen konnte,
nicht im Zusammenhange urtheilen kann. Ueber
sie, — mag sie nun, wie es nach den Worten
unsres Verf. manchmal den Anschein hat, von
einem Zeitgenossen oder erst von dem genann-
ten , späten Schriftsteller herrühren, — als Über
die erste umfängliche Lebensbeschreibung hätte
Blasel, Hubert Languet 1. Theil. 438
eine besondere kritische Abhandlang gegeben
werden sollen.
Das Leben Langnets, soweit dessen Erzäh-
lung hier vorliegt, ist zwar nicht reich an merk-
würdigen Schicksalen, aber anziehend wegen
der lebendigen inneren EntWickelung.
Hubert Languet wurde als Bprössling einer
adligen Familie zu Vitteatix 1518 geboren, stu-
dirte, nachdem er sich schon in der Heimath
die Anfänge der classischen Bildung erworben
hatte, die Sprachen des Alterthums weiter in
Poitiers, femer Geschichte, fur deren wissen-
schaftliche Bearbeitung er später mannichfach
thätig war, und Geographie, zu welcher ihn seine
nachmals befriedigte Reiselust trieb, beschäftigte
sich aber, als echter Franzose, weder damals
noch später mit lebenden Sprachen, so dass er
trotz seines langjährigen Aufenthaltes in Deutsch-
land keine rechte Kenntniss der deutschen Spra-
che erlangte. Religiöse Schriften der neueren
Richtung hatten ihn schon in früher Jugend leb"
baft angezogen, sie begleiteten ihn nun auf seiner
Reise nach Italien, wo er, an verschiedenen Hö-
fen und Universitäten verweilend, einige Jahre
zubrachte, freilich in ganz anderer Weise, als
in welcher die Humanisten früherer Zeiten die-
ses Land der Sehnsucht bereisten; sie trieben
ihn endlich nach Deutschland, um von Melanch-
thön Lösung der Zweifel zu erhalten, die ihn
beschlichen hatten. Da führte er dann zunächst
bei Melanchthon, dann bei Gamerarius ein ge-
nussreiches Leben, bald aber begann er, theils
als Privatmann, theils im Auftrage Anderer, eine
umfassende litterarische, religiöse und politische
Thätigkeit. Aus ihr werden in den vorliegenden
Abschnitten nur die ersten, im Verhältniss zu
den späteren weniger wichtigen Schritte bespro-
434 Gott, gel Anz. 1873. Stück 11.
eben : die Reise an den kaiserlichen Hof nach
Wien, die Theilnabme an dem Convent zu Naum-
burg, die Reise nach Augsburg, um gegen
Schwenckfeld thätig zu 6ein, verschiedene Reisen
nach Brüssel, wo er vielleicht der Abdankung
Earl Y. beiwohnt und wo er lange verweilt, um
die grossen politischen Veränderungen in der
Nähe zu betrachten, ein Aufenthalt in Frankfurt,
der ihn mit Calvin zusammenbrachte, und end-
lich das undankbare und auch mit Undank ge-
lohnte Vermittlungsgeschäft zwischen Flacius II-
lyricus und den Wittenbergern, das von unserm
Verf. gründlich , zum Theü nach bisher unbe-
kannten Quellen dargestellt wird. (In diesem
Abschnitt ist der S. 41 A. 82 stehen gebliebene
störende Druckfehler: Calvini statt Flacii zu be-
richtigen.)
Von Einzelheiten will ich nur einen seltsa-
men Widerspruch des Verfs aufzeigen. Er sagt
S. 32: „Melanchthon , solchen Religions-
gesprächen abgeneigt.., war noch unent-
schieden, ob er an dem Convent theilnehmen
würde" und S. 39 A. 74, in einer Polemik ge»
gen eine Behauptung Preger's : „Melanchthon
war keineswegs abgeneigt, mit seinen
Gegnern, sei es öffentlich, sei es privatim, re-
ligiöse Disputationen zu führen, um auf
diese Weise Klarheit in streitige Punkte zu
bringen. Zahlreiche Briefe beweisen dies zur
Genüge" ; und als wollte er selbst einen solchen
Beweis beibringen, führt er an (S. 48 in A. 101),
dass Melanchthon den Bewohnern von Wesel
gerathen habe „die abweichenden Ansichten auf
gütlichem Wege durch ein Religionsgespräch
zu beseitigen'4.
Doch diese und ähnliche kleine Ausstellun-
gen sollen den Werth des Schriftchens nicht
Waldmann, Sauerstoffu.Ozonsauerstoff-Inh. 435
beeinträchtigen, das uns lebhaft eine recht bal-
dige Fortsetzung wünschen lässt.
Berlin. Ludwig Geiger.
Wie wirken Sauerstoff und Ozon*
sanerstoff-(?)Inhalation en? Zur Klärung
dieser Frage veröffentlicht von Dr. Wilhelm
Waldmann, Oberstabsarzt ausser Dienst.
Halle. Berlin, Hirsch wald'sche Buchhandlung,
27 pp. in Octav.
Diese kleine Schrift ist gegen die neuerdings
besonders durch Gonstantin Lender in Berlin
betriebene therapeutische Verwerthung des so*
genannten Ozonwassers gerichtet und sucht na-
mentlich die Inhalationen von gewöhnlichem Sau-
erstoff, deren Wiedereinführung in die medicini-
sche Praxis durch englische und französische
Aerzte bereits früher von uns in diesen Blättern
i hervorgehoben wurde, gegenüber den Ozonsauer-
stoff-Inhalationen in ein vorteilhaftes Licht zu
| stellen. Waldmann ist auf Grundlage von Be-
| obachtnngen, die er am eigenen Körper Gele-
genheit anzustellen hatte, offenbar befähigt, über
: die Wirkung der Sauerstoffathmungen ein Wort
| mitzureden und wir erhalten durch ihn eine
neue authentische Bestätigung des Factums, dass
der inhalirte Sauerstoff nicht die befürchteten
Entzündungen der Respirationsorgane hervorruft,
von denen man in älteren Schriften so oft zu
hören bekommt. Waldmann constatirt ferner,
dass das Gas bei längerem Gebrauche eine He-
bung der Muskelkraft und des Appetits bedingt
und dürften seine Erfahrungen aufs Neue dar-
436 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 11.
thun, class es wohl an der Zeit ist, ausgedehn-
tere Versuche über die therapeutischen Wirkun-
gen des Oxygens, namentlich in klinischen An-
stalten, zu unternehmen.
Wir glauben aber trotz der Waldmann'schen
Brochure, dass eine gleiche Beachtung auch dem
Ozonsauerstoff und dem sogenannten Ozonwasser
zu Theil werden muss. Denn die Basis der Po-
lemik Wald mann 's wider das letztere ist durch
neuere Untersuchungen erschüttert. Waldmann
geht von einer Untersuchung Böttchers aus, der
in dem Ozonwasser aus der hauptsächlichsten
Berliner Fabrik kein Ozon, wohl aber Unter-
salpetersäure gefunden haben will. Wäre diese
Angabe richtig, oder wäre, wie Cremer behaup-
tet, im Ozonwasser statt Ozon Wasserstoffsuper-
oxyd vorhanden, so würde Waldmann sich voll-
kommen im Rechte befinden, die gesammte Len-
der'sche Ozontheorie für eine Missgeburt zu er-
klären. Es ist hier nicht der Ort, zu untersu-
chen, ob die Resultate der Analysen von Bött-
cher und Gremer irrig sind und wo die Fehler-
quelle steckt. Aber gewiss ist es, dass ihnen
andere mit grösster Umsicht ausgeführte Prü-
fungen gegenüberstehen, durch welche das Vor-
handensein von Ozon und die Abwesenheit von
Säuren oder Wasserstoffsuperoxyd in frischem
Lender'schen Ozonwasser dargethan ist. Schon
früher (1870) ist Preyer zu diesem Ergebnisse
gekommen und neuerdings hat Carius dieselben
in ihrem ganzen Umfange bestätigt. Seit den
Untersuchungen des letzteren kaun nicht mehr
die Rede davon sein, dass Ozon von Wasser nicht
augenommen wird, was freilich auch schon durch
andere Forscher früher widerlegt war. Jeden-
falls erweisen aber die divergirenden Resultate
der verschiedenen Analysen, dass die Anwendung
Waldmann, Sauerstoff u.OgonsauersteffJnh. 437
des Ozonwassers in der Praxis vorläufig auf
Eosse Hindernisse stossen wird» indem der Arzt
d der jedesmaligem Anwendung sich davon
überzeugen muss, ob das fragliche Präparat auch
wirklich Ozon enthält uad in welchem Masse
das letztere vorhanden ist. Auf die Bezugsquelle
darf er sich nicht verlassen, denn die unter-
suchten Wasser stammten aus eioer und der*
selben Fabrik. Zwar ist die Untersuchung nicht
schwierig, doch erschwert die Notwendigkeit
derselben offenbar die Verbreitung des Mittels.
1st nun nach dem Angeführten audi die
Grundlage, von welcher Waldmann's Polemik
ausgeht, nicht haltbar, so fragt es sich doch,
ob die dem Ozonwasser durch Länder beigelegte
therapeutische Bedeutung demselben zukommt.
Eine topische Wirkungsweise wird demselben
ohne Zweifel zukommen und in der That haben
sich schon Stimmen dafür ausgesprochen, dass
es als . Gurgel wasser hei Diphtheritis benutzt,
sich werthvoll erweise. Ob aber das Ozonwas-
ser bei innerlicher Anwendung nicht ausschliess-
lich local, wirkt, sondern das Ozon aus demsel-
ben oder mit demselben in das Blut aufgenom-
men wird, darüber fehlt es bis jetzt an vollgül-
tigen Beweisen. Die Möglichkeit einer solchen
Aufnahme ist allerdings nicht zu bestreiten, zu-
mal wenn man die von Alexander Schmidt nach-
gewiesene Resorption des Wasserstoffsuper-
oxyds damit in Parallele stellt Was bis-
her über therapeutische Wirksamkeit des
Ozonwassers publicirt ist, rührt fast aus*
schliesslich von Lender her, dessen Aufsätze
von einer grossen Voreingenommenheit zeu-
gen, wenn man nicht andere Motive in ihnen
zu suchen berechtigt ist. Lender hat in beson-
deren Brochüren Theorien entwickelt, welche die
438 Gott. gel. Am. 1873. Stück 11.
Anwendung des Ozons stützen sollen, die gera-
dezu bei Unbefangenen Misstrauen erwecken
müssen; er ist in einer Weise gegen den Ge-
nus8 kohlensäurehaltiger Mineralwasser, an de-
ren Stelle er sein Ozonwasser gesetzt wissen
möchte, zu Felde gezogen, dass man die Ab-
sicht merkt und verstimmt wird. Er hat Kran-
kengeschichten veröffentlicht, welche in hohem
Grade auffallend erscheinen, auch hat er das
Ozonwasser selbst mit dem Character eines Ge-
heimmittels oder einer Specialität bekleidet und
erst vor Kurzem den Schleier, mit welchem die
Bereitungsweise verhüllt wurde, etwas gelüftet.
Alles dies legt die Notwendigkeit dar, das
Ozonwasser einer unparteiischen klinischen
Prüfung zu unterwerfen, und darauf hinzuweisen
ist der Zwnck dieser Anzeige.
Es ist dies eine Pflicht, gegenüber denjenigen
Angriffen gegen das Lender'sche Verfahren, welche,
wie z.B. ein von Waldmann erwähnter Artikel
in der Pharmaceutischen Centralhalle, das Kind
mit dem Bade ausschütten und die ganze Ozon-
therapie pure ac simpliciter als Schwindel be-
zeichnen. Mit Recht sagt Waldmann, dem es,
wie wir hervorzuheben nicht unterlassen dürfen,
um eine gerechte Würdigung des ganzen Ver-
fahrens zu thun war, dass der Tadel sich gegen
die Art und Weise der Ausbeutung, nicht gegen
die methodische Anwendung der Ozonsauerstoff-
Inhalationen, bei denen in Zukunft auch das (?)
wegzulassen ist, zu richten habe.
Theod. Husemann.
Wülcker, Das Evangelium Nicodemi u. s. w. 439
Das Evangelium Nicodemi in der Abend-
ländischen Literatur. Nebst drei Excursen über
Joseph von Arimathia als Apostel Englands,
das Drama »harrowing of Helle und Jehan Mi-
chel's Passion Christi; von Dr. Richard Paul
Wülcker. Paderborn, Druck und Verlag von
Ferdinand Schöningh, 1872. — 109 S. in 8.
Das gewöhnlich so genannte Nikodemus-
Evangelium nimmt unter den Apokryphischen
Evangelien zwar an Inhalt und Werth nicht
die erste Stelle ein (diese gebürt dem sogen»
Protevangelium des Jakobos), sondern erst die
zweite, steht aber doch weit über allen den
übrigen die man auf die dritte Stufe verweisen
muss, und ist während des Mittelalters vorzüg-
lich in allen Ländern der Lateinischen Kirche
wegen seines sonst nirgends weiter anzutreffen-
den Inhaltes sehr hoch geachtet und überaus
gerne gelesen. Die neue sehr schön gedruckte
Schrift des Herrn Dr. Wülcker gibt nun zwar
über die Entstehung und das Zeitalter dieses
denkwürdigen Evangelischen Buches keine neue
Aufschlüsse: desto unterrichtender und reicher
sind aber die in ihm zusammengestellten ge-
nauen Nachrichten über den Gebrauch welcher
von ihm in dem volkstümlichen Schriftthume
des ge8ammten Abendlandes gemacht wurde.
Alle die Völker der Lateinischen Kirche von
den Baskischen bis zu den Skandinavischen bil-
deten au 8 diesem Buche eine Menge neuer Er-
zählungsbücher, oder kleideten seinen Inhalt in
Dramen ein; und dieses einmahl in einer voll-
ständigen 13 eb er sieht verfolgen zu können, ist
schon ansich erfreulich. Der Verf. geht aber
auch zugleich überall auf die Handschriften und
ersten Drucke dieser vielen und höchst ver-
440 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 11.
scbiedenen Mittelalterlichen Schriften sorgfaltig
zurück, und theilt vielen wenig bekannten Stoff
mit. Merkwürdig ist dabei dass die ältestem
Bücher der Art bei den Angelsachsen erschei-
nen : und Joh. Alb. Fabricius, der bekannte Her-
ausgeber des Cod. N. T. apocrvphus, wollte
dieses daher erklären dass Nikodemus als der
Apostel der Angelsachsen gegolten habe. Der
Verf. weist dagegen nach dass eine solche Sage
nur yon Joseph von Arimathia in Umlauf ge-
wesen sei, aber auch diese nicht vor dem
zwölften Jahrhunderte.
H. E.
Berichtigung S. 17 Z. 6 v. u.
Bei Besprechung des Nasals in ushtränam ist
nach dem Aufrechtschen Text des Rigveda und
dem Gitat im Petersburger Wörterbuch ange-
nommen, dass räshtränäm mit einem lingualen
Nasal im Rigveda geschrieben werde. Aber auch
dieses ist nicht der Fall. Rv. VII. 34, 11 ist
ttctot^ in M. Müller'8 Ausgabe richtig mit den-
talem Nasal gedruckt und S&yana bemerkt aus-
drücklich, dass diese Schreibweise vedisch sei.
Es wird also, wie am angeführten Orte ange-
deutet, der Grund der Nichtlingualisimng in
beiden Fällen in der grösseren Anzahl der vor-
hergehenden Linguale Liegen, also in einem Stre-
ben nach Dissimilation. Th. Benfey.
r
441
Gftttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stack 12. 19. März 1873.
Die Eingeborenen Südafrika's ethno-
graphisch und anatomisch beschrieben
von Gustav Frit seh. Mit zahlreichen Illu-
strationen, zwanzig lithographischen Tafeln, nebst
einem Atlas, enthaltend sechzig in Kupfer ra-
dirte Portraitköpfe. Breslau F. Hirt 1*72.
An grosseren ethnographisch - anthropologi-
schen Werken, wie sie verhältnissmässig zahl-
reich im Anfange der Sechziger Jahre von
Ecker, His und Rütimeyer, Davis und
Thurnham, Morton u.a. veröffentlicht wur-
den, sind die letzten Jahre keineswegs reich ge-
wesen. Eigentlich können in dieser Hinsicht
fast nur der anthropologische Theil der Novara-
Expedition und Quetelets Anthropometric in
Betracht kommen, und auch diese sind nach Ziel
und Anlage wesentlich verschieden von der vor-
liegenden Arbeit. In Fritschs Beschreibung
der Eingeborenen Südafrikas begrüssen wir eine
der werthvollsten Bereicherungen der anthropo-
logischen Literatur, ein Werk, welches gleich
vollendet in Darstellung wie in künstlerischer
34
L
■
442 Gott gel. Anz. 1873. Stück 11
Ausstattung, geradezu anthropologischen Mono-
graphien als Muster dienen kann. In der That
steht hier die Technik auf einer Höhe, wie sie
noch in keinem ähnlichen Werke in gleicher
Weise zur Anwendung gekommen. Ausser den
Tafeln mit Abbildungen von Schädeln, Becken,
Hautfarbeproben u. s. w. ist ein Atlas beigege-
ben, welcher 60 Portraitköpfe von Eingeborenen
enthält. Jeder Kopf ist in zwei Ansichten —
en face und en profil — aufgenommen, und
nach den Photographien sind die Kupferradirungen
durch die Künstlerhände des Herrn Hrof. ßiirck-
ner gefertigt.
Lie drei Hauptgruppen, welche Fritsch be-
handelt, sind die A- bantu oder Kaffern, die Koi-
Koin oder Hottentotten und die Buschmänner.
Bezüglich der gegenseitigen Stellung dieser Racen
zu einander kommt der Verfasser zu dem
beachtenswerthen Resultate, dass die Buschmän-
ner als grössere Unterabtheilung den Hottentot-
ten anzufügen seien, während zwischen Kaffern
und Negervölkern eine Grenze nicht mehr auf-
recht erhalten werden könne. Näheres aus dem
reichen Inhalte des Werkes mitzutheilen, ist an
dieser Stelle nicht möglich, nur einen Punkt sei
es erlaubt noch hervorzuheben, da er die Be-
richtigung eines Irrthums betrifft, der bei den
Anatomen, Physiologen und Geburtshelfern sehr
verbreitet ist. Wir meinen das Mährchen von
den Negerkindern, die weiss geboren
werden sollten, indem ihre dunkle Pigmentirung
erst im extrauterinen Zustande zur Ausbildung
gelange. Auf Grund seiner bei den 0 va-herero
gewonnenen Erfahrungen erklärt Fritsch: diese
Behauptung beruhe »jedenfalls auf einem Irr-
thum, oder besser gesagt auf einer Uebertrei-
bung; es ist mit grosser Wahrscheinlichkeit an-
Fritsch, Die Eingeborenen Südafrika^. 448
annehmen, class dieNigritier sich in dieser Hin-
eicht gleich verhalten und ich kann aus eigener
bei den Ba-Euena gemachter Beobachtung ver-
sichern, dass das neugeborene Kind die dunkele
Färbung der Haut schon während der Geburt
deutlich erkennen liess, das Pigment zeigte nur
nicht die Kraft, welche es später unter Einwir-
kung des Lichtes bei gleichzeitiger, besserer
Füllung (?) der Hautkapillaren erhielt«. (S. 235).
Auch über eine grössere Reihe anderer ana-
tomischer Fragen liefert Fritsch sehr werthvol*
les Material, so z. B. über die Steatopyga, die
äusseren Genitalien der Hottentottinnen u. a.,
worüber bisher nur vereinzelte Mittheilnngen
vorlagen *).
Nur einem Theile des Werkes vermag ich
einen gleichen Werth nicht beizulegen, nämlich
dem craniologi8chen. Ehe ich jedoch versuche
meine hierauf bezüglichen Bedenken zu äussern,
muss ich mich gegen die Annahme verwahren,
als wolle ich Herrn Fritsch etwa leichtfertiger
Arbeit zeihen oder ungenügender Kenntniss der
einschlägigen Literatur. — Fritsch steht im
Gegentheile so vollständig auf demselben Boden,
wie die Mehrzahl unserer heutigen Graniologen,
dass er als einer ihrer tüchtigsten Vertreter
gelten darf, und dass mithin die Bedenken die
im Folgenden angedeutet sind sich nicht sowohl
ausschliesslich auf seine Arbeit beziehen, als auf
die ganze Richtung, welcher er sich anschliesst.
Fritsch fügt dem Texte 2 Tabellen an, mit
Massen von den Schädeln der hier in Betracht
kommenden Racen. Welches sind nun' diese
*) Namentlich die Section der bekannten Hottentot«
ten Venus in Paris durch Cuvier und die Untersuchung
des „Busehweibes Afandy" von Luschka, Kooh Ur a. xnV
444 tiött. gel Am. 1873. Stück 12.
Masse? In keiner der beiden Tabellen findet
sich auch nur ein Index, eine reducirte Grösse
oder ein Winkel! Alle Zahlen bezeichnen nur
absolute Grössen, wie z. B. ausser den verschie-
denen Längen-, Breiten- und Höhenmassen die
Entfernung der Proc. mastoidei von einander,
die Entfernung der Tubera parietalia vom Por.
acust. ext., von der Glabella etc. Und doch ist
es sicher einleuchtend, dass die Differenzen
zwischen diesen Massen ebenso sehr von der
ungleichen absoluten Grösse der Schädel abhän-
gig sind, ah von Verschiedenheiten im Baue,
in der Form derselben. Kann es aber wohl
von Interesse sein zu wissen, wie weit in die-
sem oder jenem Schädel die Tubera parietalia
oder Proc. Mast, von einander entfernt sind,
wenn es feststeht, dass innerhalb dersel-
ben Race oder Völkerschaft ebenso grosse
rein individuelle und unwesentliche Unter <-
schiede sich finden, wie zwischen verschiedenen
Stämmen?
Aber vielleicht hatFritsch im Texte die ge-
wünschten reducirten Werthe gebracht und
giebt die absoluten Grössen in den Tabellen nur
der Vollständigkeit wegen ? Die Erfahrung lehrt,
dass nur selten spätere Autoren im Stande sind
mit wirklichem Vortheil die Tabellen älterer
Werke ?u benutzen, indem immer ein oder das
andere gewünschte Mass fehlte, oder in anderer
Weise als in der verlangten gewonnen worden.
Immerhin könnte man aber eine solche mehr
zeitraubende als gewinnbringende Arbeit mit in
den Kauf nehmen, wären nur wenigstens die
aller verbreitetsten Indices und Winkel für je-
den einzelnen Schädel mit in die Tabelle aufge-
nommen. Frit8ch jedoch übergeht gerade diese
wichtigsten Masse, und nur im Texte giebt er
Fritsch, Die Eingeborenen Südafnka's. 445
einige hierhergehörige Mittelzahlen an, legt aber
alsdann diesen eine andere Bedeutung bei als
ihnen zukommt. Mittelzahlen lassen sich nur
mit Mittelzahlen vergleichen und können dann
von höchstem Werthe sein, nie aber darf man,
wie Fritsch es versucht, einen einzelnen Fall
herausgreifen und diesen auf seine Uebereinstim-
mung mit dem mittleren Typus untersuchen. Es
kommt oft genug vor, dass die berechnete
Mittelzahl keinem einzigen der vielen Einzelfalle
entspricht. Will man daher erfahren, ob ein
gegebener Fall in eine gewisse Reihe hinein«
passt, so darf man ihn nicht mit der idealen
Mittelgrösse zusammenstellen, sondern man wird
zu prüfen haben ob seine Proportionen inner-
halb der Grenzen liegen, zwischen welchen die
ganze Reihe schwankt.
Andere Fritsch! Nachdem er den Bau des
Kaffernschädels erörtert hat, bespricht er den
Schädel eines 0 va-herero (oder Damara). Ob-
gleich er sich hütet auf einen einzigen Schädel
allgemeine Schlüsse zu bauen, so glaubt er aus
der Bildung desselben doch so viel herauslesen
zu dürfen »dass der Damaraschädel Abweichun-
gen enthält, welche nicht gestatten ihn ohne
Weiteres mit denen der Kaffern zu vereinigen.«
(S. 36). Wie das Folgende ergiebt beruht diese
Schlussfolgerung auf einer Vergleichung des ein-
zigen Damaraschädels mit den Mittelzahlen der
Kaffern8chädel. »Der Breitenindex« fahrt er
nämlich fort, »beträgt 72,2, ist also etwas be-
deutender wie der des Kaffern (71,89), der Hö-
henindex wächst aber viel stärker, er erreicht
75,9...... Der Breitenindex (72,2 gegen 71,89) ist
also um 0,8 grösser als der des mittleren Kaffern-
schädels, der Höhenindex (75,9 gegen 73,8) über-
trifft um 2,1 die Durchflchmttegröß&e dieses Ma-
1
446 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 12.
Baes bei den Kaffernschädeln. Diese unbedeu-
tenden Unterschiede findet Fritscb schon abwei-
chend genug, um anzunehmen, »dass die Ver-
wandtschaft des Herero mit den eigentlichen
Kaflern keine unmittelbare ist« (S. 36).
Zu welchen Schlussfolgerungen aber würde
sich Fritsch wohl haben hinreissen lassen, wenn
der Damaraschädel zufälligerweise einen Brei-
tenindex von 78,07 oder einen Höhenindex von
78,14 besessen hätte! Und doch kommen beide
Zahlen schon in der kleinen Reihe ächter (o*)
Kafferschädel vor, welche in Tab.I von Nr. 1—6
enthalten sind. Ich habe aus den bezeichneten
Schädeln die Indices berechnet und gebe sie
hier:
Längenbreiten- Längenhehen-
Nr. Index Nr. Index
1
70,31
3
71,05
5
71,21
5
72,63
3
71,31
6
72,63
6
71,84
4
72,67
4
72,87
2
75,93
2
78,07
1
78,14
Es ergiebt sich hieraus also aufs bestimmteste,
dass der Damaraschädel in seinen Massen durch-
aus innerhalb der Reihe der übrigen Raffern-
schädel steht. Dasselbe gilt auch von dem
Breitenhöben-Index *) welcher entschieden wich-
tiger als der Längenhöbenindex ist. Die Grösse
derselben beträgt fur den Damara 107,83, wäh-
rend die Grösse desselben Masses bei den obigen
6 Eafferschädeln von : 95, 82 (bei Nr. 6) bis
Hl, 11 (bei Nr. 1) schwankt. Den Längen-Ho-
■
*) loh setzte die grösste Breite = 100 und redücire
auf sie den für die gronte Hohe angegebenen Werth.
r
Fritsch 9 Die Eingeborenen Südafrika^. 447
henindex des Damara berechne ich zu 77,59!
während Fritsch dafür die Zahl 75,9 hat.
Aehnlicbes gilt auch für die Unterschiede
zwischen Raffern und Hottentotten, diesen und
den Buschmännern u. 8. w. Obwohl gerade
Fritschs Werk Veranlassung dazu bieten könnte,
so soll doch hier die Berechtigung einer scharfen
Trennung von Kaffern und Hottentotten als ver-
schiedene Racen nicht bestritten werden. Nur
soll man nicht das Zugeständniss von uns ver-
langen , dass eine solche Trennung durch die
craniologische Untersuchung bestätigt werde.
Dieselbe ergiebt durchaus keine wesentlichen und
erheblichen Differenzen. Fritsch freilich stellt die
Kaffernscbädel als hypsistenocepbali den platy-
stenocephalen Hottentottenschädeln entgegen,
allein gerade hier zeigt sich wieder einmal deut-
lich der Nacbtheil des Welcker'schen Schema-
tismus» Die erwähnten Ausdrücke sind recht
bequem als Schlagwörter zu einer ersten und
vorläufigen Orientirung, allein sie führen nur
allzuleicht zu der vollkommen irrigen Vorstel-
lung, als seien die Schädel, welche das System
in verschiedenen Klassen unterbringt, darum
auch in ihrem Bauplane wesentlich von einander
abweichend. Zwei Schädel, welche in verschie-
deneu aber benachbarten Gruppen des Systems
einander am nächsten stehen, weichen meist von
einander sehr viel weniger ab, als innerhalb ei-
ner und derselben Gruppe das eine Extrem vom
anderen. In der Reihe der Schädel selbst finden
sich keine plötzlichen Sprünge; sie ist eine voll-
kommen continuirliche. Nur in dem schemati-
schen Systeme existiren scheidende Grenzlinien.
Diese Trennungen sind aber im höchsten Grade
künstliche und willkürliche, und hätte es dem
Urheber derselben zufällig gefallen statt 5 Grup-
448 Gott. gel. Aus. 1873. Stück 12.
pen deren 4 oder 6 zu schaffen, so wurden jene
beiden Schädel vielleicht ihren Platz unmittelbar
neben einander in derselben Abtheilung gefun-
den haben , während solche die früher zusam-
men gehörten nun in verschiedene Gruppen ver-
theilt sind. Das Welcker'sche Schema brauchte
weniger willkürlich zu sein, um doch noch die
Trennung von Hypsi- und Platy - cephalie auf-
recht erhalten zu können. Die Grenze wäre
scharf genug in dem Verhalten der beiden In-
dices — Breiten- und Höhen -Index — vorge-
zeichndt. Die Gleichgewichtslage müsste den
Ausgangspunkt bilden und je nachdem die Dif-
ferenz zwischen beiden Werthen eine positive
oder negative wäre, würde der Schädel in die
eine oder die andere der beiden Gruppen zu
verweisen sein. Dabei würde selbstverständlich
die fernere Eintheilung in Steno -(Dolicho-) und
Bracby-cephalie weiter fortbestehen. Es würde
so der Neuseeländer als Hypsistenocephalus zu
bezeichnen sein, weil sein Breitenindex 73, der
Höhenindex 76 beträgt, (Differenz + 3) wäh-
rend der Irländer bei gleichem Breitenindex
einen Höbenindex von 70 besitzt (Differenz — 3),
mithin als Platystenocephalus aufgeführt werden
müsste. Die Hottentotten, bei welchen sich
diese Zahlen verhalten wie 69 : 70 (Differenz
il), wären danach Hypsistenocephali. Wel-
er bezeichnet sie trotzdem als Platystenoce-
phali. Die Differenz zwischen Breiten- u. Höhen-
index beträgt für folgende Vergleichungsweise
hier in Betracht kommenden dolichocephalen
afrikanischen Völker:
Hottentotten -f~ 1
Neger -|- 3
Darfur- u. Südguinea-Neger -f- 4
Kaffern, Sudan-Neger u, a. -+■ 5
Fritsch, Die Eingeborenen Südafrika^. 449
Moravi-Neger, Ashantys + 6
Donko-Neger -f- T
Mit demselben Rechte, mit welchem man
hier die Hottentotten als Platystenocephalen von
den übrigen abtrennt, könnte man auch die
Koffern noch mit unter diese Bezeichnung auf-
nehmen, am sie den hypsistenocephalen Donko-
Negern entgegenzustellen. Es ändert hierbei
nichts, dass Welckers Breitenindex ein anderer
als der gewöhnlich angewandte ist. Denn wenn
man für die hier in Betracht gezogeneu Schä-
del mit F ritsch eine Correction von etwas über
3% eintreten läset, so gelangen die »Neger«
mit den Hottentotten in die Rubrik der
Platyatenocephalie. Allein wenn dies
auch nicht der Fall wäre , so könnte man doch
nach dem Obigen keinen hohen Werth auf die
Trennung legen, weil diese keine schroffe und
unvermittelte ist, sondern durch zahlreiche
Mittelglieder ausgeglichen wird. Jedenfalls
stehen die Hottentotten den Kaffern und Negern
in dieser Hinsicht viel näher, als die Tnngusen
und Kalmüken den Tataren, welche doch Nie-
mand deshalb in verschiedenen Bacen unter-
bringen wird. Um zu zeigen, wie wenig con-
stant übrigens bei diesen sowohl wie bei jenen
das für typisch gehaltene Verhältniss sich fin-
det, gebe ich hier noch ans FritBchs Tabelle
No. 1 die Breiten- nnd LängenbÖhenindices der
ächten Kaffern und der Hottentotten, wie ich
sie nach den dort gegebenen Zahlen berechne;
450 Gott. gel. Anz. 1873. Stück ,12.
Ich lege nicht sehr viel Werth darauf, dass
das + und — Zeichen hier ziemlich gleich-
massig vertheilt ist; wer weiss, wie das Ver-
hältniss sich gestalten würde, wenn die Reihe
etwa 20 mal so gross wäre als die vorliegende ?
Mag man nun aus dieser unvollkommenen
Beine auch schliessen, was man will, sicherlich
ist man nicht berechtigt zu der Annahme, dass
zwischen dem Schädelbaue des Kaffern und des
Hottentotten sich constante, typische und für
diese Rage charakteristische Unterschiede
finden.
Aehnlicbe8 gilt auch von den übrigen era«
niologischen Merkmalen, wobei jedoch Fritsch
selbst zugiebt: »Man würde nach der Betrach-
tung der Vorder- und Seitenansicht allein nicht
wohl im Stande sein den charakteristischen Ty-
pus zu erkennen, wenn man nicht die Norma
verticalis zu Hülfe nimmt«. Allein auch die
»sonderbare« auf Tafel XXXIII in der That
auffallende Dolichocephalic der Hottentotten-
schädel steht durchaus nicht unvermittelt den
Kaffern und Buschmännern gegenüber.
Ja auch über die von einander abweichen-
den Gesichtszüge der Kaffern, Hottentotten und
Buschmänner liesse sich von Jemanden , der
nicht durch den Augenschein, sondern nach Pho-
tographie und Beschreibung sein Urtheil sich
gebildet, manches einwerfen, doch darf hiervon
wohl um so eher Abstand genommen werden,
als Fritsch selbst das Missliche dieser Partie
der Beschreibung erkannt hat, indem er näm-
lich sagt, (S. 410): »Doch möge es genug sein
mit der Beschreibung der Gesichtszüge, welche
durch Worte überhaupt nicht zuverlässig ver-
gegenwärtigt werden können c.
Betreffs der craniologischen Unterscheidungs-
Fritsch, Die Eisgeborenen Südafrika^ 451
merkmale der Hottentotten und Buschmänner
gilt wieder so ziemlich dasselbe wie oben. Die
Zahl der Fritsch zu Gebote stehenden Busch-
mannschädel (5 <f und 3 $) ist eine viel zu ge-
ringe, als dass es gestattet wäre grossen Werth
zu legen auf die Differenzen, welche sich zwi-
schen ihnen und den Hottentotten in den Mit-
telzahlen aussprechen. Und ausserdem sind
diese Unterschiede auch zu gering, als dass auf
sie sich eine Sonderung der beiden Ragen
stutzen liesse. Von diesem Punkte abgesehen,
dürfte die Stellung, welche Fritsch den Busch-
männern gegenüber den Hottentotten zuweist
dem wirklichen Verbalten sehr wohl entspre-
chen. Ueberhaupt ist das Bild , welches der
Verfasser von diesem räthselhaften Stamme
entwirft, ein sehr gelungenes. Es ist eine
treue und lebendige Schilderung, die um so
mehr anmuthet, als man ihr das Interesse an-
merkt, das der Verfasser für die Völker hegt,
welche er beschreibt. Nirgends hat sich aber
Fritsch dazu verleiten lassen einen Stamm
auf Kosten der anderen hervorzuheben. Gerade
das erhöht den Werth des Werkes so sehr,
dass der Verfasser den Boden strengster Ob«
jectivität nirgends verlässt. Ja aus diesem
Grunde mag man ihm auch gerne seine Abnei-
gung gegen den Darwinismus verzeihen. Es ist
nicht zu läugnen, dass der Anwendung der
Darwinschen Theorie auf den Menschen zur Zeit
noch viele Bedenken entgegenstehen. Selbst für
Darwin und Häckel war diese Klippe nicht
ohne Gefahr, und die Vorwürfe, welche gegen
Häckels Profilbilder von Rageköpfen erhoben
werden, sind so begründet, dass Häckel diesel-
ben in seiner neuesten (Illten) Auflage der »na-
türlichen Schöpfungsgeschichte« ganz weggelassen
35*
452 . Gott gel. Anz. 1873. Stück 12.
hat. Allein abusns non tollit usum und wenn
Fritsch auch mit Recht zu Vorsicht und Ob*
jectivität ermahnt, so geht er doch entschieden
in seiner Opposition zu weit, indem er die
grosse Bedeutung der Descendenzlehre ganz
verkennt, gleichsam das Kind mit dem Bade
ausschüttend.
Ich kann es zum Schlüsse nicht unterlassen,
noch einmal auf die Stellung zurückzukommen,
welche ich zu dem craniologischen Theile des
Fritsch'schen Werkes eingenommen habe. Ich
wiederhole, dass das Bemerkte ebensowohl für
eine Anzahl anderer craniologischer Arbeiten
gelten könnte, und dass ich weit davon ent-
fernt bin, den Werth des vortrefflichen Materials
zu verkennen, welches auch in diesem Theile,
namentlich in den Tafeln enthalten ist. Andere
werden sicherlich in günstigerer Weise urthei-
len, aber auch diejenigen, welche der obigen
Beurtheilung sich anschliessen sollten, werden
sicher den eminenten Werth des Fritsch'schen
Werkes zu würdigen wissen, welches entschieden
zu dem Besten zählt, das seit langer Zeit auf
anthropologisch-ethnographischem Gebiete gelei-
stet worden.
Göttingen. Dr. H. v. Jhering.
Brandes, D. Friedr. : Geschichte der kirch»
liehen Politik des Hauses Brandenburg. 1. Band:
Geschichte der evangelischen Union in Preussen.
2. Theil: Die Zeit der Unionsstiftungen. Gotha,
Fr. Andr. Perthes, 1873. 611 Seiten,
Es war ursprünglich die Absiebt, in diesem
2. Theile die Geschichte der evangelischen Kir-
Brandes, Gesch. d. kirchl. Pol. d.H.Brandenb. 453
che in Preussen zu Ende zu fuhren. Doch
zeigte sich der Stoff seit Friedrichs des Grossen
Zeit zu gross, um, wenn das Werk mehr, als
einen blossen Abriss liefern sollte, mit dem gan-
zen Best in einem Bande fertig werden zu kön*
nen. Namentlich aber schien es auch wün-
sch ens wer tb, der Zeit seit dem Regierungsantritt
Friedrich Wilhelms IV., ohne Frage diejenige,
in welcher unsre gegenwärtigen kirchlichen Zu-
stände die besondre Gestalt gewonnen haben,
die sie nun einmal angenommen, einen grösseren
Baum zu geben, und auch die lange Regierungs«
zeit Friedrich Wilhelms III. liess sich nicht in
der Kürze abthun, zumal wenn, was doch des
Buches Aufgabe sein musste , das Werden und
Sichgestalten der Unionskirche in seinen zu
Grunde liegenden Motiven und in dem Kampfe
mit den Parteien jener Zeit eingehend und ge-
nau nachgewiesen werden sollte. So hat der
Verf. den vorliegenden Band denn mit dem Tode
Friedrich Wilhelms HL abgeschlossen; doch hofft
er den 3. Theil der Geschichte der evangeli-
schen Union in Preussen, die Zeit seit 1840
behandelnd, in nicht allzu langer Frist, wenn
Gott Kraft läset , noch vor Ende d. J. liefern
zu können.
Was nun die Einrichtung dieses 2. Theils
betrifft , so nimmt die Regierungszeit Friedrich
Wilhelms III. den grössten Raum in demselben
in Anspruch. Der Verf. hat gemeint, gerade hier
ein wenig sehr in das Einzelne gehen zu sollen
sowohl in der Schilderung der Zeit, in welcher
der Grunder der Union sein Werk gestiftet hat,
hinsichtlich der kirchlichen und allgemein gei-
stigen Verhältnisse, als auch in der Darstellung
der Motive des Königs und seiner Rathgeber
selbst und eben so in der der Parteien zur Rech«
454 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 12.
ten und Linken, im Widerstreit mit denen der
König sein Werk zu Stande bringen mnsste und
durch die es dann freilich auch in seiner ur-
sprünglichen Idee nicht wenig modificirt worden
ist. Je mehr dem Werke Friedrich Wilhelms III.
bis auf diesen Tag von den Widerstrebenden
vorgeworfen worden ist, es sei lediglich ein Werk
der Willkür dieses Monarchen gewesen, seiner
subjectiven Reliffionsricbtung , wenn nicht gar
einer blossen politischen Berechnung, desto mehr
war es zunächst nöthig, in's Licht zu stellen,
wie dasselbe ganz im Gegentheil lediglich als
ein Werk jener Zeit überhaupt erscheinen muss,
als eine Forderung, welche die ganze vorher-
gehende Entwicklung des kirchlichen Lebens an
die Kirche und die Leiter derselben stellte, und
wie die Widerstrebenden jener Zeit vielmehr
einen Act subjectiver Willkür, wenn auch im-
merhin von einer eigentümlich gefärbten per-
sönlichen Frömmigkeit eingegeben, begangen
haben, indem sie sich einem Bestreben und Un-
ternehmen entgegen stellten, zu welchem in da-
maliger Zeit sich die hellsten Köpfe und frömm-
sten Herzen der Nation die Hände reichten.
Die88 ist denn der Zweck der ersten Kapitel des
Buches, in denen die Umbildung des christlichen
Bewusstseins im Laufe des vorigen Jahrhun-
derts unter der Regierung Friedrichs des Gros-
sen und namentlich die Auflösung des confes-
8ionellen Gegensatzes zur Darstellung zu brin-
gen versucht worden ist, und hoffentlich ist es
dem Verf. gelungen zu zeigen, wie die Union
eigentlich doch nur die reife Frucht war, wel-
che damals von dem Baume der ganzen geisti-
gen Entwicklung des evangelischen Volkes in
Deutschland fiel. Weiter musste dann die Per-
sönlichkeit Friedrich Wilhelms HI. selbst
Brandes, Gesch. d.kirchl.Pol. d. H. Brandenb. 455
sichtlich ihrer religiösen Richtung geschildert
werden, da ja allerdings die Union, so sehr sie
ein Werk der ganzen Zeit ist, doch auch wie-
der als das eigenste Werk dieses Königs he«
trachtet werden muss, und zwar war es nöthig,
den König selbst darzustellen als ein Kind sei«
ner Zeit und seine eigentümliche religiöse Fär-
bung zu begreifen aus den Schicksalen, welche
er mit seiner Zeit und gerade er in so vorzüg-
lichem Maas8e hat durchleben müssen. Nur so
freilich ist es möglich, diesem Könige völlig ge-
recht zu werden und die innersten Triebfedern
seines Handelns zu begreifen, aber nur so ge-
winnen auch die Bemühungen, denen er für
Herstellung des kirchlichen Wesens in seinem
Lande besonders nach der Vertreibung der Fran«
zosenherrschaft unternommen bat, erst das
rechte Licht, auch wohl ein versöhnliches Licht
in dem, worin man mit ihm nicht übereinstim-
men, was man vielmehr als eine Schwäche und
als eine Schädigung seines Werkes betrachten
möchte. Endlich kam es dann darauf an zu
zeigen, wie das Werk unter Annahme und Wi-
derstreben von den verschiedenen Seiten her all«
mälig zwar in die evangelische Kirche des preus»
eischen Staates eingedrungen ist, so dass es von
da an den specifischen Charakter derselben aus-
macht — gerade dass es an den durch und wi-
der dasselbe erregten Streitigkeiten trotz aller
Heftigkeit derselben nicht hat zu Grunde gehen
können, beweist wohl am Besten seine geschicht-
liche Berechtigung — aber wie es eben dadurch
auch Hemmungen erlitten und jene unvollendete
Gestalt bekommen hat, in der es noch jetzt da-
steht und aus der es herauszufuhren noch Ar-
beit genug, am Ende audi noch fur unsre Nach-
komme», zu thua sein wird. Hier galt es auf
456 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 12.
der einen Seite den Kampf zu schildern, in wel-
chen bald einer der hauptsächlichsten Förderer
der Union, Schleiermacher selbst, den man ne-
ben dem Könige wohl als den »Vater der Union c
bezeichnen dürfte, durch die Agendensache ver-
wickelt und im Verlaufe derselben fast dahin
gebracht wurde, dem Unionswerke selbst den
Backen zu kehren, um nur den unliebsamen
und unerträglich scheinenden Forderungen zu ent-
gehen, die man im Namen der Union von Sei-
ten des kirchlichen Regimentes an ihn nun
meinte stellen zu dürfen ; und auf der anderen
Seite galt es, die altlutherische Opposition dar«
zustellen, wie sie, von Schlesien ausgehend und
durch den Breslauer Professor Scheibel ange-
regt und geleitet, in principieller Weise das
Unionswerk zu bekämpfen suchte, es als ein Ver-
derben der Kirche anstatt als ihre weitere Fort-
bildung betrachtend. Je mehr gerade diese
Vorgänge auf die Gestaltung der Union und
damit der evangelischen Kirche in Preussen ein-
gewirkt haben, ja für dieselbe in vieler Hinsicht
geradezu bestimmend gewesen sind, um so mehr
musste auch die Darstellung näher auf sie ein-
gehen, und zwar so, dass sie dieselben in ihren
innersten Motiven zu erkennen und aufzuzeigen
suchte und sich namentlich bemühte, den rein
objectiven Gesichtspunkt zu bewahren, der auch
dem Gegner sein Becht giebt und auch vor den
mannigfachen und sehr verhängnissvollen Miss-
griffen die Augen nicht verschliesst , deren die
Förderer eines an sich guten und notwendigen
Werkes sich schuldig gemacht und wodurch sie
es, wie nicht verhehlt werden darf, dann selbst
zum Theil haben verderben und verunstalten
helfen. Diess Alles in seiner geschichtlichen
Wahrheit zu schildern und so das Werk der
Brandes, Gesch. d. Krchl. Pol. d. H. Brandenb. 4ST
Union, wie es der gegenwärtige kirchliche Zu-
stand in Preussen uns zeigt, eben in seinem ge-
schichtlichen Werden zu begreifen , ist die Ab«
Bicht des Verf. gewesen, und vielleicht wird man
finden, dass er es wenigstens an einem ein-
gehenden Benutzen der Quellen nicht hat fehlen
lassen, um seiner Aufgabe Genüge zu thun.
Die Zeit Friedrichs des Grossen, womit die
Darstellung in diesem Bande beginnt, hat er
gemeint, weniger eingehend behandeln zu sollen,
eben so wie die Friedrich Wilhelms II., in wel-
cher Herr v.Wöllner das Gultusdepartement ver-
waltet hat. Für positive Gestaltung des kirch-
lichen Zustandes hat Friedrich der Grosse und
seine Zeit kaum Etwas beigetragen. Sein Ein-
wirken war doch eigentlich ein rein negatives,
und seine Aufgabe im Verlauf der kirchlichen
Entwicklung bestand vielmehr darin, dass er ge-
holfen hat, die Hindernisse hinweg zu räumen,
welche in der Zeit des Confessionalismus einer
kirchlichen Vereinigung der Evangelischen auch
in Preussen entgegen standen. Daher war es
denn auch hinreichend, diesen Verlauf im All-
gemeinen zu schildern, ohne auf mancherlei Ein-
zelheiten einzugehen, und eben so konnte der
verunglückte Versuch, in rein äusserlicher Weise
einen kirchlichen Positivismus herzustellen, wie
ihn Friedrich Wilhelm H. und sein Wöllner vor-
eilig und thörichter Weise machten, wohl mit
einer kurzen Darstellung abgethan werden, da
derselbe schon gescheitert war, als er kaum be-
gonnen hatte. Alles musste in diesem Bande
um das Unionswerk Friedrich Wilhelms HI.
selbst sich zusammen drängen.
Für passend wird man es ohne Zweifel er-
kennen, dass die Geschichte der rheinisch-west-
fälischen Kirche in einer gesonderten Darstel-
458 Gott, gel. Am. 1873. Stück 12.
lung gegeben worden ist. Nicht bloss dass die
Darstellung selbst dadurch erleichtert wurde: es
war auch an und für sich so geboten, da die
Kirche oder besser die Kirchen der westlichen
Provinzen bis dahin immer ein von der übrigen
Monarchie gesondertes Leben geführt hatten
und da auch die Reorganisation derselben nach
der Zeit der französischen Occupation und die
Unionsstiftung in ihnen einen gesonderten Ver-
lauf genommen hat. Doch dürfte gerade auch
auf das Kapitel, das diesen Verlauf behandelt,
besonders zu achten sein: es ist da doch vieles
Lehrreiche, das auch jetzt noch beherzigt zu
Werden verdient.
Die beiden letzten Kapitel schildern den
Verlauf der wissenschaftlich-theologischen Ent-
wicklung in Preussen während der Zeit Frie-
drich Wilbelm'8 m. Es konnte diese Darstel-
lung der Anlage des ganzen Werkes gemäss nur
kurz und übersichtlich sein; doch hat sich der
Verf. bemüht, die Hauptmomente bestimmt her-
vorzuheben und namentlich auch das Verhalten
der Staatsregierung dieser Entwicklung gegen-
über zu charakterisiren. Es gehört diese Par-
tie ohne Zweifel zu den Glanzmomenten der
Regierung Friedrich Wilhelm's III. und hoffent-
lich wird man in Preussen nicht aufhören , in
den Wegen freier Wissenschaltlichkeit zu wan-
deln , wie sie damals von der Regierung be-
schirmt wurden. Das kirchliche Leben würde
doch am Ende auch nur davon Nutzen haben,
da die Erfahrung doch längst gezeigt hat, dass
alle Unterdrückung oder Missleitung des wissen-
schaftlichen Geistes auch für das kirchliche
Leben nur von Schaden sein kann. Die Kirche,
in der Wahrheit sein soll, bedarf auch der
freien und stets wieder reinigenden Wissenschaft ,
f
Paul Roth, Bayrisches Civilrecht. 2. Th. 459*
wenn sie nicht Gefahr laufen will, selbst in Irr«
tbum und Aberglauben und schliesslich in dem
wüstesten Hierarchismus und Infallibilismus einer
herrschsüchtigen Priesterschaft zu Grunde zu
gehen. Möge Preussen gerade nach dieser Seita
hin alle Zeit seines Berufes und Amtes walten!
F. Brandes;
Paul Both, Bayrisches Ciyilrecht. Zweiter
Tbeil. Tübingen 1872 (H. Laupp). XHI und
603 Seiten in Octav.
Der erste Band des vorliegenden Werkes,
welcher in diesen Blättern schon früher (Jahr-
gang 1871, S. 28 ff.) zur Besprechung gebracht
worden ist, enthielt die Lehre von den Rechts-
quellen und das Personenrecht (mit dem ge-
sammten Familienrecht). Jetzt bringt der zweite
Band das Sachenrecht: Gap. 1, von den Sachen
im Allgemeinen ; Gap. 2, das Eigenthum ; Cap. 8,
die Dienstbarkeiten; Cap. 4, Reallasten; Cap. 5,
Pfandrecht; Gap. 6, dingliche Nutzungsrechte
(LehnrechtfFamilienfideicommiss^andwirthschaft-
liehe Erbgüter, Platzrecht). Das Bergrecht,
Jagdrecht und Wasserrecht sind vom Sachen-
recht ausgeschieden und sollen als »Regalien«
(Rechtsverhältnisse aus ehemaligen Regalien) ne-
ben den »Monopolien«, d. h. den dinglichen Ge*
werbsrechten, welche für Baiern ihre Bedeutung
noch nicht ganz verloren haben, im dritten
Bande zur Darstellung gelangen. Der dritte
Band soll überdies das Erbrecht enthalten, und
damit vorläufig den Schluss der Arbeit. Daa
Obligationenrecht, welches nach dem Ursprung»
des Verfassers den dritten Band ein*
460 Gott, gel Anz. 1873. Stück 12.
nehmen sollte, ist jetzt von dem Plan der Ar-
beit ausgeschlossen, weil inzwischen (der erste
Band erschien Ende 1870) die Reichsgesetzge-
bung für diesen Theil des bairischen Privatrechts
competent geworden ist.
Die Arbeit des Verfassers nimmt ein glei-
ches Interesse für die Wissenschaft des römi-
schen und fur die Wissenschaft des deutschen
Privatrechts in Anspruch.
Auf dem Gebiet des Pandektenrechts
stehen wir noch immer unter dem Einfluss der
von Savigny begründeten Methode. Obgleich
Schöpfer der historischen Schule hat Savigny
doch die historische Entwickelung in Deutsch-
land ausser Kraft gesetzt. Sein Werk ist die
Revolution, die Auflösung des Usus modernus
Pandectarum durch das reine römische Recht.
Von dem Moment, in welchem Savigny das
Corpus Juris gewissermassen neu entdeckte, kön-
nen wir eine neue Reception des römischen
Rechts datiren. Mit den Rechtssätzen, welche
der Usus modernus zum Theil auf einheimisch
deutscher, zum Theil auf italienischer Grund-
lage an das Corpus Juris angesetzt hatte, ward
als mit Missverstandnissen des römischen Rechts
gebrochen und das Gesetzbuch Justinians trat
auPs Neue in unverminderte und unveränderte
Geltung. Unsere Pandektenlehrbücher pflegen uns
zwar zu versichern, dass als Pandektenrecht nur
das römische Recht in seiner heutigen gemein-
rechtlichen Gestalt darzustellen sei. Nichtsdesto-
weniger ist noch jetzt das Corpus Juris die fast
ausschliessliche Quelle, aus welcher das »heu-
tige« römische Recht geschöpft wird. Es scheint,
dass es den Germanisten vorbehalten ist, auf
Grundlage der Jahrhunderte langen Entwicke-
lung, welche zwischen uns und dem Corpus Ju-
Paul Roth, Bayrisches Civilrecht. 2. Tb. 4SI
zis steht, dem >heutigen« römischen Recht seine
wahre Gestalt zurück zu geben. Das Buch von
Both vermag gerade in dieser Richtung vor-
trefflichen Dienst zu leisten.
Das Bairische Landrecht ist ebenso wie das
Preussische Landrecht auf Grandlage des am
Ausgang des vorigen Jahrhunderts zu Recht be«
stehenden Usus modernus Pandectarum erwach«
sen. In noch höherem Grade als das Preus-
sische stellt das Bairische Landrecht eine Codi-
fication des damals auf Grundlage des römischen
Rechts entwickelten gemeinen deutschen Rech-
tes dar. Mit dem Bairischen Landrecht selbst
läs8t der Verfasser in seinen Noten dessen gei-
stigen Urheber und Commentator, Kreittmayr,
vor uns auftreten, der mit seiner kernig-naiven,
anschaulichen Darstellung uns die Wissenschaft
des Usus modernus von ihrer besten Seite zu
zeigen im Stande ist. Wir stehen in der Zeit
vor Savigny, auf dem festen Boden, den die
constante Tradition von Jahrhunderten geschaf-
fen. Die Frucht der wissenschaftlichen Erkennt-
niss ist noch nicht gebrochen, das Wissen von
Gut und Böse noch nicht in die Welt gekom-
men. Wir begegnen hier den im deutschen
Rechtsleben eingewurzelten Rechteanschauungen,
welche, damals unbestritten herrschend, wenn-
gleich uns manches Mal vorweltlich anmuthend,
dennoch auch heute noch fordern, dass die Wis-
senschaft des gemeinen Rechts sich mit ihnen
auseinandersetze. Hier ist zu erinnern an die
Ausdehnung der Mobiliar- und Immobiliarqua-
lität auf alle Vermögensstücke (S. 4), an den
Rechtssatz, dass auch Sachgesammtheiten (uni-
versitates rerum distantium) als Einheit Rechts-
object nnd Besitzobject sein können (S. 14), an
die Erstreckung des Grundeigen thums »bis an
462 . Gott, gel Anz. 1873. Stuck 12.
den Himmel« und »bis an die Holle« (S. 6.
Note 17. S. 45. Note 79), an die Sanctiomruog
eines Nutzeigenthums neben einem Obereigen-
thum, in dessen Auffassung das Bairische Land-
recht darin vom Preussischen sich unterscheidet,
dass es nicht zugleich; wie dies im Preussischen
Landrecht geschieht, ein Miteigentum des
Nutzeigenthümers an der »Proprietät« annimmt
(S. 48). Die res publicae pflegen noch jetzt
unter den res extra commercium als eigenthums-
unfähig aufgeführt zu werden. Das Bairische
und Preussische Landrecht vermögen zu zeigen,
dass dieser Satz in Deutschland nicht recipirt
ist, vielmehr nach dem heutigen römischen
Recht die res publicae im Eigenthum des Staa-
tes oder der Gemeinden stehen (S. 29). Das
Missionsverfahren zum Zweck der Erlangung
einer cautio damni infecti, welches noch jetzt in
unserem »Pandektenrecht« so sorgfaltig behan-
delt wird, ist von ebenso zweifelhafter Geltung,
wie der im Bairischen Landrecht codificirte
Usus modernus Pandectarum des 18. Jahrhun-
derts zu zeigen im Stande ist (S. 81)* Der ge-
meinrechtliche Satz, dass der Besitzesschutz ein
gleicher ist für Sachen und Rechte, der in den
randektenlehrbüchern ganz mit Unrecht in den
Hintergrund zu treten pflegt, empfangt hier neue
Bestätigung und Beweis (S. 102 ff, 138 fl.), und
zugleich seine dogmatische Grundlage in der
Anschauung des Bairischen wie des Preussischen
Landrechts, nach welcher der Eigenthumsbegriff
und der Eigenthumsschutz in gleicher Weise auf
Rechte wie auf Sachen Anwendung findet (S.
32 ff. 37 ff.). In der Auffassung des Miteigen-
thums weichen das Bairische und das Preus-
sische Landrecht von einander ab. Das Bai-
rische Landrecht setzt die mehreren Miteigen-
Paul Roth, Bayrisches Civilrecht. 2. Th. 4«fc
thämer »sammentlich für einen Manne und
nimmt nur eine Theilung des Werthes der Sache
an, während das Preussische Landrecht den
Sachkörper ideell getheilt und »besonderes
Eigen thumc jedes T heil nehm ers an der Sachquote
denkt (S. 59. 60). Es ist klar , dass dort die
deutschrechtliche, hier die römischrechtliche Auf-
fassung zu Grunde liegt. Eine in hohem Grade
eigentümliche Form des Miteigentums ist das
in bairischen Statuten begegnende »Herberge-
rechte, d.h. ein Eigenthum an einzelnen Wohn-
räumen eines Hauses, also, das Haus als eine
Sache gedacht, ein Miteigenthum zu reellen
Theilen (S. 56 ff.). Der Verfasser zeigt (S. 57.
Note 36), dass dieselbe Art der Eigenthums-
theilung in anderen Partikularrechten, im fran-
zösischen Recht, in Sachsen-Meiningen, in Frank-
furt, in Würtemberg entwickelt ist. Der ge-
meinrechtlichen Wissenschaft fehlt die Kategorie
for ein Recht dieser Art, ein deutliches Zeichen,
dass entweder der Sachbegriff oder der Mitei-
genthumsbegriff der gemeinrechtlichen Wissen-
schaft ein einseitiger ist.
Andererseits gewährt das Werk des Verfas-
sers für die Wissenschaft des technisch soge-
nannten deutschen Privatrechts reiche
Ausbeute. Auf diesem Gebiet haben unsere
Darstellungen in der Regel zugleich mit der Un-
sicherheit und mit der Gestaltlosigkeit des auf
deutscher Wurzel ruhenden gemeinen Rechts zu
kämpfen. Hier erhalten wir die Schilderung
einer Reihe von Rechtsinstituten in der concre-
ten Form, welche ihnen die partikularrechtliche
Ent Wickelung Baierns gegeben hat. So die Fa-
milienfideicommisse (S. 548 ff.), das Lehnrecht
(S. 502 ff.), die Reallasten (S. 329 ff.). Unter
den Reallasten, welche in Baiern noch heute in
464 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 12.
jeder Form neu begründet werden können,
nimmt besonderes Interesse das »Ewiggeld € in
Anspruch. Das Ewiggeld (S. 356 ff.) ist die in
München noch jetzt übliche Form aee Renten*
kaufs» Es kann nur an Grundstücken innerhalb
des Burgfriedens der Stadt München begründet
werden. Es entsteht durch Eintragung in das
Grundbuch, und geht formell nur durch Lö-
schung im Grundbuch unter. Der Inhalt des
Hechts ist ein wiederkäufliches Rentenrecht.
Der Ewiggeldschuldner haftet nicht persönlich!
so dass dem Ewiggeldgläubiger nur das Grund-
stück als Befriedigungsobject dient. In Conse-
quenz der dinglichen Natur des Rentenrechts
haftet hiernach jetzt auch für die Rückstände
nur das Grundstück, also der jedesmalige Ei-
genthümer mit dem Grundstück für alle Rück-
stände, während bei allen anderen Reallasten
das bairi8che Recht zu dem modernen Rechts-
satz übergegangen ist, dass die einzelnen fällig
gewordenen Leistungen als persönliche Schulden
auf dem Vermögen des damaligen Eigen-
tümers haften. In der Execution der Ewig-
geldschuld begegnet der >Span- und Wasen-
gchnitt«, die altherkömmliche Form für die ge-
richtliche Beschlagnahme des Grundstücks, d. h.
für den Beginn der Execution (vgl. Grimm,
R. A. S. 174. 112 ff.).
Aus dem modernen bairischen Recht sind
zwei Rechtsinstitute hervorzuheben, der nota-
rielle Verbriefungszwang für alle Rechtsgeschäfte
über Immobilien und das Hypothekenrecht.
Das Streben der neueren Entwickelung, die
Verfügungsacte über Grundstücke zu öffentlichen
Acten zu machen, hat in Baiern eine ganz
eigentümliche Form der Befriedigung gefunden.
Die Rechtsgeschäfte über Immobilien sind als
Paul Both, Bayrisches Civilrecht. 2. Th. 465
solche nicht der Eintragung in ein öffentliches
Buch (dies begegnet nor ausnahmsweise, z. B.
bei der Hypothek und dem Ewiggeld), wohl
aber der Aufnahme in einen notariellen Act un-
terworfen. Trotzdem bildet auch dieser relativ
öffentliche Vorgang nicht den Erwerbsgrund,
sondern nur seine Vorstufe. Die Errichtung
der Notariatsurkunde ist den Erwerbsgründen
der einzelnen dinglichen Rechte nur hinzuge-
fugt worden. So geht das Eigenthum auch an
Grundstücken durch Tradition über (entspre-
chend den Rechtssätzen des gemeinen Rechts),
qber damit die Tradition für Grundstücke wirk-
sam sei, muss der Tradition die notarielle Ver-
briefung vorangegangen sein. Das Ewiggeld
wird durch Eintragung in das Grundbuch, die
Hypothek dnrch Eintragung in das Hypotheken-
buch erworben, aber den Titel zur Eintragung
bat hier wie dort ein notariell verbriefter Ver-
trag zu bilden, sodass selbst die von dem
Schuldner persönlich vor dem Hypothekenamt
erklärte Bewilligung der Hypothekbestellung jetzt
nicht mehr einen zur Eintragung genügenden
Titel bildet (S. 153 ff. 362 ff. 435). Es lässt
sich bezweifeln, ob diese durch das Notariats^
fesetz vom 10. November 1861 geschaffenen
Teuerungen einen glücklichen Gedanken des bai-
rißchen Rechts repräsentiren.
Auoh das bairische Hypothekenrecht cha-
r*kterisirt (sich durch eine nur theilweise Durch-
führung der modernen Rechtsgedanken. Das
Hypothekenrecht erscheint noch als ein accesso-
riscbqs Recht neben einem Forderungsrecht (S.
404). Daher geht durch die notariell ver-
briefte Cession der Forderung ipso jure auch
das Hypoth^kenrecht über (S. 452 ff.). Durch
JLöachong einer Hypothek rücken die nachfolgen-
de
466 Gott. gel. Anz. 1673. Stuck 11
den Hypotheken nach der Ordnung ihrer Ein«
tragung im Rang vor (S. 465). Die Eintragung
des Eicenthümers in das Hypothekenbuch dient
nicht dem Eigenthumserwerb, sondern nur den
Zwecken der Hypothekbestellung (S. 152. 397 ff.).
Das Princip der Publicität ist in seinen Conse-
quenzen gebrochen, denn neben der Hypothek,
welche allerdings nur durch Eintragung in das
öffentliche Buch entsteht und nur durch Lö-
schung formell untergeht, ist das Faustpfand-
recht an Grundstücken durch Besitzübertragung
mit notariell verbrieftem Vertrag ohne Eintra-
gung erhalten worden: der eingetragenen Hypo-
thek steht nur ein Vorzugsrecht vor dem Faust-
pfandrecht zu (S. 482 ff. 383). Von diesen
Punkten abgesehen, ist das bairische Hypothe-
kenrecht allerdings gemäss den modernen Rechts-
anschauungen ausgebildet. Die Eintragung und
die Löschung haben, wie schon bemerkt, ihre
auch sonst anerkannte formelle Wirkung.' Die
provisorische Eintragung (Vormerkung) und die
provisorische Löschung (Verwahrung) sind ent-
wickelt, um die Wirkungen eines bestrittenen
Eintragungs- oder Löschungsrechts zu antici-
piren (S. 388 ff.). Der gutgläubige Dritte erwirbt
die Hypothek nach Massgabe des buchmässigen
Thatbestandes ohne Rücksicht auf die unterliegen-
den Rechtsverhältnisse (S. 408 ff.). Das Princip
der Specialität ist anerkannt (S. 412). Der Zeit-
punkt der Eintragung bestimmt die Priorität (S.
464). Die Realisirung des Hypothekenrechts er*
folgtim Wege des Executionsverfahrens (S. 458 ff.).
Als eine Specialität des bairischen Rechts
sollen die »landwirtschaftlichen Erbgüter« auf-
geführt werden (S. 592 ff.). Sie sind eine Er-
findung der neueren bairischen Gesetzgebung
(Gesetz vom 22. Februar 1855) und sollen für
kleinere Güter das Familienfideicommiss (wel-
Paul Rath, Bayrisches Civilrecht. 2. TL 467
ches nach bairi schein Recht ein Grundstück mit
einem schuldenfreien Werth von 25 fL Grund-
eteuersimplum fordert) ersetzen. Das landwirth-
schaftliche Erbgut (es muss einen schuldenfreien
Werth von 6fl. Grundsteuersimplum repräsenti-
ren) ist ein durch Verfugung seines Eigenthü-
Biers an die Familie gebundenes, in Veräusse-
rung, Belastung, Vererbung Beschränkungen
unterworfenes Grundstück. Von der Erfindung
ist kein Gebrauch gemacht worden. Bis jetzt
Bind in ganz Baiern nur vier Erbgüter errichtet.
Die partikularrechtliche Zersplitterung des
bairi8chen Privatrechts findet trotz der vielfach
eingreifenden neueren Gesetzgebung auch auf
dem Gebiet des Sachenrechts noch heute ihren
lebendigen Ausdruck. Sie vermag zu bewir-
ken, dass ein und dasselbe Sachenrecht in den
verschiedenen Landestheilen völlig verschiedene
juristische Gestalt gewinnt. Einen Beleg bietet
das Platzrecht. Nach Bairischem Landrecht ist
es als Nutzeigenthum, nach Preussischem Land-
recht als eine Art der Servituten, in den Ge-
bieten des gemeinen Rechts als dingliches
Nutzungsrecht zur Ausübung fremden Eigen-
thums aufzufassen (S. 599). Es ergiebt sich
daraus die praktische Gonsequenz, dass der In-
haber des Platzrechts im Gebiet des Bairischen
Landrechts das Grundstück, im Gebiet des gemei-
nen Rechts der Form nach nicht das Grundstück,
sondern sein Recht am Grundstück (es bildet
im Hypothekenbuch als dingliches Nutzungsrecht
ein eignes Hypothekenobject) zu verhypotheciren
berechtigt ist, während das Platzrecht im Ge-
biet des Preussischen Rechts als Servitut vom
Hypothekenbuch überhaupt ausgeschlossen ist
(S. 601 Note 17).
Aus dem Vorigen mag erhellen, wie mannich«
86?
466 08« ' ^n,
J160 ^ /* ^* Wissenschaft ans
5* j** <*Lf£* *u ziehen im Stande
^*-* *&f"l!#>bt mit 8einen auf das
^p^*j^*^Jrf das ältere deutsche, auf
^U^^cbt zurückgehenden Grundge-
(^f^^f'ch *• ^ild e*ner m^ den inne-
^ dtff^ Wissenschaft gerückt worden.
>^i, tWfcben ihrer mannichfachen Elemente
fJ^iW^pgrfciknlarrechtlichen Entwickelang,
tf^pftfyje Arbeit in den Gesichtskreis der
** **hen ffissenschaft gerückt worden.
dev'f'Zgsbnrg. Rudolph Sohm.
Grammatik der biblisch-chaldäischen Sprache
«od des Idioms des Thalmud Babli. Ein Grund«
fias von Samuel David Luzzatto, weil.
Prof. am Istituto Rabbinico zu Padua. Aus
dem Italienischen mit Anmerkungen herausge-
Saben von Dr. Marcus Salomon Krüger,
reslau, 1873. Schletter'sche Buchhandlung.
XIII und 124 S. in 8.
Der vor einigen Jahren verstorbene Verf.
dieses neuen Buches gab 1836 zu Padua Prole-
gomeni ad una Grammatica ragionaia della
lingua ebraica heraus, auf welche er auch hier
ebenso wie auf seine <lann seit 1853 wirklich
ausgeführte in Heften erschienene Hebräische
Sprachlehre in der Vorrede zurückweist. Es
ist wirklich bisweilen ganz nützlich auf die Be-
ttrtheilungen zurückzukommen welche eine
Schrift schon vor 30 bis 40 Jahren erfahren
hat, ammei8ten wenn es sich so wie in diesem
Falle trifft, dass es noch derselbe Beurtheiler
ist welcher einst schon über eine Schrift ver-
wandten Inhaltes und von demselben Verfasser
zu reden hatte. Und so möge es dem Unterz.
gestattet sein hier an die Worte in diesen Gel.
Luzzatto» 6xanunatikd.bihlisch-chald.Spr. 469
Anz. 1837 S. 1317 ff. zu erinnern welche jene
Prolegotneni betrafen, Sie hoben besondere her«
▼or class, wenn man sich in der Wissenschaft
rühmen wolle alles auf Vernunft d. i. auf ge-
sunde sachliche Grunde zurückzuführen, man
damit Ernst machen müsse, um nicht mit einem
(wenn richtig verstanden) zwar richtigen und
erlaubten aber sehr hohen Namen mehr ein
Spiel und ein Rühmen als einen wirklichen Ernst
zu treiben. Es ist wohl besser zumahl auf den
Aufschriften von Büchern solche in Deutsch-
land durch Kant eingeführte Verheissungen
ganz auszulassen und nur durch die Behand-
lung jedes besonderen wissenschaftlichen Faches
sogleich den wirklichen Beweis dafür zu führen
dass man allerdings nicht die Unvernunft wolle.
Keinen guten Eindruck macht es aber wenn
man sieht dass 30 bis 40 Jahre später ein
Werk desselben Verfassers und in etwa dem«
selben Fache erscheint welches von dem Walten
eines solchen höchsten Grundsatzes wenige oder
gar keine Spuren an sich trägt. Auch lässt
sich nicht sagen ein solcher Grundsatz, mag
man ihn so oder anders ausdrücken, könne nur
bei sehr ausfuhrlichen Werken seinen Willen
offenbaren: auch das kleinste Buch soll dies,
wenn der Grundsatz wirklich etwas gutes und
notwendiges an sich hat.
Blicken wir jedoch von des Verf. Vorrede
zu der des Deutschen Uebersetzers und Heraus«
gebers dieses Buches hinüber, so finden wir da
ans unserer allerwärmsten Gegenwart eine laute
Klage darüber dass es zwar eine »Legion« le-
bender Thalmudisten gebe (und wo diese leben,
weiss man), »jeder unbefangene und wahrheits-
liebende Mann aber wohl wisse wie äusserst
selten man gerade in dieser Klasse ein gediege»
470 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 13.
nee, gründliches, selbst den massigsten Anforde*
rangen logisch-wissenschaftlicher Methode genü-
gendes Wissen des Thalmud antreffe«, und
dass »es mit ihrer thalmudischen Hermeneutik
gewöhnlich nicht viel besser stehe als es be-
kanntlich mit ihrer Bibelexegese bestellt ist«.
Dieses, setzt der Vorredner weiter auseiander,
wisse er aus eigner Erfahrung am besten. Wir
sehen, aufrichtig ist dies Geständniss: aber was
sollen wir dazu sagen ? Die christlichen Gelehr-
ten haben während des ganzen Jahrhunderts
von dem älteren Buxtorf an bis zu dem höchst
ausgezeichneten, leider nur zu früh verstorbe-
nen Hadrian Reland hin sich aufs eifrigste und
keineswegs unfruchtbar mit dem gesammten Tal-
mud wissenschaftlich beschäftigt, auch schon die
ersten Grundrisse zu einer Grammatik seiner
Aramäischen Sprache vorgezeichnet: und auf
der anderen Seite ist Hr. Luzzatto zu Padua
der erste welcher in unsern Tagen ein Lehr-
buch dieser Sprache verfasst, während der
Ueber8etzer seines hinterlassenen Werkes über
seine gelehrten Zeit- und Religionsgenossen eine
solche Klage anstimmt! Will man denn nicht
endlich begreifen in welchen Zeiten wir wirklich
leben? Wenn eine Religionsgesellschaft die in
unseren Zeiten (worüber wir uns freuen) alle
bürgerliche Freiheit gewonnen hat und neue-
ßtens nach allen Seiten hin so hohe Ansprüche
erhebt , nach dem Urtheile eines so sehr ver-
ständigen Mannes aus ihrer eignen Mitte wie
Dr. Krüger offenbar ist, um das richtige Ver-
Btändniss und die entsprechende Anwendung
ihrer eignen Religionsschriften sich so wenig be-
kümmert, wie auch in den Gel. Anz. früher an
vielen Stellen darüber geklagt ist: was soll
dann alles übrige sich Rühmen? Man bemühe
Luzzatto, Grammatik d. biblisch-chald. Spr. 47 1
sich doch vor allem um die Wissenschaft welche
far das allgemeine Leben ebenso wie für die
allernächsten eigenen Bedürfnisse eine der not-
wendigsten ist, und mische sich bevor darin das
heute unentbehrlichste gethan ist nicht in fremde
Gebiete ein, wie man dieses dort in unseren
neuesten Zeiten so gerne thutt Was aber dabei
zunächst zu erstreben und zu leisten sei, ist
in den Gel. Anz. bei gegebenen Veranlassungen
schon oft erwähnt.
Das hier veröffentlichte Buch macht, wie ge-
sagt, mit einer solchen Wissenschaft wie sie
hier nothwendig ist, noch keinen gründlichen
Anfang: man muss vielmehr behaupten dass die
sprachliche Wissenschaft welche uns hier wie«
der geboten wird, weit hinter dem zurückbleibt
was heute auf dem weiten Felde der Semitischen
Sprachen erstrebbar und erreichbar ist. Man
muss dieses schon von den einzelnen kleinsten
Stücken welche hier vorgeführt werden, d. i. von
den vielen und mancherlei einzelnen Wör-
tern behaupten wie sie hier behandelt werden.
Es ist z. B. heute leicht zu sehen dass ein
Wort wie K»1p>. oder •»jonjj in der Bedeutung
unseres frühest oder vor wegen seines häu-
figsten Gebrauches in den Aramäischen Volks-
mundarten, der Samarischen und anderen, in
mp, •*»£ zusammenfiel: dennoch setzt der Verf.
S.* 72. 104. 109. 114 dafür i»p, und meint es
sei aus einer Bildung 'cn^, entstanden. Allein
diese würde auf ^totf hinweisen, und könnte
den Lauten nach niemals weder in qatnmae
Doch in qämae zusammenfallen. Aber auch
wenn man das Lautgesetz des Syrischen nach
welchem die Verdoppelung eines Mitlautes zwi-
472 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 12«
sehen zwei Vocalen nicht mehr deutlich hörbar
ist auf alle Aramäische Mundarten übertragen
wollte, wozu wir keinen hinreichenden Grund
haben, würde aus *<££. keineswegs im Aramäi-
schen **ȣ entstehen.
Allein* der Verf. beginnt sein Werk über-
haupt nicht so wie es längst heute die Wissen-
schaft fordert, mit der Erforschung und richti-
gen Aufstellung von Lautgesetzen. Vielmehr
sind die » allgemeinen c oder »einleitenden Vor-
bemerkungen«, womit er die zwei Hälften sei-
nes Werkes beginnt, nur ein Sammelplatz für
allerlei. Weiter aber fehlt es ihm auch gänz-
lich an Einsichten in den zweiten der drei
grossen Haupttheile jeder Sprachlehre, die Lehre
von der Wortbildung. Wir wollen dafür nur
einen Beleg geben welcher etwas gewöhnlich gar
nicht beachtetes und doch vielfach wichtiges be-
trifft. Bei der Bildung des Thatwortes in sei-
nen verschiedenen Stämmen ist für das Ara-
mäische kaum etwas so bedeutsames als dass
sich bei näherer Erforschung deutlich ergibt wie
die Passiva in ihm sich bilden. Sie bilden
sich gar nicht, wie man zunächst anzunehmen
geneigt sein möchte , durch den bekannten
Vorsatz -n« hebr. -ritt: sondern dieser tritt
erst zuletzt zu der schon ansich durch inneren
Vocalwandel der Wurzel bestimmten Passivbe-
deutung hinzu, nachdem diese nämlich allmälig
ausser in der Endsilbe für den Laut immer
schwächer und undeutlicher geworden war.
Weil vom einfachen Stamme der Begriff des
Passiven schon in der Aussprache t&Aa, vom
zusammengesetzten in i£>Ld\ und «äAö (statt
uhtdb und kuttäb) liegt, so bildet sich folge«
Luzzatto, Grammatik d. biblisch-cbald. Spr. 473
richtig t oAo/| neben *^AdIZ\ und %jzAd/\*
und man braucht demnach nicht mehr zu fra-
gen warum die letzte Stammsylbe dort mit ef
hier mit a gesprochen werde. Wir haben also
auch hier das Gesetz durchgeführt dass im Se-
mitischen der innere Vocalwandel ursprünglicher
sein kann, und äussere Zusätze erst dann neu
eingreifen und übermächtig werden wo jener zu
schwach wird. Bei starken Wurzeln nun ent-
wickeln sich weiter keine Folgen davon, sodass
eine oberflächliche Betrachtung dies alles leicht
übersehen könnte: anders ist es aber bei d£n
Wurzeln welche man mit den alten Arabischen
Sprachgelehrten nicht unpassend die hohlen
oder mit den Hebräischen die Wurzel & nen-
nen kann. Bei diesen bildet sich das Passivum
des einfachen Stammes so wie 'ptn*; Dan. 4, 9,
das des Gausalstammes so wie triänp, Mehrheit
•poion*; Dan. 2, 5. Ez. 4, 21. 5, 8; beides so
dass* (lie langen Selbstlaute bei diesen Wurzeln
ganz den kurzen dort entsprechen: aber eben
die Länge der Selbstlaute hebt den gewaltigen
Unterschied in der Bildung beider Arten von
Stämmen desto deutlicher hervor, und beweist
die ganze tiefe Gewalt der Bildung. Das älteste
Aramäische welches wir heute besitzen, bestätigt
demnach vollständig dieses wichtige Bildungsge-
setz, und gibt zugleich einen sehr willkommenen
Beweis dafür dass das Aramäische sowohl wie
das Hebräische D^to setzen erst aus tpizm abge-
kürzt ist, obwohl das Syrische >cua>2Z| bereits
den Unterschied verwischt. Was aber der Vf.
S. 28 f. darüber sagt, ergiebt sich hieraus in
seiner Grundlosigkeit von selbst.
Wir haben dies eine Beispiel nur gewählt
474 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 12.
weil es uns zugleich den Anläse zu dieser Er-
örterung gab. Man wird aber leider im Allge-
meinen finden das8 der Vf. die gesammte Bil-
dungslehre untreffend behandelt. Den dritten
Haupttheil, die Satzlehre, übergebt er ganz. Wir
wollen hier jedoch statt dessen noch etwas an-
deres berühren welches uns wichtig genug scheint.
Der Vf. behandelt in diesem Werke zuerst das
Aramäische der Bibel, was man gewöhnlich das
Ghaldäische nennt; dann davon getrennt das des
Babylonischen Talmud: er bemerkt aber s. X
dass man noch vier andere Arten des Ära«
maischen unterscheiden könne, auch wenn man
sich auf das Aramäische der Jüdischen Autoren
beschränke. Demnach würde also der Vf. sechs
ganz verschiedene Aramäische Sprachlehren ent-
werfen müssen, wenn er diesen gesammten Stoff
bewältigen wollte. Allein das Aramäische ist
im wesentlichen überall dieselbe uralte Kern«
spräche, auch wenn es sich in nochso viele
Mundarten spaltet. Das einzig richtige Verfah-
ren scheint uns demnach dass man alle Ara-
mäischen Mundarten soviele wir nur kennen, zu-
gleich befhandelt: was nicht bloss sehr wohl
möglich ist, sondern auch entschiedene Vortheile
gewährt, sowohl was die Kürze der Darstellung
als was die Klarheit und Gewissheit der Sachen
selbst betrifft. Wir besitzen bis jetzt ein sol-
ches Werk nicht: es würde aber, wohl entwor-
fen und ausgeführt, für die Wissenschaft sehr
nützlich seyn; und wir wollen an dieser Stelle
wenigstens den Wunsch hervorheben dass es recht
bald von einer geschickten Hand unternommen
werden möge. Erst wenn man die verschie-
denen Mundarten aller Sprachen vollständig und
genau vergleicht, kann man auch begreifen, wie-
fern sich behaupten lasse einige Sprachen seien
Luzzatto, Grammatik d. biblisch-chald. Spr. 475
besser als andre. Denn keinerlei Sprache oder
Mundart darf gegen die Logik fehlen : sie würde
sonst sich selbst tödten, was wohl der Mensch
aber keine Sprache kann. Es gibt aber Mund-
arten welche die Laute sehr übel wiedergeben,
die Übeln volkstümlichen Verhältnissen ent-
sprangen und übel sich ausdrückend dann auch
so in die Schrift übergehen können. Und nach
dieser Seite hin ist das Aramäische wie es der
Talmud gibt, eine sehr nachlässige zu bequeme
und zu tief sinkende Sprache.
Wir benutzen jedoch diesen Anlass auf das
Erscheinen eines neuen Syrischen Werkes hin-
zuweisen, welches aller Aufmerksamkeit und Un-
terstützung werth ist.
S. Isaaci Antiocheni doctoris Syrorum, opera
omnia. Ex omnibus, quotquot exstant, codici-
bus manuscriptis cum varia lectione Syriace
Arabiceque primus edidit, latine vertit, prolego-
menis et glossario auxit Dr. Gustavus Bi-
ckell, in academia Monasteriensi prof. ext.
Pars I. Gissae, sumtibus J. Ricken, 1873. IX
und 307 S. in 8.
Nächst Ephräm ist dieser Isaak Presbyter in
Antiochien, welcher oft sein Schüler genannt
wird, einer der grössten Liederdichter und Ge-
lehrten der Syrischen Kirche, sodass wir uns
sehr freuen können wenn, seine bis jetzt unter
unß wenig bekannten Werke veröffentlicht wer-
den. Da nun Dr. Bickell welcher sie zu ver-
öffentlichen unternimmt, als ein guter Kenner
des Syrischen Schriftthumes schon bewährt ist,
so können wir von seinen Kenntnissen ebenso
wie von seinem Fleisse erwarten er werde das
hier begonnene nützliche Werk zu einem guten
Ende hinfuhren. Dieser erste Band enthält nur
einen Theil der vielen Werke des fruchtbaren
476 Göt«. gel. Anz. 1873. Stück 12.
Syrischen Dichten und Schriftstellers; und die
diesem ersten Bande beigegebene kurze prae»
fatio bringt noch nicht die in seiner Aufschrift
verheissenen ausfuhrlichen prolegomena. ^ Wir
wünschten nur der etwas freien Lateinischen
Uebersetzung wären schon bei diesem Bande die
nöthigsten Anmerkungen und Bäckweise in aller
Kürze beigefügt. Nur theilweise ist das hier
so wie zufallig S. 205 geschehen. H. E.
L. Buhl. Lungenentzündung, Tuberculose
und Schwindsucht. Zwölf Briefe an einen Freund.
München. B. Oldenbourg. 1872. 8. 164 Seiten.
In dieser höchst ansprechenden Form bringt
der Verf. eine nachträgliche Festschrift zum 400-
jährigen Stiftungsfeste der Universität München
und stellt die Resultate seiner langjährigen,
gediegenen Untersuchungen über die pathologi-
sche Anatomie der Lungen dar. Grade diese
Form erlaubt dem Verf., alle übergelehrte Pole-*
mik zu meiden und doch in feiner Detailmalerei
seine Ansichten sehr bestimmt und klar zu ent-
wickeln. Soweit das Buch nur pathologische
Anatomie behandelt, also bis zum zehnten Briefe
und im zehnten und eilften Briefe die grösse-
ren Theile, muss es als eine Musterarbeit hin-
gestellt werden.
Buhl nimmt ein Epithel der Alveolen an
und setzt es in unmittelbare Verbindung mit
dem Lymphgefössendothel. Er scheidet die
Entzündungen der Lungenbläschen und der Bron-
chien in superficielle und parenchymatöse. Die
superficiellen Entzündungen fallen dem Gebiete
der t Lungenarterien, die parenchymatösen dem
Gebiete der Bronchialartenen anheim.
Buhl, Lungenentzünd., Tubercul. n. Sohwinds. 477
Die catarrhalische Pneumonie ist eine Ca-
pillarbronchitis, an welcher die Lunge durch
collaterales Oedem, Atelektase, lokales Emphy-
sem und Anschoppung in Folge des in einzelne
Alveolen ans den Bronchien verschobenen Se-
cretes theilnimmt. Sie geht meist in Genesung
über, weil das Parenchym der Lunge intact
bleibt. Auch die putride Bronchitis kann durch
Verschleppung ihrer Producte in den Alveolen
lobuläre Heerde erzeugen.
Das Exsudat der croupösen Pneumonie ist
mehr Lymph-, als Blutextravasat. Als super-
ficiale Entzündung ist sie immer diffus, lobär;
sie pflanzt sich stets auf die Pleura fort. Die
Hepatisation der Alveolen wird fast allein durch
Resorption der erweichten Pfropfe rückgängig«
Der Blutlauf ist während dieser Vorgänge nur
verlangsamt. Die croupöse Pneumonie führt
niemals zu käsiger Pneumonie; falls sie tödtet,
findet man gelbe Hepatisation; durch eitrige
Infiltration führt sie zum Lungenabscess, durch
Blutstockung zum Lungenbrande.
Dann geht der Verf. zu den parenchymatö-
sen Entzündungen über, für die er leider einen
früher, aber nicht glücklich gewählten Namen
»Desquamativentzündungc beibehält. Sie kom-
men als Begleiter acuter Krankheiten vor. Die
genuine Desquamativpneumonie ist immer in den
oberen Lappen der Lungen stärker entwickelt
und schreitet von oben nach unten fort. Die
mikroskopische Analyse der Sputa macht B. in
sehr schöner Weise und legt mit Recht auf sie
das Hauptgewicht für die klinische Diagnose.
Die Desquamativpneumonie ist meistens als ca-
tarrhalische Pneumonie gedeutet, sie ist als
Vorstadium und .Begleiterin der Lungenphthise
und der Tuberculosa aufzufassen. Sie endigt
478 Gott, gel Anz. 1878. Stack 11
häufig in Lüngencirrhose, bei dieser findet sich
neben der fibrösen Entartung Pigmenürung und
oft speckige Entartung. Die Desquamativpneu-
monie fuhrt zur Obsolescenz der respirirenden
Capillar en, die Pleura betheiligt sich mit schwie-
ligen Verdickungen und Verwachsungen. Ihr
höchster Grad ist die käsige Pneumonie. Die
käsige Degeneration ist ein chronischer Process
in necrotischem Gewebe. Eiterkörperchen fin-
den sich nicht. Die Capillaranämie führt zur
Necrose und findet ihren Grund in einer Zellen-
entwicklung in der Scheide der feinsten Arte-
rien. Auf diesem Wege fällt die Desquamativ-
pneumonie meist mit der käsigen Pneumonie
zusammen. Häufig findet sich Peribronchitis
neben der käsigen Pneumonie.
Der Tuberkel ist eine gefässlose Neubildung
von mikroskopischer Grösse, welche in den
Scheiden der Arterien ihren Sitz hat. Das Re-
ticulum des Tuberkels ist kein Bindegewebe und
hat keine Kerne. Die gleichwertigen Bindege-
webskörperchen und Endothelien produciren den
Tuberkel, als lymphoide Neubildung. Die Mi-
liartuberculose der Lungen ist eine Desquama-
tivpneumonie mit Bildung von Riesenzellen. Die
Müiartuberculoße muss als specifische Infections-
krankheit aufgefasst werden. Ihre Grundlage
ist ein käsiger Heerd, welcher von früherer Ent-
zündung herrührt und nicht völlig abgekapselt
ist. Die Nachbarinfection ist hierfür sehr be-
weisend. Die Ausnahmsfälle ferner, in denen
ein käsiger Heerd nicht gefunden wird, sind
nicht beweiskräftig. Die Tuberkel sitzen im
lymphgefassführenden Bindegewebe, ihr histolo-
S scher Bau ist dem der normalen lymphoiden
rgane analog. Sie entstehen nicht durch Em-
bolic, sondern sind Folge einer bestimmten Be«
Buhl, Lungenentzünd. Tubercül. ü. Schwinds. 479
schaffenheit der Gewebesäfte, erzeugt durch Auf-
nahme käsigen Stoffes. Durch Impfung lässt
sich dieselbe Krankheit erzeugen. Diese Gründe,
durch welche B. die Miliartuberculose als In-
fectionskrankheit beweist, sind vollständig ge-
nügend. Der Vergleich mit miliarem Krebs da-
gegen beweist nicht, weil er nicht hinreichend
durchgeführt und sehr dunkel ist. Dass sie
nicht mit anderen Infectionskrankheiten zusam-
men vorkommt, ist endlich gar kein Beweis.
Die acute Miliartuberculose ist eine Entzün-
dung mit Tuberkelentwicklung. Die käsige
Pneumonie ist eine tuberculide zu nennen, weil
sie zugleich die Bedingungen in sich trägt,
Tuberkellymphome zu erzeugen. Sie ist eine
primäre, die Miliartuberculose eine secundäre
Krankheit. Die tuberculöse Entzündung beruht
nicht allein auf Entwicklung von Lymphomen,
sondern hauptsächlich auf Wucherung der En-
dothelien und des Bindegewebes, der die käsige
Degeneration folgt. Sie ist die Lokalisation
eines Allgemeinleidens.
Wir sind so allmälich in den zweiten Tbeil
des Werkes gerathen, welcher den grössten
Theil der letzten drei Briefe umfasst und im
Anschluss an die pathologische Anatomie klini-
sche, ätiologische und diagnostische Bemerkun-
gen über Lungentuberculose enthält. So inter-
essant auch dieser Theil ist, so führt er doch
auf ein Gebiet, welches der Verf. lange nicht so
beherrscht, als den ersten Theil. Nur wo die
Anknüpfungspuncte für die pathologische Ana-
tomie ruhen, bleibt die Arbeit auch hier exact,
an anderen Puncten ruft sie gerechte Bedenken
hervor.
Die hereditäre Erklärung der Tuberculöse
befriedigt gar nicht, sie ist nur eine bilderreiche
480 Gott gel. Änz. 1873. Stück 12.
Umschreibung. Wenn B. nach John Simon die
käsige Pneumonie »für eine hereditäre Entwick-
lungskrankheit, fur einen Theil des Entwicklungs-
lebens des Kindes, angeerbt vom Vater < erklärt,
so liegt hierin nicht allein eine traurige Per-
spective für die Heilkunde, sondern ein solcher
Satz ist unrichtig und unserer jetzigen For-
schungsmethode gradezu unwerth. Solche com*
Elexe Begriffe wie »Heredität« bedürften end-
eh einer Sichtung ihrer sehr verschiedenartigen
Bestandttheile. Es lässt sich sehr gut die pa-
radoxe Behauptung aufstellen, dass in sehr vie-
len Familien eine schlechte, unzweckmässige
Nahrung hereditär ist und hierin die hereditäre
Tuberculose sehr häufig ihren Grund findet. Ref.
hat das Glück gehabt, die so sehr verschiedene
Häufigkeit der käsigen Pneumonie in dicht neben*
einander liegenden Gegenden genau constatiren
zu können; solche Beobachtungen weisen mit
Notwendigkeit auf die Fragen, inwieweit be-
dingen fremde Beimischungen der Luft (Sand),
inwieweit bedingen die mehr oder weniger guten
Ernährungsverhältnisse einer Gegend die Häufig-
keit der käsigen Pneumonie in dersel ben. B. kennt
solche Staubbeimischungen nur bei Handwerkern.
B. definirt die tuberculose Constitution als Neigung
auf geringe Reize mit ungewöhnlich zeUenreichen Exsu-
daten EU antworten. Catarrhalische und croupöse Pneu-
monie und Bronchialcatarrh fuhren nie zu Phthise. Seine
Auffassung der Erkältung, als wenn ihre Folgen stets
die in erhöhter Function befindlichen Organe trafen, ist
mehr wie problematisch. Die unmittelbar von den Tem-
peratursprüngen betroffenen Organe, also Haut und Lun-
gen, leiden jedesfalls zuerst und sie vermitteln erst die
Erkrankungen anderer Organe durch Blut und Nerven.
Zur Stellung der Diagnose verlangt B. mit Recht
eine genaue Mikroskopie der Sputa, welche von vorn-
herein eine sichere Diagnose gestattet. Er geht zuletzt
auf eine sehr gegründete Kritik der Niemeyerschen
Wtaeeau K.
481
Gdttingiseh e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 13. 26. März 1873.
Die religiösen, politischen und socialen Ideen
der asiatischen Culturvölker und der Aegypter
in ihrer historischen Entwickelung dargestellt
von Carl Twesten. Herausgegeben von Prof.
Dr. M. Lazarus. Berlin, Ferd. Dümmler'sche
Verlagsbuchhandlung, 1872. In zwei Bänden,
VII und 674 S. in 8.
Dieses Werk ist mehr wegen seines Verfas-
sers als wegen seines Inhaltes denkwürdig. Der
Verf. ist der bekannte Berliner Rechtsgelehrte
und Staatsmann, welcher nachdem er seit dem
J. 1859 sich rasch in die öffentlichen Verhand-
lungen geworfen und in ihnen seine allgemein
bekannte Rolle gespielt hatte, vor einiger Zeit
leider zu früh starb. Kann man nun dem Vor-
redner glauben, so hätte er dieses Werk schon
vor 1859 so wie es hier gedruckt ist verfasst,
dann aber unvollendet liegen lassen. Offenbar
wollte er die Geschichte der »Ideen« welche in
der Ueberschrift näher bezeichnet werden, auch
bei den alten und neuen Europäischen Völkern
verfolgen, wenn auch vielleicht nur bis über das
37
482 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 13.
Mittelalter hin, in einer ausführlichen Einleitung
und Schlussabhandlung aber zeigen von welchem
Wer the sie überhaupt seien und ob oder wie
sie beute noch unter uns gelten könnten. Allein
das Werk ist wol kaum bis zur Hälfte vollen-
det; auch passt die ihm jetzt gegebene Auf-
schrift nicht, sofern weder von den Sinesen
noch von den Arabern oder Muslim die Bede
ist, da diese beiden nicht zu den »asiatischen
Culturvölkern« zu rechnen ein Unrecht wäre.
Aber auch die Einleitung, obgleich sie sich bis
S. 159 erstreckt, scheint uns unvollendet zu
sein: so wie es auch von diesem ersten
Buche zu dem zweiten welches die »Kasten-
staaten« (Indien und Aegypten) und zu dem
dritten (die Nationen Vorderasiens, Babylonier
und Assyrer, Iranier, Phöniken, Israeliten) an
jedem Uebergange fehlt.
Ansich nun ist es zwar eine recht erfreuliche
Erscheinung wenn man sieht mit welchem Eifer
ein Bechtsgelehrter unserer Tage sich um eine
genaue Kenntniss des geistigen Zustandes der
verschiedensten Völker des Alterthumes be-
mühet, um einzusehen und der heutigen Welt
zu zeigen wie der wirkliche Zustand der »reli-
giösen politischen und socialen Ideen c bei ihnen
gewesen sei. Das Unternehmen erinnert heute
etwas an das Werk der Ideen unsres Göttin-
gischen Historikers Heeren, welches ähnlich
grossangelegt war aber auch ähnlich nicht voll-
endet wurde, und schliesslich vorzüglich nur
bei denselben Völkern des Alterthumes stehen
blieb welche auch dieses Werk umfasst. Allein
wie gross ist sogleich von vorne an der Unter-
schied zwischen diesen beiden Werken, wenn
man auf den vornehmsten Antrieb merkt wei-
cher das eine oder das andere ins Leben rief!
Twesten, Die religiösen, politischen etc. 483
Beide sind sich zwar auch darin gleich dass der
eine wie der andere Verfasser die Quellen sei-
ner Erforschungen weit weniger nach eigner
Erkenntniss und Sicherheit als nach den besten
schon gegebenen Werken der Sachkenner oder
vielmehr der Sprachkenner benutzen konnte.
Doch wollte Heeren dabei wie jeder ächte For-
scher nur der Sache selbst nützen um welche
er sich bemühete, ging also ohne alle vorge-
fasste Meinung an die Untersuchung und mög-
lichst sichere Feststellung der Gegenstände, und
liess sich durch vorübergehende Stimmungen sei-
ner Zeit und Zeitgenossen in seinem Werke be-
sonderer Erkenntniss und besonderer Schwierig-
keit nicht selbst bestimmen. Unser neuestes
Werk dagegen trägt von vorne an die Zeichen
dieser unsrer Zeit und seines Geburtsortes an
seiner Stirne, während man doch sogar einem
jeden Menschen wohl ansehen kann ob er als
Schwarzer oder als Weisser geboren sei, nicht
aber oder nur an ganz unwesentlichen äusseren
Anhängseln ob er in diesem oder jenem Jahre
oder an diesem oder jenem Orte eines grossen
Landes geboren sei. Diesem Werke aber merkt
man sogleich an allem ihm Eigenthümlichen an
dass es eben nur in Berlin und dort nur in der
sogenannten Reactions- und Conflictszeit em-
pfangen werden konnte: oder will man dabei
auch die ganze obenerwähnte lange Einleitung
übersehen, so treten auch aus seiner breiten
Mitte genug solcher Anzeichen auf.
S. 311 £ wirft er am Schlüsse seiner Dar-
stellung der geistigen Bestrebungen und Ge-
schicke des grossen Indischen Volkes die Frage
&ufy ob »auch wir, die ammeisten vorgeschritte-
nen Völker der Erde, einem ähnlichen Nieder-
gange entgegenreifen«: und diese Frage ist aller-
484 Gott. gel. Änz. 1873. Stück 13.
dings ernst, man kann auch sagen zeitgemäss
genug um nicht bloss beiläufig aufgeworfen und
oberflächlich beantwortet zu werden. Wer
möchte nun unter uns diese Frage gerne be-
jahen ? auch unser Verf. will sie nicht bejahen.
Allein beachtet man näher aus welchen Grün-
den er sie verneint, so würde man, wenn seine
Gründe die richtigen wären, schliesslich dennoch
sie zu bejahen bewogen werden können. Er
meint nämlich, wenn jene Befürchtung Raum
hätte, so müssten 1) die auf dem religiösen po-
litischen und socialen Gebiete den alten Theo-
rien und Ordnungen entgegengesetzten, bisher
wesentlich negativen Theorien, oder (wie er so-
gleich erläuternd hinzufügt) die revolutionären
Ideen im weitesten Umfange, zuvor dauernd
unterdrückt werden. Von diesen erwartete dem-
nach unser Verf. damals als er dies schrieb das
Heil für die Zukunft. An »negativen Theorien
und revolutionären Ideen im weitesten Umfangec
hat es aber auch dem Indischen Volke schon in
alten Zeiten nicht gefehlt, wie die Geschichte
lehrt; und dieselbe Geschichte zeigt uns dass
sie dort auch höchst gründlich zunächst im
Denken dann im Thun verfolgt wurden. Das
alte Indische Volk war wirklich in seiner Lage
und einem grossen Theile nach auch in seinem
Geiste innerhalb des grossen Asiens etwa das-
selbe was das Deutsche in dem kleinen Europa
ist; und eine genaue Erforschung seiner Be-
strebungen und seiner Geschicke in jenem wei-
ten schönen Länderraume könnte für uns un-
gemein lehrreich werden, wenn wir sie richtig
anzuwenden wüssten; könnte man doch zugleich
behaupten, die Inder ständen auch ihrem Ge-
schlechte und Blute nach den Deutschen nahe
genug, und so müsse ihre uralte lange Geschichte
T weeten, Die religiösen, politischen etc. 485
far uns desto mehr zur Lehre dienen. Allein
dass dem Indischen Volke die »negativen Theo-
rien und revolutionären Ideen c welche häufig
und mächtig genug in ihm auftauchten, etwas
genützt hätten, bestätigt die Geschichte nicht:
und die Anwendung dieser grossen Wahrheit
auf uns sollte leicht sein. Eine erste Stufe
aller Weisheit ist aber die Einsicht dass nega-
tive Theorien und revolutionäre Ideen über*
haupt zu nichts helfen können als zur Ver-
wirrung und Erschlaffung eines Volkes solange sie
nicht ausgeführt, und zu seiner Schwächung und
scbliesslichen Vernichtung wenn sie ausgeführt
werden. — Indess gründet der Verf. seine gute
Hoffnung 2) noch auf etwas anderes: er meint
jene böse Befürchtung würde sich erst dann er-
füllen wenn »der Geist der Arbeit und des For-
schens unter uns ausgerottet würde, welcher in
der materiellen und intellectuellen Entwicklung
unserer Tage, in der Industrie und Wissenschaft
das eigentlich bewegende Element bilde« ; das
aber werde nicht unter uns geschehen. So
mochten etwa auch einst die Indischen Weisen
von ihrem Volke denken, als sie jene eben be-
sprochenen »Theorien und Ideen« aufstellten
und ihr ganzes Leben hindurch vertheidigten.
Auch hatten sie wohl Grund dazu : das Indische
Volk war in seinen ältesten und besten Tagen
nicht im mindesten ein Haufe von Faullenzern,
wurde auch sittlich nicht dazu erzogen. Und
doch unterlag es seinem von unserm Verf. so
aufrichtig beklagten Geschicke, einfach weil
jene »Theorieen und Ideen« wenn sie einmahl
in einem Volke übermächtig werden, alles Gute
in ihm aufreiben, das alterworbene und das
neuerstrebte, auch die Lust zur Arbeit und zur
Forschung.
486 Gott, gel Änz. 1873. Stück 13.
Man wird es aber nach solchen Anfangen
ans welchen dieses neue Werk hervorging, nicht
auffallend finden, class die ausführliche Einlei-
tung in es das wesentlich neue ist welches es
bringt. In ihr entwickelt der Verf. seine eigne
Anschauung von denjenigen »Ideenc welche er
für die in unserer Zeit allein heilsamen hält
und zu deren Annahme er alle heute lebende
ermuntern möchte. Nun unterscheidet er drei
Arten von Betrachtung, von welchen ihm die
älteste aber zugleich die verwerflichste und
schädlichste aller die theologische zu sein dünkt.
Man kann jedoch die Theologie welche damit
zugleich verworfen werden muss, in einer be-
stimmten Zeit nur aus zwei verschiedenen Ur-
sachen verwerfen. Entweder hat man dabei die
zufallig in einer Zeit herrschende Art von Theo-
logie im Auge: diese kann durch eigne Schuld
tiefer fallen und ihren besten Zweck verfehlen:
dann verwerfe man sie aus klaren Gründen, und
sei überzeugt dass alle die noch unbefangenen
besten Männer einem solchen Verfahren bei-
stimmen werden; auch der Unterz. würde wenig
einzuwenden haben wenn der Verf. in solcher
Weise gegen die heute herrschende Theologie
verfahren wollte. Oder man verwirft sie weil
man ihren einzigen wahren Gegenstand d. i.
Gott selbst verwirft, dann also auch im einzel-
nen es nicht vertragen mag dass nicht bloss
die weltliche sondern auch die göttliche Seite
aller Dinge erforscht und nach ihr Urtheile ge-
bildet werden: und auf dieser Seite steht der
Verf. , da er nur von der Natur etwas wissen
will, alles andre aber ausser dem was er die
Natur nennt als Einbildung und Dampf oder
wie er sagt Nebel verachtet. — Damit muss
er aber von den drei Arten allgemeiner Be-
T west en, Die religiösen, politischen etc. 487
trachiung und Beurtheilung der Dinge welche er
unterscheidet, auch die zweite verwerfen, welche
er die metaphysische nennt, die sich also von
Aristoteles her mehr oder weniger durch alle
die Hauptgänge der Philosophie hindurchzieht
welche bis auf Hegel und dessen Zeitgenossen
versucht wurden; denn alle diese setzen doch
noch irgendwie etwas von der Natur verschie-
denes, mögen sie es Geht oder sonst wie nen-
nen. Zwar hat das Hegeische Wesen gerade in
Berlin wo es ja so lange und so allmächtig
herrschte, sichtbar genug auch auf unsern Verf.
seinen verhängnissvollen Einfluss ausgeübt; und
auf den ersten Blick begreift man nicht warum
er bei seiner übrigen geistigen Fassung nicht
ebenso wie Rüge, Rosenkranz und hundert an-
dere bei ihm bleibe. Allein es ist ihm noch
nicht durchsichtig und rein, folgerichtig und zu
allem was man gerne haben möchte tauglich
genug: und das begreift sich um so leichter da
er ja bei weiten nicht der einzige ist dem je-
nes Wesen in den neuesten Zeiten nicht mehr
genügt. So fallt er denn — der Französischen
Philosophie des Auguste Gomte zu, welche sich
die positive nennt, obgleich sie schon durch
diesen Beinamen den sie sich selbst beilegt in
den Augen jedes ernsteren Forschers verräth
wie wenig ihr zu trauen sei. Denn jede Philo*
ßophie welche sich erst durch einen Beinamen
verdeutlichen und empfehlen will, kann entweder
nur einen einzelnen Zweig von ihr umfassen
wollen, oder 6ie verräth dadurch nur ihren eig-
nen unverbesserlichen Mangel und Fehler mit-
ten indem sie ihn durch ein schönes Beiwort
verdecken will. Die wahre Wissenschaft rühmt
sich nicht erst positiv sein zu wollen : diese Art
von Wissenschaft aber schliefst nach S. 103
488 Gott. gel. Abz. 187S. Stück 13.
und anderen Stellen die »Fragen nach einem
letzten Wober nnd Warum der Dinge als unzu-
gänglich aus«; und dann hat es unser auch sei-
nen sonstigen Grundsätzen nach Französisch ge-
färbte Verl, leicht sich für ewige Zeiten bei
seiner »Natur« zu beruhigen, ja es ist bei ihm
nur ein böser Widerspruch wenn er überhaupt
noch (wie er das thut) vom Geiste als von et-
was wirklichem redet. Aber man sollte meinen,
wäre der Verf. als Rechtsgelehrter und Richter
wirklich ein folgerichtiger und scharfer Denker,
so müsste er schon durch das was er S. 139.
142 f. über die Strafen sagt welche der nach
seiner »Natur« handelnde Mensch dennoch als
Missethäter in der Gesellschaft zu erleiden hat,
auf den trüben Irrthum aufmerksam werden
dem er sich als wäre er die Wahrheit selbst,
sorglos überläset.
Von selbst versteht sich class wer mit einer
solchen Grundanschauung und fest entschlossen
bei ihr als der höchsten Weisheit zu bleiben in
das Leben der alten Völker zurückblickt, auch
in ihm alles verwerflich finden muss was ihr
widerspricht. Auch das ist ebenso leicht zu
begreifen dass was ihr dort am strengsten und
folgerichtigsten widerspricht, ihm am ärgsten
missfallen muss: das ist aber die Grundansicht
der vollkommnen wahren Religion, wie sie sich
in der Bibel ausspricht. Zwar urtheilt der Verf.
weder über die »Israeliten € wie sie in der Ge-
schichte bis zur zweiten Zerstörung Jerusalem's
erscheinen, noch über das Christentum wo er
dieses beiläufig berührt, durchaus ungerecht und
ud treffend: es gibt heute Schriftsteller welche
darin viel verwegener und gewissenloser zu
Werke gehen. Man muss es vielmehr gerne an-
erkennen dass aus dem ursprünglich oder (um
Twesten, Die religiösen, politischen etc 489
mit dem Verf. zu reden) von Natur so gesun-
den und so scharfen Geiste des Verfs. manche
sehr treffende ja feine und jedes Beifalls wer the
ürtheile über Einzelnheiten wie unwillkürlich
hervorspringen; was wir hier zu bemerken nur
für unsre Schuldigkeit halten. Allein das ganze
Gemälde welches er gerade von dieser ihm not-
wendig am unverständlichsten gebliebenen Seite
des gesammten Alterthumes entwirft, leidet so-
wohl an den schlimmsten Verzeichnungen und
Entstellungen als an den drückendsten Mängeln
und nicht ausgefüllten Lücken. Wir führen
hier nur ein einzelnes, jedoch ein lehrreiches
Beispiel an. Nach S. 347 f. meint der Verf.
loose's Zehn Gebote mitsammt seinen steinernen
Tafeln fänden sich sejion lange vor ihm bei den
Aegyptern; und wie er in dem Abschnitte über
die Aegypter dies hervorhebt, ebenso kommt er
darauf (als wäre es etwas so überaus wichtiges)
in dem über die Israeliten S. 545 ff. zurück.
Dass jedoch steinerne Tafeln auch dort sich
finden, hat umso weniger Bedeutung da der
Pentateuch selbst erzählt wie wenig Mose von
solchen Steinplatten als Steinplatten gehalten
habe. Dass von dem Inhalte der zweiten Tafel
auch bei den Aegyptern sich ähnliches findet,
ist ebenfalls nicht im geringsten auffallend:
ähnliches der Art über die Pflichten zwischen
den verschiedenen Menschen findet sich in allen
Gesetzgebungen der alten Völker. Der Verf.
mu8ste also vielmehr beweisen 1) dass auch der
Inhalt der ersten Tafel, und 2) dass die ge-
sammte Fassung, Mittheilung und Abrundung
der Zehn Gebote sich schon vor Mose bei den
Aegyptern gefunden habe. Hätte er dies ge-
zeigt, so würde er ein Recht haben der Gesetz-
gebung am Sinai ihr Schöpferisches und fur alle
88
490 Gott, gel Anz. 1873. Stück 13;
Zukunft Entscheidendes zu nehmen um es den
Aegyptern als eine Ehre und ein Verdienst zu-
zuerkennen. So lange man aber diesen Beweis
nicht führt, wird man in solchen Behauptungen
nur dieselbe Lust zu allerlei höchst grundlosen
und ungerechten Urtheilen wiederfinden an wel-
cher diese unsre Zeit besonders von gewissen
Stellen aus nur zu sehr leidet. H. E.
L'empire grec bjx dixieme si&cle. Constantin
Porphyrogenete par Alfred Ram baud. Paris
1870. (XVI u. 551 S. 8°).
Das vorliegende Buch ist allem Anschein
nach das Werk eines noch jugendlichen Gelehr-
ten, jedenfalls die erste grössere Arbeit, welche
derselbe veröffentlicht hat. Trotz mancher Män-
gel, welche zum Theil hierin ihre Erklärung
finden, können wir in demselben eine nicht un-
bedeutende Bereicherung unserer historischen
Litteratur begrüssen. Die Geschichte des by-
zantinischen Reiches ist von der modernen hi-
storischen Wissenschaft entschieden stiefmütter-
lich behandelt worden, gerade die inneren Ein-
richtungen und Zustände dieses Reiches sind
noch durchaus ungenügend erforscht worden,
der Versuch einer Darstellung derselben, wel-
cher vor einigen Jahren bei uns in Deutschland,
freilich von wenig geschickter Hand gemacht
worden ist (s. Gott. gel. Anz. 1869, Stück 43,
S. 1681 ff.), hat nur gezeigt, was noch auf die-
sem Gebiete zu leisten und wie erst durch sorg-
same Einzelforschung der Grund zu einer den
Ansprüchen der heutigen Wissenschaft genügen«
Rambaud, L'empire grec au dixi&me siecle. 491
den allgemeinen Bearbeitung derselben zu legen
ist. Herr Rambaud hat sich die Aufgabe ge-
stellt, auf Grund eingehender Studien wenn
auch nicht das ganze, so doch verschiedene
Seiten des Lebens dieses Staates innerhalb eines
abgegrenzten Zeitraums, der ersten Hälfte des
lOten Jahrhunderts, zur Darstellung zu bringen«
Wie schon der Titel anzeigt, bildet den Mittel-
punkt derselben der Kaiser Constantin VII.
Porphyrogenitus. Derselbe hat zwar selbständig
nur kürzere Zeit (945—959) regiert, allein dem
Namen nach hat er als Mitregent seines Vaters
Leo VI, seines Oheims Alezander, dann des Usur-
pators Romanus über ein halbes Jahrhundert
(seit 908) an der Spitze des Staates gestanden,
seine eigenen, sowie die durch ihn veranlassten
litterarischen Arbeiten sind ferner die wichtig-
sten Quellen fiir die Geschichte dieser Periode,
nicht mit Unrecht also wird dieselbe hier nach
ihm benannt. Mit jenen byzantinischen Quellen
nun hat sich der Verf. auf das eingehendste
▼ertraut gemacht, auch abendländische Schrift-
steller, vor Allem natürlich Liutprand, sowie
die orientalischen, arabischen und armenischen
Quellen, soweit ihm dieselben in Uebersetzun-
gen zugänglich waren, hat er herangezogen, er
hat endlich auch in ausgedehntem Maasse sich
bemüht, die neuere historische Litteratur der
verschiedensten Nationen zu verwerthen. Ausser
den französischen und englischen sind auch ganz
besonders die einschlägigen deutschen Werke
zu Bathe gezogen worden, eine gewisse Kennt-
niss der slavischen Sprachen, oder die Hülfe
litterarischer Freunde hat es ihm sogar ermög-
licht, die slavische, namentlich die russische hi-
storische Litteratur für seine Zwecke einzu-
sehen* Allerdings sind ihm manche auch be-
38*
1
492 Gott, geh Anz. 1873. Stack 13.
deutendere Schriften entgangen, so ist mir z.B.
aufgefallen, dass er von deutschen Arbeiten die
Darstellung der Geschichte Griechenlands im
Mittelalter von Hopf in Ersch und Grubers
Encyclopädie (einige andere Artikel dieses Sam-
melwerkes kennt er) und die Abhandlung von
Dümmler über die älteste Geschichte der Sla-
ven in Dalmatien (Wiener Sitzungsberichte Bd.
XX) nicht kennt. Andererseits erkennt man
von einigen Schriften, die er citirt, dass er sie
nicht selbst gelesen, sondern nur die Citate
aus anderen Büchern herausgenommen hat (so
citirt er wiederholt S. 209 und 229: Kiepert.
Inhaltreiches (I) Texte zu dem historisch-geo-
graph. Atlas der alten Welt). Immerhin aber
liegt seiner Arbeit ein recht bedeutendes und
umfangreiches Studium zu Grunde. Der Verf.
hat sich dann auch bemüht, das aus unmittel-
baren und mittelbaren Quellen gesammelte Ma-
terial in kritischer Weise zu verarbeiten, das
Verhältniss der einzelnen Quellenschriften zu
einander, ihr Parteistandpunkt wird wohl be-
rücksichtigt, der Verf. zeigt sich- durchweg als
einen Mann nicht nur von Gelehrsamkeit, son-
dern auch von Geist und Urtheil, der nicht an
dem Einzelnen haften bleibt, sondern dasselbe
von höheren Gesichtspunkten aus überschaut.
Freilich ist die Forschung im Einzelnen nicht
eine so genaue, wie wir sie jetzt in Deutschland
für wissenschaftliche historische Werke bean-
spruchen, auch sind die einzelnen Theile des
Buches nicht gleichartig gearbeitet, einige ver-
rathen grössere Sorgfalt als andere, welche
überhaupt oberflächlich behandelt sind, oder
doch im Einzelnen eine grössere Zahl von Feh«
lern und Irrthümern zeigen. Die Darstellung
ist eine durchaus angemessene, Disponirung und
Bambaud, L'empire grec au dixi&me siecle« 493
Gruppirung des Stoffes sind geschickt und über-
sichtlich, die Ausdrucksweise ist lebendig, aber
doch in der Hauptsache frei von jener Neigung
zur Phrase, welche uns sonst auch in wissen-
schaftlichen französischen Werken so oft be-
fremdet.
In der Vorrede schildert der Verf. die Stel-
lung und Bedeutung des byzantinischen Reiches
innerhalb der allgemeinen Weltgeschichte. Er
zeigt, wie einseitig und ungerechtfertigt die so
oft gefällten geringschätzigen Urtheile über das-
selbe sind, welche wichtige Rolle dieses Reich
in der Geschichte des Mittelalters gespielt hat,
als die Vormauer gegen die Barbaren des
Ostens, als der Ausgangspunkt der Civilisation
für die slavischen und orientalischen Völker, als
die Stätte, welcher wir am meisten die Erhal-
tung der Werke des Alterthums verdanken , er
weist darauf hin, wie das, was uns meist als
fehlerhaft in diesem Staate in die Augen fallt :
der unbeschränkte Despotismus, die Vermischung
von Staat und Kirche, die unlautere Diplomatie,
in der exponirten Stellung desselben seine Er-
klärung und zum Theil seine Rechtfertigung
findet. Er characterisirt dann die Periode der
byzantinischen Geschichte, welche darzustellen
er sich zur Aufgabe gemacht hat. Er findet
die Bedeutung derselben vornehmlich darin, dass
in ihr die politischen Institutionen des Reiches,
namentlich die Organisation der Provinzen ihre
Fixirung erhalten hat, ferner in der umfang-
reichen litterarischen und wissenschaftlichen
Thätigkeit, welche damals sich entfaltet hat,
endlich darin, dass damals auch die ethnogra-
phischen Verhältnisse im Inneren und ausserhalb
der Grenzen des Reiches zu einer dauernden
Fertigkeit gelangt sind , dass damals schon in
494 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 13.
der Hauptsache das spätere Staatensystem des
Orients begründet worden ist. Die letztere Be-
hauptung ist wohl etwas zu kühn, denn die mei-
sten jener Reiche, welche sich damals um das
byzantinische gruppirten, das der Bulgaren, der
Petschenegen, die arabischen Herrschaften, haben
doch nur einen vorübergehenden Bestand gehabt,
ebenso kühn und jedenfalls näherer Begründung
bedürftig ist die Behauptung von der nahen
Verwandtschaft der Institutionen des byzantini-
schen Reiches mit denen der occidentalen Staa-
ten/ Auch hier schon finden sich dann einige Ver-
sehen. Wenn auf S. Xn von Arabern in Sa-
lerno die Rede ist, so ist wohl nur ein Druck-
fehler (für Palermo) anzunehmen, der freilich
in dem Verzeichniss hinten nicht angemerkt ist,
wenn aber auf S. IX zweimal auch die Ungern
unter den Völkern genannt werden, welche von
Gonstantinopel aus zum Christenthum bekehrt
worden sind, so ist dies einfach falsch, denn
dieselben sind von Deutschland aus christiani-
sirt worden, eine Thatsacfae, welche übrigens
der Verf. selbst in seinem späteren Abschnitte
über die Ungern (S. 163) ganz richtig angiebt.
Der Verf. hat seine Arbeit in fünf Ab-
schnitte getheilt. Der erste ist betitelt: Hi-
stoire du gouvernement central. Nach einer
kurzen Uebersicht über die byzantinischen Ge-
schichtsquellen für diesen Zeitraum nnd einer
Gruppirung derselben nach ihren Parteistand-
punkten (die irrigen Zeitangaben über die spä-
teren Autoren Manasses, Joel und Ephremios
auf S. 1 sind hinten S. 547 berichtigt), werden
an der Hand derselben in einfacher Erzählung
die Jugend Schicksale Constant ins, die Regent-
schaft seiner Mutter Zoe, die Usurpation des
Thrones durch Romanus, dessen Regierang, so-
Rambaud, L'empire grec au dixieme siecle. 495
wie sein und seiner Söhne endlicher Sturz dar-
gestellt. In einem besonderen Capitel führt der
Verf. dann aus, welche Fortschritte in der da-
maligen Zeit die Legitimitätsidee im byzantini-
schen Reiche gemacht hatte, welche Mittel die
verschiedenen Herrscher, und gerade besonders
die Usurpatoren, angewandt haben, um dieselbe
zu erwecken und zu befestigen, und er zeigt,
wie hieraus gerade sich die lange Dauer dieser
xnacedonischen Dynastie und die Vorsicht, mit
welcher die Usurpatoren Romanus, Nicephorus
Phocas und Johannes Zimisces den berechtigten
Thronerben wenigstens den Schein und den Na-
men der Herrschaft gelassen haben, erklärt. In
der Schilderung des Characters und der Re-
gierungsweise Constantins selbst folgt der Verf.
gegenüber der panegyristischen Darstellung des
Theophanes contin. den ungünstiger lautenden Be-
richten der anderen byzantinischen Autoren
und kommt zu dem Resultate, dass seine Thä-
tigkeit als Regent eine wenig bedeutende gewe-
sen ist.
Auch dieser Abschnitt kann noch als eine
Art von Einleitung gelten, er enthält im Gan-
zen nicht viel Neues. Bedeutender ist der fol-
gende, welcher die Literaturgeschichte dieser
Epoche behandelt. Mit Dank erwähnt der Verf.
zu Anfang der Unterstützung, welche ihm Herr
Miller, der Kenner der griechischen und byzan-
tinischen Litteratur und Herausgeber mehrerer
byzantinischer Werke, hier gewährt hat, doch
erkennt man, dass auch eingehende eigene Stu-
dien der Arbeit zu Grunde liegen. Nach eini-
gen allgemeinen Ausführungen über den Cha-
racter der byzantinischen Litteratur überhaupt
und der des 10 ten Jahrhunderts, über den we-
sentlichen Einfluss, welchen damals das weltliche
496 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 13.
Element und gerade der Palast, in derselben aus-
geübt hat, giebt der Verf. eine Aufzählung der
zahlreichen Autoren dieser Epoche, deren Schrif-
ten theils uns erhalten, theils nur dem Namen
nach bekannt sind. Er weist dann nach, wel-
chen Einfluss Kaiser Constantin selbst auf die
litterarische Bewegung seiner Zeit ausgeübt hat,
und bespricht darauf in eingehender Weise die
wichtigeren aus dieser Zeit uns erhaltenen
Werke, welche theils Constantin selbst zum Ver-
fasser haben, oder doch unter seiner Einwir-
kung abgefasst worden sind. Leider ist gerade
die erste Untersuchung (Cap. Ill, S. 85 ff.) über
die Tactica des Kaisers Constantin verunglückt«
Der Verf. sucht aus mehreren Beispielen aus
der Zeitgeschichte, welche in diesem Buche an-
geführt werden, nachzuweisen, dass dasselbe
Constantin VII. zum Verfasser, dass dieser aber
eine ältere Schrift eines anderen Constantin, sei-
nes Oheims, des ältesten Sohns des Basilius,
welcher schon vor dem Vater 880 starb, be-
nutzt hat. Auffallender Weise ist es ihm nicht
in den Sinn gekommen, diese Tactica mit dem
gleichnamigen Buche des Kaisers Leo, des Va-
ters Constantins, zu vergleichen, obgleich beide
in demselben Bande (Meursii opera Tom. VI)
abgedruckt sind. Wenn man dieses thut, so er-
kennt man leicht, dass die Tactica Constantins
nichts weiter sind als ein Plagiat aus jenen
anderen, eine fast wörtliche Wiedergabe dersel-
ben, wo auch jene Beispiele ganz gedankenlos
ohne Aenderung der auf die Person des Ver-
fassers und die Zeit der Abfassung bezüglichen
Angaben herübergenommen sind. So steht die
Stelle über den Zug des Basilius 880 gegen
Germanicia, aus welcher Rambaud die Autor-
schaft des älteren Constantin herleiten will (S.
Rambaud, L'empire grec an dixieme siecle. 497
1238: vovto y&Q xal o fjp£isQO$ ncttijQ xdlßcrtt-
lsv$ inolfjösv 5ts xatä FßQfuxvixlag inolq (?) £v-
qiq iva&dsvGafjHv), ebenso bei Leo (S. 626:
%ovto yäQ xal tiv fafacQOV cfcfpif otov ncttiQa
xal ßatulia BatiiXsiov nsno$fjxivai ^Vöfrfxo/tMrV,
its xatd reQpavixlas ifjg iv 2vQlq v^v ixGiQa-
ttlav inoHJöaro). Der Wortlaut dieser Stelle
giebt ferner keinen Beweis dafür, was der Verf.
behauptet, dass der Verfasser dieses Buches an
jenem Eriegszuge selbst Theil genommen habe.
Ebenso finden sich die Stellen über die Unter-
werfung der Slaven durch Basilius (Const. S.
1391) bei Leo S. 806, die über die Einnahme
von Theodosiopolis (Const. S. 1402) bei Leo S.
818, über die Feldzüge des Nicephorus in Syrien
und Italien (Const. S. 1346) bei Leo S. 651.
Herr Rambaud behauptet nun, einige dieser
Beispiele bezögen sich auf Ereignisse aus der
Zeit Constantin VII., bewiesen also, dass dieser
der Verfasser oder Bearbeiter des Werkes sei,
allein alle seine darauf bezüglichen Angaben
sind irrig. So z. B. behauptet er auf S. 87,
der arabische Heerführer *Alnaq>iQ (Leo:
9AnovX(p4Q)i gegen den nach der letzten Stelle
Nicephorus in Syrien kämpft, sei der be-
kannte Emir Seif Eddaulah von Aleppo, der
Feldzug derjenige von 951, den Cedrenus (II,
p. 831) erzählt Allein jener Emir wird von
Cedrenus sowie von den Byzantinern überhaupt
Xaßddv genannt, prüft man dann ferner die
beiden Berichte des Cedrenus und der Tactica,
so findet man, dass sie gar keine Aehnlichkeit
mit einander haben, bei Cedrenus ist von einem
Ueberfall in einem Engpass die Bede, in den
Tact, von dem glücklichen Entkommen des
S lechischen Feldherrn mit Hülfe von Wacht-
uern, welche in dem heimlich verlassenen La?
498 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 13.
ger angezündet sind. Zu allem dem kommt
nun noch, daes der Verf. sich nicht einmal den
Titel der Schrift, welche er behandelt, genau
angesehen hat. Er behauptet, dieselbe sei un-
ter dem Namen des Gonstantin Porpbyrogenitus
auf uns gekommen, in Wirklichkeit aber lautet
ihr Titel: Bißhov raxnxdv n<3$ dqtstXovtSiv oi
itata yijy xal xatd &dXcmav pagtfpcpo* noXtpelv,
SnsQ IgvvfyQaifßB KwvGTavzivot; ßatolUvg 6 %ov
'Poopavov iiög. Gonstantin VII. aber war nicht
der Sohn des Romanus, sondern des Leo, der
Verfasser dieser Schrift also ist nicht er, son-
dern sein Enkel Constaotin VIII., der Sohn
Romanus II., welcher also nicht, wie der Verf.
behauptete, das verlorene Werk eines älteren
Constantin, sondern die erhaltene Schrift Leos
ausgeschrieben hat. Ebenfalls nicht gründlich
genug ist das. Capitel über die Fortsetzer des
Theophanes, es fehlt hier ganz eine Untersuchung
des Verhältnisses dieser Quelle zu den nahe
verwandten Chronisten Symeon magister und
Georgius monachus. Neuerdings ist diese Frage
von Müller (Untersuchungen zur mittleren Ge-
schichte herausgegeben von Büdingen I, S.
364 ff.) eingehend behandelt und gezeigt wor-
den, dass nicht, wie bisher angenommen wurde,
die Darstellung des Theophanes contin, sondern
die des Symeon mag. die ursprüngliche, und dass
die jenes, sowie die des Georgius mon. abgelei-
tet ist. Weit besser sind die anderen Capitel,
namentlich das über das Buch de caerimoniis,
welches, in seiner vorliegenden Gestalt auch in
der Bonner Ausgabe ein ganz verworrenes
Machwerk, hier zum ersten Male genauer unter-
sucht wird. Der Verf. weist nach, dass Gon-
stantin selbst nur Buch I, c. 1—81, ferner
Appendix I und II, die übrigen Theile dagegen
Rambaud, I/empire grec an dixieme siecle. 49$
einem späteren Verfasser angehören, welcher
wieder Stücke aus früheren Schriften seiner Ar-
beit eingefügt hat. Sehr eingehend ist die
Untersuchung über die Biographie des Basilius,
des Gründers der macedonischen Dynastie,
welche der Verf. mit Recht Gonstantin zu-
schreibt und deren panegyristischen Character
und grosse Unzuverlässigkeit er an mehreren
Beispielen, gerade den wichtigsten Ereignissen
aus dem Leben dieses Kaisers, nachweist. Den
Schluss dieses Abschnittes bildet die Bespre-
chung der beiden bekanntesten Schriften Con-
stantin8: de thematibus und de administrando
imperio. Die erste gehört, wie der Verf. nach-
weist, der Jugendzeit Constantins an, sie ist
während der Regierang des Romanus, bald nach
934, geschrieben. Sie ist, worauf schon Tafel
in seiner Ausgabe hingewiesen hatte, zum grossen
Theil nur ein ziemlich gedankenloses Excerpt
aus älteren Schriften, sie enthält also in der
Hauptsache eine Geographie nicht des damali-
gen, sondern des älteren justinianischen Rei-
ches, wo die alte Provinzialeintheilung in die
neue, nach Themata, ungeschickt und zum Theil
unrichtig eingefügt ist. Dagegen gehört das
Buch de administr. imperio Constantins späte-
rer Zeit (949—953) an, es ist ein Handbuch
der Regierungskunst für seinen Sohn Romanus II.
geschrieben, sehr practisch und sehr lehrreich,
rar uns von besonderer Wichtigkeit als Haupt-
quelle fur die Geschichte der slayischen und
orientalischen Völker.
Der dritte Abschnitt behandelt die Proyin-
zialgeschichte. Er ist entschieden der lehr-
reichste und gelungenste des ganzen Werkes;
gerade hier fehlte es fast ganz an Vorarbeiten,
hier sind durch den Fleiss und den Scharfsinn
000 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 13.
des Verf. die Verhältnisse im Wesentlichen erst
aufgeklärt worden, hier ist ihm gerade sein
eingehendes Studium des Werkes de caerimoniis
zu gute gekommen. Das erste Capitel behan-
delt die Eintheilung des Reiches in Themata.
Der Verf. untersucht zunächst die Zahl dersel-
ben, 3 Listen, welche uns aus der Zeit Leos VI.,
Romanus und Constantins selbst erhalten sind,
zeigen, dass dieselbe auch innerhalb der ersten
Hälfte des 10 ten Jafarh. gewechselt hat. Er
stellt dann die verschiedenen Angaben zusam-
men, aus denen man ersieht, wie dieselben clas-
sificirt wurden» er zeigt namentlich, dass die
gewöhnliche Eintheilung in Themata des Ostens
und Westens (ävaxohxd und dvnxd) keine geo-
graphische ist, denn zu denen des Ostens ge-
hören auch solche in Europa und umgekehrt,
sondern dieselbe bezieht sich auf die Wichtig-
keit der Provinzen, Themata des Orients ist
soviel wie Provinzen erster, des Occidents wie
solche zweiter Klasse. Der Verf. untersucht
dann den Character und die Entstehung dieser
Provinzialeintheilung. Dieselbe ist eine rein
militärische. $6pa heisst: Legion, Truppencorps,
dann der Bezirk, in welchem ein solches seine
Standquartiere hat, in welchem jetzt der Be-
fehlshaber desselben, ötQccTrjydg, die militärische
und zugleich die civile Leitung in Händen hat.
Der Verf. zeigt, wie sich allmählich aus der al-
ten römischen Provinzialorganisation diese neue
gebildet hat. In der späteren römischen Kaiser-
zeit besteht eine solche rein militärische Ver-
waltung nur für die Provinzen Arabien und
Isaurien, Justinian dehnt dieselbe auf mehrere
andere aus, unter seinen Nachfolgern wird die-
ses neue Princip immer mehr durchgeführt, im
10. Jahrh. ist die neue Organisation vollendet,
Rambaud, L'empire grec au dixi&me siecle. 601
der Name und die Eintheilung, welche auch
später in der Hauptsache, wenn auch mit man-
chen Veränderungen im Einzelnen geblieben ist,
stammt schon aus der Zeit des Heraclius. Der
Verf. zeigt dann, wie durch diese neue Ein-
theilung die alten Nationalitäten gänzlich zer-
rissen sind, wie daher auch die Namen der
Themata meist nicht von diesen, sondern theils
von den Hauptstädten, theils von der Bezeich-
nung der Truppencorps, theils von Personen
abgeleitet sind, wie ferner auch die Unterab-
theilungen der Themata denselben rein militä-
rischen Character zeigen. Unter den folgenden
Untersuchungen sind dann die wichtigsten die
in Gap. 2 und 3 über die Ethnographie der
Themata. Der Verf. zeigt hier, wie sich in
Folge der theilweisen Vernichtung der alten
Bevölkerung, der Colonisation, der gewaltsamen
oder freiwilligen Ansiedlung fremder Nationen
die ethnographischen Verhältnisse in den einzel-
nen Themata Europas wie Asiens gestaltet ha-
ben. Er behandelt dann in Cap. 4 die Frage,
inwieweit diese verschiedenartigen Bestandteile
der Bevölkerung der Provinzen wirklich sich der
Autorität der Reichsregierung gefügt haben,
welche Stellung namentlich die zahlreichen in
die Balkanbalbin8el eingewanderten slavischen
Stämme derselben gegenüber eingenommen ha-
ben. In Constantins Zeit sind die Stämme in
dem nördlichen Theile derselben, in Macedo-
nien, in der Hauptsache wirklich unterworfen,
während die im Süden, namentlich imPelopon-
nes, nur in einem sehr losen Abhängigkeitsver-
hältnisse zur griechischen Regierung stehen.
Das letzte Capitel dieses Abschnittes behandelt
dann unter dem Titel: la question sociale dans
les provinces die Stellung des Provinzialadels,
$02 Gott, gel Anz. 1873. Stück 13.
die fortgesetzten Versuche desselben, die ärmere
freie Bevölkerung sich unterthan zu machen
und das Grundeigenthum derselben an sich zu
bringen, sowie die Gegenbemühungen der Kai-
ser, endlich die Militärlehen, die Einrichtung
derselben und die Bemühungen der Kaiser, auch,
der Usurpirung dieser entgegenzuarbeiten.
Alle diese Untersuchungen sind, wie gesagt,
mit vielem Fleiss und Scharfsinn geführt, die
Ergebnisse derselben erscheinen in der Haupt-
sache als gesichert, die hier gewonnenen Er-
fahrungen berechtigen uns auch einer neuen
grösseren Arbeit sur l'organisation byzantine
anterieurement aux croisades, welche der Verf.,
wie er ankündigt, vorbereitet, mit Spannung
entgegenzusehen.
Der folgende 4te Abschnitt stellt die aus-
wärtige Politik des byzantinischen Reiches dar.
In gesonderten Gapiteln werden die verschiede-
nen Nachbarn desselben, die Franken, die Bul-
garen, die Ungern, die Russen, die Petschenegen
und Chazaren, endlich die Araber des Westens
und Ostens behandelt. Die Arbeit beruht hier
nur zum Theil auf eigenem Quellenstudium,
sonst auf den Arbeiten anderer, und gerade
hier entfaltet er seine umfangreiche Kenntniss
der einschlägigen Litteratur. Doch sind hier
die einzelnen Capitel von sehr verschiedenem
Werthe, theils in Folge der verschiedenartigen
Beschaffenheit der benutzten Hülfsmittel, theils
fiber auch, weil er manche derselben nicht mit
der genügenden Sorgfalt ausgenutzt hat. Am
besten ist der Abschnitt über die Bulgaren,
dasjenige Volk, welches neben den Arabern da-
mals der gefahrlichste Feind des byzantinischen
Reiches war und fast unausgesetzt die Kräfte
desselben beschäftigte« Sowohl die inneren Ver»
Rambaud, L'empire grec an dixi&me siecle. 503
hältnisse ihres Reiches, namentlich die fort-
schreitende Slavisirung desselben, als auch die
Beziehungen desselben zu den Griechen werden
in eingehender und gründlicher Weise darge-
stellt. Dagegen lassen die Abschnitte über die
Franken, d. h. über die aus der carolingischen
Monarchie hervorgegangenen Staaten, und über
die Araber des Westens eine solche Gründlich-
keit sehr vermissen. Der Verf. äussert an meh-
reren Stellen von Kaiser Gonstantin, dass der-
selbe sich in seinen Schriften weit besser über
die Verhältnisse des Ostens, als über die des
Westens unterrichtet zeige, mit ihm selbst aber
steht >es nicht anders, seine Kenntniss ist hier
sehr mangelhaft. Z. B. hat er für die Ge-
schichte der Aiaber in Sicilien ausser dem äl-
teren Buch von Wenrich auch das vortreffliche
Werk von Amari benutzt, aber sehr flüchtig,
seine Darstellung aufS. 411 ff. enthält die gröss-
ten Ungenauigkeiten. Auch das Capitel über
die Araber des Ostens lässt Manches zu wün-
schen übrig, wir vermissen hier z. B. gleich von
vornherein eine Uebersicht der Staaten , in
welche sich damals das Reich der Kalifen auf-
gelöst hatte.
Von ganz ähnlicher Beschaffenheit ist der
5te Abschnitt, welcher die Vasallen des Rei-
ches: die italischen, die illyrischen, die der
Krim, die armenischen, die caucasischen und
die arabischen behandelt. Auch hier zeigt sich
der Verf. über die Staaten des Ostens viel bes-
ser unterrichtet, als über die des Westens. Der
Abschnitt über Armenien z. B. ist recht lehr-
reich, hier sind ausser den byzantinischen auch
die einheimischen armenischen Quellen sowie
die neueren Forschungen über die Geschichte
dieses Landes benutzt, interessant ist auch die
S04 Gott. gel. An». 1873. Stück 13.
Znsammenstellung, welche veranschaulicht, wie
stark die Einwanderung von Armenien ans in
das griechische Reich gewesen ist, welche eine
wichtige Rolle die Armenier dort gespielt, wie
viele der bedeutendsten Feldherrn, Staatsmän-
ner und selbst Kaiser ihnen angehören. Da-
gegen ist das Capitel aber die Vasallen des
Reiches in Italien höchst dürftig und enthält im
Einzelnen zahlreiche Fehler. Allerdings giebt
es für die Geschichte des südlichen Italiens in
dieser Zeit keine irgendwie genügenden Vorar-
beiten, aber auch aus den vorhandenen hätte
sich der Verf. doch besser unterrichten können.
Für die Geschichte von Neapel, Amalfi, Gaeta
citirt er Sismondi, aber Fehler, wie er sie hier
macht (so lässt er S. 445 Neapel 826 durch
König (!) Grinoald, statt durch Fürst Sico von
Benevent, Sorrent 827 durch Sicard belagert
werden, während dieser Fürst erst 832 über-
haupt zur Regierung gekommen ist) hat er dort
nicht gefunden, vgl. für die betreffenden Ereig-
nisse Sismondi I, S. 250 ff. Die Geschichte des
Verhältnisses der langobardischen Fürstentü-
mer Benevent, Capua, Salerno zum griechischen
Reiche will er nach den Quellen darstellen, be-
geht aber dabei die gröbsten Fehler. So lässt
er auf S. 447 Waimar und Waifer von Salerno
als Brüder bis 946 herrschen, in Wirklichkeit
war Waifer der Vater Waimar L und der Gross-
vater Waimar II., er starb 880, der letztere
945. Ebendaselbst hält er die griechischen
Strategen Muzalon und Ursileus für identisch,
es sind aber zwei verschiedene Personen, der
erstere wurde von den Calabresen erschlagen,
der letztere fiel allerdings um dieselbe Zeit
(921) in der Schlacht bei Ascoli.
Den Schlu8S bilden einige nochmalige Be«
Rambandy L'empire grec an dixieme siecle. 505
trachtungen über die Stellung und die Bedeutung
des byzantinischen Reiches in der behandelten
Periode, endlich ist als Anhang eine kurze Un-
tersuchung über den Verfasser und die Ab-
fassungszeit der Biographie Constantins, die den
Sohluss der Fortsetzung des Theophanes bildet,
hinzugefugt.
So sehr wir also anzuerkennen haben, was
der Verf. in einzelnen Theilen seines Buches
durch Fleiss und Scharfsinn geleistet hat, so
müssen wir doch bedauern, dass er auf andere
nicht die gleiche Sorgfalt verwandt hat, wir
hoffen, dass die weiteren Arbeiten, welche er
auf demselben Gebiete in Aussicht stellt, diesen
Mangel nicht zeigen, und dass wir dort nur die
Vorzuge dieser ersten Arbeit wiederfinden werden.
Berlin. Dr. Ferdinand Hirsch.
Magyar gyogyszerkonyy. Pharmacopoea
Hungarica. 1871. Pesti könyvnyonida-reszvöny-
tarsulat XXXXVII und 581 Seiten in Octav.
Wenn wir im Pharmakopoen wesen der ver-
schiedensten Staaten das Streben nach einer
Einigung überall in den Vordergrund treten
sehen, so muss das Erscheinen einer Pharma-
copoea Hungariae überraschen, zumal da sich
dieselbe in keiner Weise wesentlich von der in
Cisleithanien gültigen sechsten Auflage der Phar-
macopoea Austriaca unterscheidet. Transleitha-
nien hätte sich offenbar recht gut mit der letzt-
genannten begnügen können, da dieselbe erst
vor 3 Jahren ins Leben trat, denn der natio-
nale Gedanke, wie er z. B. die neue Pharma-
copoea Germanica neuerdings hervorrief, hat
nur Sinn, wenn es sich darum handelt, Schran-
ken niederzureissen, welche Verwandtes getrennt
39
506 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 13. •
haben, nicht aber, wenn man sich bestrebt,
neue Grenzen zu ziehen. Die Wissenschaft ist
nicht mehr national, sie trägt einen internatio-
nalen Charakter, den sie nicht mehr einbüssen
wird, und es hat das Ungarische Sprächwort
»extra Hungariam non est vita; si est vita, non
est itac in seinem ersten Theile auf das wissen-
schaftliche Leben offenbar keine Beziehung, und
was die Pharmacie und Pharmakologie angeht,
so ist das Leben in Ungarn, wie das vorliegende
Buch lehrt, kaum verschieden von dem Oester-
reichischen oder Rumänischen. Wozu also Un-
garn seine besondere Pharmacopoe haben musste,
ist uns wirklich unklar.
Aber das Sanitätscollegium des Königreiches
Ungarn hat nun einmal, wie es in der Vorrede
heisst »conformiter statutis suis fundamentalibus,
dem Ministerium der inneren Angelegenheiten
die Herausgabe dieser Pharmacopoe vorgeschla-
gen, letzteres den Vorschlag gebilligt und das
Sanitätscollegium zur Arbeit animirt , dieses
wiederum eine Commission ernannt. Dieser
verdanken wir das Buch, dessen extraordinäres
Volumen darin begründet ist, dass dasselbe in
Ungarischer und Lateinischer Sprache verfasst
ist, da die erste für viele Apotheker Ungarns
unbekannt bleiben musste, so weit sie nicht
Magyarischen Ursprungs sind, während die La-
teinische Sprache den eingebornen Magyaren
vielleicht minder verständlich war. Das Buch
kann somit zweckmässig als Leitfaden für den
Lateinischen resp. Magyarischen Unterricht für
Lehrlinge in der Pharmacie dienen, die nur einer
der beiden Sprachen kundig sind. Oder sollte
die Doppelzüngigkeit gewählt sein, um auch
dem Auslande zu verstatten, sich mit den in
Transleithanien neu ermittelten pharmakologi-
r
Pharmacopoea Hungarica. 507
.sehen Thatsachen bekannt zu machen? Warum
dann aber nicht, wie es in Holland geschehn,
eine Pharmacopoea Hungarica gesondert erschei-
nen lassen und den Magyar gyogyszerkönyv
als vaterländisches Product im eignen Hause
conserviren?
Es soll mit diesen Bemerkungen keineswegs
Sesagt sein, dass die Männer, welche sich der
luhe der Ausarbeitung der Pharmakopoe unter-
zogen haben, eine völlig unverdienstliche Arbeit
feliefert oder gar die Cisleithanische Pharma-
opoe in einer ungehörigen Weise zur Basis ih-
rer Arbeit gemacht hätten. Es liegt auf der
Hand, dass, um ein solches Novum für Trans-
leithanien zur Welt zu bringen, der junge Staat
sich der geschicktesten Jünger der mäotischen
Kunst bedienen musste. In der That bietet die
Zusammensetzung der Transleithanischen Phar-
makopöen-Commission eine Gewähr dafür, dass
eine vielseitige Interessen der bei Herausgabe
einer Pharmakopoe betheiligten Stände wahrende
Arbeit aus deren Schoosse sich selbst entwickeln
werde. An der Spitze der Commission steht
Carl Than (Than Karoly auf Transleithanisch),
Dr. ehem., 0. ö. Professor an der Universität
Pesth und ordentliches Mitglied des Ungarischen
Sanität8collegiums, als Secretär fungirte Lud-
wig Gross (Gross Lujos auf Transleithanisch),
Dr. med. et chir., Docent an der Universität zu
Pesth und gleichfalls ordentliches Mitglied des
Sanitätscollegiums und Secretär dieser Behörde.
Die übrigen Mitglieder sind Johann Wagner
(Wagner J&nos auf Transleithanisch), Dr. med.,
0. ö. Universitätsprofessor und Sanitätscolle-
giumsmitglied in Pesth, Ker&nyi Frigycz
(Friedrich), Med. et chir., Dr., mit denselben
Qualificationen wie Wagner Jänos, Koloman
39*
508 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 13.
Balogh, mit den Qualificationen des Vorge-
nannten, jedoch nur ausserordentliches Mitglied
des Sanitätscollegiums zu Pesth, Theodor
Marg6, Dr. philos. et medicinae, sonst mit
den Titeln von Balogh, Bernhard Müller
(Müller Bernat auf Transleithanisch), Dr. phil.,
Apotheker und ausserordentliches Mitglied des
Sanitätscollegiums, endlich Gustav J&rmay,
Apotheker. Man sieht, die Commission trägt
einen etwas centralistischen Charakter, da alle
Mitglieder der Hauptstadt von Transleithanien
angehören, was wir gerade bei einem Buche,
welches die Bedürfnisse eines ganzen Staates
befriedigen soll, für unzweckmässig halten,
vorausgesetzt dass nicht etwa, wie dies bei der
Deutschen Pharmakopoe geschehen, die Series
medicaminum durch Rundfragen bei Aerzten
der verschiedensten Gegenden des Landes fest-
gestellt wurde.
Die Grundzüge, welche die betreffende Com-
mission bei ihrer Arbeit als leitende adoptirte,
hat sie in der Einleitung in mehreren Sätzen
zusammengestellt. Gleich den ersten müssen wir
tadeln. Derselbe lautet:
»Die Nomenclatur ist den wissenschaftlichen
Benennungen anzupassen und die alphabetische
Ordnung nach diesen innezuhalten«.
Dieser Satz wird in seinem letzten Theile
wohl von jedem Fachgenossen gebilligt werden;
die Lateinische Denomination muss der Trans-
leithanischen vorangehen, denn es wird wohl
auch einem eingefleischten Sohne der Pusszta
nicht einfallen, Morphin unter der Bezeichnung
Szunyal oder Kalium bromatum als Hamany-
byzeg aufzusuchen. Was aber den ersten Theil
des Satzes betrifft, so können wir uns von des-
sen praktischer Richtigkeit nicht überzeugen.
Pharmacopoea Hungarica. 509
Einverstanden sind wir damit, dass, wie dies
auch die Oesterreichische (Cisleithanische) Phar-
makopoe gethan hat, aus praktischen Gründen
die Bezeichnung von Pflanzentheilen, da wo
nicht zwei Theile von demselben Gewächse offi-
cinell sind, fortgelassen ist, so dass man sich
nicht darüber zu streiten braucht, ob man Ra-
dix oder Tuber Aconiti zu schreiben hat. Es
wird sich auch allmählig wohl beim Receptiren
einbürgern, dass der Arzt statt Radix oder
Rhizoma Valerianae, einfach Valeriana, statt
Radix Calami Calamus verschreibt. Aber dem
Grundsätze der wissenschaftlichen Denomination
entspricht das nicht; denn was die Pharmaco-
poea Hungarica Valeriana nennt, ist ja kein
Pflanzengenus, sondern ist wissenschaftlich das
Rhizoma Valerianae officinalis. Hat sich somit
die Ungarische Commission von ihren eignen
Grundsätzen emancipirt, so sehen wir nicht ein,
was sie dazu vermocht hat, die neuen Benennun-
gen der Oesterreichischen Pharmakopoe in Be-
zug auf Alkalisalze und Metallsalze zu benutzen.
Sie wird, wie mir scheint, den Ungarischen Arzt,
alle Achtung vor dessen wissenschaftlicher Vor-
und Ausbildung, schwerlich dazu bekehren, Ka-
lium carbonicum oder gar Magnesium hydro-
oxydatum zu schreiben ; wahrscheinlich wird der-
selbe sogar wie bei uns von Jodkali statt Jod-
kalium reden. Schadet es dem Kranken, wenn
er unter der fyzeichnung Magnesia usta oder
Kali carbonicum ein seinen kranken Darm wie-
derherstellendes Arzneimittel erhält? Ein guter
Spitzname ist oft viel bezeichnender als ein
wissenschaftlicher Name, zumal wenn letzterer
falsch ist. Sa ist es offenbar falsch, den Chlor-
kalk, vie es die Pharmacopoea Hungariae thut,
als Calcium hypocblorosum zu bezeichnen, denn
derselbe stellt ja die so genannte Verbindung
510 Gott. gel. Am. 1878. Stück *3.
gar nicht dar, sondern ist ein Gemenge ver-
schiedener Substanzen. Was würden z. B. die
meisten Ungarischen Aerzte sagen, wenn ihnen
die Pharmacopoe einen Syrupus Adianti pedati
statt des identischen Syrupus Capillorum Vene-
ris darböte, von dem er trotz des sonderbaren
Namens »Frauenhaarsyrup« recht wohl weiss,
dass es weder Transleithanischer noch Cislei-
thanischer Behaarung entstammt. Was übri-
gens Herba Gapilli Veneris sind, erfahrt er aus
der Pharmacopoea Hungarica nicht, die beiläu-
fig bemerkt, den Artikel Adiantum vergessen
hat. Die Pharmacopoea hat freilich bei den
Salzen durch Beifügung der modernen Formeln
eine Orientirung, vielleicht sogar eine Belehrung
des Arztes und Apothekers versucht. Ob es
ihr gelingen wird? Unsres Erachtens gehören
derartige Formeln nur dann in eine Pharma-
kopoe, wenn sie dazu dienen, das Präparat zu
charakterisiren, z. B. beim krystallinischen
Eisensesquichlorid, wo ja das Verhältniss des
Erystallwassers nothwendig angegeben werden
muss, weil dieses das officinelle Präparat cha-
rakterisirt.
Wir glauben somit dargelegt zu haben, dass
dieser erste Grundsatz der Ungarischen Phar-
makopöe-Gommission zum Theil ein verkehrter
ist, zum Theil aber auch von derselben nicht
consequent durchgeführt ist. Weniger dürfte
dagegen gegen die übrigen leitenden Principien
zu erinnern sein, ja einzelne derselben entspre-
chen vollständig unsern Ansichten. So z. B.
der zweite, dass bei der Auswahl der Artikel
nicht allein rein wissenschaftliche Rücksichten,
sondern auch der Usus praxeos communis mass*
gebend sein soll. Hierin ist die Transleithani-
sche Pharmakopoe der Gisleithanischen offenbar
an Verständniss überlegen, die nach der Melo*
Pharmacopoea Hungarica. Sil
die tanzte, welche man in den letzten zwanzig
Jahren in Berlin zum Besten gab, und dabei
noch einige besondere staunenerregende Pirouet-
ten ausführte, z. B. den Moschus und das Ca*
storeum proscribirte, weil ihr Nutzen nicht
physiologisch-experimentell nachgewiesen sei.
Sehr zweckmässig ist auch der dritte leitende
Grundsatz, dass bei der Bereitung stark wirken-
der Präparate Rücksicht auf die Bereitungsweise
der Pharmacopoea Austriaca und die übrigen in
neuerer Zeit edirten Pharmakopoen genommen
ist, um eine möglichst gleichartige Beschaffen-
heit zu veranlassen. Die Inconvenienzen der
Verschiedenheit z.B. der Opiumtincturen, haben
wir bereits früher in d. Bl. erörtert.
Ebenso ist der Grundsatz, bei Droguen,
welche im Handel in mehreren Sorten vorkom-
men, stets die beste zu wählen, ein durchaus zu
billigender; hoffentlich besitzt die Transleithani-
8che Regierung auch die Mittel, diese besten
Sorten in die Apotheken wirklich einzuführen.
Mit grossem Vergnügen haben wir den fünf-
ten Grundsatz gelesen: Die Selbstbereitung oder
Reinigung chemischer Präparate ist in allen
Fällen vorgeschrieben, wo die Handelswaare zu-
verlässige Sicherheit guter Beschaffenheit nicht
darbietet. Mit grösster Sorgfalt aber ist die
Prüfung in Fabriken gekaufter Waaren auf Ver-
unreinigungen sowol in qualitativer als in quan-
titativer Beziehung zu berücksichtigen. Wenn
das Gesetzbuch auf eine solche Prüfung so hohen
Werth legt, so wird dies hoffentlich auf die
Ungarischen Apotheker den günstigen Einfluss
haben, dass sie diese Untersuchungen wirklich
ausführen. Gerade das letzte Jahr hat ja leider
auch auf dem Europäischen Gontinente eine
Reihe tödtlich verlaufener Fälle von Vergiftung
durch Morphium hydrochloratum, welches von
512 Gott. gel. Anz. 1873. Stqck 18.
Droguisten statt Chininum bydrochloratum ge-
liefert war, aufzuweisen, für welche unsres Er-
achtens der Apotheker einzig und allein verant-
wortlich ist.
Die übrigen Sätze beziehen sich auf die ver-
dünnten Säuren, die Temperaturbestimmungen
nach dem Centesimalthermometer und das Gram-
men gewicht und haben keine allgemeine Be-
deutung.
Im Ganzen enthält die Pharmacopoea Hun-
garica 510 Artikel, womit wohl im Allgemeinen
den Ansprüchen auf Vollständigkeit Genüge ge-
leistet ist. Was die Bearbeitung der einzelnen
anlangt, so wäre hie und da wohl eine grössere
Kürze am Platze gewesen, da es sich ja in der
Pharmacopoe nur um ein Charakterisiren, nicht
um eine Beschreibung handelt, die ftiglich den
Lehrbüchern und den Gommentaren überlassen
bleiben kann. In dieser Beziehung ist bekannt-
lich viel gesündigt worden, besonders im ehe-
maligen Königreiche Hannover.
Auf die neuen Mittel ist Rücksicht genom-
men; so findet sich Chloralhydrat und manches
Andre, womit die Materia medica in den letz-
ten Jahren bereichert wurde, aufgeführt.
Theod. Husemann.
Die Pädagogik des Johannes Sturm
historisch und kritisch beleuchtet von
Ernst Laas. Berlin. Weidmannsche
Buchhandlung. 1872. 1 25 SS. in gr. 8°.
Das Interesse, das ich an Johannes Sturm,
dem berühmten Pädagogen des 16 ten Jahrb.
nahm, stammte weniger aus meiner Beschäftigung
mit der Geschichte der Pädagogik als mit der
des Humanismus, denn auch in ihr nimmt Sturm
als einer der letzten Vertreter der Männer, die
in der Wiedererweckung der classischen Studien
Laas, Die Pädagogik des Johannes Sturm. 518
ihre Lebensaufgabe sahn, eine nicht unwichtige
Stelle ein. Daher hatte ich bei meiner Be-
sprechung des Buches von Eückelhahn: Job.
Sturm; Strassburgs erster Schulrektor u. s. w.
(G. G. A. 1872 S. 1401—1417) wesentlich den
Zweck, den historischen Unwerth dieses Buches
nachzuweisen und liess mich, soweit nicht das
Bringen dieses Nachweises ein Eingeh n in pä-
dagogische Fragen verlangte, nicht auf das rein
pädagogische Gebiet und besonders nicht auf
die Entscheidung des Streites ein, inwieweit die
Lehren Sturms noch für die Jetztzeit von Be*
deutung seien. Nun ist aber über dasselbe Buch
ausser manchen kleineren mir nicht bekannt
gewordenen Beurtbeilungen die obengenannte
selbständige Schrift eines bewährten Pädagogen,
gegenwärtig Professors an der kaiserlichen Uni-
versität in Strassburg, erschienen und es scheint
mir nöthig, mich auch über diese zu äussern.
Zunächst freut es mich constatiren zu kön-
nen, dass des Verf. Urtheil über den geschicht-
lichen Werth des K'schen Buches vollständig
mit dem meinigen übereinstimmt, wenn es auch
selbstverständlich ist, dass eine eigene Schrift
eine solche Stimmabgabe weit eingehender und
genauer begründet, als eine auf beschränkteren
Baum angewiesene Besprechung. Auch begnügt
sich der Verf. nicht allein mit der negativen
Kritik, dem Nachweise der Mängel des Buches,
sondern gibt auch einen positiven Theil, eine
selbstständige , mit steter Bücksicht auf K's
mangelhafte Leistung bearbeitete Darstellung des
Bodens, auf welchem Sturm erwuchs. So wen-
det er sich zuerst zu Rudolf Agrikola und gibt
ein mit eingebender Eenntniss ausgeführtes Bild
von seinen, dann von Erasmus und Melanch«-
thons Leistungen auf dem Gebiete der Pädago-
gik, betrachtet dann die Wirksamkeit dea Job.
514 Gott gel. Anz. 1873. Stück 13.
Murmellius, über welchen ihm die Schrift von
Theodor Reichling (Münster 1870, vgl. G. G. A.
1870 S. 1235—1240) unbekannt geblieben ist,
endlich und am ausführlichsten die des Jakob
Wimpheling, auf den, wie auch ich (G. G. A.
1872 S. 1415) gezeigt hatte, der grösste Nach-
druck zu legen war und von dem Hr. K. durch-
aus nichts anzuführen wusste.
Wimphelings Beispiel dient dann dem Verf.
dazu, um auch seinerseits den gegen Sturm ge-
machten Vorwürfen Raumers entgegen zu tre-
ten. Denn wenn Raumer Sturms einseitiges
Hervorheben der lateinischen Sprache als ein
zur Entgermanisiruug des Elsasses wirksames
Mittel bezeichnet und die Lektüre und Auf-
führung terenzischer Lustspiele, welche in der
Sturmschen Anstalt bereits von ganz jungen
Leuten unternommen wurde, vom sittlichen
Standpunkt aus bemängelt hatte, so führt Laas
zur Rettung Sturms gerade Wimphelings, zum
Theil auch Luthers Beispiel an, Wimphelings,
der in beiden Dingen die angefochtenen Ideen
Sturms theilt, dessen deutsch-patriotische Ge-
sinnung und sittlich-religiöser Ernst aber von
Niemandem in Zweifel gezogen werden können.
Gegen diese, in schöner, schwungvoller Sprache
vorgetragene Verteidigung, welche sich zum
Beweise auch auf den nachdrücklich hervorge-
hobenen Satz stützt, dass das Latein damals die
allgemeine Weltsprache, »das verbindende Stu-
dium aller Vulgärliteraturen«, ja selbst »ein
Bindemittel der deutschen Stämme selbst« war,
wird doch wohl die eine Bemerkung eingewen-
det werden müssen, dass Wimphelings und
Sturms Zeit nicht dieselbe war. Denn zeitlich
sind beide Epochen fast ein halbes Jahrhundert
von einander entfernt und geistige Thaten He-
in zwischen ihnen von solcher . Bedeutung,
Laas, Die Pädagogik des Johannes Sturm. 515
dass dadurch den verschiedenen Zeitaltern ein'
wesentlich anderes Gepräge aufgedrückt wurde.
Mochten auch immerbin in die späteren Jahr-
zehnte des 16 ten Jahrhunderts sich Reste des
einseitigen alten humanistischen Geistes gerettet
haben, der, weil er die reine lateinische Sprache
aus ihrem Schlummer wiedererweckt hatte, in
ihr das allein angemessene geistige Nahrungs-
mittel erblickte, so hätte doch Huttens und
der Seinigen Streben, der deutschen Sprache in
dem Bildungsleben der Nation die gebührende
Stätte einzuräumen, bei einem würdigen Huma-
nistenjünger soviel erwirken müssen, dass er
nicht gänzlich wieder die alten Wege einschlug.
Denn dass Sturm wirklich das Deutsche voll«
kommen zu verdrängen suchte, und nicht, wie
K. aus einzelnen mühsam zusammengesuchten
Stellen hatte erweisen wollen, Neigungen dafür
empfand, das führt Laas aufs bündigste aus
und lässt namentlich die Worte, in welchen St.
der Lutherschen Bibelübersetzung Lob gespen-
det hatte, nicht als Beweis für seine Werth-
schätzung der Deutschen Sprache gelten. Er
sagt: »Aber man soll Worte der Anerkennung
für Luthers deutsche Sprachgewalt und für die
congeniale Nachbildung der Psalmen- und
Prophetensprache nicht zu einer besonders werth-
vollen nationalen That aufblasen. Der alte Rek-
tor hätte ein Tropf 6ein müssen, hätte er Lu-
thers wirkliches Verdienst nicht wenigstens mit
Worten anerkennen wollen«.
Nachdem Laas dann noch einzelne Bemer-
kungen des K'schen Buches kritisirt und auch
darin gezeigt hat, wie »ungenügend die K'sche
Eenntni8S der vorsturmschen Zeit ist, geht er
in einem zweiten Abschnitt dazu über,
die Schilderung der Stürmischen Grundsätze,
wis siö JL gegenüber der Raumerschen Darstel-
516 Gott, gel Adz. 1873. Stück 13.
lung versucht hatte, zu prüfen. Bei dieser
Prüfung kommt er nun zu dem Resultat, dass,
wenn Raumer wirklich nur die epistolae classicae
benutzt habe, was E. als besonders schweren
Vorwurf betont hatte, er kein Unrecht gethan
habe, denn auch aus der Zugrundelegung ande-
rer Schriften, besonders eines von R. vernach-
lässigten und von E. in den Vordergrund ge-
stellten Antrittsprogramms aus dem J. 1538 er-
gebe sich kein anderes als das gezeichnete
Bild. Um dies zu begründen, führt Laas nun
in sehr eingehender Weise aus, dass Sturm
wirklich alle Hebel, theoretischen Unterricht,
Ausbeutung der Schullektüre, schriftliche und
mündliche Uebungen, in Bewegung setzte, um
aus seinen Schülern Redner zu machen, die, so-
weit es irgend auf nordischem Boden im sechs-
zehnten Jahrhundert möglich war, mit Cicero
rivalißiren könnten; dass er darüber das Real-
studium völlig vernachlässigte, dass er die
Dichter z. B. (wie ich a. a. 0. S. 1412 be-
merkt habe) nicht zur Läuterung des Geschmacks,
zur Erhebung und Kräftigung des Gemüths, zur
Veredlung des Herzens lesen liess, sondern stets
das zerbrechliche, wenn auch edle Gefass höher
achtete als den unzerstörbaren Inhalt. Daran
schliesst sich eine ausführliche Betrachtung dar-
über, wie jene Zeit überhaupt Dichter und Dich-
terwerke las, eine Betrachtung, die vielleicht et-
was über den gegebenen Rahmen hinausgehend
des Vortrefflichen und Lehrreichen ausserordent-
lich viel enthält.
Das zweite, das R. an Sturm getadelt und
wogegen E. sich heftig verwahrt hatte, war die
Imitatio, die von R. sogenannte Theorie der
Dohlen streiche, das Bestreben Sturms nämlich,
sein Ziel, Redner zu bilden, nicht in der Mutter-
sprache, sondern in einer aus Büohera allein zu
Laas, Die Pädagogik des Johannes Sturm. 517
gewinnenden, in einer todten Sprache zu er-
reichen, und auch bei Besprechung dieser Sache
zeigt sich der eingehende und gründliche Nach-
weis, dass K's Rettungsversuche eitel und ver-
geblich sind. Dieser Nachweis wird geliefert
aus dem geschichtlichen Verlaufe, aber auch aus
dem inneren Wesen der Sache heraus und die
Verurtheilung dieses Strebens durch Analogieen
aus der neueren Zeit und durch goldene Worte
unserer Denker, namentlich Herders (S. 71 fg.)
erhärtet, die ich hier anzuführen mir nur schwer
versagen kann.
Nach solcher Zurückweisung unrichtiger Be*
hauptungen wendet sich derdritteAbschnitt
unserer Schrift zur Beantwortung der Frage, was
Sturm unter den gegebenen Umständen hätte
leisten können und sollen, und ertheilt die Ant-
wort : Einführung eines Realunterrichts und einer
geordneten Lektüre. Ersterer aber existirte,
wie wir sahen, in Wirklichkeit nicht, und letztere
war entweder durch die bloss rhetorische aus-
geschlossen, oder wurde, wenn sie da war, durch
die alleinige Benutzung zu rhetorischen Zwecken,
dadurch dass die Erklärung immer nur an dem
Aeu8serlichen haftete und in ein wirkliches Ver-
Btändniss nicht einzudringen suchte, illusorisch
gemacht. Auch diese Antwort wird ausführlich
gegeben, mit treulichen, sorgfältig gewählten
Beispielen erläutert, doch gestattet es der Ort
nicht, näher auf das Einzelne einzugehn.
Von der Darstellung dessen, was Sturm hätte
leisten sollen, aber nicht erreicht, ja nicht ein-
mal versucht hat, geht Laas in einem vierten
Abschnitt dazu über, zu erörtern, wieweit
in dem bisher auseinandergesetzten System der
Geist der Zeit, worin Sturms Eigenart sich dar-
stellt, und kommt, nach eingehender Betrachtung
Ssweier Schriften Melanchthons , der element»
618 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 13.
rhetorices und des encomium eloquentiae, zu dem
Resultat, dass der Gedanke, die höhere allge-
meine Bildung in den alten Trivialwissenschaften
.an der Hand der Lektüre von elegantes aucto-
res, namentlich des Cicero, und in Verbindung
mit einem unablässigen exercitium stili zu su-
chen, dem Melanchthon gehört, dass aber bei
Sturm, der diesen Gedanken aufnimmt, das
Hauptgewicht auf die rhetorische, bei Melanchthon
dagegen auf die dialektische Seite fallt, dass
Sturm mehr, fast ausschliesslich das äusserliche,
sprachliche Gewand und die genaue Bezeichnung
. der einzelnen Theile, die rhetorische Terminologie
angibt, Melanchthon mehr den inneren Gehalt
zu erfassen sucht, dass er »von exclusiver Rück-
sichtnahme auf künftige Redner ablenkend, der
. Erziehung allgemeinere Bildungsaufgaben vin-
dicate Diesem universelleren Streben gegen-
über billigt der Verf. Sturms Streben keines-
wegs. »Es ware, sagt er, »ein Uebermuth, bes-
ser! es war eine Absurdität, in einer todten
Sprache allen Duft und den lebendigen Takt der
gesprochenen Rede wiedergeben zu wollene
Und so kommt der Verf. in einem fünften
.Abschnitt zum Schluss. Er gibt beiden Vor-
gängern, Raumer und Kückelhahn, Schuld, Sturm
aus seiner Zeit herausgehoben zu haben, jenem,
um ihm die Fehler von Vorgängern und Gleich-
strebenden aufzubürden, diesem, um ihn über
alle Zeitgenossen zu erheben und ihm Verdienste
zuzuschreiben, die nicht er verdient. Aber in
.der Würdigung Sturms nähert sich Laas ent-
schieden der Raumerschen Ansicht. Und das
geschieht hauptsächlich dadurch, weil er, wie er
das im letzten Abschnitt ausspricht, für die
.Gegenwart keineswegs die Hervorholung Sturm-
scher Principien wünscht, sondern in unsern
Schalen vor Allem die Berücksichtigung der
Laas, Die Pädagogik des Johannes Sturm. 619
deutschen Klassiker verlangt. Was er hier for«
dert, ist nur eine kurze Rekapitulation dessen,
was er bereits in seinem Buche : »Der deutsche
Unterricht auf höheren Lehranstalten. Ein kri-
tisch-organisatorischer Versuch« weiter ausge-
führt hat, und deshalb glaube ich nicht nöthig
zu haben, an dieser Stelle darauf einzugehn, zu-
mal eine Besprechung dieses Gegenstandes sich
..mehr für pädagogische Zeitschriften eignen dürfte«
Daher sei es zum Schluss nur gestattet, dem
Verf. für seine werthvolle Gabe Dank zu sagen.
Die Schrift ist eine Gelegenheitsschrift im besten
Sinn des Wortes: aus der Widerlegung einer
schwachen Arbeit hervorgegangen, hat sie sich
jra einem ganz vortrefflichen selbstständigen Bei-
trag zur Geschichte der Pädagogik des 16. Jahr«
hunderts erweitert, der helle Blicke auf Vergan-
genheit und Folgezeit wirft und durch diese ge-
schichtlich-kritische Untersuchung die Uebel der
Schulverhältnisse, an denen auch wir noch kran-
ken, erkennen lehrt.
Berlin. Ludwig Geiger.
Albertine von Grün und ihre Freunde«
Biographieen und Briefsammlung mit historischen
und literargeschichtlichen Anmerkungen von Dr.
Earl Schwartz. Leipzig, 1872. Verlag von
E. Fleischer (C. A. Schulze). 180 S. 8.
Albertine von Grün ist uns als ein liebens-
würdiges und geistreiches Mädchen aus den Brie*
fen an Merck und Höpfners bekannt, welche K.
Wagner in den »Briefen an und von Merck« und
den »Briefen aus dem Freundeskreise von Goethe,
Herder, Höpfher und Merck« 1838 und 1847
mitgetheilt bat. Sie war 1749 zu Hachenburg
im Westerwald geboren und starb ebenda 1792,
die Tochter des Canzleiraths, späteren Comitial-
gesandten in Regensburg, Detmar Heinrich von
520 GStt. gel Anz. 1873. Stuck 13.
Grün. Nur fünf unter ihren 81 Briefen (4. 5. 9.
10. 17) Bind neu hinzugekommen, die übrigen,
so wie fünf einer jüngeren Schwester, Marianne
von Grün, an Frau Höpfner (32 — 86) sind aus
Wagners Sammlungen wiederholt. Auch die
Biographieen von Klinger (S. 7 — 30), den Alber-
tine, als er in Giessen studierte, liebte, ron Merck
(S. 31 — 41), von Höpfner und dessen Frau (S.
42—66) sind zwar ganz gefällig geschrieben, ent-
halten aber nichts Neues. Selbst was der Verf. mit
grossem Fleies S. 66—83 über Albertine sagt,
vermag nichts zu geben, das für ihre Charakte-
ristik und ihr Leben wesentlich wäre: das fein-
gebildete, durch Geist und Gemüth gleich aus-
gezeichnete Mädchen ist eben nur aus den we»
nigen Briefen bekannt, die sich durch glücklichen
-Zufall erhalten haben. So dankbar man also
auch die Mittheilung der fünf neuen anerkennen
mag, so ist doch die Berechtigung des ganzen
Buches dadurch schwerlich gesichert. Ganz ge-
nau ist die Wiederholung des früher Gedruckten
nicht: S. 122 Z. 7 fehlt dafür vor zu Theil
geworden, S. 125 Z. 13 steht ein f. mein,
Z. 4 y. u. nöthigen f. nöthigeren, S. 127
Z. 17 gehorsame f. gelehrsame, S. 128
Z. 19 willig f. williger, S. 129 Z. 9 v. u.
fehlt mit vor lachen, S. 131 Z. 10 v. u. ist
auf störender Druckfehler für auch. — S. 87
«chreibt Albertine: »Seitdem der gute Knochen-
mann [ein Schädel] bey mir ist, sehe ich wol,
dass so wenig ich auch dennoch zu viel an dem
Irdischen hanget. Darin soll eine harte Ellipse
sein und man soll nach den Worten so wenig
ich auch etwa ergänzen: von dem Leben
verlange, ich. Nichts fehlt, Albertine sagt
kurz, aber richtig: dass, so wenig ich auch
(neml. am Irdischen hange), dennoch zu
fiel am Irdischen hange. H. S.
521
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stttck 14, 2. April 1873.
Scriptores rerum Silesiacarum. VIII. Band.
Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter
Georgs von Podiebrad, zugleich als urkundliche
Belege zu Eschenloers historia Wratislaviensis.
Erste Abtheilung 1454— -1463. Namens des
Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens
herausgegeben von Dr. Hermann Markgraf.
Breslau, Joseph Max 1873. 4°. VIII und 266 S.
Dem siebenten Band der schlesischen Ge-
schichtsschreiber, welcher den lateinischen Text
der Breslauer Geschichte des Peter Eschenloer
zum ersten Mal veröffentlichte, ist nach Jahres-
frist, wie es der Herausgeber in seiner Einlei-
tung versprach, im nächsten Bande die Samm-
lung der Urkunden, welche der Breslauer Stadt-
schreiber seiner Geschichte nur äusserlich ein-
fügte, gefolgt. Doch hat sich der Herausgeber
nicht darauf beschränkt, die von Eschenloer
überlieferten Documente abzudrucken, sondern
sie durch die einschlagenden Stucke des Bres-
lauer Stadtarchivars und einige aus anderen (in
der Vorrede zusammengestellten) Quellen ent«
40
522 Gott, gel Anz. 1873. Stück 14.
lehnte ergänzt. Die vorliegende erste Abthei-
lung der politischen Correspondenz Breslaus
umfasst 180 Nummern und reicht vom 7. Mai
1454 bis zum 4. August 1463, doch sind die
Jahre 1455 und 1456 durch keine, 1457 nur
durch eine Nummer vertreten, beinahe zwei
Drittel (von nr. 69 an) fallen in die Jahre 1462
und 1463.
Der Inhalt der Urkunden betrifft fast aus-
schliesslich das Verhältniss der Stadt Breslau
zum König Georg von Böhmen und zum römi-
schen Stuhl. Die verweigerte Anerkennung des
utraquistischen Königs von Seiten der Breslauer,
ihre Versuche einen deutschen Fürsten zur Gel-
tendmachung von Ansprüchen auf die böhmische
Krone zu bewegen, ihre vorläufige Beruhigung
durch den Papst Pius IL, der sich anfangs der
Hoffnung hingab, der König meine es ernst mit
seiner so nachdrücklich betheuerten Rechtgläu-
bigkeit, bilden den Anfang. Vorausgeschickt
sind einige Actenstücke, welche sich auf die
Huldigung Ladislaus Posthumus in Breslau 1454
beziehen: sie gehören zwar streng genommen
noch nicht in die auf dem Titel angegebene Zeit,
wurden aber vom Herausgeber aufgenommen,
weil sie für die Kritik Eschenloers von Bedeu-
tung sind (nr. 1 — 5). Die Briefe der Jahre
1460 und 61 (nr. 35-68), in welchen der Streit
der Parteien vorläufig ruhte, bewegen sich um
die in Breslau sehr eifrig betriebene Ablassan-
gelegenheit: störend istt dass der Herausgeber
(n. 38. n. und S. 264) erst nach vollendetem
Druck erkannte, dass es sich um zwei Ablass-
briefe handelt, von denen der eine, für den Tag
decollacionis Johannis baptiste (29. Aug.) 1460
bestimmt, etwa im April dieses Jahres ausge-
stellt, der im Bau begriffenen Bernhardiner-
Markgraf, Scriptores rerum Silesiacarum. 623
kirche zu Oute kommen sollte (n. 38 A): er
gelangte, nach manchen Hindernissen erst am
22. August nach Breslau (nr. 44). Der zweite
Ablassbrief, zu Gunsten aller Hospitäler am 22.
April 1461 vom Papst ausgestellt, sollte 5 Jahre
wirksam sein und bezog sich auf das Fest na-
tivitatis Joh. bapt. (24. Juni) (n. 56 A.). Die
Breslauer suchten bereits im December 1460
um denselben nach (n. 49). Es kostet einige
Muhe bei den sich durchkreuzenden Angaben
über beide Ablassbriefe den Faden festzu-
halten.
Mit dem Jahre 1462 tritt wieder die hohe
Politik in den Vordergrund: der Conflict zwi-
schen dem König und der Curie bricht aus: die
Verwerfung der Compactaten im März durch
Pius II., die Entgegnung des Königs im August
auf dem Prager Hoftag, auf welchem er nicht
nur an den Compactaten festzuhalten erklärt,
sondern auch den päpstlichen Nuntius, seinen
früheren Procurator Fantinus de Valle gefangen
setzt, bezeichnen den Wendepunkt, (nr. 78 und
105\ Von nun an bewegen sich die weiteren
Verhandlungen in dem Bestreben der Breslauer,
das Feuer zu schären , indem sie die Curie von
der Unverbesserlichkeit des Königs zu überzeu-
gen suchen, und in den Anstrengungen Georgs
und seiner katholischen Anhänger durch eigene
Beschwichtigung des Papstes und durch Ver-
mittelung des Kaisers die drohenden Schritte
Boms aufzuhalten. Der vorliegende Band geht
bis zum Brünner Hoftag im Juli 1463 (nr. 180),
auf welchem der König nur von Neuem seinen
utraquistischen Standpunkt klar legte, ohne Zu«
Seständnisse, weder von Seiten der Curie, noch
er Katholiken zu erhalten. Dass mit ihm der
erste Band der Correspondenz abschliesst, liegt
824 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 15.
weniger in der Bedeutung dieses Hoftages, als
in dem Umstände, dass mit seiner Beschreibung
die Lücke zwischen dem ersten und zweiten Theil
in Eschenloers lateinischem Manuscript endigt,
wie denn dieser Band »im Grossen und Gan-
zen die Lücke ausfüllt, welche die historia
Wratislaviensis zwischen ihrem ersten ausgear-
beiteten und ihrem zweiten tagebuchartigen'
Theile aufweist« (S. VIII).
Das Material lieferte dem Herausgeber ein-
mal Eschenloers Manuscript, dann das Bres-
lauer Stadtarchiv: Documente die in beiden er-
halten waren sind stets nach dem Original ab-
gedruckt (S. V). Escbenloer verdanken wir den.
im Mittelalter nicht eben häufigen Umstand,
dass wir einen vollständigen Briefwechsel, Schrei-
ben und Antwortschreiben (mit wenigen Auf-
nahmen) vor uns haben: denn während die in
Breslau einlaufenden Briefe meistens im Stadt-
archiv erhalten sind, hat uns Escbenloer die von
Breslau abgesandten Schreiben, die meistens er
selbst verfasst hat, aufbewahrt. Es fehlt nur
eine, freilich werthvolle Reihe, welche Escben-
loer seiner Sammlung nicht einverleibte, die
Instructionen des Raths für seine Procuratoren
in Born, auf welche sich diese in ihren Berich-
ten mehrfach beziehen. Doch weist Markgraf
in der Einleitung nach (S. VI. VII), dass auch
das Vorhandensein dieser Instructionen noch
nicht alles Dunkel zerstreuen würde, weil Vie-
les nicht dem Papier, sondern nur den mit der
politischen Lage wohl bekannten Boten zur
mündlichen Bestellung anvertraut wurde. Wie
richtig diese Bemerkung ist ersehen wir aus den
Klagen des Breslauer Procurators Nicolaus Mer-
both im Frühjahr 1463 über den Boten Nico-
laus, der auf eigene Hand in Rom die Sache
Markgraf, Scriptores rerum Silesiacarum. 525
der Breslauer betreiben wollte. Diese Berichte
der Breslauer Procuratoren (19 im Ganzen) sind
jedenfalls das werthvollste Material, das der
Band enthält. Sie eröffnen uns eine Fülle von
Einblicken in das Treiben am päpstlichen Hofe.
In den Jahren 1462 und 1463 waren Procura-
toren Breslau's nach einander zwei Breslaaer
Geistliche Johannes Kitzing und Nicolaus Mer-
botb, deren Persönlichkeit uns aus ihren Berich-
ten noch ziemlich deutlich entgegentritt. Jo-
hann Kitzing, der im August 1461 nach Rom
geschickt wurde (n. 63) und daselbst bis zu »ei-
gnem Tode an der Pest (zwischen dem 15. Sept.
'und 15. Oct. 1462 n. 110 und 119) blieb, stand
Töllig auf dem Standpunkt der Breslauer, seine
deutsch abgefassten Berichte ermahnen den Rath,
an der eingeschlagenen Politik festzuhalten und
mit Vergnügen berichtet er von der Gunst, de-
ren sich die Stadt bei der Curie zu erfreuen
habe. Sein Nachfolger dagegen, Nicolaus Mer-
both, den die Stadt Ende 1462 nach Rom
sandte, wo er nach langer beschwerlicher Reise
fiber Villach und Venedig (n. 130. 131) erst im
März 1463 eintraf (n. 146), war trotz der Be-
theuerungen seiner Aufrichtigkeit und Treue,
mit denen er seine Briefe anfüllt, zu scharfsich-
tig, um nicht die verkehrte Politik seiner Auf-
traggeber einzusehen, die katholischer als der
Papst nur ihrem Hasse gegen den König folg-
ten. Man hatte in Breslau ganz recht, wenn
man Merboth nicht völlig traute; trotz seiner
Versicherungen, wie sorgfaltig er sich der Bres-
lauer Angelegenheiten, mehr als wenn sie seine
eigenen wären, annehme, ersehen wir aus einem
Brief, den er an einen Freund in der Heimath,
den Breslauer Valentin Haunolt schreibt, dass
er die Leidenschaft gegen den König nicht theilt
526 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 14.
und sich wohl in die Lage der Curie, die eine
den Breslauern unbegreifliche Nachsicht übt,
versetzen kann (n. 177 B). Merboths Briefe, die
durchweg lateinisch abgefasst sind (er bemerkt
einmal, er schreibe lieber drei lateinische Briefe
als einen deutschen) sind von Rom aus zum
Theil mit Anwendung von Chiffern und Substi-
tutionen für die einzelnen Parteien geschrieben
(n. 146, 157, 166): so gebraucht er equitas für
den Papst, involvens für den König, mit pondus
bezeichnet er den Kaiser, consilia sind die Kar-
dinäle, devoti die Breslauer: sich selbst unter-
schreibt er als devotorum factor oder per eum
quem nostis. Offenbar wird diese Vorsicht ge^
übt, weil man fürchtete, dass die Briefe von
Seiten des Königs aufgefangen werden könnten.
Gerade in den Berichten Merboths finden sich
häufig interessante Bemerkungen über die römi-
schen Zustände: so bemerkt er am 15. März
(n. 146 p. 177): hie labor, diligentia, patientia,
circumspectio et longa expeetatio requiritur,
quoniam hie non una causa traetatur sed recte
dicam centum in die emergunt, quarukn persepe
una aliam impedit: im Mai verweist er die
Breslauer auf die Schwierigkeit seiner Stellung
(n. 157 p. 197): hie alia est patria et alie ex-
{»ostulantur mores quam in devota (Wratislavia).
m Juni (n. 166 p. 230) vergleicht er das rö-
mische Leben mit einem stürmischen Meer, das
viele Thiere, Sirenen und Ungeheuer hervor-
bringt: schöne Worte und Versprechungen ge-
ben die Herren gern, wenn es aber zur That
komme, seien sie alle kalt. Difficile est nisi
experto ex stercore elicere aurum. Hie opus
est habere patientiam etiam fastidiosam orato-
res regum prineipum et aliorum, si quid hie
traetaturi sunt. Nemo curiam Romanam recte
+
Markgraf, Scriptöres rerum Sflesiacarum. 527
noscit nisi longa experientia et usu. Interessant
ist auch die Mittheilung in seinem letzten Briefe:
(n. 177 A. p. 252), dass im Sommer die italie-
nischen Städte gewöhnlich Wanderer nicht ein-
zulassen pflegten aus Furcht vor der Pest. So-
wohl Merboth als sein Vorgänger Kitzing klagen
in ihren Berichten fortwährend über Geldman-
gel, sie müssten sogar von ihrem eigenen Gel de
zusetzen. Dennoch kann die Stellung der Bres-
lauer Procuratoren nicht ganz unvorteilhaft ge-
wesen sein, da nach dem Tode Eitzings sofort
zwei deutsche Geschäftsträger in Rom, der Ca-
pellan des Cardinais Franz Piccolomini von
Siena, Marcus Decker, Domherr von Gbur und
der Bevollmächtigte des Herzogs Balthasar von
Sagan, Niclas von Kittlitz (der Sprache nach
wohl ein Oesterreicher) der Stadt ihre Dienste
anboten (n. 114 und 121). Da diese jedoch
keinen Gebrauch davon machte, so suchte sich
der letztere durch Verleumdung und Schmähung
des neuen Breslauer Procurators Merboth (falls
wir diesem Glauben schenken dürfen) schadlos
zu halten (n. 166 p. 231).
Nächst den Berichten der Procuratoren
nimmt die Correspondenz Breslaus mit der Cu-
rie unser Interesse in Anspruch. Zahlreich sind
die Briefe an den Papst, meist von Klagen über
den ketzerischen König erfüllt, aber auch reich
an politischen Aufschlüssen, denn die Breslauer
fühlten sich verpflichtet von jeder neuen Wen-
dung, die die böhmische Angelegenheit nahm,
den Papst zu unterrichten, wie andrerseits sie
von Rom aus durch befreundete Cardinäle un-
mittelbar oder durch das Medium der Procura-
toren' alle Schritte erfuhren, die Georg selbst
oder durch andere in Rom that. Von Cardi-
B&len sind es besonders Nicolaus Cusa und Frau
528 Gott gel. Am. 1873. Stück 14*
Piccolomini, die im Interesse Breslaus thatig
sind und mit denen die Stadt daher öfters cor-
respondirt. Sehr umfangreich ist ferner der
Briefwechsel der Stadt mit den päpstlichen Le-
gaten, Hieronymus Lando, Erzbischof von Greta,
Dr. Franz Ton Toledo, Fantin de valle und Bi-
schof Dominicus von Torcello. Besonders der
erstere, der im Januar 1460 den Frieden zwi-
schen Georg und Breslau vermittelt hatte, und
seit dem Beginn des Jahres 1462 abermals im
östlichen Deutschland als päpstlicher Gesandte
fungirte, stand mit dem Bath in engen Be-
ziehungen: mehrfach betheuert er in seinen
Briefen, er liebe die Stadt, wie seine eigene
Vaterstadt Dass diese Aeusserungen minde-
stens sehr übertrieben gewesen, lässt sich er-
kennen, wenn wir erwägen, dass der Erzbischof
bei seiner ersten Anwesenheit in Breslau durch
das fanatische Volk, das nichts von Frieden mit
Georg wissen wollte, beinahe in Lebensgefahr
gerieth (cfr. VII p. IX). Demnach scheint Bi-
schof Jost von Breslau nicht so ganz Unrecht
gehabt zu haben, als er auf der Breslauer Zu-
sammenkunft im Juni 1463 dem Legaten das
Wort des Apostel Paulus entgegen wari : die
Kreter sind alle Zeit Lügner, faule Bäuche etc.
(nr. 164). Die Correspondenz mit den Legaten
ist selbstverständlich nicht weniger reich an hi-
storischen Aufschlüssen als die mit dem Papst:
auch sie wirft manch interessantes Streiflicht
auf sonst ferner liegende Gegenstände, zumal
den Legaten ausser der böhmischen Frage noch
eine Reihe anderer Geschäfte aufgetragen war,
so die Herstellung des Friedens in Deutschland,
die Vermittelung zwischen Polen und dem deut-
schen Orden. So schreibt der Erzbischof von
Greta am 7. April 1463 aus Königsberg an die
Markgraf, Scriptores rerum Silesiacarum. 529
Breslauer: impliciti enim sumus rebus his satis
arduis et multum implicitis et quibus nou tarn
cito finis saltern optatus dari verisimiliter pote-
nt (n. 150 p. 188). Dass aber der Curie die
preassische Angelegenheit doch nicht sehr am
Merzen lag, ersehen wir aus der Stelle eines
8chreibens Pius II. an den erwähnten Legaten
vom 18. Juli 1463 (nr. 175 B): circa pacem
vero inter regem Polonie et ordinem Pruteno-
rum tractandam, super quo nuper tuas litteras
cum varus copiis diffuse simul et accurate scri-
ptas accepimus, volumus ut si quid boni operari
poteris pro votiva rerum conclusione id facias;
si minus, ita te geras, ut desperatis rebus inniti
non videaris nee frustra tempus teras. Diese
letzte Mahnung Hess sich der Legat sicherlich
nicht zweimal sagen, denn er hatte sich in Po-
len durchaus nicht wohl gefühlt: am 9. Juli
1463 schreibt er an den Legaten Dominicus von
Torcello aus Breslau, er habe Polen wegen
Krankheit verlassen und sich nach Breslau be-
geben müssen, da ihm der Aufenthalt in Kra-
kau, wo allein in Polen Aerzte und Medicamente
zu haben wären, versagt worden sei (p. 240
n. 173).
Der Briefwechsel des Bathes mit dem Erz-
bischof von Creta enthält auch eine nicht un-
wichtige Personalnotiz über den Breslauer Stadt-
schreiber Peter Eschenloer: wir ersehen näm-
lich, dass derselbe auch nach seiner Uebersiede-
lung nach Breslau mit seiner Vaterstadt Nürn-
berg in Verbindung gestanden hat. Am 26. Juli
1462 ersuchen die Breslauer den Legaten im
Postscript eines Schreibens, sich für ihren Stadt-
schreiber Peter, der einen Rechtsanspruch (ali-
quam justiciam) in Nürnberg habe, bei dem
aortigen Bath zu verwenden (n. 103 p. 123),
530. Gott. gel. Abz. 1873. Stack 14.
Der Erzbischof antwortet am 30. Sept. 1463
aus Wieneriech-Neustad t , er habe den Brief
nicht mehr in Nürnberg erhalten» doch wolle er
von Regensburg aus die Angelegenheit Eschen«
loers brieflich betreiben (n. 115). Der Heraus-
geber hat von dieser Notiz weder in seiner Ab«
Handlung über Eschenloer noch in der Vorrede
zu der Ausgabe Bd. VII Gebrauch gemacht.
Endlich finden sich in unserem Bande noch
Correspondenzen auswärtiger und schlesischer
Fürsten mit Breslau und einzelne Actenstücke,
die böhmische Frage betreffend, die nicht an
die Stadt gerichtet sind, aber dieser über Born
durch die Procuratoren zugingen: sie treten je«
doch gegenüber dem Briefwechsel mit der Curie
zurück.
Es bleibt noch übrig, über die Grundsätze
der Ausgabe einiges zu bemerken. Am Schluss
der Vorrede sucht der Herausgeber den Vor-
wurf zu entkräften, dass der Titel, den er ge-
wählt, nicht den gesammten Inhalt des Bandes
decke, da die übrigen Stücke sich auf denselben
Gegenstand wie die Correspondenz Breslaus be-
ziehen (S. VIII). Freilich stehen einige der
mitgetheilten Briefe mit ihr doch nur in losem
Zusammenhang, z. B. n. 111, der Bericht über
die Versammlung von Geistlichen in Prag im
September 1462. Mit Recht hat der Heraus-
geber nicht alle einschlagenden Documente aus
Eschenloer und dem Stadtarchiv in extenso mit*
getheilt, sondern nur die politisch wichtigen:
die übrigen, theils weniger bedeutenden, theils
von anderen nur durch den Adressaten oder das
Datum verschiedenen sind zum kleinen Theil in
Regestenform, mitunter mit völligem Abdruck
einzelner wichtigen Stellen, zum grösseren in den
Noten beigefügt. Ob dies Verfahren durchaus
Markgraf, Scriptores rerum Silesiacamm. 531
zu billigen, scheint zweifelhaft: erleichtert wird
durch diese Ungleichheit der Gebrauch des Ba-
ches nicht. Ebenso verschieden ist der Verfas-
ser in Betreff der Deberschriften verfahren: die
ans Eschenloer entnommenen Stücke haben die
von diesem gegebene Ueberschrift behalten, die
übrigen meist nur ganz kurze erhalten, in denen
Absender und Adressat erwähnt werden. Da»
durch wird der Inhalt deB Bandes ziemlich un-
übersichtlich : besser wäre es gewesen, jedem
Stück ein kurzes Regest, so weit es thunlich
war, Toranzuscbicken , wie dies bei einzelnen ge-
schehen ist. Ebenso vermissen wir ein chrono*
logisches Register aller enthaltenen Urkunden.
Zwar hat der Herausgeber die bereits anderwärts
gedruckten Breslau betreffenden Stücke überall
in den Noten erwähnt, doch hätte es sich wohl
mehr empfohlen, sie als Regesten chronologisch
einzureihen, z. B. n. 192, 303 und 306 von Pa-
lacky's urkundlichen Beiträgen. Nach ihrem
jetzigen Plan ist die vorliegende Sammlung nicht
ohne jene anderen Publicationen zu benutzen.
Sehr sparsam ist der Herausgeber ferner mit
seinen Anmerkungen gewesen. Will man auch
von einem Nachweis der zahlreichen biblischen
Citate absehen; so werden an einigen anderen
Stellen doch entschieden Erläuterungen ver-
misst, so zu n. 62. A., dem Schreiben der Bres-
lauer an die Curie vom August 1461, in dem
sie um die Bestätigung zweier Privilegien ihrer
Erbherren durch den Papst bitten; das eine
betrifft den Verlust des Erbes von Seiten ent-
führter Jungfrauen und wurde der Stadt im
Januar 1327 von Herzog Heinrich VI. verliehen
(Korn, Breslauer Urkundenbuch 109 n. 120):
das andere, ein Oerichtsprivilegium, nachzuwei-
sen ist mir bisher nicht gelungen: gerade ein
41*
532 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14.
diesem entsprechendes verlieh Pins II. am 14.
Sept. 1462 der Stadt (n. 109). Ferner ist nicht
zu ersehen, wer der in nr. 111 erwähnte Ad-
ministrator des Prager Erzbisthums war: erst
aus Palacky's urkundlichen Beiträgen n. 282
erfahren wir den Namen desselben Hilarius von
Leitmeritz. Zu dem Schreiben der Breslauer
an den Erzbischof von Creta vom 14. Oct. 1462
(n. 117) wäre eine nähere Erklärung der am
Larapertustage (17. Sept.) in Preussen geliefer-
ten Schlacht erwünscht gewesen: gemeint ist
die Schlacht im Putziger Winkel bei Zarno-
witz. (Scr. rer. Pruss. IV 593).
Zum Schluss fügen wir noch einige Verbes-
serungen hinzu, p. 18 dürfte statt pejora dese-
rere firmiora (!) lingua et calamus obstupescunt
wohl facinora zu lesen sein. p. 21 Z. 7 v. o»
empfiehlt sich statt truciatos (privates omni-
bus bonis ymmo truciatos) eher cruciatos. S.
31 Z. 2 v. o. möchte ich für his priora fieri
lieber peiora lesen, ebenso scheint p. 30. Z. 3
v. u.: personas ecclesiasticas civitatis et dioce-
sis Wr. singulariter et solum disposuit diffidari
solum aus in solidum (singulariter et in soli-
dum) verderbt. S. 38. n. 35 trägt der Ablass-
brief des Erzbischofs von Creta das Datum 9.
Februar 1459: da derselbe nach unserer Zeit-
rechnung ohne Zweifel 1460 ausgestellt ist, aber
der Legat offenbar nicht nach Marienjahren
rechnete (es folgen gleich darauf 2 Schreiben
desselben vom 16. Februar 1460 aus Olmütz
nr. 36 A. u. B), so ist wohl 1460 zu corrigie-
ren. S. 41. n. 38 in der Analyse des ersten
päpstlichen Ablassbriefes geben die Worte in-
du'genciam plenariam pro una die presentis do-
mini keinen Sinn: wahrscheinlich muss prece-
dentiß domini gelesen werden, da es sich um
Markgraf, Scriptores rerum Silesiacaruffl. 533
Ablass für ein Fest Johannes des Täufers han-
delt. S. 46 möchte ich statt quam timuerunt
qnoniam verbessern. S. 73 berichtet Johann
Kittlitz, er habe vormals zu »Perusius« (I) stu-
diert: falls wirklich so zu lesen ist, durfte hier
nicht eine Corruptel fur Perusiis, wie der Heraus-
geber annimmt (vergleiche das Register S. 265),
sondern vielmehr fur Parisius vorliegen, welches
ja bekanntlich im Mittelalter als indeclinabile
immer nur in dieser Form gebraucht wurde.
Für das unverständliche rirdo stilo (p. 86 am
Ende) wird rudo zu lesen sein, die unrichtige
Form kann in dem fehlerhaften Schreiben (ver-
gleiche die Anmerkung) nicht auffallen, leitzen
p. 88 Z. 3 v. o. ist sicher nur undeutlich ge-
schrieben und leihen zu lesen (das man dy lei-
ben unter beider gestalt nich berichten sal).
Die Lücke in dem Postcript Kitzings p. 96, die
der Herausgeber nicht aufgelöst hat (»in, 4
Striche mit einem Haken für ur (besser er)
darüber und atis« (oder atorum?) ergänze ich
durch numeratorum, wozu der Bericht Kitzings
vom 18. Juni 1462 (nr. 04 p. 105) »etliche tau-
send gulden bereit« das Mittel an die Hand
S'ebt. Zu dem corrumpirten Datum des Brie-
s von Marcus Decker an die Breslauer, 7.
Sept. 1462 (nr. 114. p. 138), in welchem
Kitzings Tod erwähnt wird (derselbe schrieb
noch am 15. Sept. nach Breslau n. 110) ist
vielleicht exeuntis (mensis) zu ergänzen, womit
wir den 24. September erhalten würden. S.
215, in der Erwiderung des Legaten auf die
Vorstellungen Bischof Jost's von Breslau vom
Juni 1463 begegnet die ligatur done. Es han-
delt sich um ein Citat aus dem canonischen
Recht; bereits mehrfach sind capitula mit citir-
ten Anfangsworten erwähnt: hier heisst es:
534 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14.
Anastasius papa, ut habetur .... illius capitata
ultimo etc. : es fehlt also der Titel der Rechts-
quelle. Vielleicht ist statt done cliae zu lesen
und Clementine aufzulösen: das Actenstück,
nicht von Eschen loers Hand geschrieben (so die
Anmerkung) ist auch sonst nicht ohne Fehler.
8. 228 ist die Zahl der böhmischen Herren,
die sich beim Papst für den König verwenden,
irrthümlich auf 68 statt 58 (siebe die Unter-
schriften S. 220) angegeben. S. 246 und 258
dürfte in der Unterschrift statt Dominus epis-
copu8 Torcellanus sicherlich Dominicus zu le-
sen sein.
Wie dem 7. Bande, so ist auch diesem vom
Herausgeber ein sorgfältiges alphabetisches Re-
gister beigegeben, das jedoch eine chronologi-
sche Uebersicbt nicht überflüssig macht. Einen
zweiten Band, bis zum Tode Georgs reichend,
verspricht M. am Schluss der Vorrede bald
nachfolgen zu lassen.
Königsberg. M. Perlbach.
Lettres assyriologiques ; seconde eärie. fitudes
Accadiennes par Francois Lenormant.
Paris, Maisonneuve et Cie., 1873. Zwei Theile,
207 und 141 S. in gr. 4.
Essai 8ur la propagation de l'alphabet Ph6-
nicien dans l'ancien monde; par Fran 90 i 8
Lenormant etc. Developpement d'un me-
moire couronne par 1 acad£roie des Inscriptions
et Belles-Lettres. Tome premier. Premiere livrai-
6on. Paris, Maisonneuve et Cie, 1872. 192 S.
in 8, mit Uebersichten und XI Bildplatten.
Unsre Leser finden hier wieder zwei Werke
Lenormant, Lettres assyriologiques. 535
von dem jüngeren Herrn- Lenormant in Paris,
einem nicht bloss der thätigsten und fruchtbar-
sten sondern auch der scharfsinnigsten und
nützlichsten Schriftsteller der neuesten Zeit auf
dem weiten Felde der Morgenländischen Alter-
thümer. Ein Werk von ihm aus dem heute
ebenso allen Forschungseifer frisch anreizenden
als schwierigen Gebiete der Assyrisch-Babyloni-
schen Schriften beurtheilten wir im Zusammen-
hange mit anderen des ähnlichen Inhaltes neu-
lich im vorigen Jahrgange dieser Blätter S.
1745 ff. : er veröffentlicht nun hier ein neues
über den zugleich anziehendsten aber auch
schwierigsten Gegenstand unter den vielen
'welche sich auf diesem Gebiete jetzt der For-
schung darbieten. Das ist die Erforschung der
Akkadischen Sprache, wie man jene uralte
Sprache nennt von weloher uns jetzt nur ein
Theil der in den Trümmern Babylonischer
Städte undNineve's aufzufindenden Keilschriften
Kenntniss gibt. Die ersten Gelehrten welche
sich mit diesen Keilschriften in den letzten
Jahrzehenden anhaltend zu beschäftigen Müsse
und Lust genug hatten, konnten zwar nicht zu
schwer entdecken dass sie aus sehr verschiede-
nen Arten bestehen und nach den Zeiten in wel-
chen sie entstanden oder auch den Sprachen in
welchen sie geschrieben wurden sich weit unter
einander trennen. Dies alles aber näher zu ver-
folgen würde höchst schwierig gewesen sein,
wenn man nicht in Nineve's Trümmern die
Ueberbleibsel eines Werkes gefunden hätte wel-
ches auf Kosten eines der letzten Assyrischen
Könige unternommen die Wörter zweier Spra-
chen die einen durch die andern erklärt, und
von welchem kostbarsten Werke nur das eine
zu bedauern ist dass es uns weder voll-
536 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck IL
ständig noch in vielen seiner erhaltenen Stucke
unverletzt zugekommen ist. Mit diesem Hülfs-
nrittel verschen entdeckte man dass in jenen
Ländern neben dem Assyrisch-Babylonischen
noch eine andere Sprache bestand; und weitere
Forschungen brachten es dann zur Gewissheit
dass nicht die Assyrer sondern die Akkadier
die ältesten gebildeten Einwohner Babyloniens
die Erfinder der Keilschrift und die uralten Be-
gründer alles Schriftthumes in jenen Ländern
waren. Die nächste Frage war sodann von wel-
cher Art diese andere Sprache sei und ob wir
sie allmälig sicher zu verstehen fähig sein
würden.
Nun ist zwar gewiss dass, sobald die Her-
ren Bawlinson und Norris den lehrreichen Band
der Miscellaneous Inscriptions of Assyria 1866
herausgegeben hatten, jeder der die in ihm ab-
gedruckten Stücke jenes alten Sprachwerkes
näher ansah und zugleich die Sprachen des
Nordischen oder Türkischen Sprachstammes
kannte, im allgemeinen leicht finden konnte
diese unbekannte Sprache müsse ihm angehören.
Der Bau dieses Sprachstammes ist so eigen*
tbümlich dass dieses zu entdecken nicht schwer
wurde, hatte man auf der einen Seite ein durch
seine wichtigsten Abwandelungen veranschau-
lichtes mehrsylbiges Wort neben einem ganz
anders gebildeten auf der anderen Seite vor
sich. Auch wer in diesem Falle die Laute noch
nicht lesen konnte, erkannte den Nordischen
Sprachstamm in diesen Wörtern. Wer aber die
Beobachtung verfolgen wollte, musste alle die
zerstreuten gedruckten und ungedruckten Stücke
dieser Keilschriften an einem dazu günstigen
Orte sorgsam zusammensuchen und vergleichen,
und mühevoll auf dem Wege der Entzifferung
Lenormant , Lettres assyriologiques. 537
veiter schreiten. Der Verf. hat an einem Orte
-welcher dazu so viele Erleichterungen gewährt
wie Paris, diesen mühevollen Weg nicht ge-
scheut, und legt hier nun die Früchte vor
wiche er auf ihm gefunden hat. Er hatte bei
diesem so überaus schwierigen Versuche nach
den ersten Andeutungen von dem leider schon
verblichenen Hincks u. a. nur zwei Vorgänger:
den Engländer Sayce, den Verfasser der im
Yorigen Jahrgange dieser Blätter S. 1711 ff. be-
nrtheilten Assyrischen Grammatik und einer Ab-
handlung on a Accadian seal im Journal of
Philol. 1870, und den Schweizer Grivel in
der 1871 in einer Schweizerischen Zeitschrift
erschienenen Abhandlung le plus ancien diction-
naire: aber sein Werk ist nun das erste wel-
ches den Gegenstand vollkommen sowohl nach
allen Seiten hin zu begründen als nach den bis
jetzt offen stehenden Hülfsmitteln zu erschöpfen
sucht; und in dem zweiten dieser beiden Hefte
gibt er schon in aller Ausführlichkeit vollstän-
dige Uebersichten aller möglichen Bildungen die-
ser in solcher Weise aus ihrem alten Schlafe
wiedererweckten Sprache. Doch gesteht er offen
dass, wenn nun auch der Grundbau dieser
Sprache fast bis in alle auch die kleinsten und
feinsten Theile hinein wieder ans Licht gekom-
men, dennoch die Bedeutung sehr vieler Wörter
noch völlig unsicher und das Verständniss eines
Akkadischen Schriftstückes dem eine Assyrische
Uebersetzung nicht zur Seite stehe noch immer
fast unmöglich sei.
Steht jedoch einmal fest diese uralte Sprache
entkeime dem Nordischen Sprachstamme, so
würde man auch die ihrer Wurzelbedeutung
nach noch unsicheren Wörter von ihr allmälig
auf dem Wege wieder erkennen können welchen
536 Gott. gel. Anz. 1873. Stück IL
man überhaupt bei dem Entziffern unbekannter
alter Sprachen oder Spracbstücke einschlagen
muss, und der nichts ist als ein ebenso bestän-
diges als lebendiges Zusammenfassen der drei
Hülfemittel welche uns dann zu Gebote stehen.
Das erste von diesen ist die möglich vollstän-
digste aber auch wissenschaftlichste und sicher-
ste Vergleichung aller der verwandten Spra-
chen: und hier ist 6ehr zu bedauern dass wir
noch kein Sprachwerk besitzen welches alle Spra-
chen Nordischen Stammes zusammenfasste, und
dass die Wissenschaft bei diesem Spraohstamme
bei weitem noch nicht so weit fortgeschritten
ist wie bei dem Semitischen. Der Unters,
wünschte schon vor zwanzig Jahren dass diese
Lücke durch die Anstrengung Deutscher Wis-
senschaft ausgefüllt würde : allein die windigsten
und nutzlosesten Bestrebungen gelten bei uns
jetzt in der Wissenschaft leicht mehr als die
notwendigsten und erspriesslicbsten. Das
zweite Hülfsmittel ist eine über alle die einzel-
nen Sprachen und Sprachstämme hinausgehende
Sprachwissenschaft selbst, welche auch in Bezug
auf einzelne dunklere Stellen einer besondern
Sprache entscheiden kann ob eine Annahme
welche man sich über sie erlaubt in den letz«
ten Möglichkeiten und Fähigkeiten aller mensch-
lichen Sprache einen Grund habe oder nicht.
Hier stehen sich richtig gefasst alle Sprachen
gleich, da es sich um den Grund aller handelt.
Der Verf. will z. B. S. 73 erklären wie das
Wörtchen ge die entgegengesetzten Bedeutungen
über und unter haben könne: wir würden dann
lieber die Bedeutung des vtiö neben iniq und
vnctxog, des sub neben supra und supremus oder
auch die scheinbar doppelte Bedeutung desLat
alius vergleichen und erforschen wie ein solcher
Lenormant, Lettres assyriologiques. 539
scheinbarer Widerspruch innerhalb der Grund-
bedeutung möglich sei. Das dritte Hülfsmittel
ist der Schluss auf die Bedeutung eines Wortes
aus dem Zusammenhange der Rede in welcher
es sich findet, ein Mittel welches wenigstens
nicht von vorne an verworfen werden darf, ob-
wohl es erst wo es im Ergebnisse mit den bei«
den vorigen zusammentrifft alle mögliche Sicher-
heit gewährt.
Nimmt man diese drei Hülfsmittel so wie sie
ein jedes in seiner Art richtig anzuwenden sind
verstündig zusammen, so wird man in dem
Wiedererkennen dieser seit über 2000 Jahren
ganz verborgenen Sprache unstreitig immer
weitere gute Fortschritte machen können. In-
dessen gibt es schon jetzt einige Merkmale
woran man abnehmen mag dass der Weg der
Wiedererkennung welchen man eingeschlagen
hat, kein ganz irreleitender ist.
Von der einen Seite nämlich trägt das Akka-
dische so wie es hier aus dem tiefen Meere der
Vergessenheit wieder auftaucht, zwar die hervor-
ragendsten Kennzeichen des gesammten Nordi-
schen Sprachstammes an sich, fällt deswegen
aber keineswegs mit irgendeiner besondern
Sprache von allen denen zusammen welche wir
bis dahin von ihm schon kannten. Das Türki-
sche ist in der Mitte liegend diejenige Sprache
unter ihnen allen in welcher die ureigenthüm-
licbsten und mächtigsten Anlagen dieses Sprach-
stammes endlich ihre geradeste und weiteste
Ausbildung empfangen haben: das Akkadische
gleicht ihm in einzelnen der ältesten und un-
wandelbarsten Bildungen dieses Stammes, aber
nicht in allen. Manches in ihm neigt sich mehr
zu den ostnordischen oder Tungusiscben, ande-
res zu den westnordischen oder Finnischem
540 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 14.
Sprachen. Was die letzteren betrifft, so weist
der Verf. auch auf einige denkwürdige Aehn-
lichkeiten mit dem Baskischen hin ; und wie das
weithin nach Süden fortgeschleuderte Baskische,
so wäre ja auch das Akkadische ein solcher
weit nach Süden hingedrängter Ableger des
Stammes. Was aber die ostnordischen Spra-
chen betrifft, so hätte das Akkadische sogar
einige Aehnlichkeiten mit den Südindischen und
Malaiischen, aber auch mit den Amerikanischen
Sprachen: und da man längst erkannt hat dass
die Amerikaner mit den Nordasiaten noch den
am leichtesten erkennbaren Zusammenhang ha-
ben, so würde diese Annahme dadurch eine neue
Stütze erhalten. — Gibt sich nun das Akkadi-
sche durch solche Verwandtschaftsverhältnisse
als ein in uralter Zeit abgerissener und weit
nach Süden vorgeschobener Zweig des Nordi-
schen Sprachstammes zu erkennen, so kann man
von der andern Seite auch an ihm selbst leicht
das Merkmal eines hohen Alters wiederfinden.
Der Verf. findet z. B. S. 100 ff. in ihm nur
zwei Zeiten des Thatwortes auf: dies würde
ganz jenem alterthümlichen Zustande entspre-
chen auf welchem das Semitische nach dieser
Seite hin seit den Urzeiten stehen geblieben ist;
und wir wünschen der Verf. hätte diese zwei
Zeiten nicht praeteritum und praesens, sondern
so wie das jetzt im Semitischen sehr allgemein
eingeführt ist, perfectum und imperfecium ge-
nannt. Wir haben aber jetzt längst erkannt
dass diese einfachste Unterscheidung der Zeit
eines Thatwortes in allen Sprachen ohne Aus-
nahme das Ursprüngliche ist, obgleich die mei-
sten und darunter auch die sonst bekannten
vom Nordischen Sprachstamme bereits weit
fiber diese älteste Einfachheit hinausgegangen
Lenormant, Lettres assyriologiques. 541
sind. Nach S. 108 ff. würde das Akkadische
ferner bei einem Thatworte die Bezeichnung der
Person zwar vorne, die der Mehrheit aber hin-
ten anfügen; hätte es also eine Unterscheidung
des weiblichen vom männlichen (aber diese fehlt
ihm wie dem ganzen Nordischen Sprachstamme),
so würde es auch diese hinten anfügen können.
Hieraus erkennt man zunächst wie wenig der
Hinterbau des Wortes welcher sonst diesem
Sprachstamme eigen ist, bei ihm sich schon voll-
endet hat. Aber dieselbe Trennung der Per-
son von dem Begriffe der Mehrheit und dieselbe
gegenseitige Stellung beider Nebenbegriffe kehrt
noch im Semitischen imperfectum wieder: auch
dies ein bedeutsames Zeichen der Stufe auf
welcher das Akkadische stehen blieb. Nach S.
149 ff. unterscheidet sich aber das passitum in
ihm dadurch dass die Personzeichen im geraden
Gegensatze zum activum überhaupt nachgesetzt
! werden: eine Wortbildung wodurch im Semiti-
schen vielmehr das perf. sich vom imperf. ganz
losreisst, aber doch ebenfalls ein Mittel dessen
sich die sprachbildende Thätigkeit in der Ur-
! zeit zur scharfen Unterscheidung zweier Begriffe
bediente.
Was die Vertheilung des Stoffes der Wort-
bildung betrifft, so hätten wir gewünscht sie
i hätte sich näher an die Reihe gehalten welche
wie für alle Sprachen so vorzüglich auch für
die vom Nordischen Stamme die der Sache
selbst entsprechendste ist. Eine solche Sprache
Nordischen Stammes kann man inderthat kaum
irgendwie zu beschreiben beginnen ohne zuerst
das zu erklären was man richtig als die Stamm-
bildung sowohl des That wort es als des Nenn-
wortes bezeichnet; und so erläutert denn auch
unser Verf. in dem dritten seiner 15 Capitel
542 Gott gel. Anz. 1873. Stück 14.
manches einzelne was dahin gehört. Allein das
ist kaum ein Anfang zum richtigen Beginne:
und alsbald fällt die Beschreibung wieder in
die althergebrachte Anordnung nach Art der
Lateinischen Sprachlehren zurück. Dagegen
heben wir gerne hervor dass der Verf. in sei-
nem 13ten Capitel schon etwas erläutert was
in solchen Anfangswerken gewöhnlich ganz Ter«
misstwird: die Grundsätze der Satzlehre. Diese
Satzlehre ist freilich nirgends so nothwendig als
bei den Sprachen des Nordischen Stammes; und
man findet hier vieles von hoher Bedeutung
schon recht ausführlich erörtert.
Man sieht jedoch aus alle dem welche eigen-
tümliche und doch nicht aus dem Kreise aller
ächten Sprachmöglichkeit und Sprachthätigkeit
herausschreitende Sprache sich hier unseren
Blicken wieder eröffnet. Man sieht aber auch
wie tief ihr die Spuren der Alterthümlichkeit
eingedrückt sind, und wird leicht begreifen dass
sie dadurch für uns nur umso denkwürdiger
und lehrreicher wird. Der Verf. gibt anhangs-
weise S. 192 — 195 den Lesern eine Uebersicht
aller der heute erhaltenen sehr verschiedenarti-
gen Stücke dieses Akkadischen Schriftthumes,
so wie eine Eintheilung derselben nach ihrem
wirklichen oder muthmasslichen Zeitalter; und
soviel erkennt man schon jetzt daraus deutlich
dass dieses Schriftthum in jenen alten Zeiten
schon sehr reich und mannichfach ausgebildet
war. Wird nun das Verständniss dieser Schrif-
ten all mal ig immer sicherer und vollständiger
aufgeschlossen und kommen zu den jetzt aufge-
grabenen und nach Europa gebrachten neue
Schätze hinzu welche man in dem weiten
Trümmerfelde Babyloniens noch zu erwarten
hat; so wird sich dadurch nicht nur unsre
r
Lenormant, Lettres assyriologiques. 543
Sprachenkunde sondern auch unsre Erkenntniss
des gesam mten hohen Alterthumes fast ebenso
mehren wie sie sich durch die Eröffnung des
Indischen Aegyptischen und Phönikischen bereits
gemehrt hat und sich weiter mehren wird. Der
Nutzen aber von alle dem wird um so erheb-
licher sein je weniger reich und lauter bis jetzt
die Quellen flössen aus welchen wir das Baby-
lonische Alterthum erkennen konnten. Vieles
früher bezweifelte wird uns in zuverlässiger
Klarheit aufgehen; vieles uns bis jetzt gänzlich
unbekannte wird uns überraschen: aber auch
eine Menge heute weit verbreiteter und theil-
weise sehr alter Vorurtheile werden verschwin-
den müssen.
Ob diese Sprache bei solchen weiter fortge-
setzten Erforschungen des gesammten neueröff-
neten Gebietes den auch durch die alte Erzäh-
lung von der Stadt Akkad Gen. 10, 10 gestütz-
ten Namen einer Akkadischen behalten wird,
scheint heute etwas zweifelhaft geworden. Man
hat in den Keilschriften auch den Namen einer
alten Stadt Suroere gefunden, und darin das
castellum Sumere am Tigris wiedererkannt wel-
ches Amm. Marc. 25, 6 bei dem Julianisch«
Persischen Kriege erwähnt: dieselbe Stadt kehrt
noch in der Geschichte der Ghalifen viel wieder,
und gab schon ihrem Namen nach in dem man
Arabische Laute finden wollte zu jener Zeit viel
Anlass zu Witz und Scherz, wie die Arabischen
Geschichtschreiber erzählen. Da man nun nach
unserm Verf. ä. 26 f. im Akkadischen einen
Lautwechsel zwischen -ng- und -m- aufgefunden
bat, so wäre damit der aus dem A. T. bekannte
uralte Landesname des erst von den Griechen
so genannten Babyloniens *v:tf erklärt; auch
der Name der Stadt Singar'im nördlicheren
544 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14.
Mesopotamien Hesse sich hierher ziehen. So*
weit gehen die Annahmen unsres Verf.: und
man könnte hier fortfahrend weiter an die noch
heute am Balkasch wohnenden Dsungaren als
das Nordische Volk denken aus dessen Lande
die Akkadier in den Urzeiten ausgewandert
seien um in diesem neuen Shungar oder Shin'ar
ihr in so frühen Zeiten schon hoch blühendes
neues Vaterland zu gründen. Inderthat hat der
Name *!?;?, obgleich er wegen des * in dieser
Aussprache Semitisch klingt, doch im Semiti-
schen als Volks- oder Stadtname keinen nähe-
ren Zusammenhang; und wir lassen es uns auch
deshalb wohl gefallen dass er nicht Semitischen
Ursprunges sondern aus jenen Urzeiten sein
soll bevor die Semiten in dieses Tiefland ein-
wanderten. Man könnte aber eben deshalb auf
den Gedanken kommen die Sprache dieses selt-
samen Urvolkes werde besser nach dem Landes-
namen die Sumerische (oder Shingarische) ge-
nannt: und wirklich ist dieses, wie der Verf.
am Schlüsse des ersten Bandes bemerkt, die
Meinung Hrn. Oppert's. Dennoch verspricht der
Verf. die Berechtigung des Namens einer Akka-
dischen Sprache in einem folgenden Bändchen
zu beweisen, welches dieses Werk erst be-
schliessen und auch einige längere Stücke A k ka-
discher Sprache mit Erläuterungen bringen soll.
Ueberblicken wir aber hier zum Schlüsse
die ganze Entwickelung der Urgeschichte jenes
Asiatischen Nillandes, so ergibt sich auch durch
diese neuen Aufschlüsse wie gewiss die Semiten
nicht das Urvolk in demselben waren. Wir
konnten uns davon auch aus anderen Spuren
überzeugen, da schon alle die übrigen Anzeichen
beweisen dass die Semiten in einer verhältniss-
jnassig erst späteren Zeit vom inneren Asien
Lehonnant, Lettres assyriologiques. 545
herab das südliche bis nach Afrika hinein über-
schwemmten: wir nehmen aber nnn diesen so
gegebenen neuen wichtigen Beweis desto lieber
an. Nachdem sie aber dieses herrliche Strom-
gebiet einmahl sich unterworfen hatten, eigneten
sie sich zwar von der hohen Bildung des Ur-
volkes vieles an, lösten es aber im* Laufe der
langen Jahrhunderte immer vollständiger in sich
auf; wie sie es ähnlich in den Theilen Afrika's
thaten welche sie ebenfalls schon in sehr alten
Tagen in Besitz nahmen, und wie es die Araber
seit Mubammed mit Aegypten machten. Das
Akkadische als lebende Sprache ging damit in
Babylonien so früh unter dass wir ausserhalb
dieser Keilschriften vergeblich Ueberbleibsel von
ihm in jenem Lande aufsuchen würden; ähnlich
wie das Koptische jetzt in Aegypten völlig ab-
gestorben ist. Wie es sich aber neben den
Akkadiern und Assyrern mit den Ghaldäern
verhalte, ist eine Frage welche nun ebenfalls
eine neue Erforschung unentbehrlich macht
— Das zweite der oben bemerkten Bücher
bringt den wirklichen Anfang des Druckes eines
grossen Werkes unseres Verf., von welchem die
Einleitung für sich schon im J. 1866 er-
schien und in den Gel. Anz. 1867 S. 1041 —
1053 beurtheilt wurde. Indem wir $n dieser
Stelle auf jene Beurtheilung ausdrücklich zurück«
verweisen, wollen wir nur bemerken dass diese
erste Hälfte oder Lieferung ausser der Einlei-
tung noch nicht vieles von dem Werke selbst
enthält und mitten im Satze abbricht. Das
Werk ist auf 5 Bände berechnet, jeder in zwei
Hälften erscheinend; sein Inhalt ist aber so be-
deutend und wird so mancherlei neues und in
neuer Weise unterrichtendes bringen dass wir
seine baldige und glückliche Vollendung nicht
42
546 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14. ~
genng wünschen können, um es dann auch in
seinem Haupttheile einer näheren Beurtheilung
zu unterziehen. EL E.
Sulla ricostitnzione della scuola di paleo-
grafia ed arte critica diplomatica negli archivi
di stato di Torino cenni storici e proposte di
Gaudenzio Glaretta. (Estratto dalT arch,
stör. Ital. ser> III, t. XVI. Firenze tipografia
Galileiana 1872).
Für die archivalischen Forschungen ist in
Piemont eine neue Aera angebrochen; bereits
Stück 50 der Gott. gel. Anz. von 1872 habe ich
eine anonym erschienene, von einem Piemonte-
sen verfasste, in dies Gebiet einschlagende
Schrift besprochen. Die vorliegende zerfällt in
2 Theile. Einmal gibt der Verf., auf dem Felde
archivalischer Forschung schon rühmlichst be-
kannt und deshalb eine gewichtige Stimme, ge-
schichtliche Nachrichten über die früher be-
standene, jetzt neu durch die Bemühungen des
neuen Direktors des Turiner Staatsarchivs, Ni-
comede Bianchi, ins Leben gerufene palaeogra-
phische Schule; zweitens macht er betreffs der-
selben Vorschläge, die sich auf eine lange Er-
fahrung gründen und den Zweck haben, dieje-
nigen der kgl. Commission yon 1870 zu er-
gänzen.
Schon die alte Schule hatte sich einen Na-
men verschafft. Der Urkundenreichthum Italiens
war seit alter Zeit ein ausserordentlicher, Cla-
retta steht nicht an zu sagen: conserva il
maggior numero di carte; fast jede Stadt, oft
*Claretta, Scuola di paleografia. 547
sogar eine ganz bescheidene Commune, hat ihrer
die Fälle ; von Zeit zu Zeit begrüssen wir schöne
Veröffentlichungen aus Italien*). Eine beson-
dere Fundgrube waren stets die Klöster; das
Archiv von La Cava im Neapolitanischen be*
sitzt allein 40,000 Pergamenthandschriften, un-
ter ihnen 1600 Urkunden und Bullen; Monte-
cassino 30,000 Dokumente **). In Rom, wo das
Archivwesen fast immer in Bliithe war, befin-
den sich Millionen von Dokumenten bei den
Kongregazionen des Santo Ufficio, des Indice,
der Riten, der Propaganda u. s. w. Schon seit
den Zeiten von Petrarca und Sigonius wurde
die diplomatische Kritik aufs eifrigste betrieben.
Papebroch, der 1675 seine erste Abhandlung
veröffentlichte, folgten Mabillon, die Mauriner,
Baring, Maffei; Napoli Signorelli und Pelliccia
lehrten in Neapel und Bologna, Fumagalli in
Mailand Palaeographie und Diplomatik. Dann
kamen die Bollandisten, Baluz, Montfaucon,
Ducange, Leibniz und Muratori. Das heisst:
Deutsche, Franzosen und Italiener haben diese
Wissenschaft allein zuerst ausgebildet.
Indessen änderten sich die Zeiten sehr; wäh-
rend die Regierungen der Grossmächte sich,
vielleicht mit Ausnahme Russlands, um diese
Wissenschaft bekümmerten, war sie in Italien
vom Staate im Stich gelassen worden, welcher
mit wichtigeren Dingen, vor allem mit der Her-
stellung der nationalen Einheit, zu thun hatte.
Und doch hatte Bologna schon 1803, Neapel
*) Vergleiche meine Besprechung des Summarinm
monumentorum omnium quae in tabulario mnnicipii Ver-
celiensis eontinentur ab anno 882—1441. Veroellis 1868
Gott gel. Anz. 1869 Stück 25.
**) Andrea Caravita: I codici e le arti a Monte*
cauino. Monteeassino. coi tipi della badia. 1870. 4 vol«
42*
548 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 14,
1818, Pavia 1824, Mailand 1842*), Palermo 1844,
Venedig 1854, Florenz 1858 ihre palaeographischea
Schulen. In Piemont datirt die alte pal. Schule von
1820. Hier war 1817 Prospero Balbo an die
Spitze der Commission für die Studienreformea
berufen worden. Er zögerte nicht, dem Könige
Victor Emanuel I. die Erneuerung der Univer-
sitätsstudien vorzuschlagen; als hinzukommend
schlug er vor: die höhere Physik, die ökonomi-
sche Politik und die Paläographie und Diploma-
tie Am 8. Februar genehmigte der König
seine Vorschläge. Inzwischen waren die letzte«
ren Studien privatim getrieben worden. Sie
fingen bereits an zu blühen unter Christine**),
welche schon von ihrer Mutter Maria von Medici
die Liebe zu den Wissenschaften und schönen
Künsten überkommen hatte. Damals gab Sa-
muel Guichenon, obwohl ein Höfling, doch das
bis dahin beste Werk über Savoiens Haus
heraus, besonders werthvoll durch die vielen
beigefügten Aktenstücke. Mehr Berühmtheit
noch erlangte Mons. Franc. Agost. Delia Chiesa
(de Ecclesia), Bischof von Saluzzo, Verfasser
einer Geschichte von Piemont und einer Chro-
nologie der Herzoge von Savoien und der Mark-
grafen von Saluzzo, der Corona reale di Savoia
und der Descrizione di tutto il Piemonte, welche
letzteren beiden Werke er handschriftlich hinter-
liess, ebenso wie die Discorsi sulle famiglie no-
bili piemontesi, welches Werk sein Neffe, Bi-
schof Ignazius von Casale, fortsetzte. Er ver-
fasste auch die Fiori di blasoneria: alle 3 zu-
*) Hier schrieb über Palaeographie Luigi Ferrario,
vicedirettore deli* archivio (di stato) S. Fedele.
••) IS. Claretta La reggenza di Crwtina di Francis,
duchesea di Savoia. Torino 1868. Vgl. Q. Q. A. 1868
St. 19.
Claretta, Scuola di paleografia. 549
letzt genannten Arbeiten sind aber nicht voll-
endet worden. Er starb 1663, im selben Jahre,
in welchem abate Pier Goffredo di Nizza zum
Historiographer! von Savoien ernannt ward, wel-
cher sich einen Namen erwarb durch seine
Storia delle alpi marittime und durch seine
Kicea civitas eacris monnmentis illustrata. Va-
leriano Castiglione hinterliess handschriftlich
eine Lebensbeschreibung von Victor A madaensl.
und die Geschichte der Regentschaft der Cri-
stine, aber er war ein feiler Hofgeschichtschrei-
ber; der Bischof Brizio von Alba behandelte
die Fortschritte der occid. Kirche in einem
Buche, das sich gleich wenig empfahl durch sei*
nen Stil wie durch Mangel an Kritik. 1692
starb Goffredo*) und der abate Cesar Vichard
di San Real, von Glaretta ebenfalls als istorio-
grafo di Savoia bezeichnet, der zwar ein ausser-
ordentlich gutes und schönes Französisch schrieb,
aber weder die Archive benutzte noch paläogra-
phisch ausgebildet war. Mit ihnen schloss das
17. Jahrh. ab, so arm an guten Landesgeschich-
ten durch die Schuld der Savoischen Herrscher.
Johanna Baptista wollte Gristine nachahmen
und berief aus Venedig Girolamo Brusoui, der
ihr seine Feder ganz verkaufte, auch in Turin
eine accademia letterario-linguistica gründete,
ein Institut, das indessen nur eine ganz vorüber-
gehende Wirksamkeit entfaltete.
Wir sahen bereits früher**), dass die Re-
gierung bis 1720 ihre Archive geschlossen hielt;
in diesem Jahre ward die Einsicht von Doku-
menten bei Prozessen gestattet, im übrigen
musste alles hinter Schloss und Riegel bleiben.
*) Claretta nennt ihn an dieser Stelle Qioffredo.
Jag. 6 n. 1 ißt eu lesen Peterborough.
**) & Q. A. 1872 Seite 1996.
650 Gott. gel. Anz. 1879. Stück 14.
So war . die Palaeographie und Diplomatie ins
Privatleben zurückgedrängt; einzelne Gelehrte
pflegten sie unter unendlichen Hindernissen.
Gegen 1753 gaben ßivautella und Berta das
cbartarium Ulciensis ecclesiae heraus. Inzwi-
schen arbeitete sich langsam eine neue, kritische
Zeit herauf. An ihrem Anfange steht Gian
Tommaso Terraneo mit seinen Schülern Angelo
Paolo Carena und Giuseppe Vernazza*). Ter-
raneo war Sohn des Gian Lorenzo T., Profes-
sors der Medizin an der Universität Turin, der
sich auch schriftstellerisch bekannt gemacht hat;
er verlor den Vater früh und fand bei seinen
geschichtlichen Forschungen überall Nebenbuhler
und mächtige Feinde, welche die Wissenschaft
und die Gelehrten gleichmässig bassten und
fürchteten und nichts Fremdes neben sich auf-
kommen lassen wollten. Ja sie betrachteten
den als einen Barbaren, der nichts Besseres zu
tbun wüsete, als in staubigen Archiven seine
Kleider zu verunreinigen. Unbeirrt von allem
schrieb Terraneo an der Geschichte des Hauses,
welches ihm die Urkunden seiner eigenen Ge-
schichte verweigerte**). Aber unter Privaten
fand er einzelne Maecenaten: so den Grafen
Girolamo Luigi Malabaila***) di Ganale, Ge-
sandten von Karl Emanuel III. in Wien, durch
*) Memorie storiche intoruo alia vita ed agli studi
di Terraneo Carena e Vernazzo von Claretta Torino
1862, ein für Piemonts Historiographie sehr werthvolles
Bach.
"*) Ganz ähnliche Klage fuhrt Oiov. Battista Uccelli
in der Einladung zur Subscription auf sein Werk Firenie
antica.
***) Die Malabaila hielten ein berühmte« Bankhaus in
Borgo di Bressa. Claretta, abb. di 8. Michele della
Chiusa p. 68 n. 2.
r
Claretta, Scuola di paleografia. 651
Freundschaft verbunden mit Metastasio und
Denina, von Terraneo selbst in seinen Schriften
oftmals lobend erwähnt.
Terraneo starb 1771. Es folgten Giambatt.
Moriondo, der eine werthvolle Geschichte Aquis,
und Trico, der eine gleichfalls schätzbare Ge-
schichte Trinos lieferte; Giuseppe Franc. Mei-
ranesio, Pfarrer von Sarabuco im Thale der Stura,
woselbst er 1793 starb, brachte zum Druck den
ersten Theil seines Pedemontiura sacrum, während
er den zweiten handschriftlich hinterliess, der
vor einigen Jahren durch den Domherr Bosio
in den Bänden der Storia patria veröffentlicht
worden ist. Carlo Promis, Giuseppe Manuel,
Theodor Mommsen und Muratori da Bene haben
ihn aber fur einen Fälscher erklärt, eine Be-
hauptung, der, wie es scheint, Claretta nicht
ohne weiteres beitreten will. Sehr fruchtbar
war dann Jacopo Durandi da Santhiä, der durch
sein Piemonte Cispadano e Traspadano, seine
Marca dTvrea und Delle antiche cittä di Pedona,
Caburro, Germanicia ed Augusta de9 Vagienni,
1769 über die alte Geographie Piemonts neues
Licht verbreitete; er hatte allerdings gefährliche
gelehrte Schrullen und vorgefasste Meinungen,
doch wird Niemand seinen Schriften tiefe Ge-
lehrsamkeit absprechen. Gleichzeitig lebte der
Domherr Giodchino Grassi, Patrizier von Mon-
dovi; seine Familie war unter dem Namen der
von Santa Cristina bekannt. Er veröffentlichte
1789 seine Memorie storiche della Chiesa vesco-
vile di Monteregale, 1804 2 hübsche Disserta-
tionen ober die Universität und die Typographie
in Mondovi, welches die Buchdruckerkunst schon
1472 durch Balthasar Cordero bei sich ein-
führte, der sich zu diesem Zwecke mit einem
Deutschen verband. So blieb Mondovi 2 Jahre
553 Gott, gel Anz. 1873. Stück U.
hinter Savigliano zurück , wo 1470 Cristoforo
de' Beggiami diese Kunst schon heimisch ge-
macht hat , eilte aber Torin um 2 Jahre voraus.
Grassi hatte indessen , wie Glaretta nachweist,
an der Abfassung der Storia della chiesa del
Mondovi den geringsten Antheil; er hat aber
das grosse Verdienst, den Stoff zusammenge-
bracht zu haben; die Fassung rührt her von
Beinen Freunden Moriondo, abate Vasco und
cav. Ferrero. Der zweite ist der Verfasser des
Saggio politico sulla moneta, sull' usura libera,
e sulle universita delle arti e mestieri; der
letzte nach Claretta vielleicht Amedeo Ferrero
di Ponziglione *). Ein umfangreicher Briefwech-
sel zwischen Grassi und Vernazza ist uns er-
halten worden; Grassi hinterliess ausserdem
viele handschriftliche Arbeiten, besonders wich«
tig für Mondovi , über welches auch Lobera und
Nallino schrieben, Zeitgenossen Grassis.
Und so könnte ich noch eine Reihe Ge-
schichtschreiber aus dieser Zeit nennen; aber
da sich dieselben nicht über das Gewöhnliche
erheben, so wird es gut sein, sich hier zu be-
schränken, beziehungsweise auf Claretta zu ver-
weisen. Ich hebe nur hervor Carlo Filippo Ris-
baldo Orsini di Orbassano, der ein Werk über
die Kardinäle schrieb, das ins Deutsche über-
setzt ist, sowie die Lezioni sopra le iscrizioni
volgari, und Giov. Ant. Banza, welcher heraus-
gab Poesie e memorie di donne letterate.
Diese gelehrten Piemontesen stifteten 1781
die societä filopatria, welche in den Ozii lette*
rari (3 Bände) und in der biblioteca oltramon«
tana ihre Arbeiten niederlegte. Hier glänzen
*) Ueber das Geschlecht Ferrero vgl. G. G. A. 1872
Seite 64.
Claretta, Scuola di paleografia. 553
die tarnen Giambatt. Bodoni aus Saluzzo, Carlo
Denina di Revello aus der Provinz Saluzzo,
(beide f 1813, der erste in Parma, der zweite
in Paris), Carlo Tenivelli, Verf. der Biografia
piemontese (5 Bde.), der als Opfer des Despo-
tismus fiel.
Sein Schüler Carlo Botta errichtete ihm ein
Denkmal in seiner Storia d'Italia. Weiter sind
zu nennen die beiden Schüler von Terraneo:
Angiolo Paolo Carena der Carmagnolese, den
Cibrario di mente piü vasta nennt, che si fosse
mai presso di noi con 8 a erat a agli studi storici,
und Giuseppe Vernazza, geb. in Alba 1745,
Sohn eines Arztes aus Cervere, später ernannt
zum Baron von Freney in der Mori ana. Carena
starb . bereits 1769, noch nicht 80 Jahre alt,
hatte aber bereits zwei Schriften veröffentlicht:
II corso del fiume Po und die Osservazioni sopra
Fete di Omero e di Esiodo; dagegen hinterliess
er Hs8., welche von seiner grossen Gelehrsam-
keit sprechendes Zeugniss ablegten. Den ersten
Platz unter diesen behaupten die Discorsi sto-
rici, um 1766 geschrieben; er beschäftigte sich
auch mit dem Ursprünge des Hauses Savoien.
Diesoeieta di filosofia e matematica, die spätere
Akademie der Wissenschaften in Turin, nahm
ihn unter ihre Mitglieder auf.
Grösser war der Ruf von Vernazza, der ein
hohes Alter erreichte. Die Leute hielten ihn
fur verrückt, weil er, um nicht die republikani-
sche Nationalkokarde zu tragen, mitten im Win-
ter lieber unbedeckten Hauptes einherging; seine
mit grösster Vorliebe getriebenen heraldischen
Forschungen kosteten ihm ein Auge. Er war
ein Charakter wie Cato Uticensis, unbeugsam,
ergeben seinen Fürsten, fur die er Vermögen,
Annehmlichkeiten und Ehren opferte, die er von
554 Gott. gel. Anz. 1873. Stack IL
der neuen Regierung hätte gewinnen können; er
erduldete Gefängniss und Sequestration und
starb, fast im Elend, 1822 zu Turin. Freund-
schaftlich verbunden mit Saluzzo, Balbo und
Valperga Caluso, stand er mit den ersten Ge-
lehrten Europas in Briefwechsel; er war Sekre-
tär der k. Akad. d. W. und Universitätsbiblio-
thekar. Die Masse der von ihm durchforschten
Aktenstücke machte ihn bei seinem feinen krit.
Urtheil zum gewiegten Palaeographen.
Des Zeuge sind seine Schriften, von welchen
einige zwar gering an Umfang sind ; alle aber
sind sie höchst belehrend. Er zog tüchtige
Schüler heran; als den ausgezeichnetsten nennt
er selbst Lodovico Costa (geb. zu Gastelnovo
di Scrivia), welcher veröffentlichte die Cronaca
di Tortona, il Gartario di Tortona und die Rime
di Matteo Bandello. Aber bereits Mai 1822
starb Vernazza und die palaeogr. Schule hörte
auf bis 1826, wo Gian Franc. Galeani Napione
(geb. 1748), selbst ein bedeutender Gelehrter, in
seiner Eigenschaft als erster Präsident und Su-
perintendent über die Archive 4di corte', die Wie-
derherstellung des pal. Unterrichts durchsetzte,
der nun 15 jungen Leuten ertheilt wurde; auch
2 Archivbeamte wurden zugelassen auf Veran-
lassung des Gf. Vidua; in seinem Regolamento
spricht der Graf den Wunsch aus, dass man
solche Schulen in den Hauptorten des Staates
errichte, wo Archive von Bedeutung seien. Karl
Felix begünstigte diese Bestrebungen ; die Schule
bestand bis 1835, das Directorium wurde Pietro
Datta anvertraut; er hatte damals geschrieben
über den Gründer von Novalese und den Zug
Amadaeus' VI. in den Orient; später schrieb er
die Storia dei principi di Acaia und dieLezioni
di paleografia ed arte critica diplomatics, ein
Claretta, Scuola di palaeografia. 555
heute noch gebrauchtes und brauchbares Blieb.
Datta wurde Intendant; sein Vorgesetzter war
der Gf. Gaspare Michele Gloria, erster Präsi-
dent, der Nachfolger Napione's. Gloria war ein
tüchtiger Rechtsgelehrter, aber archivalische
Forschungen begünstigte er durchaus nicht.
Als Datta 1835 abging, hörte der pal. Unter-
richt wieder auf. Damals war Direktor der Ar-
chivi di Corte Gf. Luigi Nomis di Cossilla, ein
Beamter, der sich streng an die strengen Vor-
schriften hielt, welche nicht nur die Mitthei-
lung, sondern auch die Einsicht der Akten-
stücke verboten; so wurden die Archive nur hie
und da von einem Beamten benutzt, dem man
sie nicht verschliessen konnte; man machte aber
sein Ansehn weislich durch eine Unzahl von
Klauseln und Weitläufigkeiten geltend; die Ar-
chivare gaben sich jene geheimnissvolle Amts-
miene, die im Alterthum die Priester von Isis
und Osiris anzunehmen fur gut befanden. Der
Regierung von Karl Albert war es vorbehalten
einen andern Stand der Dinge herbeizufuhren.
Freilich, fur die pal. Studien bat er während
seiner kurzen Regierungszeit nichts gethan*),
aber er zeigte seine Achtung vor der geschicht-
lichen Forschung dadurch, dass er am 10. April
1833 die Real deputazione di storia patria grün-
dete, die ihren Sitz im kgl. Pallast hat und
ihre Versammlungen in einem Saale der Archivi
di corte hält; diese deputazione erhielt das
Recht, sich aller kgl. Archive und Bibliotheken
zu bedienen. In Turin wurden in diese Depu-
*) Der praktische Unterricht kam indessen bis auf
unsere Zeit, wo commend. Castelli Generaldirector des
Archivs ist, der sich den Forschern immer günstig ge-
zeigt hat, nnd cav. Combetti, ein vorzüglicher Palaeo-
graph, Abtheilongsvorstaod ist
556 Gott. gel. Anz. 1678. StUck 14.
tftzion berufen: Cesare Balbo, Federigo Sclopis,
Giuseppe Manno, Amedeo Peyron*), Luigi Ci-
brario**), Lodovico Sauli, Luigi Provana, Co-
8tanzo Gazzera, Lod. Costa, Domenico Promis,
Felice Duboin und Pietro Datta. Zu ihnen
kommen der ausgezeichnete Nationalökonom
Giacomo Giovatietti in Novara und Carlo Mu-
letti, Verf. der Memorie storiche dei marchesi
di Saluzzo. In kurzer Zeit veröffentlichte die
Deputazion 2 Bände Chartarum, welche wich-
tige Urkunden des 10., 11. und 12. Jahrhunderts
enthalten. Zu den Genannten gesellten sich
bald Carlo Baudi di Vesme, bekannt durch
seine Arbeiten aber die Langobardisohe Herr»
schaft und über die Geschichte Sardiniens, Giulio
Cordero di S. Quintino, ausgezeichnet durch
seine archaeolog. Forschungen und Aufdeckung
zahlreicher Fälschungen von Geschichtschreibern
des 18. Jahrb. (bes. Gaspare Sclavo di Lesegno),
sowie zahlreiche Dissertazionen über Urkunden
der ältesten Zeit; Carlo Promis, ein vorzügli-
cher Archäologe, "von allen gerühmt wegen sei-
ner einzigen Genauigkeit; Tommaso Vallauri,
Verf. der Storia delle universitä del Piemonte,
der Storia della poesia in Piemonte und der
Storia delle istituzioni letterarie Piemonteai.
Die Deputazion hat jetzt bereits 13 Bde. fol.
veröffentlicht: 2 Chartarum, 4 Scriptorum, 1
*) Vgl. Sclopis Della vita et depli etadi di Amadeo
Peyron. Torino staraperia reale 1870. Estratto dagH
atti della real accademia delle scienze di Torino« Vol. v.
Adunanza dell' 8 Mar*io 1870. Wiener allg. Lit. Ztg.
1870 Anjrtist 29 (n. 85).
*•) Rassegoa biblioprafica di G. Claret U lulla vita
letteraria del conte L. Cibrario descritta da Leone Tet-
toni. Firense tipi Cellini alia Galil. 1872. Yortrenüehes
jBehriftchen.
Claretta, Scuola di paleografia. 557
Lege» municipales, 2 der Libri jurium reipubli-
cae Genuensis, 1 Edicta Longobardorum, 2 Co-
dices diplomatici Sardiniae, nicht gerechnet 12
Bde. Miscellanea in gross Oktav über Italiäni-
sche Geschichte im Allgemeinen. Cibrario
machte 1832 und 33 eine Reise durch die
Schweiz, Frankreich, Deutschland und Italien
mit Dom. Promis im Auftrage des Herrschers.
Die Frucht waren die Documenti, sigilli e mo-
nete. Gf. Sclopis, gegenwärtig Präsident der
Depatazion, veröffentlichte die Statu ti di Nizza
marittima und die Statuti die Torino, seit 1836,
nachdem bereits (wir können uns hier nicht
weiter einlassen auf seine Storia della legisla-
zione italiana, 4 Bde.) die Antica legislazione
in Piemonte (1833) vorausgegangen war. Wei-
ter sind zu nennen die gelehrten Arbeiten von
Dom. Carutti und Ercole Ricotti. Am 30. Mai
erinnerte die Depatazion daran, wie wünscbens-
werth es sei, dass die öffentliche pal. Schule
wieder ins Leben trete. Am 23. März 1862
theilte ihr der commend. Ercole Ricotti, gegen-
wärtig Vicepräsident, die Vollmacht mit, welche
dem Venezianer Gesare Foucard ertheilt war,
der bei den Archivi generali in Turin bisher
beschäftigt worden war. Die Vollmacht lautete
auf Eröffnung eines freien Gursus der Paläo-
graphie an der Universität. Aber auch diesmal
entsprach der Erfolg den Erwartungen nicht.
Da gab die Commission, welche das Ministerium
1870 ernannte, einen neuen Anstoss. Sie be-
stand aus Cibrario, Castelli, Pallien, Trinchera,
Gar, Osio, Canestrini und Guasti. Hier aber
8chlie88e ich meinen Bericht, indem ich nur
noch bemerke, dass mir die Vorschläge Cla-
rettas fiber das Gesetz für den pal. Unterricht
658 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14.
sehr beachtenswerth erscheinen; die ernannte
Commission wird gut than, nach ihnen ihren
Entwurf zu verbessern.
Münster. Dr. Florenz Tourtual.
Kleinere Schriften von W. Wackernagel.
Erster Band. Abhandlungen zur Deutschen
Alterthumskunde und Kunstgeschichte. Leipzig.
Verlag von S. Hirzel. 434 Seiten in Octav.
Zu den schmerzlichsten Verlusten, welche die
Deutsche Wissenschaft in den letzten Jahren er-
litten, gehört der des trefflichen Mannes, dessen
gesammelte Abhandlungen hier mitgetheilt wer-
den. Noch in der vollen Manneskraft ward er
dahingerafft, und manche Hoffnung auf weitere
Arbeiten und Veröffentlichungen damit zerstört:
die Literaturgeschichte blieb unvollendet, die
Darstellung Deutscher Alterthümer in Anschluss
an Tacitus Germania ungeschrieben und noch
mehr als ein Plan, den er bereits angekündigt
hatte, unausgeiührt. So müssen wir jetzt als
freilich schwachen Ersatz dankend hinnehmen,
was in dieser Sammlung geboten wird, eine Ver-
einigung der zahlreichen kleineren Arbeiten,
die als Vorläufer, in gewissem Sinn als Theile
jener grösseren in Aussicht genommenen Werke
angesehen werden können.
Dahin gehören vor allem die beiden Abhand-
lungen: Familienrecht und Familienleben der
Germanen, und: Gewerbe, Handel und Schiff-
fahrt der Germanen, die lange als erfreuliche
Boten von der Absiebt eine Schilderung des
Lebens der alten Germanen überhaupt zu geben
Kleinere Schriften von W. Wackernagel. 559
betrachtet worden sind. Freilich erinnern uns
nun die beigefügten Jahreszahlen (1846. 1853)
wohl, dass der Plan etwas überjährig geworden
und der Verfasser demselben offenbar nachher
mehr entfremdet ist, wo die Beschäftigung mit
dem späteren Mittelalter, seiner Literatur und
Kunst, dann auch den Denkmälern der folgen-
den Zeit ihn vorzugsweise in Anspruch nahm.
Aus dieser Zeit sind in diesem Bande die Auf-
sätze über den Todtentanz, die goldene Altar-
tafel zu Basel, Ritter- und Dichterleben Basels
im Mittelalter, über die Spiegel im Mittelalter,
die Farben- und Blumensprache des Mittelalters.
Der letzte ist der Zeit nach der jüngste, dem
Umfang nach der grösste in diesem Band, und
wohl in vieler Beziehung auch besonders cha-
rakteristisch für die zugleich weit umfassende
Kenntnis der Literatur des Mittelalters, welche
Wackernagel besass, und die sinnige und feine
Art, wie er dasselbe aufzufassen, seinen Nei-
gungen und Gewohnheiten nachzugehen wusste.
Die Abhandlung ist, ebenso wie die vorher-
gebende über die Spiegel, hier zum ersten Male
gedruckt. Den andern Aufsätzen sind manche
Nachträge aus den Handexemplaren des Verfas-
fers beigefügt, am wenigsten, so viel ich be-
merkt, dem ersten über Familienrecht und Fa-
milienleben, wo denn auch nach den zahlreichen
neueren Publicationen auf dem Gebiet des Deut-
schen Rechts wohl zumeist eine ganz neue Durch-
arbeitung des Stoffs erforderlich gewesen wäre.
Die übrigen vorher noch nicht genannten
Aufsätze, welche der Band bringt, sind: Mete
Bier Win Lutertranc, Das Schachspiel im Mittel-
alter, Das Glücksrad und die Kugel des Glücks,
und zum Schluss »der frische und feine Scherze,
wie der Herausgeber Prof. Heyne sagt: Die
1
560 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 14.
Händchen yon Bretzwil und Ton Bretten, ans
dem J. 1865, dessen satirische Mythendeutung
freilich von einzelnen fdr Ernst genommen
worden ist.
Wackernagel war eine gesunde, auf dem Bo-
den seiner neuen Heimath eigenartig entwickelte
Natur, mit der Richtung, welche seine Wissen*
Schaft in neuerer Zeit genommen, in mancher
Beziehung nicht einverstanden: auch das Kleine
achtete er und wusste es zu nutzen, aber alles
Kleinliche und künstlich Gemachte war ihm zu-
wider. Dabei hatte er vielen Sinn für ange-
messene Form und entsprechenden Ausdruck:
mit Vergnügen liest man bei ihm auch die spe-
ciellsten Untersuchungen; er wusste die ernste
Wissenschaft auch weiteren Kreisen zugänglich
zu machen und fügte sich gern einem Brauch
der Basler Gelehrten, der, wie er im J. 1846
schreibt, »ohne Zeitungsgeräusch schon Beit einer
Reihe von Jahren bestellte, vor einem gemisch-
ten Publikum die Resultate seiner Forschungen
mitzutheilen. Es entsprach seiner Neigung 6ich
einzelnen Ausführungen hinzugeben, und dies hat
uns eine ganze Reihe dieser Aufsätze eingetragen,
die wohl als Muster dafür dienen können, wie
die strenge Wissenschaft sich einer edlen Popu-
larität befleissigen kann, und die jetzt dazu bei-
tragen werden, das Andenken Wackernagels auch
in weiteren Kreisen zu erbalten.
G. Waitz.
561
Gftttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 15. 9. April 1873.
Ueber die Aetiologie des Typhus. — Vor-
träge, gehalten in den Sitzungen des ärztlichen
Vereins zu München von Buhl, Friedrich,
t. Gietl, v. Pettenkofer, Bänke, Wolf-
et einer. — München. Finsterlin. 1872.
Die Typhusepidemie des Winters 1871/2 in
München war die Veranlassung zu der in diesen
Vorträgen (März bis Juni 1872) geführten Dis-
cussion. Es handelt sich in derselben wesent-
lich um drei Fragen, wie sie in dem ersten
Vortrage von Wolfsteiner in Anregung ge-
bracht wurden, um die Frage betreffend die
Contagiosity oder Uebertragbarkeit des Typhus,
um die Frage betreffend die Beziehungen des
Grundwassers und seiner Bewegungen zum
Typhus und um die Frage über die Beziehungen
des Trinkwassers zum Typhus.
Wolfsteiner erkennt im Typhus eine con*
tagiöse Krankheit, übertragbar durch ein im
Kranken sich entwickelndes flüchtiges Conta-
gium, wofür als ein Gegensatz zu den nicht
contagiösen reinen Bodenkrankheiten, den Ma-
43
562 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 15.
lariakrankheiten, die Aehnlichkeit gewisser all-
gemeiner Charakterzuge im Entstehen, Auftre-
ten, Verlauf des Typhus mit Blattern, Schar-
lach, Masern geltend gemacht werden, die auf
Entwicklung des Typhusgiftes im Körper ihn
entschieden hinweisende Incubationszeit, die Un-
abhängigkeit der Typhusepidemien von Jahres-
zeit und Witterung, die den contagiösen Krank-
heiten eigene und auch beim Typbus sich zei-
gende, bei den Bodenkrankheiten nicht nur
fehlende, sondern eher in's Gegentheil verkehrte,
relative Immunität des ein Mal Befallenen, wel-
ches letztere Moment Buhl (p. 69) als ein für
die contagiösen Krankheiten characteristisches
nicht anerkennt. Wolfsteiner führt ferner
Beispiele vor von Einschleppung des Typhus
durch einzelne Kranke in bis dahin typhusfreie
Ortschaften auf dem Lande, Fälle, in denen die
epidemische Verbreitung des Typhus durch den
menschlichen Verkehr von der einschleppenden
Person aus zu verfolgen ist, was, wie auch
v. Gietl (p. 102) so wie nach Ranke's Citat
(p. 118) Griesinger betonten, auf dem Lande
überhaupt viel deutlicher und sicherer zu be-
obachten ist, als in grösseren Städten. In die-
sen sind, wie Wolfsteiner bemerkt, solche
Beobachtungen über Ausbreitung des Typhös
durch Contagion unter Anderm namentlich
dadurch so erschwert, dass daselbst die Bedin-
gungen für autochthonen Ursprung des Typhus
so häufig gegeben sind: so wie in Indien die
Bedingungen zum Ursprung der Cholera gege-
ben sind, und sich diese von dort aus durch den
Verkehr verbreitet, so sind vorzüglich die Gross-
städte die beständigen Ursprungsheerde des
Typhus, der auf das Land in der Regel durch
Verschleppung von jenen aus gelangt.
Buhl eta, Ueber die Aetiologie des Typhus. 563
y. Pettenkofer bestreitet die, wie er her-
rorhebt, Wolfsteiner's Anschauung nach zu
5ostulirende Constanz der auf Contagiositat des
yphus bezogenen Erscheinungen, meint (p. 22),
dass die Entwicklung einer Epidemie aus einem
einzelnen eingeschleppten Falle eine Seltenheit
sei und nicht die Regel, giebt jedoch dann auch
zu (p. 23), dass der von Wolfsteiner be-
sonders hervorgehobene, von ihm selbst beob-
achtete Fall (Thalmässing) allerdings öfter vor-
komme» v. Pettenkofer verlangt aber für
die Anerkennung der Gontagiositat den Beweis,
dass in gewisse durch ihre Immunität ausge-
zeichnete Gegenden entweder weniger Contagium
eingeschleppt sei oder dass dort die Menschen
weniger zu Typhus disponirt seien, als in ande-
ren durch ihre Epidemien ausgezeichneten Ge-
genden: letztere Forderung zu erfüllen ist frei-
lich zur Zeit für keine Krankheit möglich, und
doch unterliegt es keinem Zweifel, wie auch
Buhl bemerkt, dass das, was Disposition ge-
nannt wird , >der dunkeln Ursache dunkler be-
griffe, wie Buhl sagt, (vielleicht aber doch nicht
so schlechterdings dunkel, wenn man an die Mög-
lichkeit denkt, dass eine irgend wie erkrankte, etwa
entzündlich oder katarrhalisch gereizte Darm«
Schleimhaut gegeben sein müsste, als Bedingung für
die Wirksamkeit des Typhusgiftes) eine bedeu-
tende Rolle spielt, wie denn Wolfsteiner
audi jener Forderung gegenüber bemerkt (p. 59),
dass mit deren Nichterfüllung auch die Conta-
giosität der Blattern wegdemonstrirt werden
könnte. So werden auch die die Contagiositat
des Typhus verfechtenden Aerzte schwerlich so
grossen Anstoss finden in den von Pettenko-
fer geltend gemachten Fällen von Beschränkung
der Epidemie auf einzelne Abteilungen einer
564 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
Caserne, von grossen Unterschieden im Verbal«
ten verschiedener Gasernen, zumal ja doch ganz
sichere Beobachtungen grade dafür vorliegen,
aase der Anschein von, wie v. Pettenkofer
meint (p. 22) »so ziemlicher Gleichheit der Ca-
sernen, Abtritte und des Soldatenlebens« auch
auf Täuschung beruhen kann, und selbstver-
ständlich die Verfechter der Gontagiosität des
Typhus den autochthonen Ursprung desselben
bei uns, in unserer Mitte, in Städten, in viele
Menschen beherbergenden Häusern anerkennen.
Dass der Typhus verscbleppbar sei, sich
durch den menschlichen Verkehr ausbreiten
könne, geben v. Pettenkofer und Buhl zu,
bestritten wird von ihnen nur eine auf Conta-
gium, nämlich auf im Menschen erzeugten An-
Stecklings- oder Krankheitsstoft beruhende Ver-
schlepp barkeit : Buhl seinerseits (p. 69) kennt
keinen einzigen sichergestellten Fall wahrer Con-
tagiosität des Typhus.
Typhus wie Cholera haben nach v. Petten-
kofer ihren Entwicklungsboden nicht im mensch«
liehen Körper, sondern in den ihn umgebenden
Localitäten. Der dort erzeugte betreffende
krankmachende Stoff kann äusserlich an Men-
schen oder Dingen haften und so verschleppt
werden, die einer solchen Verschleppung folgende
Ausbreitung der Krankheit hängt in ihrer Grösse
ab von der Quantität des Mitgebrachten und
von der Disposition der Oertlichkeit zur Ver-
mehrung des Mitgebrachten: verschleppter Ty-
phus, sofern er epidemisch wird, steckt nach
v. Pettenkofer die Oertlichkeit an, nicht
direct die Menschen (p. 25). Friedrich fin*
det sich namentlich auf Grund einer grössern
Anzahl von vom Lande eingesammelten Beob-
achtungen gleichfalls zu dem Satze veranlasst,
Buhl etc., Ueber die Aetiologie des Typhus. 565
dass obwohl entschieden viele Typhen nicht ent-
standen wären, wenn in die betreuende Woh-
nung nicht Typhöse gekommen wären, doch der
in einen Ort verschleppte Typhus nur zu ge-
wisser Zeit und nur durch gewisse Ortsverhält-
nisse verbreitet werde, was so verstanden wer-
den soll, dass die Ortsepidemie entstehe, wenn
der Ort befähigt sei, den Typhuskeim weiter zu
entwickeln, die Hausepidemie, wenn das Haus,
die Wohnungsepidemie, wenn die Mauern, die
Wände derselben dazu befähigt seien.
Wolf steiner wendet sich gegen v. Pet-
tenkofer's Ansicht mit der Frage, ob die
Zeitdauer von Epidemien der Cholera und des
Typhus bestimmt sei durch die Zeitdauer der
Disposition des Bodens, und erkennt seinerseits
vielmehr in dem Verlauf und der Zeitdauer sol-
cher Epidemien die Abhängigkeit von der Zahl
der disponirten Menschen, je kürzer der Krank-
heitsprocess im Individuum und je dichter die
Menschenansammlung , desto raschere Durch«
seuchung unter den als disponirt Vorauszusetzen-
den, desto kürzere Dauer der Epidemie.
v. Gietl, welcher sich an der eigentlichen
Discussion nicht betheiligte, sondern nur eigene
Beobachtungsresultate mittheilte und Schluss-
folgerungen aus denselben formulirte, erklärt
auf Grund seiner früheren Wahrnehmungen
ganz bestimmt — womit sich jüngst auch
Biermer einverstanden erklärte — die Darm-
ausleerungen und nur diese für die Träger des
nach v. Trietls' Vermuthung in der Form von
Sporen oder Pilzen darin enthaltenen Typhus-
giftes, welches durch die Zersetzung der Ex-
cremente noch wirksamer zur Verbreitung werde,
und an welchem überhaupt verschiedene Inten-
sitätsgrade zu unterscheiden seien, so dass das-
666 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
selbe nicht immer ausgeprägten Typhus wieder
erzeuge, sondern auch Darmaffectionen niedern
Grades, wie denn auch, womit Griesinger
übereinstimmt, hervorgehoben wird, dass nicht
alle Typhen in gleichem Maasse sich ansteckend
erweisen. Fäulnissstätten und daher besonders
grosse Städte erkennt v. Gietl als die Orte
der autochthonen Entwicklung des Typhusgiftes.
Dass auch Murchison zu dem Schlüsse ge-
langte, es könne die Uebertragbarkeit des Ty-
phus durch ein von dem Kranken ausgehendes
Gift nicht geleugnet werden, brachte H. Ranke
in Erinnerung, der ausserdem aus einem Ge-
neralbericht von C. F. Majer über die Sani-
tätsverwaltung in Baiern zahlreiche von auf
Contagion bezogener Ausbreitung von verschlepp-
tem Typhus citirt , so wie einige dahin ge-
hörige von ihm selbst beobachtete Fälle an-
fuhrt; doch giebt Bänke derartige Fälle, wie
sie bisher wohl schon als für Contagion bewei-
send angesehen wurden, preis gegenüber der
Theorie vom verschleppbaren Miasma seil. Bo-
denerzeugniss, erörtert aber (p. 123) einen an-
dern von ihm beobachteten Fall, bei welchem
es schon einigermassen schwer ist, die Ausbrei-
tung eines verschleppten Typhus ohne Mitwir-
kung des Leibes des Erkrankten zu erklären.
Da aber Bänke voraussieht, dass den Gegnern
der Contagiosität auch für derartige Fälle der
Ausweg bliebe, den Transport eines Miasma am
oder verschluckt selbst im Leibe zu statuiren,
so spitzt sich in der That die Streitfrage dahin
zu, ob der Kranke das Typhusgift verschleppt
ohne es in seinem Innern zu vermehren oder
ob er es unter Beproduktion und Vermehrung
in seinem Leibe verschleppt, und diese Frage
ist; wie Bänke bemerkt, zur Zeit einer that-
Buhl etc.) Ueber die Aetiologie des Typhus. 567
sächlichen Entscheidung nicht zugängig. Das
Wesentliche fur ietzt ist dies, dass die That«
sache der Verschleppung des Abdominaltyphus
durch Typhuskranke anerkannt und damit zu-
gegeben wird, dass das, was man nach bisher
üblichem Sprachgebrauch contagiosa Verbreitung
nennt, wirklich vorkommt: mit diesem Satze
schliesst Ranke mit Recht die Discussion der
ersten Frage, indem er die nähere Erforschung
des Modus operandi der Infection der Zukunft
überlässt, deren Aufgabe in dieser Richtung
denn auch obigem Schluss entsprechend in dem
zehnten der von Buhl und v. Pettenkofer
formulirten und vom ärztlichen Verein einstim-
mig angenommenen Scblusesätze (p. 155) hinge-
stellt wurde.
Die zweite von Wolfsteiner in den Kreis
der Discussion gezogene Hauptfrage betrifft die
durch die Untersuchungen von Buhl, v. Pet-
tenkofer, Seidel bekannte Beziehung der
Grundwasserstands- Bewegungen und der Typhus-
frequenz in München. Wolfsteiner unter-
wirft die Zahlen der jährlichen Typhusmortalität
in München aus den 17 Jahren von 1851 bis
1867 zunächst für sich allein einer Betrachtung
und erkennt in der ganzen Reihe zwei je acht*
jährige Perioden des, besonders deutlich in der
ersten Periode, fast stetigen Ansteigens je bis zu
einem Maximum, 1858 und 1866, mit raschem
Abfall von 1858 auf 1859 und besonders plötz-
lichem Abfall von 1866 auf 1867, wobei die
Summe der Todesfalle in beiden achtjährigen
Perioden fast genau gleich ist, 2252 und 2239
(die Zahl der typhösen Erkrankungen würde
ungefähr das lOfache betragen haben). Wolf-
steiner ist nun der Meinung, dass Vorstehen«
des unter Berücksichtigung der Contagiosity
568 Gott. gel. Auz. 1873. Stack 15.
des Typhus, so wie des Umstandes, dass das
Alter vom 18. bis zum 30. Lebensjahre beson-
ders disponirt ist und dass der Typhus relative
Immunität hinterlässt, dahin gedeutet werden
könne, dass der Typhus in München im Laufe
einer achtjährigen Periode allmählich alle dazu
Disponirten und in die grössere Disposition
hinein Alternden befallt, unter Anwachsen der
Epidemie die Einwohnerschaft durchseucht, dann
rasch nachlassen muss, um bei Fortbestehen der
Ursachen der autochthonen Entstehung von
Neuem allmählich anzuwachsen. Eine ganz
analoge, aber sechsjährige Periode erkennt
Wolfsteiner für die Blatternepidemie in
München 1863 bis 1868. Wenn Wolfsteiner
mit dieser Auffassung des Ganges der Typhus*
frequenz in München allerdings versucht, diesen
Gang derselben ausser directen und ausschliess-
lichen Causalnexus mit dem Gange der Grund*
wasserbewegungen zu setzen, was die lebhafte
Einsprache Seitens v. Pettenkofer's und
Buhl' 8 hervorrief, so darf doch nicht unbe-
rücksichtigt bleiben, dass Wolfsteiner damit
keineswegs jede Beziehung des Grundwassers zu
dem Typhus in Abrede stellen wollte, denn gleich
in dem ersten die Discussion eröffnenden Vor-
trage (p. 11 und 15) wies Wolf st einer dar-
auf hin, dass die Grundwasser frage wahrschein*
lieh durch Lösung der Trinkwasserfrage auch
ihrerseits die Lösung finden werde und zwar,
wie W. später (p. 57) seine Ueberzeugung aus*
sprach, die Lösung dahin, dass das Grundwasser
getrunken werde (womit der dritte Hauptgegen-
stand der Discussion berührt wird, auf welchen
wir noch besonders einzugehen, haben) ; auch
verwahrte sich Wolfsteiner später (p. 56)
dagegen, als hätte er die Coincidenz der stei-
^>
Bohl etc./ Ueber die Aetiologie des Typhus. 569
genden Typhusfrequenz mit dem Fallen des
Grundwassers in Manchen als etwas rein Zu-
fälliges bezeichnen wollen.
y. Pettenkofer bestreitet das Recht zu
obiger Deutung der Zahlen der Typhusmor-
talität reap, der Typhusfrequenz, weil abgesehen
davon, dass auch schon zwei Jahre vor dem
letzten Maximum der Mortalität ein fast eben
so grosses Maximum fiel, und überhaupt jene
achtjährige Periode, namentlich die zweite, nicht
ungestört hervortritt, die in jener Deutung mes-
send fungirende Grösse der Disposition der
Menschen zu Typhus keine an sich messbare
Grosse ist, und wendet ferner unter Anderm
namentlich dies ein, dass während auf Grund
der Thatsache des häufigen Erkrankens von
Pfalzern und Franken an Typhus in München
diesen Menschen eine besonders hohe Disposi-
tion zugeschrieben werden müsste, dennoch der
Typhus da, wo solche als hoch disponirt zu
postulirende Menschen wohnen, nicht so hei-
misch, nicht epidemisch werde, wie in München,
wo doch die Bewohnerschaft durchseucht und
abgestumpft sein müsse: dies zeige, dass die
Typhusfrequenz viel mehr von der Oertlichkeit
und überhaupt von äusseren Momenten abhängig
sei, ata von in den Menschen gelegenen Momen-
ten. Vorstehendes Argument wird für Wolf-
steiner aber wiederum dadurch hinfallig, dass
Derselbe (p. 62) auf Grund ärztlicher Nach-
weisungen sowohl die auf höbe Disposition der
Pfälzer und Franken bezogene Thatsache, als
auch die Immunität der Pfalz und Frankens
gegen epidemisches Auftreten des Typhus in
Abrede stellt.
v. Pettenkofer erkennt in jenem Ver-
suche WoJfsteiner's, die Typhuszahlen zu
44
670 Ö6tt. gel. An* 1678. Stück 15.
deuten, und in dem, was Derselbe gegen die Un-
zulänglichkeit der sogenannten Grundwasser-
theorie — ein Ausdruck, den Buhl ablehnt
— bemerkte, das, was er in folgendem Satze
zu8ammenfasste: die üoincidenz der steigenden
Typbusfrequenz mit dem fallenden Grundwasser-
stande ist in Manchen wohl eine Thatsache, die
beiden Vorgänge haben aber keinerlei ursäch-
lichen Zusammenhang, ihre Goincidenz ist etwas
rein Zufälliges: denn das Grundwasser von
München schwankt in ganzen Stadttheilen oft
sehr gleichmässig , aber der Typhus tritt in
allen Häusern derselben durchaus nicht gleich-
massig, sondern meist sehr ungleich auf, in
einigen oft früher und heftig , in anderen später
oder milde und selbst gar nicht. Wenn die
Grundwasser8chwankungen ein ursächliches Mo-
ment wären, so müssten gleich grosse und
gleichzeitige Schwankungen überall auch gleiche
Typhuswirkungen haben. Lautet eine Einsprache
gegen die sog. Grundwassertheorie so, wie Tor-
stehend, so ist, wie v. Pettenkofer ausfuhr-
lich auseinandersetzt, die Voraussetzung von
dem, was in München von Buhl, v. Petten-
kofer und Seidel über Beziehungen des Ty-
phus zum Grundwasser ermittelt und behauptet
wurde, nicht richtig: t. Pettenkofer forum -
lirt zur Richtigstellung des Thatsächlichen und
der Recbnungsresultate Seidel's eine Reihe
von Sätzen und veranschaulicht den Gang der
Typhusfrequenz und der Grundwasserbewegungen
in München von 1856 bis 1871 durch graphi-
sche Darstellungen. Wie Ranke bemerkt,
muss man hiernach einen causalen Zusammen-
hang zwischen der steigenden Typhusfrequenz
mit dem fallenden Grundwasserstande fiir Mün-
chen für erwiesen anerkennen, und es kann sioh
Buhl etc. , Ueber die Aetiologie des Typhus. 571
in der That nur noch um die Auffindung der
Erklärung für diesen Causalnexus handeln, um
die Auffindung des oder der vermittelnden
Zwischenglieder, denn, wie v. Pettenkofer
sagt, der Wechsel im Stande des Grundwassers
ist selbstverständlich nicht Etwas, was an und
fur sich Typbns verursachen kann.
Auch Wolfst einer leugnet, wie Buhl
zugiebt, den Zusammenhang zwischen Typhus-
frequenz und Grundwasserbewegung nicht, aber
Buhl wirft ihm vor, dass er diesen Zusammen-
hang nun doch nicht anerkennen wolle, was
wohl heissen soll, dass Wolfs tein er die Be-
deutung jenes Zusammenhangs als Thatsache an
sich nicht genügend anerkennt. Dies erscheint
nun auch in der That nicht so sehr verwunder*
lieh, denn offenbar ist das Wesentliche, was
Wolfsteiner zu dem Versuch veranlasst ha-
ben mag, die sog. Grundwassertheorie bei Seite
zu schieben, dies, dass er die Aufweisung eben
des vermittelnden und möglicherweise einen An*
griffspunkt für praktisches Eingreifen gewähren«
den Gliedes zwischen jenen beiden unmittelbar
ja doch keinenfalls zusammenhangenden Momen-
ten nicht nur zur Zeit vermisst, sondern auch
grade von Seiten Derjenigen, welche den in Rede
stehenden Zusammenhang fanden, in vorläufig
weite Ferne gerückt sieht, sofern ja eine ver-
mittelnde Rolle des Trinkwassers von v. Petten-
kofer und Buhl entschieden geleugnet wird.
So wird es wohl verständlich, wie Wolfsteiner
in dem Bestreben helfend einwirken zu können
und mit mehr als erlaubtem Zweifel an der be-
haupteten Bedeutungslosigkeit des Trinkwassers
zu dem bei den Gegnern viel Anstoss erregen-
den Ausspruch kam, dass die allgemeine Aner-
kennung der sog. Grundwassertheorie (die eben
44*
572 Gott. gel. Anfc. 1879. Stück 15.
noch keine ist), nämlich das Stehenbleiben vor
der Thatsache des unaufgeklärten Zusammen-
hanges von Typhus und Grundwasser, die Ver-
ewigung des Münchener Elendes wäre, sofern
sie den Arzt mit gebundenen Händen dem Ty-
phus gegenüber stelle. Die Trinkwasserfrage
bildet offenbar hier den Angelpunkt des Streites,
glaubten v. Pettenkofer und Buhl nicht in
dieser Frage einen 60 entschieden und so allge-
mein negirenden Standpunkt einnehmen zu müs-
sen, so würde Wolfsteiner wahrscheinlich
auch die Grundwasserstandsmessungen nicht mit
so hoffnungslosem Blick betrachtet haben.
Es kommt übrigens auch noch dies hinzu,
dass eine solche Beziehung, wie sie für München
zwischen Grundwasserbewegung und Typhus her-
vortritt, keineswegs überall an anderen Orten
zu erkennen ist, es sich somit nicht um ein all-
gemeines oder fundamentales Moment dabei han-
delt: so bemerkt z. B. auch Biermer in sei-
nem kürzlich erschienenen Vortrage über Ent-
stehung und Verbreitung des Abdominaltyphus,
dass in Zürich weder die Choleraepidemie noch
die Typhusepidemieen, was örtliche und zeitliche
Verbreitung betrifft, sich den v. Pettenkofer*
sehen Lehrsätzen anpassen: »ohne die Bedeu-
tung, welche die Grundwasserbewegungen durch
die Bloslegung und Zudeckung der im Boden be-
findlichen Fäulnissstoffe für die Entwicklung ge-
wisser Krankheitskeime in geeigneten Locali-
täten haben können, leugnen zu wollen, über-
zeugen wir uns doch täglich mehr, dass diese
Hülfsursache für Zürich nicht von entscheiden-
der Wichtigkeit ist«. Auch So ein in seiner
Schrift:. Typhus, Regenmenge und Grundwasser
in Basel, entwickelte, dass es von localen Ver-
ba ltnissen abhängig sei, in welchem Maasse die
Buhl eto. , Ueber die Aetiologie ctes Typhus. 673
Epidemieen sich abhängig erweisen von den Be-
wegungen des Grundwassers, und bemerkte, dass
auch Basel sich darin anders als München ver-
halte. Ranke's Anschauungen, wie er sie in
der Münchener Discussion aussprach, stimmen
hiermit fiberein, und Hessen ihn gleichfalls her-
vorheben, dass man keineswegs fiberall eine
Bolle der Grund wasserbewegung beim Ausbruch
von Typhusepidemieen postuliren müsse.
Wie oben schon bemerkt, sprach sich W o 1 f-
et ein er in seinem ersten Vortrage bezüglich
der dritten Hauptfrage dahin aus, dass seiner
Yermuthung nach der Zusammenhang zwischen
Grundwasserbewegtingen und Typhus durch das
Trinkwasser vermittelt werde, was ganz bestimmt
auch Buchanan und Liebermeister ausge-
sprochen hatten, insofern es sich um solches
Trinkwasser handele, welches aus dem betreffen-
den Grundwasser bezogen wird. Wolfsteiner
sucht seine Meinung zu begründen mit dem Hin-
weis auf die theiis allgemeinen, theils ärzt-
lichen Erfahrungen über nachtheilige Wirkungen
(Diarrhoe) des Münchener Trinkwassers bei
nicht daran Gewöhnten, auf den bekannten auch
durch v. Gietl als beweisend hingestellten Fall
im Kloster der barmherzigen Schwestern in
München (1860), so wie durch den nur ganz
allgemein gehaltenen Hinweis auf die in ande-
ren Städten gemachten Erfahrungen fiber Coin-
cidenz von endemischem Typhus und verunrei-
nigtem Trinkwasser, wobei man jedoch die be-
sondere Betonung derjenigen zwar der neuern
Zeit angehörigen, doch zur Zeit der Münchener
Discussion schon vorliegenden speciellen Beob-
achtungen (ausser der einen genannten} ver-
ttisst, welche mehr als der Hinweis auf die seit
langer Zeit zwar sehr allgemein verbreitete aber
574 Gott, gel Anz. 1873. Stück 15.
doch ziemlich vage Meinung zur Stütze von
Wolfsteiner's Ansicht hätten dienen können.
Eine anfänglich von Wolfsteiner beige«
brachte relative Immunität Roms gegen Typhus
bei gutem Trinkwasser hat sich laut einer spä-
tem Bemerkung (p. 34. Anm.) als nicht be-
stehend erwiesen. Doch gehört Roveredo nach
Wolfsteiner's Mittbeilung zu den Städten,
welche in Folge der Zuleitung guten Trink-
wassers eine auffeilende Verbesserung ihrer Ge-
sundheitsverhältnisse, namentlich auch bezuglieh
des Typhus erfahren haben; v. Pettenkofar
furchtet Enttäuschung in dieser Beziehung, weil
München trotz der Thalkirchner Wasserleitung
den Typhus Aicht verloren habe. Dieses Mo-
ment, dass München theilweise mit einer Wasser-
leitung versehen ist, theilweise nicht, spielt über-
haupt in der Beweisführung v. Pettenkofer's
gegen den Einfluss des Trinkwassers eine Haupt-
rolle: wenn irgendwo, so meint v. Pettenko-
fer, müsse sich in München ein Einfluss des
Wassergenusses auf Typhus und Cholera zeigen,
weil die Wasserversorgung so »verschiedenerlei«
sei, und gar keine entsprechende Differenzen im
Auftreten des Typhus zu erkennen seien.
Hier kommt aber, wie Wolfsteiner her-
vorhebt, in erster Linie in Frage, ob da&Wafe-
serleitungswas8er auch von denen getrunken
wird, welchen es in die Strasse geführt wird ;
es existiren neben der Wasserleitung in Mün-
chen überall noch Pumpbrunnen und Wolf-
steiner bemerkt, dass sehr Viele das Wasser
der letzteren, weil es frischer ist, vorziehen
(eine Erfahrung, welche dem Bef. von einem
Dorfe gleichfalls bekannt wurde, wo ein Theil
der Bewohner das sehr verunreinigte Wasser
eines tiefen Pumpbrunnens sogar den nahe.
Buhl etc, , Ueber die Aetiologie des Typhus. 575
gelegenen Quellen vorgezogen hatten und fast
sämmtlich erkrankt waren). Sodann aber ist
doch offenbar ein Wasser allein deshalb, weil es
in einer Leitung in die Stadt geführt wird, nicht
schon ein gutes, es kann im Wesentlichen eben
so schlecht sein, wie das Wasser aus Pump-
brunnen in der Stadt, sei es von Haus aus oder
durch nachträgliche Verunreinigung. Wolf-
steiner bemerkte in seinem ersten Vortrage,
dass das nicht aus dem Stadtboden selbst be-
zogene Wasser aus der nächsten Umgebung
Münchens stamme, bis wohin wahrscheinlich
noch das Durchtränkungsgebiet der Stadtlauge
reiche, und dass die chemische Untersuchung des
Wassers allein nicht hinreiche, um dasselbe als
unschädlich bezeichnen zu können. Buhl (p.
72) meint zwar, was ein gutes Trinkwasser sei,
das könne überhaupt weder chemisch noch mi-
kroskopisch erkannt werden, doch wird man
sich wohl durch dieses Wort noch nicht von
vornherein die Hoffnung nehmen lassen, dass
planmässig durchgeführte Untersuchungen wenig-
stens erkennen lassen werden, was ein schlech-
tes Trinkwasser sei.
Ranke hält zwar dies als erwiesen, dass in
München der Gausalnexus zwischen Grundwasser-
bewegung und Typhus nicht durch das Trinkwasser
hergestellt werde, begreift aber doch auch unter
Hinweis auf einige in den baierschen Generalberich-
ten mitgetheilte Wahrnehmungen nicht den schlech-
terdings abweisenden Standpunkt v. Pettenko-
fer's in dieser Frage, aufweichen sich auch
Buhl stellte. In der That, wenn man erwägt, wie
diese ganze, gewiss nicht leichte Frage über Be-
ziehungen des Trinkwassers und gewisser darin oft
anzutreffender Theile zu gewissen Krankheiten erst
seit kurzer Zeit wissenschaftlich in Angriff genom~
576 Gott. gel. Anz. 1873« Stück 15.
wird, wie wenig bis jetzt methodische Unter-
Buchungen des Trinkwassers der Städte, che-
misch und mikroskopisch zugleich, durchgeführt
sind, wie wenig Material also von dieser Seite
her erst vorliegt, während doch anderseits zahl-
reiche ärztliche Erfahrungen speciell grade auf
Typhogenese durch Trinkwasser sehr bestimmt
hindeuten, wenn man ferner erwägt, von welcher
eminenten praktischen Wichtigkeit die Entschei-
dung in dieser Frage sein wird, so kann man
sich des Erstaunens darüber nicht enthalten,
mit welcher Bestimmtheit v. Pettenkofer
und Buhl ihre verneinende Antwort schon jetzt
und zwar nicht etwa fur München allein, son-
dern ganz allgemein gehalten aussprechen:
v. Pettenkofer hat (p. 30) nie einen festen
Anhaltspunkt finden können, wenn er einen
Fall von anscheinender Typhogenese durch mit
excrementitiellen Stoffen verunreinigtes Trink-
wasser ernstlich angefasst und näher untersucht
hat, und erklärt (p. 34) Alles für Täuschung,
was man über Typhogenese durch Trinkwasser
angeführt habe, und für Buhl sprechen alle
genaueren Untersuchungen ebenfalls dagegen,
dass das Trinkwasser nur irgend einen Einfluss
auf Entstehung und Verbreitung des Typhus
habe. Allerdings geht v. Pettenkofer nicht
60 weit, gegen die Versorgung Münchens mit
mehr und besserm Wasser zu stimmen, aber er
glaubt es mit seinem Gewissen nicht vereinen
zu können, diese Wasserversorgung so, wie
W o 1 f s t ei n e r , als eine Notwendigkeit zu mo-
tiviren, und der Stadt Abnahme des Typhus in
Aussicht zu stellen, wenn sie sich Gebirgsquell-
wasser zuleitet, ja B u h 1 (p. 72) äussert sich
so, als ob er dem Magistrate Münchens fast ab-
rathen wollte, sich durch Wolfsteiner's
Buhl etc. , Ueber die Aetiologie des Typbas. 57t
Grunde zu solchem Werk verleiten zu lassen«
Man sollte doch wahrlich meinen, was auch
Wolfsteiner p. 113 zu verstehen giebt, die
Verantwortlichkeit der Vertreter der Hygiene sei
vielmehr auf der entgegengesetzten Seite gelegen.
Freilich kann es Niemand einer Stadt verspre-
chen, dass sie durch Versorgung mit Quell wasser
gesunder werde, schon deshalb nicht, weil Niemand
im Trinkwasser das einzige schädliche Moment
vermuthet ; aber in solchen Fragen, wie die, um
welche es sich hier handelt, da dürfte wohl
eher die Thatsache, dass doch viele umsichtige
Beobachter Grund allermindestens zum Verdacht
zu haben glauben, das Handeln motiviren, als
der Umstand, dass dieser Verdacht nicht an je«
dem Orte deutlich auftritt, das Unterlassen
rechtfertigen. In wie vielen Fällen ist der Arzt,
obwohl er den gewünschten Erfolg eines Mittels
nicht versprechen kann, obwohl er noch keine
genaue Einsicht in die Wirkung eines durch
Anderer Erfahrungen empfohlenen Mittels hat,
dennoch verpflichtet, dasselbe anzuwenden: die
öffentliche Gesundheitspflege ist einer Stadt
gegenüber in der Stellung, wie der Arzt dem
einzelnen Kranken gegenüber.
Wenn v. Pettenkofer Fälle geltend macht,
in denen, so weit die Untersuchungen reichen,
das Trinkwasser für den Ausbruch von Typhus
(und Cholera) nicht beschuldigt werden kann,
so wird damit, wie Ranke bemerkte, für die
in Rede stehende Frage natürlich Nichts bewie-
sen, weil ja Niemand das Trinkwasser für das
einzige Mittel hält, durch welches der Infections-
stoff in den Körper gelangen kann; wie sehr
man aber z. B. gerade bei der Beurtbeilung
von Kasernenepidemien, auf die v. Petten-
kofer mehrfach hinweist, und überhaupt bei
978 Gott. gel. Auz. 1873. Stück 15.
Fällen mit anscheinend ganz gleichem Verbalten
einer grössern Anzahl Menschen und scharfer
Abgrenzung einer Typhusepidemie unter ihnen
vorsichtig sein muss, lehrt der merkwürdige von
Liebermeister beschriebene Fall in der Züri-
cher Kaserne im Jahre 1865, so wie der im Jahre
I860 beobachtete Fall im Gefängniss von Sal«
ford. Auch weis't Ranke wohl mit Recht es
zurück, wenn v. Pettenkofer das Fehlendes
Typbus in der Oegend von Eichstädt, wo die
Menschen auf unreines Cisternenwasser ange-
wiesen sind, schon jetzt als Beweismittel be«
nutzt, sofern ja doch ein Wasser in höchst ver-
schiedener Weise verunreinigt sein kann, und
nicht jeder Art der Verunreinigung eine Be*
Ziehung zu Typhus oder anderen Infections-
krankheiten zugeschrieben wird, und man ja
auch weiss, dass eine gewisse Art von Verun-
reinigung, das sog. Sumpfwasser, wie es z. B.
auf dem Schiff Argo (1834) für die Truppen, und
nicht fur die Seeleute, verabreicht wurde, wohl
Malaria, aber nicht Typhus erzeugt: der Typbus-
keim muss ebenfalls als ein specifiscber gedacht
werden; erst wenn nachgewiesen wäre", dass in
dem Cisternenwasser der Eichstädter Gegend
dieselben Dinge, chemisch und mikroskopisch,
vorhanden sind, wie in dem etwa in einer Stadt
für Typhogenese beschuldigten Wasser, dann
erst würde mit jenem Cisternenwasser ein Be«
weismittel gegeben sein.
Auffallend ist es, dass in der Discussion
über die in Rede stehende Frage gerade die be*
merkenswertesten Beobachtungen keine Berück«
sichtigung fanden, ausser den schon erwähnten,
Fälle, wie die von Liebermeister beschrie-
bene Typhusepidemie in der Schorenfabrik bei
Buhl etc. , Ueber die Aetiologie des Typhus . 579
Basel und die Epidemie in Solothurn, ferner die
Epidemie in Clifton, die merkwürdige Epidemie
in Islington , die Epidemie in Zeitz, die Epide«
mie in Terling, in welcher dieselbe Eigenthüm*
lichkeit sich zeigte, welche Biermer von der
letzten Winterthurer Epidemie p. 431 unter 3
hervorhebt, u. ß. w., gar nicht zu gedenken der
analogen Beobachtungen in Bezug auf Cholera,
die doch auch mehrfach mit in die Manche«
ner Discussion hineingezogen wurde. Zuck-
schwerdt's Beschreibung der Typbusepidemie
im Halleschen Waisenbause lag zur Zeit der
Münchener Discussion noch nicht vor, dieselbe
reihet sich, so wie die kürzlich von Biermer
beigebrachten Beobachtungen, als neuer schla-
gender Beweis so manchen früheren Beobach-
tungen an, die doch nicht alle etwa so beur-
theilt werden können, wie v. Pettenkofer
p. 32 glaubt den Fall vom Kloster der barm-
herzigen Schwestern beurtheilen zu können, die
vielmehr in ihrer Gesammtheit, wie jüngst auch
Biermer es aussprach, die Entstehung von
Typhus durch inficirtes Trinkwasser in der That
nicht mehr bezweifeln lassen.
Göttingen, 23. März 1873. Meissner.
Gunkel, E., Pastor zu Lüneburg: Die Ver-
pflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisse
Schriften der Kirche. Bede, gehalten auf der
Bezirks-Synode von Lüneburg am 25. April
1872. tüneburg, 1872, Engel's Buch- und Kunst-
handlung, 30 Seiten.
Die Frage, welche der Verf. in vorliegender
680 . Gott. gel. Adz. 1873. Stück 15.
Rede behandelt, hat ja noch immer eine fiber«
aus grosse Wichtigkeit für das Leben der evan-
gelischen Kirche. Wie viele andre sind mit ihr
verknüpft und hängen hinsichtlich ihrer Ent-
scheidung geradezu davon ab, wie diese eine
zuvor entschieden wird! So vor allen Dingen
die nach der Union der getrennten evangeli-
schen Bekenntnisskirchen. Und dann nament-
lich nicht auch die, in wie weit freie und den
eigenen Gesetzen folgende Wissenschaft in der
evangelischen Kirche zu gelten habe, in wie
weit die evangelische Theologie wirklich Wissen«
schaft sein dürfe? Namentlich aber in dem
gegenwärtigen Augenblicke gewinnt die Frage
durch die Errichtung eines obersten Gerichte«
hofes fur kirchliche Angelegenheiten eine er-
höhte und unmittelbar praktische Bedeutung.
Die Entscheidung darüber, ob ein Theologe von
dieser oder jener wissenschaftlichen Richtung
noch Diener der einen oder anderen Kirche sein
könne, wird doch schliesslich diesem Gerichts-
höfe vorgelegt werden müssen, aber wonach soll
nun der anders urtheilen, als nach Massgabe
der Bekenntnissformel, welche der bestimmten
Kirche zu Grunde liegt, nach Massgabe der
Verpflichtung, welche der betreffende Theologe
bei Uebernahme seines Amtes auf sich genom-
men hat? Haben bisher schon die Gonsistorien,
wenn sie nicht rein willkürlich handeln wollten,
nur nach Massgabe der eingegangenen Verpflich-
tung und deshalb der Verpflichtungsformel ur-
theilen können, so der neue Staatsgerichtshof
noch vielmehr; und wer sähe da nicht,, dass es
in der That nothwendig ist, die Verpflichtungs-
formel nun auch so zu gestalten, da6s sie für
das Gewissen des zu verpflichtenden Theologen
faicht nur erträglich ist, sondern dass auch von
Gunkel, Die Verpfliöhtung d. Geistlichen etc. 581
Seiten des Staatsgerichtshofes vorkommenden
Falles nicht auf Grund der Verpflichtungsformel
Urtbeile gefallt werden, mit denen keinerlei
Freiheit des geistigen Lebens in der Kirche
mehr bestehen könnte. Ref. hält sich allerdings
überzeugt, dass die in Rede stehende Frage
durch die erwähnte neue Einrichtung eine solche
Dringlichkeit erlangt habe, dass es kaum noch
möglich und räthlich ist, sie noch länger in
der Schwebe zu lassen und sich damit zu ver-
trösten, es werde hinsichtlich der Consequenzen
aus der Verpflichtung von den Oberbehörden ja
doch eine »milde Präzise geübt. Die Ver-
waltungsbehörde, das Consistorium, konnte
vielleicht noch einigermassen milde sein, wie
wohl wir an neuesten Erlebnissen sehen, dass
auch da eine andre Praxis aufkommen kann,
aber ein Gerichtshof kann es nicht mehr:
der hat lediglich Recht zu sprechen und das
Recht ergiebt sich hier aus dem eingegangenen
Contract, nämlich aus der Verpflichtung, und
diese kann hinsichtlich ihrer Tragweite nur aus
dem Verpflichtungsdokument, der Verpflichtungs-
formel erkannt werden. So ist die Frage denn
jetzt überaus wichtig geworden.
Aber leider muss nun gesagt werden, dass
der Verf. in dem, was er in seiner vorliegenden
Rede gegeben, ungeheuer wenig zur endlichen
Lösung der Frage beigetragen hat; im Gegen-
theil, er tritt derselben eigentlich gar nicht
einmal recht nahe und das viele Hin- und Her-
reden, in welchem er sich ergeht, dient im
Grunde nur dazu, die Hörer um die eigentlichen
Entscheidungspunkte herum zu führen und die
massgebenden Gesichtspunkte nur mehr durch«
«inander zu werfen und so Verwirrung anzu-
richten, anstatt die Frage aufzuhellen und feste
S82 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 15.
Grundsätze herauszustellen. Vom Anfang bis
zum Ende ist die Rede oberflächlich im eigent-
lichsten Sinne des Wortes, und nicht selten muss
man sich verwundert fragen, ob es denn wirk«
lieh ein wissenschaftlich gebildeter Theologe ist,
der da redet, ein solcher, der sich auch nur
die Mühe gegeben, die Sache, um die es sich
handelt, mit allem Ernste durchzudenken. Be-
sonders die Art, wie derselbe seinen Gegner,
das Laienmitglied der Lüneburger Bezirkssynode
abthut, welches den Antrag auf Aenderung der
Yerpflichtung8formel gestellt, ist so beschaffen,
dass man fragen muss : wie kann denn ein Mann,
der die Bedeutung der Frage in unsrer Zeit wirk-
lich verstanden hat, nur so reden ? Und dann wie
der Verf. sich selbst überhaupt zu der Frage stellt,
zeigt von sehr wenigem wirklichen Nachdenken.
Das eine Mal sucht er sich und Andre, vor
Allem die Synode, vor der er spricht, damit zu
beruhigen, dass er auseinandersetzt, es sei mit
der Verpflichtung auf die Symbole nicht so
strenge gemeint: nicht auf jede einzelne Lehr-
formel und Lehrfassung in den Symbolen werde
man verpflichtet, sondern nur auf den Glauben,
der in den Symbolen ausgesprochen sei, auf
die Fundamentalsätze des reformatorischen Be-
kenntnisses, so dass es fast scheint, es sei da
auch für den freisinnigsten Theologen, der nur
den evangelischen Grund überhaupt noch unter
den Füssen habe, mit der bestehenden Ver-
pflichtungsformel sehr wohl auszukommen. Und
dann treffen wir doch wieder auf die Behaup*
tung, »die Entscheidung darüber, ob eine be-
stimmte Lehre der symbolischen Bücher einen
nöthigen, einen nutz- und dienlichen (siel) Punkt
betreffe, komme nach der Verfassung der Lan-
deskirche nicht den einzelnen Geistlichen, son-
Gunkel, Die Verpflichtung d. Geistlichen etc« 683
dern dem Landes-Consistorium unter Mitwirkung
des Au88cbu8se8 der Landessynode zu«, so dass
dann der Einzelne doch wieder stricte an die
symbolische Lehrformel gebunden ist und es nur
-auf den guten Willen der Oberbehörden an-
kommt , ob sie die Zügel straff anziehen wollen
oder nicht. Wenn das nicht eine Unklarheit
der Anschauung ist, dann bekennt Ref. nicht zu
wissen, was denn dafür zu halten sein möchte;
und schliesslich kommt denn doch nichts Ande-
res dabei heraus, als eine Oonsistorialherrschaft
fiber das geistige und wissenschaftliche Leben in
der Kirche, die höchst bedenklich sein würde
und auch dadurch in kein besseres Licht gesetzt
wird, dass der Verf. versichert, das hannover-
sche Consistorium habe da immer eine »milde
Präzise geübt. Das ist unter Umständen ein
sehr zweifelhaftes Lob, und hier darf es doch
nicht darauf ankommen, ob eine Behörde milde
sein will oder nicht, ob sie Einsicht genug hat,
der Discrepanz zwischen der alten Verflichtungs-
formel und dem gegenwärtigen Stande theologi-
scher Ueberzeugungen Rechnung zu tragen, oder
ob sie meint, mit aller Starrheit auf der ein-
mal hergebrachten Formel zu bestehen. Durch
das Eine, wie durch das Andre könnte die evan-
gelische Kirche den empfindlichsten Schaden lei-
den, und jedenfalls ist esnotb, hier feste Grund-
sätze aufzustellen und nicht solche zu conser-
viren, in Betreff deren die Verwaltung, wenn
sie umgangen worden, »milde und einsichtsvolle
ein Auge zudrücken muss, weil sie eben nicht
mehr inne gebalten werden können : gerade das
hei8st die Diener der Kirche vollständig in die
Willkür der Consistorien geben und ist eben
deshalb ein nicht bloss unerträglicher, sondern
584 Gott gel. Anz. 1873. Stück 15.
geradezu unwürdiger und dem Geiste der evan-
gelischen Kirche völlig widersprechender Zustand.
Und würden sich nun die festen Grundsätze,
die es da aufzustellen gilt, nicht doch auch ha»
ben finden lassen, wenn sich der Verf. nur ernst-
lich hätte Mühe geben wollen, sie zu suchen?
Ref. meint auch nicht, dass in der evangeli-
schen Kirche einer schrankenlosen Lehrwillkar
Raum gegeben werden dürfe. Wie er der Will*
kür der Consistorien im Zügeln und Loslassen
abhold ist, so auch der anderen, die von den
Predigern geübt werden kann, wo am Ende ein
Jeder sich für berechtigt halten dürfte, auch
geradezu Unchristliches auf christlichen Kanzeln
zu veikündigen, und davon, dass die evangeli-
sche Kirche von Seiten ihrer Diener gewisser
Bürgschaften bedarf, ist Ref. völlig überzeugt.
Er möchte nicht einer » kirchlichen t Gemein«
scbaft angehören, die nicht fest auf positiv
christlichen Grundlagen ruhte. Allein dass es
auch die wirklich positiven Grundlagen des
Christenthums seien! und die sollten sich denn
doch gar so schwer nicht finden lassen, wenn
man sie nur am rechten Orte suchen wollte.
Der Verf. aber, wenn er von ihnen ausgegangen
wäre, würde dann auch wohl dahin gekommen
sein, zu erkennen, worauf der evangelische Geist-
liche denn wirklich verpflichtet werden müsse
und welche Stellung er zu den s. g. Symbol-
schriften der Kirche einzunehmen habe, ja welche
Stellung der Kirche selbst als einer evange-
lischen zu den Formeln gezieme, in welchen
sie früher einmal ihren Glauben ausgespro-
chen hat.
Oder muss es denn nicht von vorn herein
klar sein, dass der positive Grund der Kirche
Nichts von dem sein kann, was sie selbst im
Gunkel, Die Verpflichtung <L Geistlichen etc. 585
Verlaufe ihrer geschichtlichen Entwicklung ge-
setzt bat, sondern allein das, wodurch sie selbst
geschichtlich ist gegründet worden, der vor
aller Kirche seiende, von Gott selbst gegebene
Grund? Aber das ist denn doch kein andrer,
als unser Herr Jesus Christus, diese so ganz
einzigartige Persönlichkeit in Mitten der Welt-
geschichte, mit ihrem ganzen Heilsinhalte, und nur
das festgehalten und in seinen Folgerungen richtig
durchdacht, giebt es nicht auch ein Licht fur die
Frage nach der Verpflichtung des evangelischen
Predigers? Gegründet auf die Person Jesu
Christi, ist die Kirche selbst auch ein Person«
liebes, ein Reich von Persönlichkeiten, welches
aber in allen seinen Gliedern an die eine grund-
legende Person in unbedingter Weise gebunden
ist und die Aufgabe hat, den Heilsinhalt dieser
einen Persönlichkeit in allen ihren Gliedern im-
mer mehr sich anzueignen und herauszuge-
stalten. Eben in diesem Reiche Jesu Christi
und in Beziehung auf die demselben gegebenen
Zwecke hat nun der evangelische Prediger seine
Stellung, und da ergiebt sich seine Verpflichtung
von selbst: er ist lediglich ein Diener Jesu
Christi als des persönlichen Hauptes seiner Ge-
meinschaft und deshalb auch an die Person
Jesu Christi, eben so wie die ganze Gemein-
schaft, in absoluter Weise gebunden, und zwar
der Art in völlig unbedingter Weise, dass jede
andre Verpflichtung dieser einen gegenüber ent-
weder völlig hinwegfallt oder doch nur eine
höchst bedingte Bedeutung hat. Nur wenn die-
ser Gesichtspunkt als der oberste und allein
massgebende festgehalten wird, kann die evan-
gelische Kirche in ihrer Reinheit und Wahrheit
erhalten bleiben, und daraus ergiebt sich dann
schliesslich alles Weitere, zunächst die der evan-
45
586 Gott. gel. Anz. 187S. Stück 15.
gelischen Kirche eignende bestimmte Ablehnung
alles dessen, was nicht ans Christo ist, alles
Widerchristlichen und Äusseren ristlichen, so
bald es auf dem Gebiete des kirchlichen Lebens
massgebend werden will, vor allen Dingen das
Zurückweisen jeder Instanz, die sich da neben
oder an der Stelle des einen und allein berech*
tigten Hauptes anfthun möchte. Alles Papisti-
sche und Hierarchische ist mit dieser unbeding-
ten Abhängigkeit von dem persönlichen Lebens-
und Heilsgrunde der Kirche, wie er in der Per-
son Jesu Christi gelegt ist, eben so sehr Yoa
vorn herein abgewiesen, wie alles dem Natura-
lismus, Materialismus, Atheismus u. s. w. An-
gehörige.
Und eben so ist damit die richtige Stellung
der Kirche, wie zur heil. Schrift, so auch zu
ihren eigenen Bekenntniss- und Lehrschriften,
damit denn aber auch die Verpflichtung des
Predigers in Beziehung auf diese in völlig aus-
reichender Weise bestimmt. Dass wir zu einer
Erkenntniss Jesu Christi und seines persönlichen
Heilsinhaltes nicht anders kommen können, als
durch die aus der apostolischen Zeit und auf
Grund der apostolischen Zeugnisse hervorge-
gangenen Dokumente, welche jetzt in der heil.
Schrift vereinigt sind, versteht sich ganz von
selbst, und daher ist der Prediger auch an diese
zu verweisen und zu binden, aber nur sofern
sie »Christum treiben t, nur sofern sie über den
Heilsinhalt dieser alles Heil der Kirche vermit-
telnden Persönlichkeit uns Aufschluss geben.
Da tritt schon eine Relativität der Verpflich-
tung hervor, wie sie aus dem obersten Ver-
pflichtungsgrunde sich Ton selbst ergiebt, aber
von der der Verf. denn doch selbst wird zu-
geben müssen, dass sie echt evangelisch und
Gunkel; Die Verpflichtung d. Geistlichen etc. 587
sogar ech^ lutherisch ist: wem ware nicht be-
kannt, dass eben Luther es war, der zumMass-
Btabe seiner Schätzung der einzelnen Bestand-
teile der heil. Schrift den Umstand machte, ob
dort »Christas getriebene werde oder nicht?
In diesem Sinne hiess ihm bekanntlich der Brief
Ties Jacobus eine »stroherne Epistel«, während
ihm der Römerbrief als das güldene Kleinod
der ganzen heil. Schrift erschien, und was
Luther unbedenklich that, sollten wir das nicht
Buch thun dürfen als die Erben seines Wer-
kes? Aber ist es nicht klar, dass eben auf
diese Weise eine recht bestimmte Stellung zur
heil. Schrift gewonnen wird und zwar eine
solche, wie sie dem Glauben ein Bedürfniss
ist, nicht aber dem Unglauben, dem freilich der
Verf. allein es zuschreibt, wenn jetzt von so
manchen Seiten auf eine Aenderung in der Ver-
pflichtungsformel gedrungen wird?
Vollends aber die Stellung zu den Bekennt-
nissschriften der Kirche — wie unser oberster
Grundsatz diese in ihrer ganzen Bedingtheit er-
scheinen lässt, so denn aber auch in ihrem rech-
ten Werth: sie haben nur Werth als Zeugnisse
der Kirche von ihrem Glauben an die Person
Jesu Christi als den alleinigen Mittler des Hei-
les, aber als solche Zeugnisse und Bekenntnisse
haben sie . denn auch einen bleibenden Werth
und sind Kennzeichen der Kirche, in denen der
ganze Charakter dieser Gemeinschaft als einer
christlichen und evangelischen sich ausgedrückt
hat; nur dass da die zeitgeschichtliche Form
dieser Bekenntnisse und so manche zeitgeschicht-
liche Zuthat niöht bindend sein kann, nur dass
die Verpflichtung des Geistlichen auf diese von
Tornherein nimmerdar gehen kann eben wegen
«eines allein unbedingten Gebundenseins an den
45*
588 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
Grand der Kirche, der sie selbst erst gesetzt
hat und deshalb vor aller Geschieht^ liegt.
Ref. meint, wenn der Verf. in der angedeu-
teten Weise wirklich anf die letzten Gründe
zurückgegangen wäre, dann würde er schon das
rechte Licht für die von ihm behandelte Streit-
frage erlangt haben und hätte dann seiner Be-
zirkssynode eine Arbeit liefern können, durch
welche dieselbe wirklich über diese so überaus
wichtige Frage orientirt worden wäre. Aber
— dann hätte er selbst auch einsehen müssen,
dass es in der That bei der bisherigen Ver-
pflicbtungsformel nicht bleiben könne, dass es
noth sei, das richtige Verhältniss, wie es dem
Wesen der evangelischen Kirche entspricht, auch
in der Verpflicbtungsformel zum klaren und un-
zweideutigen Ausdruck zu bringen, damit gerade
die Form der Verpflichtung eine Schutzwehr sei
nach der einen, wie nach der anderen Seite
hin. Jetzt ist der Verf. um die eigentlichen
Gründe herum gegangen, und was er anräth ist
eben das, was vor allen Dingen zu vermeiden
wäre: er räth, es beim Alten zu lassen und der
»milden und einsichtsvollen Praxis« der Con-
sistorien zu vertrauen, ohne Zweifel der alier-
unsicherste Grund, auf welchen jemals das Ver-
trauen der Leute hingewiesen worden ist und
auf den man eine so wichtige Angelegenheit, wie
die Lehrordnung der evangelischen Kirche, ge-
wiss nicht stützen sollte. Erst noch einmal den
Gegenstand recht zu durchdenken, das ist in
der That der einzige Rath, den man dem Verf.,
und zwar aus guter Meinung, um seiner selbst
und um der Kirche willen, der er dient, geben
möchte.
Auf die Menge der anderen Unklarheiten
und Verkehrtheiten, die die Rede noch enthält.
Gunkel, Die Verpflichtung d. Geistlichen etc« 589
hier weiter einzugehen, fehlt der Baum. Man
müsste, um Alles recht zu beleuchten, eine neue
Brochure und zwar eine ziemlich umfangreiche
entgegen setzen. Nur auf Eins sei noch auf-
merksam gemacht: der Verf. legt ungeheures
Gewicht auf die Concordienformel. Obgleich er
weiss, dass dieselbe in einem überaus grossen
Theile der ehemals weifischen Territorien nicht
angenommen worden ist, thut er doch nicht
bloss so, als ob das eigentliche Lutherthum in
ihr bestehe, sondern schiebt sie auch mit grosser
Geflissenheit, wie uns scheinen will, in den Vor-
dergrund: ob nun durch ein solches Verfahren
nicht doch leicht Unklarheit auch in den ge-
schichtlichen Bestand der Verhältnisse gebracht
werden kann, mögen die entscheiden, die es
näher angeht, als den Ref. Dieser hat nur dar-
thun wollen, wie dringend Noth es ist, dass
fiber diese das innerste Kirchenleben berührende
Fragen endlich Klarheit komme, und ebenso
war es ihm darum zu than, auf einen Weg hin-
zuweisen, auf welchem nach seiner Ueberzeugung
schliesslich allein die rechte Lösung gefunden
werden kann, und zwar ohne den evangelischen
Charakter der Kirche auf der einen, und das
ihr zukommende Mass von persönlicher und Ge-
wissensfreiheit auf der anderen zu gefährden.
F. Brandes.
590 Gott. gel. Anz. 1873. Stade 15.
Upsala Läkareförenings Förhand-
1 in gar. Redigeradt af ß. F. Friste dt
Sjette Bandet- Arbetslret 1870— 1871. 699
Seiten in Octav. Sjunde Bandet. Arbets-
Iret 1871—1872. 746 Seiten in Octav. Upsala,
Akademiska Boktryckeriet. Ed. Berling. 1871.
1872.
Die reichliche Fülle wissenschaftlicher Ar*
beiten, welche in den Jahren 1870 — 1872 aus
dem Kreise des ärztlichen Vereines zu Upsala
hervorgegangen und in dem sechsten und sie-
benten Bande der Vereinsverhandlungen ver-
öffentlicht sind, wirft abermals ein höchst gün-
stiges Licht auf das Treiben und Streben der
Skandinavischen Aerzte, auf deren rege Thätig-
keit wir wiederholt in diesen Blattern aufmerk-
sam zu machen Gelegenheit nahmen. Die Zahl
der Vorträge und Mittheilungen in den Sitzun-
gen des Upsala Läkareförening ist in dem letz-
ten Arbeitsjahre eine so grosse gewesen» dass
verschiedene Aufsätze erst in dem folgenden
Bande zur Publication gelangen können, ob-
6chon, wie die Vergleichung der Seitenzahlen er-
Sebt, der siebente Band seine Vorgänger an
mfang um mehrere Bogen übertrifft! wiewohl
auch diese weit über das versprochene Maasa
von 30 Bogen hinausgehen.
Auf die Einzelheiten eingehend, müssen wir
zunächst hervorbeben, dass in sehr hervorragen-
der Weise die medicinische Statistik im ärzt-
lichen Verein zu Upsala gepflegt wird, indem
über die in den einzelnen Monaten seitens der
Aerzte beobachteten Krankheitsfälle regelmässig
Mittheilungen gemacht werden, welche in dem
eifrigen Medicinalstatistiker und Epidemiogra-
phen Bergman, dessen Schrift über die Ruhr
Fristedt, UpsalaLäfaureföreningsFörhandl. 591
in Schweden früher von uns in diesen Blättern
angezeigt wurde, einen trefflichen Bearbeiter
finden. In Gemeinschaft mit B. Bubenson,
der aber die meteorologischen Verhältnisse re-
gelmässig Mittheilung macht, hat er mehrere
Aufsätze publicirt, in denen er den Versuch
macht, das Verhältniss gewisser Affectionen zur
Witterung im Klima Schwedens zahlenmässig
festzustellen. Jene Aufsätze gewähren uns auch
einen Beweis für die Einflüsse medicinalpolizei-
licher Einrichtungen in Bezug auf Morbilität und
Mortalität, indem nicht nur in Folge Einführung
der Sittenpolizei die Syphilis und die venerischen
Krankheiten überhaupt in höchst bedeutender
Weise inUpsala abgenommen haben, sondern auch
in Tbeilen der Stadt, wo der Untergrund durch
Trockenlegung verbessert wurde, die Mortalität
und Morbilität überhaupt eine geringere wurde.
Eine grössere Bedeutung wird diese Morbilitäts-
Statistik erat dann gewinnen, wenn sie, wozu die
Anfange in den letzten Jahren gemacht sind,
auf die ganze Mälarprovinz sich erst erstrecken
wird.
Wenn die vor Kurzem in diesen Blättern be«
sprochene Hygiea, das Organ der Svenska Lä-
kare Sällskap, sich als eine ärztliche und phar-
maceutische Monatsschrift bezeichnet, so
dürfte der letztere Name mit fast noch grösse-
ren Rechte den Upsala Läkareförenings För-
handlingar gebühren. Beide Bände, namentlich
aber der sechste, sind reich an Aufsätzen, welche
den Pharmaceuten speciell interessiren. Die phar-
maceutische und medicinische Chemie ist durch
verschiedene Arbeiten Alm e ns und seiner Schüler
vertreten, welche theilweise auch in deutsche phar-
maceutiaohe und chemische Journale übergegangen
ist Bekannt ist, dass Almen, eine neue Met
592 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
thode des Nachweises der Blausäure durch An-
wendung eines Gasstroms und der Guajakreaction
für den forensisch-chemischen Nachweis der
Cyanwasserstoffsäurevergiftung angegeben hat,
worüber der sechste Band der Verhandlungen
zwei sehr ausführliche Artikel bringt. Weitere
Arbeiten desselben Verfassers betreffen die Ver-
ordnungen in Bezug auf das Apothekenwesen
u. s. w. in Schweden. An Alm ens Arbeit
über Blausäure schliesst sich zunächst ein Auf-
satz von Salomon Henschen über Amyg-
dalin, welcher die Gegenwart des Amygdalins in
verschiedenen Pflanzen, meist Amygdaleen, Po-
maceen und Leguminosen, zum Gegenstande hat
und in Deutschland durch die ausführliche Mit-
theilung im Neuen Jahrbuch für Pharmacie be-
kannt geworden ist. Verschiedene andere Ar-
beiten, welche aus Alm 6ns Laboratorium her-
vorgegangen sind, stellen Prüfungen vorf Metho-
den und Reactionen dar, welche in Deutschland
von einzelnen Chemikern angegeben wurden.
So handelt z. B. Jos. Brandberg über das
Alkannin als Reagens auf Alkalien und Säuren,
G. R. Hoffstedt und Sigurd Loven über
die Bettendorffsche Reaction auf Arsenik,
Hoffstedt über die Phosphorproben von Dal-
mon und Hager, L. Djurberg über das von
Sonnenschein als Reagens auf Strychnin pro-
ponirteCeriumoxyduloxyd. Ausser diesen Arbeiten
haben wir noch besonders hervorzuheben eine
Arbeit von Hoffstedt über den Nachweis von
fremden Bitterstoffen im Bier, welche bei dem
enormen Consum dieses Getränkes, das auch im
hohen Norden sich eingebürgert hat, Beachtung
verdient und von Med in über die quantitative
Bestimmung der Alkaloide in den Chinarinden
mit Pikrinsäure.
Fristedt, Upsala Läkareförenings Förhandl. 593
Aus dem Gebiete der Pharmakognosie lie-
fert der bekannte Redacteur der Zeitschrift,
Fristedt, mehrere sehr beachtenswerte Ar-
tikel in beiden Heften. Die erste derselben be-
trifft die Fructus Belae s. Bael, welche von
England aus auch in Schweden als Adstringens
bei Darmkatarrhen Eingang gefunden haben und
deren Werth als Medicament in Form des Ex-
traclum Belae liquidum von Kjellberg hervor-
gehoben wird. Sehr anregend sind Fristedts
Vortrage über den Sturmhut in medicinischer
Beziehung, über den Goldregen als Gift und
über Guarana, welche von der grossen Vertraut-
heit des Verfassers mit allen medicinisch-bisto-
rischen Objecten das rühmlichste Zeugniss ab-
legt, ebenso aber über dessen Fleiss, da er in
den letzten Jahren neben der Redaction der
Zeitschrift auch die Herausgabe einer Sammlung
getrockneter Medicinalpflanzen Schwedens (sein
Exsiccatwerk) besorgte und ein vortreffliches
Handbuch der organischen Pharmakologie im
Anschlüsse an die neuen Nordischen Pharma-
kopoeen geschrieben hat, auf das wir nach voll-
ständigem Erscheinen ausführlicher an diesem
Orte eingehen werden.
Die Pharmakologie wird ausserdem noch
durch eine experimentelle Arbeit von Carl
Ny ström berührt, welche das Verhalten der
Borsäure als Antisepticum, das sog. Aseptin von
Gähn, in der bekannten Weise an faulendem
Material prüfte. Auch würde dabin noch ein
Aufsatz von Kjellberg über die Indurationen
des Chloralhydrats bei Geisteskranken gehören.
Zum ersten Male begegnen uns auch in die-
sen Bänden Vergiftungsgeschichten, und zwar
ein Fall von Brechweinsteinvergiftung» von L.
J. Lundblad jnitgetheilt, ausgezeichnet durch
£94 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
den günstigen Verlauf bei einer auffallend hohen
Qabe (15 Gm.), eine von Bergsten beschrie-
bene Vergiftung durch Morphin, welche den
Werth der Magenpumpe wieder sehr stark her«
vortreten lässt, welche bei einem mit der »schnö-
den Welt unzufriedenen« Pharmaceuten mit Ge-
walt eingeführt werden musste, und ein von
Björnström beschriebener Fall von Arseni-
cismus chronicus, von grünen Tapeten aus-
Sehend. Dass die letztere Intoxication in Seh we-
en neuerdings häufiger beobachtet ist, haben
wir bei Besprechung des letzten Jahrganges der
Hygiea bereits betont.
Die Balneologie ist bei diesen Jahrgän-
gen durch Mittheilungen von Bergstrand und
Björnström aber die Quellen von Satra, so«
wie von Söderbaum über Dannemora ver-
treten.
Sehr reichhaltig sind die Beiträge aus dem
Gebiete der Pathologie und der sich an diese
anschliessenden Disciplines vor Allem der pa-
thologischen Anatomie. Treffliche casui-
stische Beiträge liefert Hedenius in Gemein-
schaft mit Bei fr age aus Göteborg, von denen
als besonders interessant ein sehr genau be-
schriebener Fall der so seltenen Gastritis phleg-
monosa, leider in ätiologischer Beziehung nicht
aufgeklärt, hervorzuheben ist. In Gemeinschaft
mit Westerlind beschreibt Hedenius audi
einen Fall von Graviditas tubaria sinistra, in
Gemeinschaft mit Kempe ein bei Lebzeiten ab-
gegangenes Darmstück. Weiter verdanken die
vorliegenden Bände Hedenius Beiträge über
Aneurysma Aortae, in Anknüpfung an ein vorge-
zeigtes Präparat, über einen Fall von gehemm-
ter Mesenterialentwicklung mit Volvulus, einen
Fall von Fibroid mit vollständiger Inversion dea
Fristedt, Upsala Läkareförenings FörhandL 595
Uterus und gleichzeitige Erstickung durch Lun-
i genembolie, einen Fall von Erstickung durch
eine Erbse und einen Fall von Fibrom in der
Pia mater des Bückenmarks. Aus einer von
, Hedenius geschehenen Demonstration von
neuen Präparaten des pathologischen Instituts he*
ben wir hervor einen Fall von fibrösem Carci-
nom im Fundus, nahe der Gardia , vergesell-
I schaftet mit polypösen Geschwülsten am Pylo-
rus, Krebs des Pankreas und der Vena portae,
! diphtherischen Geschwüren im Dickdarm und
amyloider Degeneration im Ileum! Gewiss eine
seltene Musterkarte verschiedener pathologi-
scher Processe in einem und demselben Tractus
intestinorum.
0. Glas gibt im sechsten Bande eine Fort«
Betzung seiner Mittheilungen aus der Praxis, de-
ren wir schon aus den früheren Jahrgängen Er-
wähnung thaten. Die diesmalige Abtheilung be-
trifft besonders plötzliche Todesfalle. Eine sehr
8chätzen8werthe Arbeit mit reicher Casuistik
liefert derselbe Autor über die Basedowsche
Krankheit oder, wie er diese Affection nennt,
über die Tachycardia exophthalmica strumosa.
Reichhaltig sind die Mittheilungen von
Björnström, welcher auch über die deutschen
Polikliniken Notizen gibt. Besonders erwähnens-
werth sind ein Aufsatz über das Cheyne-
S t oke s'sche Respirationsphänomen , welches
Björnström in drei Fällen (1 Mal bei Bron-
chitis capillaris) beobachtete und über eine Mo-»
dification des Quincke 'sehen soliden Stethos-
kops, worin Björnström ein von ihm selbst
construirtes neues Stethoskop, aus einem mit
einer hohlen Kugel endenden hohlen Rohre be-
stehend, das am andern Ende ein der TraubeV
sehen ähnliches Ohrstück trägt, beschreibt. Weitere
Aufsätze betroffen den metallischen Klang beim
596 Gott, gel Anz. 1873. Stück 15.
Pneumothorax, zwei Fälle von complicirtem In-
guinal bruch, die Wasserbehandlung bei Fieber
und mancherlei therapeutische Novitäten.
Mit grossem Interesse haben wir den von
Waldenstrom erstatteten Bericht über die
Poliklinik (ambulatorische Klinik) in Upsala
gelesen, welche ganz nach Deutschem Muster
eingerichtet ist. Waldenstrom, welcher die
Ordnung der medicinischen Studien in Deutsch-
land als ein Muster, auch für sein Vaterland,
bezeichnet, legt darin zunächst die grossen Vor-
theile des poliklinischen Unterrichts, unseres Er-
achtens ganz überzeugend, dar, und gibt dann
eine Uebersicht der von November 1870 bis Mai
1872 behandelten Kranken (106 mit 142 Krank-
heiten), woran sich Krankengeschichten reihen, an
deren Spitze eine bei Lebzeiten diagnosticirte
und bei der Section constatirte Thrombose der
Pfortader steht. Die vorliegenden Bände ent-
halten den Bericht noch nicht vollständig«
Ausserdem rühren von Waldenstrom Bemer-
kungen über Thoracocentese, eine Mittheilung
über einen Fall von Tracheitis circumscripta und
eine andre über einen angeborenen Defect des
Sternocostaltheiles des grossen Brustmuskels her.
An die oben mitgetheilten pathologisch-ana-
tomischen Arbeiten schliesst sich noch eine von
Sam. Kinnmann herrührende Beschreibung
von drei Doppelmissbildungen aus dem patholo-
gischen Institute zu Upsala; das erste Monstrum
ist ein Dicephalus di brach ius tripus, die beiden
anderen sind Thoracopagen, das eine ein Xipho*
Sag, das andre ein Sternopag, beide mit Defect-
ildung im Gaumen. Wir erwähnen noch ausser-
dem als der internen Medicin angehörig einen
Aufsatz von A m n e u s über Krampf des Sphincter
ani, einen von Göransson mitgetheilten Fall
Ton Lähmung des Schlundkopfes in Folge von
Fristedt, Upsala Läkareförenings Förhandl. 597
Syphilis und einen von Sundevall veröffent-
lichten Fall von Favus, welcher mit Camphor
geheilt wurde.
Die Psychiatrie vertritt Ejellberg mit
Aufsätzen über Idiotie und Anstalten für schwach-
sinnige Kinder, über Fälle von Paralysis gene-
ralis im Upsalaer Hospital und einige andre
schon oben erwähnte Gegenstände; die forensi-
sche Medicin Lundblad mit einem zu einer
ausführlichen Discussion führenden Todesfalle,
wo Apoplexie oder Messerstich in den Hals als
Todesursachen zweifelhaft sind.
Die Chirurgie findet hauptsächlich durch
Mesterton Vertretung, der einen Fall von
Myelitis chronica in Folge eines Sarkoms in der
Pia mat er spinalis und einen Fall von progres-
siver Muskelatrophie, sowie verschiedene Fälle
von Neurektomie bei Prosopalgie, theilweise (bei
peripherischer Neuralgie) mit radicaler Heilung,
mittheilt, sich günstig über die Methode der
Transplantation von Hauttheilen ausspricht und
sich weitläufig über syphilitisches Contagium
und Syphilis vaccinalis verbreitet. Ausserdem
ist zu erwähnen ein von Söderbaum beob-
achteter Fall von Luxatio iliaca femoris dextri,
welche nach Mestertons Methode ohne Chlo-
roform reparirt wurde und ein weiterer von
complicirter Fractur des Oberarms, wo nach
Resection feste Verheilung zu Stande kam, aus
der Praxis von Björkman.
Geburtshülfliche Beiträge fehlen, bis auf die
ober/ erwähnte Tubenschwangerschaft, in den bei-
den Jahrgängen. Dm so reichlicher finden sich
anatomische und physiologische Arbeiten, vor-
züglich von Clason, Hammarsten und
Holmgren, die wir ja auch aus früheren
Jahrgängen als fleissige Mitarbeiter kennen.
Clason hat eine Reihe von Verbesserungen an
B98 Gott. gel. Anz, 187$. Stück 15.
histotecbnischen Apparaten und Methoden be-
schrieben, welche uns wohl Beachtung zu ver-
dienen .scheinen; ausserdem macht er Mitthei*
lungen über den von ihm bei Eidechsen aufge-
fundenen Ductus yestibuli membranaceus von
Cotugno, über eine angeborene Hüftgelenksluxa*
tion, (Luzatio iliaca unilateralis completa) und
im Anschlüsse daran über das Verhalten des
Adductor magnus und brevis beim Fötus, ferner
über die Richtung der Bindegewebsfasern in der
Submucosa des Darmkanals. Anatomischen In-
haltes sind auch die Aufsätze von Djurberg
über eine Abnormität des M. supinator brevis
und von Hardin über einen im anatomischen
Saale vorgekommenen Pes equinus.
Sehr interessant ist eine Abhandlung von
Sundevall, welche dem anthropologischen Ge-
biete angehört. Derselbe hatte Gelegenheit,
sechs Schädel zu untersuchen, welche Th.
Fries von der letzten Schwedischen Expedition
nach Grönland als echte Eskimoschädel heim-
brachte. Die Schädel stammen aus Steingräbern
und gehören nach dem Verbalten der Gräber
unzweifelhaft heidnischen Eskimos an, stammen
also nicht aus Zeiten, wo bereits eine Mischung
mit Europäern stattgefunden hatte. Sundevall
hat daran die von Virchow angegebenen Mes-
sungen ausgeführt und eine Vergleichung mit
Schweden- und Lappenschädeln vorgenommen.
Die Grönländerschädel gehören danach zu den
ausgeprägtesten dolichocephalischen Schädelfor-
men und sind, wie auch Virchow früher her-
vorhob, durch die grosse Ausdehnung derLineae
semicirculares ausgezeichnet. Ausserdem ist der
starke Prognathisms sehr charakteristisch.
Von den physiologischen Arbeiten betreffen
diejenigen von Hammars ten besonders die
Verdauung und Respiration. Derselbe bringt
Fristedt, Upsala Läkareforenings Förhandl. 599
einen sehr beachtungswerthen Aufsatz fiber den
Einfluss des Speichels auf verschiedene Amylum-
sorten, auf unzerkleinerte und gepulverte Stärke
u. 8. w. Holmgren handelt über Ophthalmo-
meter, Farbenblindheit, Blutgefässe in der Hya-
loidea des Froschauges, fiber das Präparat von
Goat 8 und fiberlebende Organe im Allgemeinen,
endlich fiber fleischfressende Tauben. Aus dem
letzten Aufsatze fiber diese geht hervor, dass
von den sechs auf Fleischkost gesetzten Tauben,
wodurch dieselben das Aussehen von Habichten,
einen krummen Schnabel, stärkere Krallen
und andere Quäsite eines Habichts bekommen
haben, fünf in gutem Wohlsein sich befinden,
während eine sechste das Zeitliche segnete und
jene charakteristischen Veränderungen des Ma-
gens, obschon in etwas minderen Grade darbot,
wie sie H o 1 m gr 6 n früher mehrfach beobachtete.
Die Tauben versprechen auch Nachkommenschaft,
indem sie befruchtete Eier legen, und dieselben
3 Wochen bebrüten, doch scheint die Wärme
nicht ausgereicht haben, die Entwicklung der
Embryonen zu fördern. Hoffentlich gelingt es,
durch Unterlegen der Fleischtaubeneier unter
andre Tauben einen jungen Raubvogel zu erzielen.
Theod. Hu8emann.
Dr. Er 5 nl ein. Die offene Wundbehandlung
nach Erfahrungen aus der chirurgischen Klinik
zu Zürich. 4. 139 Seiten. Zürich. 1872. Scha-
belitzsche Buchhandlung.
Der Verf., Assistent von Ed. Rose, legt in
vorliegender Abhandlung die Resultate der offe-
nen Wundbehandlung im Züricher Hospitale dar.
Zu diesem Behufe vergleicht er die 8 Jahre, in
welchen Billroth die Leitung des Spitales führte,
mit den 4 Jahren, in denen Rose demselben vor-
stand. Mach einer Geschichte der offenen Wund»
600 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 15.
behandlung erklärt er mit Recht Ruhe der Wunde
fur ihr Princip. Für die vergleichende Statistik
sind ausgewählt : die grösseren Amputationen, die
Exstirpationen der Brustdrüse und die compli-
cirten Fracturen. Die Mortalität aller dieser
drei Kategorien ist im zweiten Zeitabschnitte
viel geringer geworden : so verhält sich die Mor-
talität der grossen Amputationen im ersten Ab-
schnitte zu der im zweiten wie 51,4 zu 20.
Nach Ausschluss aller anderen Momente kann
es nur die Nachbehandlung sein, welche diesen
bedeutenden Unterschied bedingt. Hiermit stimmt
auch überein, dass das Vorkommen schwerer Lo-
calerscheinungen (Hautgangräne, Eiterretention)
im ersten Zeitabschnitte viel häufiger war; da-
gegen trat Necrose der Sägefläche bei offener
Behandlung öfter ein, auch die Wundheilung
scheint etwas länger zu dauern. Die Pyämie
(Zahl der an Pyämie Gestorbenen) sank völlig
entsprechend unter Rose's Behandlung auf 0,8%,
während sie unter Billroth 3,65% betrug. Die
etwas brüsque Ventilation führte zu häufigerem
Auftreten von Erysipelas. Die Arbeit ist sehr
ruhig und nüchtern gemacht und überzeugt da-
durch sehr. Das Princip der offenen Wundbe-
handlung, grösste Ruhe jeder Wunde, wird sich
ohne Zweifel die Anerkennung jedes Chirurgen
mit der Zeit erringen. Freilich wird der Unter-
schied nicht in jedem Spitale so eclatant sein,
wie in Zürich, wenn die offene Wundbehandlung
angenommen wird. Der Unterschied zwischen
Rose's und Billroth^ Behandlung findet sich viel-
mehr darin, dass der erste ein richtig erkanntes
Princip consequent durchführt, während der
zweite aus zu grossem Ideenreichthum alles Neue
principlos durchprobirt und nirgends den Stein
der Weisen findet. Das Buch möge sich viele
freunde erwerben. R.
601
GSttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufriebt
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Btttck 16. 16. April 1873.
Rapport snr nne mission arch£ologique dans
le T6men, par M. Joseph Halevy. Paris,
imprimerie nationale, 1872. — 295 8. in 8.
Diese zuerst im Journal aeiatique erschienene
ausführliche Abhandlung enthält nicht bloss, wie
man aus ihrer Aufschrift schliessen könnte,
einen Bericht über die Erforschung des Alter-
thumes eines für alles Alterthum so ungemein
wichtigen Landes wie das südliche Arabien ist,
sondern auch eine yollkommne Uebersicht aller
der Beutestücke welche der Verf. aus seiner
Reise in jenes heute so gefahrliche Land zurück-
brachte. Unstreitig war es ein glücklicher Ge-
danke des Französischen Unterricbtsministers
den Verf. zur wissenschaftlichen Ausbeutung je-
nes Landes abzusenden: er hat seinen Auftrag
wie wenige solcher mit dem öffentlichen Ver-
trauen beehrter heutiger Europäer sehr wohl
ausgeführt, und in einer verbältnissmässig kur-
zen Frist jenem Boden aus welchem man heute
nur wie aus des Löwen Rachen zurückkehrt
mehr kostbare Beutestücke abgewonnen als alle
46
L
602 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
seine Vorgänger. Die Beute welche innerhalb
tmsres Jahrhunderts zuerst Seetzen aus Jemen
zurückzuführen bereit war und die allen Anzei-
chen nach von sehr hoher Bedeutung gewesen sein
muss, ging durch den unglücklichen Ausgang
dieser seiner letzten grossen Reise selbst zu
Grunde: damals waren die Inschriften und übri-
gen Alterthümer des sogenannten glücklichen
Arabiens gewiss noch weit besser und vollstän-
diger erhalten als sie es heute sind; und auch
insofern ist jener grosse Verlust sehr zu bekla-
gen. Von seinen Nachfolgern aber, Deutschen
und Franzosen, hat Niemand unsre Kenntniss
{'ener Alterthümer so gefordert wie jetzt Hr.
Ial6vy durch seine kurze Reise, da die Englän-
der welche von Aden aus auf jenem Boden leicht
am tbätigsten sein könnten, bis jetzt noch keine
Anstrengung gemacht haben das für sie ziem-
lich oflen daliegende Land durch eine wissen-
schaftliche Absendung auszubeuten.
Der Reisebericht selbst welchen unser Verf.
hier mittheilt, erstreckt sich nur bis S 60, gibt
jedoch trotz seiner Kürze eine gute Uebersicht
über die Landstrecken des weiten Jemen welche
er durchstreifte, und ein sehr belebtes Bild der
schweren Lebensgefahren aller Art welche er um
seine Zwecke zu erreichen zu bestehen hatte.
Zu Hülfe ktim ihm dabei besonders etwas woran
man in Paris schwerlich gedacht hatte: in Jemen
leben noch heute viele Juden als Nachkommen
der seit den alten Jahrhunderten um Chr. Ge-
burt hier angesiedelten ; sie leben hier meistens
unter einem längst gewohnten Drucke, empfingen
aber eben deshalb den Verf. als einen Israeliten
der noch dazu unter dem Scheine eines Rabbi
aus Jerusalem reiste desto lieber, und unter-
stützten ihn mannichfach durch Rath und That.
Halävy, Rapport sur une mission archäolog. 603
Er gelangte so an manche Orte welche wohl
noch nie seit den alten Zeiten des von Augustus
entsandten grossen aber unglücklichen Feldzuges
gegen dies Land irgend eines Europäers Fuss
betreten, und entdeckte unter anderem die Trüm-
mer einer Stadt Mein, von welcher die bei den
Alten als ein Hauptvolk von Jemen vielgenann-
ten JUinäer ihren Namen tragen. Nördlich drang
er bis an die Grenze Jemen's vor, und war
schon im Begriffe das Land der Wahhäbiten zu
betreten. Wenn der Verf. hier die Meinung
ausspricht es gebe keine Wahhäbiten die der
Mühe werth zu nennen sei, und alles über sie
in Europa gesagte sei grundlos: so scheint uns
das zu viel. Die Erwartungen welche man oft
unter uns verbreitet hat als ob von den Wahhä-
biten eine nützliche Besserung des beutigen Is-
lam's ausgehen könne, mussten freilich zu Was-
ser werden weil sie (wie jeder Kenner dessel-
ben wissen konnte) von Anfang an keinen Grund
batten: denn was kann nun zumal heute noch
aus dem Islam Gutes kommen ? und die Wahhä-
biten wollten ja bloss einige seiner schlimmsten
Einseitigkeiten und bösen Gelüste neu auffrischen.
Allein deswegen darf man doch die geschicht-
liche Bedeutsamkeit dieser neuesten und viel-
leicht letzten stärkeren Regung des wahren Gei-
stes des Islam's nicht verkennen. Aehnlich se-
hen wir nicht ein warum der Verfasser läugnet
dass die christlich-jüdischen Kämpfe in der Stadt
Nagrän welche in die Byzantinischen Zeiten des
letzten Jahrhunderts vor dem Islam fallen, un-
geschichtlich seien. Er fand auch diese alte
Stadt in Jemen wieder auf, und drückt bei der
Veranlassung solche Zweifel aus. Allein wenn
die Erinnerung an diese alten Kämpfe in dem
heutigen Nagrän ausgelöscht ist, so folgt daraus
604 Gott. gel. Am. 1873. Stück 16.
siebt dass sie erdichtet seien. Die alten Grie-
chischen und Syrischen Berichte darüber sind
stark christlich gefärbt, oder vielmehr von dem
Geiste des letzten christlichen Jahrhunderts vor
dem Islam erfüllt: aber auch deshalb sind sie
nicht erdichtet, füllen vielmehr eine weite Lücke
in unserer Kenntniss der Geschichte des Öten
Jahrhunderts sehr willkommen aus.
Bevor wir jedoch diesen kurzen aber reich-
haltigen und wichtigen Reisebericht hier verlas-
sen, scheint es uns sehr der Mühe werth an die
Schuld zu erinnern welche wir heute gegen jene
Alterthümer ja man kann auch sagen gegen jene
Länder auf uns haben. Der Verf. hat weder
das ganze Jemen durchsuchen noch auch nur an
den Stellen wo er im Entdecken glücklich war
alles was er fand so ausbeuten können wie dies
zu wünschen ist. Als einzelner schutzloser Mann
war er mehr auf den Zufall oder auch auf ge-
wandte Künste und Listen aller Art angewiesen:
während er, hätte man ihm auch nur 10 Euro-
päische Soldaten beigegeben, ohne den Einwoh-
nern das geringste Unrecht zu thun die Quellen
unserer Wissenschaft ungleich reicher und siche-
rer hätte eröffnen können. Dass Jemen eine
uralte durchaus eigentümliche und hoch ausge-
bildete Kunst und Wissenschaft hatte, konnte
man schon früher zuverlässig vermuthen, und
ist nun durch diese neueste Beiseunternehmung
vollständig bewiesen. Ein altes Himjarisches
Buch hat man noch nicht wieder gefunden:
aber das Land ist überfüllt mit Himjarischen
Inschriften mannichfacher Art und theilweise
von grosser Länge; die Trümmer alter kunst-
voller Gebäude ragen noch deutlich genug aus
seiner jetzigen Verwüstung empor; und wenn
man ein Muster ebenso uralter als höchst rein
f
Halävy, Rapport but one mission archäolog. 60S
erhaltener acht Semitischer Kunst und Bildung
beobachten will, so findet man es hier. Allein
die Einwohner sind jetzt dort auf eine ganz un-
glaubliche Weise verwildert; der Islam hat ja
nirgends so ungestört und so ununterbrochen
sein ganzes Wesen entfalten können als in die-
sem Lande uralter Bildung; und je mehr er zu
zerstören vorfand, desto grösser ist nun die
Verwüstung geworden und desto ärger haben
sich die Menschen an das Räuberleben gewöhnt.
Da schwinden denn auch die letzten Spuren al-
ter hoher Lebensbildung immer rascher dahin;
und wenn man unter uns sich nicht emsiger
•und nachhaltiger um die Rettung der Trümmer
bemühet, wird man bald nichts mehr retten
können.
Der Yerf. hat nun 686 Himjarische Inschrif-
ten, an 37 verschiedenen Oertlicbkeiten gesam-
melt, von seiner Reise zurückgebracht; und nur
15 von ihnen waren schon früher bekannt. Un-
ter diesen sind einige sehr grosse; viele aber
konnte er nicht einmahl vollständig abzeichnen;
und obgleich man sehr deutlich bemerkt mit
welcher Sorgfalt er bei dem Abzeichnen verfuhr,
so begreift man doch leicht dass ein so schwer
bedrängter Reisender nicht alles leisten kann
'was man zu wünschen hat. Man findet sie nun
so wie der Verf. sie geben konnte, sämmtlich
bier S. 99 — 236 abgedruckt, die meisten mit
den Himjarischen Buchstaben welche man schon
vor 30 Jahren in Paris zum Abdrucke der Ar-
naud-Fresnelschen Inschriften hatte giessen las-
sen, einige nach dem Muster einer anderen Art
Himjarischer Buchstaben. Hinzugefügt ist über-
all eine höchst genaue Bezeichnung der Oert-
lichkeit wo jede Inschrift gefunden ward: Ent-
zifferer wissen aber von wie grosser Wichtigkeit
606 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
es 18t diese Oertlichkeiten immer sicher zu ken«
nen. Von S. 237—266 gibt der Verf. auch
eine »theilweise und vorläufige Uebersetzungc
aller von ihm gefundenen Inschriften, indem er
besonders die vielen Eigennamen deutlich her-
vorhebt: allein wegen einer vollständigen und in
allen Einzelnheiten sichern Ueber6etzung und
Erklärung verweist er auf die Zukunft; und
wir könnten wünschen dass bis dahin noch viele
der anderen bekannt welche die heutige Nacht
jenes Landes bedeckt, einzelne auch wiederholt
an Ort und Stelle untersucht würden.
Wir wollen daher diese Anzeige nicht zu
einer Abhandlung über diese vielen neuen In-
schriften verlängern, da wir stets den Grundsatz
hatten dass man dem ersten Entdecker solcher
Schätze auch die beste weitere Erklärung und
Ausbeutung derselben überlässt. Doch beginnt
der Verf. 6chon hier von S. 268 an eine freiere
Abhandlung über einige Einzelnheiten dieser
Inschriften und das ganze Himjarische oder Sa-
bäische Alterthum: und dazu erlauben wir uns
sogleich an dieser Stelle folgende Bemerkungen.
Der Verf. beschäftigt sich hier vorzüglich
mit der Aussage Herodot's 3, 8 dass die Araber
meinten ihr einziger Gott sei Dionysos mit der
Urania (Aphrodite), und dass sie jenen VQotdX,
diese *Ahldi nennen. Diese Aussage Herodot's
hat von jeher seinen neueren Erklärern sehr
viele Schwierigkeiten gemacht, und eine Menge
der allerverschiedensten Versuche die damit uns
vorgelegten Räthsel zu lösen hervorgerufen:
aber man hat auch immer gefühlt dass es der
Mühe werth sei dieses älteste Zeugniss welches
ein Griechischer Schriftsteller über den Gottes-
dienst der alten Araber gibt, sicher zu ver-
stehen. Wir wollen nun hier nicht die Frage
Halevy, Rapport stir une mission archeolog. 607
verfolgen ob Herodot dabei nnr die sudlichen
Araber meine, wie unser Verfasser dies für rich-
tig hält: jedenfalls können wir heute wo die
Altarabischen Inschriften in solcher Fülle uns
zuströmen und hoffentlich weiter zuströmen wer«
den, über solche Fragen treffender als früher
urtheilen. Aach die andere Frage werde hier
übergangen, ob die Araber Herodot's nach sei-
ner Angabe wirklich Monotheisten waren: die
dem Dionysos hinzugefügte Urania zerstört schon
S* den Monotheismus ; und nur soviel erhellet aus
erodot's Zeugnisse dass diese Araber nicht
etwa wie andere Heiden der Zeit sieben oder
acht oder zehn und zwölf Hauptgötter verehrten.
Die schwierigste Frage welche sich heute hier
erhebt, dreht sich noch immer um die Götter-
namen 'ÖQOTaX und *AkXd%\ sind Semitische
Namen mit Griechischen Buchstaben überhaupt
schwerer nachzuweisen, so erkennt man unter
diesen beiden besonders den ersten äusserst
schwer wieder, sodass man nach den vielen ver-
geblichen Versuchen über ihn welche schon ge-
wagt wurden, fast verzweifeln sollte ihn richtig
aufzufinden. Die Meinung 'OqotcxI entspreche
dem bekannten Mohammedanischen J,C*i* *JJt, ist
so verkehrt dass unser Verf. sie sofort verwirft:
doch i?t nicht, wie er meint, Gesenius sondern
schon Pococke im Specimen historiae Arabum
ihr Urheber. Ganz neu und auf den ersten
Blick sich sehr empfehlend ist dagegen die An-
sicht unsres Verf., der Name sei einerlei mit
dem der Phönikischen Astarte, welche bekannt-
lich unter eben diesem Namen bei sehr vielen
alten Völkern weit und breit verehrt wurde und
in dieser allgemeinen Beliebtheit nur mit Diony-
sos wetteiferte. Der Name wurde jedoch bei
den weit von einander abliegenden Völkern sehr
608 Gott, gel Ans. 1878. Stfick 16.
verschieden ausgesprochen : als Athtar ^nrl* bat
man ihn jetzt längst auf den Himjarischen In-
schriften wiedergefunden, dadas tn in manchen
Semitischen Mundarten in n d. i. & übergeht
Man hätte dann einen acht Arabischen Gott:
worauf unser Verf. viel Gewicht legt. Auch
darf man nicht einwenden, der Name sei dann
nicht wie Astarte weiblich: der weibliche Name
selbst könnte einen männlichen und einen ihm
entsprechenden Gott voraussetzen; und auf den
Himjarischen Inschriften erscheint *inn? stets
ohne weibliche. Endung. Allein die Lautver-
hältnisse beider Namen sind sonst höchst un-
vereinbar, Dass am Ende / mit r wechselt, ist
zwar nicht auffallend ; auch ist es erträglich dass
der Laut * nicht durch a sondern durch o wie-
dergegeben wird, wie viele Beispiele zeigen«
Aber wie aus n r werden, und wie die beiden
hier immer fest in einander verschlungenen
Laute -sht- oder -thi- durch ein o zerspalten
werden konnten, is unerklärlich« Man muss da-
her die Ansicht des Verf., so gut sie sonst pas-
sen würde, dennoch aufgeben : aber inderthat hält
er sie auch selbst nicht fest genug, da er zulässt
P könne für & verschrieben sein, obgleich die
Handschriften hier keinerlei Verwechselung be-
stätigen.
Kommt es jedoch schliesslich auf die Frage
an ob der Name bei Herodot in seinen Lauten
richtig sei, so geht man am besten erst zu dem
anderen *AXiXd% über und sieht zu ob vielleicht
auch dieser entstellt sei. Allein dieser entspricht
zu deutlich einem Arabischen Worte *fi^H
al-ilähat d. i. Göttin, als dass man nicht an-
nehmen sollte er sei daraus durch Ausstossung
des zumahl den Griechen schwer hörbaren h zu-
'
Hallvy, Rapport sur une mission arch&Iog. 609
sammengefallen ; und der Qoranische Name
o^Lit ali&t zeigt dann nur was wir auch sonst
wissen, dass der unendlich oft gebrauchte Name
dieser Göttin sich mehrere Jahrhunderte nach
Herodot gefallen lassen musste noch weiter zu*
satomengezogen zu werden. Zwar muss man
dann nicht an eine fiimjarische sondern Nord-
arabische Göttin denken, weil das Himjarische
den Artikel -al nicht kennt: allein inderthat
kam doch eher die Kunde Nordarabischer als
Südarabischer Götter zu Herodot, auch abge-
sehen davon dass der Artikel hal- oder a/- einst
auch im Südarabischen gebräuchlich sein konnte.
Unser Verf. will jedoch diese Erklärung des
*AXildx nicht zulassen. Er meint diesem ent-
spreche das Wort DnVb$ Ungötter im A. T.:
aber dieses bezeichnete nach allem was wir wis-
sen niemals einen wirklich so genannten Gott,
sondern war rein witzig durch ein Lautspiel mit
D^rtat entstanden, war nur dem Hebräischen
(wie andere Witzworte der Art) eigen thümlich
und stand in diesem neben jenem wie bei uns
Götzen neben Göttern, hat auch nur in
ihm eine klare Ableitung, da V^K in ihm Nich-
tigkeit bedeutet. Nun will der Verf. zwar
dieses o*V^?$ welches uns bis jetzt als ein rein
Hebräisches "Witzwort erscheinen musste , in
einem Worte nbttbe* wiederfinden welches auf
den Himjarischen Inschriften oft wiederkehre
und immer Götter überhaupt bedeute. Dies
konnte man bis jetzt nicht wissen : der Verf. be-
legt es deshalb S. 280 durch die Erklärung einer
erst von ihm aufgefundenen Inschrift aus den
Trümmern von Mein. Allein er erklärt weder
die Schreibart mit N statt des *> in ö^bfit, noch
die Bildung und Ableitung des Wortes; auch
47
610 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 16.
nicht seine weibliche Endung, wenn es Götter
überhaupt und zwar (selbstverständlich) im gu-
ten und nicht in jenem Hebräischen Sinne be-
deuten sollte. Wir möchten dieses nb&tbfit viel-
mehr für im wesentlichen einerlei mit jenem
AkXäx halten, und in ihm ein Zeichen nndfen
dass dieses Wort jedoch in der Bedeutung
Gottheit (Hat von bat, mehrz. Hat) ebenso wie
der cÄ8tär mit den Südarabern selbst erst aus
Nordarabien eingewandert sei.
Können wir demnach in dem Namen 'AhXdt
weder einen Schreibfehler noch eine Unklarheit
finden, so erweckt dies für jenen ersten 7OqotdX
ein günstiges Vor artheil: doch ist dabei nicht
zu übersehen dass andere Handschriften 'Oqo-
%aXx oder Oi>QoxdXx haben, und dass diese Les-
art leichter in jene als jene in diese übergeben
konnte, wahrscheinlich also die ursprüngliche
ist. Bedenkt man nun dass Dionysos jedenfalls
als ein jugendlicher Gott gedacht wurde, do
finden wir in dem O^qoxccXx ganz einfach
mnri? Vi? (\. i. das Astartekind, den jungen Gott
neben der Göttin-Mutter: und leicht liesse sich
dieses Verhältniss zweier höchster Gottheiten zu
einander auch sonst nachweisen. Das bi9 oder
y**;9 als Kind entspricht dem J^a und J*e; der
doppelte Wechsel von / und r kann nicht auf-
fallen, ebensowenig wie das o für * und die
Vereinfachung des tht in t.
Ausserdem wollen wir hier nur noch die drei
letzten Worte dieser einzigen Inschrift näher
berücksichtigen welche der Verf. S. 280 ff. ge-
nauer erklärt. Man weiss jetzt hinlänglich dass
auch im Morgenlande viele Inschriften mit Flü-
chen gegen alle solche schlössen welche ein Grab
oder ein sonstiges für heilig gehaltenes Gebäude
Hal&y, Rapport sur one mission archeolog. 611
zn verletzen wagen sollten: nnd wir können si-
cher * annehmen class die drei letzten Worte
auch dieser Inschrift ean&Di oxi» ■»m* einen
solchen Sinn andeuten sollen. Dann kommt es
aber besonders auf die richtige Bestimmung des
Sinnes des Wortes •w an : und der Verf. meint
es könne verflucht seil bedeuten weil es ein
Aramäisches Wort Uo§ schwören gebe. Der
Unterz. hat nun zwar längst nachgewiesen, dass
dieses Aramäische Wort erst von «pa ; die
rechte Hand dann der Schwur abgeleitet
sei, aber sich auch im Hebräischen finde: und
insofern läge keine Schwierigkeit vor das Wort
auch als Arabisches Sprachgut zu betrachten,
obgleich es im gewöhnlichen Arabischen sich
nicht findet. Allein das Wort hat keinerlei böse
Bedeutung, kann auch seinem Ursprünge zufolge
eine solche nicht leicht haben. Man mnss da-
her doch an eine ganz andere Erklärung dieses
Wortes denken; und wir zweifeln nicht dass es
vielmehr mit ly ungesund, absterbend
wie durch die Pest seyn zusammenhängt; nahe
verwandt ist diesem auch Ju5; und sofern das
Himjarische dem Aethiopischen am nächsten an-
grenzt, ist hier Q)Q zu vergleichen. An dem
Wechsel von m und b wird sich Niemand stossen :
der Schluss dieser Inschrift ist aber dann voll-
kommen klar. — Ausserdem ist auffallend dass
das Wort *rh welches nach S. 280 das 5te die-
ser Inschrift ist, in ihrem Abdrucke S. 155 ganz
fehlt: der Abdruck S. 280 wird also wohl zu-
verlässiger sein und die Auslassung dort durch
den fast gleichen Ausgang von yrn und ?v3fit
sich erklären.
47 •
612 Gott gel. Anz. 1873. Stück 15.
Mögen denn diese beiläufigen Bemerkungen
dazu dienen recht deutlich zu machen welche
neue schwierige Arbeiten hier allerdings be-
ginnen wenn der neugeöffnete Inschriftenschatz
recht fruchtbar werden solll Ueberall häufen
sich jetzt auf dem weiten Gebiete wo einst das
Semitische blühete, wichtige Entdeckungen neuer
Stoffe: möge es nicht an guten Arbeitern feh-
len diese dichten Mengen roher Stoffe in gute
Münze umzusetzen! H. E.
Franz von Sickingen. Nach mei-
stens ungedruckten Quellen von Dr.
H. Ulmann, ordentlichem Professor der
Geschichte an der Universität Dorpat.
Leipzig, Hirzel 1872. XIV und410 SS.
Die Aufgabe, welche sich der Verf. dieses
Werkes gestellt hatte, war, in Folge des Zu-
sammentreffens einer Reihe von Umständen,
eine der dankbarsten, die auf dem Gebiete der
neueren Deutschen Geschichtschreibung sich fin*
den Hess. Dem Helden, welcher im Mittelpunkte
der Erzählung zu stehn hat, enge verwachsen
mit hochwichtigen Momenten in der Geschichte
der Nation und seit lange vom blendenden Glänze
der Sage und Dichtung umstrahlt, wie er ist,
kommt mit Sicherheit eine allgemeine Theil-
nahme entgegen. Da er sich durch die That
und nicht durch die Schrift geäussert, so war
der Biograph im Stande die Ergebnisse seiner
Studien in einem massigen Bande zu verarbeiten
und jener Notwendigkeit überhoben, welche
der Biograph eines Helden der Feder oft so
Ulmann, Franz yon Sidtingen. 619
bitter empfindet: mit der umschreibenden Wie«
dergabe von schon Gedrucktem Seite auf Seite
fallen zu müssen. Der Gegenstand im Allge-
meinen erweckte dje Hoffnung auf eine reiche
Beute noch unbenutzten, namentlich archivali-
echen Materials. Endlich, und auch das ist für
den Autor kein geringer Vortbeil, wäre es auch
nur der einer ungesuchten Folie, — eben dieses
Thema ist vor mehr als vier Jahrzehnten von
einem unermüdlichen Viel-Schreiber, welcher
wenig anziehende Stoffe des sechzehnten Jahr-
hunderts verschont hat, erbarmungslos genug
behandelt worden, so dass der Wunsch schon
längst laut geworden war, an Stelle jener oft
citirten drei Bände : »Franz von Sickingens Tha-
ten, Plane, Freunde und Ausgang. Durch
Ernst Münch« (1827—1829): ein besseres,
der schönen Aufgabe wahrhaft würdiges Werk
gesetzt zu sehn.
Dem Verf. sind die erwähnten Umstände in
reichem Masse zu Gut gekommen, und indem
er sie mit Umsicht benutzt, die fleissigsten Vor-
arbeiten sorgsam ausgeführt und den geschicht-
lichen Stoff in durchsichtige Form gegossen hat,
ist ihm ein Werk gelungen, welches allen An-
forderungen genügt, und, so deutlich es Schritt
yor Schritt die gelehrte Forschung erkennen
lässt, wohl verdient nicht in der Hand der Ge-
lehrten allein zu bleiben.
Dass auf den »billigen Triumph verzichtet«
worden ist, die Darstellung von Münch im Ein-
zelnen zu widerlegen, wird Niemanden befrem-
den, welcher bedenkt, dass auf diese Weise in
der That ohne ersichtlichen Nutzen der Umfang
des Buches um das Doppelte gewachsen wäre.
Wo fast so viele Unrichtigkeiten als Seiten vor-
handen sind, ist die einzig angemessene Wider-
614 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 16.
legung ^tatsächliche Verdrängung des schlech-
ten Buches durch das gute. Um so deutlicher
tritt schon äusserlich jenes andere begünstigende
Moment hervor: die Möglichkeit neue Quellen
zu benutzen und solche selbst zu erschliessen.
Manche sehr wichtige Quelle freilich findet sich
eben nur in der kritiklosen Edition von Münch
aufbewahrt, und dieser hat mitunter auf die
einfachste Weise der Welt dafür gesorgt, dass
die Nachkritik und Benutzung durch einen spä-
teren Forscher unmöglich gemacht wurde. So
soll er, wie man mir, ich weiss nicht, ob der
Wahrheit gemäss oder nicht, erzählt hat, den
einzig bekannten Text der Flersheimer Chronik
ohne weiteres Besinnen statt einer Abschrift in
die Druckerei haben wandern lassen, wodurch
denn die Vernichtung der Handschrift glucklich
bewirkt wurde. — Indes ein ungemein reiches,
urkundliches Material hat der Verf., der sich
keine Mühe und Reise verdriessen Hess, selbst
erst gehoben, fast jede Seite seines Buches legt
vollgültiges Zeugnis dafür ab, und Ref. muss
ge8tehn, dass ihm wenig Werke aus dem Kreise
der Geschichte des Reformations-Zeitalters be-
kannt sind, die so glücklich aus den Archiva-
lien herausgearbeitet sind und doch gleichzeitig
so wenig von dem archivalischen Ballast be-
schwert erscheinen, als es bei diesem der Fall
ist. Leider waren alle Bemühungen erfolglos,
die Sickingenschen Korrespondenzen und Akten
aufzufinden, welche seine fürstlichen Gegner
nach der Besiegung des Ritters auf seinen Bur-
gen erbeuteten. Nur ein Verzeichnis jener
Aktenstücke und einige wenige Originale fanden
sich im Kasseler, (jetzt Marburger) Archive vor,
wie z. B. einige chiffrirte Briefe Sickingens an
den Vertrauten Balthasar Schlör (s. S. 370.
Ulmann, Franz von Sickingen. 615
374 Anm.). Auch sonst war gerade das Kasse-
ler Archiv ergiebig genug: an dieser Stelle
konnten Briefe von Sickingens Schwester Ger-
trud, einer Schwester des Ordens der H. Klara,
eingesehen werden, und dieser Fund war um so
werthvoller, da er ermöglichte wenigstens einen
nothdürftigen Einblick in das Familien-Leben zu
gewinnen, in welchem der Held aufgewachsen
ist. Für die Geschichte des Sickingenschen Ge-
schlechtes kam daneben vorzüglich ein im Mün-
chener Reichsarchiv befindliches Kopialbuch in
Betracht, wie denn auch die Bairischen und
Pfälzischen im Staats-Archiv zu München aut-
bewahrten Reichstags- Akten, sowie für einige
Neben-Punkte die Archiv-Konservatorien von
Nürnberg, Würzburg, Speier zu Rathe zu ziehen
waren. Sehr reiche urkundliche Quellen er-
schlossen sich in Wien u. a. für die Geschichte
der Worro8er Fehde, der bedeutungsvollen stän-
dischen Reformversuche, der Stellung des Reichs-
Regiments zu den streitenden Parteien*). Von
dem Ernestinischen Gesammt- Archiv zu Weimar
hat der Verf. denselben schönen Gebrauch ge-
macht, wie schon in seinem früheren Werke:
»Fünf Jahre Würtembergischer Geschichte« (Leip-
zig 1867). Im Frankfurter Stadtarchiv boten
sich die vielfach benutzten Reichstagsakten,
Sickingensche, städtische Korrespondenzen etc.
Auch die Archive von Strassburg, Konstanz,
Dresden und das des Germanischen Museums
*) In dem schätzbaren Werke: »Die Handschriften
des Kaiserlichen and Königlichen Haas-, Hof- and Staats-
Archivs, beschrieben von Constantin Edlen von Böhm.
Wien 187S« S. 186 No. 594. 22 wird erwähnt: »Samm-
lung von Aufzeichnungen versch. Hände über Fehden
des Franz von Siokingen 1523«, welche der Yerf. wohl
auch benutzt hat
616 * Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
steuerten hie und da eine erwünschte Notiz bei.
Dagegen hatte der emsige Forscher einige Ent-
täuschung zu erleben in Koblenz, wo sich von
den Trier'schen Akten nur wenig vorfand, and
in Karlsruhe, wo man von der Pfalzer Seite
her Bedeutendes zu finden hätte hoffen dürfen,
wo aber zur Zeit wenig mehr dargeboten wer-
den konnte, als was den Inhalt der betreffenden
Kopialbücher ausmacht.
Die neuerdings durch den Druck veröffent-
lichten Quellenwerke wie die Editionen von
Lanz, Le Glay, Brewer u. 8. w. sind vortreff-
lich ausgebeutet, die nicht geringfügige Litera-
tur zeitgenössischer Brochuren stand dem Verf.
zu Gebote, und man wird seine Beherrschung
der Literatur überhaupt vollkommen zu würdi-
gen wissen, wenn man bedenkt, an welchem
Orte er geschrieben hat*).
Auf so breiter Grundlage erhebt sich nun
die Darstellung von Sickingens Leben. Es ist
dem Gegenstande nach nicht möglich, dass diese
Darstellung in unsrer historiographischen Lite-
ratur Epoche macht. Wo Ranke vorgearbeitet
hat, wird es schwer sein eine durchaus neue
Auffassung geltend zu machen, auch wenn man
das früher nutzbare Material bedeutend ergän-
zen kann. Rankes schöne, zusammenfassende
Charakteristik (Deutsche Gesch. im Z. A. der
*) Sehr zu bedauern ißt, dass es dem Verf. wegen
mangelnder Literatur nicht möglich war anf das Bio«
graphische hei Erwähnung Aquilas und Schwebeis naher
einzugehn (s. S. 184). Auch das grosse Werk über Götz
von Berliohingen herausg. von F. W. G. Grafen von
Berlichingen-Rossach (1861) stand ihm wohl nicht tu
Gebote. Hier nennt sich 8.216 Sickingen >Kür (?)
Mt. in Hispanien, Erzherzogen eu Osterreich obrister
Leuttinant« (vgl. Ulmann 8. 153 Anm, 1).
Ulnmnn, Franz yon Sickingen. 617
[Reformation S. W. II 82) wird auch jetzt noch im
Ganzen und Grossen als durchaus zutreffend er-
scheinen, aber im Einzelnen hat es, ganz zu schwei-
gen von der reichen Ausfüllung des Bildes, doch auch
an einigen keineswegs unbedeutenden Berichti-
gungen der Zeichnung nicht gefehlt. Was bei
jeder biographischen Darstellung als wesentliche
Aufgabe erscheint: das richtige Verhältnis zu
treffen zwischen dem rein Persönlichen und dem
Allgemeinen, daraus diese Persönlichkeit erwach-
sen ist, darin sie gewirkt hat : das wird man im
Torliegenden Fall als wohl erreicht finden.
Sickingens Wirken wäre gar nicht zu verstehn
ohne eine Beleuchtung der socialen und politi-
schen Stellung der Ritterschaft seiner Zeit, und
es war daher durchaus gerechtfertigt dies all-
gemeinere Thema ausfuhrlich zu erörtern. Viel-
leicht hätte sich dabei eine etwas bessere Grup-
pirung vornehmen lassen. Indem bereits S. 25
— 30 die »sociale Lage des s. g. niedern Adels«
geschildert wird, haben sich im vierten Kapitel
es zweiten Buches: »An der Spitze der Reichs-
ritterschaft« einige Wiederholungen nicht ver-
meiden lassen. Es hätte wohl jene allgemeine
Schilderung bis zu dieser Stelle aufgeschoben
werden können, oder es würde sich empfohlen
haben, der eigentlichen Biographie des letzten
Bitters eine breite Einleitung über die letzten
Zeiten des Rittertbums vorauszuschicken. Uebri-
gens ist gerade die Entwicklung dieser allge-
meinen Verhältnisse von ausgezeichneter Klar«
heit. Ohne irgendwie den oft gemachten Ver-
such zu wiederholen jene Götzischen Zeiten mit
dem Schimmer der Romantik zu umgeben, aber
auch ohne zu einer ganz nutzlosen, moralisiren-
den Polemik zu greifen, setzt der Verf. bündig
auseinander, wie die Ritterschaft eingeengt durch
618 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
das stetig vorschreitende Fürstentum , in ihrer
ökonomischen Lage von Jahr zu Jahr gegen das
blühende Städtethum zurückgekommen, durch
die Veränderung des Kriegswesens ihres eigent-
lichen Bodens berauht, nicht im Staude war
sich eine politische Stellung zu sichern, den
grossen Reform-Bestrebungen Maximilians un-
bändigen Trotz entgegensetzte und den moder-
nen staatlichen Gewalten nach einem letzten
Verzweiflungskampf unterlag. Die geschicht-
liche Notwendigkeit dieses Unterganges einer
der bedeutendsten mittelalterlichen Bildungen
macht gerade sein dramatisches Interesse aus.
Im Einzelnen betrachtet scheidet sich das
vorliegende Werk in drei Bücher. Das erste:
»Fehde und Reiterlebenc umfa^st in vier
Kapiteln folgende Gegenstände: 1) Herkunft
und Jugend. 2) Im Kampf mit Worms
und Lothringen. In des Reiches Acht
und Oberacht. 3) Im fremden Dienst.
Aussöhnung mit dem Kaiser. 4) Er-
starkung im Kampf.
Aus dem ersten Kapitel hebe ich hervor die,
wie mir scheint, berechtigte Polemik gegen die
landläufige Ansicht, Schwicker von Sickingen
sei in dem Pfalzisch-Bairischen Erbfolgekriege
in Gefangenschaft gerathen und auf Befehl
Maximilians hingerichtet worden. Die S. 16
Anm. 2 angeführte Urkunde von 1505 zeigt,
dass er damals noch am Leben war, was sich
schlecht mit jener Annahme vereinbaren liesse.
Die bezügliche Stelle in der Flersheimer Chro-
nik (Münch III 223) scheint mir schon deshalb
den Verdacht der Korruption nahe zu legen,
weil das »im Amptc zu dem »gestorbene ein
ziemlich unklarer Zusatz ist. Die von Münch
beliebte Interpunktion kann selbstverständlich.
Ulmaim, Franz von SicKngen. 619
nicht entscheiden. Wünschenswerth ware es
gewesen in das Verhältnis der »Fehdeschaften«
zur Flersheimer Chronik etwas klareren Einblick
zu erhalten.
Der neuen Darstellung der Wormser Fehde
in Kap. 2 ist archivalisches Material in reichem
Masse zu Gut gekommen; von Interesse ist für
die Quellenkritik die Bemerkung (S. 32 Anm.
2), dass Zorns Wormser Chronik »betreffend die
Geschichte des Aufruhrs und die Franzensfehde
nur die etwas abgekürzte Wiedergabe des zwei-
ten Ausschreibens des Wormser Bathes 1515
Samstag nach Bartholomaeus im Frankfurter
Stadtarchiv ist« sowie S. 5 1 Anm. 1 die Notiz über
das Verhältnis der Zimmerschen und Hertzogs
; Edelsasser Chronik zu Geroldseckschen Aufzeich-
nungen. Das > Wormser Lied«, vom Verf. im
Strassburger Stadtarchiv aufgefunden und zuerst
in den »Forschungen zur Deutschen Geschichte«
(Bd. X 656 ft.)- abgedruckt, erscheint im vor-
liegenden Werke passend unter den Beilagen. 7\
| Wie die Biographie Sickingens überhaupt zu
i den mannichfaltigsten verfassungs-geschichtlichen
! Betrachtungen veranlasst, so bietet sich in Kap.
| 3 Gelegenheit eines Versuches des Kaisers Maxi-
| milian zu gedenken, durch welchen die Kreis-
verfassung belebt und gegen den fehdelustigen
| Bitter benutzt werden sollte, »der sich für be-
i rufen erachtete, den Schützer der verfolgten Un-
schuld zu spielen und der dabei seinen privaten
| Vortheil nach Kräften wahrzunehmen sich er-
laubte«. Die Sache ist nicht ganz unbekannt
gewesen, aber doch erst vom Verf. nach neuen
Forschungen ausführlich erörtert. Mit Berufung
auf die Beschlüsse des Kölner Reichstags von
1512 verlangte Maximilian den Zusammentritt
der Stände der Reichskreise (auf den 3. Febr.
1517) und die Bewilligung einer ansehnlichen
1
620 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
Hilfe zu Ross und Fuss. Das Resultat dieses
Versuchs »die schwerfällige Reichsmaschine ge-
gen den Ritter in Bewegung ' zu bringen« war
folgendes: Die kursächsischen Kreis-Stände tra-
ten wegen Ausbleibens der Kaiserlichen Kom-
missarien gar nicht zusammen, die Stände des
Ober-Rheinischen Kreises »schlugen dem Kaiser
vor, wie es Brauch sei gemeine Stände des
Reichs zur Beschlussfassung zu beschreiben«»
Im Schwäbischen Kreis erschien nur eine schwache,
machtlose Minorität. Ueber die Beschlüsse der
übrigen Kreise, wofern solche überhaupt zu
Stande kamen, fehlen die Nachrichten. Der
ganze Versuch war gescheitert, und hatte nur
zur Folge Sickingen Frankreich und der anti-
babsburgischen Opposition immer mehr anzu-
nähern. Die Geschichte dieser Verhältnisse, der
Unterhandlungen mit dem Kaiser, des Eintrittes
in dessen Dienst macht den Rest von Kap. 3
aus. Ich hebe daraus nur noch die glückliche
Vermuthung (S. 90) hervor, welche sich auf
eine von Fleurange überlieferte Erzählung be-
zieht und nachweist, dnss sie sich, richtig auf-
gefasst, wohl mit der Wahrheit vereinigen läset.
Die Erzählung der Metzer und der Hessi-
schen Fehde, des Zwistes Sickingens mit Frank-
furt n. 8. w. in Kap. 4 zeichnet sich durch rieh*
tige Abgrenzung des Stoßes vorzüglich aus.
Die Frankfurter Angelegenheit, in welche die
beiden Juden Heyum und Meyer verflochten er-
scheinen, ißt ganz neu nach den Akten im
Frankfurter Stadtarchiv bearbeitet. An Ver-
besserungen Münchs hat es auch hier nicht ge-
fehlt. So viel der Nachlässigkeit dieses Schrift-
stellers auch zuzutrauen ist, kann ich indes doch
nicht glauben, dass er ohne jeden Grund die
Forderung des Ambrosius Glauburger betreffend
eine Pfründe des Bartholomäus-Stiftes, als ein
tflmann, Franz von Sickingeo. 621
Moment für Sickingens feindselige Stimmung ge-
gen die Stadt angeführt hat (6. Münch I 97).
Mau würde in Frankfurt selbst vielleicht noch
näheren Aufschluss erhalten können. Die Cha-
rakteristik Sickingens, mit welcher der Verf. am
Ende dieses Kap. das erste Bach schliesst, kann
ich mir nicht versagen hier dem Wortlaut nach
einzufügen. Sie giebt eine gute Probe von der
klaren Schreibweise des Verf., die sich mit Vor-
liebe in kurzen, leicht übersehbaren Sätzen be-
wegt: »Glückliche Kriege hatten ihn (Sickingen)
weit aus den Reihen seiner Standesgenossen
herausgehoben. Fast wie ein Fürst unter Für*
sten stand er da. Und welcher geborne Fürst
konnte sich denn, wie er, rühmen, in den wei-
testen Kreisen von der populären Stimme für
den Anwalt der unterdrückten Gerechtigkeit ge-
balten zu werden? Es war in der That eine
ganz unvergleichliche Stellung, die er einnahm.
Dabei konnte er doch immer als ein Haupt des
Adels gelten , wenn ihm auch die Eigenschaften
eines Parteiführers wesentlich gemangelt haben.
Kalte berechnende Einsicht, vorsichtiges Ab-
wägen des Für und Wider, gelassenes Abwarten
des richtigen Augenblicks, vor allem die Pflicht
dessen, der für anderer Wohl verantwortlich ist,
waren ihm häufig schwer geübte Tugenden. Er
handelte nur zu gern nach den Eingebungen
seines heissen Herzens. Dieses Temperament
entschuldigt vieles in seinem Thun, erklärt es
aber auch, wie Manches, was er später angriff,
ihm gar nicht gelingen konnte«.
Durch den Titel des zweiten Buches: »Re-
formation an Haupt und Gliedern« wird
schon angedeutet, inwiefern sich an dieser Stelle
der Kreis der Darstellung erweitert, und ein
Blick auf die Ueberschriften der vier Kapitel
dieses Buches 1) »Im Dienst habsburgi-
622 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
scher Kaiserpolitik. 2) Sickingen und
Hotten. Beziehungen zur Reformation*
3) DerFeldzug ander Maass. 4) An der
Spitze der Reichsritterschaft) zeigt so-
fort, dass es sich nicht nur um die religiöse
Reformation, sondern gleichzeitig um die politi-
sche oder wenigstens ständische Reform han-
delt. Allerdings sind es vor Allem die Be-
ziehungen Sickingens zur literarisch-religiösen Be-
wegung des sechzehnten Jahrhunderts, an welche
Jeder zuerst zu denken geneigt ist, sobald des
Ritters Name genannt wird. Seine Freundschaft
mit Hütten, Hartmut von Kronberg*) u. 8. w. sein
Eintreten fur Reuchlin, seine warme Theilnahme
für Luther und dessen Sache, seine Haltung
während des Wormser Reichstages, die Einrich-
tung des ersten reformirten Gottesdienstes auf
seinen Burgen, die Oefinung seiner »Herberge
der Gerechtigkeitc für die »hervorragendsten
Opfer religiöser und kirchlicher Ueberzeugungc,
wie Butzer, Schwebel, Aquila, Oecolampadius :
alle diese Thatsacheh machen Sickingen zu einer
unvergesslichen Persönlichkeit in der Geschichte
des Deutschen Humanismus und der Deutschen
Reformation. Viele der erwähnten Punkte sind
neuer dings erst durch die trefflichen Arbeiten
von Strauss, Waltz, Geiger wiederum be-
leuchtet worden, speciell für die Geschichte des
*) In der »His tori a vitae Georgii Spalatini« von
Chr. Schlegel (Jenae 1698) wird S. 204 ein Brief H.
von Kronbergs, 1522 gerichtet an »den von Döltzigk
nnd Oeorgiam Spalatinumc mitgetheilt, von dem ich.
nicht weiss, ob er sonst bekannt ist, und an dessen Ende
beiläufig auch Sickingen erwähnt wird. Vgl. S. 206 die
Antwort. Ungern vermisst man in diesem Abschnitt des
vorliegenden Werkes eine Angabe über das Verhältnis
Eberlins von Günzburg zu dem Sickingenschen Kreise»
Ülmann, Franz von Sickingen« 623
Worni8er Reichstags ist ganz kürzlich durch
J. Friedrich in den merkwürdigen Berichten
Aleanders eine werthvolle Quelle vollständiger
erschlossen. Aber nicht nur, dass diese Arbei-
ten dem Verf. den Weg ebnen konnten, er hat
auch hier manchen selbstständigen Beitrag lie-
fern können. So wird der letzte Biograph
Beuchlins ßehr erfreut werden durch Mitthei-
lung eines vorher unbekannten Briefes Reuch-
lins vom 3. Januar 1521 (Anbang V.), in wel-
chem der geplagte Gelehrte Friedrich den Wei-
sen um Verwendung beim Kaiser bittet, und eines
von Sickingen in gleicher Sache an gleiche Adresse
gerichteten Schreibens (Anhang IV). Dass Luther
auf dem Wege gen Worms eingeladen worden sei auf
die Ebernburg zu kommen, um dort mit Gla-
pion zu verhandeln, wird S. 181 aufs Neue wahr-
scheinlich gemacht. Als charakteristisch für das
Geheimnis, mit welchem Luthers Gefangennahme
umgeben und Sickingens Stellung betrachtet
-wurde, ist S. 182 das Stück eines im Weimarer
Archive befindlichen Briefes des Herzogs Johann
(Friedrich des Weisen Bruder) abgedruckt, in
welchem es heisst: »Von doctor Marthino wais
ich e. 1. nichts warhafftiges zcu schreiben who
er yst dan gestern yst myr gesaget worden er
solle nit weit von franckreich sein in eynem
schlos Frantz von sickingen zusten-
digk« etc. Auf die Frage, inwiefern der Kur-
fürst Urheber oder doch Mitwisser des Planes
gewesen sei, Luther während der Rückfahrt von
Worms in Sicherheit zu bringen, geht der Verf.
nicht näher ein. Noch Hagenbach in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Reforma-
tion (4te Auflage 1870) S. 109 will nur behaup-
ten, dass die plötzliche Gefangennehmung »höchst
wahrscheinlich« von Seiten des Kurfürsten ver*
8 GH» ***" w i
äst*- P1'* j, *&* indes, es könne
tj4 t# %rät>6T obwalten, wenn
,«t "^rtF^sidto -n Spalatin's Anna-
***$>%£lli'ff,8) P- 60 in's Auge fasst:
& ^C^etdtrf'tez mein gnedigster Herr,
&(^Ta#* Sachsen, Churfürst etc.
'%tf ^deS^0^ hetten Doctorem Marti-
tifitt1?3 ,:& Jieb, rnd wer im eigentlich gross
tp gef fahren , do ihm vnguts widerfttren,
;j( TV gern wider Gottes wort gethann,
4* *L« Herrn Kayser auch vnger auf sich
ej Vnd gedacht auf das Mittel, den
rtf i?oetor Martinue ein zeeit bey seit zeti
-gBl ob die Bachen iun ein Btülung geriebt
I, ten werden. Liess auch im solchs
Abeudt zeuvorn zeu Wurrabs, ehr
reg zcog, inn gegenwart Herrn Phi-
s von Feylitsch, hern Fridrichen
ThuD beider Ritter, mein, Spala-
rnd freilich nicht viel mer, an-
ge n, wie man ihn beyseit bringen solt< etc.
Is ist nicht möglich das erste und dritte
tel dieses Buches hier im Einzelnen zu be-
llen, obgleich mancher Punkt eine beson-
Besprechung verdiente, bo z. B. die kriti-
Bemerkung S. 160 Anm, 2, durch welche
Identität der angeblich aus dem Kreise
ngens an den eben erwählten Karl V. ge-
eten Adresse angezweifelt wird*). Aus-
wich will ich noch hervorheben die geist-
Parallele zwischen Sickingen und Bayard,
i Jeder als »bedeutendster Repräsentant
icheidenden Rittertbumes« in seinem Vater*
i erscheint (S. 211 ff.). Was die Tradition
SickingenB Verrath in dem MaaB-Feldzug
r
Ülmann, Franz von Sickingen. 625
betriff);, so scheint sie in der That aaf keine
reinere Quelle zurückzugehn als auf Französische
Klatscherei.
Etwas länger ist bei Betrachtung des fol-
genden Kapitels : »An der Spitze der Reichs-
ritterschaft« zu verweilen. Hier haben die
Forschungen des Verf. über die Versuche die
Stellung der Reichsritterschaft zu bessern und
ihrer Zügellosigkeit Herr zu werden, schöne Re-
sultate ergeben. Auch die neueste »Geschichte
der ehemaligen freien Reichsritterschaft in
Schwaben, Franken und am Rheinstrome von
K. H. Freiherrn Roth von Schreckenstein« (Bd. 2.
1871) wird nicht unwesentlich durch das vor-
liegende Werk ergänzt Zunächst sei auf die
aus dem Erzkanzlerarchiv stammenden Artikel
vom Mainzer Reichstag 1517 (S. 237) verwiesen.
Sie waren bestimmt dem Entwürfe eines neuen
Ritterrechts gleichsam die Wege zu ebnen, voll-
guter Gedanken, aber freilich ebensowenig zur
Ausführung gelangt als dies Ritterrecht selbst.
Aus den Verhandlungen darüber wird S. 238
ein gleichfalls in Wien aufgefundenes Original-
Schreiben herangezogen, aus welchem deutlich
hervorgeht, wie sehr man in den ritterschaft-
lichen Kreisen sich sträubte gegen eine »wirksame
Unterordnung unter das Reichsoberhaupt und
eine Gerichtsorganisation für den Bedarf des
Adels unter sich, bei der eine regelnde Mitwir-
kung der öffentlichen Gewalt stattgefunden hätte«.
Indem der Verf. sodann S. 240 auf die Be-
stimmungen der Wahlverschreibung Karls V. zu
sprechen kommt, wendet er sich gegen die, doch
wohl auch von Roth von Schreckenstein a. a. 0.
S. 201 getheilte Auffassung des Artikels VI, nach
welcher durch das Verbot »aller unziemlichen
hässigen Bundnußs, Verstrickung und Zusammen-
48
626 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
thun der Unterthanen, des Adels and gemeinen
Volks c nur der landsässige Adel für getroffen
gehalten wird. Der Ausdruck ist allerdings sehr
unbestimmt (gleichlautend in dem von Waltz
Forschungen a , 225 ff. mitgeth eilten, ausfuhr«
lieberen Entwurf), vielleicht mit Absicht so
dunkel gehalten, aber ich sehe nicht ein, warum
der weitere Wortlaut des Art. jene Auffassung
unhaltbar machen sollte. Ja man geräth in Ver-
legenheit das »Unterthanen« (neben dem Aus-
druck »gemeinen Volks«) zu erklären, wenn ea
nicht die weitere Zusammenfassung für »Adel«
und »gemeines Volk« bedeuten soll. Es wäre,
wie gesagt, nicht undenkbar, dass man den Aus-
druck absichtlich vieldeutig gestaltete, zeigt doch
auch die »nachträgliche Aenderung« des betref-
fenden Artikels in dem wohl von Mainz ausge-
gangenen Gutachten (s. Waltz a. a. 0. S. 225
Anm. 1) dass man es vorzog, statt direkt vom
»ufrur« des »adells der ritterschafft« zu spre-
chen, allgemein »ufrure und entborung« zu nennen.
Darunter konnten denn die Vorboten des Bau-
ernkrieges ebensowohl verstanden werden als
die Gewalttbaten der Ritter, mochten sie land-
sässig oder reichsfrei 6ein.
Sehr beachtenswert^ ist des Verf. Beurtbei-
lung des Landauer Tages, auf dessen Vorge-
schichte gleichfalls manches neue Licht geworfen
wird. Mit vorsichtiger Benutzung der freilich
spärlich genug fliessenden Quellen, namentlich
auch der Flugschriften-Literatur tritt der Verf.,
wie mich dünkt, mit Recht der Annahme ent-
gegen, dass die Trierer Fehde eine unmittelbare
Folge der Landauer Versammlung gewesen. Der
Beweis scheint mir erbracht zu sein, dass es
vorzüglich die dramatische, auf den Effekt be-
rechnete, aber eben daher wenig zuverlässige
Ulmann, Franc ton Sickingen. 627
Darstellung des Trierer Dichters Latomus ge-
wesen , welche zu der Annahme verführt hat,
dass der gedruckte Bundesbrief nur das offi-
cielle Aushängeschild sei, hinter welchem sich
geheime Abmachungen verborgen hätten. Die
nächsten Freunde des Bitters mögen solche frei-
lich beschlossen haben, die Versammlung als
solche, der Rittertag, scheint aber in der That
nur in dem bekannten Bundesbriefe seinen Aus-
druck gefunden zu haben. Man hat mit an-
dern Worten, was den Zeitgenossen freilich
schwer wurde, noch zwischen »allgemein ritter-
schaftlichen und speciell Sickingschen Plänen«
zu scheiden. »Als Resultat ist festzuhalten : Sick-
ingens Pläne waren andere als die der Lan-
dauer Einungsverwandten , diese als Gesammt-
beit aufgefasst. Er wollte erst Macht gewinnen
(und zwar auf Kosten der Kirche), um eine Re-
formation auch der ritterschaftlichen Verhält-
nisse zu unternehmen. Zu diesem Behuf bediente
er sich als Leiter zum Ersteigen des Ziels
auch des Ritterbundes. Wenn er siegte, war
so und so der Anfang einer Organisation will-
kommen« Wie er diese weiter ausgebaut haben
'würde, vermag die kühnste Phantasie nicht zu
ahnen. Die Genossen des Sieges würden es, wie das
»Gesprech« (eine gleichzeitige Flugschrift) so
naiv sagt, vorgezogen haben , zu befehlen , statt
zu gehorchen. Die Zersplitterung, die Wehrlo-
sigkeit des Rheinlandes wäre offenbar noch
grösser geworden, als sie ohnedies war. Es ist
eine Frage, die historisch nicht zu lösen ist, ob
Sickingen im Vollbesitz des genügenden Ein-
flusses für die Ritterschaft eine geordnete Reichs-
standschaft erstrebt haben würde. Eine solche,
die wohl Hand in Hand hätte gehn müssen mit
einer Vertretung auch der Landsassen, wäre vom
48*
628 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 16.
Reichsstandpunkt aus wohl ein Ersatz gewesen
für die Vernichtung einiger geistlicher Fürsten-
thümer. Aber gerade eine solche Idee, die Bil-
dung eines Unterhauses, war dem Vorstellungs-
kreis des damaligen Deutschland fremd und im
Widerspruch zu der fortschreitenden Bedeutung
des monarchisch - conföderativen Elements im
Reich«.
Das nun folgende dritte Buch : »Revolution
und Reaction«, welches uns die Katastrophe
des Ritters vorführt, ist gleichfalls in vier Ka-
pitel getbeilt : 1) Sickingens Pläne und
Fehde gegen Trier. 2) Massregeln ge-
gen Verdächtige. Vorbereitung zur
Entscheidung. 3) Das Reichsregiment
und die Parteien. 4) Kampf und Tod.
Das Buch wird durch einige Betrachtungen er-
öffnet , deren Gegenstand die allgemeine politi-
sche Richtung Sickingens bildet. So sehr ich
damit übereinstimme, dass sich in ihm »mit
dem Idealismus eine recht realistische Ader
verband«, dass ihm »Freiheit der Predigt und
Stärkung des ritterlichen Wesens nicht weniger
Zweck als Mittel zum eigenen Emporsteigen war«,
so wenig kann ich mit dem generellen Satze mich
einverstanden erklären, dass neben »unentwegter
Energie im Handeln, schonungslosem Aufopfern
auch der eigenen physischen wie moralischen Per-
sönlichkeit« noch »vollendete Unbekümmertheit
in Wahl der Mittel und Wege« als ein Element
in >der Ganzheit des Mannes« die unverwisch-
bare Scheidelinie zwischen den epochemachenden
Staatsmännern und emporstrebenden Talenten
zweiten Ranges bildet. Man müsste denn einen
Washington oder einen Freiherrn vom Stein der
Reihe jener Talente zweiten Ranges zurechnen 1
Sehr interessant ist S. 206 ff. der Hinweis auf
Ulmann, Franz von Sickingen. 629
die Parallelen, welche die Zeitgenossen, um Sick»
ingens politische Stellung zu bezeichnen , zwi-
schen ihm und anderen historischen Persönlich-
keiten gezogen haben. Von allen diesen Ver-
gleichen ist ohne Zweifel keiner bedeutungsvoller
als der mit Ziska, weil sich in ihm die Durch«
dringung der politischen und religiösen Revolu-
tions-Gedanken, vor Allem der Plan einer Sä-
kularisation des Eirchenguts, unverhohlen aus-
spricht. Man mag den Zeugnissen fur diesen
Vergleich, welche der Verf. fleissig gesammelt hat,
noch eines zufügen, welches ihm im lateinischen
Texte noch nicht bekannt sein konnte. Es findet
sich in dem kürzlich von der historischen Gesell-
schaft in Basel herausgegebenen ersten Bande
der »Basler Chroniken t (Leipzig Hirzel 1872)
S. 385). Der Verfasser der a. a. 0. abgedruckten
Chronik, Georg Carpentarii (Zimmermann) aus
Brugg, zur Zeit von Sickingens Katastrophe
Mönch in dem Karthäuser- Kloster zu Klein-
Basel, äussert sich über dies Ereignis wie folgt:
»Francisci Sickingii interitus. Eodem anno (sc.
1523) Franciscus Sickinger, miles famosus, dum
episcopum Trevirensem obsideret et nonnulla
ditionis ejus oppida monasteriaque spoliaret ac
dißsiparet sicut anno praecedenti, posteaquam
ad loca munita cum satellitio suo se recepisset
et cum Palatino seualiis principibus bellum ge-
reret, lapide percussus in latere ex resilitione
ictus bombardae in quodam Castro graviter lae-
gU8 post paucos dies interiit. Hie nempe signi-
ferum agere coepit contra clerum et religiosos
praeliandi. Quem sideus non tulisset e medio,
graviore* damna principibus fuerat illaturus quam
olim Joannes Zischa regno Bohemorum. Nam
sub specie reparandae veritatis evangelicae Lu-
tberanis patrocinando moliebatur insidias episco-
680 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
Ins' electoribu8 Moguntinensi , Trevirensi et Co-
oniensi. Cujus gesta haben tur . . • .«
Zur allgemeinen Charakteristik der politischen
Bedeutung, welche man Sickingen auf der Höhe
seines Ruhmes beilegte, kann man auch noch die
Stellen aus den citirten Depeschen Aleandere
(S. 128. 132) heranziehen: »et in vero detto Si-
chinghen rebus sic stantibus est terror Germa-
niae« (vgl. die Spalatinschen Worte cit. b. Ul-
mann S. 362 Anm. 1) »el revera Sichingen solus
nunc in Germania regnal , perche ha seguito
quando et quanto vole et alli Principes torpe-
8cuntc etc.
Ich versage mir auf die Erzählung des
Trierer Zuges und seiner unmittelbaren Folgen
näher einzugehen. Vieles aus der Reihe dieser
Ereignisse konnte klarer und ausführlicher dar-
gestellt werden als bisher, Anderes so z. B. die
genauere Verhandlung der Schweinfurter Adela-
versammlung ist in Folge der Dürftigkeit der
Ueberlieferung , dunkel geblieben. Eine Frage
von vorzüglichem Interesse ist, inwiefern Sick-
ingen, um seine Sache zu fuhren, auch das
niedere Volk, den Bauernstand, in seinen Ge-
sichtskreis gezogen, eine Entfesselung dieser
Elemente gegen das Fürstenthum geplant habe.
Halbe Freunde und entschiedene Feinde des
Bitters haben in ihren Aussagen einen solchen
Gedanken nahe gelegt.'
Der Verf. selbst hat viele Zeugnisse der Art
beigebracht, so namentlich S. 354 den Satz in
einem Aktenstücke der drei gegen Sickingen
verbündeten Fürsten, »dasssie nur gegen solche
einschritten, welche »»vom Adel sein wollten und
sich Untugent befleissence, Fürsten und Städte
gewaltsam überziehen, Geleite verletzen, Arme
beschädigen und Strassenräuberei betreiben , ja
Ülmann, Franz von Sickingen« 631
sich daran nicht ersättigen lassen, sondern
den gemeinen Mann wider alle Obrig-
keit und Ehrbarkeit aufzuwiegeln ver-
suchen«. Ich gebe indes zu, dass auf eine
solche Behauptung nicht viel mehr zu geben ist
als auf die, welche etwa heutzutage eine unlieb-
same politische Partei mit der Commune oder
Internationalen zuidentificiren sucht. Auch der
»Neukarsthans« und seine dreissig Artikel, sie
mögen verfasst sein von wem auch immer, können
mir als Beweis dafür gelten, dass der Wunsch
einer Verbrüderung zwischen Adel d.h. in erster
Linie Sickingen und Bauerschaft bei dem Autor
rege war, ohne dass damit irgend welche Si-
cherheit aber des Ritters wirkliche Pläne gege-
ben wäre.
Dennoch hätte eine merkwürdige Stelle der
Flersheimer Chronik S. 233, für deren Glaub-
würdigkeit mir freilich weitere Beweise fehlen,
in der Anm. 1 S. 335 abgedruckt werden sollen,
da es nach ihr an einem gewissen Gemeingefühl
der aufständischen Bauerschaft mit der Sickin-
•genschen Sache nicht gefehlt hat. Sie lautet:
»Indem erhub sich der Beurische Vffruhr, da
wardt bei Hansen von Sickingen gesucht von
ettlichen Hauffen der Bauren, das er ihr Haupt-
man wollt werden ; sie wüsten das seinen Vatter
vndt ihme Vnrecht geschehen were, sie wollten
ihme zu allem dem seinen helffen, vndt grosser
machen, dan er ihe gevesen wehre ; aber Hanss
entschlug sich ihre etc. Wenn es ferner durch
Stieve erwiesen worden, dass der mit Sickingen
vertraute »Fuchssteiner« gar nicht derselbe ist,
den Jörg zum Autor der zwölf Artikel hat stem-
peln wollen (8. Ulmann 823), so enthält doch
des Verf. nicht mißzuverstehender Ausspruch
(S. 334) etwas zu viel , der Dr. Johann von
632 Gott, gel Ans. 1873. Stuck 16.
Fuchsstein, damals Würtembergischer Kanzler,
früher Sickingenscher Agent, habe gar keine
Rolle unter den aufständischen Bauern gespielt.
Eine Rolle hat er damals allerdings gespielt,
nnr nicht die, welche Jörg ihm zutheilt, die
vielmehr dem Dr. Sebastian Fuchssteiner gebüh-
ren würde (s. Heyd: Ulrich Herzog zu Würtem-
berg II, 253). Sehr dankenswerth ist S. 322
der Hinweis auf einen im Kasseler Archiv auf-
gefundenen Brief Johanns von Fuchsstein, durch
welchen ein früher von mir im Auszug mitge-
theiltes Schreiben Hubmaiers an W. Rychard
ergänzt wird. Hubmaiers Worte : > Novarum re-
rum nobis nihil est« gestatten doch wohl kaum
wie der Verf. S. 323 anzunehmen scheint, einen
Schluss auf Beziehungen dieses'Mannes zu Sick-
ingen, eher auf sein Interesse an den Schick-
salen des J. von Fuchsstein, sie lassen sich un-
gezwungen in dem Sinn: »Bei uns in Regens-
burg giebt es, erfährt man weiter nichts Neues«
verstehn.
Der Erwähnung nicht unwerth mag es er-
scheinen , dass ein Exemplar der zwölf Bauern-
Artikel (Nr. 6 in der noch sehr zu vervollstän-
digenden Aufzählung, die ich im Anhang meiner
Arbeit über die zwölf Artikel versucht habe)
genau denselben Holzschnitt auf seinem Titelblatt
trägt, wie ein gleichfalls in der hiesigen Biblio-
thek h. e. eccl. 1041 aufbewahrtes Exemplar
des Sickingen sehen Sendbriefs an Diether von
Handschuchsheira , dessen auch Ulman S. 184
gedenkt. Der Titel über dem Holzschnitt, (der
auch am Schluss wiederkehrt) in dem mir vor-
liegenden Druckwerk lautet: „©jn fenbbriff,
Mje ber Crbef rninb | Crntoeft gfrandScuS ton ©Ijd«
ingen, fernem | fdjn>el)er geföriben l>at, bent ©bten
mmb | (grnt)eften junef er SDittert(^n ton $)mt | f c^u^m
Ulmann, Franz von Sickingen. 683
feit einer freuntftdjenn | mibcrri<$tang efcfi^cr orttdfef |
©jriftttd)e$ glaubend". Unter dem Holzschnitt
steht: „©ebrurtt fcu Grffort feu bem bunten | ftttoen
bet) ©anct ^auel". Schwebeis Vorrede ist hier
gleichfalls vorhanden. Das Exemplar, 8 BL in
4- fehlt bei Weller *).
Man wird, Alles in Allem betrachtet, dem
Verf. Recht darin geben, dass aus den uns vor-
liegenden Zeugnissen der Beweis fur Sickingens
Absicht, die bedrohliche Gährung der bäuerlichen
Bevölkerung gegen das Fürstenthum zu benutzen,
nicht erbracht werden kann, wie vielfach auch
seine Zeitgenossen das Schreckbild des Bund-
schuh« mit seiner drohenden Gestalt in Verbin-
dung gesetzt haben. — Eine andere Frage ist,
inwiefern der Ritter auf die Macht der Städte
rechnen wollte und rechnen durfte. Sie wird
vom Verf. S. 335—338 in dem Sinn entschieden,
dass an einen Bund mit diesen Elementen im
Ernste nicht zu denken war. Bei dieser Gele-
genheit wird S. 336 das Wort des Frankfurter
Gesandten Holzhausen: »Meine Heimfahrt wird
mir schwer«, das bei Ranke, Deutsche Gesch.
im Z. A. der Reformation H, 88 eine beinahe
elegische Wirkung hervorbringt, viel prosaischer,
aber ohne Zweifel richtiger gedeutet.
1) Diesem Originaldruck ist angebunden ein Exem-
plar des Berichtes von Sturm, welcher nach Ulmann
S. 865Anm.2 selten geworden zu sein scheint. Der Titel
lautet in dem mir vorliegenden Druck: „ffite bie but)
hiegßfflrften, Wtmtiä) | Xrier, $fal$, tmb $effen, $ran$en |
Don ©ttfingen tooerjogen , Snen I on feine ansenget ein« tatyß
?e* | (trofft , andj etlid) ©djtöffer I gewunnen onb Grobert |
üben. 3ß gefdjefjen I nrie fcrna$ I bofget". Der Druck
(10 Bl. in 4.) beginnt: „33R jar2R. 2>. HÜj auff @atnu-
ftag ben 18. tag iHjmti«, \fi ?falfeoraff gubnrig" w. Der
> korrekte Wiederabdrucke von Münch läset sich auch
hier trefflich kontroliren, so namentlich in Betreff der
Zahlen.
%34 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 16.
Ich übergehe das trefflich gearbeitete dritte
Kapitel dieses Buches, in welchem Jörgs bekannte
Behauptung, dAss das Reichsregiment Sickiugen
parteiisch begünstigt habe, mit Glück auf
ihr richtiges Mass gebracht wird, um noch ein
Wort über die Erzählung der letzten Schicksale
Sickingens zu sagen. Man sollte nicht glauben,
dass, ohne Erschliessung neuer Quellen, gerade
diesem Gegenstande sich noch eine neue Seite
hätte abgewinnen lftssen mögen, da es hier galt,
mit einem der Meisterstücke von Rankes Dar-
stellungs-Kunst zu wetteifern. Allerdings konnte
der Verf. den »Bericht Bastian Embharts, Burg-
vogts von Asperg, über seine Sendung in das
Lager der Kriegsfürsten vor Landstuhl« (Anhang
VI) aus dem Wiener Archiv sich nutzbar machen.
Aber in der Heranziehung dieses Berichts , der
die eigentliche Katastrophe nicht ein Mal um-
fasst, ist der historiographische Werth dieses
letzten Kapitels nicht zn suchen. Er liegt viel-
mehr darin, dass der Verf. von den vorhande-
nen Zeugnissen eines vorzüglich zu Grunde legt,
welches bisher zu geringschätzig behandelt wor-
den, und ein anderes in die zweite Stelle ver-
setzt, welches bisher die erste eingenommen hat.
Es ist klar, dass Ranke flir die Geschichte der
letzten Stunden des Ritters in erster Linie der
Flersheimer Chronik gefolgt ist. Nun lässt sich
aber nicht verkennen , dass sich dagegen man-
ches Bedenken erheben lässt Der Autor der
Flersheimer Chronik berichtet nicht als Augen-
zeuge , er schöpft aus zweiter Hand , (vielleicht
waren seine Gewährsmänner der Kaplan Nikiaus
Merxheimer und der Pfälzische Hofmeister Lud-
wig von Fleckenstein) , die Form seiner Dar-
stellung spitzt sich mitunter zu epigrammatische r
Schärfe zu und erweckt dadurch den Verdacht
Ulmann, Franz von Sickingen. 695
des künstlich Gemachten, ja eine sorgfaltige
Nachprüfung wird zu dem Schlüsse kommen,
dass der Anhänger des alten Glaubens, der- Ver-
wandte des Helden nicht ohne eine doppelte
Tendez der »Rettung« geschrieben hat. Der Be-
richt des Pfälzischen Herolds, Kaspar Sturm, ver-
dient dagegen in vielen Punkten ein grösseres Ver-
trauen, da der Autor Augenzeuge eines grossen
Theile8 des Geschehenen und jedenfalls immer
auf dem Platz der Ereignisse gegenwärtig war.
Seine Erzählung trägt den Charakter der Unmittel-
barkeit an sich und steht dem werthvollen Be-
richt Rudeckens in Spalatins Leben Friedrichs
des Weisen vielfach nahe. Es -ist ein schönes
Stück angewandter Quellenkritik, wie der Verf.
| das Verhältnis der bezeichneten Gewährsmänner
auseinandersetzt, ihre Glaubwürdigkeit, umsichtig
aber entschieden, gegeneinander abwägt, una
auch die übrigen minder wichtigen Zeugnisse,
deren er habhaft werden konnte, heranzieht.
In einer auf diesem Gebiete der Quellen - Kritik
liegenden Frage möchte ich allerdings noch etwas
weiter gehn, als der Verf. es thut. Ich meine
das Verhältnis Kesslers zu Sturm.
Der Verf. scheint S. 372 Anm. 2 nur für eine
Stelle eine Benutzung Sturms durch Kessler an-
zunehmen, wo es sich um Sickingens Verwen-
dung handelt; unzweifelhaft hat indes die Flug-
schrift des Pfalzischen Herolds überhaupt die
wesentlichste Grundlage für die Arbeit des St.
Galler Chronisten abgegeben, der ja auch sonst
vielfach zeitgenössische Pamphlete benutzt. Ich
setze die betreffenden übereinstimmenden Sätze
nebeneinander, indem ich den mir vorliegenden,
oben erwähnten Original-Druck Sturms zu Rathe
ziehe :
636 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 16.
Sturm 91. 3:
»sein
in
dz
ßchlosz Nanstall so vil
schüsz geschehen, als od
zweyffel in diesen landen
nit mer gehört, noch ge-
sehen ist etc. . . . Nota,
dass durch söllich ernst-
lich anhalten und schie-
ssen • . . auch Frantz
von Sickingen . . . .
geletzet, also dass er in
einer seyten tödtlich ver-
wundt , und dahyn
pracht ward, dass er
verordnet ein brieff mit
seiner eygen hand undter-
8chrieben , denselben
verschuff er ausser dem
schloss mit eyra knecbt,
dqr hett auff seinem
rucken ein dramen (sie),
unn in seiner handt ein
weyss steblein, darin er
pracht ein brieff . • .
den dreyen Kriegssfür-
sten zuschicken . . .
giengen die drey Kriegss-
färsten, und vor inen der
Ernholdt mit sampt iren
Graven, herren und Rit-
terschafft in das Schloss,
und .... verfuegten
By sich zum ersten zu
besichtigen da der von
Sickingen am todtbeth
Kessler (her. v. Go-
tzinger) I, 185:
. . »Habenddas schloss
Nanstall mit sollichem
grusamen gschutz gnöt-
tiget, das in disen lan-
den derglichen nitt vil
geschechen ist. In wel-
chem Franciscus tödtlich
ist verwundt worden,
und dahin kommen, das
er ainen brieff mitt si-
ner hand underschriben
verschaff U88 dem schloss
mit ainem knecht, der
hatt uff sinem ruggen
ainen dromen und in
siner hand an wiss
8tebli, den gemelten for-
sten zugeschickt» etc.
in Debereinstimmungmit
Sturm nur verkürzt
»Als darnach die dry
kriegsfursten mitt sampt
iren graffen und ritter-
schafit in das schloss
giengend, begert der
landtgraff von Hes-
sen zum ersten
Franciscen zu se-
chen. Do fundend sie
Ulmaim, Franz ton Sickingen. 637
Kessler (her. v. Go-
tzinger) I, 185.
in in einem felsen und
finsterem loch, da man
nichts dann by anzund-
ten liechtersechen mocht,
an sinem todbett ligen*
Und nachdem sy vil mitt
im geredt, and erfraget,
starb er mit guter ver-
nunfftc.
Sturm:
läge, fanden in lygen in
einem finstern loch and
felssen, darin man an-
ders nit, dann bey ange-
zündten licebtern sehen
mocbt, daselbst lag er
in seinem todtbeth, stun-
den die drey fürsten etc.
• . . sagt zu im einer
seiner diener, so bey
dem beth stundt. »Jun-
cker, da steet mein herr
der Landgrave von Hes-
sen« (folgen die Gesprä-
che) und baldt darnach
starb er mit gutter ver-
min fft«.
Die gesperrt gedruckten Worte, dass der
Landgraf zuerst dem Verwundeten zu nahen be-
gehrt, wie auch Ulmann erzählt, hat Kessler
seiner Vorlage (Sturm) nicht entlehnt. Sie finden
sich allerdings ähnlich, doch dem Sinn nach ab-
geschwächt, in Rudeckens Bericht bei Spalatin
a. a. 0. 179 : »aber der Landgraf ist zum ersten
hineinkommenc.
Noch zwei Einzelheiten sind hervorzuheben.
Ranke fasst (IL 80) die Worte Sickingens bei
Hubert Thomas Leodius : »sunt equiles Lutherani,
volunt videre quid per otium agamus« so auf,
als habe sich Sickingen , als der Vortrab der
Feinde in der Ferne erschien, geschmeichelt, es
naheBeistand der Lutheraner. Ganz ge-
wiss, und der Zusatz »volunt videre« etc. wird
so erst erklärlich, sind die Worte nach Rohlings
Konjektur mit Ulmann S. 368 vielmehr so zu
688 Gott. gel. Am. 1873. Stück 16.
deuten, dass unter Lutherani »die den ganzen
Winter über in Kaiserslautern stationirten
(feindlichen) Reiter verstanden sein sollen«. Es
liegt hier ein lehrreiches Beispiel dafür vor, wie
weittragend die misverständUche Deutung auch
eines einzigen Wortes sein kann. Denn offenbar
ist Rankes Ansicht über das Verhältnis der re-
ligiösen Frage zu Sickingens letzten Schicksalen
überhaupt durch die ihm eigne Auffassung dieser
Stelle des Lütticher Geschichtschreibers beein-
flußt worden. — Nach einem im Weimarer Ar-,
chiv aufgefundenen Schreiben des Koblenzer
Schultheissen Peter Maier, das man gern in
extenso gesehen hätte (S. 383 Anm.) sollen auf
Landstuhl gefundene Bücher, 200 Gulden an
Werth, die Hütten gehörten, in Besitz eines
Pfalzgräflichen Doktors gekommen sein. Ist es
etwa jener Arzt, Namens Locher, der zufolge
Joachim Camerarius Huttens Bibliothek aus der
Beute erkauft hat? (Strauss Hütten. 2. Aufl.
534 nach Huttens SS. II. 446).
Mit dem schwungvoll geschriebenen Schluss-
wort des Buches wird man sich einverstanden
erklären.
Es bleibt nur noch übrig die beiden Stücke
des Anhangs zu nennen, die im Vorigen noch
nicht erwähnt sind. Diese sind ein Brief des
Königs Franz von Frankreich an Sickingen (25.
Januar 1517) aus dem Staatsarchiv zu Kassel
und »die Vollmacht des Landgrafen von Hessen
zur Unterhandlung mit Sickingen« aus der Zeit
der Hessischen Fehde (18. Sept. 1518), dem
Erne8tini8chen Gesammt-Archiv in Weimar ent-
nommen. Soll ich zum Scbluss noch einen
Wunsch äussern, so wäre es der, dass der Verf.
Gelegenheit erhalte den Werth seines Werkes
noch durch ein beizufügendes Register zu ver-
mehren, welches man in einer modernen Biogra-
Wöhler, Grundriss der unorganischen Chemie. 6S9)
phie ungern vermisst. Dann wären anch klei-
nere Versehn und Druckfehler wie S. 153 Z» 6
zu bessern. Alfred Stern.
Grundriss der unorganischen Che*
mie von F. Wöhler. Fünfzehnte, umgearbei-
tete Auflage. Mit einer Einleitung : Allgemeines,
und einem Kapitel: Theoretisches über die Zu-
sammensetzung der Körper enthaltend, von Her-
mann Kopp. Leipzig, Duncker und Huniblot
1873 X und 374 S. 8.
In dem Vorwort zu der vorhergehenden Auf*
läge wurde es bereits hervorgehoben, welchen
wesentlichen Antheil an der gegenwärtigen Be-
schaffenheit dieses Buches mein Freund H. Kopp
hat, der auf meinen dringenden Wunsch, mir
den Gefallen gethan hat, die Einleitung mit der
Aequivalentlehre und das Kapitel: Theoretisches
über die Zusammensetzung der Körper zu ver-
fassen. Ohne diese Mitwirkung K o p p' s würde
ich schon damals der Aufforderung der Verlags-
handlung, eine neue Ausgabe zu bearbeiten,
nicht entsprochen haben. Dasselbe gilt von der
vorliegenden Ausgabe, zu der ich nur noch zu
bemerken habe, dass ich den Plan des Buchs,
mit Ausnahme einiger Aenderungen in der An-
ordnungsweise , ganz so gelassen habe wie er
war, und dass ich die als veraltet angesehene
Schreibweise der Formeln und die Vorstellungs-
weise von der Art, wie man sich die Verbin-
dungen in der unorganischen Chemie als aus
näheren Bestandtheilen zusammengesetzt denken
kann, beibehalten babe; denn ich bin noch immer
der Ansicht, dass dem Anfänger bei der ersten
Einführung in das Studium der Chemie das Ver-
Btändniss hierdurch wesentlich erleichtert wird«
Dem entsprechend hat auch Kopp die von ihm
geschriebene Einleitung, die gerade mit Bück-
640 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 16.
sieht auf das Ganze von ihm so dargestellt
wurde, im Wesentlichen ungeändert gelassen
und auch seine Darlegung der jetzt herrschend
gewordenen, von den Formeln im Buche abwei-
chenden Ansichten auch dieses Mal als Schluss-
kapitel an das Ende des Buchs gestellt. Der
Studirende ist bis dahin mit dem rein Tatsäch-
lichen bekannt geworden und ist nun befähigt,
die Gründe zu begreifen, die zu diesen neueren
Ansichten geführt haben, und in diese sich hin-
einzudenken.
Ich will hier noch wiederholen , dass ich bei
dem Vortrage überall da wo es das Verständ-
niss erleichtert, von der systematischen Ordnung
im Buche abzuweichen und, nach Vorausschickung
des Einfachsten und Notwendigsten aus der
Einleitung, die übrigen allgemeinen Verhältnisse
im Verlaufe der Vorträge an bestimmte Fälle
anzuknüpfen pflege. Denn ohne vorausgehende
Eenntni»8 der Materien , Thatsachen und Er-
scheinungen können sie von dem Anfänger nicht
verstanden werden. Und so kann auch die
Lehre von den Aequivalenten erst abgehandelt
und hinsichtlich der Einzelnheiten dem Selbst-
studium empfohlen werden, nachdem der Studi-
rende bereits durch eigene Anschauung mit einer
Keihe von Körpern und Thatsachen, so wie im
Allgemeinen mit den Gesetzmässigkeiten in den.
Gewichts- und Volumverhältnissen, nach denen
chemische Verbindungen stattfinden, bekannt ge-
worden ist. Selbst der ganze Abschnitt vom
Cyan, der im Buche consequenterweise unter
Kohlenstoff gestellt werden musste , dürfte am
zweckmässigeten erst nach dem Ammoniak, unter
Zusammenfassung aller seiner Beziehungen zu
den vorhergehenden Körpern, abzuhandeln sein.
Wöhler.
641
0 5 1 1 i n g i s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 17. 23. April 1873.
Die Einheit des Menschengeschlech-
tes. Anthropologische Studien von P. M.
Rauch. Augsburg 1873.
Wieder einmal liegt ein Beitrag zu dem al-
ten Streite der Mono- und Polygenisten vor uns,
einer Controverse, in welcher eigentlich des
Schlechten schon genug geschrieben worden, und
welche, so weit überhaupt in derartigen Fragen
eine Entscheidung möglich ist, nach den letzten
Arbeiten von Darwin und Haeckel als er-
ledigt betrachtet werden dürfte. Trotzdem könnte
man auch der andren Partei gerne das Wort
wieder gönnen, wenn es von competenter Seite
und in wissenschaftlicher Form geschähe. Allein
das in Bede stehende Werk, die Frucht lang-
jähriger Studien eines gelehrten katholischen
rater, führt die bekannten Einwürfe in zuver-
sichtlicher Weise wieder einmal ins Feld, ohne
daßs jedoch für die Wissenschaft bei diesen
Studien irgend welcher Vortheil entsprossen
wäre. Wenn ich nichtsdestoweniger hier das-
selbe einer eingehenden Kritik unterwerfe, so
49
642 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
fühle ich die Verpflichtung mit einigen Worten
diesen Schritt zu rechtfertigen.
Auf wenig Gebieten wird mit mehr Unver-
schämtheit und weniger Geschick so viel von
Dilettanten geschrieben, als auf demjenigen der
Anthropologie. Und doch thut gerade hier Vor-
sicht und Gewissenhaftigkeit weit mehr Noth,
als in anderen Wissenschaften, welche seit lan-
ger Zeit auf solider Grundlage weiter bauen.
Schon aus diesem Grunde ist es nöthig, mit
einiger Aufmerksamkeit den Uebergriffen des
Dilettantismus auf das wissenschaftliche Gebiet
zu folgen. Bei dem vorliegenden Werke kommt
aber noch ein zweiter Punkt hinzu, der es ge-
eignet scheinen lässt, die Fachgenossen durch
einige Bemerkungen über den Werth des Buches
aufzuklären. Leider fehlt es noch immer an
einem den wissenschaftlichen Anforderungen der
Gegenwart entsprechenden Lehr- oder Handbuch
der physischen Anthropologie. Das Misslicbe
dieses Mangels empfindet namentlich der An-
fänger, welcher aus einer Menge der verschie-
densten Zeitschriften und Monographien seine
Kenntnisse schöpfen muss, ohne dass er aus ir-
gend einem Compendium die nöthige Anleitung
erhalten könnte. Man muss daher mit Freuden
jeden Versuch begrüssen, der diesem Uebel-
stände abzuhelfen bestimmt ist, selbst wenn er
nicht allen wissenschaftlichen Anforderungen Ge-
nüge leisten sollte. Das Rauch'sche Buch hat
nun einen Vorzug, durch den es eine gewisse
Berechtigung auf unsere Aufmerksamkeit zu ha*
ben scheint, nämlich die reiche Angabe und Be-
nutzung der Literatur. Bei genauerer Betrach-
tung ergiebt sich jedoch, dass auch hier Vieles,
oft das Wichtigste, fehlt und sehr viel Unbe-
deutendes und Falsches mit aufgenommen wor-
Rauch, D. Einheit d. Menschengeschlechtes. 643
den ist. Wie sollte es dem Verfasser, beim Man-
gel aller anatomischen und physiologischen Vor-
kenntnisse anch möglich sein mit Kritik zu wäh-
len und grobe Irrthümmer zu vermeiden. Da
passiren denn mitunter wunderbare Sachen!
Man traut seinen Augen kaum, wenn man z. B.
die folgende Stelle liest (S. 408): Die Katame-
nien kommen nur bei dem Menschen, nicht aber
bei dem Affen vor. Zwar trifft man auch bei
diesen einen periodischen Blutfluss, der aber im-
mer mit der Brunstzeit zusammenfällt, also eine
andere physiologische Bedeutung hat
als beim Weibe«. Ueberhaupt scheint der fromme
Herr, wohl in Folge seines Cölibates, wunderbar
naive Ansichten über Zeugung zu haben! An einer
anderen Stelle bemerkt er nämlich ». . . . hier zeigt
sich das Walten der göttlichen Vorsehung ebenso
deutlich, wie in dem Umstände, dass das Zah-
lenverhältniss der beiden Geschlechter, wenn es
durch Kriege eine bedeutende Störung erlitten
hat, sich von selbst wieder in normaler Weise
herstellt«. (S. 183). Wenn die Herren uns doch
nur wenigstens da mit der »göttlichen Vor-
sehung« verschonen wollten, wo der gesunde
Menschenverstand die Erklärung in viel ein-
facherer, natürlicherer Weise geben kann! Was
ist denn an dieser Erscheinung wunderbares?
Mit jeder Geburt gleicht sich das Missverhält-
niss mehr aus, und wenn endlich eine neue Ge-
neration an die Stelle der alten getreten ist,
besteht auch wieder das normale Verhältniss
der Geschlechter. Die Nachwirkung kann doch
nur in der Abnahme der Zahl der Geburten
bestehen, nicht in einer Aenderung des numeri-
schen Verhaltens beider Geschlechter. Wer
weiss, welche unklare Vorstellungen solchen
Äeusserungen zu Grunde liegen! Vielleicht ha-
644 Gott gel. Anz. 1873. Stack 17.
ben auch die geringen physiologischen Kennt-
nisse des frommen Herren durch das Dogma
der unbefleckten Empfängniss einen schlimmen
Sto8s erhalten.
Den Anfang des Werkes bilden einige Be-
merkungen über den Darwinismus, von dem er
jedoch offenbar gar nichts verstanden hat, und
den er gewiss nicht aus den Originalarbeiten
kennt und daher in sehr kümmerlicher Weise
behandelt. Dazu Klagen über die neuere Natur-
foischung, welche keinen persönlichen Gott und
keine biblische Schöpfungsgeschichte mehr kenne«
Hierauf folgen Bemerkungen über den Artbegriff
und — entschieden der beste Theil des Buches
— Untersuchungen über Körpergrösse, Lebens-
dauer, Hautfarbe, Haare, Skelet, Schädel, Hirn,
Akklimatisation und Aussterben der Naturvöl-
ker. Der erste Theil kann nicht wohl eine wis-
senschaftliche Besprechung beanspruchen, nur
die Bemerkung sei hier eingeschoben, dass die
unbeschränkte Fruchtbarkeit der verschiedenen
menschlichen Ragen , in welcher Bauch den
Hauptbeweis für die Einheit des Menschenge-
schlechtes sieht, noch keineswegs feststeht, dass
sie aber, selbst wenn sie sich bestätigen sollte,
nichts beweisen, würde, da nach Darwin*)
»Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit keine siche-
ren Kriterien spezifischer Verschiedenheit dar-
bieten«. In dem Gapitel über die Lebensdauer
bemüht der Verfasser sich die Darstellung der
heiligen Schrift zu rechtfertigen, wonach die
Patriarchen ein Alter bis zu 900 Jahren erreicht
haben sollen. Damals sei der Strom des Le-
*) G. Darwin. Die Abstämmling des Menschen
und die geschlechtliche Zuchtwahl. Uebers. v. J. V. Ca-
ms. Stuttgart 1871. I. Bd. S. 194—196.
Rauch, Die Einheit d. Menschengeschlechtes. 645
bens, noch nahe seiner Quelle, ungetrübt dahin
geflossen und bei dem reinen und gesunden
Klima habe sich die primitive Urkraft jener
tugendhaften Menschen nicht so schnell er-
schöpfen können! Wie ganz anders ist das
Bild, das uns die Urgeschichte von unseren äl-
testen Vorfahren entwirft 1 In schwerem, stetem
Kampfe, beschränkt auf die dürftigsten Geräthe,
mussten unsre Urahnen ihre Existenz den Un-
bilden der Natur abtrotzen, welchen sie weit
hülfloser gegenüberstanden als wir. Aber was
kümmert Herrn Bauch die Eiszeit, was weiss
er von Urgeschichte und »Kampf ums Dasein«!
Nun einige weitere Proben von Ranch's wissen-
schaftlichen Anschauungen und Darstellungen.
Das Malpighi'sche Schleimnetz besteht aus dem
»Schleim«, welchen die Gefasse der Lederhaut
»absondern« (S. 73). Der Abyssinier soll
seinem Schädelbau nach zur kaukasischen
Rage gehören (S. 80) ; dies ist falsch. Es giebt
keinen kaukasischen Schädeltypus. Weder der
Schädel, noch das Haar, noch irgend ein ande-
res körperliches Merkmal, gestatten eine natür-
liche Eintheilung der menschlichen Ragen. Wenn
eine solche überhaupt möglich ist, so kann nur
die Sprache zum massgebenden Princip erhoben
werden. Bauch, dem alle eigenen Erfahrun-
gen abgehen, kann hierüber freilich keine rich-
tigen Vorstellungen haben, wohl aber hätte er
die Linguistik etwas weniger vernachlässigen
können. Im übrigen ist das Capitel der Haut-
farbe vielleicht noch das beste. Immerhin wä-
ren die z. Theil sehr bedenklichen Erklärungen
der Hautfarbe und der Haarbeschaffenheit aus
den physikalischen Bedingungen der betreffen-
den Wohnsitze besser fortgeblieben. Sehr arg
ist es aber, dass bei der Betrachtung des Haar-
646 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Wuchses der verschiedenen Ragen des eigen-
tümlichen büscheligen Haarwuchses der Papuas
und Hottentotten nicht gedacht wird. Der
Grund, weshalb die Neger so schöne weisse
Zähne besitzen, ist nach Rauch (S. 121) kein
anderer, »als weil sie mehr Zucker denn andere
Menschen essen«! Diese Erklärung scheint die
einzige Idee zu sein, welche Rauch nicht einem
anderen Werke entlehnt hat. Sie hat für den
Verfasser wenigstens den Vortheil, class nicht
leicht Jemand ihm die Priorität streitig machen
dürfte!
Sehr dürftig ist vor allen der kraniologische
Theil. Die neueren Arbeiten sind kaum be-
rücksichtigt. Zwar versteigt der Verfasser sich
noch bis zur Beleuchtung des Retziusschen
Systemes, allein da dasselbe nicht gestattet, die
Völker nach der Schädelform einzuteilen, so
kann er es nicht gut gebrauchen. Es wird da-
her abgefertigt mit der unsinnigen Phrase (S.
131): »Sie« (die Retzius'sche Terminologie)
»bezeichnet nur eine bestimmte Profilansicht und
ist somit nur eine Erweiterung des Camper' -
sehen Gesichtswinkels«. Die von Aeby, Wel-
cker u. a. vorgeschlagenen Methoden werden
übergangen, weil sie zu wenig angenommen und
»zu complicirt« seien. Dagegen eigne sich für
seine Zwecke besser »die von Prichard auf-
gestellte Eintheilung, welche noch immer die
beste zu sein scheint«. (S. 132). Es ist nur zu
bedauern, dass wir nicht auch die Gründe für
diese famose Behauptung erfahren. Sehr er-
götzlich ist auch das Capitel über die »Bildung
der Schädelformen«. Die in Rio de Janeiro ge-
bomen Neger streben von Generation zu Gene-
ration mehr nach kaukasischer Form, (S. 153),
denn die Civilisation befördert die Symmetrie
Rauch, Die Einheit d. Menschengeschlechtes. 647
der Kopfformen (154). Dagegen muss die Bar-
barei den Menschen verhässlichen und jene
Kopfformen erzeugen, welche man als pyrami-
dal und prognath bezeichnet« (S. 154). Wo
das geistige Leben schlummert, »wo ein an die
Scholle gebundenes Leben den Menschen nie-
derdrückt«, da entsteht die »gedrückte
Kopfform« (S. 155). Jeder Culturstufe ent-
spreche wahrscheinlich eine »besondere Schädel-
form«, und zwar den Jägern und »wilden Wald-
bewohnern« die prognathe, den Nomaden die
pyramidale, den civilisirten Stämmen die ovale
Form (S. 157). »Alle Nomaden haben breite
Schädel« (S. 201). Sollten nicht am Ende auch
die Leineweber und die Schornsteinfeger ihre
eigene Kopfform haben?! Ebenso wenig glück-
lich sind die Versuche, welche Rauch macht,
um die Schädelform aus den Temperatur- und
Nahrungs Verhältnissen zu erklären. Doch würde
es zu weit führen auf alle diese Irrungen näher
einzugehen. —
Sehr amüsant ist das Gapitel: »Genügen
eines Paares zur Bevölkerung der Erde«, in
welchem er durch Berechnungen den Nachweis
zu führen sucht, dass es sehr wohl möglich sei,
alle Menschen von einem Paare abzuleiten. Es
werden uns eine ganze Anzahl von Berechnungs-
tabellen vorgelegt, und um allen Anforderungen
zu genügen, noch obendrein in mehreren Pro-
centsätzen der Vermehrung, ja sogar die An-
zahl der Menschen, welche vor der Flut lebten
erfahren wir genau. Die Möglichkeit aber, dass
ein Paar genügte, ist ihm der stärkste Beweis
dafür, dass wirklich anfangs nur ein Paar ge-
schaffen wurde. »Denn die Natur oder viel-
mehr die Vorsehung thut nirgends mehr, als zur
Erreichung des Zweckes nothwendig ist«. (S. 190).
648 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Ein grosser Abschnitt bebandelt die Bevöl-
kerung Amerikas, gegen deren Authochthonis-
mus sich Rauch sehr entschieden und gewiss
mit Recht erklärt. Uebrigens enthält dieser
Theil eine reiche Zusammenstellung aller ethno-
logischen Thatsachen, welche für die Einwande-
rung nach Amerika sprechen, und bildet eine
der besseren Partien des Werkes. Dagegen ist
das Schlusskapitel: »Mensch und Affec wieder
so oberflächlich und unwissenschaftlich, dass es
unmöglich eingehend besprochen werden kann.
Die Thatsachen, welche gegen die Verwandt-
schaft des Menschen mit den anthropomorphen
Allen sprechen, werden übertrieben, diejenigen,
welche dafür sprechen bezweifelt, verschwiegen
oder abgeschwächt. So kann es z. B. gar kei-
nem Zweifel unterliegen, dass in dem berühm-
ten Streite zwischen Huxley und Owen über
die Unterschiede im Gehirn der Anthropoiden
und des Menschen, der letztere der beiden Ge-
lehrten unterlegen ist. Allein es hätte gewiss
keinen Zweck noch weiter den Irrungen und
Fälschungen des Herrn Rauch nachzugehen.
Nur auf einige Punkte, welche er nicht berück-
sichtigt, sei noch kurz aufmerksam gemacht.
So hätten einige Bemerkungen über das Os incae,
in welchem man so lange einen Ragecharakter
der Peruaner erblickte, nicht fehlen dürfen,
ebenso eine Erwähnung der angeblich verküm-
merten Nasenbeine der Neger, der Drehung des
Humerus u. a. ähnlichen Merkmale. Auch was
über die Steatopyga, die Hottentottenschürze,
die Proportionen der einzelnen Theile der Ex-
tremitäten, gesagt wird, ist sehr unbefriedigend
und beschränkt sich grossentheils auf eine ge-
legentliche Notiz. Ja während man diese Ver-
säumnisse zum Theil durch Ignoranz wird ent-
Ranch, Die Einheit <L Menschengeschlechtes. 649
schuldigen können, muss man den Verfasser an
andren Stellen geradezu der Unehrlichkeit zeihen.
Er citirt wiederholt Darwins »Abstammtrag
des Menschen«, die er sicherlich gelesen hat,
und doch benutzt er daraus nur diejenigen An-
gaben, welche ihm gerade passen. Darwin
bespricht hier die Frage eingehend, ob die
Menschen-Ragen als Arten oder als Ragen zu
bezeichnen seien, und als eins der wichtigsten
Argumente, welches für die erstere Annahme
sprechen könnte, bezeichnet er (S. 193) die
Verschiedenheit der menschlichen Ectoparasiten.
Darwin selbst legt auf diese immerhin noch
strittige Frage keinen allzuhohen Werth, allein
erwähnen hätte Rauch sie unbedingt müssen.
Und das um so eher, als Herr Rauch allen
Grund hätte zufrieden zu sein mit dem endli-
chen Ergebnisse der Darwinschen Untersu-
chung. Es ist sicher sehr anzuerkennen, dass
D a r w i n die menschlichen Ragen nicht schlecht-
hin fur species erklärt hat. Wenn Quenstedt
behauptet: »Wenn Neger und Eaukasier Schne-
cken wären, so würden die Zoologen mit allge-
meiner Uebereinstimmung sie für zwei ganz vor*
treffliche Spezies ausgeben c, so beweist dies viel
weniger, dass die menschlichen Ragen Arten
seien, als dass vielmehr unter den Schnecken-
Species sich sehr viele »schlechte« befinden,
eine Ueberzeugung zu der man übrigens z. B.
durch das Studium der Helicinen leicht gelan-
gen kann. Darwin will für die Menschen-
Ragen die Bezeichnung subspecies verwenden.
Er sagt (1. c. S. 207): »Ferner ist es ein fast
vollständig indifferenter Gegenstand, ob die s. g.
Menschen ragen mit diesem Ausdrucke bezeich-
net, oder als Species oder Subspecies rangirt
werden. Doch scheint der letztere Ausdruck
50
650 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 17.
der angemessenste zu sein«. Uebrigens kann
nach unseren heutigen Anschauungen aber den
Artbegriff die Frage kaum mehr besonderes
Interesse haben. Die alten Anschauungen von
der Unveränderlichkeit der Art sind längst als
irrig erkannt und aufgegeben. »Denn es ist
ganz unmöglich«, sagt Haeckel*), »Varietä-
ten, Spielarten und Ragen von den s. g. guten
Arten scharf zu unterscheiden. Varietäten
sind beginnende Arten«.
Die Aufgabe, welche Herr Rauch sich zu
stellen hatte zerfällt in die zwei Fragen: Bil-
det das Menschengeschlecht nur eine
Art, und Stammen alle Menschen von
einem Paare? Betreff der ersteren Frage
sind wir zu derselben Ueberzeugung gekommen
wie Rauch. Wir können ihm in dieser Hinsicht
die »Einheit des Menschengeschlechtes« zuge-
stehen, indem wir mit Haeckel**) erklären,
da&8 in weiterem Sinne die monophyletische An-
sicht die richtige sei. Sehr plump ist aber die
Art, wie Rauch nun aus dieser ersten Frage
die Beantwortung der zweiten ableitet ***). Der
*) E. Ha ekel. Natürliche Schöpfungsgeschichte.
IU. Aufl. Berlin 1872. S. 246.
*♦) 1. o. S. 600.
***) Es ist überflüssig, das Unsinnige dieser abge*
schmackten Frage hier wissenschaftlieh zu demonstriren.
Hackel hat darauf aufmerksam gemacht, dass der
ganze berühmte Streit auf einer falschen Fragestellung
beruhe. »Er ist ebenso sinnlos wie der Streit, ob alle
Jagdhunde oder alle Rennpferde von einem Paare ab-
stammen. Ein »erstes Menschenpaar« oder ein »erster
Mensch« hat überhaupt niemals existirt. Angenommen,
dass wir alle die verschiedenen Paare von Menschenaffen
und Affenmenschen neben einander vor uns hätten, die
su den wahren Vorfahren des Menschengeschlechtes ge-
hören, so würde es doch ganz unmöglich sein, ohne die
Bauch, Die Einheit d. Menschengeschlechtes. 651
Sprung, mit welchem der Verfasser sich über
die Hauptschwierigkeit hinwegsetzt, ist ein zu
gewaltiger und unmotivirter, als dass nicht anch
mancher der Schüler Rauchs ihn des Mangels
an Logik zeihen sollte. Das Menschengeschlecht
bildet nur eine Art, folglich stammt es von
einem Paare ab. Es gilt für Rauch freilich
einen verzweifelten Kampf, der gewonnen wer-
den muss, sei es durch Vernunft, oder durch
Zuhülfenahme des Glaubens. Sagt der Verfasser
doch S. 18 : »Ist Adam nicht Stammvater aller
Menschen«, dann fallt auch das »historische
Christenthum« in sich zusammen. »Der ein-
fachste, schlichteste Bibelglaube ebenso gut, als
das ganze Gebäude unserer kirchlichen Lehr-
begriffe stürzen zusammen und unserer wissen-
schaftlichen Theologie, soweit sich dieselbe eins
weiss mit der Kirche, wird der Boden unter den
Füssen entzogen« S. 18*).
Entsetzlich! Man möchte ein menschliches
Rühren fühlen, und ihm seine Illusionen gönnen!
Gewiss wäre dies auch geschehen, wenn Rauch
nicht selbst alle Rücksicht sich dadurch ver-
scherzt hätte, dass er seine Ueberzeugungen in
eine Form gekleidet, welche die Vermuthung er-
regen muss, dass man es mit einem wissen-
schaftlichen Werke zu thun habe, dessen Ver-
fasser selbst Anthropologe sei. Dass in Wahr-
heit die Wissenschaft ihm nur als Mittel dient
um seinen Ausführungen etwas mehr Glaub-
würdigkeit zu verschaffen, dass in letzter In-
stanz doch nicht die Resultate der Untersu-
chung, sondern die vorgefassten Meinungen und
grösste Willkür eins von diesen Affenmenschen-Paaren
als >das erste Paart zu bezeichnen«. 1. o. S. 601.
*) Diese letzte Stelle ist R, Wagner entlehnt.
50*
652 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Glaubenslehren den Ausschlag geben for die
Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, das
zeigt sich an vielen Stellen. So bemerkt er z. B.
über die einpaarige Abstammung: > Darüber,
dass alle Menschen von einem Paare ihren Aus-
gang genommen, kann uns zuletzt' nur die
Offenbarung eine Kunde geben, die um so
glaubwürdiger und überzeugender sein muss, je
mehr sie in der Urgeschichte der Menschheit
eine Stütze findet (S. 25). — Und auf diese
Phrase hin heisst es am Schlüsse: der Mensch
sei von dem Thiere »ebenso verschieden, wie
der Stein von der Pflanze und diese vom
Thiere« (S. 411).
Um bis zu diesem Ergebnisse zu gelangen
hätte es so grosser Anstrengungen nicht bedurft.
Allein Alles zusammen bestärkt uns mehr und
mehr in der Ueberzeugung, dass weder der
Kreis, auf welchen das Buch berechnet ist, noch
die Methode, in der es geschrieben, derartig ist,
dass es in Zukunft gestattet sein dürfte, das-
selbe in wissenschaftlichen Discussionen zu berück-
sichtigen. Dieses Urtheil auszusprechen . und
seine Richtigkeit zu beweisen schien dem Unter-
zeichneten eben deshalb geeignet, weil nicht nur
er, sondern auch andere Freunde der Anthro-
pologie durch den grossen Fleiss, mit dem das
Buch ausgearbeitet ist, anfangs zu der Annahme
verleitet wurden, es könne wenigstens als Hülfs-
mittel bei diesem Studium gelegentlich von
"Werth sein.
Göttingen. Dr. H. v. Jhering.
Stiehl, M. Stellung z. d. drei Preuss. Regulativ. 653
Stiehl, F.: Meine Stellung zu den drei
Preußischen Regulativen vom 1., 2. und 3. Oc-
tober 1854. Eine Flugschrift. Berlin, 1872,
Verlag von Wilh. Hertz (Besser'sche Buch-
handlung).
Der Verf. wendet sich mit der vorliegenden
»Flugschrift* nicht an Parteileute, sondern an
ein ' unbefangenes Urtheil. Er ist der > Vater«
der s. g. Begulative und mit diesen viel getadelt
und verschrieen worden bis auf den heutigen
Tag. Da kann man es denn verstehen, wenn er
bei seinem Abschiede aus der einflussreichen
Stellung im Cultusministerium* die er seit 28
Jahren inne gehabt hat, das Wort ergreift, um,
wenn auch nicht sein Werk, so doch seine Per-
son gegen die Angriffe zu vertheidigen, die er
so viele Jahre hindurch hat erdulden müssen.
Auch muss nun gesagt und anerkannt werden,
dass ihm das Letztere, die Sicherstellung seiner
persönlichen Ehrenhaftigkeit, durchaus gelungen
ißt. Ueber die Begulative werden wohl immer,
wenigstens aber noch eine lange Zeit hindurch,
die Urtheile verschieden sein, je nach der Partei-
Stellung der Urtheilenden, und dass sie unan-
fechtbar sein, wird wohl nicht leicht Jemand
behaupten. Der Verf. selbst meint das auch
nicht, während Bef., wenn es hier darauf an*
käme, eine in's Einzelne gehende Kritik dersel-
ben zu schreiben, schon aus pädagogischen
Gründen doch gar Manches gegen sie auf dem
Herzen haben würde. Auch sind dieselben ja
nun beseitigt worden, weil sie nicht mehr halt-
bar, wie der Verf. selbst auch andeutet, den
fortgeschrittenen Bedürfnissen nicht mehr ent-
sprechend waren. So gehören sie denn zu dem
Vergangenen, d. h. sie gehören der Geschichte
654 OStt. gel. Anz. 1873. Stück 17.
an, und ein Historiker, sei es auf dem Gebiete
der Pädagogik, sei es auf dem der allgemeinen
Cultur, wird ihre Bedeutung und Wirksamkeit ein-
gebend zu würdigen haben. Hier jedoch ist das
nicht möglich, nicht in der Weise möglich, wie
esg eschehen müsste, um als wirklich begründet zu
erscheinen und nutzbar zu sein. Dagegen was
die Person des Verf. betrifft, zu deren Recht»
fertigung derselbe seine Schrift geschrieben, so
erscheint hier dieselbe als durchaus ebrenwerth,
und man kann sich der Ueberzeugung nicht
yerschliessen, dass der »Vater der Regulative«
auch bei ihrer Aufstellung in seiner Art Gutes
gewollt hat, wenn ihm dabei auch allerlei
Menschliches begegnet ist, theils in eigenen Miss-
griffen, noch mehr vielleicht in den Missgriffen
und durch den Unverstand derer, welchen die
Ausführung seines Werkes im practischen Schul-
leben anvertraut worden ist. Ja, vielleicht er»
kennt man sogar, dass die Regulative selbst,
auf Grund der Erläuterungen und Acten, die
der Verf. hier beibringt, hinsichtlich ihrer Ge-
nesis betrachtet, doch immerhin auch in einem
etwas anderen Lichte erscheinen, als in welchem
sie gewöhnlich betrachtet werden, nämlich als
ob sie bloss ein Machwerk der grossen kirchlich«
politischen Reaction seien, wie dieselbe mit dem
Ministerium Räumer über Preussen allerdings ja
herein gebrochen war.
Eben dieser letztere Vorwurf ist es, was der
Verf. zunächst und vor allen Dingen von sich
abzuwenden sucht, und er thut dies nicht bloss
dadurch, dass er eine intime Gemeinschaft mit
den Hauptfaiseurs dieser Reaction, den Stahl,
Hengstenberg u. s. w. , geschweige denn eine
Abhängigkeit von ihnen geradezu in Abrede
stellt, sondern vor allen Dingen dadurch, dass
Stiehl, M. Stellung z. d. drei Preuss. Regulativ. 655
er seine persönliche Stellung als eine von jenen
Reactionsmächten durchaus zu unterscheidende
charakterisirt und nachweist, dass die Motive
zu den Regulativen doch wo anders zu suchen
seien, als in den Strebungen, die damals auf
kirchlich-politischem Gebiete die Oberhand ge-
wannen. Für seine persönliche Stellung führt
er namentlich eine Rede an, welche er bei Ge-
legenheit der Olraützer Affaire im Abgeordneten-
hause als dessen Mitglied gehalten hat, und die
athmet denn allerdings einen anderen Geist,
als das, was man von den Häuptern der Reac-
tion damals zu hören bekam, wie denn auch
Ref., der damals diesen Verhandlungen mit bei-
gewohnt hat, nicht anders kann, als aus leb-
haftester Erinnerung 'bezeugen, dass doch die
Rede Stiehl's einen Eindruck machte, der ganz
verschieden von dem war, was man damals von
den officiellen Vertretern jener »preussischen«
Politik zu hören bekam, über welche Fincke
aus seinem wirklich preussischen Herzen heraus
so bittere Klage meinte führen zu müssen.
Stiehl, das sieht man hier ganz deutlich, ge-
hörte nicht zu der Partei, die damals die Ge-
schicke Preussens leitete, und er hat ein Recht,
wenn er sich dagegen verwahrt, mit derselben
zusammen geworfen zu werden.
Und dann die Regulative selbst, so hat der
Verf. wenigstens so viel nachgewiesen, dass die
in denselben ausgedrückten Grundsätze hinsicht-
lich der Verwaltung des Volksschulwesens schon
vor der Raumer'schen Zeit im Gultusdeparte-
ment und selbst von demjenigen Minister ge-
billigt worden sind, den man gewöhnlich zu
Raumer in Gegensatz zu stellen pflegt, von La-
denberg. Der Verf. bringt darüber actenmässige
Beweise bei, die für den Historiker immer von
656 Gott, gel Anz. 1873. Stück 17.
Interesse sein werden; und — was namentlich
auch noch auf die inneren Motive zur Ent-
stehung der so viel angefeindeten Verordnungen
ein Licht wirft, das sind Actenauszüge, aus de-
nen der damalige Zustand des Volksschulwesens
und namentlich auch der Schullehrerseminare
mit ziemlicher Deutlichkeit zu ermessen ist.
Nach diesen aber war es denn in der That no-
ting, eine feste Ordnung mit klar und bestimmt
vorgezeichneten Zielen, die man bei der Leitung
der Seminare und in den Volksschulen zu er-
reichen streben müsse, aufzustellen, vor Allem
eine Einheit in die wirre und bunte Gestaltung
dieser Verhältnisse zu bringen, und eben das
tritt nun als der Zweck des Werkes hervor, das
mit Stiehl's Namen verknüpft ist und das ihn
auch zum Urheber hat: es hat durch dasselbe
eine bestimmte Kegel in die Leitung und Ge-
staltung des Volksschulwesens gebracht werden
sollen, und der Verf., der die Regulative dazu
in seiner Stellung als Decernent für das Volks-
schulwesen zu entwerfen hatte, hat gemeint,
sich dabei nicht von hochliegenden Idealen und
von Anforderungen leiten lassen zu dürfen,
welche über das Mass des wirklich in den Volks-
schulen Erreichbaren hinaus gingen, sondern er
hat dabei die factischen Verhältnisse im Auge
behalten, innerhalb deren, und das Material,
mit welchem in der Volksschule zu arbeiten
wäre, und hat danach seine Vorschriften ge-
troffen und seine Anforderungen bemessen.
Sein Grundsatz ist dabei gewesen: nicht mehr
erstreben, als die Verhältnisse wirklich erreich-
bar scheinen lassen, aber dies tüchtig und gründ-
lich! und so sind die in den Regulativen ge-
steckten Ziele denn zwar bescheiden genug ausge-
fallen, aber ohne dass der Gedanke an eine
Stiehl, M. Stellung z. d. drei Preuss. Regulativ. 657
kirchlich-politische Reaction, der auch die Schule
in Dienst gestellt werden müsste, dabei zu
Grunde gelegen und den Verfasser als der mass-
gebende geleitet hätte. So etwa die mit Acten«
stücken belegte Darstellung des Verf., aber 60
gewinnt das Urtbeil über die eigentliche Absicht
der Regulative denn freilich eine andre Gestalt,
wenn man auch mit der Art, wie der ihnen zu
Grunde liegende Gedanke durchgeführt ist, nicht
einverstanden sein mag, und namentlich tritt
auch die geschichtliche Bedeutung dieses Werkes
klarer hervor: dass es eben der Versuch ist,
das Volksschulwesen der aus so verschiedenen
Theilen zusammen gewachsenen preussischen
Monarchie, das eben deshalb bis dabin auch den
Charakter der Buntscheckigkeit trug, nach einem
einheitlichen Plane und zwar vom Staate aus zu
gestalten, damit denn aber einestheils auch auf
diesem Gebiete die zur Machtentfaltung nöthige
Einheit des Staates durchzuführen und anderen«
tbeils einen gemeinsamen Boden für eine künf-
tige Weiterentwicklung des Schulwesens selbst
zu gründen. Der Geschichtschreiber wird sich
vor dieser Auffassung doch am Ende eben so
wenig verschliessen können, wie vor der ande-
ren, dass die Regulative, was übrigens ja Stiehl
selbst nicht leugnet, der Fortbildung und Um-
gestaltung gar sehr bedürftig waren, und eben
so auch, dass es doch immerhin allerlei Zeit-
strömungen gewesen sind, unter deren Macht
der Verf. gestanden und deren Einwirkungen 'sich
denn auch in den Einzelheiten der von ihm ge-
? ebenen Anordnungen nicht verkennen lassen«
)ass die Regulative immer als Kinder derjenigen
Entwicklung zu betrachten sind, welche mit der
Thronbesteigung Friedrich Wilhelm's IV. in
Preussen angebrochen ist und der auch dec
658 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Verf, angehört hat — Eichhorn hatte ihn ja in
sein Amt gerufen — ist gewiss auch nicht zu
verkennen, und eben so, class wir über die Ein-
seitigkeiten dieser Richtung, die aber nur als
Einseitigkeiten unberechtigt sind, hinaus zu kom-
men suchen müssen. —
Ref., der übrigens sich damit begnügt, die
weiteren Darlegungen des Verf. der Beachtung
zu empfehlen, ohne selbst hier näher auf sie ein-
zugehen, leugnet nicht, dass ihm die Aufschlüsse,
welche Stiehl hier über sein eigenes Werk ge-
geben bat, von hohem Interesse gewesen sind,
und nur Eins hätte er noch gewünscht, nämlich
dass es dem Verf. gefallen haben möchte, das
ihm ohne Zweifel zu Gebote stehende Material
in noch grösserer Ausführlichkeit mitzutheilen.
Wodurch sich Stiehl, dem ja jetzt die Müsse
dazu vergönnt ist, vor allen Dingen ein Ver-
dienst erwerben könnte, grösser ohne Zweifel,
als das der Regulative, das wäre, wenn er uns
eine Geschichte des preussischen Schulwesens
seit dem Ministerium Eichhorn geben wollte»
Niemand würde dazu in der Weise im Stande
sein, wie eben er, und Ref. sollte denken, es
liesse sich das auch thun, wie auf der einen
Seite ohne Indiscretionen zu begehen, so auch
auf der anderen mit der nöthigen Objectivität,
oder wenn audi immer von dem Standpunkte
des Verf. aus, so doch mit derjenigen Beson-
nenheit und Klarheit, wie sie auch die vorlie-
gende Schrift vorteilhaft auszeichnet. Eigent-
lich sollte man sagen, ein Mann, der eine Stel-
lung, wie die Stiehl's war, so lange Zeit inne
gehabt hat, sollte die moralische Verpflichtung
fühlen, die Erfahrungen, welche er in seiner
Amtswirksamkeit gemacht, auch der Nachwelt
zu hinterlassen, und vor Allem auch einem
f
Waring, Hütten-Hospitaler. 659
künftigen Historiker die Materialien zur rich-
tigen Bcurtheilung der Periode zu liefern, der
er selbst in so bedeutendem Ifaasse seinen
Stempel bat aufdrücken dürfen.
F. Brandes.
Hütten-Hospitäler, ibre Zwecke, ihre Vor-
züge, ihre Einrichtung von Edward John
Waring, M. D. Mitglied des königlichen Me-
dicinalcollegium8 in London. Mit einem Nach-
trag von Dr. W. Mencke. Nebst einer lito-
graphirten Tafel. Berlin 1872. Verlag vonTh.
Chr. Fr. Enslin. 54 S. in Octav.
Der Verf. hat in seinem Heimathsorte Wü-
ßter eine kleine, den Bedürfnissen des Districtes
entsprechende Krankenanstalt eingerichtet und
glaubt, gestützt auf die im Laufe des ersten
Jahres gemachten Erfahrungen, sowie auf die in
Grossbritanien in den letzten zwölf Jahren ge-
machten Beobachtungen über die dort einge-
richteten sogenannten Hüttenhospitäler, auf das
System der kleinsten Krankenhäuser die allge-
meine Aufmerksamkeit der Aerzte zu richten.
In Wüster trat die Notwendigkeit der Ein-
richtung eines kleinen Spitales besonders durch
zwei kurz nach einander auftretende Cholera-
epidemien zu Tage, durch welche unter Armen
und Dienstboten eine grosse Anzahl schwer be-
troffen wurde und wo elende Localitäten,
schlechte Betten, mangelhafte Aufwartung und
Pflege, unpassende Nahrung und Furcht der
Hausgenossen vor Ansteckung die bescheiden-
sten Ansprüche für das Beste der Kranken zu
660 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Schanden machten. Dieser umstand und die
Schwierigkeiten der Ausübung chirurgischer
Praxis, wo die dunkeln und engen Räumlich-
keiten der operativen Thätigkeit in hohem
Grade hemmend in den Weg traten, wo die
dumpfe Luft der kleinen Zimmer das Heilresul-
tat stets problematisch machte, wo das Schlafen
in Alkoven, unter Treppen, oder auf dunkeln
Bodenkammern die Möglichkeit einer auf Beob-
achtung basirenden Behandlung abschnitt, be-
wogen Mencke im Jahre 1859 zu einem Auf*
ruf an die Bewohner von Stadt und Land zur
Gründung eines kleinen Krankenhauses. Hier-
durch kam ein kleines Capital zusammen, wel-
ches durch Concerte, Vorlesungen u. dgl. in den
nächsten Jahren sich allmälig vergrösserte.
Allein die Sache gerieth, besonders durch die
politischen Verhältnisse in den folgenden Jahren,
in'8 Stocken und viele Schwierigkeiten niussten
überwunden werden, ehe man zum Ziele ge-
langte. Der Umstand, dass Wüster in hohem
Grade an Areal zum Anbau arm ist und dass
eigentlich nur ein einziger tauglicher Platz für
den Bau eines Krankenhauses existirte, führte
zu schwerem Kostenaufwande, um sich den be-
treffenden Platz zu sichern. Näher gerückt
wurde die Angelegenheit dem erwünschten Ziele
durch die im Jahre 1868 geschehene Gründung
eines Vereins zur Verbesserung der Kranken-
pflege, für welchen die Vollendung des Kranken-
haus-Baues und später die Einrichtung eines
Dienstboten-Krankenvereins Hauptaufgabe sein
sollte und dessen Einnahme aus Jahresbeiträgen
den Krankenhausfond bilden. Durch diesen
Verein wurde, wie Mencke sagt, das bis da-
hin ids Vertrauenssache behandelte Unterneh-
men in die sicheren Bahnen des Vereinslebens
Waring, Hütten-Hospitäler. 661
geleitet und demselben ein mehr geschäftlicher
Zustand verschafft. Die zinsfreie Ueberlassung
von 8000 Mark aus dem Privatvermögen der
Spar- und Leihkasse zu Wüster setzte im Herbst
1869 den Vorstand des Vereins in den Stand,
den Bau des Hauses beginnen zu können. Mit-
ten in einem Garten von circa 140 Quadrat-
ruthen ist das » Krankenpflegehaus c, wie es jetzt
genannt wird, nach einem. Plane erbaut, der
den Aufgaben desselben nach allen Seiten hin
am Besten zu entsprechen schien. Vier Kran-
kenzimmer an einem luftigen Corridor, von de-
nen zwei grössere mit drei Betten, zwei kleinere
mit einem Bett versehen sind, aber räumlich
genug, um noch in jedem Zimmer ein Bett mehr
aufstellen zu können; eine Bodenkammer mit
Wasserleitung, Wannen und Douche; in einem
Flügel nach hinten Küche, Keller, Speisekammer
und zwei kleine Zimmer für die Hausmutter;
aussen ein Badecabinet mit von dem Hause ge-
trennten Zugang für Privatbäder und oben eine
Treppe hoch das Consultations- und Arbeits-
zimmer für die Aerzte. Bei der Ausstattung
der Zimmer an Betten, Tischen und Stühlen ist,
soweit die Mittel es erlaubten, auf Bequemlich-
keit und freundliches Aussehen Bedacht genom-
men, damit jedem Kranken, wer- es auch sei,
der Eindruck verschafft werde, dass er gut auf-
Sehoben sei und die heimische Freundlichkeit
es Ganzen nicht gestört werde. Die in einer
Reihe an einander grenzendem Krankenstuben
liegen nach Süden mit der Aussicht über den
eigenen Garten auf einen benachbarten Park;
der Corridor liegt nach Norden, so dass Venti-
lation in jedem Grade stattfinden kann. Jedes
Zimmer hat einen Glockenzug; Bekleidung der
662 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Thürausschnitte mit Eisenstramin dient zum
Schutze gegen In sec ten.
Die Verpflegung der Kranken geschieht in
der Weise, dass ein kinderloses Ehepaar, wel-
ches in der Anstalt freie Wohnung, Feuerung
und Licht bekommt und einen grossen Küchen-
garten zur Verfügung hat, die Kranken als ihre
Kostgänger oder Angehörigen zu betrachten hat.
Der Mann kann für gewöhnlich seinem Erwerb
nachgehen. Auf diese Weise werden die der-
artigen Anstalten hinderlichen Unterhaltungs-
kosten Vermieden, und der Verein in die Lage
versetzt, keine oder nur sehr geringe Ausgaben
zu haben, wenn keine Einnahmen erzielt wer-
den. Sind Kranke da, welche einer steten
Ueberwachung bedürfen, oder übersteigt die
Zahl der Kranken die Möglichkeit, die häusli-
chen Arbeiten und die Krankenpflege gleich-
zeitig zu bewältigen, so wird eine Wärterin zu-
gezogen. Das Kostgeld für jeden Kranken be-
trägt täglich 9 Schill. Kranke, welche ein Zim-
mer für sich beanspruchen, zahlen für die Woche
10 Mark, die übrigen Kranken täglich 1 Mark.
Aus den Ueberschüssen werden Feuerung, Apo-
theke und kleine Ausgaben bestritten und zum
Weihnachten ein Geldgeschenk, gewissermassen
als »Geschäftsanteil«, für die Hausmutter je
nach der Grösse des Beinertrages bestimmt
Für Nachtwachen wird 8 Schill, bezahlt. Sind,
um eine übersichtliche Berechnung hinsichtlich
des Kostenpunktes zu geben, acht Betten be-
setzt und eine Wärterin zugezogen, so erhält
die Hausmutter für diese 9 Personen ein tagli-
ches Kostgeld von 5M. 1 Seh., also monatlich
reichlich 150 M., welche Summe einem jährli-
chen Haushaltungsgelde von circa 1848 M. ent-
spräche. Zieht man in Betracht, dass unter den
Waring, Hütten-Hospitäler. 668
Kranken fast immer Einzelne sind, welche Fie-
berdiät oder halbe Kost bekommen, so wird
man zugestehen müssen, dass diese Summe, ver»
glichen mit einer bürgerlichen Haushaltung»
jedenfalls ausreichend ist. Wein und Bier wird
besonders angeschafft. Der Verein nimmt bei
dem angegebenen Yerhältniss, ungerechnet den
Ueberschuss aus den Privatzimmern und Bädern
die Summe von 2920 M. ein, hat mithin zur
Bestreitung der sonstigen Ausgaben die Summe
von 1072 M. zur Verfügung. Nachdem die An«
8talt im August 1870 eröffnet worden, sind
in derselben in dem ersten Jahre bis zum
August 1871 51 Kranke behandelt, welche 1078
Krankentage ausmachten, mit einer Einnahme
Ton 1173 M. 1 Seh. Der Ertrag aus den Bä-
dern belief sich auf 63 M. 5 Seh.
Während der Bericht über das Kranken-
pflegehaus in Wüster nur den kleinsten Theil
des vorliegenden Buches ausmacht, ist der
grÖ88te Theil desselben eine Uebersetzung der
Waring' sehen Schrift über Hüttenhospitäler,
welche von einem Freunde des Verf., dem Re-
chenmeister Sönningsen angefertigt, von
Mencke dem deutschen Publikum in der Ab-
sicht vorgelegt wird, den Nachweis zu liefern,
dass der von ihm gefasste Plan ein Jahr später
in England gefasst und daselbst mit grossem
Erfolge ausgeführt wurde. Auf den ausdrück-
lichen Wunsch von Waring hat Mencke in
die Uebersetzung verschiedene für eine zweite
englische Auflage bestimmte Veränderungen auf«
genommen. Die Schrift von Waring ist auf
die eigene Anschauung verschiedener kleiner
Hospitäler Englands auf Besprechungen mit den
Medicinalbeamten und andern Beamten, auf das
Studium der Hospitalberichte und überhaupt
664 Gott gel. Am. 1873. Stück 17.
alles desjenigen, was fiber die Hüttenhospitaler
geschrieben wurde, basirt und liefert den Nach-
weis, dass das Princip, auf welches ihre Einrich-
tung sich gründet, ein richtiges und gesundes
und ihre Einführung möglich und nützlich sei.
Das System der Hüttenhospitäler ist im
Jahre 1859 von Albert Napper zu Granleigh
zuerst aufgestellt und ausgeführt. In einer klei-
nen anspruchslosen Schrift legte er seinen Plan
mit den erlangten Resultaten seinen Collegen
und dem Publikum vor. Zuerst erhob sich
Opposition dagegen, weil man den Nutzen ab-
warten wollte und weil man annahm, dass die
Thätigkeit der grossen Provinzialhospitäler durch
sie beeinträchtigt würde. Diese Irrthümer wur-
den von Herrn Horace Swete geschickt wider-
legt, welcher die Sache nicht nur in das rechte
Licht stellte, sondern auch durch eine inter-
essante Statistik nachwies» dass die bestehende
Einrichtung der Hospitäler gänzlich ungenügend
sei, den Erfordernissen der Gesellschaft, beson-
ders in ländlichen Districten zu begegnen. Nach
und nach machte das gute Werk Fortschritte
und im Jahre 1866 konnte Dr. Wynter in
einer kleinen »gute Worte« betitelten Schrift
die Mittheilung machen, dass innerhalb 7 Jah-
ren von der Gründung des Granleighhospitals an
16 ähnliche Anstalten in voller Thätigkeit und
67 andere in verschiedenen Theilen des Landes
in der Einrichtung begriffen seien. Trotz die-
ses materiellen Fortschritts blieb noch viel zu
thun übrig, da der Berechnung zu Folge das
zur genügenden Versorgung mit Hospitaleinrich-
tungen auf je 1000 Einwohner 1 Bett kommen
müsse und dass im Jahre 1865 nicht weniger
als 9 Millionen Menschen in Grossbrittanien mit
Hospitaleinrichtungen nicht versorgt waren, die
Waring, Hütten-Hospitäler. 666
Notwendigkeit der Errichtung von 150 Hütten-
Hospitälern mit je 6 Betten eich herausstellt.
In fiezng auf den Namen Hüttenhospitäler
bemerkt Waring folgendes: »Die erste dieser
Anstalten zu Cranleigh wurde von dem Gründer
Herrn Napper angemessen als Hütten-Hospital
bezeichnet, allein mit der Ausdehnung dieses
Systems auf grössere und bedeutendere Classen
der Landstädte verlor die Bezeichnung ihre ur-
sprüngliche Bedeutung; dennoch möchte ich wa-
gen, diesen Namen für alle Fälle in Zukunft bei-
zubehalten. Ein Hütten-Hospital kann existiren
und der Name kann sogar angemessen erschei-
nen in einer grossen Stadt, während ein Dorf-
hospital eine unpassende Bezeichnung wäre. Ein.
anderer weit wichtigerer Grund jedoch für die
vorgeschlagene Bezeichnung ist der, dass sie
dazu dient, den wahren Charakter dieser An-
stalten darzulegen. Man sollte nie den Blick
auf das ursprüngliche Element, die Hütte, ver-
lieren. Das Gebäude sollte in jeder Beziehung
eine Hütte sein, eine Musterhütte, wenn mög-
lich mit all den Yortheilen einer wirksamen
Trockenlegung, guter Ventilation und einer
freundlichen Aussenseite, aber doch wesentlich
eine Hütte nach Charakter und Ansprüchen.
So auch in der inneren Einrichtung der Zimmer,
der Wohnstube, der Küche sollte alles mit der
Aussenseite in Uebereinstimmung gebracht wer-
den. Häuslichkeit combinirt mit Freundlichkeit
und der striktesten Aufmerksamkeit auf Rein-
lichkeit sollten die durchaus vorherrschende Ge-
stalt seine
Es dürfte nicht nothwendig erscheinen, auf
die Vortheile hinzuweisen, welche einerseits für
die Armen eines Districtes in Bezug auf ange-
messene Bequemlichkeit und Pflege, Nahrung
51
666 Gott. göl. Anz. 1873. Stück 17.
und pünktliche Regulirung der Diät, Verhinde-
rung langer, mühsamer Keisen zu entfernten
Hospitälern nnd andere Momente durch die
Hütten-Hospitäler gegeben sind and anderer-
seits den in Landgegenden practicirenden Aerz-
ten daraus erwachsen. Alle diese Verhältnisse
sind von Waring überaus gut geschildert und
auch durch statistische Belege zeigt derselbe,
dass Kranke gleiche Aussicht auf Wiederher-
stellung in diesen kleinen von Landärzten ge-
leiteten Hütten-Hospitälern haben als in den
grössten und berühmtesten Hospitälern von
London. Im Middlesborough Hütten-Hospital
betrug während der 8 Jahre von 1859 — 67 die
Gesammtzahl der zur Behandlung gekommenen
Krankenfälle • 482 mit 28 Todesfällen, also un-
gefähr 6 Proc. Die 8 kommt dem Resultate der
Hospitäler Londons nahe; hier waren es 65 von
1000. Im Walsall Hütten-Hospital beliefen sich
während der drei Jahre von 1864 — 66 die Krank-
heitsfälle auf 360 mit 17 Todesfällen, also un-
gefähr 5 Proc. und Cranleigh hatte in 4 Jah-
ren 76 Krankheitsfälle mit 4 Todesfällen, grade
57* Proc.
Nach Waring ist es aber nicht allein
der Kranke und der Arzt, sondern auch der
Geistliche und der Reiche, welcher durch die
Hospitäler profitirt. In Bezug auf den Geist-
lichen und dessen Beziehungen zu den Hütten-
Hospitälern mögen die folgenden Sätze Wa-
rings hier Platz finden. Während die körper-
lichen Anstrengungen, welchen sich der Geist-
liche zu unterwerfen hat, vermindert werden, ist
die Sphäre seiner Wirksamkeit bedeutend ver-
grössert, und falls er treu die ihm im Hospital
gebotene Gelegenheit benutzt, so unterliegt es
keinem Zweifel, dass er viel Gutes wirklich stif-
Waring, Hütten-Hospitäler. 667
ten und das Verhältniss zwischen ihm und seiner
Gemeinde fester nnd inniger gestalten kann. —
Durch diese Hospitäler ist der Geistliche auch
materiell in den Stand gesetzt, seinen ärmeren
Gemeindegliedern zu helfen, und das in einem
Grade und einer Weise, die ihm sonst nicht
möglich wäre. In den meisten Hospitälern der
Hütte ist der Kirchspielsgeistliche ex officio als
Comite-Mitglied Leiter der Anstalt und ist so
im Stande, grossen Einfluss zu üben , und in
Verbindung mit den andern Autoritäten solche
Einrichtungen zu fordern, wie sie nach ihrer
vereinten Meinung am wirksamsten für das
Wohl der ärmeren Klassen seiner Gemeindeglie-
der werden können. Viel, sehr viel, sagt Wa-
ring, vom Erfolg dieser Hospitäler hängt von
dem Interesse ab, welches die Geistlichkeit da-
für zeigt, und wir hoffen, class unter ihren Au-
spicien viele dieser Anstalten in Zukunft sich
heben und floriren werden.
Die Vortheile, welche den Reichen aus der
allgemeinen Einfuhrung von Hüttenhospitälern
erwachsen, sind in der That nicht gering anzu-
schlagen. Zuerst sichern sie sich dadurch re-
gelmässige geschickte ärztliche Hülfe in Zei-
ten schwerer Krankheits- oder Unglücksfälle,
die selbst den Reichen auf dem Lande in ande-
rer Weise nicht gesichert werden können, dann,
da diese Hüttenhospitäler ein vollständiges Ar-
mamentarium chirurgicum enthalten, auch das
prompte Vorhandensein von ärztlichen Instru-
menten beim Eintritt einer Noth, die oft durch
Herbeischaffen aus einer entfernten Stadt in
hohem Grade verschlimmert wird, so dass der
Patient sogar durch das Fehlen dieser Werk-
zeuge zu Grunde gehen kann. Von wesentlicher
Bedeutung sind auch in dieser Beziehung die
51*
668 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 17.
folgenden Bemerkungen von Waring: »Einen
anaern Vortheil haben die Beidien von diesen
Hospitälern, indem dieselben einen Kanal bil-
den, durch welche alle Schenkungen und Gaben
sicher ihr bestimmtes und rechtmässiges Ziel
erreichen. Wo kein Hospital dieser Art ist, da
ist keine Garantie, class Geld, Wein, Suppe und
andere Artikel, von milder Hand gegeben, ihrer
Bestimmung gemäss verwandt werden. Verscheu-
chen wir den Gedanken vorsätzlicher verkehrter
Yertheilung, so laufen doch diese Gaben Gefahr,
sogar unter den günstigsten Umständen im
eigenen Hause des Patienten missbraucht zu
werden; so kann das Geld ausgegeben werden
für Artikel von geringem oder keinem Werthe
fürs Krankenzimmer, der Wein kann zu reich-
lich oder zu sparsam oder gar nicht verabreicht
werden, während die Suppe gänzlich ungeeignet
bei dem Zustande des Kranken sein kann, also
mehr Schaden als Nutzen hervorbringt«.
Wie man in England es anfangt, um in den
einzelnen Ortschaften zu Hütten-Hospitälern zu
gelangen, wird im weiteren Verlaufe des Buches
dargelegt. In der Regel sind es der Geistliche
des Ortes und der Arzt, welche die Initiative
zur Anlegung des Hospitals ergreifen und durch
Verbreitung der Kenntniss der Segnungen sol-
cher Anstalten das Interesse und die Unter-
stützung Anderer gewinnen. Ein um die Er-
richtung mehrerer Hütten-Hospitäler verdienter
Mann, C. W. Payne Crawfurd, sagt in einem
Briefe an Waring über die Angelegenheit Fol-
gendes: »Die drei Haupterfordernisse sind ein
tbätiger Arzt, ein helfender Pfarrer und eine
energische Hausfrau. Diese dr$i Postulate sind
ausreichend, auch wenn sie die Kraft und die
Schlauheit jedes bösen Gegensatzes,' den diese
Waring, Hütten-Hospitäler. 669
Welt hervorzurufen vermag, herausforderten.
Ohne sie ist, soweit meine Erfahrung reicht, die
Arbeit schwer, nnd die Schwierigkeiten fast un-
überwindlich«.
In einzelnen Gegenden, z. B. in Weston-
sn per- mare ging die Anregung yod den arbeiten-
den Classen selbst aus und zwar mit verhält«
nissmässig glänzendem Erfolge. Durch wöchent-
liche Sammlung von 1 Penny brachte das Ar-
beitercomite in Weston-super-mare eine jähr-
liche Summe von 160 Pfd. St. zusammen. Im
Gegensatze dazu wurde in andern Ortschaften
von dem Adel und den grösseren Grundbesitzern
zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Clas-
sen das System der Hüttenhospitäler befördert,
wobei dann freilich manchmal über die Dimen-
sionen hinausgegangen wurde , welche die er-
sten Gründer dieses Systems vor Augen hatten
und welches ausschliesslich durch Waring Be-
fürwortung findet. So wurde das Capel Dort-
Hospital zur Ehre Gottes für gute Arme durch
Frau Charlotte Broadwood zur Erinnerung
an ihren letzten Gemahl John Broadwood
of Lyne in diesem Kirchspiele im Jahre 1864
gestiftet. Es ist dies ein Erinnerungs-Hospital
oder ein Dorf-Hospital, aber es hat kein Recht
auf die Bezeichnung eines Hütten-Hospitals , es
ist ein schönes steinernes Gebäude, in welchem
das Element der Hütte dem Wunsche geopfert
ist, Alles so vollkommen wie möglich beisammen
zu haben; das Geld, welches für den Bau aus-
gegeben wurde, hätte zur Erbauung von drei
Hütten-Hospitälern hingereicht.
Es ist natürlich, dass wir auf die Berech-
nungen und Kostenanschläge der englischen
Hütten-Hoapitäler an diesem Orte nicht näher
eingehen, weil dieselben selbstverständlich auf
670 Gott. gel. Adz. 1873. Stock 17.
deutsche Verhältnisse keinen Bezog haben. Ebenso
lässt 6ich dos von Waring im Anhange mit-
getheilte Verzeichniss von Instrumenten und
Apparaten, welche in einem Hütten-Hospitale
vorhanden sein sollen, den Wünschen des ein-
zelnen Arztes gemäss beliebig verändern, und
ist es auch wohl nicht ganz Unrecht, was
Mencke im Vorworte darüber bemerkt, dass
es einerseits der Kosten wegen zweckmässiger
sei, die Instrumente nach und nach anzuschaf-
fen, zumal da sie in dem neuen Gebäude der
Gefahr der Verrostung ausgesetzt sein würden
und dass wenigstens für den Anfang die be-
kannte Esmarch'sche Modellsammlung von
Lazarethgegenständen für Localvereine zur Pflege
verwundeter und erkrankter Krieger ausreiche.
Für jeden Arzt, welcher in ländlichen Gegen-
den zu prncticiren berufen ist, giebt die vor«
liegende Schrift Anregung, die Einrichtung klei-
ner Hospitäler für Landgemeinden zu befürwor-
ten, wahrlich nicht allein in seinem eigenen
Interesse, sondern besonders in Rücksicht auf
die Kranken und Armen seines Districtes. Es
wird bei uns, wo reiche Philantropen die Aus-
nahme bilden, besonders die Vereinsthätigkeit
in Anspruch zu nehmen sein und nicht mit Un-
recht weist.Mencke auf das Netz von Local-
vereinen zur Pflege verwundeter Krieger, welche
der deutsch-französische Krieg hervorgerufen hat,
als auf einen zweckmässigen Ausgangspunkt der
Bestrebungen zur Einfuhrung und Verbreitung
der Hütten-Hospitäler hin. Dass aber auch der
Staat ein Interesse an der letzteren Institution
hat, kann nicht in Abrede gestellt werden, wenn
man die Erfahrungen des letzten Krieges sich
vor Augen führt. In einem Kriege würde der
Staat in jedem Hütten-Hospitale ein natürliches
Waring, Hütten-Hospitäler. 671
Asyl für mehrere verwundete Soldaten finden.
Es würde dadurch der Zusammendrängung vie-
ler Verwundeter an grösseren Orten vorgebeugt
werden und das als zweckmässig erkannte Sy-
stem der Dispersion Hesse sich gewissennassen
ohne Kosten bewerkstelligen. Finden die Hütten-
Hospitäler allgemeine Einführung bei uns, so
werden sie in Verbindung mit den grösseren
Hospitalern und Militärlazarethen zur Aufnahme
der Kranken vielleicht ausreichen, jedenfalls
aber sich zur Aufnahme derselben besser quali-
ficiren als manche im letzten Kriege zu Spitä-
lern hergerichtete Localitäten. Dass, wenn auch
die kleineren Orte im Kriege mit Verwundeten
bedacht werden, dadurch die Theilnahme für
Letztere gesteigert und der Patriotismus im
Allgemeinen angeregt wird, braucht kaum noch
hervorgehoben zu werden. Statistisch aber lässt
sich aus dem letzten Kriege nachweisen, dass
eine solche Anregung des Patriotismus auf dem
platten Lande bei uns noch an sehr vielen Stel-
len nothwendig ist; denn die grösseren Städte,
obsehon überfüllt mit Soldaten, welche theil-
weise wenigstens in den Häusern selbst bequar-
tirt wurden und werden mussten, da sehr oft
die Casernen in Lazarethe verwandelt wurden,
obsehon andererseits auch überfüllt mit Verwun-
deten und Kranken, deren Unterbringung auf
Kosten der Stadt z. Th. zu geschehen hatte,
haben unverhältnissmässig viel mehr an frei-
willigen Beiträgen zu patriotischen Zwecken bei-
gesteuert als das platte Land.
Schliesslich mag noch erwähnt werden, dass
gerade in diesen kleinen Hütten-Hospitälern sich
die schönste Gelegenheit darbietet, Kranken-
pfleger und Krankenpflegerinnen mit geringem
Kostenaufwand heranzubilden, da dem Arzte
672 Gott, gel Anz. 1873. Stück 17.
▼or Allem daran gelegen sein muss, die zu die-
sem Berufe am besten sich qualificirenden Per-
sonen in seinem Districte zu erbalten und so
vorzubereiten, dass sie seinen Intentionen ent-
sprechen. Theod. Husemann.
Des Claudius Rutilius Namatianus
Heimkehr übersetzt und erläutert von Ita-
sius Lemniacus. Mit zwei Plänen und fünf
in den Text gedruckten Abbildungen. Berlin,
1872. Verlag der Königl. Geb. Oberhofbuch-
druckerei (R. v. Decker). VIII und 207 SS. 8.
Aus der furchtbaren Zeit, welche die alt*
Römerwelt dem Ghristenthum und dem Andraqg
der Deutschen allmählich erliegen sah, hat sich
auch das Bruchstück eines Gedichtes erhalten,
das eine Seereise von Ostia der italischen Küste
entlang bis Luna schildert. Als Verfasser
nannte die einzige, jetzt verlorene HS. des Klo-
sters Bobio, die es erhielt, Claudius Rutilius
Namatianus, der sich im Gedicht selbst als
Gallier vornehmen Geschlechtes, gewesenen Prae-
fectus urbi, begeisterten Anhänger des alten
Kultus und echter Römersitte, leidenschaftlichen
Feind sowol der Juden und Christen als der Go-
then zu erkennen giebt.
Er reiste, wie v. 135 sagt, im Herbst des
J. d. St. 1169 =* 416 n. Chr. nach seinen Be-
sitzungen in Gallien zurück, die nach den
schrecklichen Verwüstungen durch die Gothen
besonderer Sorgfalt bedurften, und während der
öfteren unfreiwilligen Müsse der Seefahrt selbst
ist das Gedicht entstanden (vgl. V. 165 ff. mit
Rutilius Namatianus Heimkehr. 673
415 ff.). Es ist in Beiner metrischen Reinheit
und den Reminiscenzen aus früheren Dichtern
ein werthvolles Zeugniss fur die gründliche Bil-
dung der vornehmen altrömischen Partei, die
nicht nur die Götter Roms, sondern auch die
römische Literatur in der Verwirrung der Zeiten
zu retten eifrig bemüht war, wie bekanntlich die
Subscriptionen einer ganzen Reihe von römi-
schen Schriftstellern zeigen. Und über die Härte
und Seltsamkeit, die bei sonstiger Einfachheit
der Sprache in manchen Wendungen und beson-
ders der Verbindungslosigkeit der einzelnen
Sätze und Verse unter einander hervortritt,
lä88t der Reiz des Inhalts mit seinen anmuthi*
gen Schilderungen und der Menge für die Cha~
rakteristik der damaligen Zeit bedeutungsvollen
Angaben gern hinwegsehn. Charakteristisch ist
auch, was, glaub' ich, noch nicht bemerkt ist,
dass des Honorius, überhaupt des domus impera-
torum, nicht mit einem Worte gedacht ist: nur
v. 172 findet sich der Ausdruck principis are
loqui als allgemeine Bezeichnung der Quästur.
Das Gedicht war zwar nicht selten, zuletzt
von A. W. Zompt (1840) und L. Maller (1870),
herausgegeben, aber noch nie ins Deutsche über-
setzt worden. Doch nicht dies allein hat Al-
fred von ßeumont in dem vorliegenden
Buche gethan, sondern seiner Uebersetzung zu-
gleich eine treffliche Einleitung vorausgeschickt
und einen topographischen Commentar beige-
geben, über den zwar dem Ref. im Einzelnen
kein Ürtheil zusteht, der aber doch unverkenn-
bar das Gepräge eigener Anschauung und um-
fassender Kenntniss der italienischen Geschichte
und Literatur an sich trägt. Auch die höchst
geschmackvolle Ausstattung trägt dazu bei, das
Buch zu empfehlen, aber »in den Text ge-
674 Gott. gel. Am. 1873. Stück 17.
druckte Abbildungen« vermag Ref. nur vier zu
entdecken.
Wenn auch der Verfasser (S. 65) ausdrück-
lich erklärt, dass er nicht Philolog von Fach
sei, so untersteht doch Uebersetzung und sprach-
liche Erklärung unzweifelhaft philologischer Be-
urteilung, und in dieser Beziehung können
einige Bemerkungen nicht unterdrückt wer-
den. Die Uebersetzung erstrebt nicht wörtliche
Treue, sondern giebt oft nur den Gedanken in
ziemlich freier Weise wieder. Bei dem mehr
sachlichen Zweck , den der Uebersetzer im Auge
hatte, lässt sich das vielleicht rechtfertigen, ob-
gleich die Umgestaltung bisweilen sehr stark
und kaum nothwendig ist. Man vergleiche
v. 245 f. (über den Hafen von Civitavecchia):
interior mediae sinus invitatus in aedes
instabilem fixis aera nescit aquis. und:
Heben sich Bauten umher, die Wasserfläche
umringend,
dass wie ein Spiegel erscheint glatt die be-
standlose Flut
öder v. 275 f. von Messalla:
Hie doeuit, qualem poscat (ponat L. Müller)
faeundia sedem (legem Crusius):
üt bonus esse velit quisque, disertus erit
Er, der uns schaffend gelehrt, was dem Worte
gebührt, dem beredten,
welchem der innere Werth höhere Weihe
verleiht,
oder v. 505 f. von Victorinus, der Britannien
rühmlich verwaltet hatte:
Plus palmae est illos inter voluisse placere,
inter quos minor est displieuisse pudor.
Löblicher ist es dem Mann, wenn Segen ihm
spenden die Völker,
denen, die schwelgen im Glanz, selten Be-
achtung gezollt
s
Rutüius NamaÜanns Heimkehr. 675
Doch hier ist es nicht nur — neben der Dunkel-
heit des nnbehülflichen denen, die — die Will-
kür der Umgestaltung, sondern offenbares Miss-
veretändniss, was auffällt: denn der Sinn kann
nur sein, dass treue Pflichterfüllung in einer
Provinz, in welcher man sich seiner Pflicht nicht
zu genügen, durchaus sonst nicht zu schämen
pflege, um so rühmlicher sei.
Und auch sonst haben wir nicht nur zu be-
dauern, dass allerlei sprachliche und metrische
Härten und Nachlässigkeiten den Oenuss stören
z. B. v. 112: wo die Räume belebt t aus eu-
er Vögel Gesang, v. 451 bethört' mit, 501
übt9, des, 502 weilt', Liebe, die Endung
des Imperfectums vor Konsonanten elidiert), son-
dern mehrere Steifen bat der Uebersetzer nicht
richtig aufgefasst, sei es dass er frühern Erklä-
rern gefolgt ißt oder die Missdeutung ihm zur
Last lallt. V. 11 preist der Dichter nächst den
eingeborenen Mitgliedern des Senats auch die
glücklich, welche als Fremde in den Senat auf-
genommen seien,
et partem Genii, quem venerantur, habent (v. 1 6),
sei es, dass er an den Genius P. R., dessen Sta-
tue in der Nähe des Concordientempels stand,
oder an die Victoria denkt, deren Altar in der
curia Julia stand und in der zweiten Hälfte des
vierten christlichen Jahrhunderts zu so vielen
Kämpfen zwischen der heidnischen und christ-
lichen Partei Anlass gegeben hatte. Dann setzt
er v. 17 f. hinzu:
quale per aetherios mundani verticis axes
concilium summi credimus esse dei.
So im mächtigen Bau der umkreiseten Achsen
des Erdpols
sieht der geistige Blick Gottes erhabenes
Sein.
676 Gott gel Anz. 1873. Stück 17.
Aehnlich ist allerdings auch die Erklärung
Zumpts : concilium summi dei cam natura üsque
rebus omnibus, quae natura continentur, com-
paratur cum ea ratione, qua genius curiae cum
senatoribus singulis coniungitur. Aber dieMeinung
des heidnischen Dichters, der an Kineas Aeusserung
über die Versammlung von Königen und an die
Greise, welche den Galliern des Brennus wie
Götter erschienen, denken mochte, ist offenbar
die: das göttliche Wesen des Genius geht auf
den Senat selbst über, dass er wie die Ver-
sammlung der Götter um Jupiter erscheint, die
wir uns in den Himmelsräumen denken. — In
den Versen 73 — 80 sagt der Dichter, dass wie
Minerva, die Schöpferin des Oelbaums, Bacchus,
der Verleiher des Weinstocks, Triptolemus, der
Lehrer des Ackerbaus, Aesculapius und Hercu-
les wegen ihrer Verdienste um die Menschheit
als Götter verehrt werden, eben so auch Borna,
die den Menschen das Gesetz gegeben, Gleiches
verdiene und gleiche Verehrung gefunden habe.
So scheint aber unser Debersetzer den Gedan-
ken nicht aufgefesst zu haben, wenn er V. 73 f.
Inventrix oleae colitur vinique repertor
et qui primus humo pressit aratra puer
übersetzt :
Die uns den Oelbaum gab, und den, der die
Rebe gepfleget,
ihn, der als Jüngling den Pflug lenkte, du
ehrest sie all.
— V. 83ff.
Quid simile Assyriis conectere contigit armis?
Medi finitimos tum domuere*) suos:
*) Die HS. hat cum domuere, das Zumpt mit Un-
recht beibehalt und mit den Worten conectere contigit
armis su unpassendem Gedanken und unsymmetrisoher
Verstheilong verbindet. Entweder ist tum d. mit Bor-
mann, oder condomuere mit L. Maller zu lesen j wie
v. 86 f. mass auch ?. 84 selbständig sein»
Eutiliuß Namatianuß Heimkehr. 677
Hagni Parthorum reges Macetamque tyranni
mutua per varias iura dedere vices.
Der Dichter vergleicht die früheren vier soge-
nannten Weltmonarchien mit Roms Weltherr-
schaft und sagt, dass die Assyrer nichts ihr
Aehnliches zu Stande gebracht, dass die Meder
nur ihre Nachbarn unterworfen, dass Perser und
Macedonier nur sich rnander im Wechsel über-
wältigt. Wie passt dazu die Uebersetzung:
Ward wol Aehnliches einst erreicht von assy-
rischen Waffen,
oder als Alles umher Mediens Stärke
besiegt ?
Parthische Könige erst, hierauf Macedonische
Herrscher,
nurin dem Wechsel sichgleich, ga-
ben der Welt das Gesetz.?
— V. 157 f. Verleihe mir, Göttin Borna, sagt
der Dichter, glückliche Fahrt,
Si nan displicui, regerem cum iura Quirini,
si colui 8anctos consuluique patres.
Die Auffassung des zweiten si ist offenbar falsch,
wenn es heisst:
Wenn ich genügte der Pflicht, als ich quiri-
tisches Recht sprach,
als ich ehrend befragt würdiger Väter Verein.
— V. 185. Was in aller Welt soll der Zusatz
bei Nachtzeit zu den Worten:
Gunctamur temptare salum portnque sedemus:
Sicher erscheinet es nicht dem Meer zu trauen
bei Nachtzeit.?
Wir erfahren V. 205, dass der Dichter fünfzehn
Tage im Portus Augusti warten musste. — Auch
V. 193 ff. ist der Zusammenhang verkannt.
.Nicht am Rauch, so sehr auch Homer ihn als
Zeichen der fernen Heimath rühmt, sondern
(v. 193 nee — v. 195 sed) am Glänze des Hirn*
678 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
meto, der über der Stadt sich breitet, erkenne
ich das ferne Born. Statt dessen beginnt V.
195 in der Uebersetznng : denn wo — . End-
lich bemerkt der Uebersetzer zu v. 216:
et servos famnlis non sinit esse suis,
dass »es sich vielleicht um behinderte Willkür
der Unterbeamten handle« (S. 114). Aber die
Worte sind ohne Zweifel von den Bagauden zu
verstehn, die, theils Landbewohner theiis Knechte,
mehrere Jahrhunderte lang immer wieder von
neuem sich in Gallien erhoben und das Land
plündernd und mordend durchzogen. Exsupe-
rantius hatte also kurz vorher ihrem Unwesen in
der Armorica für einmal ein Ende gemacht.
Die Stärke des Buchs liegt in den geographi-
schen und topographischen Excursen mehr, als
Anmerkungen, für welche Beumont die Verse
des Gedichts als Anknüpfungs- und Ausgangs-
punkte benutzt; sie verleihen ihm bleibenden
Worth. H. Sauppe.
Cartulaires inSdits de la Saintonge par l'abbä
Th. Grasilier. Niort. L. Clouzot 1871. Vol. I
LXIV. XII und 176, Vol. II XXIX und 251
Seiten in Quart.
Obituarium ecclesiae sancti Pauli Lugdunen*
Bis — publiö — par M.-C. Guigue. Bourgen
Bresse. Gromier 119 S. in Octav.
Diese beiden Publicationen gehören nicht zu
denen, welche ein unmittelbares Interesse auch
für Deutsche oder doch ältere Fränkische Ge-
schichte haben, schliessen sich aber an solche *
an, die früher in diesen Blättern Erwähnung ge-
funden.
Graßilier, Cartulaires inädits de la Saintonge. 679
Das zuerst genannte Werk gehört zu den
zahlreichen Veröffentlichungen von Chartularen,
in denen jetzt in der That die einzelnen Pro-
vinzen Frankreichs auf das löblichste mit einan-
der wetteifern. Nachdem eine Urkundensamm-
lung des Klosters Baigne schon früher einzeln
herausgegeben (s. diese Anzeigen 1869 St. 6),
folgen jetzt in dieser Sammlung, die nach der
voranstehenden Dedication von dem Bischof von
La Rocbelle und Saintes veranlasst ist, drei
andere : im ersten Band die der Abtei St.-Etienne
de Vauz und des Convents de Notre Dame de
la Garde enArvert, im zweiten der königlichen
Abtei Notre Dame de Saintes. Die erste und
dritte gehören dem Uten, die zweite erst dem
Ende des 12 ten Jahrhunderts an, von jenen sind
vollständige und alte Chartulare, des 13 ten und
12 ten Jahrhunderts, erhalten, von dem Convent
nur eine Sammlung neuerer Abschriften der hier
gegebenen Urkunden. Das Chartular von St.
Etienne ist ein Theil der reichen Sammlung der
Pariser Bibliothek, dagegen befindet sich das
von Notre Dame de Saintes nach wechselnden
Schicksalen im Besitz der Stadt: mit Verwun-
derung wird man lesen (II, S. XXIX), dass es
da eine Zeit lang verschwunden war, aber als
durch den Justizminister polizeiliche Untersu-
chungen angeordnet waren, es sich wieder fand
»dans le cabinet d'un savant de la capitalec.
Die hier erhaltenen Urkunden gehen noch
über das Jahr der Gründung 1047 hinauf, eine
recht interessante, Nr. 140 S. 106, bis zum Jahr
1010 zurück. Uebrigens sind es nicht alles Ur-
kunden im eigentlichen Sinn des Wortes, son-
dern auch Aufzeichnungen über Rechts* und
andere Verhältnisse, Nr. 77 z. B. über die
Münze, mehrere andere über die Leistungen der
einzelnen Güter.
680 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 17.
Die Gründung yon St. Etienne de Vaux fallt
ins Jahr 1075, Nr. 53 des Cbartulars, und we-
nigstens eine Anzahl von Urkunden gehört noch
diesem Jahrhundert an.
Die Reihenfolge der einzelnen Stacke ist in
beiden Sammlungen keine chronologische. Aber
sorgfaltige Inhaltsverzeichnisse führen sie nach
der Zeitfolge auf. Auch sonst ist die Ausgabe
mit aller Sorgfalt und unter Beobachtung rich-
tiger Grundsätze bei der Wiedergabe des Testes
gemacht: sie kann sofern manchen auch Deut-
sehen Publicationen als Muster dienen. Das
Vorbild von Guerards verdienstvollen Arbeiten
macht sich hier noch immer in erspriesslicher
Weise geltend. Nach seinem Beispiel ist auch
dem ersten Bande eine Uebersicht dessen was
die hier vereinigten Denkmäler an historischer
Ausbeute gewähren vorangeschickt: namentlich
der Abschnitt über die vorkommenden Abgaben
(S. LV) verdient hervorgehoben zu werden.
Das Necrologium von St. Paul in Lyon
Bchliesst sich in mancher Beziehung ergänzend
an das des Capitels an, welches Hr. Guigue im
J. 1867 herausgegeben (s. Anzeigen 1868 St.
40). Die zu Grunde liegende Handschrift ge-
hört dem 13 ten Jahrhundert an, und die älteren
Zeiten haben, soviel ich bemerkt, wenig Be-
rücksichtigung gefunden. Beigefügt sind eine
Anzahl (34) Urkunden zur Geschichte des Stifts
von 1147—1272; auch ein Register fehlt nicht.
Zu einem chronologischem Verzeichnis, wie es
der früheren Ausgabe beigefugt war, fehlte wohl
das Material. G. Waitz.
681
Gftttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 18. 30. April 1873.
Entwurf einer Deutschen Strafprozessord-
nung. Berlin im Januar 1873; in 4. 87 S.
Der, bereits im April 1868 auf Grund des
Art. 4 Nr. 13 der Norddeutschen Bundesverfas-
sung gefasste, Beschluss des Reichstags: »den
Bundescanzler aufzufordern, Entwürfe eines ge-
meinsamen Strafrechts und eines gemeinsa-
men Strafprozesses, sowie der dadurch be-
dingten Vorschriften der Gerichts organi-
sation baldthunlichst — vorlegen zu lassen«,
— welcher alsbald auch vom Bundesrath adop-
tirt wurde, — ist bekanntlich zunächst in Be-
treff des Strafrechts zur Ausführung ge-
bracht worden, und zwar für ein so bedeuten-
des und umfassendes Werk in verhältnissmässig
kurzer Zeit, dergestalt, dass die Publication
des, zunächst für das Gebiet des Norddeutschen
Bundes bestimmten, Strafgesetzbuchs, welches
jetzt als »Deutsches Strafgesetzbuch« fur das
ganze Reich einschliesslich Elsass und Lothrin-
fens gilt, bereits im Juni 1870 erfolgen konnte.
Indlich ist nun der (auch schon seit Juli 1869,
52
682 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
wo das auf die Ausarbeitung eines Entwurfs
ferichtete Ersuchen des Bundescanzlers an den
'reussischen Justizminister ergieng) in Angriff
genommene »Entwurf einer Deutschen
Strafprocess-Ordnung« , jedoch für jetzt
noch ohne das dazu (wie auch zur Civilprozess-
Ordnung) gehörige Gerichtsorganisations-Gesetz,
zur Veröffentlichung gelangt, nachdem verschie-
dene, vorher nicht zu berechnende, Hemmnisse
diese Veröffentlichung verzögert hatten, obwohl
die Arbeit schon Ende 1871 oder Anfang 1872
im Wesentlichen fertig vorlag, wenn auch nicht
in Betreff des die Gerichtsorganisation behan-
delnden Entwurfs, dessen Bearbeitung, in Folge
der Ernennung des bisher damit betraut gewe-
senen Dr. Falk zum CultuB- Minister, einer an-
dern tüchtigen Kraft (dem G.O.Justizrath Dr.
Förster) übertragen werden musste.
Den vorliegenden Entwurf der Strafpro-
zessordnung verdanken wir der Feder des-
selben Mannes, welcher seine ausgezeichnete
Tüchtigkeit in legislatorischen, wahrhaft refor-
matorischen Arbeiten in hervorragendster Weise,
insbesondere auch als Verlasser des ersten Ent-
wurfs des Strafgesetzbuchs, bewährt hat, dem
G.O.Justizrath und Präsidenten der Justiz-
Prüf ungs- Commission Dr. Friedberg, und wer
den innigen Zusammenhang zwischen den Prin-
zipien des Strafrechts und der Gestaltung des
Strafverfahrens zu würdigen weiss, wird auch
deshalb der getroffenen Wahl seine vollste Zu-
stimmung zu Theil werden lassen. Auch die
den Entwurf begleitenden »Motive« (294 S. in
4°) sind, wie wir annehmen dürfen, derselben
Feder entflossen und wenn dies nicht auch in
Betreff der »Anlagen zu den Motiven« (268 S.
in 4°) der Fall sein sollte , so haben sie wenig-
Entwarf ein. Deutsch. Strafprozess-Ordnung. 683
stene der eingehendsten Prüfung desselben hoch-
verdienten Mannes unterlegen. Diese »Anlagen«
behandeln, um dies gleich im Voraus zu be-
merken, in eingehenden, gelehrten und das Ma-
terial beherrschenden Ausführungen : 1. Die Be-
rufungsinstanz in Strafsachen; 2. Ver-
gleichende Zusammenstellung gesetzlicher Vor-
schriften über die Begründung eines Antrags auf
Wiederaufnahme der Untersuchung nach
rechtskräftig entschiedener Sache; 3. Die Un-
tersuchungshaft; 4. Die Privatklage; 5.
Die Rechtsfindung im Geschwornenge rieht;
6. Das englische Gesetz über die gerichtliche
Voruntersuchung vom 14. August 1848.
. Das Erscheinen des »Entwurfs einer Deut-
schen Strafprozessordnung« haben wir bereits
im 8 ten Stück dieser Blätter v. 19. Febr. d. J.
mit Freuden begrüsst. Hier insbesondere in
Betreff der sich daraus ergebenden Adoption des
Instituts des Schöffengerichts für alle
Strafsachen, auch die s. g. Schwurgerichts-
sachen, welche in einer, dem Unterzeichn. in-
zwischen aus dem Justizministerium zugegange-
nen »Denkschrift über die Schöffenge-
richte«, in der überzeugendsten Weise, und
in vollständiger Uebereinstimmung mit der dort
angezeigten Schrift über das moderne Schöffen-
gericht, begründet worden ist. Diese, für jetzt
nur »handschriftlich gedruckte«, Denkschrift ist
ein »Auszug aus den Motiven zu dem Gesetz-
entwurf, betreffend 'die zur Einführung der
Deutschen Civil- und Strafprozessordnung er-
forderliche Einrichtung der Gerichte im Deut-
schen Reiche« (44 S. in 4°) und giebt schliess-
lich auch eine »Uebersicht über die Literatur,
betreffend den Streit darüber, ob dem Ge-
schwornengericht oder dem Schöffengericht der
684 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
Vorzug zu geben sei?< — eine Literatur, die
sich gewiss noch sehr vermehren wird und wel-
cher jetzt schon die, für die Geschwornenge-
richte plaidirende, jüngst erschienene, Abhand-
lung »Ueber Schwurgerichte und Schöffenge-
richte« von Dr. Hermann Seuffert und
anderer Seits die neue Schrift von Schwarze,
»Das Schöffengericht« Leipzig 1873, beigefugt
werden muss. Der Gesetzentwurf über die Ge-
richtsorganisation liegt bis jetzt nicht zur Ein-
sicht vor, sondern bildet noch den Gegenstand
der Verhandlung zwischen den Vertretern der
dazu berufenen Bundesstaaten, wobei besonders
die Frage über die Einführung der Schöffenge-
richte und die Begründung einer reichsgericht-
lichen Instanz, unter gänzlicher oder thweil-
weiser Beseitigung der obersten Gerichtshöfe
der Einzelstaaten, einer Entscheidung zu unter-
ziehen sein wird. Aus diesem Grunde sind auch
in dem vorliegenden Entwurf der Strafprozess-
ordnung alle Bestimmungen weggeblieben, welche
in mehr oder weniger nahem Zusammenhange
mit der Gerichtsorganisation stehen, wenn sie
auch in der neuern Gesetzgebung meistens in
der Strafprozessordnung ihre Stelle gefunden
haben, wie auch in der »Vorbemerkung« des
Entwurfs ausdrücklich hervorgehoben wird. Bei-
spielsweise werden dazu gezählt: »alle Satzun-
gen über die Einrichtung und Zusammensetzung
der Strafgerichte selbst, über die Gerichtssprache,
die Oeffentlichkeit der Verhandlungen, die Auf-
rechthaltung der Ordnung in denselben, die Art
der Abstimmung, die Zuziehung von Dolmet-
schern, die zu gewährende Bechtshülfec Viel-
leicht noch mehr als in Betreff dieser Beispiele
dürfte es sich von selbst rechtfertigen, wenn der
Entwurf, vor jener notwendigen Yorenteohei-
Entwurf ein. Deutsch. Strafprozess-Ordnung. 68S
dung es vermieden hat, über die Staatsanwalt-
schaft und ihre Stellung im Strafprozess, über
die Mitwirkung des Laien-Elements bei den
Strafgerichten, die Zahl der Schöffen im Ver-
hältniss zu den rechtsgelehrten Richtern, und
über die gleichberechtigte Stellung der Schöf-
fen etc. nähere Bestimmung zu geben. Auch
sie mussten dem »Gesetzentwurf über die Or-
ganisations-Bestimmungen« zugewiesen werden,
obwohl eine vollständige Consequenz in dieser
Hinsicht nicht beobachtet werden konnte, z. B.
in Betreff der Erwähnung der Staatsanwalt-
schaft bezüglich einzelner Functionen, die denn
doch vielfach von der prinzipiellen Auffassung
des Instituts sehr abhängig sind.
Der ganze Entwurf, wie er vorliegt, umfasst
383 §§, und hat sein Material in sieben Bü-
cher vertheilt: I. Allgemeine Bestimmungen;
II. Von dem Verfahren in erster Instanz; HI.
Von den Rechtsmitteln; IV. Von der Wieder-
aufhebung eines rechtskräftigen Urtheils; V,
Von der Betheiligung des Verletzten bei dem
Verfahren; VI. Von besondern Arten des Ver-
fahrens; VII. Von der Vollstreckung der Straf-
urtheile und den Kosten des Verfahrens. — Im
Ganzen und Grossen entspricht diese Anordnung
der Reihenfolge der Materien in der Preussi-
schen Strafprozessordnung von 1867. Dass nach
unserer Auffassung Manches zweckmässiger in
anderer Weise hätte geordnet, Getrenntes mit
einander verbunden, Verbundenes von einander
hätte geschieden werden können, wollen wir
hier nicht weiter verfolgen.
Wie sorgfältig bei der Abfassung des Ent-
wurfs die in Deutschland bestehenden Straf-
prozessordnungen, mehrfach auch ausländische
Rechte, insbesondere französisches und engli-
£86 Gott gel Anz. 1873. Stück 18,
sches Recht, berücksichtigt und eingehend ge-
würdigt worden sind, bekunden die dem Ent-
würfe beigefügten »Motive« und »Anlagenc.
Letztere gehören an sich auch zu den Motiven
und sind nur deshalb von diesen abgesondert,
weil man es (wie früher beim Strafgesetzbuch)
mit Recht für zweckmässig erachtete, bei Gegen-
ständen, welche die Beibringung eines umfassen-
dem Materials erheischten, die Form abge-
sonderter Excurse zu wählen.
Dass der Entwurf nicht überall Neues
schaffen konnte oder wollte, versteht sich von
selbst. Auch dürfte sich, abgesehen von der
Adoption des Schöffengerichts für alle Straf-
sachen, kaum eine Bestimmung finden, die nicht
in einer der bestehenden Gesetzgebungen in
ähnlicher oder übereinstimmender Weise vor-
käme. Im Vergleich mit der Mehrzahl der in-
nerhalb des Deutschen Reichs geltenden Gesetz-
gebungen kann aber allerdings von »Neuerun-
gen« die Rede sein, welche S. 8 und 9 der
Motive unter XVIII Nummern sich zusammen-
gestellt finden, und womit die Hauptpunkte, auf
die es bei der Reform des Strafverfahrens an-
kommen dürfte, getroffen werden.
No. I — IV, die wir zusammenfassen können,
beziehen sich auf die Organisation der Schöf-
fengerichte und sind bereits in der vorigen
Anzeige der Schrift über das moderne Schöffen-
gericht hervorgehoben worden. Es wird damit
die Mitwirkung des Laienelements bei allen
Strafurtheilen erster Instanz in Vereinigung mit
den rechtsgelehrten Richtern sanction irt und da-
mit grundsätzlich der natürlichen , in der bis-
herigen Gerichtsorganisation unerfüllt gebliebe-
nen, Forderung der gleichartigen Construc-
tion der Strafgerichte vollständig Rechnung ga-
Entwurf ein. Deutsch. Strafprozess-Ordnung. 687
tragen, zugleich aber auch durch die Beschrän-
kung des Laienelements auf die Gerichte er-
ster Instanz ausgesprochen, dass eine Mitwir-
kung von Laien in der zweiten oder Revi-
sionsinstanz (§• 248 f. des Entwurfs) welche auf
die Frage stattgefundener Gesetzesverletzung be-
schränkt ist, nicht stattfinden soll ; wogegen
sich gewiss nichts erinnern lässt. Es steht dies
mit der Berufungsfrage im Zusammenhang, auf
die wir bei No. V zurückkommen werden. Hier
in teres sirt uns nach den Sätzen in No. II und
III, wonach die in erster Instanz überall er-
kennenden Schöffengerichte in die Grossen,
Mittleren und Kleinen Schöffengerichte
zerfallen und die Grossen Schöffengerichte an
die Stelle der seitherigen Ge seh worn enge-
richte treten sollen, insbesondere der Satz No.
IV: »Die Schöffen üben in gleichbe-
rechtigter Stellung mit den rechtsge-
lebrten Richtern das Richteramt in
seinem vollen Umfange aase, — ein
Satz, dessen Anerkennung und Durchführung,
auch nach unserer Ueberzengung , unbedingt
noth wendig ist, wenn das Schöffengericht eine
Zukunft haben soll. Vgl. die Schrift: Das mo-
derne Schöffengericht, S. 35. S. 45 f. Hier ist
bereits widerlegt, was gegen die Betheiligung
der Schöffen an der Entscheidung prozessuali-
scher Fragen und an der Festsetzung der Strafe
von anderer Seite eingewendet worden ist, und
wenn dagegen Professor Gneist auf dem letz-
ten Juristentage in Frankfurt (Verhandl. 8.
156 f.), als »alter Fürsprecher des Schwurge-
richts« äusserte: »Wir Juristen sind in ganz
Europa seit drei Jahrhunderten berufen, den
Schwerpunkt der Rechtsprechung auch in
Strafsachen zu bilden«; wobei Derselbe deft
688 Gott gel. Ans. 1873. Stück 18.
Juristen als ausschliessliche Domäne drei Func-
tionen vindicirte: die Prozessleitung, die
Auslegung des Strafgesetzes und die Straf-
abmessung, — so sind dies theils ganz un-
erwiesen gebliebene Postulate, die in ihren Con-
Sequenzen audi das Wesen des Schwurgerichts
beeinträchtigen und wieder zu einer Beschrän-
kung der Geschwornen auf das Verdict fiber
reine Thatsachen fuhren mfissten, theils wird
damit die wesentliche Bestimmung und Bedeu-
tung des Schöffengerichts verkannt, die gerade
dann gefunden werden muss, dass die Juristen
fur die Zukunft nicht mehr den Schwer-
punkt der Rechtsprechung in Strafsachen bil-
den sollen, sondern dass dieser Schwerpunkt
eben in der Vereinigung von Juristen und Laien
für die Urtheilsfällung und deren Vorbereitung
gefunden werden muss. Von selbst versteht
sich dabei, dass die »Prozessleitung« auch bei
den Schöffengerichten zunächst in einer Hand,
in der des präsidirenden Richters, liegen muss.
Die Entscheidung fiber die dabei hervortreten-
den streitigen Fragen, bei denen es sich um
prozessualische Rechte der Parteien handelt,
kann und muss aber dem ganzen Gerichte
gebühren, und dasselbe gilt, wie wir bereits in
der Schrift fiber das moderne Schöffengericht
ausgeführt haben, auch von der sog. »Ausle-
gung des zweifelhaften Strafgesetzes« und der
»Strafabme88ungc, wenn wir es auch als etwas
ganz natürliches und selbstverständliches be-
trachten, dass sich dabei auch im Schöffenge-
richt besonders das juristische Element, aber
unter Mitwirkung der volkstümlichen oder
laienhaften Auffassung über die Verletzung des
Gesetzes und die der Schuld entsprechende
Strafe | geltend machen soll. Unnatur ist und
Entwurf ein. Deutsch. Strafprozess-Ordnung. 689
bleibt aber nach unserer Ueberzeugung die ganze
Trennung von Schuld und Straffrage im Ge-
schwornengericht und die Behauptung, dass die
»sich gegenseitig ergänzende und zusammen-
wirkende« Thätigkeit von Richtern und Ge-
schworenen (die aber in Wahrheit gar keine
sich vollständig ergänzende und innerlich zu-
sammenwirkende ist) durch keine andere
Einrichtung ersetzt werden können,
muss als eine, bei richtiger und vorurtheils-
freier Würdigung des Schöffengerichts vollstän-
dig sich widerlegende, Negation zurückgewiesen
werden.
Als No. V der »Neuerungen« ist hingestellt:
»Gegen Urtheile der Schöffengerichte findet
keine Appellation statt. Entw. §. 248«.
Dieser §. gestattet aber das Rechtsmittel der
Revision, worüber der Entwurf in den fol-
genden §§. 249 — 267 die nähern Bestimmungen
enthält, an welche sich im vierten Buch §. 268 f.
die Vorschriften über die Wiederaufhebung
eines rechtskräftigen Urtheils, in einer, wie wir
glauben, im Ganzen befriedigenden, jedenfalls
die Engherzigkeit des französischen und bishe-
rigen Preussischen Rechts beseitigenden Weise
gefasst, — anschliessen. Dass der Unterz. mit
der Beseitigung der Appellation oder Berufung
in Strafsachen und der Beschränkung der Revi-
sion auf eine vorliegende »Verletzung des Ge-
setzes c, d. h. wenn eine Rechtsnorm nicht oder
nicht richtig angewendet worden ist, einverstan-
den sei, braucht kaum versichert zu werden,
da er sich schon früher, theils im Handbuch
des Strafproz. Th. II §• 168, theils in einer be-
sondern, der Berufungsfrage gewidmeten Ab-
handlung im XIX. Bande des Goltdammer'schen
53
690 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 18.
Archivs (S. 209 f.) ausführlich darüber ange-
sprochen hat.
Die Nr. VI. VII und VIII betreffen das Recht
des Verletzten theils zur subsidiären (selbetstän-
digen) Privatklage auf öffentliche Bestrafung,
theils seine Befugniss, sich als Nebenkläger der
von der Staatsanwaltschaft erhobenen öffentlichen
Klage anzuscbliessen, theils endlich die Berech-
tigung des Strafricbters auf Antrag des Verletz-
ten, auch über die vermögensrechtlichen An«
sprüche desselben zu entscheiden cf. Entwurf
§. 282. §. 314. §. 322. — Letzteres ist be-
kanntlich bisheriges gemeines Recht und auch
im französischen Recht begründet. Von den
Deutschen Strafprozessordnungen erklärten sich
auch mehrere dafür, andere dagegen. Wir bil-
ligen entschieden das Erstere. Ueber die Be-
fugniss der verletzten Partei, für die Verfolgung
der öffentlichen Bestrafung des Thäters subsi-
diär (wenn der Staatsanwalt die Verfolgung ab*
lehnt) ein selbständiges Klagrecht auszuüben,
enthalten die bestehenden Strafprozessordnun-
gen abweichende Bestimmungen, und Manche
sind geneigt, die Rechte des Bürgers überhaupt
hier sehr weit auszudehnen. Wir sind offen ge-
standen nicht für eine zu weite Ausdehnung der
Rechte der Privaten in Betreff der Verfolgung
dessen, was doch in der That nicht ihr Recht
ist und glauben, dass auch der Umfang der sog*
Antragftdelicte nicht zu weit ausgedehnt
werden dürfe und der, oft durch recht niedrige
Motive bestimmten, Willkühr des Verletzten be-
züglich der Zurücknahme des Antrags, we-
nigstens in den Fällen, wo die Strafe nicht vor-
zugsweise dem Beleidigten eine Genugthuung
gewähren 6oll, ein Zügel angelegt werden müsse;
wobei wir nur nebenher bemerken, dass die
Entwürfen, Deutsch. Strafprozess-Ordnung. 691
Bestimmungen über Antragsdelicte, welche sich,
unter einem durchaus ungeeigneten Gesichtspunkt
in den vierten Abschnitt (§. 61 ff.) des Deut-
schen Strafgesetzbuchs verirrt haben, gar nicht
dahin, sondern richtiger in die Strafprozessord-
nung reap, zur Criminalverjährung gehören.
Sehr lobend und beachtungswerth sind die
unter No. DC und X hervorgehobenen »Neue-
rungen«, wonach sich der Beschuldigte schon
im Vor verfahren des Beistandes eines Ver-
theidigers bedienen darf und sowohl er, wie
sein Vertheidiger befugt sind, den Beweiserhe-
bungen in der Voruntersuchung beizuwohnen,
Entw. §. 120 und §. 154. — Das inquisitori-
sche Prinzip, welches jede mögliche Hinderung
oder Beeinträchtigung der, lediglich durch sein
freies Ermessen bestimmten, Thätigkeit des Rich-
ters bei Führung der Untersuchung zurückweist,
konnte ein solches Recht und eine solche Be-
theiligung nicht anerkennen, und auch die, im-
mer noch unter der Herrschaft jenes Prinzips
stehenden, neueren Strafprozessordnungen enthal-
ten meistens keine derartige Bestimmung oder
nur in viel beschränkterer Weise. Vergl. Handb.
des deutsch. Strafproz. Th. H. g. 110 u. das.
Note 14. Eine Ausnahme macht jetzt noch
(früher auch das Nassauische Ges. von 1849)
die Braunschw. Strafpr.-Ordn. §. 7; und
demnächst die neue Oesterreich. Strafpr.-
Ordn. §. 88 f., insbes. §. 45.
Dass sich der unter No. XI. hervorgehobene
Satz: >Die Abwendung der Untersuchungshaft
durch Sicherheitsbestellung ist in aus-
gedehntem Umfange zugelassen. Entw. 103 ff.«
besonders dem französischen und dem preussi-
schen Rechte sowie den meisten neuern Straf-
prozessordnungen gegenüber, welche verschiedene
53*
692 Gott, gel Anz. 1873. Stück 18.
Beschränkungen geben, als Neuerung bezeichnen
lässt, ist unleugbar. Nur nicht im Vergleich
mit dem gemeinen Deutschen Strafprozess, des-
sen Alles ins richterliche Ermessen verstellende
Prinzip durch den Entwurf nur wieder herge-
stellt wird. Ein gleiches gilt von den beiden
folgenden Sätzen unter No. XII und XIII: »Ein
Kontumazial- Verfahren gegen einen in
der Hauptverhandlung ausgebliebenen Angeklag-
ten findet (abgesehen von strafbaren Handlun-
gen geringfügiger Art) nicht Statt. Entw. §.
185 ff.« und: »Gegen flüchtige oder abwesende
Beschuldigte findet eine Hauptverhandlung und
Urtheilsfällung nicht statt. Entwurf §. 223«.
Von jeher haben wir das gemeinrechtliche Prin-
zip »ne quis absens puniatur«, und »neque
enim inaudita causa quemquam damnari aequi-
tatis ratio patitur« den neuern Gesetzgebungen
gegenüber auf das Entschiedenste vertreten
(vergl. Grundlin. des Crim. Proz. Gott. 1837.
§. 236; Handbuch des Deutschen Strafprozesses
Th. II. §. 133 f.) und freuen uns, dass der Ent-
wurf auch in dieser Beziehung, auch in lieber-
einstimmung mit der neuesten wissenschaftlichen
Erörterung der Fragein der vortrefflichen Schrift
von H. Meyer (Berlin 1869). zu dem gemein-
rechtlichen Prinzip zurückgekehrt ist.
Wie der Entwurf überhaupt die Vertheidi-
gungsrechte des. Angeklagten in der liberalsten
Weise bemessen hat, so erkennt er auch (Nr.
XIV) eine Befugniss des Angeklagten »zur
Hauptverhandlung Zeugen und Sachverständige
unmittelbar vorladen zu lassen Entw. §. 176«
in umfassenderer und unbedingterer Weise an,*als
es in den meisten neuern Strafprozessordnungen
der Fall ist, (vergl. Handb. Th. IL §. 128), und
hält zugleich (No. XV) das Prinzip fest: »In
Entwurf ein. Deutsch. Strafprozessordnung. 693
der Hauptverhandlung haben die Staatsanwalt*
schaft und der Angeklagte überall das gleiche
Recht zur Mitwirkung bei der Beweisaufnahme.
Entwurf §. 194. 195«. Abgesehen von der Be-
weisnahme sind aber auch hier nicht alle Un-
gleichheiten in Betreff der prozessualischen Be-
fugnisse beider Parteien vollständig beseitigt,
z. B. bezüglich der Befugniss, den gerichtlichen
Beschluss über die Resultate der Voruntersu-
chung und über die Eröffnung oder Nichteröffnung
des Hauptverfahrens anzufechten. Entw. g. 166.
167. Vergl. Handb. des Strafproz. Th. H. §.
125, besonders auch Note 14 und 15.
Unter No. XVI wird als »Neuerung« hervor-
gehoben: »Die Beeidigung der Zeugen erfolgt
erst in der Haupt Verhandlung«, d. h. natür-
lich der Regel nach; denn Ausnahmen ma-
chen sich, wie auch §. 58 anerkennt, für gar
manche Fälle nothwendig. Als Neuerung lässt
sich auch dies im Ganzen nur im Vergleich
mit dem französischen und preussischen Rechte
bezeichnen, indem sich die im Entw. getroffene
richtige Bestimmung in einer Mehrzahl von
Deutschen Strafprozessordnungen findet. Vergl.
Handb. des deutsch. Strafproz. II. §. 101. Wenn
aber unter derselben Nummer hinzugefügt wird :
»Der Eid wird promissorisch geleistet«, so
ist dieser Ausdruck, der sich auch im Gesetz-
entwurf (§. 52) gar nicht findet, streng genom-
men unrichtig. Es soll damit nur gesagt sein,
dass der Zeuge in der Regel vor seiner Ver-
nehmung schwört. Der Zeugeneid ist aber sei-
ner Natur nach immer ein assertorischer,
er mag nun vor oder nach der Vernehmung
abgelegt werden. Denn er bestärkt immer nur
die Wahrheit der gemachten oder demnächst
zu machenden thatsächlichen Angaben.
694 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
Die beiden letzten Nummern endlich, No.
XVII und XV in, enthalten die Sätze: »Bei der
Urtheilsfellung ist zum Ausspruch des Schuldig
überall eine Mehrheit von zwei Drittheilen der
Stimmenden erforderlich. Entw. §• 213c und
»Die Strafvollstreckung geschieht durch die
Staatsanwaltschaft. Entwurf §. 365«. Beide
Sätze finden sich auch schon in bestehenden
Strafprozessgesetzen Deutschlands. Da der Ent-
wurf auf der Negation der Institution des
Schwurgerichts beruht, so liegt in dem ersten
Satze noch keine Entscheidung über das Er-
fordemiss der Einstimmigkeit der Jury, wie wir
es in der Deutschen Gesetzgebung zunächst nur
in Braunschweig und danach in Waldeck
und Oldenburg anerkannt finden, und worüber
die gutachtlichen Berichte des Plenums des
Herzogl. Obergerichts zu Wolfenbüttel, welche
unter dem Titel: Die Principien des Braun-
schweigischen Strafprozesses, Braunschw. 1872
zusammen gedruckt und dem grössern Publicum
zugänglich gemacht worden sind, besonders un-
ter Hinweisung auf die mehr als zwanzigjähri-
gen damit gemachten Erfahrungen, eine vortreff-
liche Motivirung enthalten, die nothwendig, auch
abgesehen von der Frage über Einstimmigkeit
bei Richtercollegien in Betreff der Schuldfrage,
dann wird Berücksichtigung finden müssen, wenn
die Vorlagen zur Reichsgesetzgebung genöthigt
werden sollten, das Schwurgericht für die Straf-
sachen oberster Ordnung beizubehalten. — Der
Satz, dass die Strafvollstreckung durch die
Staatsanwaltschaft erfolgen soll (Entw. §. 365)
wird bezüglich entstehender Zweifel oder Streik
tigkeiten moderirt durch die Bestimmung des
§. 369, welche im Ganzen der Preussi sehen
Strafprozessordn. für die neuen Provinzen von
Entwarf ein. Deutsch. Strafprozessordnung. 695
1867 §. 480 entnommen ist und, wie wir glau-
ben, in Betreff das Yerhältniss von Geriebt und
Staatsanwaltschaft zur Vollstreckung der Straf-
erkenntnisse das Richtige trifft. Vergl. Handb.
des Strafproz. Th. IL §. 177 bes. Note 4.
Soviel aber Beschaffenheit des Entwurfs
einer Deutschen Strafprozessordnung überhaupt
und des Verhältnisses desselben zur bisherigen
Particular. Gesetzgebung und zum älteren ge-
meinen Recht. Auf eine kritische Beleuchtung
der einzelnen Bestimmungen und ihr Verhält-
diss zu den für die Gestaltung des Straf-
prozesses maassgebenden Prinzipien einzugehen,
ist hier nicht der Ort, und nur im Allgemeinen
mag die Bemerkung Platz finden, dass, wenn
einerseits die Forderungen der Mündlich-
keit mit ihren Consequenzen im Hauptver-
fahren bis in die Rechtsmittel-Instanz hinein
die vollständigste Verwirklichung gefunden zu
haben scheinen, ein Gleiches nicht ganz in Be-
treff der Consequenzen des aecusatorischen
Prinzips, d. h. bezüglich der nach bestehendem
Prozess recht sich bestimmenden, Mitwirkung
der Parteien für die Erzielung eines, dem Grund-
prinzip des Strafverfahrens entsprechenden, Re-
sultats der Fall sein dürfte.
Zum Schluss nur noch die Bemerkung, dass
diese Anzeige grösstenteils schon zu Anfang des
Monats März niedergeschrieben, ihr Abschluss
aber durch die Betheiligung des Unterzeichneten
an den Gommissionsberathungen und Verhand-
lungen des Herrenhauses verhindert worden ist.
Die Berathungen der vom Bundesratb für die
Strafprozessordnung berufenen Reichscommission
beginnen am 17. April. Ob es möglich sein
werde, den vom Bundesrath demnächst adopttf-
ten Entwurf mit den andern Justizgesetz-Ent-
696 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
warfen noch an den gegenwärtig versammelten
Reichstag zur Vorlage zu bringen, hängt natür-
lich theils von der Daner der Commissions-
Berathungen, theils von dem frühern oder spä-
tem Schlus8 des Reichstags ab.
Göttingen, 12. April. H. A. Zachariä.
Quid de Iudaeorum moribus atqne institutis
ßcriptoribus Romanis persuasum fuerit. Com-
mentatio historica scripta a Ludovico Geiger.
Berolini. Mitscher und Röstell. 1872. 49
SS. in 8°.
Notices of the Jews and their country by
the classic writers of antiquity : being a collection
of statements and opinions from the works of
greek and latin heathen authors previous to
A. D. 500. By John Gill. Second edition.
Revised and enlarged. London. Longmans,
Green, Reader and Dyer 1872. 180 SS. in 8°.
Yon dem Rechte der Mitarbeiter an diesen
Blättern Gebrauch machend, will ich auch heute
eine eigne kleine Schrift, die erstgenannte, mit
einigen Worten bei dem gelehrten Publikum
einführen. Sie ist lateinisch geschrieben, um
der Forderung der hiesigen philosophischen Fa-
kultät in Betreff der Habilitation zu genügen,
und ist im Wesentlichen nur eine neue Bear-
beitung bereits früher von mir gemachter und
z. Th. veröffentlichter Studien (Vgl. Hilbergs
Illu8trirte Monatshefte fur die gesammten Inter-
essen des Judenthums II. Band 1865 S. 12 —
25, 102—1 1 1). Doch habe ich den Stoff aufe
Neue durchgearbeitet, Stellen, die mir im Laufe
Geiger, Quid de Iudaeorum moribus etc. 697
der Zeit bekannt wurden, nachgetragen, und
das Ganze in andrer Weise zusamniengefasst.
Nach einer kurzen Einleitung betrachte ich zu-
nächst, mit beständiger Rücksicht auf die Quel-
lenstellen, die Verhältnisse der Juden in Rom
und unter römischer Herrschaft, bespreche dann,
die Stellen meist wörtlich anführend und kriti-
sche Bemerkungen daran knüpfend, die allge-
meinen Meinungen römischer, und hier, sowie
im Folgenden auch griechischer Schriftsteller,
soweit diese als Quelle für jene gedient haben,
über Glauben und Sitten der Juden, dann, zu
dem Einzelnen übergebend, die irrthümliche Bei-
legung einzelner Glaubenssätze, die Verehrung
der Wolken, des Himmels, des Esels, des
Schweins und des Gottes Bacchus, endlich die
Fabeln, welche sich an die den Römern bekannt
gewordene Erwartung des Messias geknüpft ha-
ben und welche eine Führung des Volkes durch
die Magier besagen. In einem zweiten kürze-
ren Theile behandle ich die Anschauungen rö-
mischer Schriftsteller ~ über die im Leben der
Juden besonders hervortretenden Sitten und Ge-
bräuche, besonders über Sabbath und Bescbnei-
dung, und bemühe mich hier, wie in den frühe-
ren Abschnitten der Schrift, die Entstehung der
von vielen ausgesprochenen irrigen Meinungen zu
erklären. In der Abhandlung habe ich es ver-
mieden, überall, wo ich neueren denselben Ge-
genstand behandelnden Schriftstellern gefolgt
bin, dieselben anzuführen, und stelle daher hier
diejenigen zusammen, die mir besonders nütz-
lich gewesen sind: G. Meier, Judaica seu vete-
ran scriptorum profanorum de rebus Judaicis
fragmenta. Jenae 1832, ferner die Dissertation
von Joh. Goldschmidt, De Judaeorum apud Ro-
manos condicione. Halae 1866, die umfangreiche
1
698 Gott. gel. Anz. 1878. Stück 18.
Abhandlung von G öser in der Tübinger Theo-
logischen Quartalschrift, Band 50. Jahrg. 1868,
und endlich das in der Ueberschrift an zweiter
Stelle genannte Bach.
Letztere in zweiter Auflage erschienene
Schrift, der auch manche Erscheinungen der
neueren Literatur über diesen Gegenstand nicht
bekannt sind, bietet ausser einigen Notizen nichts
Neues und ist auch der Anordnung nach nicht
zu loben. Denn bei einem Thema wie dem
unsrigen kann eine zwar nach gewissen Haupt-
rubriken geordnete, aber innerhalb derselben
nur chronologische Zusammenstellung kein rech-
tes Bild der Sache verschaffen; sondern, soll
die Arbeit nur eine Sammlung dör Stellen
sein, so muss sie die Schriftsteller nach alpha-
betischer oder chronologischer Reihenfolge durch-
gehen, nicht aber ihre Worte nach kunstlich
gemachten Abtheilungen auseraanderreissen, soll
sie den zu behandelnden Gegenstand nach jenen
Zeugnissen darstellen, so muss sie eine ge-
ordnete Schilderung auf Grund und immerhin
auch mit Einfügung jener Stellen bieten.
Der Verf. verfolgt aber den nicht angera*
thenen Weg und betrachtet in einem ersten Ab-
schnitt den Auszug aus Egypten, in einem zwei-
ten Ursprung, Sitten, Gebräuche und Eigen-
tümlichkeiten der Juden, in einem dritten Pa-
lästina, seine Geographie und seine Kriege, und
in zwei Anhängen den Streit zwischen Josephus
und Apion und Freinsheiro's Ergänzungen zu
Livius.
Ausser diesem Mangel der äusseren Anord-
nung habe ich gegen dae Buch, das, wenn es
audi vielleicht nicht allen wissenschaftlichen
Anforderungen genügt, doch in fleissrger Weise
seine Aufgabe zu lösen sucht, nichts einzuwen-
Bellermann, D. Grosse d. mus. Intervalle etc. 699
den« denn die zahlreichen groben
nisse nnd Irrt b um er, die Bywater in The Aca-
demy vom 15. Aug. 1871 unser m Bache nach-
gewiesen hat, scheinen, soweit ich vergleichen
konnte, in dieser zweiten Auflage getilgt zu sein.
Berlin. Ludwig Geiger.
Heinrich Bellermann: Die Grosse der
musicalischen Intervalle als Grundlage der Har-
monie. Mit 2 üthographirten Tafeln. Berlin,
J. Springer 1873. VIII und 93 S. 8°.
Dieses Buch belehrt uns über die Grundla-
gen der wahren Tonkunst ; kleinen Umfange bei
reichem Inhalt geht es darauf aus, nicht ein
unerhört Neues aufzurichten, sondern vielmehr
das alte Wahre in neuer Gestalt zu bestätigen
und wie alle gute Lehre soll , mit der Gewissheit
bleibender Gültigkeit einzuprägen. Somit iste
schwerlich eine Zeitung für jedermann aus dem
Volke, aber desto nützlicher für gebildete Leh-
rer und Künstler, die dem Volke woblthun wol-
len mit reinen Gaben aus ungetrübter Quelle.
Die Absicht ist: die ursprünglichen unwandel-
baren Klangverhältnisse anschaulich nachwei-
send dem ächten Gesang, somit auch dem ge-
sunden Instrumentale die richtigen Grundlagen
zu zeigen, mittels deren sowol das Alte gewür-
digt als das Gegenwärtige erkannt, das Zu-
künftige begründet werde. — Der äussere Gang
des Buches geschieht induktiv fortschreitend,
nicht dialektisch entwickelnd, was wir dem im
Berliner Sprachgebiet ansässigen Autor zum
Böhme nachsagen, weil jene Methode weniger
700 Gott, geh Anz. 1873. Stück 18.
Gefahr läuft seitab zu irren als die zweite.
Denn class die vermeinte Dialektik jener klu-
gen Korinthier, dürftig erlesen aus den verglüh-
ten Kohlen eines berühmten Meisters, gar oft in
das Gegentheil ihrer selbst umkippt, ist aus den
Denkübungen einer ansehnlichen im Buchhan-
del ansässigen Schaar dortiger Eunstscribenten
ersichtlich; dass aber die inductive Weise
ebensoviel Recht hat logisch zu heissen als die
andere, und weniger Missverständen unterliegt,
erkennen wir bei der Perspektiven Ansicht der
Haupt-Rubra unsres Buches:
Klang, Ton, Intervall Consonanz §1 — 19;
Saiten- Ausklang . . . Dreiklang (Urphänomen) —
Tonleiter — G ranze der Consonanz §20 — 34;
Reinheit der Consonanz — Allerlei In-
tervalle — Reinheit des Gesanges § 35
■ — 61; Temperatur — vocale instrumentale
gleichschwebende § 62 — 75 ; Ergänzungen ....
Vergleich verschiedner Temperaturen §76—
83; Historisches über akustische Berechnun-
gen und Tonleitern § 84 — 92; — schliesslich:
Arithmetische und graphische Darstellung
aller Intervalle der Tonleiter § 93. 94.
Die Fülle des Inhalts ist grösser als der
flüchtige Ueberblick ahnen lässt: sie hat seit
viel hundert Jahren bei den Völkern der Mitte
Frage, Streit und Fortschritt erregt bei Können-
den und Wissenden, doch den Ursprung niemals
weder verrücken noch verläugnen können, den
alt wahren Ursprung, der zugleich Quelle und
Ziel in sich fasst. — Dass nun hier am Orte
die physikal mathematische Theorie das Ueber-
gewicht behauptet, liegt in der Natur der Sache,
weil nur auf diesem Wege Natur- und Kunst-
Reinheit nach ihrer Begründung und Wechsel-
wirkung beweisbar sind. Freilich ists nicht
Bellermann, D. Grösse d. mos. Intervalle etc. 701
jedermanns Sache, dem Lehrgange zu folgen, da
mancher Gebildete sich vor den Logarithmen-
Geschwadern fürchtet, andre aber, die sowol in
Musik als Mathematik zu Hause sind, dennoch
den Natur-Potenzen geringere Achtung bewei-
sen. Nicht unmöglich aber achten wir, dass
beide Theile durch die hier gewählte concise
Form bewogen werden, das harmonische System
einmal von Grund aus zu fassen, selbst wenn
die Darstellung mehr wissenschaftlich als schul-
massig lehrhaft gelungen wäre. Vollkommen
müssen wir anerkennen , dass die gesammte
Darstellung richtig, ansprechend, den gegebenen
Inhalt sachgemäss abbildend zu Tage kommt;
für die lehrhafte Weiterbildung jedoch, für die
künstlerische Schul-Tradition würden selbst ge-
bildete ernstgesinnte Lehrer gern ein greifliches
Enchiridion besitzen, dergleichen wir indess
mit Fug und Recht von niemand besser als un-
serm Verf. erwarten, nachdem ihm gelungen, ein
so gutes Lehrbuch wie das über den Contra-
punkt herzustellen.
Um zugleich am leichtesten und schwierig-
sten ein Beispiel zu nehmen : Das syntonise he
Comma, d. h. die Differenz des grossen und
kleinen Ganztons 80:81 oder: der natürlichen
und temperirten Durterz — dieses Verhältniss
ist die Hauptursache aller Unreinheit (S. 18.
27); es muss ein modus vivendi erfunden wer-
den, wie man dem Unreinen in der Mehrstim*
migkeit abhelfe; das richtig gebildete Ohr (67)
nimmt den Ausweg, eben dieses Comma
beim Aufwärtssingen um ein weniges empor zu
treiben, so dass statt 80:81 erscheine 81:81
(S. 47) — oder umgekehrt beim Absteigen
80:80. Wie nun? Soll der gemeine Schul-
meister, oder auch der scientifische Pädagoge
702 Gott. gel. Ans. 1873. Stock 18.
jedesmal im Stande sein, diese zarten Unter-
schiede nicht nur wissenschaftlich au verstehen,
sondern auch lehrhaft einzuprägen ? Selbst wenn
er in der richtigen Schule grossgewachsen wäre,
er hätte damit nicht immer die Zarte der Ner-
ven, die Helle der oberen Sinne» im vorerst
sich selber, dann der bildsamen Jugend das
Wahrhaftige lebend darzustellen, was ja ebenso-
wol sinnlich als geistig fassbar sein will. In
verwandtem Sinne äussert sich schon Boetius
de mus. 5, 8, wo er denPtolemäus rühmt, weil
er sensus und ratio versöhne, ihre ursprüng-
liche Einheit herstelle aus der zwiespältigen
Dialektik zwischen Pythagoreern und Aristo-
xeneern.
Gesetzt nun aber, jener leidliche Schulmei-
ster würde officialiter prüfungshalber eingeladen
»Lieber, singet uns ein Comma 1« er würde nicht
mit Psalm 187 spötüich ausweichen dürfen,
noch wie die Neugriechen mit schlimmer als
kommatischen Liturgemen, die selbst den By-
zantinern nicht mehr erbaulich dünken, sich
heraushelfen können: am besten thäte er, sich
hinterthürlich heraus zu winden mit der abend-
ländisch intellektuellen Phrase »Alles exacte
Maass ist unbeweglich, alles Lebendige ist
fliessend; wie sollte ich eins im andern sicht-
lich machen t? — und so beriefe, er sich auf
die Irrationalität alles Lebendigen, was ja un-
ablässig sich bewegt zwischen Maass und Will-
kür, oder stetigem Gesetz und beweglicher Frei-
heit. Diese Irrationalität, obgleich gefühlt, ge-
wusst und bewiesen, ist dennoch dem aufrichti-
gen Denken kein tödtliches Hinderniss, vielmehr
ein Liebesband, worin sich Ewiges und Zeitli-
ches umwinden gleichwie Geist und Seele, Mann
und Weib in unlöslicher Ehe zu Heil und Wehe.
Bellermann, D« Grösse d- mos. Intervalle etc. 703
Erstreckt sich diese Gewissheit des UnmeesH-
eben, das dennoch als Gemessenes den Wirk-
lichkeiten dienen soll, nicht sogar in die loga-
rithmische Rechnung, wo bei aller Näherung
zum Exakten doch nur der kleinste Theil ohne
Best aufgeht?
Mit diesen spitzfindigen Fragen denken wir
nicht unsre8 Verf. Lehre zu mindern, vielmehr
seine Güte zu erweisen an dem was er Frucht-
bares bringt in der Ausfuhrung einseitiger Lehre
zu doppelseitiger Anwendung in Wirklichkeit.
Und da möchten wir ein Kranes bescheident-
lieh einfügen, was der künstlerischen Vollkom-
menheit hälfreich, aber nicht überall mit ge-
bührendem Gewicht herausgehoben wird« —
Fragt man nämlich: Wie ist es möglich, dass
bei so viel Wechselbezügen aller Töne, da selbst
die einfachste Tonleiter im frischesten Natur-
gesang wie im bestgeschulten Kunstgesang, im-
merfort den rationalen Verhältnissen ein Gerin-
ges abbricht , unwillkührlich temperirt, also die
Naturpotenzen nach Bedarf läugnet oder um-
deutet — wie und wo ist es möglich eine Ge-
wissheit der reinen Harmonie irgendwo zu ge-
winnen, sei es in Gefühl oder Gedanken?
Nirgend, meinen wir, als in der Reinheit
derOctaven, die im vollstimmigen Gesang
wie im vielsinnigen Orchester durchklingen müs-
sen, wenn nicht alle Hörer, plebejisch oder ar-
tistisch oder philosophische, den Missklang em-
pfinden sollen; — Diskrepanz, Discordanz nen-
nens einige Neuerer, mehr vornehmer Weise.—
Hier scheint unsres Verf. rasche Erwähnung (23)
>die Octaven sind selbstverständlich alle reine
— zwar selbstverständlich aber ungenügend, so
lang es noch Routiniers gibt, sogenannte Prak-
tiker (ßdvavüa*) die diesen unwandelbaren Angel«
704 Gott gel. Anz. 1873. Stück 18.
punkt erschüttern. Haben sie auch als ßdvawso*
keine Stimme im Bath der Meister: dennoch
bedeuten sie etwas, als misera contribuens plebs.
Wenn nämlich manche Geiger nnd viele Ciavier-
stimmer die höheren Octaven gern ein wenig
überspannen (überhöhen), nm der spätem Ab-
spannung gleichsam das Bett zu bereiten, dann
aber gar eine Regel daraus herleiten — als
könne man auch Octaven temperiren! — was
jedem richtigen Musikanten wehe thut: dann sa-
Sen wir mitfühlend: Ein ßdvavGog ist auch ein
[ensch so zu sagen, und wollen ihm lieber ge-
sunde Lehre mit nachdenklichen Hieben ein-
bläuen, als ihn unbelehrt lassen über Octaven-
reinheit Denn es ereignet sich zuweilen, dass
die Octaven, obwol der Punct, wo sensus und
ratio am nächsten übereintreffen, dennoch in
Orchestern und Sangchören nicht rein erklin-
gen. Hier mag man die Sänger in Schutz neh-
men, weil es vielen, nicht bloss Ungeschulten,
zuweilen schwer wird, beim eignen Lautsingen
die übrigen deutlich zu vernehmen. Hiegegen
ist das einzige sichere Mittel, seiner Sache ganz
sicher zu sein, also so fest in der Vorübung,
dass der öffentliche Vortrag nicht mehr mühe-
voll, nicht fremdartig sei : je sicherer in sieb,
desto fester im Gesammtchor, zugleich thätig und
empfangend. Ein andrer Missstand, durch an-
gebliche Ermüdung herbeigeführt, ist nicht so er-
heblich, wie es scheint; denn die Chorsoprane
pflegen bei dem Wechsel der Tetrachorde in
der Region P— g2 leicht zu detoniren, wenn die
Harmonie irgend unbequem liegt; dagegen wo
P oder g* als Octave oder als Quinte zum Basse
stehen, detoniren sie seltner. Ueberall ist es
erste Pflicht des guten Chor-Regenten, unerbitt-
lich auf Octavenreinheit zu halten.
Bellermann, D. Grösse d. nras. Intervalle etc. 705
In der Lehre von den übrigen Intervallen
thnt es wohl, die Minderseptime wieder in
die richtige Stelle gerückt zu sehen § 47 S. 30,
nämlich dass sie sei : chromatische Alteration der
Dominantseptime (g— f. gis — f) wie sie das
wachsende Bedürfniss häufiger Leittöne genug-
sam erklärt, nicht aber wie sie bei einzelnen
neueren Theoreten gedeutet worden , als castrir-
ter Nonen Accord (vgl. Marx Allg. M.L. Ed.
HI S. 216. Comp. L. I, VII, 1, 4.) — folgen-
schwere Ableitung aus den sogenannten Terzen-
bau, der rationalistischen Staubfädenzählung,
womit seit ßameau bis auf Weber-Marx so viel
gesündigt ist wider Idee und Geschichte! —
Die Minderterz (fis-g-as) jedoch als zusam-
menklingende — harmonische — auch nur
möglich zu achten, will uns nicht recht ein:
das einzige Beispiel S. 50 unten scheint uns wo
nicht unmöglich, doch nur für Liest und Wag-
ner brauchbar, die solch geilen Schabernack bis-
weilen verüben, um was Neues zu sagen; ihre
melodische Verwendung wie in Fei. Anerio
(a. 0.) und Mozart im Don Juan (Leporello)
II ggg I as gfi8 I g II — ist an rechter Stelle
von sonderbar nervösem Reiz. — Völlig ein-
stimmen müssen wir in die Betrachtung der
altgriechischen Enharmonie 8. 73. 74, dass
nämlich die Wunder dieser Erfindung uns un-
zugänglich sind, und die philologischen Enthu-
siasten, wie R. Westphal u. a. uns eines Besse-
ren nicht überzeugen. — Wohlthätig war uns
auch die mehrmalige Erwähnung und Aner-
kennung der drei von hyperkritischen Philologen
minder geachteten Gaudentius , Nicomachus,
Euclides (in Meiboms Sammlung); denn wenn
wir auch ihre Zeit, Person und Textüberliefe-
rung noch nicht überall beglaubt festgestellt be-
54
706 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 18.
sitzen, so sind dennoch Gaudentins plastisch
klare Scalenbilder, Nicomaohus mystische doch
scharfsinnige Speculationen, Euklides feine Be-
rechnungen höchst willkommne Ergänzungen in
die Lücken von Aristoxenus und Aristides
Quintilian. — Nicht zu übersehen ist ferner,
dass hier auf Aristoxenus gleichschwebende
Temperatur, die er selbst den Pythagoreern
gegenüber an einem greiflichen Beispiel darstellt
(S. 71, nach Aristox. Meib. p. 55. 116. vgl.
Aristid. Q. 235.), ausdrücklich hingewiesen
wird: denn wie klar und verständlich Aristox.
auch a. 0. spricht, dennoch hört man noch
neuerdings zweifeln an der antiken Kenntniss
der Temperatur. Das» sie solche besassen, ist
aus dem Aristox. Beispiel gewiss : dass sie' von
da aus nicht weiter gingen, nicht den kühnen
Schritt wagten zum mehrstimmigen Contrapunkt,
ist uns an sich unbegreiflich: es kann auch
nicht begriffen werden ohne tiefere historische
Vergleichung der alten und neuen Welt.
Ueber einige Schwierigkeiten der Lehre z. B.
die unmerkliche doch fühlbare Wirkung der
Sangtemperatur (47), und über Ghladnis Täu-
schungen des Gehörs (60) möchte vielleicht das
erwünschte Lehrer- Lehrbuch, dessen wir harren,
dereinst Auskunft geben. Wunderlich ist's, dass
auch ein massig gebildeter Hörer solches In-
einander Gleiten kämpfender Harmonien, wie hier
im Beispiel S. 29 und in Mozarts Ave Verum
8. 53 — wohl merkt, ja auffallig findet und
doch Versöhnung des Zwiespältigen fühlt, im
Menschengesang eher als im Instrumentale z. B.
wenn Beethoven Clav. Son. Gdur op 2 Haupt-
satz Ti 30. 36 und später mehrmals die Minder-
septime verwendet, welche auf dem Ciavier der
grossen Sexte gleich sieht: hier fühlt man die
Bellermann, D. Grosse d. mus. Intervalle etc. 707
schmerzliche Enge des Intervalls, obgleich der
Unterschied der MSept. und gr. Sexte kleiner
ist als ein Komma.
Eine exacte Temperatur vollkommen in Wirk-
lichkeit zu fuhren ist eben so unmöglich wie
Evidentes sinnlich sichtbar machen — daher
die gründliche Berechnung S. 61 vgl. 69 nur
dem Gedanken, nicht dem Stimmhammer ange-
hört. Wir können nur sagen: Quo altius scru-
tor, eo profundius submergor. Aehnliche Un-
me88lichkeiten, wie hier die allseitig schillernde
Strahlenbrechung der ewig ringenden Natur-
und Temperaturtöne ereignen sich auch in an-
deren Bezirken der geistbeweglichen Menschen-
werke, Poesie (Metrik, Rhythmik), Rhetorik,
Psychologie u. s. w.
Weil hier nicht alles Didaktische zu er-
schöpfen ist, gebe ich beispielsweise eine Er-
zählung, wie es einem Leser dieser Schrift in
seiner Jugend erging mit den Grundlagen der
Tonlebre , einem gewöhnlichen Menschenkind
ohne bedenkliche Gelehrsamkeit oder Geniali-
tät. Dem war beschieden wie manchem anderen,
die Grundlagen der Tonkunst kindlich brocken-
weis aufzulesen« Aus einem flüchtigen Anklang
im Geigenstrich — namentlich der tieferen
Geigen Viola, Gamba, Violoncello — danach in
der aushallenden Ciaviersaite, erhub sich ihm
die erste Ahnung des Urphänomen, des Drei-
klanges der Naturtöne, was ihm alsbald
einleuchtete als consonantia perfecta, una et
indivisibilis : begreiflich nicht selbsterfunden aber
nachempfunden , doch unwanksam feststehend
als alles Wohlklangs Quelle und Ziel. Von
aussenher hinzu gebracht ward dann die Ton-
leiter, scala diatonica, aller menschlichen
Tonbildnerei Anfang, Mittel und Werkzeug: die
54*
708 Gott. gel. Abz. 1873. Stuck 18.
erschien ihm bei wachsenden Bewusstsein als
Wandeln der Stimme innerhalb jener Urgestalt,
als Auf- und Abstreben im Octavenbereich:
menschlich, nicht natürlich, aber wie der Mensch
in Natur gebunden. — Im weiteren Aushören
der mancherlei Geigen- und Ciaviertöne, zwi-
schen schillernden und gedämpften Dreiklängen,
ward dem sinnlichen Gehör allmälig kund, wie
mancherlei Stellung Ein Ton in mancherlei Ver-
bindung gewann. Deutlich trat dieses zuerst
hervor in der Erkenntnisse dass die C-Terz E
tiefer erklang als die A-Quinte E. Welches war
das richtige? Sollten beide richtig sein, wie
das hermaphroditische Ciavier aussagte? Un-
möglich t Da kam der Ciavierstimmer und
machte seine Künste, ein Mittleres heraus zu
bringen, das beiden Dreiklängen diente; das
erklang dem Jungen unrein in sich selber,
brauchbar zur Noth. Und als der listige Kunst-
mensch des erstaunten Knaben Frage aus den
Augen las und feierlich dazu sprach: Mein
Sohn, solches heisst man Temperatur! — da
prägte eich das Wort ein, als Zauberwort, das
viel zu denken gab.
Solchen und ähnlichen Gang haben manche
Jünger der wunderbaren Kunst, die mehr Un-
ausdenkliches besitzt als alle übrigen, wohl auch
im Stillen durchgemacht. Mir däucht, es sei
der richtige , mindestens nächste Weg zum
sichern Fundament für alle Zeit, und somit die-
jenige Lei) re wohl bestellt, die ihn zum grund-
legenden Anfang machte, statt des falschen
nur scheinbar bequemeren Ausganges von der
Literalfigur der Scala sammt Halbtönen und
chromatischen Namen-Reihen. Auf demselben
natürlichen Wege wie die Muttersprache vom
Munde der Mutter in des Kindes Herz einfliesst,
Bellermann, D. Grösse d. mus. Intervalle etc. 709
würde auch im Tongebiet die Empfängniss des
Ohres und die Selbsttbätigkeit des Geistes sich
in liebreicher Wechselwirkung bezeugen. Auf
jener Bahn fliesst der goldne Strom lebendiger
Tonwelt aus und ein, Sinn und Seele zu befruch-
ten; die andre Bahn fährt ohne besonders
günstigen Naturtrieb oder spätere schmerzlich
eingeprägte Lehre gar häufig zum Unglauben
an die Kunst, zur Verödung des Gemüthes, das
endlich alle Kunst zum Amusement erniedert
und den Goldschaum der Jugend abthut, wenn
die Tage kommen, da man was Guts in Frieden
essen will.
Will man gar, wie einmal vorgeschlagen
ward, den Anfang noch weiter zurück stellen,
und das Rein-Elementare als absolut Gewisses
voraus geben, so erscheint auch dieses nicht zu
philosophisch fur die Kinderlehre. Das Absolut-
gewisse ist der Unisonus = Gleichklang, Ein-
klang, ähnlich dem mathematischen Anfangssatz
a = a. Eben so wie diese scheinbar inhalts-
leere Tautologie doch der exaktesten aller Wis-
senschaften unentbehrlich, sogar praktisch ver-
wendbar ist: so ist der Unisonus dieses a = a
|| richtig a = at || — eigentlich Consonantia
anteprima, primissima, 2vpq>oavia nqooxiax^ vor
der 2. n^tizy Jumaaüv. — Dieser Satz a = at
kann sehr gut zur Mitübung, öfter zur Prüfung
und Erweckung des schlafenden Tonsinns bei-
tragen. Wo zwei Geigen bei einander sind,
deren eine gestrichen wird — (auf leerer Saite)
— da wird die andere gleich gestimmt ant-
worten im Mitklang, ungleich gestimmt stumm
bleiben. Wo von zwei Kindern eines den Ton
angibt, das andre nachsingen soll, da wird
auch das ungeübte Ohr wahrnehmen, ob beide
Töne gleich sind oder ungleich : noch schlagen-
710 Oött. gel. Anz. 1873. Stück 18.
•der ist der Versuch, wo drei zusammen ste-
hen, die abwechselnd hören, singen nnd urthei-
len. Wir erwähnen dieses ausdrücklich, weil so
manchmal Klage geführt wird über tonarme, ja
tonlose Schüler, von denen doch ein gut Theü
erwachen, den Sinn erschliessen würde, wenn
man erstlich die Probe des Dnisonus machte,
danach die Octave, drittens aber nicht die
Scale, sondern den Dreiklang vorführte in gleich-
zeitigen Versuchen mit Sang und Spiel. Und
aus eigener Erfahrung bezeugen wir, dass
schwächer begabte sogenannt Unmusikalische
weit eher den Urdreiklang richtig nachsingen als
die Tonleiter, welche selbst geübten Sängern an
den Notae sensibiles — Semitonium sammt
Nachbarn — zuweilen schwierig wird.
Weil nun aber das Urphänomen von jeher
vorhanden, auch vorchristlichen Völkern wenig-
stens dunkel vorschwebte, wie denn bereits ge-
wisse Andeutungen von consonirender Terz bei
Archytas 400, Eratosthenes 280, Didymus 38
v. G. gefunden werden — dennoch aber dasselbe
nicht früher als im christlichen Mittelalter als
gruudlegendes Axiom für gültig erkannt ist: so
hat die spätere Wissenschaft sich bemüht, eben
diese Gültigkeit zu beweisen, obgleich
manche Theoreten auch ohne das dessen Be-
weiskraft fest hielten gleichwie die Wahrheit,
die ihrer selbst und ihres Gegentheils Zeugniss
sei*). — Von den akustischen und physiologi-
schen Beweisen ist hier nicht ausführlich zu re-
den, nur einzelne Punkte wären noch zu erwa-
*) Verum index eui et falsi vgl. 1 Ep. Job* 4. 6
bildlich ausgelegt in dem Epigramm
Deeine cor nemo videat sine numine numen
Mirari: Solem quis sine Sole videt?
1
2
3
4
5
c
c
g
o'
e'
1
V«
V»
7*
V»
60
30
20
15
12
Bellermann, D. Grösse d. mus. Intervalle etc. 711
gen, um des Verf. übrigens so einleuchtendes
System zu vervollständigen.
Es ist bekannt, dass in der Urgestalt des
Dreiklangs, welche sich aufbaut in der Reihe
10 20 SO 40 50 60 Schwingungen (Be-
6 (wegung)
g'
Ve Saitenlänge (Körp.)
der gebrochene Klang den Grundton 3 mal, die
Quinte 2 mal, die Terz 1 mal vernehmlich macht
in abnehmender Tonstärke nach der Grösse de*
Theile. Man sagt, dieses seien die ächten Na-
turklänge, die in sich selbst Anfang und Ende
haben, mitbin ein Gleichniss friedlicher Erfüllung
geben, und dieses bezeuge sich in der Einfach-
heit der Verhältnisse; diese einfacheren Ver-
hältnisse seien Ursach der Fasslichkeit, Grund
der Consonanz; was drüber hinaus gehe, be-
wege sich in schwierigeren Verhältnissen, daher
sei mit der 6 — oder 1/q oder 6/« die Gränze
der Consonanz gegeben (S. 21. 70). Nun
ist dies zwar im § 27 und § 15 anschaulich ge-
macht an der aus Dreiklängen gebildeten Scala,
und die thörichte Skepsis des relativen Den-
kers A. B. Marx mit Fug und Recht zurück-
gewiesen : weil aber im weiteren Ausklang aller-
dings die Septime (S. 22) und ausserdem andere ver-
schwebende Töne, Doppelbrüche (wie | Ce gis8)
zuweilen vernehmlich werden: so müsste jenes
Muss der unverrückbaren Gränze etwas stärker
eingeimpft werden zur Strafe derjenigen, die
vor lauter relativen Gedanken nicht zum abso-
luten Begriff der Consonanz gelangen. Dass sich
aus dem blossen Wohlklang die Zulässigkeit
eines Intervalles nicht beweisen lässt (23), ist
712 Gott, gel Anz. 1873. Stück 18.
wohl richtig, weil alles Evidente übersinnlich ist;
desto wichtiger würde eben hier sein, den nächst-
folgenden Satz vom »geregelten harmonischen
Zusammenhange« mit jenem früheren enger zu
verketten, welcher die Bildung der Tonleiter
darstellt als in sich geschlungene Periode dreier
Dreiklänge, die vollkommen gleichmässig harmo-
nisches Verhältniss zu einander haben, nämlich
dreimal 2 : 3 (vgl. S. 23—21—20—17) in
rationaler Progression, was ausser diesen dreien
innerhalb Einer Tonart unmöglich wäre.
Nähme man noch hinzu die Erklärung der
intermittirenden Tonwellen als Quelle
der Dissonanz (Helmholz Tonempfindungen S.
277) nebst der modernen Lehre von den Com-
binations-Tönen: so hätte man ein rund-
bildliches System der arithmetischen, physikali-
schen, physiologischen Erscheinungen, aus denen
die musikalische Urgestalt sich bilde, als Herz
im Leibe des Ton-Gebildes, gleichwie die Sonne
im Sternenkreis.
Dies Alles zwar mehr für Denker und Ge-
lehrte; für Volkslehrer und Schüler würde frei-
lich genügen die einfache Grundrechnung an
klingender Saite anschaulich, d. h. hörbar und
sichtbar zu machen, woraus dann der Verstand
sich entwickle vonünisonus Dreiklang Tonleiter
und Mehrstimmigkeit.
Die grundlegende Methode wird in Wissen-
schaft und Einderlehre immer verschieden sein,
die obere und untere Lehre in Eins bilden kann
niemals gelingen. Wohl aber ist es namentlich
für Lehrerschulen in Seminar und Univer-
sität möglich, Tiefsinn und Volkstümlichkeit
zu verbinden; wir haben treffliche Beispiele aus
neuester Zeit, weniger freilich auf dem psy-
chologisch menschlichen als auf plastisch natür-
Bellermann, D. Grösse d. mus. Intervalle etc. 713
lichem Gebiete, wo die Meister der Lehre nicht
verschmähen die Muttersprache ihrer Jugend zu
reden, so class sie dem geistsuchenden Jünger
einleuchtet, z. B. in Anatomie, Chemie, Physik
— dagegen ein gut Theil Grammatisten noch an
den apeptischen Borborygmen alexandrinischer
Dialektik laborirt, wenn sie dem Schäler die
natürlich schönen Spracbgebilde darstellen oder
gar die unbekannte Grösse des rhetorischen (rei-
nen und temperirten !) Styls eintrichtern sollen.
— Weder hier noch sonst würden, wir der
Schule eine einzige starre Methode*) als
Exercir- Reglement wünschen ; der eigentliche
Lehrgang intra parietes wird immer etwas Local-
farbe des Lehrers annehmen; genug wenn nur
Leben vorhanden ist in Wahrheit und Liebe. —
Weil wir unserm Verf. nach Ansicht seines con-
trapunctiscben Lehrbuchs nun hier besonders
berufen glauben, so würden wir ein Schul- Lehr-
buch über die reine Gesanglehre aus seiner Hand
besonders willkommen heissen : ein solches näm-
lich, das nicht mit forte, piano, Schwellung,
Triller, Virtuosität und Dynamik und anderen
Schauspielereien die Jugend principiell verdürbe,
sondern wie hier im Buche geschieht, die Rein-
heit der Harmonie als A und 0 predigte. — Es
ist nicht Allen bewusst, aber unbefangenen Men-
schen überall fühlbar, dass reiner Gesang be-
lebend wirkt, durchschlägt, die Seele füllt mit
wahrhaftigen Tongebilden, während die welschen
Manieren, welche nur dynamitisch experimen-
tiren ohne Tonreinheit, das Gegentheil der
Kunst erwirken, das Eunsturtheil verwirren, die
*) Wie denn z. B. ein Befehl von oben herab, das
Lautiren statt des Buchstabirens allgemein zu machen,
unvernünftig erscheint; kaum Rassen and Tarken war»
den in solchem Drathnets besser dressirt als heute.
TU Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
Liebe zur Kunst vernichten, weil sie vergessen:
Mens sana in corpore sano; daher denn massig
begabte Stimmen reinsingend besser klingen und
seelhafter wirken, als glänzende Stimm-Mittel
mit pariser Schule und römischer verve ohne
Reinheit. Und dasselbe gilt für einstimmigen
Gesang wie fur Chorgesang, im vocalen und in-
strumentalen Gebiete gleichermassen.
E. Krüger.
Romanische Studien herausgegeben von
Eduard Boehmer, ord. Professor der Ro-
manischen Sprachen an der Universität Halle.
Heft U. Quaestiones grammatioae et etymolo-
gicae. Halle a. S., 1872, Verlag der Buchhand-
lung des Waisenhauses.
Zieht man die letzten sieben Seiten dieses
Heftes ab in welchen der Herausgeber eine
Uebersicht der jüngsten Schriften über Romani«
sehe Sprachen und Schriften in Deutscher
Sprache mittheilt, so bezieben sich die übrigen
Aufsätze, theils Französisch theils Lateinisch ge-
schrieben, mit einer geringen Ausnahme nur auf
solche Gegenstände bei welchen das Romanische
vielfach ins Morgenländische und dieses in jenes
einspielt. Das Ineinanderspielen dieser zwei
weitschichtigen Fächer unserer Erforschungen
ist in der That viel weiter greifend als man ge-
wöhnlich . meint; und dem Herausgeber dieser
Zeitschrift kommt dabei zu statten dass er in
dem Morgenländischen Fache nicht ganz ohne
eigne Erfahrung und Eenntniss ist.
Juden wohnten im Umfange des später so«
Boehmer, Romanische Stadien. Heft II. 715
genannten Frankreichs gewiss schon vor 4er
christlichen Zeit, wie sich aus mancherlei An«
zeichen ergibt; wir halten es fur zu wenig wenn
dafür S. 163 vermuthet wird sie hätten späte-
stens seit dem Anfange des fünften Jahrhunderts
nach Chr. dort gewohnt. Bevor sie also in den
letzten Jahrhunderten . des Mittelalters von dort
ausgetrieben wurden und sich immer dichter
nach Deutschland und Italien wandten, hatten
sie sich auch ganz an die dortigen Landes-
sprachen gewöhnt und darüber das Hebräische
stark vergessen. So fingen denn einzelne Ge-
lehrte unter ihnen an in Büchern das Hebräi-
sche durch das Französische verständlich zu
machen: und dies ist allerdings schwerlich früher
als seit dem elften und zwölften Jahrh. nach
Chr. versucht, nachdem von der einen Seite im
Morgenlande ein neuer mächtiger Antrieb die
altheiligen Schriften auch wissenschaftlich ge-
nauer zu verstehen emporgekommen war und
sich dann auch nach Spanien und Frankreich
verbreitet hatte, von der andern in Frankreich
selbst das Neurömische d. i. Komanische Schrift-
thum sich zum ersten Male selbstständiger aus-
zubilden begonnen hatte. So theilt der durch
mancherlei Arbeiten aus dem Gebiete des spä-
teren Hehräischen und des Arabischen Schrift-
thumes schon rühmlich bekannte Dr. Adolph
Neubauer hier aus einer Bodleyischen Hand-
schrift ein alphabetisches Verzeichniss von 1162
Hebräischen Wörtern mit, von welchen jedes
duroh ein Französisches erklärt wird, sofern es
nicht etwa ein Eigenname ist. Man kann hier
so recht in die ersten Anfänge einer Hebräi-
schen Sprachwissenschaft hineinsehen. Die
Reihe richtet sich nach dem Alphabete, aber
bloss was den Anfangsbuchstaben der Wörter
716 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 18.
betrifft. Von einer Kenntniss der Ableitungen
und Abtheilungen der Wörter nach ihren Wur-
zeln ist hier noch keine Spur. Aber auch
ausserdem ist hier manches auffallend und wird
durch die Herausgeber nicht erläutert, z. B.
warum das Wort oro sowohl im Sinne unsres
Fleck als im Sinne (wie die gelehrte Erklä-
rung hier lautet) eines Edelsteines (und diese
Erklärung igt selbst sehr denkwürdig) hier in
der Mehrzahl D^ttro aufgeführt werde, obgleich
dazu weder das Hebräische selbst noch (wenn
die vom Herausgeber beigefugte Lateinische
Uebersetzung des Altfranzösischen richtig ist)
das Altfranzösische eine Rechtfertigung gibt.
Uebrigens sind diese 1162 Wörter offenbar bloss
dem Biblisch-Hebräischen entlehnt: und doch
ist die Hebräische Schrift der Französischen
Wörter ohne alle Vocalpuncte gelassen, wodurch
die Aussprache hätte deutlicher werden können.
Dies geschieht aber in einer Leipziger Hand-
schrift welche die Hebräischen Wörter der Psal-
men nach deren Reihe durch Französische er-
klärt und woraus der Herausgeber hier S. 216
— 220 Auszüge mittheilt. Der Nutzen jedoch
aller solcher Schriften liegt vorzüglich nur darin
dass man daraus am deutlichsten einsehen kann
wie das Französische in jenen Jahrhunderten
lautete: wiewohl zu dem Zwecke wieder genau
zu erforschen ist in welcher Weise die damali-
gen Französischen Laute durch die Hebräischen
Buchstaben ausgedrückt seien.
Von S. 221 an beginnt eine Abhandlung
über ein (wie es hier h eis st) sehr altes Ara-
bisch-Lateinisches Wörterbuch, dessen Zeitalter
jedoch hier nicht genau bestimmt wird, auch
wohl erst genau genug bestimmt werden könnte
wenn es gedruckt vorläge; und da es sich in
Boehmer, Romanische Stadien. Heft II. 717
Leyden findet, so hätte man wohl von dort längst
einen solchen Druck erwartet. Jedenfalls geht
es weit bis über die Zeiten zurück wo das Ara-
bische unter uns ein Gegenstand wissenschaft-
licher Arbeiten wurde : und so erinnert es uns
lebhaft an den 1871 zu Florenz von Schiaparelli
herausgegebenen Vocabulista in Arabico, über
welches Werk in den Gel. Anz. des vorigen Jah-
res S. 1028 ff. ausführlich geredet wurde. Die«
ses scheint dem Herausgeber noch unbekannt zu
sein: aus der Leydener Handschrift aber theilt
er S. 230 Acht arabische Farbennamen und de-
ren Uebersetzung in Romanischer Sprache mit.
Das Arabische hat eine ungemein grosse Menge
von Farbennamen; wie es überhaupt für alle
sinnlichen Begriffe von Haus aus so reich und
so bestimmt ist wie kaum eine andere Sprache.
Allein die Erklärung solcher Farbennamen wel-
che die alten Arabischen Sprachgelehrten in ih-
ren Wörterbüchern und sonstigen Schriften in
Arabischer Sprache selbst geben, sind höchst
ungenügend, weil Farbennamen schwer beschreib-
bar und am deutlichsten nur durch die ent-
sprechenden anderer Sprachen wiedergebbar sind.
Insofern haben denn auch solche alte Ueber-
setzungen aus jenen Zeiten wo man alle solche
Farbennamen noch sehr gut im einzelnen unter-
schied, ihren bedeutenden Werth für uns. Man
wird daher auch sehr gerne die längere Abhand-
lung über die Pferdefarbennamen lesen,
welche der Herausgeber S. 231—294 hier an-
knüpft. Er handelt hier solche Namen aus allen
bekannteren Sprachen ab, und entfaltet dabei
eine weitausgebreitete Gelehrsamkeit. Auch die
in der Bibel Zakh. 1,8. 6, 2—8. Apok. 6, 2—8
vorkommenden Namen dieser Art werden hier
theilweise berücksichtigt: und bei ihnen ist die
718 Gott, geh Anz. 1873. Stuck 18.
richtige Erkenntnis der verschiedenen Farben
um bo wichtiger, je mehr der Sinn der ganzen
Beschreibung der dort vorgeführten hohen Dinge
zugleich von ihr abhängt. Wir wünschten nur
der Verf. hätte diese Farben wie sie an jeder
der drei Stellen sich finden, übersichtlich zu*
sammengestellt und erläutert, weil erat eine
solche alles umfassende Uebersicht uns eine
Bürgschaft dafür geben kann das 8 der Sinn der
einzelnen Farbennamen in solchen Fällen richtig
genug wiedererkannt ist. Indessen reicht die
vorliegende Abhandlung viel guten Stoff zu sol-
chen Uebersichten. H. E.
Rein ecke, Hermann, Rector der Mittel«
schule zu Osterholz-Scharmbeck: Die allgemei-
nen Bestimmungen vom 15. Octoher 1872 und
die Mittelschule in der Provinz Hannover. Mit
einem ausführlichen Lehrplan für eine Mittel-
schule. Hannover, Karl Meyer, 1873. 64 Seiten.
Die Mittelschule ist, wie das auch der Verf.
ganz richtig aus einander setzt, hauptsächlich
ein Bedürfniss der kleineren Ortschaften, der
Städte, wo keine Gymnasien und Realschulen
sind. In den grösseren Städten, wo die letzt-
genannten Anstalten vorhanden sind, tritt dies
Bedürfniss weniger hervor, weil dort auch die-
jenigen Classen der Bevölkerung, welche es nicht
auf den vollen Cursus der höheren Bildungsan-
stalten abgesehen haben und doch sich auch
nicht mit dem begnügen können, was die ge-
wöhnlichen Volksschulen darbieten, • wenigstens
an den unteren Classen jener Anstalten theilzu-
nehmen im Stande sind. Dient dies ja wohl
Börnecke, D. allgemein. Bestimmungen etc. 719
auch nicht gerade zu einer Förderung der Gym-
nasien und Realschulen, und gewährt es auch
den in Rede stehenden Schülern keineswegs den
vollen Nutzen, den -sie haben würden, wenn eine
ihren Bedürfnissen entsprechende und auf diese
hin eingerichtete Mittelschule vorhanden wäre, so
ist es doch zum Mindesten ein Nothbehelf. Da-
gegen in den kleineren Städten, wo jene höhe-
ren Unterricht8anstalten nicht sind und sein
können, ist die Mittelschule, die eine Stufe über
der gewöhnlichen Volksschule liegt, ein dringen-
des Bedürfniss, und auch Ref. weiss aus Erfah-
rung, welche Noth es macht, gerade da für die
Kinder der Mittelclassen den ausreichenden Un-
terricht zu beschaffen; der Verf. aber hat ganz
Recht, wenn er von »Privatschulen ohne feste
Organisation« .sagt, dass sie »die grosse Lücke
zwischen Volksschulen und höheren Schulen nur
nothdürftig und unzureichend auszufüllen« im
Stande seien.
Eben deshalb ist es nun aber auch ein grosses
Verdienst der im Titel genannten Falk'schen
Verordnung vom 15. Oct. 1872, dass in ihr auf
die Bildung von »Bürger-, Mittel-, Rector- und
höheren Knaben- und Stadtschulenc, überhaupt
von solchen Schulen, welche den Bedürfhissen
des mittleren Bürgerstandes entgegenkommen,
die gebührende Rücksicht genommen und aner-
kannt worden ist, dass »es den Anforderungen
der Gegenwart entspricht, nicht nur die be-
stehenden Anstalten dieser Art weiter zu ent-
wickeln, sondern auch die Neuerrichtung dersel-
ben seitens der Gemeinden thunlichst zu för-
dernc, und eben so darf es als ein Verdienst
des Verf. bezeichnet werden, dass er diesen
Schulen die hier vorliegende und auf eigene
längere Erfahrung gegründete, äusserst sachge-
720 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 18.
mässe Beleuchtung hat zu Theil werden lassen«
Denn das muss nun von dieser Arbeit gesagt
werden, dass der Verf. in ihr gezeigt hat, wie
er mit dem Wirkungskreise und den Zielen und
Mitteln der in Bede stehenden Schulen durch-
aus vertraut ist, und dass er deshalb auch aus
seiner Erfahrung heraus überaus werthvolle
Eingerzeige giebt, die bei der Errichtung ähnli-
cher Anstalten wohl zu beachten sein dürften.
Vor allem beachtenswerth sind jedoch die
beiden der Schrift angehängten Lehrpläne fur
eine Mittelschule, namentlich der letzte, aus-
führlichere, wie er in der von dem Verf. selbst
geleiteten 8. g. Rectorschule zu Osterholz-Scharm-
beck auch wirklich eingeführt ist. Ref., der
sich in Beziehung auf diese Dinge auch einige
Erfahrung zuschreiben darf, wüsste in der That
nicht, was im Wesentlichen an dem hier vorge-
zeichneten Unterrichtsgange zu ändern wäre,
namentlich wenn man bedenkt, dass diese Mittel-
schulen zugleich auch die Bestimmung haben
und haben, müssen, eine Anzahl ihrer Schüler
für das Gymnasium vorzubereiten, und was hier
namentlich als sehr dankenswerth bezeichnet
werden muss, das sind die sehr eingehenden
Erläuterungen, mit denen der Verf. seinen Lehr-
plan versehen hat. Eben durch diese gewinnt
man rechte Einsicht in das eigentliche Leben
der Anstalt, und Bef. ist überzeugt, dass nicht
leicht Jemand diesen Theil der Schrift aus den
Händen legen wird, der sich durch denselben
nicht angeregt und gefordert gefunden hätte.
Sei das kleine, aber inhaltreiche Buch denn der
Beachtung bestens empfohlen 1
F. Brandes.
721
Der Todtentanz in der Marienkirche zu Lü-
beck. Nach einer Zeichnung von C. J. Milde,
mit erläuterndem Text von Prof. W. Mantels.
Lübeck, H. 0. Rahtgens 1866. 8 Steindruck-
tafeln. 14 SS. Text. qu. Fol.
Der Lübecker Todtentanz. Ein Versuch zur
Herstellung des alten niederdeutschen Textes
von Dr. Herrn. Baethcke. Berlin, Calvary 1873.
80 SS. 8.
Wenn Ref. mit der Besprechung der zweiten
oben genannten Schrift die Anzeige seiner eige-
nen Arbeit verbindet, dient er allerdings seinem
Interesse, indem er dadurch Gelegenheit erhält,
seine Ansicht dem Verf. der zweiten Schrift
gegenüber näher zu begründen. Er würde aber
auch ohne diese willkommene Veranlassung zur
Selbstanzeige haben greifen müssen, um die ver-
dienstliche Zeichnung Milde's in weiteren Krei-
sen bekannt zu machen, da durch allerlei Un-
gunst der Verhältnisse es dem Verleger, einem
Buchdrucker Lübecks, nicht hat gelingen wol-
len, seinem Unternehmen die nöthige buchhänd-
55
Gff ttingiseh e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König!. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 19. 7. Mai 1873.
722 Gott, gel Anz. 1373. Stuck 19.
lerische und literarische Fürsprache zu ge-
winnen.
Der allgemein bekannte Lübecker Todten-
tanz ward 1783 zuerst durch den Buchhändler
Chr. Gottfr. Donatius auf acht Kupfertafeln
schwarz und colorirt herausgegeben in einer für
damalige Verhältnisse immerhin beachtenswer-
ten Ausstattung. In einem Bogen Text fugte
Ludw. Suhl einige Bemerkungen über denselben,
so wie den erhaltenen Rest der niederdeutschen
Verse hinzu, welche vor 1701 an Stelle der
S* tzigen hochdeutschen standen. 1830 hat der
aler Hauttmann den Todtentanz in kleinerem
Format auf Stein gezeichnet, und nach dieser
Zeichnung ward eine kaum kenntliche Skizze den
Beschreibungen des Gemäldes beigegeben, die
man seit dem vorigen Jahrhundert in der Kirche
oder bei dem benachbarten Rathsbuchdrucker
den Schaulustigen in herkömmlicher Weise ver-
kaufte.
Alle diese Darstellungen lieferten aber keines-
wegs ein getreues Abbild der Eigentümlichkei-
ten des Gemäldes, und so fertigte der Maler
Milde, welcher 1852 den Todtentanz reinigte,
eine farbige Gopie desselben an. Diese ward
dem genannten Buchdrucker zur Herausgabe
überlassen, in dessen Officin auf Stein gezeich-
net und in 6 Platten zu Lübeck, in den beiden
letzten zu Berlin gedruckt.
Ref. ward um die Beigabe eines Textes an-
gegangen, sträubte sich aber lange , weil es un-
möglich schien, zu den wenigen bekannten Da-
ten über den Todtentanz, die selbst ein For-
scher, wie Deecke, ohne Aenderungen wieder-
gab, etwas Erhebliches hinzuzufügen. Erst eine
nähere Erwägung des Vorgefundenen brachte
ihn auf die rechte Fährte. Die gewöhnlichen
Mantels, D. Todtent. I d. Marienk. z. Lübeck. 723
Beschreibungen, auch Suhl, fabelten von chro-
nikalischer Ueberlieferung, aber in den Chroni-
ken stand nichts. Alle Angaben von Jahres-
zahlen wiesen auf von Melle's Gründliche Nach-
richt von Lübeck zurück (1. Aufl. 1713), vor
dieser ward des Gemäldes nur obenhin gedacht.
Woher hat M. seine genaueren Angaben? Er
war fast 60 Jahre Geistlicher an Marien —
also aus dem Eirchenarcbive. Und richtig, in
den Wochenbüchern des Werkmeisters fanden
sich zu jeder bei M. angegebenen Restauration
des Bildes die Belege. Diese Ausgabebücher
enthielten also das einzige urkundliche Material,
und es galt nun, die dürren Notizen für die Er-
ledigung der Fragen nach Alter, früherer Be-
schaffenheit des Gemäldes u. s. w. fruchtbar zu
machen. Dabei musste einerseits die Localität
des Todtentanzes (sowohl die Kirche als die
Gapelle) und das noch vorhandene Gemälde,
andererseits die Analogie der ausserlübischen,
namentlich norddeutschen Todtentänze in die
Untersuchung hineingezogen werden« Das Letz«
tere ist nur in so weit geschehen, als es für
den Lübecker TT. zur Erläuterung diente, von
eingehenderen Fragen nach dem Verhältnisse
der einzelnen Bilder und Texte zu einander stand
Ref. ab, um den nächstliegenden Zweck einer
beschreibenden Beigabe zum jetzigen Lübecker
Gemälde nicht zu beeinträchtigen. Nur den in
Lübeck bisher ganz unbekannten Todtentanz«
druck von 1520 fügte er seiner Untersuchung
als Anhang bei.
Der wichtigste Gewinn aus den Wochen-
büchern war die Gewissheit, dass 1701 so viel
Leinwand für den TT. angeschafft ward, als
seine Länge und Höhe beträgt, dass also diese
Bestauration eine völlige Copie war. Von Melle
724 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
in seiner Griindl. Nachr. (und in deren um-
fangreicheren handschriftlichen Grundlagen, der
Lubeca religiosa und der Ausfuhr!« Beschrei-
bung von Lübeck) spricht auch 1701 nur von
Reparirung und Renovation des TT., so dass be-
greiflicher Weise alle Späteren auch damals nur
eine Ausbesserung und Auffrischung annahmen,
keine gänzliche Erneuerung. Zwar hat Zietz,
wie Ref. erst nach 1866 ausfindig machte, in
sein Handexemplar der Ansichten von L. die
Bemerkung geschrieben, dass der jetzige TT.,
weil auf Leinwand, späteren Ursprungs
sein müsse, als 1463, und diese Notiz in seinen
Merkwürdigkeiten der Marienkirche 1823 ab-
drucken lassen, aus welchen sie in Wackerna-
gers Aufsatz über den TT. (Haupt's Ztschr. Bd.
9 S. 320) überging. Wie wenig Einfluss dies
aber auf die Ueberlieferung gehabt hat, geht
daraus hervor, dass noch Deecke in der Freien
und Hanse-Stadt Lübeck von Uebertünchung
der niedersächs. Verse und Uebermalung des
Bildes spricht.
Durch den Nachweis, dass der neue TT.
von 1701 die sorgfältige Copie eines schlichten
Malermeisters Anton Wortmann ist, löst sich
denn auch das Räthsel, woher es komme, dass
er bei unverkennbaren Handwerksmängeln ge-
treue Spuren des Alterthums bewahrt bat. Am
Faden der frühereil Wocbenbuchsnotizen, durch
zusammenhangende Erörterung über den Aus-
bau des Theils der Kirche, in welchem sich die
TT.-Capelle befindet, und durch Beibringung der
ältesten Zeugnisse über den TT» glaubt Ref.
nun ferner den Beweis geführt zu haben, dass
das Gemälde früher auf Holz, nicht auf die
Mauer gemalt gewesen, dass es seinen Platz nie
geändert hat, und dass die auf dem Püdfl w-
Mantels, D. Todtent. i. d. Marienk. z. Lübeck. 725
wähnte Jahreszahl 1463 mit der Zeit seines
Entstehens nahe zusammenfallt. Das Letztere
bezeugt auch die Tracht der Figuren. Das be-
stimmte Datum 1463 Maria Himmelfahrt Abend
konnte auf den Fortsetzer Detmars (Lüb. Ghron.
2, 278) zurückgeführt werden, der des Tages in
der Erzählung von den Pestjahren 1463 und
1464 (so ist S. 4 Anm. 10 zu verbessern) ge-
denkt.
Als Ref. auch die niedersächsischen alten
Unterschriften, die gleichfalls nur von Melle auf-
bewahrt hat, seinem Texte anfügen wollte,
mus8te er sich sehr bald davon überzeugen,
dass hier eine stärkere Störung des Zusammen-
hangs der gereimten Strophen vorliege, als
v. Melle beachtet zu haben scheint, und die,
welche sie später wiedergaben oder lasen — Ref.
scblie8st sich selber nicht aus — , bei oberfläch-
licher Betrachtung vermutheten. v. Melle theilt mit,
was er davon entziffert hat, ungefähr die Hälfte,
nämlich 4 Zeilen der Eingangsstrophe des To-
des und von dem Gespräch mit den zum Tanze
Gerufenen Strophe 24 bis 47, nach der jetzigen
Anordnung und von Melle's Annahme die Rede
und Widerrede vom Domherrn an bis zur Jung-
frau enthaltend. Darauf lässt v. Melle das oben
angeführte Datum A. D. 1463 in vig. Assumcio-
nis Marie folgen, somit den Text abschliessend,
ohne Angabe einer weiteren Lücke. Die zwei
bei Suhl dem Kinde in den Mund gelegten
Zeilen:
0 dot, wo schal ik dat vorstan etc.
sind erst nach von Melle überliefert.
Wenn man die Strophen in v. M.'s Reihen-
folge und mit den von ihm gegebenen Ueber-
ßchriften »der Tod zum Thumherrn, der Thum-
726 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 19.
herr antwortet, der Tod zum Edelmann« u. s. f.
liest (Vgl. Baethcke S. 7 ff.), bekommt man zu-
nächst den Eindruck einer ungeheuren .Gedan-
kenlosigkeit, wie sie wohl bei rein mechanischem
Abschreiben und Entziffern selbst einem Ge-
scheuten passiren kann, so dass Ref. nach dem
einfachsten Schlüssel suchen musste, um sich
zu erklären, wie es möglich war, dass v.M. bei
seiner sonstigen Kunde von solchen Alterthu«
mern in späteren wiederholten sorgfältigen Ab-
schriften den einmal registrirten Unsinn fest-
halten konnte. Dieser Schlüssel fand sich zu-
erst in den lieber Schriften, die, da M. sie hoch-
deutsch giebt, früher vielleicht ganz fehlten,
jedenfalls im alten Texte nur gelautet haben
können: de dot, de cannonik, de dot, de eddel-
man u. s. f. Lässt man v. M/s Zusatz »zum
Thumherrn, zum Edelmann c u. 8. w. weg, so
kann der Tod seine Strophe in den ersten 7
Zeilen auch an den Vorhergehenden gerichtet
haben, nur die letzte braucht eine Aufforderung
zum Tanze an den Folgenden zn enthalten.
Und in der That, so aufgefasst ergaben die mei-
sten Strophen einen klaren und vernünftigen
Zusammenhang. Es ward zur zwingenden Not-
wendigkeit, dass z. B. in Str. 24 die Pacht, von
welcher Z. 5 redet, einer andern Person gelten
musste, als die mit Kannonik beginnende Schluss-
zeile; dass Str. 34 der Z. 8 genannte Amtmann
nicht derselbe sein kann, welcher wegen seiner
nicht hohen Lebensstellung in den übrigen Zei-
len gepriesen wird ; dass Str. 36 die Kopenscop
(Z. 2) ebenso wenig zum Küster (Z. 8) gehört,
wie Str. 38 die Hinweisung auf Gottes Wort
und dessen fleissige Lehre zum Kaufmann oder
Str. 40 die allgemeine Betrachtung über die
Mantels, D. Todtent. i. d. Marienk. z. Lübeck. 727
amteslude zum Klausner der letzten Zeile. Aber
auch nach dieser allein richtigen und, wie Ref.
später noch nachweisen wird, geradezu unum-
stösslichen Auffassung der dem Tode in den
Mund gelegten Strophen als einer Wechselrede,
von welcher immer die letzte Zeile einen neuen
Todescandidaten auffordert, die 7 ersten auf die
vorgebrachte Entschuldigung und Bitte um Re-
Bpit entgegnen — blieb noch ein Rest von Ver-
schiebung übrig, welcher sich darin kenntlich
machte, class der Tod dem Amtmann von Kauf-
mannschaft spricht (Str. 36), dem Kaufmann
»Gi amtesludec erwidert (Str. 40). Der blosse
Hinblick auf die Worte des Amtmanns »min
hantwerk« (Str. 35) liess ihn als den Handwer-
ker des M. A. erkennen. Schon die mittelalter-
liche Rangordnung weist diesem seinen Platz
nicht vor dem Kaufmann an, wie es im heuti-
gen Bilde der Fall ist, sondern nach dem Kauf-
mann und es bedarf nur eines uneingenommenen
Urtheils, um noch in der Figur des heutigen
Amtmanns den ursprünglichen Kaufmann, im
Kaufmann den Handwerker wiederzufinden. Da-
mit erklärt sich denn, wie der Text an dieser
Stelle verschoben ward. Melle, obwohl er sonst
recht gut von einem Amtmann (= Handwerker)
Bescheid wusste, sah mit dem Restaurator
des Bildes und dem Verf. der neuhochdeutschen
Verse im Amtmann den Gerichtsbeamten seines
Jahrhunderts und copirte dem entsprechend die
Verse in der Reihenfolge des neuen TT. Kehrt
man diese um und legt dem Handwerker und
Kaufmann die gegenseitigen Strophen mit den
anschliessenden des unmittelbar voraufgehenden
Todes unter, so erhält man den vollständigsten
Zusammenhang. Da nun hier 6 Strophen so
umzustellen waren, dass von Str. 1. 2. 3. 4. 5. 6
728 Gott« gel Ata. 187S. StQck 19.
Str. 3. 4 ihren Platz behielten, 1. 2 und 5. 6
ihn tauschten, so wandte Ret dies Heilmittel
auch am Anfang des erhaltenen Textes an und
entfernte somit die Ungehörigkeit, dass nach
der Anordnung Melle's der Tod dem Edelmann
antworten musste, er solle grossen Lohn fur
seine Werke empfangen, trotzdem dass dieser
über sein nichtsnutziges Leben vorher geklagt
hatte. Die Vollgültigkeit gleicher Verschiebung
konnte Ref. aber hier nicht schlagend beweisen!
weil eben die zwei Strophen fehlen, die der
Bürgermeister und vor ihm der Tod sprechen.
Ref. hat die ganz natürliche Weise, wie er
auf die von ihm vorgeschlagene Textesverbesse-
rung gekommen ist, hier etwas weitläufiger mit*
getheilt, weil gerade gegen diese Textbehand-
lung der Verf. von No. 2 seinen Angriff richtet
und den Ref. der Gewaltmassregeln, der fal-
schen Beweisführung und der Vergrösserung
vorhandener Textverwirrung bezichtigt, während
umgekehrt Ref. von sich sagen darf, zu den
einfachsten, durch den überlieferten Text nicht
minder als durch den Hergang seiner Ueberlie-
ferung an die Hand gegebenen Besserungsvor-
schlägen gegriffen zu haben. Dr. Baethcke
meint freilich, Ref. sei sich sehr wohl bewusst,
auf wie unsicherem Boden er stehe. Ref. kann
ihn de 8 Gegentheils versichern. Was er fest be-
haupten wollte, das steht ihm noch ebenso fest
da: die Wechselrede von Tod und Tanzenden,
die Notwendigkeit der Vertauschung von Str.
34 fg. mit 38 fg. Der entsprechende Vorschlag,
Str. 26 fg. vor 24 fg. zu schieben und darnach
eine Lücke anzunehmen, ist von Ref. als ein
vorläufig bestes Auskunftsmittel hingestellt, von
dessen Annahme oder Nichtannahme die Beweis-
Mantels, D. Todtent. i. d. Marienk. z. Lübeck. 729
weiakraft der anderen Behauptungen ganz un-
berührt bleibt.
Diese Behauptungen nochmals im Einzelnen
zu stützen und B.'s Gegenanführungen zu ent-
kräften, wird Ref. bei der Besprechung von No.
2 sich um so mehr angelegen sein lassen, da
die Dissertation sich einen Versuch zur Her-
stellung des alten niederdeutschen Textes nennt
und diese Herstellung zwar angeblich durch Be-
seitigung kleinerer Verderbnisse erreichen will,
in der That aber die Gliederung der Strophen
total umwirft. Ref. wird sich also vorwiegend
mit der grösseren ersten Hälfte, in welcher die
Anordnung des Textes besprochen wird, zu be-
fassen haben und für dieses Mal den recht ein-
gehenden sprachlichen Ausführungen, nament-
lich so weit sie die Anmerkungen von S. 55 an
enthalten, minder gerecht werden.
Dr. B. hat seine Dissertation offenbar in
den Grundzügen ausgearbeitet gehabt, bevor er
des Ref. Ausgabe kannte. Vgl. 5. 6 Anm. 7.
Daraus erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit wel-
cher B. sich gegen die einfachen Beweisführun-
gen des Ref. hinter allen möglichen, oft recht
wenig schlagenden Argumenten verschanzt, wie
einer, der sein schwer errungenes Arbeitsresul-
tat nicht will fahren lassen. Es erklärt sich
daraus auch eine gewisse Ungleichheit der Be-
handlung. Von Suhl's gedrucktem Text ist
Verf. ausgegangen, er sagt später wiederholt,
dass S. gänzlich von Melle's Ueberlieferung ab-
hänge, und doch wird der Text nach Suhl, wenn
auch mit M's Verbesserungen, gegeben. Es
wäre das unerheblich, wenn nicht dabei des
Verf. ursprüngliche Meinung zwischen den Zei-
len zurückgeblieben wäre, die sich unwillkürlich
auch des Lesers bemächtigen wird, dass neben
56
730 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
Melle noch eine andere handschriftliche Quelle
anzunehmen sei. Nun macht Ref. von Melle
aber nicht als Hauptquelle, wie es S. 6 heisst,
sondern als einzige Quelle namhaft, wie denn
z. B. die Entstehung der Lesart Suhl's 33, 3:
Naplik statt Slaplik einem jeden Lübecker er-
klärlich ist, der einmal das eigentümlich zu-
sammengezogene Sl in von Melle's deutscher
Handschrift gesehen hat.
Aber das ist nur eine Kleinigkeit. Wesent-
licher ist die abweichende Ansicht des Verf.,
dass M.'s eigener Text aus einer Abschrift vor
Melle herrühren, von diesem wieder copirt und
verbessert oder nach B. in seinem schon ver-
wirrten Zustande noch verwirrter gemacht sein
soll, ein Urtheil, dem somit alle, die sich vor
B. mit dem Texte befasst haben, anheim fallen.
Wenn Ref. sich dagegen die Aeusserung ge-
stattet, dass Verf. hier vorschnell urtheilt, so
will er weder von Melle in Schutz nehmen, den
er ja selbst oben der Gedankenlosigkeit an-
klagte, noch seinen eigenen Beweisen eine be-
sondere Ueberzeugungskraft zuschreiben ; aber
er möchte seinem Erstaunen darüber Ausdruck
geben, wie man, ohne sich gründlich in den
einschlagenden örtlichen Verhältnissen erkundigt
zu haben, eine blosse Hypothese so entschieden
behaupten kann, zumal wenn auf dieser Hypo-
these der ganze neue Textaufbau beruht Hätte
dem Verf. nur Suhl's Text vorgelegen, so könnte
ihm Niemand etwas anhaben, die bestimmteren
Daten aber, die er aus des Ref. Ausgabe schö-
pfen konnte, mussten ihn vorsichtiger machen.
Dass Ref. wohl der Ansicht gewesen, M. habe
die Verse vom Gemälde entnommen, wird Verf.
jetzt bestätigt finden. Aber B. will aus MJ^s
eigenen Worten das Gegentheil beweisen. jEr
i!
Baethcke, Der Lübecker Todtentanz. 731
meint, v,M. würde, wenn er selbst der Abschrei-
ber gewesen wäre, gesagt haben: »Folgende we-
nige (Reime), so ich noch davon habe lesen
können« etc. Was schreibt aber M.? > Fol-
gende wenige, so man noch davon hat lesen
können, wollen wir dem Alterthum zu Ehren
hersetzen«. Und da stimmt doch wir und man
vortrefflich, und ich möchte den sehen, welcher
daraus bündig beweisen wollte, dass M. sie
nicht selber entziffert habe. Auch soll darum
v. M. die Verse nur in Abschrift gekannt ha-
ben, weil es unwahrscheinlich sei, dass man die
eine Hälfte noch ziemlich deutlich habe lesen
können, vpn der anderen keinen Buchstaben.
Also muss B. eine Urhandschrift, diverse Ab-
schriften, verlorne Blätter und den ganzen phi-
lologisch-kritischen Apparat der Schule herauf-
beschwören. Die Conjecturen hätten wir ja
(auch) in Lübeck machen können. Warum tha-
ten wir es denn nicht? Weil Abschriften des
alten Textes immerhin existiren konnten, und
auchM. solche benutzt haben mag — aber nur
mit Hinzuziehung des Originals, und
dass M. dies gekannt hat, unterliegt keinem
Zweifel. Er hatte sich von früh auf mit allen
Denkmälern der Stadt bis ins Kleinste hinab
vertraut gemacht, war 1659 geboren, 1684 an
der Marienkirche angestellt, also 17 Jahre Pre-
diger, als die alten Verse entfernt wurden.
Dass er sich die einzelnen Tafeln nicht sollte
haben bringen lassen oder sie an Ort und Stelle
vorgenommen, um zucopiren, was noch möglich
war, ist nach M/s sonstiger Art geradezu un-
denkbar. Stand aber, wie B. vielleicht einwer-
fen wird, 1701 kein niederdeutscher Vers mehr
da, so hätte v. M. nicht geschrieben: Was
man noch hat lesen können etc., sondern: Von
56*
732 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
den alten V. ist nichts mehr zu lesen gewesen,
wir haben sie aber aus der und der Quelle her-
gesetzt, v. M. verzeichnet von jedem Grabstein,
jedem Epitaphium, kurzum jeder Inschrift ge-
rade so viel Buchstaben, als er lesen kann, und
das Andere giebt er als Lücke, die er, wenn er
es sonst vermag, nachträglich ergänzt. Ein Bei«
spiel mag genügen. Brun Warendorps ver-
stümmelte« Grabschrift (vgl. Hans. Gesch. BL
1, 126 fg. 133) steht bei M. so:
III ante festum Barth, obiit (u. s. w* bis) et
Capi Darauf fährt M. fort: Es
hat aber diese Inscription ehemals, wie sie
B. Eock im Chron. MS. ad an. 1368 anführt,
also gelautet, und giebt nun nochmals die ganze
Umschrift des Leichensteins. Dabei kann es
ihm, wie man aus den Hans. Gesch. Bl. S. 133
ersehen mag, passirt sein, dass er dem schrift-
lichen Texte zu Liebe einen Fehler in die Grab-
umschrift hineingelesen hat, nie aber würde er
thun, was ihm B. S. 31 unterschieben will,
stillschweigend einen Text versetzen, Verände-
rungen in den einzelnen Strophen zu besserer
Ordnung vornehmen u. dgl. Im Gegentheil er
würde nach einander anführen: so viel haben
wir lesen können, so heisst es in einer alten
Handschrift, das lässt sich dagegen einwen-
den etc.
Dergleichen Wahrnehmungen über Melle
konnte freilich Herr B. nicht gemacht haben,
warum erkundigte er sich aber nicht an Ort
und Stelle? Er hätte sich manche Vermuthun-
gen sparen können und würde dann doch mehr,
als Ref., zum Bewusstseip gekommen sein, auf
wie schwacher Grundlage seine ganze Texthypo-
these beruht. Sie fallt schon mit unserm Nach-
weis, dass M. nach seinen eigenen Worten kei-
Baethcke, Der Lübecker Todtentanz. 733
nen geschriebenen Text benutzt hat. Suhl lässt
die Verse 1783, 40 Jahre nach M.'s Tode, dru-
cken; dass er über ihren Ursprung nichts be-
richtet, als was auch bei M. zu lesen steht,
wird einem Jeden klar, der sich durch einige
Redensarten von Chroniken und dgl. nicht be-
irren lässt Ja, Ref. kann nicht umhin, die
beiden Zeilen des Kindes, welche, wie er nach-
gewiesen, von späterer Hand in M.'s Manuscript
eingetragen sind, auf ihren Ursprung mit Zwei-
fel anzusehen.
Aber wir wollen gelten lassen, dass M. eine
im Anfang verstümmelte HS. Torgelegen. In
derselben waren, sagt B., zwei Strophen beim
Abschreiben ausgelassen und am Ende der
Seite nachgetragen, eine gehörte in die verlorene
erste Hälfte. Beide ausgelassene Strophen wa-
ren Anreden des Todes, die Str. 38 und 40
bei v. M. So standen an der verderbten Stelle
drei Todesreden hinter einander. Ein späte-
rer Abschreiber, wahrscheinlich v. M. selbst,
suchte diesen Ueberschwang dadurch zu beseiti-
gen, dass er rückwärts bis in die Lücke, wo
Str. 40 gestanden, den ersten Todesspruch
sammt seinen Vorgängern immer um eine Per-
son zurückschob. Die mittlere der 3 Todes-
strophen liess er stehen. Die dritte schob er
ähnlich, wie die erste zurückgesetzt ward, so
vorwärts nach dem Ende hin hinter die Rede
der folgenden Person und nahm dasselbe mit
allen weiteren Todesstrophen bis zum Schluss
vor. Da dieser so geordnete Text noch nicht
zu den Ueberschriften passte, so wurde die An-
rede in den letzten Zeilen von Melle verändert,
so dass er Eopmann st. Earthuser, Klusenaer
st Amtman, Amtman st. Koster, Koster st.
734 Gott. gel. Ariz. 1873. Stuck 19.
Kopman, Veltgebur st. Klusenaer, Jungelink st
Bur setzte.
Folgerichtig nimmt nun B. die Rückverschie-
bung und Wiedereinrenkung des »ursprünglichenc
Textes vor, weist v. M/s Str. 40 den alten Platz
an, so dass sie bei ihm Str. 34 wird, legt Str.
38 als Str. 20 dem Oarthäuser in den Mund
und macht durch Wegschaffung dieser Strophen
es möglich, die betreffenden Anreden des Todes
vor die darin behandelte Person zu bringen, da
B. ja dabei stehen bleibt, dass der Tod in allen
8 Zeilen sich nur an dieselbe Person wende.
Die Kleinigkeit, dass die Anrede der achten
Zeile zu den andern im überlieferten Text nicht
passt, wird einfach zurückcorrigirt als irrthüm-
liche Correctur von Melle's.
Es lässt sich dem Verf. eine gewisse Schärfe
und consequente Durchfuhrung seiner Conjectur
nicht abstreiten. Man sieht aber hier einmal
wieder, wie blind einer werden kann, wenn er
sich in Handschrifteneventualitäten vertieft,
ohne die Wirklichkeit ins Auge zu fassen, ja
wie er nicht mehr sieht, was in dem eigenen in
Cur genommenen Texte für jeden unbefangenen
Menschen klar zu lesen steht.
Bef. liess den Text völlig unberührt, schob
nur an einer Stelle, wo die feste Ordöppg aller
TT. es verlangte und das Gemälde fl noch
heute an die Hand giebt, die. Strophen iflft und
wies nach, wie an einer andern lückenhaften
Stelle ein Aehnliches geschehen müsse — und
dies Verfahren nennt der Verf. von Nr. 2 ge-
waltsam. Dagegen nimmt er selbst mit 7 Stro-
phen eine Umstellung vor, ändert die Anreden
sämmtlicher Schlusszeilen derselben, in welchen
gerade die Beweiskraft liegt — und das ist
nicht gewaltsam.
Baethcke, Der Lübecker Todtentanz. 735
Doch Ref. würde Conjectur gegen Conjectur
gelten lassen, wenn damit wirklich nun Reden
und Antworten zu einander passten. Das ist
aber nicht der Fall. Hier nur einige Wider-
spräche. Die Str. 38, welche nach Ref. an den
Capellan (den eigentlichen Prediger) gerichtet
ist und den Vorwurf enthält, dass er nicht
fleis8ig Gottes Wort das Volk gelehrt habe, soll
nach B. dem Garthäuser gelten. B. selbst be-
merkt, dass die Str. besser passen würde, wenn
es kein G. wäre, sondern ein zum Predigen be-
tagter Mönch; und so bedarf es wieder erst
einer Conjectur »Gades recht« d. i. Gottes
Satzungen, um den künstlichen Sinn herauszu-
bringen, der C. habe die Ordenssatzungen
schlecht gehalten und dem Volke nicht durch
eisen frommen Lebenswandel ein gut Beispiel
gegeben. B. übersieht dabei, dass der TT.-
Dichter nach der ganzen Tendenz seines Ge-
dichtes und der Zeitstimmung den vielgelob-
ten Carthäaserorden gar nicht tadeln konnte;
die lohe, die Weltgeistlichkeit wird gescholten,
der Mönch, der Klausner finden Billigung. Auch
beachtet B. nicht, dass die letzte Zeile: Kop-
xnan (so steht urspr.), wilt di ok bereiden,
gerade an des Kaufmanns Antwort: It is mi
verne l er ei t to sin, anschliesst.
Wenn ferner die Str.: Haddestu gedelt —
sich aui den Domherrn beziehen soll, so muss
B. erst das unbequeme Wort Pacht entfernen,
welches er denn, wenig glaublich, für gleichbe-
deutend nit provenen erklärt. So schreibt er
fur prundtn, was sich übrigens vielleicht doch
halten lässt.
Zum Edelmann spricht der Tod von Wer-
ken gut efte quat, während der E. nur von
übelen Werken und eitelen Thaten weiss und
736 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
nach dem Vorhingesagten auch wohl zur Gasse
der vom Tode gescholtenen Junker gehören
wird.
Dem Arzte wirft der Tod nach B. bedrech-
licheit vor, was, oberflächlich angesehen, zu dei
Arztes Forderung hoher Bezahlung passen
könnte. Treffender aber passt die folgenda
Strophe, in der von schwerer Beschatzung das
Armen und grossen Summen die Rede ist. Was
B. sich bei den Endzeilen:
Wultu um dine sunde ruwich sin,
Volge na, meister median
gedacht hat, ist auch eben nicht klar. Dar
Arzt m u 8 6 ja folgen, mag er bereuen oder nickt
Ist die erwähnte Strophe mit dem Vorwurf
schwerer Beschatzung für den Arzt gemeint,
nicht für den Wucherer, wie B. annimmt, so
passt die folgende: Vorkerde dor, olt van jiren
— gut zum Wucherer. Ein alter Geizhals ist
volkstbümlich. Auch ist in der ganzen Str. nur
von der Liebe zum irdischen Gut die Rede.
Das könnte auch zum Capellan passen, vie B.
will, aber nur, wenn als Gegensatz die Ver-
säumung seiner geistlichen Pflicht hervorgehoben
wäre, wie es in der schon erwähnten Str. 38
geschieht.
Mehr, als diese Einzelheiten, fallt gegen B.'s
Annahme, dass die Gesammtstrophen als Auf-
forderung des Todes an die einzelnen Mitglieder
des Reigens anzusehen seien, der Unrstand ins
Gewicht, dass ihnen der zu einer Anrede ge-
hörige Charakter fehlt Schon das muss be-
fremden, dass im Berliner Todtentane, im Druck
von 1520 der Tod immer von vorn herein die
neu aufgeforderte Person bezeichnet: 0 Kop-
man, her junker, her doctor, her predeker, her
koster, her pawes, her cardinal, ja keysennne
Baethcke, Der Lübecker Todtentauz. 377
u. b. f.; und ebenso im Druck von 1496 die
Antworten des Todes auf die vorhergehenden
Reden der Sterblichen mit her byschop, ja her
mey8ter des ordens, broder monnik u. s. w. be-
ginnen, während in unserm Text Aufforderung
zum Tanz und Anrede der Person immer erst
in der letzten Zeile erfolgen. Noch zwingender
aber ist die Form der Sätze, mit welchen der
Tod jedesmal anfangt. Nur einmal ist sie ge-
radezu auffordernd : Nu tret vort, di helpet nen
klagen; einigemal beginnt der Tod mit director
Anrede: Du machst wol dansen blidelik u. a.
Meistenteils hebt er aber so generell an oder
so in einem bedingten Satze, dass seine Aeusse-
rungen schon dadurch den Charakter der Be-
ziehung auf Vorangegangenes bekommen. An-
fange, wie: »Gi amteslude algemene achten Tele
dinges klene, In der nacht der deve gank
slikende is min ummewank ; oder : Haddestu van
joget up, Haddestu gedelt, Hefstu anders nicht
bedreven — können doch nur Erwiderungen
auf frühere Reden sein. Und welchen Sinn kann
man vollends den Worten des Todes an den
Küster unterlegen:
AI werstu hoger geresen,
In groter var mostestu wesen,
It is diner sele meiste profit,
Dat gi nicht hoger resen sit —
wenn sie nicht den vorangehenden Widerstand
des E. beseitigen sollen:
Ach , dot, mot it sin gedan,
Nu ik erst to denen began I
In miner kosterie mende ik klar
Noch hoger to komen yorwar,
En grot officium was min sin«
Also mi dunkt, so krige ik nin,
Ik mach des nicht gebruken.
De dot wil mi yorsluken.
7S8 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
Sieht man ßich die sämmtlichen Reden des To-
des mit unbefangenen Augen an, so wird man
überall keine Nöthigung der Gedankenverbin-
dung von Z. 7 und Z. 8 finden, im Gegentheil
in den meisten Fällen lässt sich ein Zusammen-
bang nur gezwungen herstellen. Umgekehrt
aber fehlt es weder an Beziehungen des Anfangs
der Strophen auf das von den Mittanzenden Ge-
sagte, wie beim Küster, noch an Wiederauf-
nahme der Worte der letzten Zeile durch die
Erwiderung.
So sagt der Arzt:
Van dem dode bin ik besen,
Was ordel dat mi schal besehen —
Der Tod erwidert:
Recht ordel schaltu entfan.
Der Tod zum Kaufmann:
Kopman, wilt di ok bereiden.
Der Kaufmann:
It is mi verne bereit to syn.
Der Tod zum Küster:
Koster, kum, it wesen mot.
Der Küster :
Ach, dot, mot it sin gedan.
Solchen Beweisen gegenüber wird B. seine
letzte Verschanzung aufgeben müssen, dass die
Abtrennung der achten Zeile für den Bau der
Strophen unerträglich, dass die Einfachheit des
Verständnisses für Jedermann dadurch beein-
trächtigt sei. Ref. sieht sich für beide Behaup-
tungen vergeblich nach einem stichhaltigen
Grunde um.
Ref. hat aber noch einen Beweis und, wie er
meint, einen die Frage für alle Zeit erledigen-
den, den Text des ihm 1866 noch nicht zugäng-
lich gewesenen Rev ale r Todtentanzes , der
sich näher, als jeder andere, mit dem Lübecker
Baethcke, Der Lübecker Todtentanz. 739
in Bild und Wort berührt, so dass seine erhal-
tenen Anfangsstrophen eine willkommene Er*
gänzung geben. Nach einer Eingangsstrophe
des Predigers auf der Kanzel beginnt der Tod
mit Sackpfeife zu Allen, wie in Lübeck: To
dus8em dansse u. s. w., wendet sich dann an
den Papst, dieser erwidert, des Todes folgende
Str. ist verstümmelt, schliesst aber:
Her keiser, wi moten dansen — —
Der Kaiser antwortet.
Tod.
Da werst gekoren, wil dat vroden,
To beschermen nnde to behoden
De hilgen kerken der cristenheit
Myt deme swerde der rechticheit.
Men hovardie heft di vorblent,
Dn hefst di snlven nicht gekent,
Mine kumste was nicht in dinem sinne.
Dn ker nu her, frow keiserinne«
Kaiserin.
Ik wet, mi ment de dot.
Was ik ny vorvert so grot!
Ik wende, he si nicht al bi sinne,
Bin ik doch junk unde keiserinne,
Ik wende, ik hedde vele macht,
Up em hebbe ik ny gedacht,
Ofte dat jement dede tegen mi.
Och, lat mi noch leven, des bidde ik di.
Tod.
Keiserinne hoch vormeten,
My dnnket, du hefst myner vorgeten.
Tred hyr an, it is nu de tyt.
Du mendest, ik soldo di scheiden quyt.
Nen, al weist du noch so vele,
Tu most myt to äussern speie,
740 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
Unde gy andern altomale.
Holt an, volge my, her cardenale.
Noch vier Strophen sind erhalten, in deren
zwei sich der Tod ebenso zum Schloss weiter
wendet an König und Bischof. Die angeführten
drei Str. genügen aber, um auch fur den Lüb.
Text die Trennung der achten Zeile endgültig
festzustellen und diese als einen echt poetischen
und Yolksthümlichen Ausdruck des Tanz-
reigens zu kennzeichnen«
Ref. würde sich gern kürzer in Vertheidi-
gung seiner Ansicht gefasst haben, wenn B. ihn
nicht selber zu grösserer Ausführlichkeit ge-
drängt hätte durch die wiederholte Aeusserung,
er vermuthe, dass M. dies oder das so oder
so gemeint habe. Da die Besprechung aber
schon zu solcher Länge gediehen, sieht Ref.
sich veranlasst hier abzubrechen und ein Wei-
teres auf andere Gelegenheit zu verschieben.
Für Einiges genügt es auf die Ausg. von 1866
zu verweisen, so für Amtmann und Kaufmann,
den sagenhaften Holbein. Vgl. Wackernagel
a. a. 0. S. 358 (das Bild in der Greveraden-
kapeile ist von Memling). Zu weiterer Nach-
forschung über die Entstehungszeit sind die
Hinweisungen auf die Gründung des Carthäuser-
klosters Ahrensbök und den hochdeutschen
Druck von ca. 1460 willkommen. Unerledigt
bleibt noch die Frage über den Schluss des
Todtentanztextes (und -Bildes), da mit der
Strophe der Jungfrau schwerlich der Reigen
abschloss. Wie das Bild ursprünglich endete,
steht auch dahin: das Kind ist gegenwärtig
ausser Verbindung. Die Möglichkeit endlich,
dass das älteste Gemälde auf der Mauer war,
will Ref. nicht völlig ausschliessen, aber die
Baethcke, Der Lübecker Todtentanz. 741
Gestalt der Kapelle beweist eher das Gegentheil,
und auf der Wand lässt sich keine Farbe ent-
decken.
Ungern entsagt Ref. einem tieferen Eingehen
auf das Sprachliche, weil, bei der Entschieden-
heit, mit welcher er in der Hauptfrage B. ent-
gegentreten mu8ste, er hier volle Veranlassung
gehabt hätte, den auf die Arbeit gewandten
Fleiss und die Sorglichkeit der Behandlung her-
vorzuheben. Er bekennt sich dankbar zu man-
cher Verbesserung des Textes und darf mit der
Erklärung abschliessen, class trotz der erwähn-
ten Mi8sgrifie Dr. B. sich seiner Aufgabe, was
Wissen und sprachliches Geschick anbetrifft, ge-
wachsen gezeigt hat, so dass man wünschen
muss, er möge der Bearbeitung niederdeutscher
TT., für die noch mancherlei zu thun bleibt,
sich auch ferner widmen.
Lübeck. W. Mantels.
Hermann Schiller: Geschichte des Römi-
schen Kaiserreichs unter der Regierung des
Nero. Berlin 1872.
Die Römische Kaiserzeit gehört zu den Ge-
bieten des klassischen Alterthums, die erst in
später Zeit betreten worden sind und von Hi-
storikern wie Philologen bis auf unsere Tage
eine überraschende Vernachlässigung erfahren
haben. Ausser der Misegunst, die solchen Gränz-
! gebieten aus leicht erklärlichen Gründen viel-
äch zu Theil wird, hat vorzüglich die morali-
sirende und pädagogische Tendenz, welche die
Geschichtsforschung und vor Allem die antike
742 Gott» gel Anz. 1873. Stück 19.
Geschichtsforschung beherrscht bat und theil-
weise noch heute beherrscht, zur Folge gehabt,
dass man sich von einer Zeit abwandte, die man
nicht anders als eine Zeit des politischen, gei-
stigen und moralischen Verfalls zu betrachten
gewohnt war und die höchstens ein pathologi-
sches Interesse zu verdienen schien. So ver-
kehrt diese Anschauung ist, so kann sie doch
noch heutigen Tages keineswegs als beseitigt
gelten und hat .sogar Vertreter unter den Ge-
lehrten gefunden, die in neuerer Zeit eine Dar-
stellung dieser Epoche zu geben unternommen
haben. Freilich ist ausser dem sorgfältigen,
leider unvollendeten Buche von Hoeck seit dem
genialen Werke Gibbon's nicht eine bedeutende
Leistung unter den Darstellungen eines grössern
Zeitraums der Kaiserzeit zu verzeichnen: die
Versuche von Merivale und Peter, eine Geschichte
der ersten beiden Jahrhunderte zu schreiben,
können nur als durchaus missglückt bezeichnet
werden. Eine erfolgreiche Thätigkeit zeigt sich
dagegen auf antiquarischem und kulturhistori-
schem Gebiete und es darf als ein erfreuliches
Zeichen der Vertiefung in das Studium dieser
Zeit betrachtet werden, dass man neuerdings
mehrfach versucht hat, einzelne Perioden der
Eaisergeschichte monographisch zu bearbeiten
und so das gewaltige Material, das in den
letzten Decennien besonders durch das Verdienst
von Theodor Mommsen kritisch gesichtet und
der Forschung erschlossen ist, allmählich für
begrenztere Gebiete zu verwerthen. Das Werk
von Schiller über Nero und seine Zeit
nimmt unter diesen Monographieen durch seinen
Inhalt, wie durch seinen Umfang eine hervor-
ragende Stellung ein ; mit glücklichem Tacte hat
der Verfasser sich eine Epoche zur Darstellung
Schiller, Geschichte d. Römisch. Kaiserreichs. 743
gewählt, die in mannigfacher Hinsicht ein nicht
gewöhnliches Interesse zu erwecken geeignet ist.
Mit Nero endet das Julisch-Claudische Ge-
schlecht und es schliesBt damit die erste Pe-
riode der Kaiserzeit; die künstliche Continuität»
die durch Adoption und Heirath von Caesar bis
auf Nero sorgsam erhalten war, wird für immer
zerrissen; an Stelle der Herrscherfamilie, die
zum Nachweis ihrer Legitimität ihren Stammbaum
officiell bis auf Aeneas zurückführen Mess, wird
nach kurzem Zwischenregiment ein Mann auf
den Thron erhoben, dessen Vater Zolleinnehmer
?ewesen und dessen Grossvater als gewöhnlicher
lenturio bei Pharsalus gefochten hatte. Eine
neue Zeit bricht mit der Erhebung Vespasian's
an; die alten römischen Adelsgeschlechter sind
fast bis auf den letzten Spross vernichtet und
ausgestorben, neue Leute ohne Ahnen, fern von
Born in den Provinzen geboren, gelangen zu
den höchsten Stellungen im Reiche, selbst bis
auf den Kaiserthron. Die Regierung des Nero
bildet die Grenzscheide zweier ganz verschiede-
ner Epochen; in ihrem Wesen durchaus der
Vergangenheit zugewandt, in ihren leitenden
Principien auf dem Boden stehend, den Caesar
und Augustus geschaffen, zeigen sich doch in
ihr schon bedeutsame Zeichen der kommenden
Zeit und die Literatur ist das treue Spiegelbild
des modernen Geistes, dem sich die alte Welt
nicht mehr verschliessen konnte.
Diese bedeutsame Epoche hat Schiller in
dem vorliegenden Werke zu schildern unter-
nommen ; von der richtigen Einsicht ausgehend,
dass die literarische Tradition für diese Auf-
Eibe in keiner Weise ausreiche, hat er die
enkmäler, vorzüglich die Inschriften in erster
Linie herangezogen und ungleich seinen antike*
744 Gott. gel. An*. 1873. Stück 19.
und modernen Vorgängern nicht die Person des
Kaisers und die Stadt Rom in den Vordergrund
gestellt, sondern die Zustände des ganzen Rö-
mischen Reiches in deir Kreis seiner Darstel-
lung gezogen. Man wird dem Verfasser die
Anerkennung nicht versagen können, das weit*
schichtige Material mit Sorgfalt und Kritik be-
nutzt zu haben; ist freilich eine vollständige
Beherrschung des Stoffes vor Vollendung des
Corpus inscriptionum kaum möglich, so wird
man doch bei der Reichhaltigkeit der schon er-
schienenen Bände und der sonstigen kritischen
Inschriftensammlungen ein solches Unternehmen
kaum als verfrüht bezeichnen dürfen. Auch die
neuere Literatur ist sehr gewissenhaft berück-
sichtigt und. die Fülle des Stoffes zu einer leben-
digen und farbenreichen Schilderung der Neroni-
schen Zeit in politischer und socialer, literarischer
und künstlerischer Hinsicht geschmackvoll verwer-
thet worden. Allerdings kann man zweifelhaft sein,
ob nicht eine Beschränkung hier am Platze gewe-
sen wäre; denn abgesehen davon, dass der Verf.
sich durch den weiten Umfang seiner Aufgabe
genöthigt gesehen hat, sich zum nicht geringen
Theil an bekannte Werke, besonders an Fried-
länders Sittengeschichte sehr enge anzuschliessen,
ohne wesentlich Neues zu bieten, ist es auch
bei der Natur des Materials unmöglich, genau
zu bestimmen, welche Züge gerade für die Ne-
ronische Zeit die characteristischen sind und nicht
ebenfalls für die Regierungen seiner Vorgänger
und Nachfolger als in gleicher Weise gültig be-
zeichnet werden müssen. Es ist dadurch ein Miss-
verhältniss zwischen der eigentlichen Aufgabe und
der Ausführung entstanden, da der Verfasser
sich überall zu Rückblicken auf die Gestaltung
Schiller, Geschichte d. Komisch. Kaiserreichs. 745
der Verhältnisse seit Julius Caesar genöthigt
fand, um daran wiederholt das Geständniss an-
zuknüpfen, dass sich darin unter Nero wenig
oder nichts geändert habe. Wir verkennen
nicht, dass dieser Uebelstand durch die Anlage
des Werkes bedingt war; aber man darf wohl
fragen, ob es nicht empfehlenswerter gewesen
wäre, entweder die Darstellung zu beschränken
oder zu einer Geschichte des Reiches unter der
Herrschaft des Julisch-Claudischen Hauses zu
erweitern? —
Doch wir wollen mit dem Verfasser nicht
darüber rechten, wie er seine Aufgabe hätte
anders stellen können, sondern gern anerkennen,
dass er die Aufgabe, die er sich gestellt, im
Ganzen vortrefflich gelöst habe. Eine kurze
Würdigung der Quellen ist einleitungsweise
vorausgeschickt, in der wir allerdings das äusserst
ungünstige Urtheil über Tacitus nicht unbedingt
unterschreiben möchten. Dass Tacitus die An-
forderungen, die man an einen modernen Ge-
schichtsforscher zu stellen berechtigt ist, in vie-
ler Hinsicht keineswegs erfüllt, dass sein Quel-
lenstudium nichts weniger als musterhaft ist,
dass er die Geschichte seiner Zeit in den dü-
stersten Farben gemalt hat, das wird jeder Un-
befangene zugeben müssen; aber die Verdächti-
gung seiner Wahrheitsliebe und die Missachtung
seines Urtheils, der man in neueren Werken so
vielfach begegnet, sind sehr unerfreuliche Aus-
wüchse einer grossentheils oberflächlichen Hy-
perkritik. Man braucht nur die unglaublich
verfehlte Ausführung Schiller's über die bekann-
ten Worte des Subrius Flams zu lesen (S. 22),
um zu der Ueberzeugung zu kommen, dass die
angebliche Widerlegung des Tacitus, zu der er
merkwürdigerweise immer selbst das Material
57
746 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 19.
liefern muss, vielfach nur auf Missverstandniss
seiner Worte und falscher Argumentation ba-
sirt. — Weniger Widerspruch dürfte die ge-
ringschätzige Beurtheilung des S net on erfah-
ren, obgleich auch hierin der Verfasser ent-
schieden zu weit gegangen ist; Sueton ist kein
Geschichtsschreiber und hat diesen Namen offen-
bar selbst gar nicht angestrebt, aber man darf
ihm die Anerkennung nicht versagen, dass er
ein reiches Material mit Fleiss, wenn auch nicht
immer mit Kritik benutzt habe und wenn seine
Angaben nicht durch andere Quellen bestätigt
werden, so wird man in der Regel besser thun,
dies der Dürftigkeit der Ueberlieferung zuzu-
schreiben, als Sueton ohne Weiteres eines Irr-
thums zu zeihen. Der Verfasser ist mehrfach
in diesen Fehler verfallen, sogar in Fällen, wo
es sich nachweisen lässt, dass er Sueton Un-
recht gethan habe. So erzählt Tacitus, dass
Bubellius Plautus im J. 60 als angeblicher
Kronprätendent auf. seine Güter nach Asien ver-
bannt und dort im J. 62 von einem durch Nero
hingesandten Centurio getödtet worden sei.
Nun berichtet Sueton (Nero 35), dass Nero
viele getödtet habe: affinitate ahqua sibi aut
propinquitate coniunctos, in quibus AulumPlau-
tium iuvenem, quem cum ante mortem per vim
conspurcasset, »Eat nunc, inquit, mater mea et
successorem meum osculetur«! iactans dilectum
ab ea et ad spem imperii compulsum. Da aber
Tacitus (Ann. 13, 19) angiebt, dass Agrippina
im J. 55 auf Anstiften der Junia Silana ange-
klagt wurde: destinavisse earn BubeUium Plau-
tum, per mäternam originem pari ac Neronem
gradu a Divo Augusto, ad res novas extollere
coniugioque eius et imperio rem publicam in-
yadere, so müsse nach Schiller's Ueberzeugung
Schiller, Geschichte d. Römisch. Kaiserreichs. 747
bei Sueton [derselbe Fall gemeint sein, der
Schriftsteller sich im Namen und den übrigen
mit Tacitus unvereinbaren Angaben versehen
und einen »groben Irrt hum« begangen haben.
Aber abgesehen davon, dass aus der hochange-
sehenen Familie der Plautii sehr wohl Kron-
prätendenten hervorgehen konnten (vgl. Tac.
Ann. 15, 49 u. 60), abgesehen von den durch-
aus abweichenden Angaben über die Vorgänge
bei der Hinrichtung, abgesehen schliesslich da-
von, dass Agrippina sich von der gegen sie er-
hobenen Anklage so vollständig reinigte, dass
Silana und die Ankläger verbannt wurden, von
allen diesen gegen eine Identification sprechen-
den Umständen abgesehen, geht das Eine doch
aus den von Sueton mitgetheilten Worten Nero's
mit Sicherheit hervor, dass Agrippina beim Tode
des jungen Plautius noch am Leben war, wäh-
rend Rubelli us Plautus ein Jahr nach dem
Tode der Agrippina verbannt und erst im J. 62
hingerichtet wurde. Der »grobe Irrthum« liegt
hier also sicher nicht auf Seiten Sueton's und
man wird diese Nachricht, wie viele andere, die
nur bei diesem Schriftsteller sich finden, ohne
Bedenken als zuverlässig annehmen dürfen.
Ganz ähnlich verhält es sich in einem zweiten
Fall, der auch historisch nicht ohne Interesse
ist. Dass Claudius nach seinem Tode consecrirt
wurde, berichten unsere Quellen einhellig; es
bestätigen dies sowohl zahlreiche Inschriften und
Münzen aus Neronischer Zeit, als die Einsetzung
des flaminium Claudiale, der sodales Augustales
Claudiales u. A. Auch Sueton (Claud. 45) er-
wähnt die Consecration, fügt aber hinzu: quem
honorem aNerone destitution abolitumque rece-
pit mox per Vespasianum. Dass diese abolitio
nicht sofort erfolgte, liegt schon in dem voran-
57*
748 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
gehenden: destitutum angedeutet, daher lässt
sich die Thatsache, dass noch im J. 60 die
Arvalen officiell dem Divus Claudius Opfer
bringen (Marini t. 15 vgl. S. 112) sehr wohl
mit Sueton's Angabe vereinigen und es braucht
dieselbe nicht, wie Schiller (S. 91 A. 1) nach
dem Vorgänge von Eckhel annimmt, nur auf
die Störung des Tempelbaues (Sueton. Vespasian.
9) bezogen zu werden. Wahrscheinlich ist die
Aufhebung dieses Gultus erst nach der Ver-
stossung und Tödtung der unglücklichen Octavia,
der Tochter des Claudius erfolgt, wenn man
auch nicht aus der Titulatur des Nero als Divi
Claudi f(ilius) in einer nicht stadtrömischen In-
schrift aus dem J. 66 (Orelli 732) mit Sicher-
heit den Schluss ziehen kann, dass sie erst der
allerletzten Zeit seiner Regierung angehört:
aber erfolgt ist sie unzweifelhaft, denn sie wird
bezeugt durch ein Monument, das in Hinsicht
auf Titulatur so beweisend ist, als kaum ein
anderes: durch die lex de imperio Vespasiani,
in der 6 mal neben Divus Augustus und Ti. Ju-
lius Caesar Augustus der Kaiser Claudius stets
unter dem Namen: Tiberius Claudius Caesar
Augustus Germanicus, niemals als Divus er-
scheint. Dieses Gesetz , durch welches Vespasian
bei seinem Regierungsantritt die verschiedenen
Bestandtheile der kaiserlichen Gewalt übertragen
wurden, lässt keinen Zweifel darüber, dass da-
mals Claudius officiell nicht als Divus galt und
bestätigt demnach in schlagender Weise die
Zuverlässigkeit der bestrittenen Nachricht des
Sueton.
Der erste Haupttheil des Werkes ist der
äusseren Geschichte Nero's und des Reiches un-
ter seiner Herrschaft gewidmet. Man wird kaum
eine Thatsache von einiger Bedeutung nach*
Schiller, Geschichte d. Römisch. Kaiserreichs. 749
weisen können, die von dem Verfasser unbe-
rücksichtigt geblieben wäre; eher würde man
auch hier eine grössere Beschränkung gewünscht
haben. Wenn Tacitus mit einer Sorgfalt, die
man lieber wichtigeren Dingen, besonders der
Kriegs- und Verfassungsgeschichte zugewandt
sähe, die politischen Processe gegen die Ueber-
reste der alten Aristokratie verzeichnet, so ist
das aus der Tendenz seines Werkes leicht zu
erklären; der moderne Historiker wird ihm
darin aber nicht zu folgen haben. In einem
Werke, wie Tillemont's histoire des Empereurs
wird man allerdings möglichst absolute Voll-
ständigkeit erwarten und durch sie erhält ein
solches Buch erst seinen wahren Werth; eine
Darstellung aber, die künstlerischen Ansprüchen
genügen soll, muss ein anderes Ziel verfolgen,
um nicht in eine unglückselige Zwitterstellung
zwischen einem chronologischen Bepertorium
und einem echten Geschichtswerke zu gerathen.
Man muss den Muth besitzen, so manches, was
man mit Mühe gesammelt, ganz über Bord zu
werfeA oder nur gelegentlich zu verwerthen,
um nicht wie Schiller genöthigt zu sein, diesel-
ben Thatsachen an verschiedenen Stellen des
Werkes zwei- oder sogar dreimal besprechen zu
müssen. Es ist das eine Emancipation von der
Ueberlieferung , die der wahrhaft gewissenhaften
Forschung sicher keine Gefahr bringen kann;
aber es ist nicht die einzige, die man von dem
Geschichtschreiber zu fordern hat. Die römi-
sche Historiographie ist bekanntlich aus Annalen
hervorgegangen und hat diesen Ursprung nie-
mals verleugnen können: die römischen Ge-
schichtsschreiber sind sämmtlich Annalisten ge-
blieben. Es war das eine Schranke, die man
ängstlich zu durchbrechen scheute; hier zeigt
750 Gott, geh Anz. 1873. Stück 19.
sich an einem prägnanten Beispiel der streng
conservative Sinn der Römer. Auch Tacitus,
obwohl er eine neue Form, beinahe sogar eine
neue Sprache sich für seine Geschichtsschreibung
schuf, hat in dieser Hinsicht den Bruch mit der
Vergangenheit nicht vollzogen: empfunden hat
er nach seinem eigenen Geständniss freilich die
Fessel, aber kaum gewagt, sie zu lockern, son-
dern vielmehr versucht, die freiwillig auferlegte
Beschränkung kunstvoll dem Leser zu verbergen :
tnusste er doch sogar diesem Princip zu Liebe
seine Historien nicht mit dem einzig passenden
Zeitpunkte : dem Tode Nero's, sondern mit dem
neuen Jahresanfänge, 14 Tage vor Galba's Tode
beginnen. Man wird das erklären und entschul-
digen können, aber sicher nicht als einen Vor-
zug des Taciteischen Werkes betrachten und
vor Allem nicht die moderne Geschichtsschrei-
bung wieder in diese Zwangsjacke stecken
wollen. Schiller hat aus Gründen, die wir
nicht zu errathen vermögen, für den ersten
Theil seines Werkes die annalistische Form ge-
wählt, Jahr für Jahr die Ereignisse erzählt; ohne
Rücksicht darauf, ob der zusammengehörige
Stoff dadurch zerrissen oder die ungleichartig-
sten Dinge in einen ganz äusserlichen Zusam-
menhang gebracht worden sind. Kriege, Senats-
verhandlungen , Processe , Finanzmassregeln,
Brände, kaiserliche Liebschaften u. A. m. reihen
sich in buntem Gemisch an einander (vgl. z. B.
S. 116 ff. 136 ff.) und die Uebersicht über grosse,
durch lange Jahre sich hinziehende Actionen,
wie der Krieg in Armenien, geht durch die Zer-
stückelung des Stoffes verloren. Bei Tacitus,
der den ganzen Schwerpunkt seiner Darstellung
in die Schilderung der Vorgänge am kaiserlichen
Hofe und in der Weltstadt gelegt und die aus-
Schiller, Geschichte d. Römisch. Kaiserreichs. 751
wärtigen Angelegenheiten und die Provinzen
überhaupt nur beiläufig und oberflächlich be-
handelt hat, kann man diese chronikenartige
Darstellung noch eher sich gefallen lassen; aber
je entschiedener die moderne Geschichtsschreibung
mit dieser Auffassung gebrochen hat und je
mehr auch Schiller den Monumenten die ihnen
der literarischen Tradition gegenüber gebührende
Stellung angewiesen hat, um so auffallender
muss es erscheinen, dass er sich nicht so weit
von der äusseren Form der Ueberlieferung eman-
cipirt hat, um nach historischen und künstleri-
schen Gesichtspuncten frei seinen Stoff zu ge-
stalten.
Es ist das um so mehr zu bedauern, als der
Verfasser in unverkennbarer Weise die Gabe
besitzt, zu erzählen und lebendig zu schildern,
man folgt ihm gern auf die mannigfachen und
weit auseinanderliegenden Gebiete, auf die uns
seine Darstellung führt. Das Urtheil über die
leitenden Persönlichkeiten und die Zustände des
Reiches wird man im Wesentlichen als ein ob-
jectives und gerechtes bezeichnen dürfen; ein
Encomium Neronis, wie es einst Gardanus ge-
than, zu schreiben, kann natürlich einem halb-
wegs verständigen Geschichtsforscher nicht in
den Sinn kommen und wenn man auch bei
Schiller das Bestreben erkennt, das Bild des
Kaisers in möglichst günstiges Licht zu stellen,
so hat er doch unumwunden über Nero als
Menschen das Verdict gefällt, das die Nachwelt
dem Mörder der Mutter und Gattin gegenüber
niemals mildern kann. Dagegen hat der Ver-
fasser mit Recht betont, dass die Provinzen in
jener Zeit einen überraschenden Wohlstand und
einen hohen Grad geistiger und materieller
Blüthe zeigen und wenn diese Erscheinung auch
752 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
nicht den Regententugenden Nero's, sondernder
meisterhaften Organisation zuzuschreiben ist,
durch welche Caesar und Augustus dem Welt-
reiche eine jahrhundertelange Dauer verliehen
haben, so widerlegt dies doch wenigstens den
schon im Alterthnm gegen ihn erhobenen Vor-
wurf, die systematische Vernichtung des Reiche«
angestrebt zu haben. Dass vor Allem der Brand
von Rom sein Werk gewesen, ist allerdings seit
1800 Jahren behauptet worden, kann aber dock
für keineswegs erwiesen oder auch nur wahr-
scheinlich gelten. Auch Schiller hat sich nach
Sievers' Vorgang entschieden gegen diese Be-
schuldigung erklärt und ausführlich dargethan,
dass Nero vielmehr bei dieser Gelegenheit eine
ausserordentliche Opferwilligkeit und Thatkraft
entwickelt habe. Dass Rom unvergleichlich schö-
ner aus der Asche wiedererstanden, ist wesent-
lich Nero's Werk und wie gewaltig die Liefe-
rungen kostbarer Materialien, vor allem von
Marmor, aus allen Theilen der Welt für den
Neubau der Stadt gewesen sind, davon geben
heute noch einen Begriff die grossartigen Funde,
die bekanntlich in den letzten Jahren an der
römischen Marmorata gemacht worden sind. Es
ist sicher kein Zufall, dass die datirbaren Mar-
morblöcke mit verschwindenden Ausnahmen erat
mit dem J. 64 beginnen, man wird vielmehr daraus
ohne Zweifel schliessen dürfen, dass erst die riesigen
Marmorsendungen aus kaiserlichen Bergwerken
nach dem Brande der Stadt es nothwendig mach-
ten, auf der Stelle, die schon seit alter Zeit zum
Emporium diente, ein kaiserliches Marmorlager
einzurichten. Mag auch die tolle Verschwen-
dungssucht, wie sie in dem Bau des goldenen
Hauses zu Tage trat, für die Handlungsweise
Nero's hauptsächlich bestimmend gewesen sein,
Schiller, Geschichte d. Römisch. Kaiserreichs. 753
so wird man doch sieht anstehen dürfen, seiner
Haltung bei diesem gewaltigen Unglück volle
Anerkennung zu Theil werden zu lassen. —
Wir müssen es uns versagen, auf den Theil
des Werkes hier einzugehen, in welchem der
Verfasser den Zustand des Reiches unter Nero
zu schildern und ein cultuxhistorisches Bild je-
ner interessanten Epoche zu entwerfen versucht
hat. IÄe angedeuteten Bedenken, welche gegen
die Art der Behandlung sich erheben lassen,
können das Lob, das man der Sorgfalt, dem
guten Urtheil und der Darstellungsgabe des
Verfassers zollen muss, nicht wesentlich schmä-
lern und diese Vorzüge werden seinem Werke
eine ehrenvolle Stelle unter den Leistungen
auf dem Gebiete der Kaisergeschichte sichern.
Nur gegen das Urtheil Schiller's über die römi-
sche Ari8tocratie und ihre Opposition müssen
wir uns noch zum Schluss entschieden verwah-
ren. Wenn man von der »unverbesserlichen Ari-
stocratic in ihrer Engherzigkeit und Erbärmlich-
keit«, der »perfiden Literatur der Opposition«
und ähnliche Auslassungen des Verfassers liest,
so kommt man in die Versuchung, anzunehmen,
dass diese Urtheile, deren Ursprung sich nicht
verkennen lässt, unverändert von der Zeit des
Cäsar auf die des Nero übertragen und dadurch
beinahe zur Carricatur geworden sind. Die
souveräne Verachtung, mit der das Streben
durchaus fleckenloser Gharactere dem verworfe-
nen Wüstling und Mörder gegenüber noch
einen Rest von Selbständigkeit und Ueber-
zeugungstreue zu wahren behandelt wird,
kann nur in hohem Grade unangenehm be-
rühren. Die Ansichten des Verfassers (S.
375 ff.) über das Delatorenwesen sind die letz-
ten Con8equenzen dieser Anschauung; der Ari-
754 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
stocratie wird die Schuld gegeben, diese Waffe
selbst geschmiedet zu haben und den Kaisern
Bei angeblich kein anderes Mittel »gegen den
ewigen Krieg der Literatur und der Complotte«
geblieben; auch sei die Verwerflichkeit dieses
Institutes keineswegs als erwiesen anzusehen.
Wir glauben nicht, dass diese originelle Ansicht
des Verfassers über das genus hominum publico
exitio repertum grossen Anklang findet werde;
wir halten nach wie vor das Delatorenwesen für
eine der unheimlichsten Erscheinungen des rö-
mischen Despotismus und die ehrliche Opposi-
tion der aristocratischen Stoiker gegen einen
Kaiser wie Nero, so wenig sie politisch von Be-
deutung werden konnte, für ein erfreuliches Zei-
chen, dass die demoralisirende Macht einer sol-
chen Herrschaft doch noch nicht den letzten
Best von Freiheitssinn und idealer Anschauung
zu vernichten vermocht hatte.
Prag. Otto Hirschfeld.
Zur Logik des Protestantenvereins. Bedeu-
tung und Vorbedeutung des sechsten deutschen
Protestantentags im allgemeinen und im beson-
deren für die Kirchen-Gesetzgebung der Gegen-
wart. Gotha, F. A. Perthes. 1873. 55 Seiten.
»Was wird man uns als unparteiische Ant-
wort bieten?« So fragt der Verf. am Schluss
seiner die kirchliche und dogmatische Stellung
der im Titel genannten Richtung scharf kritisi-
renden Abhandlung, und die Antwort, welche
wir von unparteiischem Standpunkte allein ihm
geben können, ist die, dass es überaus traurige
Zur Logik des Protestantenvereins. 755
Perspectiven sind, welche der Verf. uns da er-
öffnet .hat, dass, wenn er Recht hat, wir vor
einer Auflösung aller wahrhaften Gemeinschaft
auf kirchlichem Gebiete stehen, aus welcher
schliesslich die dunklen und geistknechten-
den Mächte der Zeit allein Gewinn haben
würden. Durchaus verstehen wir, in welcher
Weise er den am Schluss seiner Abhandlung
dargebotenen kirchlichen Gesetzentwurf »völlig
ernsthaft« gemeint hat: er will uns in demselben
zeigen, wohin die von der von ihm bekämpften
Richtung vertretenen Principien fähren müssten,
wenn sie bei der kirchlichen Gesetzgebung die
massgebenden sein sollten, und da war's denn
freilich nicht anders, als dass Kirchlein neben
Kirchlein sich stellen würde, ohne dass noch
ein wirkliches Gemeinschaftsband vorhanden
bliebe. Aber fragen möchte man doch zunächst
nun den Verf., ob auf der anderen Seite nicht
eben so grosse Gefahren zu finden seien, dort
die grösete Zersplitterung, aber nun nicht etwa
hier um einer äusserlichen Einheit willen eine
Erstarrung des Lebens, die es zuletzt zweifel-
haft erscheinen lassen müsste, ob es in der
That noch der Mühe werth sei, einen Cadaver
zu conserviren, aus welchem aller lebendige und
Leben zeugende Geist entflohen wäre ? Wir wollen
hier gar nicht leugnen, dass der Verf. Recht hat,
wenn er auf Inconsequenzen und auf einen
ziemlichen Mangel an wirklicher Klarheit in den
Principien aufmerksam macht, der bei seinen
Gegnern sich finde, und eben so wenig ver-
kennen wir die Gefahr, die gerade daraus für
das kirchliche Leben entstehen könnte, aber
was nun des Verf. Aufgabe gewesen wäre, das
ist, nicht bloss jene von ihm beobachteten Män-
gel und Gefahren aufzudecken und dann mit
756 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 19.
der Frage zu schliessen, ob er nicht im Rechte
sei? sondern zu zeigen, wie diese Gefahren ver-
mieden werden könnten, ohne dass die berech-
tigten Grundsätze seiner Gegner, die auch er
doch in relativer Weise anzuerkennen scheint,
preisgegeben werden müssten. Das aber hat
der Verf. nicht gethan, sondern er zeigt bloss,
dass es auf dem von seinen Gegnern erwählten
Wege nicht gehe, ohne uns einen besseren zu
zeigen, und eben deshalb macht uns seine Ab-
handlung den Eindruck einer Trostlosigkeit, die
nicht peinlicher sein könnte: sie stellt uns eben
die ganze Zerfahrenheit unsrer kirchlichen Zu-
stände vor die Augen, nur dass wir freilich
nicht der Meinung sind, uns diesem Eindrucke
hingeben und verzagen zu müssen. Den Prote-
stantenverein wollen wir hier nicht vertheidi-
gen: er ist einseitig geworden, wenn auch aller-
dings nicht bloss durch die eigene Schuld, son-
dern auch durch die Schuld derer, die da hät-
ten ergänzend und corrigirend eintreten können
und denen er gern die Hand geboten hätte, die
sich aber selbst ausgeschlossen haben. Als er
entstand, hofften wir, er könne das Werkzeug
der auch schon damals so nöthig erscheinenden
Ausgleichung und das Mittel sein, eine kirch-
liche Gemeinschaft auf gemeinsamer evangeli-
scher Grundlage herzustellen. Diese Hoffnung
hegen wir freilich jetzt auch nicht mehr: es hat
sich nichts Anderes gezeigt, als dass die Zer-
klüftung zu gross war, um solche Hoffnungen
so bald realisirt zu sehen. Dennoch meinen
wir, dass immer noch eine gemeinsame Basis
evangelischen Eirchenlebens vorhanden sei, um
die uns von dem Verf. gezeigten Gefahren der
gänzlichen Zersplitterung zu überwinden, nur
dass wir nicht müde werden dürfen, an derVer-
Zur Logik des Protestantenvereins. 757
ständigung darüber zu arbreiten, und nament-
lich dass wir nicht aufhören müssen, den rech-
ten Gemeindesinn unter uns zu pflegen, den,
der sich bescheidet, auf dem Gebiete des kirch-
lichen Lebens nicht bloss das Seine suchen zu
dürfen. Zeit und Arbeit wird es freilich noch
genugsam kosten und Treue in aller Geduld und
Sanftmuth nicht weniger, aber — gelingen muss
es gleichwohl, die Formen für unser kirchliches
Leben zu finden, in denen das Allgemeine und
Besondere, in denen die Einheit und Gemein-
samkeit auf der einen und die Besonderheit und
Individualität auf der andren Seite nicht mehr
als zwei sich abschliessende Gegensätze er-
scheinen, sondern das Eine in und mit dem
Anderen zur Geltung kommt. Des Verf. Arbeit
kann auch dazu mitwirken, indem sie Einseitig-
keiten und Unfertigkeiten an's Licht bringt, die
in dieser ihrer Unfertigkeit und Einseitigkeit
nicht bleiben dürfen, und indem sie namentlich
Gefahren uns vor Augen stellt, welche Jedem,
dem die kirchlichen Dinge am Herzen liegen,
ein Stachel zu ernstlicher Theilnahme an der
für nothwendig gewordenen Arbeit sein müssen.
In sofern sei die Arbeit denn der Beachtung
empfohlen und in sofern ist sie in der That
auch, bei aller Schärfe der Polemik, ein Wort
zum endlichen Frieden! F. B.
Aus dem Verkehr einer deutschen
Buchhandlung mit ihren Schriftstel-
lern. Von Karl Buchner. Mit dem ein-
leitenden Aufsatze: Schriftsteller und Verleger
vor hundert Jahren. Berlin, Weidmannsche
Buchh. 1873. 8. XXXVIH und 112 SS.
Es ist dies das dritte und letzte Heft der
758 Gott, geh Änz. 1878. Stück 19.
Mittheilungen aus den Papieren der Weidmann*
sehen Buchhandlung , auf das diese Blätter schon
bei der Anzeige des zweiten (1872 S. 478 ff.)
hingewiesen haben. Ausführlicher wird der Ver-
kehr Philipp Erasmus Reichs mit dem Philolo-
gen Heyne und dem Historiker Johannes Mül-
ler (S. 3 — 46), mit Lavater und dem Arzt J.
G. Zimmermann (S. 47—- 73), mit Ramler (S.
74 — 84) dargestellt. Mit den Angaben des
Hauptbuchs über die an die Schriftsteller und
Drucker gemachten Zahlungen und sonstigen
Sendungen hält der Herausgeber die erhaltenen
Briefe der Schriftsteller zusammen. So ist es
seinem hingebenden, einsichtigen Fleiss gelungen
ein lebendiges Bild sowol des Verhältnisses
zwischen dem Verleger und den Schriftstellern,
als auch der verhandelnden Persönlichkeiten zu
entwerfen, das mit dem aus der Literaturge-
schichte sonst schon bekannten Charakter der-
selben übereinstimmt, aber in der neuen Be-
leuchtung, in der sie hier erscheinen, manche
nicht unwesentliche Züge erkennen lässt, die
sich früher der Beobachtung entzogen. Stellen
aus den Briefen an Reich, manchmal auch ganze
Briefe, wenn sie bedeutungsvoller sind, schliessen
sich in die Erzählung des Herausgebers ein.
Vorzüglich für Heynes Charakteristik gewin-
nen wir. Das Stillleben des Gelehrten tritt uns
lebhaft vor Augen. Die Bearbeitung derGuthrie-
schen Weltgeschichte fur die Weidmannsche
Buchhandlung mit ihren unablässigen Sorgen die
rechten Gelehrten für die einzelnen Länder und
Reiche heranzuziehen, mit den Klagen über die
Breitspurigkeit der einen, die Langsamkeit oder
das Zurücktreten Anderer, über die Mühe und
Arbeit, die er bei den von ihm selbst übernom-
menen Bänden habe; lässt es allein schon nie
Büchner, Ans d. Verk. ein. deutsch.Buchh. etc. 759
an Stoff fehlen. Aber ans dem Verleger war
Reich ein treuer Freund geworden. Alle Sorgen
des Hauses und der Familie theilt ihm der Ge-
lehrte mit und immer weiss Reich durch ein
freundliches Geschenk, seien es Aepfel oder Bü-
cher, Leinwand und seidene Bänder oder Ler-
chen, heitere Stimmung zu erwecken, Aufträge
bestens zu besorgen, für irgendwie über das Er-
wartete gehende Leistungen ausserordentliche Zu-
lagen zu senden, oder auch in umsichtiger Weise
dauernde Hülfe zu schaffen. Wir wussten schon
aus Heerens Lebensbeschreibung, dass Reich
Heynes Gedanken nach dem Tode der ersten
Frau auf Georgine Brandes lenkte und die
Verbindung mit ihr vermittelte. Hier erhal-
ten wir einen Einblick in die Geschichte der
Verlobung, die uns freilich durch einen klei-
nen Beigeschmack des Zopfigen lächeln macht,
aber doch den berühmten Philologen in liebens-
würdigster Herzenseinfalt erscheinen lässt. Jo-
hannes Müller zeigt sich auch hier anspruchs-
voll und selbstzufrieden, Lavater wunderlich und
unpraktisch, Zimmermann eitel und empfindlich,
über die raschen und reichlichen Zahlungen und
Vorauszahlungen des Verlegers freuen sie sich
alle. Auch über die Soldaten von Lenz, die
durch Zimmermann an Reich kamen, finden sich
S. 58 ff. ziemlich ausführliche Mittheilungen, de-
ren Ergebniss allerdings schon Beaulieu-Marconnay
in Gosches Archiv 2, 245 aus den Zimmermann-
sehen Briefen entnommen hatte.
Der treffliche Reich, dessen ehrenwerthe
Gestalt klar erkannt und in die Geschichte
der Literatur durch die beiden frühern
Hefte zu bleibendem Gedächtniss eingeführt
zu haben das schöne Verdienst Herrn Buch-
ners ist, gewinnt durch eine Reihe hier zu-
760 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 19.
erst mitgetheilter Einzelnheiten. So namentlich
auch durch die hübsche Erzählung, die S. 88 ff.
nach einigen Briefen von A. H. Niemeyer in
Halle gegeben ist, wie Reich eine von Nie-
meyer angeregte Weihnachtsbescherung an die
Familie eines Predigers Senf in Halle ausfuhrt
und sich selbst an ihr betheiligt. Weniger be-
deutend sind die Mittheilungen aus Briefen von
de Luc (S. 85 f.), Harless in Erlangen (S. 93),
Hirschfeld in Kiel (S. 95), lagemann in Weimar
(S. 97), Scheidemantel in Stuttgart (S. 99) und
die Nachträge zum zweiten Heft (S. 103 ff.).
Aber sehr lehrreich ist der Aufsatz, den Herr
Buchner als Einleitung vorausgeschickt hat:
Schriftsteller und Verleger vor hun-
dert Jahren (p. IX— XXXVIII). Er giebt
darin eine Geschichte der Bestrebungen, welche
im vorigen Jahrhundert, namentlich in den
siebziger Jahren, gemacht wurden den Schrift-
stellern den ganzen Reinertrag, der aus dem
Verkauf ihrer Schriften hervorgehe, zu sichern,
ohne ihn mit den Verlegern theilen zu müssen.
Abgesehen von einzelnen Fällen, in welchen
man auch später noch von Subscription Ge-
brauch gemacht hat, endeten dieselben mit dem
gänzlich verunglückten und zum Schaden aller
betheiligten Schriftsteller ausgegangenen Unter-
nehmen der »Buchhandlung der Gelehrten« in
Dessau, 1781 — 1787. — Wir scheiden von dem
Herausgeber mit aufrichtigem Dank für seine
sorgfältigen Bemühungen und stimmen ganz in
seinen Wunsch ein, »dass sie für den deutschen
Buchhandel eine Anregung sein mögen, mehr
als bisher geschehen, die alten Geschäftspapiere
auf Beiträge zur Geschichte deutschen Lebens
durchzusehen«. H. S.
781
G 5 1 1 i b g i s c h c
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsiebt
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 20. 14. Mai 1873.
Ans dem Briefwechsel Friedrich Wil-
helms IV. mit Bansen. Von Leopold
von Ranke. Leipzig, Verlag von Duncker &
Humblodt. 1873. VIII und 374 S. in Oktav.
Die Zeit, in welcher ein geistreiches, witziges
Wort oder eine hochklingende Bede des Königs
Friedrich Wilhelm IV. mit jubelnder Begeiste-
rung aufgenommen wurde, ist bekanntlich nur
nach wenigen Monaten zu zählen gewesen. Spä-
ter, als seine Aeusserungen sogar aufhörten
Spott und Unglauben herauszufordern, erweck-
ten wenigstens einzelne seiner Briefe, die be-
kannt wurden, eigentümliches Interesse an dem
so vielseitig begabten Fürsten. Die Wärme,
der Schwung, der Stil, in dem sie geschrieben,
fesselten doch ungemein. Letzterer wurde wohl
gar goethiscb genannt. Die Anzahl dieser Schrei-
ben war indess viel zu gering um zu einer
Charakteristik dienen zu können. Welche statt-
liche Reihenfolge dagegen einst an Bunsen ge-
richtet gewesen und aus dessen Nachlass in das
Königliche Hausarchiv zurückgegeben worden
58
762 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
ist, davon erfahren ab und an wohl diejenigen,
welche Bansen nahe gestanden. Eine oder die
andere köstliche Mittheilung war doch schon in
vertrauterem Kreise gemacht worden, ehe die
bekannte Biographie Bunsens im englischen Ori-
ginal und in der deutschen Bearbeitung auch
aus dieser seltenen Quelle schöpfen durfte. Dass
nun aber unser grösster Historiker mit liebe«
voller und kundiger Hand eine Auswahl ver-
öffentlicht, darüber kann sich nur wundern, wer
ihn allein als Geschichtschreiber vornehmlich
des 16. und 17. Jahrhunderts kennt und nicht
weiss, dass ihm kein Zeitalter der Geschichte
der Menschheit verborgen ist, dass er bereits
vor vierzig Jahren als conservativer Politiker
auf seine eigene Zeit einzuwirken gesucht und
in der Folge nicht allein als Historiograph des
königlichen Hauses an der seltenen Erscheinung
seines Fürsten ehrfurchtsvoll hinauf geblickt hat.
Andererseits wird sich freilich Niemand ver-
bergen, dass die Veröffentlichung dieser Schrei-
ben, kaum zwölf Jahre nach dem Tode des
königlichen Briefstellers und begleitet von Fin-
gerzeigen zur Geschichte einer kaum vergange-
nen Periode aus der Feder eines solchen Mei-
sters bis dahin in Deutschland wenigstens eine
Unmöglichkeit gewesen wäre. Die Erklärung
des ungewöhnlichen Ereignisses liegt lediglich
in dem gewaltigen Umschwünge, der sich in un-
seren vaterländischen Geschicken vollzogen hat,
in der ruhmvollen Regierung Wilhelms I., der
nicht angestanden hat, die politischen und die
kirchlichen Gebilde des Bruders, als sie Unsegen
brachten, im Einklänge mit der Stimme der
Nation durch andere zu ersetzen. Undank,
Verachtung und Feindschaft hat jener bei Leb-
zeiten in reichlichem Masse zu kosten gehabt.
v.Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bansen. 763
Vielleicht gelingt es diesem pietätsvollen Denk-
mal, das Urtheil der Nachwelt über ihn, wenn
nicht sofort milder und gerechter, so doch zu
einem unbefangeneren und mehr historischen
zu machen. Ranke sagt mit Recht: »Noch ist
die Zeit nicht gekommen, eine Geschichte Frie-
drich Wilhelms zu schreiben; aber man darf
mit Mittheilungen hervortreten, welche das An-
denken dieses Fürsten, das von den Antipa-
thieen, die er bei seinen Lebzeiten erweckte,
vielfach verdunkelt ist, in ein helleres Licht
stellen und sein Thun und Lassen verständlich
machen«. . . . »Es wird kaum Briefe geben,
welche unumwundener und beweglicher den in-
nersten Gedanken ausdrücken, als die vorliegen-
den Friedrich Wilhelms IV., allenthalben tragen
sie das Gepräge seines Geistes, seiner Ge-
sinnung und zugleich der Eindrücke des Mo-
mentes; sie verbinden Tiefe und Humor; sie
zeugen von einer unvergleichlichen Gabe des
Ausdrucks und der Sprache. Es würde ein Ver-
lust für die Literatur sein, wenn sie unbekannt
blieben ; noch einen grösseren aber würde damit
die Geschichte erleiden«. Freilich überwiegen
in diesen eigenhändigen Briefen die Ergüsse
momentaner Stimmung. Sie enthalten weder
definitive Urtheile, noch sind sie diplomatische
Aktenstücke. Daraus entspringt jedoch für den
Herausgeber zweierlei: unerlässliche Discretion
wegen der Nähe der Zeit und der noch leben-
den Persönlichkeiten, und Beschränkung auf die
Mittheilung dieser Seite der Correspondenz, so
weit nicht der Gegensatz der Meinung, der
Widerspruch von Seiten des Freundes und die
selbst für näher Eingeweihte bisweilen über-
raschenden Ansichten des Königs selber es er-
forderlich machen, das Wesentliche aus der
764 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
grossen Menge der Eingaben, Schreiben and
Berichte Bunsens heranzuziehn. Die Briefe des
Königs sind nun, abgesehn von wenigen Ver-
sehen, die uns aufgestossen, von denen einige
vielleicht gar im Original stecken mögen*), mit
Angabe der Lücken in ihrer eigentümlichen
Orthographie treu abgedruckt worden. Weder
die charakteristische Anhäufung der Ausrufungs-
zeicben, noch das ein-, zwei-, dreifache Unter-
streichen von Worten und ganzen Sätzen, noch
die in den Text gezeichneten architektonischen
Grundrisse sind vergessen worden. Die Beigabe
eines Facsimile der gewundenen Schriftzüge,
ausnahmslos in blauer Tinte, wäre nicht unwill-
kommen gewesen.
Wie sich die Lebenswege des Kronprinzen
und Bunsens zuerst in Paretz, Berlin, vor Allem
1828 in Rom berührten, ist bekannt, wird aber
von Ranke einleitend auf den in wenigen Strichen
skizzirten Hintergrund der Restaurationsepoche
eingezeichnet. Während er die zauberisch an-
ziehenden Züge Bunsens kurz schildert, lässt er
den Kronprinzen, anfangend mit dessen erstem
Brief vom 22. April 1830 selber reden. Seine
eigenen Worte, nicht biographische Erzählung,
sollen ihn vorfuhren als Kind der in tausend Far-
ben schillernden Romantik, die sich der Wirklich«
keit abhold den historisch zurecht gemachten
Idealen längst entschwundener Tage zuwandte und
dilettantisch in Alles eingreifend in Preussen
wie anderswo verderblich mit der politischen
*) S. 18 ist mindestens zweifelhaft, ob nioht statt
Kronprinzen (von Bayern} König stehn must. 8. 66
Z. 15 ist hinter nach gebildete Kirche »ohne sie«
(Diakonen) aasgefallen, 3. 56 Z. 22 statt Episoopats
zu lesen Diakonats, 8. 72 39 statt 49 Artikel,
8. 822 ma neutralüi statt ma souveraineti«
v. Bänke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bansen. 765
Reaction verschmolz. Zu den in feuerigen Fun-
ken und blinkenden Tropfen sprühenden Geistern
dieser für das reale Leben so unfruchtbaren
Richtung, behaftet mit ihren liebenswürdigsten
Zügen, der Laune und des Witzes, wie mit den
grellsten Schattenseiten, gehörte nun aber auch
Dank seinen Lehrjahren Friedrieb Wilhelm.
Wir erfahren indess gern, wie zwei bei mancher
Verschiedenheit doch innerlich sehr verwandte
Naturen im lebendigen Austausch über Liturgie
und Kirche , Alterthum und Kunst einen innigen
Bund gegenseitiger Zuneigung knüpfen und, als
kurz darauf der schöne Traum der conservativen
Ideen von der Julirevolution rauh zerrissen
wurde , über die Hergänge in der Welt und die
einzelnen Staaten sich fast in gleichem Sinne
äussern. Denn von Anfang an haben sie auch
mit einander politisirt. Indem sie das Heran-
nahen des göttlichen Gerichts zu ahnen meinen
für die Untreue und den Abfall vom Glauben,
welcher der Revolution zu Grunde liegt, sind
ihre Gedanken auf »Regeneration der Welt in
oonservativem Sinne« gerichtet, die sich in freier
und friedlicher Entwicklung vollziehn könne.
Da trat nun das Zerwürfniss mit Rom we-
gen der gemischten Ehen ein und die Verge-
waltigung des widersetzlichen Erzbischofs von
Köln durch die Regierung des Königs Friedrich
Wilhelm HI., ein Ereigniss, das Ranke meister-
haft skizzirt. »Die Vereinbarung der Staats-
gewalt eines protestantischen Königs mit den
Tendenzen der Hierarchie«, an die sich Bunsen
als Vertreter in Rom bis zuletzt sanguinisch
hoffnungsvoll klammerte, erwies sich als unmög-
lich. Die absolutistische Regierung Preussens,
noch durch keinerlei verfassungsmässige Bethei-
ligung der Nation an den öffentlichen Dingen
766 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 20.
gedeckt, unterlag entschieden vor dem Andränge
des erstarkenden jesuitisch ultramontanen Gei-
stes. Der Kronprinz, von jeher empfanglich für
die Selbständigkeit der Kirche, erblickte den
schuldigen Theil in dem preussischen Beamten*
thum und nahm sich um so eifriger des Freun-
des an , der redlich die Auseinandersetzung
zwischen Kirche und Staat betrieben und nach
seiner Ueberzeugung an dem Entgegenwirken
von »rath- und einsichtslosen faiseurs« geschei-
tert war. Seine Briefe lassen sich darüber frei-
xnüthig aus, nicht minder über die Blossen, die
sich Bunsen gegeben und hätte vermeiden
sollen. Aber ein Zwiespalt gibt sich doch
auch in ihm kund: »Mit meiner Freundschaft
für Sie allein sind meine Gründe für die
Sache , die ich so gern retten- wollte, entkräftet
worden«. Bunsen, dem Rath des Kronprinzen
folgend, hat sich, da er bereits völlig unmöglich
geworden schien, zunächst den Gesandtschafts-
posten in Bern gefallen lassen.
Den gemeinsamen kirchlichen Interessen bei-
der, durch Bunsens ersten Besuch in England
und die Bekanntschaft mit Gladstone, dessen
Werk On the relation of the church with the
state eben erschienen war, genährt, ist »die
außerordentlichste und in sich bedeutendste
Production« entsprungen, die aus des Prinzen
Feder geflossen, der »lange Brief und ein kur-
zer für Freund Bunsen« vom März und April
1840 kurz vor seiner Thronbesteigung, allein
dreissig Seiten im Druck. Noch oft genug spä-
ter, aber niemals so lebendig wie in diesem
Schreiben, hat er das Lieblingsthema seiner
Kirchenverfassung entwickelt. Ausgehend von
einer ausführlichen Arbeit Bunsens über die
Eh&cheidungssache, will er sich durch den von
v. Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. in* m. Bansen. 767
diesem gehuldigten Schellingschen Pantheismus
nicht beirren lassen, sondern stützt sieb, nach-
dem er Jahre lang geforscht und gerungen, auf
eine Stelle in den Gonfessionen des H. Augustin,
»die Epoche in meinem Leben machte«, derzu-
folge im Anschluss an das Evangelium Johannis
der menschliche Geist nicht selber das Licht,
sondern wie alles Uebrige aus der göttlichen
Wahrheit geschaffen ist. Bei diesem Bekennt-
niss beharrte er unwandelbar und gerieth darü-
ber eben in Widerstreit, specula tiv mit dem
dominirenden System Hegels, populär mit der
Abwendung vom positiven Glauben. Als eine
Folgerung aus diesem Satze nämlich ist auch
sein zum Theil ungeheuerliches Ideal einer Kir-
chenverfassung anzusehn. Indem er an Stelle
der missglückten Union der beiden protestanti-
schen Kirchen einen dritten neuen Bau aufführen
will, möchte er das Vermächtniss der Apostel,
welche Kirchen stifteten, eine jede unter ihrem
Bischof mit den beiden Gemeindeämtern der
Presbyter und Diakone ausgerüstet, auf Land
und Kirche der Gegenwart übertragen. Auch
seine Bischöfe sollen nach dem Muster des apo-
stolischen Zeitalters, der Urkirche, consecrirt
werden, so dass, wie er sich denkt, ihnen selbst
von der römischen die Rechtmässigkeit nicht
bestritten werden könnte. Die Wiederaufrich-
tung jener ursprünglichen Dreigliederung soll
ferner der evangelischen Kirche ihre Unabhän-
gigkeit sichern, die sie bis dahin unter könig-
lichen Superintendenten, Consistorien und dem
Ministerium nicht gehabt hat. Die Gemeinde,
welche in Kirchen und Pfarren mitwirkt, besteht
nur aus gläubigen Mitgliedern, denn Gleichgil-
tigkeit, der Unglaube vollends schliesst von
diesem Vorrechte aus. Synoden und General-
768 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
synoden vereinigen Theile und Ganzes der Lan-
deskirche. Während er staatlich dem Fürsten
keine Uebung der Kirchengewalt zugesteht, moss
dieser aber doch um die äussere Ordnung zn
wahren Gewalt über die Kirche haben. Dazu
construirt er nun — er nennt es seinen Som-
mernachtstraum — Behörden mit kirchli-
chem Charakter auf Grund der protestantisch-
aristokratischen Domkapitel ehemaliger Bischofs-
sitze. Metropolitane mit ihren Kapiteln, etwa
13 bis 14 Bischöfe unter jenen 350 Kirchen-
bischöfen, sollen in der preussischen Monarchie
an althistorischen, d. h. doch einst durch die
römische Kirche bevorzugten Plätzen die Con-
si8torien ersetzen. An Stelle des geistlichen Mi-
nisters soll der Fürst-Erzbischof von Magde-
burg, Primas Gernianiae, treten. Im phanta-
stisch-ceremoniellen Spiel schwebt ihm bereits
die Rangordnung seines Episcopats zu den an-
deren Kirchen völlig klar vor Augen. Wie ro-
mantisch abenteuerlich sodann auch der Plan
verfallene Abteien zu Predigerseminaren wieder
aufzurichten, die starre Betonung der bischöflich
apostolischen Succession und die idealistische
Darstellung von der Möglichkeit eines guten
Verhältnisses zur alten Kirche, in Anderem steckt
doch ein echter Kern, der nicht ohne Früchte
geblieben ist. Die Verbände junger Geistlicher
an den Zuchthäusern, das Institut der Diako*
nissen traten in dem Entwurf scharf hervor.
So hat er sich Alles, die Hierarchie und die
Selbstverwaltung seiner Kirche, in ein wunder-
volles Bild geordnet und lebt des Glaubens,
dass der Fürst mit Gottes Hilfe, dem Beistande
weiser Käthe und dem guten Willen seiner Un-
terthanen dasselbe dermaleinst werde ins Le-
ben rufen können. Kühn verband er das apo-
v. Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bunsen. 769
stolische Muster mit den Anforderungen des
modernen Staats und meinte in seiner Ehrfurcht
vor dem christlichen Alterthum — denn die
Erinnerungen an die Grossartigkeit mittelalter-
licher Schöpfungen erfüllten ihn durch und
durch — sogar den zwischenliegenden Jahrhun-
derten gerecht werden zu können. Diese Ideale
waren so stark in ihm, dass er der ungeheueren
Schwierigkeiten zu spotten schien, die ihm aus der
Unkirchliohkeit des Zeitalters entgegen starrten, als
er, nunmehr König von Preussen, sich anschickte,
zur Ausführung des Unausführbaren zu schreiten.
Aus der orientalischen Erisis des Jahres
1840, in welcher schliesslich vier Grossraächte
sich des Sultans wider den Pascha von Egypten
und wider Frankreich annähmen — »das sei-
nem ehrlosen Banner Satisfaction geschafft
bate, schreibt Friedrich Wilhelm im Mass ge-
Sen die Julidynastie — entwickelte der König
ie doppelte Idee: den ursprünglichen Gedanken
der heiligen Allianz zu erneuern und den reli-
giösen Zweck der Ereuzzüge zu erreichen. Der
Sultan sollte zum Dank für die ihm gewährte
Hilfe dem christlichen Europa die heiligen Stät-
ten, neben Griechen und Römisch-Eatholischen
aber auch den Evangelischen dort völlige Gleich-
stellung einräumen. Was sich auf gewöhnlich
diplomatischem Wege nimmermehr erreichen
liess, das wurde mittelst einer besonderen Mis-
sion Bunsens durch das Project eines preussisch-
englischen Bisthums in Jerusalem angebahnt.
Die eigenthümliche Verbindung der bischöflichen
Kirchenordnung Englands mit dem augsburg-
schen Bekenntniss, die in beiden Ländern in
entgegengesetzter Richtung vielfach anstiess,
entsprach so recht den Herzenswünschen des
Königs. Bei innigster Freude über das Gelingen
59
770 Gott, gel Adz. 1878. Stück 20.
indess stutzte er bereits vor so viel Missgunst
und Missverständniss. »Es ist schlechte Zeit
in Teutschland«. Dort werde die schamlose
Lüge verbreitet, Bimsen wolle für ihn die eng-
lische Eirchenverfassung in Prenssen einfahren.
Man weiss, wie aus diesem Werk die Erhebung
des Freundes zu seinem Gesandten in London
hervorgieng, an die sich dann bald hernach der
viel besprochene Besuch des Königs als Pathe
bei der Taufe des Prinzen von Wales anschloss.
Darüber wurde aber jene gemeinsame Stiftung
nicht aus dem Auge verloren, um so mehr, da
nicht in allen Stücken Einvernehmen zwischen
England und Preussen, in kirchenhistorischen
und liturgischen Fragen auch allerlei Differenz
zwischen dem Könige und seinem Gesandten
bestand.
Aber über noch viel wichtigere Dinge sollten
sie auseinandergehe Wenn der König zauderte
die alte Schuld seines Vaters einzulösen und
allgemeine Landstände oder Reichsstande zu
berufen, so wurzelten seine Bedenken wesentlich
in der Scheu vor dem Begriff der Volksreprä-
sentation, der zumal seit 1830 allen constitutum
nellen Ansprüchen der Nationen zu Grunde lag.
Er, der Mitschöpfer der Provinzialstände von
1823, wollte höchstens, so oft es erforderlich,
die Berufung der Ausschüsse zu einer Gesammt-
heit gewähren, während jene Provinzialversamm-
lungen selbst bereits ihre Stimmen für eine all-
gemeine Verfassung mit allen Attributen und
Cpnsequenzen erhoben. Als Bunsen zur Theil-
nahme an dieser Angelegenheit herangezogen
wurde, im Jahre 1844, zu einer Zeit, als in
Preussen das Entzücken über das erste Auf-
treten des Königs längst in das Gegentheil um-
geschlagen war, beantragte er in sehr gemässigt
v. Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bansen. 77 1
conservatives! Sinne nach englischem Master die
Errichtung eines Hauses der Herren und eines
der Gemeinen, letzteres zwar ständisch gegliedert,
aber doch aus unmittelbaren Wahlen hervorge-
gangen. Er galt indess zu wenig in Berlin, als
class er damit hätte durchdringen können. Vor
Allem aber haftete der König in dem Vorsatz,
die Macht seiner Krone ungeschmälert zu be-
wahren, fest an dem Wunsche, nicht mehr und
nicht weniger als die einst durch den Absolu-
tismus bei Seite geschobenen ständischen Rechte
wieder aufzurichten, und blieb daher auch taub
gegen den Einwurf, dass sein Volk damit nim-
mermehr zufriedengestellt sein würde. Auf seine
conservativen Verbündeten zwar nahm er auf-
merksam Rücksicht, meinte aber das in Frank-
reich gegebene Beispiel nimmermehr befolgen
zu müssen. So Hess er sich denn, durch die
Umstände gezwungen, zu dem Patent vom 3.
Februar 1847, das ausdrücklich keine Consti-
tution im Sinne der Zeit sein sollte, und zu dem
Vereinigten Landtage herbei, dem er in wunder-
barer Rede die unwandelbare Bestimmung der
vier Stände auseinandersetzte, als ob es keine
englische, keine nordamerikanische Verfassung,
kein 1789 mit allen seinen Folgerungen gebe.
Also auf politischem wie auf kirchlichem Gebiet
im Widerspruch mit der Zeit meinte er ihr die
Repräsentativverfassung versagen zu können, in-
dem er seine unbeschränkte Macht nur mit mit-
telalterlichen Ständen theilen wollte. In- und
Ausland sagten ihm nun wohl ins Gesicht, dass
er selber durch Berufung jenes Landtags die
Geister entfesselt habe. Auch beschäftigten ihn
dringend nöthige Aenderungen im Pressgesetz,
in der deutschen Wehrverfassung, im Bunde
selber, und doch wollte er sich bei Leibe nicht
59*
772 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
an die Spitze des Fortschritts setzen, sondern
nur die conservativen Principien retten. So
kam er nirgends zum Handeln, bis ihn die ver-
abscheute Macht des Radicalismus ereilte.
In der Schweiz warf dieser im Jahre 1847
den Sonderbund, der für die Selbständigkeit der
Cantone und die Jesuiten eintrat, mit Gewalt
nieder. Dadurch wurde auch das dem Könige
gehörende Fürstenthum Neuenburg, durch die
Verträge von 1815 Mitglied des eidgenössischen
Staatenbundes, empfindlich berührt. Vergebens
legten sich Metternich, Guizot, der conservative
Minister Louis Philippes, Friedrich Wilhelm fur
die Cantonalsouveränetät ins Mittel, während
Lord Palmerston, über die spanischen Heirathen
mit den Tuilerien entzweit, das Selbstbestimmungs-
recht der Mehrheit auf der Tagssatzung aner-
kannte. Das Princip der Nichteinmischung,
durch welches England dem Liberalismus in
aller Welt seine Huld zuwandte, hat ihm nun
aber auch den Fürsten entfremdet, der sich
kirchlich und politisch vorzugsweise gern an das
Land der Erbweisheit anlehnte. Stolz auf seine
conservativen Freunde am Jura, unglücklich über
den Vorschlag wegen der Neuenburger Frage
in London und nicht in Neuenburg zu verhan-
deln, erklärt er es für den »letzten Augenblick,
den Radicalismus der Gottlosigkeit und Treu-
losigkeit zu bebandeln, wie Gott und die Ehre
es gebietet«. Indem er gegen Bunsen auf »die
Seuche des Radicalismus«, auf »die gott- und
rechtlose Secte«, die dem Ghristenthum abge-
sagt, in ungemessenen Ausdrücken schilt, meint
er, dass sich Alles gerade zur Intervention ge-
gen diesen Feind mit ihm verbinden müsse, denn
hierum, nicht um Recht oder Unrecht wider die
Schweizer Verfassung von 1815, oder um Jesui-
▼.Bänke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bunsen. 773
ten oder Protestanten handle es sich. Da je-
doch seine Neutralitätserklärung für Neuenburg
erst eintraf, als sich in der Schweiz der revolu-
tionäre Umschwung bereits vollzogen hatte,
konnte er nicht einmal verhindern, class dieser
Ganton von der Majorität zur Rechenschaft ge-
zogen wurde. Auch huldigte sein Gesandter
Bunsen, für den der Schlag wider den Ultra-
montanismus eine besondere Genugthuung war,
der englischen Auffassung so wie der Kräftigung
der liberalen Idee im Allgemeinen. Trotzdem
Hess der König seinen Legitimismus, die Für-
stenpflicht für die getreuen Neuenburger nicht
fahren. Sollte England, sagt er, den Ochsen-
bein seinem allertreuesten Alliirten vorziehen,
»so weiss ich, dass die Schmach der Geschichte
nicht mich und mein Neuenbürg trifft, dass
meine Compromittirung meine Glorie sein wird«.
Das ist die Sprache eines Märtyrers, aber nicht
die eines auf das Mithandeln im Concert
Europas angewiesenen Königs und Staatsmanns«
Unglaublich, aber wahr, Friedrich Wilhelm ver-
hoffte zuletzt noch, der deutsche Bund werde
interveniren.
Und dieser Fürst, mag er die letzten Conse-
quenzen der Umsturzpartei so scharf wie wenige
erfasst haben, meinte, wie er Angesichts der
erstehenden Gentralgewalt die Restitution der
Cantonalfreiheit in der Schweiz forderte, auch
stark genug zu sein, den Christenglauben vor
dem tPestgräuel« des europäischen Radicalismus
beschirmen zu können. Wie schüttete er dabei
doch das Kind mit dem Bade aus, . wenn er
zwischen dem anständigen Liberalismus seiner
Neuenburger und dem der englischen Whigs zu
unterscheiden suchte, welche an keine Verschwö-
rungen glauben wollten und sich in »crassem
774 Gott gel. Anz. 1873. Stack 20.
Guizot-Metternich-Hass« ergiengen, der deut-
schen Liberalen gar nicht zu gedenken, die mit
dem Ehrennamen von »Constitutions- und Ma-
{'oritäts-Anbetenden Schöpsen und Intriguants«
>elegt werden.
Aber gab ihm nicht bald darauf die Februar-
revolution in Paris, der Sturz der Julidynastie
nun doch völlig Recht? Sofort griff er wieder
zu dem conservativen Bunde der vier Mächte,
der jetzt gegen den einen Störenfried zu Stande
kommen müsse, ergieng sich in einem ganz wun-
derbaren an die Königin Victoria gerichteten
Glaubensbekenntnisse, vertraute wieder der po-
litischen Einsicht Lord Palmerstons, der sich
freilich wohl hütete, der französischen Republik
den Krieg zu erklären. Da wurde aber nicht
nur Neuenburg, sondern auch Berlin von der
revolutionären Fluth erfasst. Obwohl Friedrich
Wilhelm dem Vereinigten Landtage erweiterte
Rechte und für Deutschland sogar constitutum
nelle Verfassungen zusagte, kam es zu dem un-
erhörten Zusammenstoss in der Nacht vom 18.
auf den 19. März. Mochte er sich an den Glau-
ben klammern, dass systematische Verschwörun-
gen die »infamste Revolte« vorbereitet hatten,
mochten gewisse Indicien für ihn sprechen, sein
Zaudern rächte sich an ihm selber, da doch
nicht ohne seine Schuld dieser Dammbruch
möglich geworden war. Und doch begegnet in
seinen vertrauten Aeusserungen keine Spur, dass
er sich dessen bewusst gewesen. Es steigern
sich vielmehr seine harten Worte zu schnöden
Invectiven gegen den Liberalismus, der mit der
Rückenmarcksdarre verglichen wird. »Der Un-
glaube an Verschwörungen ist bereits das erste
untrügliche Symptom des seelenaustrocknenden
Liberalismus«. Gegen diesen masslosen Ton,
v.Ranke, Briefwechsel Fr .Wilh. IV. m. Bimsen. 775
gegen einen zur Orthodoxie gestempelten Text,
den die Kreuzzeitung alle die Jahre hindurch
bis aufs Wort nachgebetet hat, konnten Bunsens
freimüthige Vorstellungen und seine ernste War-
nung vor der Brandenburger Junkerweisheit und
der beschränkten Kirchlichkeit, die sich des Kö-
nige derart bemächtigt, dass er die Sprache der
Gegenwart weder rede noch verstehe, durchaus
nicht verfangen. Doch überwand sich der
Fürst im Sommer, als ihn die rothe Nationalver-
sammlung in Berlin bis aufs Blut empört, aber
die Notwendigkeit einer Umbildung des Alten
zum Neuen doch vorwärts stiess, allerdings unter
dem Protest, niemals sein Haupt vor der De-
mokratie beugen zu wollen, zu dem Entschlüsse,
ein constitutioneller König zu sein.
Es ist bekannt, wie sehr in jenen Tagen die
preussische Frage von der deutschen verschlun-
gen wurde, wie sehr sich auch Bunsen der letz-
teren hingab. Eben so wenig konnte Frie-
drich Wilhelm seinen Umritt vom 21. März und
Anderes, was sich daraus entwickelte, unge-
schehn machen« Während sich nun aber Preussens
deutsche Bestimmung in ihm zu erfüllen schien,
malte er sich wieder in seltsamer Verbindung
des Alten mit dem Neuen, wie neuerdings aus
den mit Dahlmann gewechselten Briefen bekannt
geworden , den aller Realität spottenden Phan-
tasiebau einer Reichsverfassung aus: unter dem
römischen Kaiser erblich beim Erzhause Oester-
reich, neben dem er selber deutscher König,
der erbliche Erzfeldherr, gekrönt vom Erz-
bischof von Magdeburg, dem Primas Ger-
maniae, sein möchte, der Reichstag aus den
Elementen der alten Gurien, fortan aber in zwei
Häuser getheilt. Und dem gegenüber nun das
aus der liberalen und radicalen Opposition aller
776 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 20.
deutseben Länder zusammengesetzte Frankfurter-
Parlament spontanen Ursprungs mit seiner
Sturmarbeit, die sich nur in wiederholten Com-
promissen nothdürftig der Gefahr des Umsturzes
erwehren konnte. Die aus der Volkssouveräne-
tät hervorgegangene provisorische Centralgewalt
und die nicht entwurzelte Fürstenmacht mit dem
treu gebliebenen Heer erschienen unvermittelt
neben einander. Dann geradezu Entzweiung
der Frankfurter Majorität mit Preussen, das
von England und Kussland gedrängt, des Kriegs
wegen Schleswig-Holsteins satt, den Malmöer
Waffenstillstand geschlossen hatte. Wie mussten
den König die scheusslichen Hergänge des 18.
September in seiner Auflassung bestärken. An
Bunsen, der eben wieder eine seiner Denk-
schriften an das Parlament vorbereitete, schreibt
er: »schreien Sie's Teutschland in die Ohren,
dass Alle gleichmässig eine längst gerichtete
Sünde hegen, die Sünde der Treulosigkeit, der
Eidbrücbigkeit, der allerunteuschesten Unteutsch-
heiU. In Sachen der Religion waren beide
nicht mehr einverstanden — Friedrich Wilhelm
spottete wohl, ob jenem der Standpunkt
Schleiermachers das Beten für seinen unglück-
lichen König noch erlaube — über die in ra-
schen Wendungen sich vollziehende politische
Krisis tauschten sie doch stets noch eifrig ihre
Gedanken aus. Als in Frankfurt der Gedanke
Oesterreich nur in einem weiteren Bunde mit
dem unter Preussen vereinigten Deutschland
zu belassen Raum gewann, redete ihm Bunsen
von dem durch die Revolution nun einmal ge-
schaffenen Boden aus feurig das Wort. Aber
Friedrich Wilhelm, der so eben in Berlin wieder
Herr geworden, wollte nicht Theil haben an der
Usurpation fürstlicher Gewalt , die ßich das Par-
T.Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. nhBunsen. 77T
lament nach seiner Meinung anmasse* Schon
im December erklärte er, class der vertraute
Diener, der ihm für die Zustimmung der Für-
sten gut sagen wollte, ihn gar nicht verstehe.
»Ich will weder der Fürsten Zustimmung zu
der Wahl, noch die Krone«. Nicht ohne Ehr-
geiz blickte er trotzdem auf die tausendjährige
Krone deutscher Nation, die einem Hohenzoller
wohl anstehn werde. Aber die werde von ihm
und seines Gleichen vergeben und habe Nichts
gemein mit dem »Ludergeruch der Revolution
von 1848c Ebenso wenig wollte er von einer
Verdrängung Oesterreichs wissen. Da sie sich
in schriftlichen Discussionen über Bildung eines
Oberhauses für das Reich nicht verständigen
konnten, der König ein Collegium der Könige
und Fürsten, Bunsen ein von Regierung und
Ständen beschicktes verlangte, jener mehr auf
eine Organisation des Provisoriums, dieser auf
ein Definitivum sann, so lud ihn Friedrich Wil-
helm in alter Huld um Neujahr zu sich. Der
Zwiespalt in seinem Innern, namentlich auch die
Unmöglichkeit, die von Oesterreich gemachten
Vorschläge anzunehmen, haben ihn dazu bewo-
gen. Er fühlte das Bedürfniss, sich mit Bunsen
auszusprechen, obwohl er von vornherein darauf
verzichtete, ihn zu sich herüberzuziehn. Bunsen
hat denn auch bei Berathung der Circularnote
vom Januar 1849 mitgewirkt, welche von Seiten
des Königs wenigstens die Möglichkeit jener
Auseinandersetzung mit Oesterreich zuliess.
Auch gab der König zu, dass Bunsen von der
Centralgewalt mit der Führung der dänischen
Angelegenheit in London betraut wurde, hatte
dann aber, wie er vorausgesagt, die Genug«
thuung, dass dieser, als Frankfurt auf Fortfüh-
rung des Kriegs, Preussen dagegen auf Frieden
778 Gott, gel Anz. 1873. Stück 20.
drang, zwischen zwei Stähle zu sitzen kam und
das monströse Verhältniss lösen musste.
Wieviel sprach doch schon damals für eine feste
Abgrenzung zwischen Oesterreich und Deutsch-
land, denn die Verfassung, die man in Frank-
furt berieth, und der österreichische Gesammt-
staat waren durchaus unvereinbar. Die engli-
sche Politik, jener Auseinandersetzung besonders
zugethan, liess sogar durch Stockmar, wie man
aus dessen Denkwürdigkeiten erfahrt, die Frank-
furter Nationalversammlung, deren Majorität in
einem erblichen deutschen Kaiser die eigene
Bettung erblickte, antreiben, die bevorrechtete
Stellung Preussens im Deutschen Bunde zu de-
cretiren. Aber Friedrich Wilhelm liess sich bei
allem Wohlgefallen an der höchsten Würde
doch nicht überrumpeln. Im Widerspruch mit
den ihm so verhassten Tendenzen beharrte er
bei seinen dynastischen und feudalen Gegen-
gründen. Gagern und Welcker müssten ihn für
einen Pinsel halten, wenn sie meinten, dass er
sich zum Kriege mit Dänemark und zur Kaiser-
krone nöthigen Hesse. Nach verschiedenen Sei-
ten sprach er es aus, dass ihm, dem legitimen
Fürsten, das Diadem wohl von seinen Standes-
genossen, aber nimmermehr von der National-
versammlung angetragen werden könne, da sie
eine Ausgeburt der Revolution sei. Ranke vin-
dicirt ihm daher das Verdienst, was ja gewisser-
massen auch durch die Ausrufung Kaiser Wil-
helms in Versailles bestätigt wird, dass bis
heute die Idee der Nationalsouveranetat in
Deutschland nicht festen Grund und Boden ge-
funden hat. Alle Einreden und Vorstellungen
konnten den König nicht bestimmen, der Kaiser-
deputation anders als ablehnend zu antworten.
Er hat sich auch hierüber gegen Bunsen, der
v.Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bansen. 779.
ihn freimüthig mit den stärksten Gründen be-
schwor anzunehmen und prophetisch das Wer-
den des Reichs voraussah, ausgelassen, nachdem
doch jede Verständigung mit dem alten Freunde
darüber, wie sich eine demokratische Bewegung
in eine constitutionelle umsetzen, wie aus Un-
recht Recht werden könne, längst unmöglich
geworden war. Von einer Majorität, die sich
weigert, die Zustimmung der Obrigkeiten ein-
zuholen, darf sich der Preussenkönig kein
Hundehalsband umschnallen lassen. Eben so
verächtlich spricht er von der inqualifiablen
Deputation, die ihm Nichts zn bieten habe;
citirt dagegen den Satz : gegen Demokraten hel-
fen nur Soldaten, und verlässt sich auf die be-
sonders im Osten seines Staats mächtig zur
Geltung kommenden schwarz- weissen Sympathien.
Er rechnet heraus, dass, wenn man die Macht
der Stimmen in Anschlag bringt, die Majorität
höchstens 6, die Minorität aber 23 Millionen
vertrete. Und doch bleibt er bei der halben
Zusage jener Circularnote und den Verheissun-
gen, womit die Ablehnung der Kroue verbrämt
worden. Seine Ambition ist, von Königen und
Fürsten erwählt provisorischer Statthalter und
definitiv Erzfeldherr zu werden, um in Deutsch-
land Ordnung zu schaffen. Auch ein Zuspruch
Sir Robert Peels, dem der König doch sonst
vertraute, wurde mit der Bemerkung zurückge-
wiesen, es sei ein Irrthum, in Deutschland einen
Volkswillen vorauszusetzen, wie er seit ein paar
Jahrhunderten in England da sei. Er lässt ihn
aber nicht gelten, weil er nicht mit den Bundes-
pflichten gegen gleichberechtigte Souveräne in
Einklang zu bringen ist. Sein Preussen, »die
herrliche Schöpfung Gottes durch die Geschichte«,
könne nimmermehr mit dem ihm als Fürsten
780 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 20..
und Christen so unlauteren Princip in Verbin*
dung gebracht werden.
Es braucht kaum daran erinnert zu werden,
wie die Bewegung fortan rückläufig wurde, wie
die Eaiserfrage mit der des engeren Bundes
verhängnissvofi verschlungen blieb. Der König
von Preussen, so unterwürfig gegen Oesterreich
und doch im vollen Bewusstsein, nicht nur der
zweitmächtigste, sondern auch der Antagonist
im Reich zu sein, konnte weder den Dreikönigs*
bund noch die Erfurter Union behaupten. Der
Deutschen Einigung redete von allen Gross-
mächten allein England das Wort, aber dasselbe
England war der heftigste Widersacher der von
Deutschland gegen Dänemark erhobenen An-
sprüche. Als, endlich von Oesterreich und dem
wiederkehrenden Bundestage in die Enge getrie-
ben, Preussen das Schwert zog, blieb es halb in
der Scheide stecken. Die Niederlage von Olmütz
war die unvermeidliche Schlussfolgerung einer
Politik, die jeder Kraft zu handeln entbehrte.
Zum Glück rief die Schmach gleich der von
Jena laut und unwiderstehlich nach Sühne. Der
arme Fürst selber noch wurde von Widerwillen
gegen Wien ergriffen. Erst unter seinem Nach-
folger wurde ins Blei gerückt, was völlig aus
den Fugen gewichen schien.
Recht dürftig sind die Mittheilungen über
das preussische Verfassungswerk, während es doch
nicht zu bezweifeln ist, dass der König mit Bunsen
auch über die Constitution vom 31. Januar 1850
correspondirt hat. Erst in dem Bruchstück aus
einem Briefe vom 11. Januar 1852 versicherter
seine auch in England beargwöhnte Verfassungs-
treue, fügt indess hinzu, »dass der Ausdruck
des modernen Constitutionalismus in der Ver-
fassungsurkunde Preusßens Tod werden muss«»
v.Ranke, Briefwechsel Fr. WilhJV.m.Bunsen. 781
Wie stimmt das doch zu jener Reaction, die mit
Einsetzung des Herrenhauses darauf hinarbeitete
die Constitution Stück fur Stück umzumodeln.
Etwas mehr erfahrt man über die Stellung,
welche dar König gegen den Staatsstreich Louis
Napoleons nahm. Da* meinte er wohl einen
Augenblick nach dem Rücktritt Lord Palmer-
stons mit Russland und England, diesen beiden
Antipoden, im Bunde der Anerkennung des Ge-
walthabers entgegentreten, oder Angesichts der
Wiederaufrichtung des französischen Kaiserthums
die vier anderen Grossmächte vereinen zu kön-
nen. Er behauptete besser informirt zu sein
als die Regierung Victorias über das Einver-
ßtändniss Louis Napoleons mit der gottlosen
europäischen Verschwörung und wünschte drin-
gend, dass ihm die Mächte wegen der Tractate
reinen Wein einschenken und die Territorial-
garantien feierlich erneuern möchten. Als er
sich jedoch der beiden Eaiserhöfe, namentlich
Wiens nicht sicher fühlte, wünschte er Belgien
vor dem »neu gekrönten Raubvogel« zu schir-
men und trug sich mit einer Defensivallianz
Englands, Preussens, Hollands und Belgiens, um
die schwächliche Uebereinkunft der vier Gross-
mächte und Englands übereilte Anerkennung
Napoleons III. wieder gut zu machen. Wie
wäre aber hiezu der wieder zur Macht gelan-
gende Lord Palmerston zu bewegen gewesen,
der, ein Widersacher der Orleans, dann Oester-
reichs und jetzt Russlands, nunmehr im Bunde
mit dem neuen Machthaber Frankreichs die
britische Politik dem Kriege entgegenführte.
Man wird Rankes knappe, lichtvolle Erörte-
rung der orientalischen Frage, über die er sich
bei früherer Gelegenheit schon öffentlich ge-
äussert, wie seinen ganzen Commentar zu des
782 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 20.
Königs Briefen gerade deshalb mit besonderem
Vergnügen lesen, weil ihm sein Urtheil über die
Gegenwart, wenn auch oft von den landläufigen
Meinungen abweichend, feststeht und den Cha-
rakter der historischen Objectivität wahrt.
Friedrich Wilhelm nicht weniger blieb sich auch
in dieser Angelegenheit gleich. Wie immer
verabscheut er den Krieg, will die Türkei er-
halten und missbilligt den von Kaiser Nicolaus
geforderten einseitigen Protectorat über die grie-
chische Kirche, weil er nur zum Conflict fuhren
könne. Dagegen frohlockt er über die Bereit-
willigkeit der Türken, lieber allen christlichen
Confessionen gleiche Religionsfreiheit zu gewäh-
ren, was ja auch Russland befriedigen und
Europa vor dem Erbstreit sichern müsse. Mit
wahrem Humor malt er aus, wie der liebe
Schwager, sein täppisch bärenhaftes Verfahren
einsehend, den anderen dafür noch danken werde,
dass sie ihm verschafft hätten, was er bereits
aufgegeben. Zu dem Behuf forderte er mehr
als einen bestätigenden Ferman, nämlich einen
Sened, durch welchen die Pforte eine förmliche
Verpflichtung übernommen haben würde, und
war unglücklich, dass die englische nnd öster-
reichische Regierung nicht zustimmten, weil sie,
mit Verkennung ihrer Christenpflicht in der
stärkeren Garantie eine Schwächung der Türkei
erblickten. In dem schwierigsten Problem der
europäischen Gesammtpolitik will er seinem Ge-
wissen, seinem christlichen Ehrgefühl und seinen
Ahnungen von den Rathschlüssen Gottes über
den Orient folgen, spricht England jedes Fas-
sungsvermögen »über das Walten eines christ-
lichen, einsichtsvollen, wahren, zu Hause all-
mächtigen, edelsten Mannes und Charakters«
ab und warnt vor der »unchristlichen Thorheit«
y. Ranke, Briefwechsel Fr. Willi . IV. m. Bansen. 783
dem Islam gegen Christen zu Hilfe zn eilen.
Da kam nnn aber durch die herausfordernden
Schritte des Russenkaisers das Eriegsbändniss
Napol&n» III. mit England zu Stande. Man
weiss, wie Friedrich Wilhelm, von den West-
mächten, von Oesterreich und Russland umwor-
ben, sich nicht von seinem neutralen Standpunkt
hinwegzerren liess, besonders aber mit dem
Vernichter der Verträge von 1815 Nichts ge-
mein haben wollte, wie er darüber wenig ruhm-
voll sogar für einen Augenblick aus dem Con-
cert der Grossmächte verdrängt worden ist. In
seinem letzten politischen Schreiben an Bunsen
verlangt er als Preis für seine guten Dienste
von Grossbritannien nicht nur Garantie des vol-
len Territorialbestandes des Deutschen Bundes,
sondern dass ihm im Frieden sein treues Neuen«
bürg wieder verschafft werde. Dagegen droht
er, falls er durch den »Incest Englands mit
Frankreich« angegriffen werde, sich auf Leben
und Tod mit Russland zu verbinden. Kein
Wunder, wenn man einen Fürsten, welcher der-
gleichen von einer Macht verlangen konnte, die
in einem die christliche und die muhamedani«
sehe Welt aufregenden Kriege stand, nicht als
vollwiegend betrachtete.
So schmerzlich es ihn berührte, hat er darü-
ber Bunsen, als ihn dieser bestimmen wollte,
gegen Russland Partei zu ergreifen, zurückrufen
müssen, ohne jedoch den brieflichen Verkehr mit
dem in den Ruhestand Tretenden völlig abzu-
brechen. Nichts klingt darin seltsamer als beim
plötzlichen Tode des Kaisers Nicolaus die Apo-
theose aus der Feder dessen, der über ihn so
manchen Witz gemacht. Er verlangt von Bun-
sen Reue zu empfinden wegen des Hasses, den
er dem grossen Herrscher gezollt. »Wenn Sie
784 Gott, gel Anz. 1873. Stück 20.
einst (wie er) durch den einfachen Glauben an
Christi Blnt begnadigt, ihn im ewigen Frieden
sehen, so denken Sie daran, was ich Ihnen
heut schreibe: »Sie werden ihm abbittenc. Man
fragt erstaunt, sind das die Motive, nach denen
von oberster Stelle die Dinge dieser Welt sich
lenken lassen?
Nachdem zur Erklärung der Widerspräche
im Wesen dieses ganz ungewöhnlichen Fürsten
«ein Verhältniss zu Alexander von Humboldt
höchst anziehend charakterisirt und ein langer
launiger Brief an Bunsen über die Aussichten
einer christlichen Mission in* China, wie sie
Gützlaff im Jahre 1850 einblies, mitgetheilt wor-
den, kommt der Herausgeber noch einmal auf
Friedrich Wilhelms Kirchenthum zu reden. Da
«cheuchte ihn, von dessen katholisirenden Nei-
gungen 60 viele üble Gerüchte giengen und des-
sen Regierung in der That mit der Katholischen
Kirche Frieden gemacht und zu halten ent-
schlossen war, in den letzten klaren Jahren sei-
nes Lebens die Definition der unbefleckten Em-
pfängniss Maria zu ernstlichen Bedenken auf. Noch
immer war es ihm Bedörfniss, sich an Bunsen
zu wenden, so wenig ihn auch die theologischen
und geschichtsphilosophischen Studien anmuthen
mochten, denen sich dieser damals in Heidel-
berg hingab. Noch einmal drängte ihn der In-
stinct des evangelischen Fürsten vorwärts, der
doch von der päpstlichen Allmacht Gefahr für
den Staat zu wittern begann. Er möchte jetzt
die gesammte evangelische Kirche, falls sie nicht
zur Mumie geworden, ihre höchsten Autoritäten
in den Hauptgliedern zu einer grossen Demon-
stration wider das am 8. December zu procla-
mirende neue Dogma hinreissen. Seinem phan-
tastischen Geiste schwebte bereits vor, was
v. Ranke, Briefwechsel Fr. Wilb. IV. m. Bunsen. 785
Bansen beim Erzbischof von Canterbury, was er
jenseits des Weltmeers vermitteln könnte, um
einem solchen Aergerniss der Christenheit vor-
zubeugen» Um so empfindlicher berührte ihn,
der von den deutschen Protestanten ungefähr
dasselbe hielt, wie von dem deutschen Libera-
lismus, dass Bunsen gegen den ultramontanen
Widersinn das Schwert der Kritik und den Krieg
mittelst der Presse vorzog, lieber diese ideali-
stischen Träume trug sich der König im Jahre
1855 abermals mit Berufung einer General-
synode, bei welcher Gelegenheit immer noch die
Grundzüge seiner seit 1839 stereotyp gebliebe-
nen Kirchenverfassung durchblickten. Er blieb
dabei, dass die Kirche gebaut sei, dass es
keinen anderen Bau gäbe, als den durch die
heilige Schrift und die älteste Geschichte ge-
zeichneten, dass geographische und obrigkeitliche
Anordnung nur die Aufgabe habe, die gläubigen
Laien wieder unter Dach zu bringen. Doch ist
nicht zu verkennen, dass seine Aeusserungen
ein mehr evangelisches Gepräge annehmen, wie
er denn bekanntlich Bunsens Erscheinen auf der
evangelischen Allianz im September 1857 ver-
anlasste. Diese resignirte Haltung stimmt zu-
sammen mit der Entfremdung von Oesterreich,
das auch ihm mit Undank gelohnt, so dass er
gegen Ende seiner Regierung sogar dem Gedan-
ken eines Bruchs näher trat, mit dem endlich
ausgesprochenen Verzicht auf Neuenburg, wo
im Jahre zuvor die Getreuen eine unglückliche
Schilderhebung versucht und dadurch wenigstens
für einen Augenblick den Süddeutschen und
OeBterreichern zum Trotz die Möglichkeit eines
preussischen Marsches gegen die Schweiz auf-
tauchte. Nicht lange hernach wurde der König
von dem Schlage getroffen, in Folge dessen sich
60
786 Gott, gel Anz. 1873. Stuck 20.
immer schwerer der Schleier der Nacht fiber
seinen reichen, bunten Geist senkte.
Wir brauchen nicht zu wiederholen, wie ihn
Bänke höher stellt, als man heute gemeinhin
geneigt ist zuzugeben. Bei vielen Schrullen, bei
dem unzeitgemässen , unwahren Grundwesen
seiner Romantik kleidete ihn doch seine per«
sönliche Ueberzeugung von ewigen und weltli-
chen Dingen in eigentümlicher Weise. Wer
möchte das Schlussurtheil ernstlich anfechten?
»Die Gemeinschaft der gesammten Christenheit
umfasste er von einem freieren Standpunkt aus,
als der römische Papst: die lateinische und die
griechische Kirche betrachtete er als gleichbe-
rechtigte Glieder derselben .... Er gestattete
mancherlei Formen .... nur da hörte seine
Anerkennung auf, wo der lebendige Gott nicht
mehr unmittelbar angebetet und das ewige Heil
aus den Augen gesetzt wurde .... Die politi-
sche Gesinnung des Königs wurzelt in dem
Kampfe gegen den ersten französischen Impera-
tor .... in ihm hasste er nicht sowohl die Per-
son, als den Vertreter des revolutionären Prin-
cipe <. Er verwarf dann das liberale System,
weil er zwischen ihm und dem Badicalismus
keine Grenze entdecken konnte, verleugnete auch
das eigene Princip nicht, selbst nachdem ersieh
zum constitutionellen Fürsten hatte bequemen
müssen. Es ist schon hervorgehoben worden,
wie weit es ihm gelang, gegen die volkssouverä-
nen Anschauungen einen Damm zu ziehen.
Andererseits gibt doch auch Bänke zu: »dass
zwischen seinen Ideen und ihrer praktischen
Durchführung, bei den ganz veränderten Um-
ständen ein weiter Abstand eintrat; sein nach
vielen Bichtungen hin anstrebender Geist bildete
eine neue Schwierigkeit für die Verwaltung.
v.Ranke, Briefwechsel Fr. Wilh. IV. m. Bunsen. 787
Mit der verdienstvollen Bnreaukratie, die er vor
sich fand, konnte er sich nie verständigen, da
er sie unaufhörlich nach einem Sinne lenken
wollte, der nicht der ihre ware Daher bo viel
Unthätigkeit und Schwanken während seiner Re-
gierung, deren Selbsterkenntniss sich nur daran
bewährte, dass sie ehrlich bei der neutralen
Politik zu beharren suchte. Was hätte werden
müssen, wenn Friedrich Wilhelm IV. mit allen
seinen Eigentümlichkeiten auch hätte selbstän-
dig handeln wollen. So blieb er wiederholt vor
dem verhängnissvollen Schritte stehn. Dass das
monarchische Princip in der preussischen und
darnach auch in der deutschen Verfassung un-
entwurzelt geblieben, ist nichts desto weniger
sein Werk, so wie seiner so heftig getadelten
Haltung während des Krimkriegs die anhal-
tend guten Beziehungen zu Russland, dem
einzigen Bundesgenossen von längerer Dauer,
verdankt werden müssen. Er hat die Präroga-
tive des unbeschränkten Oberbefehls über die
Armee stets festgehalten und sich weder durch
die Berliner Nationalversammlung noch durch
den Erzherzog Reichsverweser drein reden las-
sen. Die Schmach von Olmütz deckte freilich
arge Unzuträglichkeiten in den Finanzen wie in
der militärischen Rüstung auf. Die sind erst
endgiltig durch eine Politik der realen Inter-
essen abgestellt worden, ohne welche Preussen
und Deutschland nimmermehr zu politischer
Constituirung und zur Befreiung von französi-
schem und römischem Alpdruck gekommen sein
würden.
Gewiss stellt die merkwürdige Auswahl aus
seinen Briefen den König Friedrich Wilhelm IV.
jetzt viel unmittelbarer der Nachwelt vor die
Augen« Sie hat aber überdies das indirecte
60*
788 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 30.
Verdienst, so geringfügig quantitativ die Mit-
theilungen aus Bunsens Briefen sind, den Frei-
mutb dieses Correspondenten weit mehr zur
Anerkennung zu bringen, als das bisher selbst
durch die bekannte Biographie möglich war.
R. Pauli.
Weber, Dr. Theodor, a. o. Prof. der PhiL
an der Universität zu Breslau: Staat und
Kirche nach der Zeichnung und Absicht des
T71tramontanismu8. Urkundlich dargestellt. Bres-
lau, A. Gosohorsky's Buchhandlung, 1873. 191
Seiten.
Eine sehr dankenswerthe Arbeit und die
allgemeinster Beachtung dringend zu empfehlen
ist. Die eigentliche Gestalt des Ultramontanis-
mus ist hier mit einer Deutlichkeit und zwar
auf der Grundlage von urkundlichem Material
gezeichnet, dass Niemand mehr in Zweifel sein
kann, wie es mit der Partei beschaffen ist, mit
welcher das deutsche Reich jetzt wieder, wie
schon so oft, den Kampf hat aufnehmen müs-
sen. Allerdings, die hauptsächlichste Urkunde,
auf welche der Verf. sich stützt und aus der er
uns Auszüge mittheilt, ist das Buch eines italie-
nischen Jesuiten, das Matteo Liberatore, welches
unter dem Titel »Kirche und Staat« im Jahre
1871 zu Neapel erschienen ist. Aber wird der
Ultramontanismus und werden namentlich die
Jesuiten im Stande sein, dies Buch zu verleug-
nen unter dem so oft von ihnen ergriffenen Vor-
wande, dass, was Einer ihres Ordens geschrie-
ben habe, nicht dem ganzen Orden zur Last ge-
Weber, Staat und Kirche etc. 789
legt werden könne? Zunächst würde da zu er-
wiedern sein, dass das Buch des Matteo Libera-
tore lediglich in Artikeln besteht, welche ur-
sprünglich in der Civiltä Gattolica veröffent-
licht worden sind, diesem zu Rom erscheinenden
Blatte, welches nicht bloss das Organ des Jesu-
itenordens, sondern auch durch Breve vom 12.
Februar 1866 von Seiten Pius' IX. selbst für
das officielle Organ der römischen Curie erklärt
worden ist, und da möchte es denn doch schwer
sein, den guten Bruder Matteo zu desavouiren
und Einsichtige glauben zu machen, man habe
es hier nur mit der Privatmeinung eines einzel-
nen Mannes und nicht mit den Ansichten des
Ordens und der von diesem geführten Partei zu
thun. Dann aber haben sich auch andre ton-
angebende Organe des Ultramontanismus und
zwar auch ausseritalienische zu den Ansichten
Liberätore's bekannt : nicht bloss die Dublin Re-
view in ihrem Aprilhefte vom Jahre 1872, son-
dern auch der Mainzer »Katholik«, das Blatt,
welches von dem Führer der Ultramontanen in
Deutschland seine Directionen erhält, bat im
April 1872 das italienische Buch ȟber alles
Maass gelobt und es nicht bloss als eine con-
crete Zeichnung der katholischen, d. h. ultra-
montanen Verhältnissbestimmung von Staat und
Kirche angepriesen, sondern auch den Gläubi-
gen zur Nachachtung auf das Eindringlichste
empfohlene. Da wird denn allerdings unser
Verf. wohl Recht haben, wenn er auch seiner
Seite das Buch Liberätore's für das nimmt,
was es selbst sein will, und es deshalb als die
hauptsächlichste Quelle für Erkenntniss der ul-
tramontanen Richtung benutzt, zumal ja die ge-
nannten Blätter es selbst als »eine wissenschaft-
liche Begründung der Encyclica und des Syllabusc
790 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
bezeichnen, »so weit beide über das Verhältniss
von Staat und Kirche bandelnc, und zumal,
was anch in's Gewicht fallt, es jedem nnr eini-
germassen aufmerksamen Leser bald einleuch-
tend werden muss, dass die ultramontane Par-
tei, nicht bloss der Papst selbst, sondern auch
die deutschen Bischöfe ganz nach den Grund-
sätzen handeln, welche Liberatore der Welt als
die allein richtigen verkündigt hat. Getrosten
Muthes dürfen wir uns daher der Führung unse-
res Verf. überlassen und Ausreden, wenn sie
noch gemacht werden sollten, eben als das be-
trachten, was sie sind, als Ausreden, denen kein
Werth weiter beigelegt werden kann.
Und was ist es denn nun da, das wir über
die Anschauungen des Ultramontanismus in Hin-
sicht des normalen Verhältnisses zwischen Staat
und Kirche und über die da zu erstrebenden
Ziele erfahren? In der That kann das Bild von
der politisch-kirchlichen Welt, das Fra Matteo
entwirft, von seinen Principien aus nicht conse-
quenter, aber auch in nicht höherem Masse das
gerade Qegentheil von dem sein, was in allen
nicht ultramontanen Kreisen als das allein rieh- -
tige Verbältniss zwischen den beiden grossen
Gewalten gilt, um die es sich da handelt. Völ-
lige Unterordnung des staatlichen und bürgerli-
chen Lebens unter die Kirche, d. h. unter den
Papst, in dessen Person alle kirchliche Gewalt
und Machtvollkommenheit zusammen gefasst
wird, das stellt uns der Jesuit als dasjenige
hin, wa6 allein gebilligt werden kann und worauf
Alles hinaus gehen muss: der Papst die höchste
Obrigkeit auf Erden, der Ausfluss aller anderen
Gewalt, die es sonst geben mag und deshalb
auch der oberste Richter über alle sonstige
Obrigkeit, so dass namentlich der Staat ihm
Weber, Staat und Kirche etc. 791
unterthänig und alle Inhaber staatlicher Gewalt
nur seine Werkzeuge sind. Die kühnsten Träume
einer universalen Weltregierung durch den rö-
mischen Kirchenfürsten, wie sie nur je in der
mittelalterlichen Zeit die Papst-Könige in Rom,
einen Gregor VII., einen Innocenz III., einen
Bonifacius VIII. beseelt haben, sehen wir in
dem vorliegenden Buche auch jetzt wieder von
Seiten dieses Stimmführers des Ultramontanis-
mus geltend gemacht, wie er denn auch aus-
drücklich sich auf die »Bulla dommatica« Boni-
facius des VIEL, die bekannte »Unam sanctam
ecclesiam« beruft und in ihr dasjenige Kirchen-
und Weltgesetz erblickt, das noch jetzt unwan-
delbar fest stehe und von welchem, als ex ca-
thedra erlassen, auch kein Titelchen in Wegfall
kommen oder nachgelassen werden darf. Ge-
rade diese Bulle in Ausführung zu bringen, er-
scheint dem Kirchenpolitiker der Civiltk als das
Ziel aller Bestrebungen der heutigen Kirchen-
männer, und recht ausdrücklich handelt er über
»den autoritativen, für die Ermittelung der
göttlich geoftenbarten Wahrheiten massgebenden
Charakter« dieses Aktenstückes, darlegend, dass
dasselbe »seinem ganzen Umfange nach die
Autorität eines Dogma's habe und daher in eben
derselben Ausdehnung ein fur jeden Katholiken
im Gewissen verpflichtendes Glaubensdocument
sei«. »Zum Heile der Seelen, in der höchsten
Autorität des römischen Papstes und des heili-
gen Stuhles und auf Grund der Einheit und
Macht der Kirche, seiner Braut«, so hat auch
Leo X. seiner Zeit gesagt« »erneuern wir hier-
mit die genannte Constitution, die Bulle »Unam
sanctam«, und heissen sie gut unter gleichzeiti-
ger Gutheissung derselben von Seiten des gegen-
wärtigen heiligen Concils«, nämlich des fünften
792 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
Lataranischen, und »sollte nunc, ruft Liberatore
nach Anführung dieser Worte des Mediceers »in
gehobenem Tone« aus, »eine Bulle nicht dog-
matisch sein, die von zwei Päpsten bestätigt,
von einem ökumenischen Concil gutgeheissen
und in der eine feierliche Glaubensentscheidung
enthalten ist?« Da kann von einer Ermässigung
der in jener Bulle enthaltenen Forderungen
allerhöchster Machtvollkommenheit des römischen
Bischofs über alle anderen Gewalten der Erde
denn freilich nicht die Bede sein, die Bulle ist
ja eben göttliches Gesetz, von dem Nichts ab-
gebrochen werden darf, und in welcher Rück-
sichtslosigkeit dies gemeint ist, darüber lässs
Liberatore auch nicht in Zweifel. »Die grosse,
universale Genossenschaft , in welcher alle
Ghristgläubigen nur einen einzigen Leib bildenc,
darf und kann, so meint es der italienische Je-
suit, »auch nur ein einziges absolutes Haupt
haben c, und dieses ist freilich in unsichtbarer
Weise Christus, in sichtbarer aber sein Stell-
vertreter auf Erden, der römische Pontifex, wel-
chem Christus selbst das Amt eines höchsten
Hirten seiner Kirche übergeben hat«. Aber
»giebt es nun nur ein Haupt, so kommt diesem
auch zu, dass ihm das Alles, was in jenem
Leibe sich befindet, oder in irgend einer Weise
zu demselben gehört, unterworfen sein muss«,
und »demnach muss das weltliche Schwert, das
Symbol der bürgerlichen Autorität, dem geist-
lichen Schwert, dem Symbole der kirchlichen
Autorität untergeordnet sein. So fordert es un-
umgänglich die rechte Ordnung und die pflicht-
schuldige Beziehung der Dinge, von denen nach
einem göttlichen Gesetze die untersten den
mittleren, die mittleren den höheren untergeord-
net sind«, und »ein Jeder muss doch erkennen,
Weber, Staat und Kirche etc. 793
da8S die geistliche Autorität an Würde ?nd Be-
deutung jede weltliche in demselben Masse über-
trifft, als die geistlichen Interessen den weltli-
chen yorangehen«. Dies denn die Grundan-
schauung Liberatore's und gewissennassen das
Programm, das er nun, wie Weber uns zeigt, in
seinen Aufsätzen bis in das Einzelnste und
Kleinste hinein durchzuführen gesucht und gewusst
hat: da giebt es keine Beziehung auch im bür-
gerlichen und politischen Leben, in die der
Papst nicht schliesslich sich zu mischen befugt
wäre und wo nicht sein Wille zuletzt den Aus-
schlag geben müsste.
Aber ist es nun nicht in der That dan-
ken swerth, class der Verf. diese Schrift des ita-
lienischen Jesuiten den deutschen Lesern zu-
S [anglich gemacht und, wie wir hinzusetzen dür-
en, in sehr sachgemässer Weise beleuchtet hat?
Eins wird hier namentlich für immer widerlegt:
die seit dem 18. Juli 1870 von ultramontaner
Seite so oft vorgebrachte Behauptung, dass
die Tragweite der päpstlichen Unfehlbarkeit
sich auf die politischen Dinge nicht erstrecke.
Der italienische Jesuit, dessen Buch, wohlge-
merkt! yon dem Hauptorgane des deutschen
Episcopate, dem »Mainzer Katholiken« allen
Gläubigen angelegentlichst empfohlen worden ist,
weiss es doch besser, und nach ihm giebt es
eben kein bürgerliches und politisches Verhält-
nisse das nicht seine schliesslicbe und endgiltige
Ordnung von Rom aus zu empfangen hätte, und
da wird man doch, nachdem man sich zu Libe-
ratore's Ansichten öffentlich bekennt, auch nicht
mehr im Stande sein, das Dogma vom J. 1870
als so unverfänglich hinzustellen, wie man es zu
thun versucht hat. Und dann — welche Per-
spectiven eröffnen uns die Auseinandersetzungen
H
794 Gott. gel. Anz. 1873; Stuck 20.
des Italieners, welche uns hier von Weber in
ausführlicher Weise recapitulirt werden 1 Man
lese nur, was in §. 4 und 5 des vorliegenden
Buches über die »Folgen der Unterordnung des
Staates unter die Kirche, d. h. den Papst« ans«
einander gesetzt wird, und zwar nicht etwa
Consequenzen, die Weber aus den Sätzen Libe-
ratore's zöge, sondern Forderungen, unbedingte
und nimmermehr aufzugebende Forderungen,
welche der Sprecher des Ultramontanismus selbst
Seltend macht: da wird man leicht einsehen,
ass der Staat nur sich selbst vertheidigt, wenn
er gegen den Ultramontanismus mit allen seinen
Kräften sich zu wehren sucht. Nicht bloss völ-
lige Unabhängigkeit der Kirche in allen Stücken
vom Staat, sondern auch völlige Unterordnung
dieses unter jene wird da begehrt, und wenn
der Staat sich zu solcher Unterordnung nicht
bergeben will, dann ist die nächste Folge Auf-
lehnung und Empörung gegen ihn. »Eine Ge-
walt«, ruft Liberatore geradezu aus, »welche
gegen Gott«, d. i. gegen den Papst, der ja ganz
an Gottes Stelle ist, »sich erhebt, setzt sich in
offenen Aufruhr gegen den höchsten Herrn und
reisst sich los von dem Grunde, von welchem
sie herstammt«, aber »welche Geltung kann sie
da ferner noch behalten? In solcher Weise un-
gefähr urtheilt das Volk und seien wir über*
zeugt, Treulosigkeit erzeugt Treulosigkeit und
eine Regierung, die sich gegen die Kirche auf-
lehnt, wird Unterthanen haben, welche sich auf-
lehnen gegen sie selbst!« Kann da noch Etwas
deutlicher sein, aber darf man da noch die Re-
gierung tadeln, welche gegen die ihr da eröff-
neten Aussichten sich zu sichern sucht, so lange
es noch Zeit ist? Und eben so lese man, was
der Jesuit (§. 6 und 7) über Gewissens- und
Weber, Staat und Kirche etc. 795
Cultusfreiheit sagt: dass derselbe von beiden so
schwer errungenen Gütern des gegenwärtigen
Zeitalters Nichts wissen will, versteht sich von
selbst, aber er verlangt von dem Staate auch
nicht mehr und nicht weniger, als seinen Arm
zur Unterdrückung dieser Freiheit zu leihen.
Nur folgende Sätze heben wir da aus: »die
erste Bedingung für eine wirksame Verbindung
des Staatsgesetzes mit den Gesetzen der Kirche
ist die Anwendung der Gewaltmassregeln, über
welche der Staat selbst disponirt, in allen den
Fällen, in welchen die geistliche Strafe unzu-
reichend ist. Die Stimme des Hirten hat nicht
immer Kraft genug, um die reissenden Wölfe
von dem Schafstalle Jesu Christi fern zu halten,
und in einem solchen Falle nun ist es die
Sache des mit der Autorität des Schwertes be-
kleideten Fürsten, sich mit seiner Gewalt zu
bewaffnen, um alle Feinde der Kirche zu ver-
drängen und in die Flucht zu schlagen«, das
aber, fügt Liberatore hinzu, »ist nicht der Ver-
nunft entgegen, vielmehr ist es derselben sogar
sehr entsprechend, weil es der Ordnung und
Absicht Gottes durchaus gemäss istc In unbe-
dingter Weise hat der Fürst »mit der Kirche,
d. i. dem Papste, zum Heile der Seelen und
zur Erhaltung und Ausbreitung des Glaubens
zusammen zu wirken €, aber was das heisst,
wird klar, wenn man erwägt, dass nach der
Civiltä »diejenigen, welche gegen die geistliche
Autorität sich auflehnen , mit körperlichen Züch-
tigungen, durch Bestrafung an ihrem Vermögen,
durch ihnen auferlegte Beraubungen und Fasten,
durch Gefangniss und Schläge zur Unterwerfung
zurückgezwungen werden sollen c Dazu braucht
man in der That Nichts mehr hinzu zu setzen,
aber wir meinen es daher als eine sehr dan-
"n
796 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 20.
kenswerthe Arbeit bezeichnen zu dürfen, dass
der Verf. uns diese Dinge aufgedeckt hat. Sei
das Buch denn bestens und vor allen Dingen
denen empfohlen, welche noch nicht gewussi
haben, was für Feinde es sind , die da auf dem
Plane stehen I F. Brandes.
II commento medio di Averroe alia poetica
di Aristotele per la prima volta pubblicata in
Arabo e in Ebraico e recato in Italiano da
Fausto Lassinio. Parte seconda: la ver-
sione Ebraica di Tödrös Tödrösi con note. Pisa,
presso l'editore et traduttore, 1872. VII, 8 und
35 S. in Kleinfolio.
Der berühmte Arabische Arzt und Philo-
soph Ibn-Roshd, Lateinisch im Mittelalter
Averroes genannt, beschäftigte sich bekanntlich
viel mit dem Uebersetzen und Erklären der
Aristotelischen Schriften; und seine Bearbeitun-
gen der Aristotelischen Werke wurden (wie die
meisten Arabischen Werke der Art) sodann bald
ins Hebräische übertragen. Wenn der Hebräi-
sche Uebersetzer dieser Arabisch umgebildeten
Poetik sich Tödrös nannte, so ist das derselbe
aus Theodoros zunächst ins Morgenländische
der Christen umgewandelte Name welchen audi
der vor einigen Jahren durch den Englischen
Kriegszug so gewaltsam gestürzte und ums Le-
ben gekommene letzte Abessinische Kaiser trug;
und der Zuname Tödrösi bedeutet dass audi
sein Geschlecht sich ebenso nannte.
Man kann recht gespannt darauf sein wie
Ibn-Roshd ein solches sowohl seinem Inhalte als
seiner Kunstsprache nach durchaus nur Griechi-
sches Buch wie Aristoteles9 Poetik ins Arabische
Lasinio , II commento medio di Averroe etc. 797
fibertrag. Ohne das gesammte Griechische Alter-
thum von Seiten der Kunst und der Geschichte
richtig und übersichtlich im Auge zu haben,
kann man dieses Buch nicht wohl verstehen;
und sogar für uns sind heute, nachdem soviele
neuere Gelehrte es völlig wieder zu verstehen
bemüht gewesen sind, der mehr oder weniger
unklaren Stellen darin noch viele. Wie sollten
nun die Araber im Mittelalter es in allen Ein-
zelnheiten vollkommen verstanden haben, da
ausserdem eine acht Arabische Poetik wie die
dortigen Gelehrten sie aus ihren Morgenländi-
schen Mustern aufbauten, mit einer Griechischen
wie Aristoteles sie gab fast durchaus nichts ge-
meinsam hat? In eine Poetik wie sie nur auf
dem Grunde einer genauen Kenntniss der Dich-
tungen aller auch der verschiedensten Völker
sich richtig aufbauen kann , hatte dazu Aristote-
les selbst auch noch nicht den ersten Blick ge-
worfen, noch richtig erkannt wie die Dichtung
selbst und wie ihre einzelnen Kunstarten ent-
standen seien.
Herr Prof. Lasinio will nun in einem ersten
Bändchen diese Arabische Uebersetzung zum er-
sten Male veröffentlichen, und in einem dritten
eine Italienische Uebersetzung sowohl des Ara-
bischen als des Hebräischen mit weiteren Be-
merkungen geben. Von diesen drei Bändchen
liegt hier das zweite in einem schönen und zu*
verlässigen Drucke mit sorgfältiger Bemerkung
der verschiedenen Lesarten zweier Handschrif-
ten vor. Das erste Bändchen jedoch, ohne wel-
ches man diese Hebräische Uebersetzung der
Arabischen nicht sicher genug würdigen kann,
haben wir uns bis jetzt vergeblich bemühet ein-
zusehen ; und nach einer dem letzten Blatte des
Umschlages dieses zweiten beigefügten schritt-
798 Gott gel. Anz. 1873. Stück 20.
liehen Nachricht scheint es noch nicht erschie-
nen zu sein. Indem wir demnach diesem Werke
mit allen seinen drei Bändchen für jetzt nur
eine glückliche Beendigung anwünschen können,
bemerken wir noch folgendes. Einige Bruch-
stücke dieser Hebräischen Uebersetzung waren
nach der Wiener Handschrift schon 1795 in
einem Sammelwerke wo man sie nicht leicht er-
wartet erschienen, in Eichhornes Allgemeiner
Bibliothek der Biblischen Literatur, Bd. VH.
Wir meinen jedoch kaum dass der jetzige Heraus-
geber über die Unvollkommenheiten jenes Dru-
ckes und der dort beigefügten Französischen
Uebersetzung der Bruchstücke sich so sehr zu
wundern Ursache hat. Jene Uebersetzung war
yon einem damals als ein bedeutender Gelehr-
ter gerühmten Juden, L. Bendavid. Allein auch
unter den gelehrten Juden jener Zeit stand da-
mals die Kenntniss des Hebräischen in Deutsch-
land sehr tief, trotz oder vielmehr wegen der
Neuerungen Mendelsohn's, welche um jene Zeit
das Judenthum unter uns soviel beschäftigten.
Die seitdem verflossenen 80 Jahre sind aber in
Deutschland auch nach dieser Seite hin nicht
umsonst gekommen. H. E.
Die Ueberreste altdeutscher Dichtungen von
Tyrol und Fridebrant. Gesammelt, heraus-
gegeben und erläutert von E. Wilken. —
Paderborn Druck und Verlag von F. Schöningh.
1873. — 44 SS. 8.
Die bisher zerstreuten und nur wenig be-
achteten Fragmente, die uns unter den Namen
eines Königs von Schotten Tyrol und seines Soh-
nes Fridebrant überliefert sind, liegen hier ver-
einigt vor. In Bezug auf den Ursprung der so
Wilken, D. Ueberreste altdeutsch. Dicht, etc. 799
viele dunkle Seiten bietenden Sage von Tyrol
(vergl. SS. 35, 36) verdient wol noch der Um-
stand Beachtung, class Schotten, schottisch u. 8. w.
im MA. häufig geradezu für Irland, irisch u. 8. w.
gebraucht wird*), wonach es erlaubt scheint,
den von Grimm allerdings angefochtenen Zusam-
menhang der Tyrol-Fridebrant- mit der irischen
Brandan-Sage wenigstens als möglich gelten zu
lassen. Von den britischen Inseln ist uns die
Sage, direct oder indirect, doch wol zugekom-
men, und eine keltische Etymologie erscheint
darnach gerechtfertigt, doch lege ich auf die
S. 35 Anm. 4 versuchte Deutung**) darum we-
nig Gewicht, weil ich des Keltischen noch un-
kundig bin und nicht in der Lage war von Kel-
tieten Auskunft zu erhalten.
Der gewöhnlichen Ansicht entgegen habe ich
die epischen Fragmente für gleichalt, wenn nicht
älter als das sog. Lehrgedicht angesetzt. Der
Möglichkeit, dass in dem Lehrgedichte selbst
ältere und jüngere Theile zu unterscheiden seien,
wird man um so mehr Raum vergönnen müssen,
als gerade Dichtungen didaktischen Inhalts im
MA. sich nur zu oft jüngeren Interpolationen
und Weiterführungen ***) ausgesetzt fanden.
Solche jüngere Zuthat mögen selbst die beiden
der Lehre vorausgeschickten Räthsel sein, wo-
gegen die Lehre (etwa mit Ausschluss weniger
Strophen) den epischen Bruchstücken in ihrer
ursprünglichen Abfassung f) gleichaltrig zur Seite
*) Ich ward von befreundeter Seite zuerst hierauf
hingewiesen.
**) Bei der Erklärung von Thüringen ist natürlich
auch der Name der Hermunduren in Betracht zu ziehn.
***) Ueber die jüngeren Theile des Winsbeken vergl.
jetzt meinen Aufsatz in der Germania XVII, 410 fg.
f) Die mitteldeutschen Sprachformen der Hs. schei-
nen doch nur auf Rechnung des Schreibers zu kommen*
800 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 20.
stehen, wenn nicht in den Rahmen desselben
Gedichts gehören wird.
Eine neue Vergleichang der Pariser Ha., die
nach Hagens sorgsamem Abdruck wol nicht Viel
erbracht hätte, konnte ich nicht vornehmen,
doch hoffe ich den Text an einigen Stellen emen-
dirt zu haben, hier und da werde ich vielleicht
den Vorwurf unnöthiger Aenderung erfahren.
Bei der Erläuterung des Sachlichen (namentlich
des Gnomischen) habe ich mich auf die Be-
nutzung nahe liegender Denkmäler beschränkt,
da um dieser zwar interessanten, aber wenig
umfangreichen Bruchstücke willen eine Durch-
forschung der ganzen altdeutschen Literatur nicht
wol erwartet werden kann.
Am nächsten stehen dem Lehrgedicht der
Winsbeke und Freidank, doch mehr ersterer.
Im Tyrol ist der Zögling als junger Fürst, im
Winsbeken als Ritter gedacht, in Beiden ist uns
das Ideal der hohem Lebenskreise des deutschen
Mittelalters theoretisch vor Augen gestellt, wäh-
rend wir den praktischen Commentar dazu vor-
zugsweise bei Hartmann und Wolfram finden.
Dieser Richtung schliesst sich im Uebergang zu
einer andern auch Tbomasins Welscher Gast
noch an, während im Freidank bereits der Preis
bürgerlicher Tugend und eine mehr für die
Mittelclassen berechnete Philosophie deutlich
hervortritt ohne darum ziemlich häufiger Remi-
niscenzen an die höfische Zeit zu entbehren.
Mit dem Renner beginnt wiederum eine neue
Richtung der Lehrdichtung, die gelehrt-subjective,
die sich so lange erhielt, bis durch die Refor-
mation das ethische Interesse zum religiösen ge-
steigert ward und in Luthers Bibelübersetzung
Bich befriedigen konnte. E. Wilken.
801
G ö tt i n $ i s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsiebt
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 21. 21. Mai 1873.
Abhandlungen zu Frankfurt's Re-
formationsgeschichte. Von Dr. Georg
Eduard Steitz. (Gerhard Westerburg.
Jacob Micyllus. Luther's Warnungs-
schrift Dionysius Melander). Separat-
abdruck aus dem Archiv für Frank-
furt's .Geschichte und Kunst. V. Band.
Frankfurt a.M. Druckerei von August
Osterrieth. 1872. 4°. 281 SS.
Der Verfasser des vorliegenden Bandes, dem
wir schon so manchen werthvollen Beitrag zur
Geschichte der Reformationszeit schulden, hat
durch die Sammlung einiger Monographieen sich
aufs Neue ein Recht auf unsre Dankbarkeit er-
worben. Auch hier, wie in einer früheren Ar«
beit*), hat er in der Special-Geschichte der
Stadt Frankfurt den verbindenden Faden zu fin-
*) S. G. £. Steitz: Reformatorisohe Persönlichkei-
ten, Einflasse and Vorgange in der Reichsstadt Frank-
fort am Main von 1519 — 1522. Separat- Abdruck aas
dem Archiv far Frankfurts Geschichte und Kunst 1Y.
Band. 1868»
61
802 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 21.
den gewusst, welcher von dem einen Gegenstand
zum andern hinüberführt. Es ist nicht meine
Absicht den Inhalt des ganzen Bandes erschöpfend
zu besprechen. Einer geübteren Feder überlasse
ich es, die letzten Abhandlungen, die er enthält,
nach Gebühr zu würdigen. Es genüge über sie
nur Weniges anzudeuten. Die eine ergänzt und
berichtigt- Class ens Micyllus in erwünschter
Weise, indem sie in scharfsinniger Deutung Mi«
Sllischer Verse und mit Heranziehung von Otto
elanders Werk »Jocoseria< klarlegt, dass der
Weggang Micylls von Frankfurt 1533 wesentlich
durch 8 einen Unmuth über die gehässigen Kon-
flikte mit den Zwinglischen Prädikanten und ih-
rem Anhang veranlasst war. Die andere, un-
mittelbar an dieses Thema anknüpfend, behan-
delt »Luthers Warnungsschrifb an Rath und Ge-
meinde zu Frankfurt 1533 und Dionysius Melan-
ders Abschied von seinem Amte 1535« mit gu-
ter Benutzung aktenmässiger Frankfurter Auf-
zeichnungen. Da der Verf. S. 278 bedauert,
dass über Melanders Wirksamkeit in Hessen so
gut wie nichts zu erfahren sei, so bemerke ich
nur beiläufig, dass ich ihn in Wigand Lauzes
»Leben und Thaten Philippi Magnanimi« (ZS.
des Vereins für Hessische Geschichte und Landes-
kunde 1841. 1847 Supplement) Bd. I. 395 er-
wähnt finde (Tgl. Steitz 279). Dagegen fehlt
sein Name a. a. 0. II. 504, so man ihn auch
erwarten sollte. In Bd. 1. 179 wird neben Oe-
kolampad, Zwingli, Bucer, Hedio als einer von
denen genannt, die von Ferne her 1529 zum Mar-
burger Gespräch gekommen seien, durch welche
Zusammenstellung die Annahme von Steitz S.
277 gewissermas8en bestätigt wird. Nach Ranke
5 Reformations-Zeitalter IV. 187) hat er den
Landgrafen in dem Entschlüsse bestärkt, Mar-
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 803
garethe von der Saal zu seiner zweiten Gemah-
lin zu machen.
Ausführlicher ist über die erste Abhandlung
des vorliegenden Bandes zu sprechen, welcher,
wie dem Umfang (215 SS.) so dem Inhalt nach
bei Weitem die vornehmste Bedeutung zukommt.
Sie beschäftigt sich mit dem Leben und mit
den Schriften des Dr. Gerhard Westerburg. In
den Geschichten des Bauernkrieges, der Wieder-
täufer, der Stadt Frankfurt a. M. wohl auch der
Deutschen Reformation im Allgemeinen stösst
man nicht selten auf den Namen des Dr. Wester-
burg. Aber immerhin wird er vereinzelt er-
wähnt, eine genauere Besprechung, geschweige
denn eine ausführliche Lebensgeschichte des
merkwürdigen Mannes hat, so reizvoll der Stoff
erscheinen mochte, meines Wissens noch Nie-
mand versucht, in den meisten biographischen
Sammel- Werken , selbst solchen von Ruf, wie
Herzogs Real-Encyclopädie für die protestanti-
sche Theologie wird man seinem Namen ver-
geblich nachfragen. Nächst Kanne (s. dessen:
»Zwei Beiträge zur Geschichte der Finsternis s
in der Reformations-Zeit 1822« war es vorzüg-
lich Cornelius, welcher in seinem leider noch un-
vollendeten, bahnbrechenden Werke: »Geschichte
des Münsterischen Aufrührst die Aufmerksamkeit
auf Westerburg lenkte. Der Verf. seit Jahren
lebhaft für die Persönlichkeit des »fremden
Doctors und evangelischen Mannes«, als welcher
Westerburg in Frankfurt 1525 auftritt, inter-
essirt, bat es unternommen, den zerstreuten
Spuren seines Wirkens nachzugehn, und, wie viel
Zeit und Mühe eine Forschung der Art in ihrem
Gefolge hat, sie ist in diesem Falle reich be-
lohnt worden« An Westerburgs Beispiel zeigt
sich aufs Neue, ein wie grosser Schatz verbor-
804 Gott gel. Anz. 1873. Stuck 21.
gener Thatsachen auf dem Gebiet der Deut*
sehen Reformations-Geschichte noch zu heben
ist. Es ist durchaus naturgemäß, dass eine
Zeit, welche so reich an hervorragenden Per-
sönlichkeiten ist wie wenig andere, zunächst die
historische Untersuchung dazu auffordert, gleich-
sam diese höchsten Spitzen zu beleuchten. So-
bald diese aber in einigermassen klarem Lichte
erscheinen, werden auch die minder erhabenen
Objekte erhellt, und so manches von diesen, das
bisher nur in nebelhaften Umrissen erschien,
empfangt nun erst Form und Farbe. Wie viel
auf diesem Felde noch zu thun übrig bleibt,
möge nur Beispielshalber dadurch erläutert wer-
den, dass es bis jetzt an einer genügenden Bio-
graphie des merkwürdigen Eberlin von Günz-
burg fehlt.
Zu der Lebensbeschreibung Westerburgs ha-
ben zunächst seine Schriften, denen man bisher
wenig Beachtung hat zu Theil werden lassen,
viel Material geliefert. Sie sind, obgleich von
grosser Seltenheit, bis auf eine, dem Verf.
sämmtlich zugänglich gewesen. Obgleich ihre
Titel an gehörigem Ort genau angegeben wer-
den, wäre eine bibliographische Zusammenstel-
lung am Schlus8 im Interesse grösserer Ueber-
sichtlichkeit nicht unerwünscht gewesen. Eine
von diesen Schriften (No. II auf S. 196}. »Von
dem anbetten des H. Sacraments« finaet sich
auch auf der Göttinger Bibliothek unter Theol.
Thet. II. 133a. Demnächst sind mehrere Ar-
chive, wie die von Frankfurt, Köln, Königsberg
mit Erfolg auf Westerburgs Geschichte hin
untersucht und ausgebeutet worden. Nicht un-
bedeutend war endlich die helfende Theilnahme
des Herrn Pastor Krafft zu Elberfeld, der sich,
wie nach S. 215 zu schliessen ist, im Besitze
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 805
noch weiterer Nachrichten über Westerburg be-
findet, welche leider nicht mehr benutzt wer«
den konnten. Namentlich hatte der Verf. dem
genannten Gelehrten einige für die Biographie
höchst werthvolle Briefe zu verdanken, welche
eich in der Simmlerischen Sammlung zu Zürich
befinden. Man sollte nur wünschen, dass sie
(S. 192 ff.) im Originale und nicht in Ueber-
setzung mitgetheilt wären.
Allerdings wäre es, trotz des mühsam ange-
sammelten Stoffes, schwerlich möglich gewesen,
die Geschichte eines uns immerhin nur sehr
lückenhaft bekannten Lebens so weit auszu-
spinnen, wie es geschehen ist, wenn nicht der
Verf. es verstanden hätte, gleichsam dem allge-
meinen historischen Hintergrunde, von welchem
dieses vielbewegte Leben sich abhebt, einen be-
deutenden Raum in dem Rahmen seiner Darstel-
lung anzuweisen. Man mag zweifeln, ob hierin
nicht hie und da das rechte Mass überschritten
ist. So erscheint Abschnitt IV: Carlstadts Aus-
gang: ziemlich entbehrlich, da Westerburg in
diesem Abschnitt nur an einer Stelle zu erwäh-
nen war (S. 143. 144), und eine solche Erwäh-
nung sich leicht im dritten Abschnitt hätte ein-
fügen lassen können. Auch S. 186 — 190, die
sich lediglich mit einer Schrift Bullingers be-
schäftigen, hätten ohne Noth durch eine kurze
Uebergangs-Phrase ersetzt werden können. In»
des wir wollen mit dem Verf. nicht darüber
rechten und am wenigsten Anstoss daran neh-
men, dass er die früheren Angelegenheiten Carl-
stadts, die Anfänge des Anabaptismus, die er-
sten Stadien des Bauernkrieges, den Beginn des
Münsterischen Wiedertäuferthums ausführlicher
behandelt hat: Ereignisse, mit denen in der
That Westerburg8 Wirksamkeit enge verknüpft
806 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
erscheint. Versuchen wir es ihre wesentlichen
Züge an der Hand des Verf. wiederzugeben und
daran anzuknüpfen, was sich Ergänzendes oder
Berichtigendes darbietet.
Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
als Spross einer reichen Patricier-Familie zu
Köln geboren, begann Gerhard Westerburg da-
selbst in der Bursa Montana seine Studien,
wurde im März 1515 M. A. und bildete sich
darauf als Jurist in Bologna aus. Hier erlangte
er vermuthlich den juristischen Doctor-Grad.
Ein vorübergehender Aufenthalt in Rom scheint
auch ihm die Augen über den damaligen Zu-
stand der katholischen Kirche geöffnet zu haben.
Nach Köln zurückgekehrt, wurde er hier durch
einen Emissär Nikolaus Storchs für dessen
Lehre gewonnen und begab sich nach Sachsen
in die Nähe des neuen Propheten. Damals
lernte ihn Luther kennen*), welcher der Hoff-
nung Baum gab, er werde als »vir sincerus«
die gefahrliche Richtung der Zwickauer bald
wieder verlassen. Wenn nun allerdings Storch
und sein Anhang zunächst unschädlich gemacht
wurden, so blieb doch die radicale Opposition
Münzers und die Carlstadts gegen Luther, und es
ist unbestreitbar, dass Westerburg dieser letzten
sofort mit Lebhaftigkeit sich zuwandte, dass er
sogar ihre Grundsätze bis zu den äussersten
Eonsequenzen fortführte. Carlstadt und Rein-
*) Dass es gerade in Wittenberg geschah, wie Steife
6 nach Cornelias I 89 annimmt, scheint mir doch
nicht ganz sicher. Wenigstens geht es ans Luthers
Briefe (de Wette II. 189. 190). »Ex arce Eulenbergensi«
nicht hervor. Ueber Storchs letzte Schicksale ware zu
S. 8 noch anzuführen gewesen, die bei Erb kam: Gesch.
d. prot. Sekten im Z. A. der Reformation 519. 620 mit-
getheilte Nachricht.
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 80?
hard trat er persönlich nahe, er zog nach Jena,
woselbst er sich verheiratbete, seine Schrift
»Vom Fegfeuer < etc. 1523 erscheint, wie S. 19
nachgewiesen wird, als ein partieller Auszug
einer dasselbe Thema behandelnden Garlstadt-
schen Brochure, dazu bestimmt, in Köln und in
den Niederlanden Propaganda zu machen.
Nachdem er sich vergeblich in seiner Vaterstadt
zur Disputation über diese Schrift erboten hatte,
kehrte er nach Jena in Garlstadts Nähe zurück
und stand ihm in dem Orlamünder Streite ge-
gen Luther als Genosse zur Seite. Noch vor
der Ausweisung der radicalen Gegner Luthers
aus den Sächsischen Landen war Westerburg
von Carlstadt nach Zürich gesandt worden, um
mit dem geistreichen, weitstrebenden Kreise der
Grebel, Stumpf, Manz etc. enger anzuknüpfen.
Als er nach Sachsen zurückgekehrt war, fand
er, dass auch gegen ihn ein Verbannungs-Edikt
erlassen sei. Er hatte ihm Folge zu leisten,
aber ehe er das Land verliess, richtete er einen
zuerst von Cornelius I. 248 mitgetheilten Brief
an den Herzog Johann von Sachsen, der sich
durch freimüthige aber massvolle Sprache aus-
zeichnet und, so sehr der Schreiber auch Carl-
stadts Meinungen anhangen mochte, doch von
jedem Ausfall gegen Luther frei ist. Wahr-
scheinlich siedelte Westerburg sogleich Ende
1524 mit Weib und Kind nach Frankfurt a. M.
über. Hier traf ihn der Ausbruch des Bauern-
krieges.
Indem der Verf. die Anfänge dieser Revolu-
tion, die Thätigkeit Hubmaiers und Münzers in
Süd-Deutschland, das Auftreten des religiösen
Elements in der Bewegung, die Entstehung der
zwölf Artikel und des Schwarzwälder Artikel-
briefs bespricht, kommt er zu meiner Genug-
808 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 21.
thuung im Grossen und Ganzen zu denselben Resul-
taten, welche sich früher mir ergeben haben, und
die ich gegen Baumann in den »Forschungen zur
Deutschen Geschichte« XII 476 — 520 näher ausge-
führt und modificirt habe. Ich wüsste nur Wenig
im Einzelnen zu bemerken. Ein Bild Hubmaien
befindet sich auch in der Schrift: »Apocalypsis
insignium aliquot Haeresiarchum etc. Lugduni
Batavorum 1608c, (L. Bibl. zu Wolfenbüttel)
wenn ich nicht irre, identisch mit dem von Cal-
vary a. a. 0. gegebenen Holzschnitt. Wenn
S. 33 gesagt wird: »Wir lesen nicht, dass Mün-
zer auch nach Zürich gegangen sei«, so ist das
nicht ganz und gar zuzugeben. Eine Nachricht
der Art findet sich allerdings in Hertzogs Chro-
nica Alsatiae ad. a. 1525: »Als an allen orten
in dem Teuttschen Lande, die Bauren auffrürisch
wurden ... zu welcher auffrur Thoman Müntzer
nit geringe ursach geben, dann der selb ig
zu Zürich prediget dz die zeitt vorhanden,
dass man alle gottlosen tödten solt etc.« Aber
freilich fehlt es an jeder Bestätigung dieser an
sich wenig glaubwürdigen Notiz eines nur ge-
ringes Vertrauen verdienenden späteren Chro-
nisten. Dass die Elettgauer Artikel einer spa-
teren Zeit als dem Nov. 1524, wenn auch nicht
gerade dem März 1525 angehören, hatte ich be-
reits G. G. A. 1871 S. 1751 zugegeben.
Ein besonderes Verdienst des Verf. ist es
Folgendes scharf hervorgehoben zu haben: dass
Westerburg genau zu derselben Zeit in Zürich
verweilte, in welcher daselbst die Angelegenheit
der Elettgauer verhandelt wurde, dass er die
schon im Spätsommer 1524 gährenden Gaue
Süd-West-Deutschlands durchreisen musste, und
dass die vier interessanten Persönlichkeiten:
Hubmaier, Münzer, Carlstadt, Westerburg, die
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 80d
sich damals auf demselben engen Schauplatz
bewegten, viele der Ideen gemeinsam bekannten,
welche in den Programmen des Jahres 1525
zum Ausdruck kamen. Freilich lässt sich nicht
nachweisen, dass Hubmaier und Münzer einerseits,
Westerbürg und Carlstadt andrerseits damals
mit einander Pläne für die Zukunft geschmiedet
haben, auch bleibt zwischen den Idealen der
beiden Letzten und den entschieden kommuni-
stischen Tendenzen Münzers oder dem unver-
gleichlich radicalen Verfassungs-Entwurf Hub-
maiers noch immer ein gewaltiger Unterschied.
In den Zielen der einzelnen Leiter der damali-
gen Bewegung zeigen sich, wie in der Geschichte
{'eder Revolution, die bedeutendsten Verschieden-
leiten, damit verträgt sich aber recht wohl, was
nur zu oft bestritten worden ist, dass ein Zu-
sammenhang, und oft ein recht enger Zusammen-
hang der Führer, eine bewusste Anlehnung des
einen an den andern für die Zeit des Kampfes
stattgefunden hat. So sind, wie Steitz S. 51
mit Recht hervorhebt, »die Artikel-Briefe, welche
(1525) in den Reichsstädten den Obrigkeiten
mehr octroirt als übergeben wurden, sämmtlich
nur Modificationen der Bauernartikel nach dem
Masse der bürgerlichen Verhältnisset, so tritt
Westerbürg in Frankfurt, religiöse und politische
Elemente verbindend, als »evangelischer Mannt,
als Haupt und Stifter einer evangelischen Bruder-
schaft auf, früherem Waldshuter Muster gemäss,
so spielt er am Main genau dieselbe Rolle wie
sein Meister an der Tauber, so erscheint ein
grosser Theil der ohne Zweifel von Westerbürg
aufgesetzten Frankfurter Artikel, wie Steitz im
Einzelnen vortrefflich nachweist, abhängig sowohl
von den zwölf Artikeln der Bauerschaft als auch
namentlich von den »reformatorischen Lieblings-
62
810 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
Gedanken« Carlstadts, über dessen Beteiligung
an den Rotenburger Beschwerden man allerdings
noch etwas besser unterrichtet zu sein wünschte,
als es nach Steitz, welcher schlechtweg von
»Carlstadts Rotenburger Artikeln« spricht, der
Fall zu sein scheinen mag.
Ueber die Artikel der Frankfurter speciell
und die uns erhaltenen Drucke derselben habe
ich kürzlich in den »Forschungen zur Deutschen
Geschichte« IX 631—641, X 661 gehandelt.
Nachträglich will ich zu IX. 637 bemerken, dass
es mir inzwischen gelungen ist in der Göttinger
Bibliothek unter Ius. Germ. Stat. 1499 noch ein
Exemplar der »ein vnd yiertzig artickel« auf-
zufinden. Was die chronologische Schwierigkeit
betrifft, so muss ich gegen Steitz 74 an der
a, a. 0. IX. 634 geäusserten Ansicht festhalten.
Das auffällige Datum 13. April würde sich aller-
dings vielleicht daraus erklären lassen, dass das
erste Koncept der Artikel schon vor dem Auf-
stande gemacht worden und das Datum dessel-
ben stehn geblieben sei, wären nicht die drei
Artikel 43. 44» 45 erst am 22. April zugefügt,
und hätte nicht diese Zufugung nothwendig eine
Aenderung jenes Versehens nach sich ziehn müs-
sen. Bei der Schilderung des Frankfurter Auf-
standes im Allgemeinen konnte Steitz der treff-
lichen Darstellung von Eriegk folgen. Für ihn,
wie für diesen bildete das s. g. »Aufruhrbuch«
die officielle Geschichte jener Vorgänge, dessen
vollständige Herausgabe dem Frankfurter histo-
rischen Verein zu grossem Verdienst gereichen
würde. Aber daneben konnte der Verf. ein be-
deutendes urkundliches Material heranziehn, das
uns ermöglicht, in Westerburgs Treiben klare-
ren Einblick zu gewinnen. Dass er der Ver-
fasser der Frankfurter Artikel gewesen, ist schon
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 811
früher ausgesprochen worden, es wird nach
Allem, was wir nun über die Tbätigkeit des
Mannes in jenen stürmischen Tagen erfahren,
noch wahrscheinlicher. In diesen Zusammenhang
gehört auch die S. 81 mitgetheilte Urkunde,
welche, nach einer ansprechenden Vermuthung
des Verf. gleichfalls aus Westerburgs Feder ge-
flossen sein mag. Auf We6terburg spielt un-
zweifelhaft das Aufruhrbuch an, wenn es von
»Andrer Reizung« spricht; bleiben seine Schick-
sale sodann in den ersten Mai-Tagen beim Stei-
gen der revolutionären Stimmung dunkel, und
lässt sich nur vermuthen, dass die Bewegung
ihm selbst über den Kopf gewachsen sei, so ha-
ben wir sichre Kunde davon, dass der Rath als
sein Selbstvertrauen zurückgekehrt war, am 15.
Mai mit Umgehung der zuständigen Behörde
die Austreibung Westerburgs beantragte, und
dass dieser nach längerem Sträuben zwei Tage
später Folge leistete. Die einschlägigen Akten-
stücke, aus denen ich namentlich Westerburgs
unmittelbar vor seinem Abzug an den Rath ge-
richteten Brief hervorhebe, werden nach den
Originalen mitgetheilt. — Das Wirken des
»fremden Doetors« in Frankfurt war doch nicht
vergeblich gewesen. »Er hat die Reformation,
die im Jahre 1522 durch Ibach's Predigten sich
Bahn gebrochen, aber seit dem Sturze der sie
schützenden Reichsritterschaft wieder in's Stocken
gekommen war, aufs Neue in Fluss gebracht
und ihr zum ersten folgereichen Sieg, zum
dauernden Bestand verholfen«, und zwar war
die Richtung, welche Westerburg der reforma-
torischen Bewegung gegeben hatte, die der ra-
dicalen Partei, welche dem Zwinglianismus am
nächsten stand, in ihrer weiteren Entwicklung in
mehreren ihrer Vertreter bis zum Anabaptismus
62*
812 Gott gel. Abz. 1873. Stück 21.
fortschritt. Auch die Frankfurter Artikel hat-
ten keine eng begrenzte Wirksamkeit. Es ist
schon auffällig, dass sie in drei verschiedenen
Versionen, — die verkürzten »ein vnd viertzig
artickel« als dritte gerechnet, — im Druck er*
scheinen. Wir wissen, dass sie in den anliegen-
den Landschaften von Frankfurt aus verbreitet
wurden, und Cornelius (I. 40) war in vollem
Rechte, wenn er behauptete, am Mittel- und
Nieder-Rhein und in Westfalen haben diese
Westerburgischen Artikel den aufrührerischen
Bürgern zum Muster gedient, vgl. Cornelius I. 5
Steitz 104. In einem nicht unbedeutenden
Theile Deutschlands sind 6ie für die städtische
Bevölkerung das gewesen, was die zwölf Ar-
tikel für die bäuerliche. Ich will zur Be*
kräftigung dieser Ansicht noch folgende Stelle
aus Cochlaeus: »Historia de actis et scriptis M.
Lutberi« (1568 f. 138») anfuhren: »Seditiosi
autem ex plebe Francfordiensi, ut suo exemplo
alias quoque plebe* commoverent descriptos suos
articulos transmiserunt, non solum ad vicinam
Moguntiae plebem, verum etiam ad longius di-
stantem Coloniae populum: pium alioqui et re-
Ugiosum. Ubi et per Typographos in multa
ezemplaria, ut disseminarentur latius, multipli-
cati sunt egregii illi articulic*) etc. Cochlaeus
war gut unterrichtet, wenn schon er von Wester-
burgs Thätigkeit nichts zu wissen scheint.
Nach seiner Vertreibung aus Frankfurt be-
gab sich Westerburg in seine Vaterstadt Köln,
*) Am Bande sieht: »Articuli X1VII plebis Franoo-
fordiensis«. Aach auf dem »Index libroram prohibito-
rom« (Coloniae 1568 apud Haternnm Cholinum) heisat
es »Articuli X1VII plebis Francfordienc. Vermnthlich
rechnete man die Einleitung als einen besonderen Ar-
tikel mit
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 8 IS
welche damals gleichfalls stürmisch bewegt war.
Wir können nur vermuthen, ohne dass wir einen
Beweis dafür hätten, dass er auch bei den dor-
tigen Ereignissen die Hand im Spiele hatte.
Deutlicher tritt seine Gestalt in einer andern
persönlichen Angelegenheit hervor, über welche
er selbst in einer seiner wichtigsten, vollständig
zuerst vom Verf. für diese Verhältnisse benutz-
ten, Schriften berichtet hat. Die Kölner Geist-
lichkeit war entschlossen, den »ketzerischen
Doctorc nicht zu dulden. Der Rath, iü welchem
viele seiner Freunde und Verwandten Bässen,
gebot ihm zunächst, wie es scheint mehr zu sei-
nem Schutze als zu seiner Strafe, sich zu Hause
zu halten und war später geneigt auch diese
Beschränkung der Freiheit des Doktors wieder-
aufzuheben. Die einzelnen Stadien dieser Ange-
legenheit genauer zu verfolgen, ist hier nicht der
Ort, es genüge zu sagen, dass gegenüber dem
vereinten Andringen des Erzbischofs und der
Geistlichkeit der Rath seine schützende Haltung
nicht bewahren konnte, dass, vermuthlich am
3. März 1526 (die chronologischen Bestimmun-
gen stehen nicht ganz fest s. S. 118 Anm. 64
und die »Berichtigungen und Zusätze«) eine
Disputation zwischen Westerburg und den Theo-
logen Statt fand, dass er sich in dem Wortge-
fecht mit dem Ketzermeister und den Geistli-
chen muthvoll benahm und seine Ansichten über
das Fegefeuer zu widerrufen sich weigerte.
Kurz nach dieser Verhandlung, wohl wenig Tage
nach der Verbrennung seines Buches und seiner
Verurtheilung durch den Ketzermeister Jakob
von Hochrtraten, verliess er die Stadt. Er hatte
aber keineswegs die Absicht für immer zu ent-
weichen. Als geriebener Jurist wandte er sich
an das Reichsregiment und Reichskammergericht,
814 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
erreichte, dass dem weiteren Verfahren Einhalt
gethan, vom Rathe ihm aufs Neue Schutz ge-
währt wurde, und dass er, allen Anfeindungen
zum Trotz , wie Steitz gegen Cornelius nach-
weist, mindestens sieben Jahre lang in Köln ge-
duldet wurde. Aus dieser Zeit ist erwähnens-
werth, dass er gleichsam als Vertreter Carlstadts,
ohne freilich zu den Verhandlungen zugelassen
zu werden, während des Religions-Gespräches in
Marburg erschien. Allein die blutige Reaktion,
der Adolf Glarenbach und Peter von Vliesteden
zum Opfer fielen, brachte auch in Westerbargs
Schicksal eine Wendung hervor. Während der
Kurfürst ihm seinen Antheil an dem Erblehen
des Deutzer Fahramtes entzog, welches Wester-
burg8 Vater erkauft hatte, erwirkten die Theo-
logen Anfang 1533 Erneuerung des Rathsbe-
schlusses, nach welchem Westerburg, wo er sich
auf der Strasse betreten lasse, zu greifen und
zum Thurm zu führen sei. Der so Bedrohte
war erfüllt von jenem Geiste, den er in einer
seiner Schriften mit folgenden Worten bekun-
det: »Ich habe noch bei euch Haus und Hof,
ein Weib mit sieben Kindern, die mir sehr lieb
und werth sind; dünkt euch, dass ihr nit genug
Muthwillens mit mir getrieben habt, so nehmt
es Alles dahin, ihr werdet mir meinen Christum,
meinen und aller gläubigen Seelen Seligmacher,
nit nehmen können, noch sein bitteres Leiden,
Tod und Verdienst mit eurem Fegfeuer, mit
allen euren Seelenmessen, Vigilien, Jahrmessen
umstossen«. Es sind zum Theil beinahe die
Worte, jedenfalls die Grundgedanken des grossen
evangelischen Schlacht- und Triumph-Liedes,
hier in einem konkreten Beispiel verkörpert,
wie denn der Schluss der citirten Stelle lautet:
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 815
»Eine yeste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr
und Waffen«.
Leider sind von nun an die Nachrichten über
W ester burgs Leben noch viel lückenhafter als
für die frühere Periode, und es ist kaum mög-
lich für diese Zeit, — die Zeit des Münsteri-
Bchen Wiedertäuferthums, — dem Entwicklungs-
Gange der versatilen Persönlichkeit zu folgen.
Soviel scheint gewiss, dass Westerburg mit den
Anabaptisten, zu denen ihn so manche Erinne-
rung seiner früheren Jahre hinziehn mochte, an-
geknüpft, dass er zu Münster die Wiedertaufe
empfangen, zu Köln selbst Anfang 1534 als
Wiedertäufer im Stillen gewirkt hat. Er scheint
demnach auch nach Erlass jenes Dekrets von
1533 den Wohnsitz in seiner Heimat nicht auf-
gegeben zu haben; wann er diese, als längerer
Aufenthalt gefahrlich wurde, verlassen hat, ist mir
nicht ganz klar. Es scheint mir etwas zu viel zwi-
schen den Zeilen gelesen, wenn Steitz 161 aus dem
Bekenntnis des Dionysius Vinne *) schliesst, dass
es vor dem Oktober 1534 geschehen sei. Gewiss
Bcheint ferner, dass auch der Bruder, Arnold
Westerburg, zu den Wiedertäufern gehörte und
gezwungen war, Köln zu verlassen. Wenn die-
ser in einem Briefe 1537, durch welchen er um
Wiederaufnahme in seine Vaterstadt bittet, von
seiner eignen Wiedertaufe gänzlich schweigt, so
kann ich dies mit dem Verf. S. 163 Anm. nicht
so auflallend finden. Gerhard W. selbst hat so
ziemlich denselben Grundsatz befolgt, (s. S. 165.
166) indem er wenigstens den erhobenen Vor-
wurf der Wiedertäufern umgeht. Es war nach
*) Irrthümlich ist S. 160 das Bekenntnis des Wem*
her Scheiflart vom 13. statt vom 11. Dec. 1534 datirt,
b. Geschichtsquellen des Bjsthums Münster II, 293.
816 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 21.
dem Urtheil des Verf., der sich auf genauere Kennt-
nis der Westerburgischen Schriften stützt, als sie
dem Ref. eignet, nicht so sehr der Impuls schwär-
merischer Mystik, der Westerburg für die Idee
der Wiedertaufe einnahm, als vielmehr die Wirk-
samkeit seines bisherigen Bildungsganges, »seta
abstraktes Schriftprincipc und seine Auffassung
der Sakramente, die »ihm die Rechtmässigkeit
einer Einrichtung, für die er keinen biblischen
Grund auffinden konnte, mindestens zweifelhaft
machen musste«, endlich seine Vorliebe für die
Verknüpfung religiöser und politischer Reform-
Gedanken, die hier aufs Neue ein weites Feld
sich geöffnet sah. Er »war zu nichts weniger
als zum Schwärmer geboren. Seine Schriften
und sein Verhalten im Inquisitionsprocess zei-
gen in ihm im Gegentheil den Mann der Wirk-
lichkeit und der scharfen Reflexion, klug, sogar
schlau, gewandt und schlagfertig«. Und so wird
er auch keineswegs in die Katastrophe des Ana-
baptismus verwickelt, sondern setzt auf anderem
Gebiete und wiederum in einer anderen geisti-
gen Richtung . seine bürgerliche Existenz fort.
Er erscheint im Jahre 1542 in Diensten des
Lutherischen Herzogs Albrecht von Preussen
zu Königsberg, .und zwar , wenigstens wenn wir
{ms dem Charakter seiner wenig späteren Schrif-
ten zurückschliessen dürfen, »aus dem secured-
sehen Wesen und Treiben in die Gemeinschaft
der reformirten Kirche« übergegangen. Wann
dieser Uebergang erfolgt ist, wie Westerburg
auf den neuen Schauplatz seines Wirkens ver-
schlagen werden konnte, bleibt vorläufig leider
dunkel, da über seine Lebens-Geöchichte vom
Jahre 1534 bis 1542 ein dichter Schleier fallt.
Dass er es aber wirklich ist, der sich unter
dem »Gerhard Westenbergerc und »Wen sen-
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 817
beckc in den Eönigsberger Archivalien verbirgt,
wird durch einen Brief Melanchthons und eine
Stelle aus Westerburgs Schrift gegen die Un-
fehlbarkeit bestätigt. Auch in einer der Kölner
Urkunden wird sein Name »Westenberge ge-
schrieben. (S. 161 Anm. 95). Seine Stellung
scheint die eines Bathes und Agenten in geist-
lichen Angelegenheiten gewesen zu sein, über
seine Thätigkeit ist indes nichts weiter bekannt.
Seine Bestallungsurkunde nennt ihn »der heili-
gen schrifft Doctornc, und deutet, analog einer
anderen Nachricht, darauf hin, dass er den theo-
logischen Doktorgrad , es liesse sich wohl noch
feststellen, ob in Marburg, Basel, Zürich, erwor-
ben hatte. Er verkehrte vermuthlich vorzugs-
weise mit drei Männern, welche der reformirten
.Richtung zuneigten. Der eine, der Holländische
Humanist Gnapheus, seit 1536 Bector des £1-
biuger Gymnasiums, 1541 nach Königsberg be-
rufen, ist hinlänglich bekannt. Ueber den zwei-
ten, den herzoglichen Bibliothekar Felix Rex
Polyphemus konnte der Verf. nach Mittheilungen
des Staatsarchivars Dr. Meckelburg ergänzen,
was Cosack in seinem Leben des §peratus S.
199 ff. 420 zuerst erwähnt hatte. • Ich weiss
nicht, ob man annehmen darf, dass er mit dem
in Classens Micyllus S. 52 genannten, sehr
wenig vorteilhaft beschriebenen »quid am, cui
Erasmus nomen indidit Polyphemus«, der
nach Mähren oder Polen verschlagen sein soll,
identisch ist Was den dritten betrifft, den
Dr. Christian Entfelder, welchen Speratus in
einem Briefe anAurifaber »olim anabaptistarum
antistitem in Morawis« nennt, so füge ich den
Bemerkungen Cosacks a. a. 0. S. 200. 420
hinzu, dass er in Ferdinand Xaver Hoseks
Werke über B. Hubmaier (Brunn 1867) S. 86,
t:
818 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
irre ich nicht nach einer Schrift Hubmaiers, als
Prediger zu Eibenschütz erwähnt wird. Zwei
Schriften von ihm werden in den Mittheilungen
aus dem Antiquariate von Calvary Bd. I 47
aufgeführt.
Wir wissen, dass die genannten Männer als
»Sektirer und Sakramentirerc von dem streng
Lutherischen Bischof Speratus gefürchtet und
gehasst wurden, Westerburg wurde zudem durch
ein Schreiben Melanchthons , der von seiner
Münster sehen Episode nichts gewusst zu haben
scheint, als alter Genosse des Claus Storch,
direkt beim Herzog denuncirt, und so dürfen
wir vermuthen, dass die Intriguen der Lutheri-
schen Partei nicht der letzte Grund gewesen
sind, durch welchen Westerburg bewogen wurde,
auch diesen Boden wieder zu verlassen. Wo-
hin er sich zunächst, im Sommer 1543, gewandt
habe, bleibt ungewiss. Im Sommer 1545 finden
wir ihn in Zürich bei Bullinger, an den er ver-
muthlich durch Cellarius empfohlen war, wel-
cher, wie er .selbst aus der jugendlichen Sturm-
und Drangperiode der »Schwärmerei« sich in
den Schoss der reformirten Kirche gerettet hatte.
Von Zürich wandte er sich nach Strassburg,
woselbst er sich mit der Herausgabe einiger
Schriften beschäftigte, welche der Verf. S. 197
— 210 im Auszuge wiedergiebt. Es sind höchst
merkwürdige Erzeugnisse seiner Feder, für die
Charakteristik des Mannes von grösstem Werthe,
durchaus polemisch in ihrer Tendenz, gegen die
Misbräuche des kirchlichen Lebens und des Kul-
tus gerichtet. Die Sittenlosigkeit des Klerus,
der Ablass, die Seelenmessen, die Bilder- und
Heiligenverehrung , die Glockentaufe werden
mit beiseendem Spott angegriffen. Der Mann,
welcher zur Zeit des Bauernkrieges als Leiter eines
r
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformationsg. 819
revolutionären Klubbs auf die Massen einzuwir-
ken versucht und verstanden hatte, entschlug
sich auch damals des Ballastes schwerfälliger
Gelehrsamkeit und stritt »als ein Plänkler im
reformatorischen Kampfe € mit der Sprache des
gesunden Menschen- Verstandes, man möchte
fast sagen, des Rationalismus gegen die Formen
einer Kirche, die er von Jugend an auf's Ge-
naueste kannte. Vielfach, so wenn er auf die
Lehre von den Sakramenten, auf das Verhältnis
vom Staat zur Kirche zu sprechen kommt, be-
wegt er sich auf dem Boden von Anschauungen,
welche vorwiegend der reformirten Kirche eig-
neten, mitunter tauchen Erinnerungen an die
Ideen der »Schwarmgeister« auf, unter denen
er sich so vielfach bewegt hatte. Was aber
diesen Schriften noch eine besondere histori-
sche Bedeutung giebt, ist, dass sie sämmtlich,
an die Stände des Erzbisthums oder den Adel
des Dom -Kapitel 8 oder den Stadtrath von Köln
gerichtet, dazu bestimmt sind, in der Kölnischen
Reformations- Angelegenheit wirkungsvoll einzu-
greifen. Eine Geschichte dieser Bewegung oder
eine Biographie Herrmanns von Wied dürfte
sie um so weniger ganz vernachlässigen, als
Westerburg im Oktober des Jahres 1545 in
Bonn dem Kurfürsten persönlich nahe trat, in
seinen Angelegenheiten verwandt werden sollte
und, — so durchaus blieb das Vergangene ver-
geben und vergessen, — nach einer freilich nicht
ganz sichren Nachricht in dem Kölner Kurstift
als Prediger gewirkt haben soll.
Das Scheitern des Kölner Reformations- Ver-
suchs, eine unmittelbare Folge der allgemeinen
Niederlage des Deutschen Protestantismus, machte
Westerburg den weiteren Aufenthalt in der
Heimat unmöglich. Er zog sich nach Ostfries-
J
820 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
land zurück, wo er vorübergehend schon im
Sommer 1546, eng verbunden mit Johann von
Laski erscheint. Es ist sogar wahrscheinlich,
dass das Verhältnis der beiden Männer und
We8terburg8 Beziehungen zu Ostfriesland, einige
Jahre vorher ihren Anfang genommen haben,
wenn ich auch Anstand nehmen möchte, das in
einem Briefe Westerburgs von 1545 vorkom-
mende »nostra Frisia« sofort in demselben
Sinne zu erklären, wie der Verf. S. 179 freilich
mit vorsichtiger Zurückhaltung es thut. Soviel
ist gewiss, dass er im Jahre 1547 bei der Grä-
fin Anna in Ostfriesland eine sichre Zuflucht
fand. Seine' schriftstellerische Thätigkeit, mit
speciellem Bezug auf die Kölner Angelegenheiten
mag er von hier aus fortgesetzt haben. Wenig*
stens datirt noch aus dem Jahre 1547 seine
Brochure: »Von dem grossen Bedrug, list und
Verführung etlicher gelerten und* Geystlichen der
Stat Collen«, deren einziges bis jetzt bekanntes
Exemplar sich im Kirchenarchiv zu Wesel be-
findet.
Was weiter über die Schicksale des Mannes
berichtet wird, beschränkt sich, wenn wir uns
keiner Verwechselurg zweier Personen schuldig
machen, die denselben Namen getragen haben,
im Grunde auf eine sich gelegentlich vorfindende
Notiz, dass er in Bremen »seine Butter und sei-
nen Käse verkauft habe« (S. 213). So würde
der streitbare Kämpe zuletzt in der Rolle eines
friedlichen Landwirts erscheinen. Eine Nach*
rieht, die ihn als Prediger zu Neustadt-Gödens
in der Nähe des Jahdebusens 1558 sterben
lässt, scheint wenig Vertrauen zu verdienen.
Dass dies vielbewegte Leben' vor 1565 und
zwar in Ostfriesland geendet hat, ergiebt sich
aus den kammergerichtlichen Akten eines Pro-
Steitz, Abhandl. z. Frankfurts Reformatioiisg. 821
oesses, den Westerburgs Söhne wegen der Ent-
setzung ihres Vaters vom Fahramt in Köln
führten. Man darf die Hoffnung wohl nicht auf-
geben, nachdem durch eine so fleissige Special-
Arbeit die Aufmerksamkeit auf diese nicht un-
bedeutende Persönlichkeit gelenkt worden ist,
durch glückliche Zufalle noch weitere Auf-
schlüsse über ihre Schicksale zu erhalten.
Nach Beendigung dieser Anzeige werde ich
aufmerksam daraui gemacht, dass sich im
Feuilleton der Kölnischen Zeitung d. J. No. 57.
58. 59 Bll. 1 eine ausführliche Abhandlung über
Westerburg findet. Sie nimmt auf die vor-
liegende Arbeit nicht Bezug, obgleich dieselbe
ihrem Verf. nicht unbekannt gewesen zu sein
scheint, der sich seinerseits unter die schützende
Flagge: »Nachdruck verboten«: gestellt hat.
Ich möchte nicht behaupten, dass die Abwei-
chungen der erwähnten Feuilleton-Artikel von
der vorliegenden Arbeit zugleich immer Ver-
besserungen wären, wie denn z. B. in jenen irr«
thümlich Westerburg als »Theilnehmer am
Religionsgespräch zu Marburg« bezeichnet wird.
Alfred Stern.
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichs«
kirchengute. Von Julius Ficker. Wien 1873.
(Aus den Sitzungsberichten der Wiener Aka-
demie besonders abgedruckt). 163 Seiten in
Octav.
Mit nicht geringen Erwartungen pflegt man
jede neue Schrift des um die Verfassungsge-
schichte des Mittelalters hochverdienten Autors
822 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
entgegenzunehmen: man darf darauf rechnen, den
Gegenstand, den sie behandelt, eingehend unter-
sucht, neu beleuchtet, vielleicht endgültig aufge-
klärt zu sehen. Ein ganz besonderes Interesse
aber erregte mir die Ankündigung einer Ab-
handlung , die Ficker der Wiener Akademie vor
einiger Zeit vorgelegt: ein eigenthümliches Recht
des Königs oder Reichs — was man ja damals
nicht unterschied — am Eirchengut in Fränki-
scher Zeit habe ich früher behauptet und gegen
den Widerspruch von Roth u. a. die Annahme
festgehalten ; jetzt schien von anderer Seite eine
erwünschte Bestätigung, ja Weiterführung und
vollständigere Begründung in Aussicht zu stehen.
So habe ich die Schrift mit lebhafter Theil-
nahme zur Hand genommen und mich auch
nicht in der Erwartung getäuscht gesehen, hier
wichtige und in manchem Einzelnen belehrende
Untersuchungen über die rechtliche Stellung und
Behandlung des Eirchenguts im Deutschen
Reich, namentlich in der Staufischen Zeit, de-
ren Quellen dem Verf. am vertrautesten sind,
zu finden. Aber, dass ich es gleich sage, die
Ausführung, welche der Verf. giebt, hat mich
im grossen und ganzen doch keineswegs über-
zeugt, sondern vielfach zu Widerspruch heraus-
gefordert. Und das nicht geringe Interesse,
welches die Frage hat, wird es, denkeich, recht-
fertigen, wenn ich wenigstens einen Theil dieser
Bedenken hier vorlege, wobei ich meinerseits
mich wohl vorzugsweise an die vorstaufische
Zeit halten werde, deren Verhältnisse ich ein-
gehender untersucht habe, die aber auch fur die
Auffassung der späteren doch eine besondere
Wichtigkeit haben muss.
Ficker geht aus von dem Satze, dass nach
den im Mittelalter herrschenden Rechtsansichten
Ficker, Eigenth. d. Reichs a. Reichskircbengut. 823
ein Privateigentum an Kirchen möglich war
und oft genug vorkam, er zeigt dann, dass die-
sem Grundsatz auch auf Klöster Anwendung ge-
geben ist, dass die unmittelbar unter dem König
stehenden Abteien als ihm gehörig, in seinem
Eigenthum befindlich angesehen und darnach
behandelt, verschenkt, zu Beneficium u. 8. w.
gegeben wurden. Ich bin damit für die Frän-
kische Zeit vollständig einverstanden, erkenne
auch an, dass diese Auffassung sich später er-
hielt und noch mannigfache Anwendung fand,
muss aber freilich bemerken, dass die so her-
vortretende privatrechtliche Betrachtung und
Behandlung der königlichen Abteien — wie sie
meist genannt werden — in der späteren Zeit
sich doch nicht so rein erhielt, dass ihr viel-
mehr eine mehr staatliche und vor allem eine
kirchliche Auffassung zur Seite trat, die ihren
Einfluss in mancher Beziehung beschränkte.
Doch gehe ich darauf hier nicht weiter ein.
Das Wesentliche und Neue von Fickers Aus-
führung ist, dass es sich mit den Bisthümern
nicht anders als mit den Abteien verhalten
habe, dass auch sie und ihr Gut sich im Eigen-
thum des Reichs befanden.
Ficker lässt keinen Zweifel, dass er wahres,
reines Privateigenthum meint: er stellt es aus-
drücklich einem Herrschafts- oder Hoheitsrecht
gegenüber (§. 37 und sonst). Dagegen braucht
er allerdings manchmal den Ausdruck Ober-
eigenthum, Schutzeigen thum, der geeignet ist,
einige Verwirrung in die Sache zu bringen, der
sich zunächst aber wohl daraus erklärt, dass er
das Recht der Kirchen, speciell der Bisthümer
an ihrem Gut auch als eine Art Eigenthum,
Nutzeigenthum , betrachtet, das Verhältnis des
Königs zu denselben dann wohl nach der Ana-
824 Gott, geh Anz. 1873. Stück 21.
logie des Rechts des Lehnsherrn zu Lehnsgut in
den Händen eines Vassalien auffassi Jedenfalls
soll es aber nicht als ein allgemein staat-
liches, dass ich so sage, nur theoretisches nnd
actives Eigenthum angesehen werden, wie es äl-
tere nnd neuere Staatsrechtslehrer manchmal
statuiert haben, und wie es schon Friedrich I.
in dem ihm zustehenden dominium mundi ge-
funden haben soll : auch gerade dagegen spricht
sich die Schrift bestimmt aus (a. a. 0. S. 94).
Aber dieser Ansicht treten nun die erheblich-
sten Bedenken entgegen. Niemals wird im Deut-
schen Reich seit den Tagen der Karolinger von
einem Bisthum so wie oft genug von den Abteien
gesprochen, dass es 2u dem Recht, dem Eigen-
thum des Königs gehörte, nie findet eine Ueber-
tragung an Weltliche , nie eine Ertheilung zu
Beneficium statt. Die Beispiele, welche Ficker
aus Frankreich anführt (S. 38), beweisen doch
offenbar nichts für Deutschland; die aus Bur-
gund gehören späterer Zeit an und die Worte,
welche gebraucht werden, erklären sich, wie er
selbst zugiebt, auch aus der »staatshoheitlichen
Stellung des Herrschers«; die aus Italien end-
lich beziehen sich nur auf die Uebertragung von
Bisthümern an Erzbischöfe, wo die Verhältnisse
doch anders liegen; und Ausdrücke, wie sie hier
gebraucht werden, finden sich in Deutschland
nur einmal unter Friedrich II. bei der Bestäti-
gung von Lebus an Magdeburg, wo wohl Italie-
nische Anschauungen Einfluss üben konnten;
nicht dagegen, wo wohl Anlass gewesen wäre,
da Friedrich I. das Recht der Investitur über
die Slavischen Bisthümer an Heinrich den Lö-
wen gab oder bei irgend welcher anderer Ge-
legenheit. Ich wüsste nicht einmal ein Beispiel,
dass ein König ein Bisthum als »noster«, Bis-
Ficker, Eigenth, d. Reichs a. Reichskirchengut. 825
thumsgut geradezu als das seine oder königli-
ches bezeichnet hätte, oder dass dies von andern
geschehen wäre, wie es bei Abteien mehrfach
vorkommt. Die einzige Stelle, die man anfüh-
ren könnte, ist die in den Gesta epp. Gamer.'
I, 50, SS. VII, S. 418, nach welcher Erzbischof
Hincmar, da K. Lothar einen Bischof eingesetzt,
cunctis ipsius aecclesiae clericis ac militibus sub
anathemate interdixit, ne quis eorum cum adul-
tero pastore ullum assensum aut familiaritatem
habere putasset, usum fructum vero terrae, quod
imperatorig erat, tantnmmodo commodarent.
Einmal bezieht sie sich noch auf die Karolin-
gische Zeit, ist bei dem späteren Autor auch
wohl nicht eben als sichere Ueberlieferung an-
zusehen, sagt dann aber auch nur, dass der
König wohl die Einkünfte des Stifts, nicht die
geistlichen Rechte verleihen konnte. Anderes
was der Verf. S. 50 fur die Auffassung des
9. Jahrhunderts anfuhrt, spricht wohl mehr
gegen als für ihn, wenn Hincmar z. B. schreibt:
res et facultates ecclesiasticae non in impera-
torum atque regum potestate sunt ad dispen-
8andum, sed ad defendendum atque tuendum.
Ist ein solches »Schutzeigenthumc, wie es hier
heisst, denn wirklich Eigen thum?
Dem gegenüber hat Ficker ein Argument,
auf das er das grösste Gewicht legt, § 20, S.
54: »Entscheidend dafür (dass dem Könige die
Befugnisse des Eigentümers zustehen) ist, dass
dem Könige die Investitur des Bisthums zu-
steht«; S. 55: »Die Befugniss zur Investitur ist
aber Ausfluss des Eigenthums an der Sache«.
Es ist das der Angelpunkt der ganzen Unter-
suchung, der Grund, auf dem das Gebäude auf-
geführt ist. Aber eben diesen Satz muss ich
entschieden in Abrede stellen. Die Investitur
63
826 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 21.
setzt keineswegs Eigenthum voraus, der Ans*
druck und die mit dem Worte bezeichnete
Handlung findet ebenso gut bei Uebertragung
anderer Rechte, speciell Hoheitsrechte, Anwen-
dung. Schon die Ann. Bertiniani sagen 877,
SS. I, S. 504: spatam quae vocatur S. Petri,
per quam eum de regno revestiret; Aime 11,6,
S. 37: et lo revesti de ces 2 dignites et lui
dona lo gofanon en main (Eonrad II den Guai-
mar von Salerno); Tgl. Ill, 36, S. 92; Robertos
de Monte 1182, SS. VI, S. 532: pater investivit
eum ducatu Apuliae per aureum sceptrum; Bo-
gerus de Hoveden ed. Stubbs III, S. 202: de-
posuit se de regno An gliae, et tradidit illud im-
peratori sicut universorum domino et investivit
eum in de per pileum suum; §. 203: investivit
eum inde imperator per duplicem crucem de
auro. Man kann sagen, es ist eine Ana-
logie von Eigenthum8ühertragungen , die sich
bei Belehnung und Lehnsauftragung geltend
macht, aber eben auch nicht mehr. Und in
dem ersten Fall, wo es sich um die Ueber-
tragung der Herrschaft von dem Vater auf
den Sohn handelt, ist auch nicht von Lehns-
hoheit die Rede. Der Ausdruck wird in Deutsch-
schland bei einem Bischof zuerst, soviel ich
weiss, gar nicht einmal von dem König persön-
lich gebraucht : Vita Oudalrici c- 1, SS. IV, S.
387: ad Augustam pervenientes, secundum regis
edictum potestativa manu vestituram episco-
patus sibi perfecerunt. Vorher heisst es von
dem König: in manus eum accepit munereque
pontificates honoravit. Der letzten Bezeichnung
entspricht das Wort 'donum', das später manch-
mal gebraucht wird und auf das Ficker ein ge-
wisses Gewicht zu legen scheint, in dem aber
jedenfalls auch nichts von Eigenthumsübertra-
Ficker, Eigenth. d. Reichs a. Reichskirchengut. 827
gung enthalten ist. Mitunter wird es ganz
gleichbedeutend mit 'investitura* gebraucht: so
steht in der Vita Anselmi pr. c 2, SS. XX, S.
693: absque dignitatis dono discessit, wo die
jüngere Vita, XII, S. 14, hat: absque dignitatis
investitura. Etwas anders ist der Gebrauch bei
Hugo Flaviniac. , SS. VIII, S. 411: qui episco-
pates electionem solam, non autem donum per
regiam susceperint investituram ; Baldericus G.
Alberonis c. 10, eb. S. 249: dono sui juris
investire. — Ficker beruft sich für seine Auf-
fassung, dass die Investitur Eigentbum an der
Sache voraussetze, auf eine Stelle des Placidus
von Nonantola, die er § 8 (S. 28) anführt
Doch spricht dieser hier nur von einem Recht,
das der Verleiher haben müsse, nicht von
Eigenthum (significantes et hocsigno, illud quod
damus nobis jure competere, et ülum qui acci-
pit quod nostrum est per nos possidere), und
wenn er weiter von dem Standpunkt der Kirche
aus behauptet (Ficker S. 56), dass der Kaiser
die Investitur nicht haben könne, weil durch
sie »possessio et dominatio demonstratur« und
der Kaiser kein »jus vel dominium c an der Kirche
habe, so kann daraus gewiss nicht gefolgert
werden, dass der König, bewusst oder unbe-
wusst, mit der Investitur habe Eigenthum über-
tragen wollen. Als Gegenstand der Verleihung
erscheint auch in älteren Zeugnissen nie, wie
Ficker meint (S. 56), »die auf dem Grund des
Reichs erbaute und damit im Eigenthum des
Reichs stehende bischöfliche Hauptkirche «, sel-
ten überhaupt die Kirche (ecclesia), meist das
Bisthum (episcopatus), was aber das Amt mit
allen Rechten bezeichnet. Thietmar spricht
regelmässig von der cura pastoralis, die der
König übertragen (II, 14, SS. Ill, S. 750:
63*
828 Gott gel. Anz. 1873. Stack 21«
curamque ei baculo committens pastoralem ; and
ähnlich öfter). Das Symbol, dessen er sich be-
diente, wird als baculus, virga pastoralis bezeichnet
and hat sicher nichts mit dem königlichen Stab
zu thun, wie S. 71 angenommen wird , dessen
sich einmal Eonrad II. bei der Uebertragong
eines Guts an das Kloster St. Emmeram be-
diente; Mon. B. XXIX, 1, Nr. 332, S. 29: ba-
cnlo quoque nostro ejusdem imperialis nostrae
concessionis investituram eidem monasterio con-
tulimus, baculum quoque ipsum in testimonium
perpetuum ibidem reliquimns. Viel eher mochte
Ficker anführen, dass Heinrich IL einmal das
Bisthnm Paderborn mit dem Symbol des Hand-
schuhs Übertrag, das sonst bei Guts- and Lehns-
verleihungen gebraucht wurde (Grimm R. A.
S. 152): V. Meinwerci c. 11, SS. XI, S. 112.
Doch erscheint es der Erzählung nach so sehr
als etwas Ungewöhnliches und Auffallendes
(sumpta cirotheca: Accipe, ait. Quo, quid sit
accepturus, percon taute: Episcopatum, inquid rez,
Patherbrunnensis ecclesiae) , dass darauf kein
Gewicht zu legen ist.
Aus der Investitur ist also das was Ficker
in ihr finden will nicht zu entnehmen. Als der
König das Recht, wie es seit lange geübt war,
gegen die Kirche zu vertheidigen hatte, ist auch
nie eine solche Begründung desselben versucht,
nie ein* Eigentumsrecht an den Bisthümern
oder auch nur an dem bischöflichen Gut be-
hauptet worden. Man argumentiert nur, dass
die Kirchen überhaupt weltliches Gut und ins-
besondere Gut vom Reich haben and dass der
König ein gewisses Recht an diesem besitze, am
dessen willen ihm die Einsetzung oder Einfüh-
rung in das Amt zukomme. Man unterscheidet
dabei nicht zwischen Bisthümern und Abteien;
Ficker, Eigenth. d. Reichs a. Reichskirchengut. 829
wenn aber Ficker geneigt ist, immer was von
diesen gilt auch auf die Bisthümer zu über-
tragen, so muss, glaube ich, eher umgekehrt ge-
sagt werden, dass man in dieser Beziehung auch
gegen die Reichsabteien nicht mehr geltend
machte als gegen die Bisthümer. Für die herr-
schende Auffassung ist wohl eine Hauptstelle,
welche hier nicht beachtet ist, die des Wido,
SS. XII, S. 177: Quae vero sunt ab imperato-
ribus tradita, quia non sunt aecclesiis perpetuo
jure manentia, nisi succedentium imperatorum
et regum fuerint iteratione concessa, dicuntur
profecto quodammodo regibus et itnperatoribus
subdita, quia, nisi per succedentes imperatores
et reges fuerint aecclesiis confirmata, revert un-
tur ad imperialia jura. Unmittelbar vorher
sagt er: At vero judicia secularia et omnia quae
a mundi principibus et secularibus hominibus
aecclesiis conceduntur, sicut sunt curtes et prae-
dia omniaque regalia! licet in jus divinum trans-
eant, dicuntur tarnen secularia quasi a secula-
ribus concessa. So spricht eben ein entschie-
dener Vertheidiger des königlichen Rechts: nur
weil die Verleihungen, wie ich auch für die
frühere Zeit annahm, der erneuten Bestäti-
gung bedurften, wird eine gewisse Abhängigkeit
von dem König behauptet.
Ficker legt nun besonderes Gewicht darauf
— ja ich glaube nicht zu irren, wenn ich an-
nehme, dass seine ganze Auffassung daraus er-
wachsen ist — , dass später, als man das geist-
liche Amt und die weltlichen Rechte der Bi-
schöfe und Aebte unterschied und dem König
die Ertheilung der letzteren als Regalien zuge-
stand, hierunter auch das begriffen sei, was ur-
sprünglich nicht vom König oder Reich her-
stammte, sondern auf Verleihung Von Privaten
^
830 Gott. gel. Anz, 1873. Stück 21.
beruhte. Er weiss sich nicht zu erklären, vie
der König ein Recht zur Verleihung auch daran
erhalten habe, wenn nicht durch die Uebertra-
gung an die Kirche das Gut zugleich in das
Eigenthum des Reiches übergegangen. Allein
einmal findet sich nirgends eine Aeusserung,
die auf eine solche Auffassung hinwiese. Dann
ist aber auch nicht die Zurechnung aller welt-
lichen Güter zu den Regalien so alt und so all-
gemein wie er annimmt (S. 60 ff.). In der vor-
hin angeführten Stelle des Wido werden offen-
bar die regalia noch von den curtes et praedia
unterschieden. Ich kann auch nicht zugeben,
dass in dem Vertrag Heinrich V. mit Papst
Paschalis vom J. 1111 das Wort 'regalia' anderes
als wirklich vom Reich herstammende Güter be-
zeichne. Ficker beruft sich darauf, dass es in
der Urkunde des Paschalis heisse: regalia ilia
dimittenda precipimus quae ad regnum mani-
feste pertinebant, und meint, das bedeute »nur
diejenigen Regalien welche«, nicht die Regalien
überhaupt. Ich halte schon die Erklärung fur
bedenklich, da (illa' nach mittelalterlichem Ge-
brauch recht wohl nur ab Artikel stehen kann;
nähme man es aber an, so müsste der Papst
den Vertrag wesentlich geändert, sein Verspre-
chen nicht gehalten haben: denn in diesem
hie8S es: praecipiet episcopis, ut dimittant re-
galia regi et regno quae ad regnum pertine-
bant, ohne das so bedeutend gemachte »illa«;
aber auch in der Urkunde dürfte es nicht, wie
gegen Zöpfi gesagt wird, »in dem ungenauen
Texte der Mon. Germ.« ausgefallen, sondern in
dem hier vorgezogenen des Codex Udalrici in
der Ausgäbe von Jaffe mit Unrecht eingefügt
sein. Es stand sicher nicht in dem Codex Vatic.
1984, dem Pertz hauptsächlich folgt; es findet
F
Ficker, Eigenth. d. Reichs a. Reichskirchengut. 831
sich ebenso wenig in dem Text der Gesta Albe-
ronis, SS. VIII, S. 245 (deren Varianten Jaffa
sonst, aber gerade an dieser Stelle nicht gege-
ben hat) und in der mehrfach abweichenden
Fassung beiMansi, Gone. XX, S. 1007; so dass
mit dem Cod. Udalrici nur die wahrscheinlich
aus derselben Quelle schöpfenden Ann. S. Disi-
bodi (wo ich meinerseits die Variante nicht
angemerkt habe) übereinstimmen. Kaum hier-
her gehört aber eine Stelle des Petrus Damiani
Epist. I, 13, Opera I, S. 8, wo er gegen dieje-
nigen spricht, welche zur Abweisung des Vor-
wurfs der Simonie sagen: non emitur sacerdo-
tium sed possessio praediorum, und entgegnet,
der König sage bei Ueberreichung des baculus
nicht: Accipe terras atque divitias illius eccle-
siae, sondern: Accipe ecclesiam, womit er nur
ausdrückt, dass die Investitur eben alles um-
fasse. — Es fehlt dagegen nicht an anderen
Stellen, wo die königlichen und privaten Ver-
leihungen auseinander gehalten werden. So
Gerhoh de aedif. Dei c. 8, Pez II, 2, S. 273:
Quid 8uum poterint apud ecclesias invenire, pro
quo episcopum a se recedentem debeant anga-
riare. Villas, inquiunt, quas reges ecclesiis
obtulerunt — sie et modo inter multas ecclesia-
rum villas, quas partim a regibus, partyn ab aliis
Deum timentibus aeeepit ecclesia, non apparet
earn aliquas villas regalis pertinentiae habere,
pro quibus debeat aut fiscum regalem implere
aut milite8 ad procinetum stipendiare ; c. 70, S.
279 : Haec de villis dicta sunt, quarum paucas
epclesia suseepit a regibus , ita ut de ipsius re-
gis eint facultatibus. Dass aber später die Ver-
leihung der Regalien per seeptrum auf alles
weltliche Recht und Gut bezogen wurde, scheint
mir sich einfach schon daraus zu erklären, dass
832 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
dabei gar nicht nur und nicht hauptsächlich
an die Besitzungen, sondern hauptsächlich an
die flohei tsrechte gedacht wurde, die der Geist-
liche vom Reich empfing, und die er in allen
Besitzungen, den auf Schenkung von Privaten
beruhenden ebenso gut wie den durch könig-
liche Schenkung erhaltenen, übte. Beides liess
sich eben gar nicht mehr von einander trennen,
und konnte nun leicht unter einem Namen zu-
8ammengefasst werden, mochte man allgemein
saecularia, temporalis, oder nach der damals
recipierten Bezeichnung regalia sagen*).
Dabei will ich nicht in Abrede stellen, viel-
mehr entschieden hervorheben, dass die Bis-
thümer so gut wie die weltlichen Fürstenthü-
mer als — sage man — Tbeile oder Glieder
des Reichs galten, dass das Reich und das Ober-
haupt des Reichs an ihnen Rechte hatten; nur
nicht solche die auf wahrem Eigenthum beruhen.
Man stellt Reichs- und Kirchengut neben
einander, aber so, dass sie in der Zusammen-
stellung doch auch wieder unterschieden werden.
LL. II, S. 38 : beneficium de nostris publicis re-
bus aut de ecclesiarum prediis; Cod.üdalr. 159,
S. 285: beneficium aut de regno aut de eccle-
ßiis; Epist. Heinr. IV, Giesebr. Ill, S. 1237: ut
ecclesiarum bona et regni libere valeant perdere,
capere et inter se dividere; Wido Osn. im Cod.
Udalr. 190, S. 340 : ecclesiastica etregalis possessio.
Dass der König über Kirchengut ab Bene-
ficium verfügte, ist bekannt. Doch kommt auch
das bei Bisthümern viel seltener vor als bei
Abteien. Kaum einzeln, dass es direct durch
den König geschah, meist durch den Bischof
*) Gerade in dieser Zeit ist immer mehr auch die
einzelne Kirche als wirkliches Subject des Kirchengnts ge-
fesst, wie Gierke darlegt, GenossenschaftaTecht II* S. 548 ff.
Ficker, Eigenth. d. Reichs a. Reichskirchengut. 833
auf Bitten oder Verlangen des Königs. Wie der
Brief der Sachsen an Gregor bei Bruno c. 112,
SS. V, S. 374, zeigt, vermied es Heinrich IV.
selbst da zu thun, wo er die ihm feindlichen
Bischöfe vertrieben nnd sich des Bisthums be-
mächtigt hatte. Wie weit auch er und später
Heinrich V. in der Verwendung des Kirchen-
guts für ihre Zwecke gingen, von einem Eigen-
thum das qie geltend gemacht ist nirgends (lie
Bede, ebensowenig wie es daraus gefolgert wer-
den kann, wenn der kirchonfreundliche Lothar
den Otto von Bamberg bedroht haben soll,
wenn dieser nicht in sein Stift zurückkehre: se res
ecclesiasticas in suum velle redigere dominium.
Alles das ergiebt nur hoheitliche Rechte und
Ansprüche, und höchstens gilt auch hier, was
so oft im Mittelalter gesagt werden muss, dass
sich in staatlichen Dingen eine nach unsern An-
schauungen privatrechtliche Auffassung zeigt.
Genehmigung des Königs für Ertheilung von
Gut zu Precarium oder Beneficium kommt bei
Bisthümern nur ganz vereinzelt vor, während je-
der weiss, in welchem Umfang die Bischöfe bald
freiwillig, wie Adalbert von Bremen, bald ge-
zwungen sich dazu verstanden haben. Die
Zeugnisse, welche S. 90 beigebracht werden,
gehören späterer Zeit an und geben für einen all-
gemeinen Gebrauch keinen Beweis.
Anders ist es bei Tauschen von Kirchengut.
Hier fehlt noch immer die schon von Bresslau
(Diplomats centum S. 177) gewünschte nähere
Untersuchung der Frage, in welchem Umfang
ein Recht des Königs zur Genehmigung bestan-
den und geübt ist. Die paar hier (S. 91) an-
geführten Beispiele können jedenfalls nicht dar-
thun, dass es in späterer Zeit noch allgemein in
Anspruch genommen ward, sondern scheinen auf
834 Gott. gel. Anz. 1873. Stock 21.
besonderen Verhältnissen zu beruhen, wie ein
solches offenbar unter den Königen aus dem
Fränkischen Hause zu Speier bestand. Im all-
gemeinen zeigt sich, dass die ausdrücklichen Zu-
stimmungen der Könige zu Tauschen in der
Sächsischen Zeit schon viel seltener sind als in
der Karolingischen, und dass sie mit den Otto-
nen fast ganz aufhören.
.Der Gedanke aber, dass die Könige so be-
reitwillig ihrerseits den Kirchen Gut verliehen,
weil sie gewusst, dass sie es damit nicht dem
Reich entfremdeten, sondern nur in besonderen
Dienst desselben gaben, scheint mir so entschie-
den hingestellt auch nicht der wahren Sachlage
zu entsprechen. Damit stimmt es wenigstens
nicht, wenn nach der Vita Meinwerci c. 182, SS. XI,
S. 149, Heinrich IL gegen den unersättlichen Bi-
schof klagte: me bonis concessis cum detriment*)
regni spoliare non cessas; vgl. c. 184. 186.
Dass auf dem Kirchengut wichtige Verpflich-
tungen gegen das Reich beruhten und dass die
Könige geneigt waren, diese in vollem Umfang
geltend zu machen und immer weiter auszudeh-
nen, ist unzweifelhaft. Die Abhandlung giebt in
ihrem letzten Theil interessante Untersuchungen
darüber, namentlich über die Dienstpflicht im
Heer, dann das sogenannte Regalien- und Spo-
lienrecht. Auch hier kann ich mit den gegebe-
nen Ausführungen nicht überall übereinstimmen
und werde meine abweichende Ansicht über den
Ursprung des Spolienrechts an anderem Orte
(Forschungen z. D. G. XIII, 3) näher darlegen.
Aber gerne erkläre ich noch einmal, dass dieser
Abschnitt wie die ganze Schrift eine Fülle an-
regender und belehrender Ausführungen enthält
Vor allem freut man sich in dieser Arbeit eine
Ankündigung davon zu sehen, dass der Verf. zu
Flückiger, Grundlag. d. pharm. Waarenkunde. 835
den Forschungen über die Deutsche Reichsver-
fassung zurückgekehrt ist, die sein Buch über den
Reichsfürstenstand so vielversprechend eröffnete.
G. Waitz.
Grundlagen der pharmaceutischen Waaren-
kunde. Einleitung in das Studium der Pharma-
cognosie. Von Dr. F. A. Flückiger, Pro-
fessor an der Universität Strassburg. Berlin,
1873. Verlag von Julius Springer. 138 Seiten
in Octav.
Man kann dies Buch eine Einleitung oder
eine Ergänzung zu verschiedenen Handbüchern,
nicht allein der Pharmacognosie, deren neueste
und in vielen Beziehungen nach neuen Principien
gearbeitete Darstellung wir ja dem Verfasser
danken, sondern auch zu den Hauptwerken
über medicinisch-pharmaceutische Botanik, über
Phytochemie, zu den verschiedenen Bilderwerken
über äusseren und inneren Bau officineller Pflan-
zen und Droguen nennen. Aber wenn man dies
thut, wird man ihm auch das Verdienst nicht
aberkennen, dass es einerseits eine höchst will-
kommene Einleitung oder Supplementirung zu
denselben bildet, durch welche ihre Brauchbar-
keit in hohem Grade gewinnt, andererseits aber
auch als selbstständiges Ganzes, als Leitfaden
der allgemeinen Pharmacognosie, hohe Bedeutung
besitzt. Dem Pharmaceuten, welcher mit den
zu seinem Studium unentbehrlichen Hülfewissen-
schaften die nöthige Vertrautheit weder vom
Gymnasium in die Apotheke noch vom Receptir-
tische auf die Universität mitbringen kann und
welcher hier Botanik, Zoologie, Physik, Chemie
und andere Disciplinen bis zur Kristallographie
und Petrefactenkunde neben seinen Hauptfachern,
der Pharmacie und Pharmacognosie, in drei
Semestern gründlich incorporiren und so Ter«
836 Gott, gel Anz. 1873. Stück 21.
dauerT mass, dass er sie im letzten Studien-
semester in einer die Examinatoren befriedigen-
den Weise wieder von sich geben kann, ist ein
Bach anentbehrlich, das nicht gleich den Lehr-
büchern der speciellen Pharmacognosie Speciali-
täten mosaikartig zusammensetzt, wie sich der
Verfasser im Vorwort ausdrückt, sondern ihm
die allgemeinen Gesichtspunkte, die sich auf
eines der fur ihn wichtigsten Gebiete beziehen,
nicht allein in verständlicher, sondern auch in
einer ihn zum wissenschaftlichen Streben anre-
genden Form vorführt Was in Flückigers
Grundlagen der pharmaceutischen Waarenkunde
steht, wird ihm vielleicht theilweise nicht im
Examen abverlangt, wo er eine bestimmte An-
zahl Droguen erkennen und beschreiben, eine
fesetzlich festgesetzte Zahl von officinellen
pflanzen bestimmen muss, aber er bedarf des-
selben, um die Specialien, deren grössten Theil
er nach absolvirtem Examen wieder vergisst,
weil sie ihn mehr oder minder unklar blieben,
richtig zu verstehen und damit dem Gedächt-
nisse dauernd, nicht bloss eine Woche über das
Examen hinaus, einzuprägen. Hätte F lücki-
ger bei Herausgabe seines Buches nur diese
Absicht gehabt , dem Lernenden einen Leitfaden
in das-Gebiet derPharmacie zubieten, so würde
er sich dadurch ein zahlreiches und gewiss nicht
undankbares Publikum erwerben. Aber das Buch
ist in der That auch geeignet, »dem Kundigen
den Genuss reichen Besitzes zu erhöhen«. Die
Mehrzahl der älteren Pharmaceuten ist mit dem
inneren Bau der Droguen aus dem Pflanzen-
reiche während ihrer Studienzeit nicht in dem
Masse vertraut geworden, wie es der gegenwär-
tige Standpunkt der Wissenschaft erfordert
Sich durch die dickleibigen neuen botanischen
Werke durchzuarbeiten, werden sie wenig Lust
Flockiger, Grundlag. d. pharm. Waarenkunde. 837
besitzen, und wäre dieselbe auch vorhanden,
das Geschäft litte es nicht. Und gerade diesen
bietet sich durch Flückiger's Buch die be-
queme Gelegenheit, sich in dem ihnen uner-
schlossenen Gebiete möglichst rasch zu orientiren
und sich zum Verständniss von Sachen vorzu-
bereiten, welche auf die Dauer nicht entbehrt
werden können. Hier bekommt der Pharmaceut,
was er bedarf, ohne nöthig zu haben, es sich
aus einem Haufen Unnöthigem herauszusuchen.
Gerade dem inneren Bau der officinellen Pflanzen-
theile ist der grösste Theil der vorliegenden all-
gemeinen Pharmacognosie gewidmet (S. 29—93)
und dieses wichtige Gapitel, in welchem auch
manche neuermittelte Thatsachen sich finden, ist
dem Verständnisse des Lesers durch eine grosse
Anzahl Holzschnitte eröflnet. Die meisten darun-
ter gehören dem Verfasser selbst an, in dessen
Plane es lag, auf eine Reibe anderer zu ver-
weisen, welche in den verbreiteren phytoana-
tomischen Werken, z. B. von Berg, Dippel
und Sachs oder in Pringsheim's Jahrbü-
chern früher publicirt wurden. Gewiss war es
für die Leser zweckmässiger, wozu sich Flücki-
ger später entschlossen hat, eine Auswahl die-
ser Abbildungen dem Werke selbst mit Anfuh-
rung der Quellen einzuverleiben. Es lässt sich
nicht verkennen, dass gerade durch die sorgsame
Ausführung dieses Capitels und durch die Zusam-
menfassung mancher Thatsachen, welche in der
Pharmacognosie bisher weniger hervortreten und
doch bei reiflicher Erwägung als nicht entbehr-
lich angesehen werden müssen, dem Leser ein
grosser Dienst erwiesen ist.
Die Ausstattung des Buches ist vorzüglich,
der Druck correct und sauber.
Theod. HusemaniL
638 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 21.
Wasserschieben, Dr. H. , Geh. Justiz-
rath und Professor an der Universität Giessen:
Das landesherrliche Kirchenregiment. Berlin,
G. G. Lüderitz'sche Verlagsbuchhandlung, 1873.
45 Seiten.
Die hauptsächlichste Bedeutung dieser kleinen,
aber vortrefflichen Abhandlung, welche das 16.
Heft der von Holtzendorff und Oncken heraus-
gegebenen »Zeit- und Streitfragen ausmacht, be-
stellt ohne alle Frage in den Auseinandersetzun-
gen des 2. Theils. Nicht als ob nicht auch der
erste Theil Beachtung verdiente. Derselbe bie-
tet eine gedrängte Uebersicht der geschichtlichen
Entwicklung des in Rede stehenden Verhältnisses
dar, und wenn er auch zum grossen Theile be-
reits Bekanntes reproducirt, so doch in recht
geistvoller Weise und auch so, dass schon von
ihm aus bedeutsame Streiflichter auf manche von
den unhistorischen und unhaltbaren Theorien
fallen, welche in neuerer Zeit in Beziehung auf
das »landesherrliche Kirchenregimentc aufgestellt
worden sind. Namentlich aber ist es der 2. Theil,
der es sich zum eigentlichen Geschäft macht,
diese Theorien zu beleuchten, wie sie besonders
auch in Preussen nach der verhängnissvollen Zeit
von 1848, und um den §.15 der Verfassung fur
die evangelische Kirche möglichst unwirksam zu
machen, aufgestellt worden sind, und man muss
sagen, dass der Kampf, den der Verf. gegen diese
Theorieen unternommen hat, von ihm auch sieg-
reich durchgefochten worden ist.
Im Jahre 1848 war nicht nur Friedrich Wil-
helm IV. selbst überzeugt, dass das Kirchenre-
giment des Landesherren unhaltbar geworden
jsei, sondern es war das auch (vgl. Woltersdorfs
Darstellung in seinem Buche »aas Preussische
Staatsgrundgesetz und die Kirche«) die Ueber-
Wasserschleben , D. lanclesherrl. Kirchenr. 83d
zeugung von nahezu allen mit den Dingen ver-
trauten urteilsfähigen Männern geworden, wie
denn u. A. nicht bloss Richter, sondern auch so-
gar Stahl darin übereinstimmte. Auch muss
man erkennen, dass §.15 der preussischen Staats-
verfassung, welcher der evangelischen Kirche eben
so gut, wie allen anderen Religionsgemeinschaf-
ten, das Recht der Selbstverwaltung ohne alle
und jede Verclausulirung zuspricht, mit dem her-
gebrachten Kirchenregiment des Landesherrn
nicht verträglich ist. Allein bald fand man denn
doch eine Theorie aus, welche es gleichwohl
möglich machen sollte, den bisherigen Verwal-
tungsmechanismus der evangelischen Kirche in
ihrer Abhängigkeit von staatlichen Instanzen bei-
zubehalten: man unterschied zwischen dem Lan-
desherrn als Landesherrn und als vornehmstem Mit-
gliede der Kirche, und diese Unterscheidung war
dann bekanntlich der Faden, mit welchem man das
hergebrachte Verwaltungssystem aufs Neue zu be-
festigen suchte. Aber eben diese Theorie ist es,
welche der Verf. hier in ihrem vollen Urgründe
nachweist, und zugleich zeigt er auch, dass die-
jenigen, welche aus practischen Bedenken die
evangelische Kirche unter dem Regimente des
Landesherrn und der von diesem ernannten Be-
hörden lassen möchten, mit dem, was sie da
vorbringen, nicht eben sehr im Rechte sind.
Dass der Kirche das eigene Verwaltungs-
recht endlich in voller Ausdehnung gegeben
werden muss und dass es die Aufgabe des lan»
desherrlichen Kirchenregimentes ist, die ihm für
eine Zeit lang anvertraute evangelische Kirche
zu dieser Selbständigkeit zu fuhren, das tritt
aus den Auseinandersetzungen des Verf. recht
deutlich hervor, und man muss sogar sagen,
schon als die Landesherren zur Zeit der Refor-
840 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 21.
mation um der Noth der Zeit willen und weil
kein Andrer sich fand, der »sich der Sachen
hätte annehmen können«, das Kirchenregiment
fibernahmen als ein nicht aus ihrer obrigkeit-
lichen Stellung ihnen zukommendes Amt, schon
da übernahmen sie die Verpflichtung, dies Amt
so zu fuhren, dass die Selbständigkeit der Kirche
zuletzt das Resultat wäre. —
Nur Eins hätte Ref. gewünscht, in der Ab-
handlung noch näher erörtert zu sehen: die
künftige Stellung des Staates und seiner Instan-
zen zu der selbständig gewordenen Kirche. Dass
der Staat die Kirche nicht mehr wird zu ver-
walten haben dürfen, hat der Verf. gezeigt, aber
es ist doch klar, dass der Staat auch seine
Hoheitsrechte gegenüber der Kirche hat und
dass diese nicht in Wegfall kommen können und
dürfen, wenn auch die Kirche hinsichtlich ihrer
Verwaltung selbständig geworden sein wird, und
wie und durch welcherlei Organe diese nun
wahrzunehmen seien, das hätten wir gern doch
noch näher dargelegt gesehen. Sollte da nicht
doch die Art, wie in den altreformirten Perby-
torial- und Synodalordnungen die Hoheitsrechte
des Landesherrn durch den zu den Synoden zu
entsendenden commissarius principis gewahrt
sind, der Beachtung werth sein ? und wäre dazu
nicht zu betonen, dass die Rechtshoheit des
Staates gegenüber der Kirche nicht durch die
staatlichen Verwaltungs behörden , sondern
durch die Gerichte des Staats wahrzunehmen
sei? F. Brandes.
841
G ö tti ngi 8 c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenscheiten.
Stuck 22. 28. Mai 1873.
Del codice diplomatico angioino e delle altre
xnie opere. Apologia in risposta all' opuscolo
pubblicato daventi uffiziali del Grande archivio
di Napoli, intitolato Annalisi e giudizii delle cose
pubblicate da Giuseppe del Giudice etc.
Napoli, 1872. 8.
Herr del Giudice, Beamter des neapolitani-
schen Staatsarchivs und Herausgeber des Godice
diplomatico del regno di Carlo 1° e II0 d'Angiö,
'dessen beide bisher erschienenen ersten Bände
wir in diesen Blättern (1870 Stück 32) ausführ-
lich und mit rühmender Anerkennung besprochen
haben, ist neuerdings in eine heftige literarische
Fehde verwickelt worden. Er hatte im Jahre
1871 eine Broschüre: Del Grande Archivio di
Napoli, delle scritture antiche e moderne che
contiene e del loro ordinamento veröffentlicht,
deren Hauptinhalt eine Kritik der bisherigen
Einrichtungen jenes Archives und Vorschläge zu
einer theilweisen Neuordnung desselben bilden.
Diese Schrift, obgleich sie durchaus ruhig und
sachlich gehalten und frei von allen persönlichen
64
842 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
Angriffen ist, hat dennoch unter den GoIIegen
des Verfassers, den anderen Beamten jenes Ar-
chives, welche allerdings schon vorher wegen
allerlei persönlicher und Bangverhältnisse mit
demselben zerfallen waren, den heftigsten Zorn
erregt und 20 derselben haben sich zur Heraus-
gabe einer Gegenschrift : Annalisi e giudizii delle
cose pubblicate da Giuseppe del Giudice ver-
einigt, welche noch in demselben Jahre erschie-
nen ist. Diese Schrift ist in sehr erregtem Tone
geschrieben, sie sucht nachzuweisen, einmal dass
die wissenschaftlichen Arbeiten del Giudices
werthlos sind, dann dass jener Vorschlag einer
Beformirung des Archivs ebenso ungegründet
wie unverständig ist, endlich aber. wird in einem
Anhange eine Darstellung seiner Lebensverhält-
nisse gegeben, welche den Beweis liefern soll,
dass er eine ganz characterlose und intriguante
Persönlichkeit ist. Die vorliegende Schrift ist
die Antwort des Herrn del Giudice auf diese
Angriffe. Er hat eine solche, wie er zu Anfang
angiebt, für nothwendig gehalten, weil seine
Schriften nur wenig bekannt und gelesen sind
(merkwürdiger Weise sind die meisten Exemplare
seines Codice diplomatico nicht in Italien, son-
dern in Deutschland abgesetzt worden), nur we-
nige also über dieselben sich ein selbständiges
Urtheil bilden können, während dagegen jene
Anklageschrift geflissentlich überall hin verbrei-
tet worden ist. Seine Apologie zeichnet sich
vor jener anderen Schrift sehr vorteilhaft da-
durch aus, dass sie in besonnenem und ge-
mässigtem Tone gehalten ist. Obwohl von
Schmerz und Zorn erfüllt über die kränkende
Behandlung, die er von jenen Männern, zum
Theil seinen Unterbeamten erfahren hat, bewahrt
er dennoch eine ruhige Würde, hält sich soviel
del Giudice, D. codice diplomatico angioino etc. 843
wie möglich an dem Sachlichen und folgt seinen
Gegnern auf das von ihnen betretene Gebiet des
Persönlichen nur so weit, als er es zu seiner
eigenen Verteidigung für erforderlich hält.
Was nun den sachlichen Gegenstand dieses Strei-
tes betrifft, so hat derselbe auch bei uns in
Deutschland schon verschiedene Urtheile hervor-
gerufen. Eine anonyme Anzeige der Annalisi e
giudizii in diesen Blättern (1872. Stück 5) er-
klärt die Angriffe derselben für »so streng -und
so schneidend, dass nach den beigebrachten
augenscheinlichen Thatsachen eine Widerlegung
unmöglich scheint c Dagegen tritt eine eben-
falls anonyme Anzeige aller drei Schriften in
dem Literarischen Gentralblatt (1872. No. 28)
durchaus auf die Seite del Giudices und erklärt
den Nachweis, welchen dieser von der Perfidie
seiner Gegner führt, für »so schlagend, dass
über Werth oder Unwerth der von letzteren
vorgebrachten Anschuldigungen unter unparteii-
schen Ehrenmännern keinerlei Zweifel obwalten
könne«. Beide Recensionen sind ganz kurz und
gehn auf die Streitpunkte selbst nicht näher
ein, es erscheint daher hier bei einer neuen
Besprechung derselben Sache gerathen eine ge-
nauere Prüfung vorzunehmen und Anklage und
Vertheidigung gegen einander abzuwägen. Doch
abstrahiren wir dabei vollständig von jenen per-
sönlichen Verhältnissen, theils weil dieselben für
uns wenig Interesse haben, theils aber auch,
weil es den fern Lebenden nicht möglich ist,
dieselben klar zu durchschauen. Es handelt sich
also hier nur um die Frage: Sind die wissen-
schaftlichen Arbeiten del Giudices wirklich so
nachlässig und so wenig werthvoll und sind seine
Vorschläge zu einer Neuordnung des neapolita-
844 Gott. gel. Anz, 1873. Stück 22.
nischen Archivs wirklich so ungereimt, wie seine
Gegner behaupten?
Was das Hauptwerk, den Codice diplomatic»,
anbetrifft, so behaupten die Verfasser der Ana-
lisi, dass es diesen Titel gar nicht verdiene,
denn: 1) ein Drittel der dort abgedruckten Ur-
kunden sei schon früher in anderen Werken
publicirt worden, 2) die anderen, bisher un-
edirten Urkunden seien ganz incorrect abgedruckt,
die Angabe des Fundortes derselben oft un-
genau, manche seien gar nicht in dem neapoli-
tanischen Archive, aus welchem sie genommen
sein sollten, zu finden , 3) diese Sammlung sei
auch unvollständig, denn sie enthalte nicht alle
Urkunden Carls I. aus den betreffenden Jahren,
4) auch die als bisher unedirt herausgegebenen
Urkunden seien durchaus nicht neu, sondern die
meisten schon von Anderen citirt und benutzt,
endlich 5) die Anordnung dieses Codex sei eine
ganz confuse, weder eine chronologische noch
eine sachliche.
Herr del Giudice sucht in seiner Apologie
die Nichtigkeit dieser Einreden nachzuweisen.
Ad 1 führt er aus, seine ausgesprochene Absicht
sei die gewesen, eine möglichst vollständige
Sammlung der historisch wichtigen Urkunden
zunächst aus der Zeit Carls I. zu geben. Da-
her habe er sowohl schon gedruckte als auch
ungedruckte Documente zusammengestellt, bei
den ersteren habe er selbst immer genau ange-
geben, wo dieselben publicirt seien. Ferner bil-
deten jene schon sonst gedruckten Urkunden
(73) nicht, wie seine Gegner behaupteten, ein
Drittel, sondern nur ein Zwölftel der ganzen
Urkundenmasse, denn wenn auch der Text der
zwei ersten Bände nur 215 Urkunden enthalte,
so habe er doch in den Anmerkungen noch über
del Guidice, D. codice diplomatico angioino etc. 845
700 andere theils vollständig, theils in längeren
oder kürzeren Excerpten mitgetheilt, so dass die
Gesammtzahl der Urkunden in jenen beiden
Bänden c. 1000 betrage. Ad 2 weist er nach,
dass die angeblichen groben Ungenauigkeiten in
dem Abdruck und der Gitirung der Urkunden
sich in Wirklichkeit auf einige, meist sehr un-
erhebliche Versehen, zum Theil offenbare Druck-
fehler reduciren. Was die Urkunden anbetrifft,
welche nach der Aussage seiner Gegner gar
nicht in dem Archive vorhanden sein sollten, so
hat er vorläufig, bis die von ihm bei der Re-
gierung beantragte Untersuchung beendet sein
wird, den betreffenden Tbeil des Archives nicht
betreten wollen und daher nicht nach denselben
suchen können, er zeigt aber von einigen der-
selben aus den Anführungen in anderen Büchern,
dass sie in dem Archiv vorhanden sein müssen,
oder wenigstens früher dort gewesen sind. Ad 3
giebt er an, dass es gar nicht seine Absicht ge-
wesen ist, alle Urkunden Carls I. abzudrucken,
sondern nur die historisch wichtigen, dass es
bei der Unordnung, in welcher sich die registri
der anjouschen Zeit befinden, wohl möglich ist,
dass er einige übersehen hat, dass aber seine
Gegner bisher keine einzige solche ihm namhaft
gemacht haben. Ferner zeigt er, dass auch hier
die Zahlenangaben derselben falsch sind , denn
nicht nur 9, sondern 106 Bände jener registri
hat er für seine 2 Bände durchgearbeitet und
verwerthet. Ad 4 entgegnet er: der Umstand,
dass von den in seinem Codex abgedruckten
Urkunden manche schon früher von Anderen
gekannt, benutzt und citirt sind, könne dem
Werthe desselben keinen Abbruch thun, zumal
da er auch dieses immer selbst gewissenhaft be-
merkt habe, übrigens zeigt er , dass auch hier
846 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 22.
die Angaben in den Annalisi über Zahl und Be-
deutung dieser Documenta übertrieben sind. End-
lich ad 5 setzt er noch einmal, wie schon in
der Vorrede zu dem Codex selbst, das Princip
auseinander, welches er bei der Anordnung des-
selben befolgt hat. Die wichtigeren Urkunden
werden in dem Texte in chronologischer Reihen-
folge aufgeführt, während in den Anmerkungen
zur Erläuterung sachlicher und persönlicher Ver-
hältnisse oft gleich mehrere denselben Gegen-
stand betreffende Documente auch aus verschie-
dener Zeit zusammengestellt sind.
Ausser diesem Godice diplomatico hat del
Giudice eine zweite kleine ähnliche Schrift 1871
veröffentlicht: Diplomi inediti di re Carlo L
d'Angiö riguardanti cose marittime. Auch diese
wird in den Annalisi einer gleichen herben Kri-
tik unterzogen. Die Verfasser derselben behaup-
ten, dass die hier mitgetheilten Urkunden ganz
werthlos sind, dass sich auch hier die gleiche
Ungenauigkeit in der Citirung derselben zeigt,
mehrere jener Urkunden sich in dem Archiv
gar nicht auffinden lassen, endlich dass dasselbe
zahlreiche andere ungleich interessantere Urkun-
den über diesen Gegenstand enthält, von denen
sie 6 zum Beweise abdrucken. Herr del Giu-
dice entschuldigt in seiner Apologie die Unge-
nauigkeiten, welche diese Schrift in verhaltniss-
mässig grösserer Anzahl enthält, damit, dass
dieselbe eine Gelegenheitsschrift zu Ehren des
187i in Neapel tagenden internationalen mari-
timen Congresses war, der Gedanke, dieselbe
herauszugeben, wurde schnell gefasst, der Druck
mu8ste innerhalb 24 Stunden vollendet werden,
so dass zu einer sorgfältigen Corrector der
Druckbogen oder gar zu einer nochmaligen Ver-
gleichung seiner früher gemachten Abschriften
del Guidice, D. codice diplomatico angioino etc. 847
mit den Originalen keine Zeit war. Im Uebri-
gen weist er nach, dass die von ihm mitgeteil-
ten Urkunden allerdings interessante Angaben
über das Seewesen, namentlich über die Kriegs«
marine Carl L enthalten und dass die 6 von
seinen Gegnern abgedruckten Urkunden jeden-
falls keine grössere Wichtigkeit für sich in An-
spruch nehmen können.
Diese Ausfährungen des Herrn del Giudice
in der Apologia sind unsrer Meinung nach durch-
aus überzeugend. Wir können nur anerkennen,
dass jene beiden Schriften desselben eine Anzahl
von Ungenauigkeiten enthalten, von denen, wenn
sie auch meist unerheblich sind, es doch wün-
schenswerth wäre, dass er sie vermieden hätte.
Was ferner jene halb chronologische, halb sach-
liche Anordnung des Codice diplomatico anbe-
trifft, 60 haben wir selbst schon in der erwähn-
ten Anzeige desselben (S. 1244) darauf hinge-
wiesen, dass dieselbe manche Unzuträglichkeiten
mit sich bringt. Doch ist dieselbe am wenig-
sten eine unwissenschaftliche zu nennen, sondern
eber eine zu complicirte und die nöthige Ueber-
sichtlichkeit wird sich leicht durch passend an-
zulegende Indices herstellen lassen. Die sonsti-
gen Anklagen der 20 Verfasser der Annalisi er-
weisen sieb als durchaus grundlos, zum Theil
als ungeschickt und unpassend, andere gradezu
als unwahr, der wissenschaftliche Werth der an-
gegriffenen Schriften wird dadurch nicht erschüt-
tert und am allerwenigsten zeigen sich jene
Verfasser berechtigt, in einem so hämischen und
verächtlichen Tone über dieselben abzuurtheilen.
Was dann jenen Streit um die Anordnung
des neapolitanischen Archivs anbetrifft, so han-
delt es sich in der Kürze um Folgendes. Durch
das Reglement, welches König Ferdinand bald
L
848 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 22.
nach seiner Rückkehr auf den neapolitanischen
Thron 1818 erliess, wurde bestimmt, class die
Urkundenschätze desselben nach rein sachlichen
Gesichtspunkten in 5 Hauptabtheilungen : äussere
Politik, innere Verwaltung, Finanzen, Gerichts-
und Kriegswesen geordnet, werden sollten. Es
wurde ferner die Einsetzung einer historischen
Commission angeordnet, welche die Verwerthung
dieser Schätze in einem Codex diplomaticus in
die Hand nehmen sollte. Von diesen Bestimmun-
gen wurden die ersteren auch wirklich durchge-
führt und noch jetzt ist das neapolitanische Ar-
chiv nach diesem System geordnet, dagegen ist
die letztere gar nicht zur Ausführung gekommen.
Neuerdings nun ist in Italien, auch in dem Par-
lament, die Frage erörtert worden, ob die Ar-
chive von dem Ministerium des Inneren, wie
bisher die meisten, oder von dem .des Cultos
ressortiren sollten. Hierdurch veranlasst schrieb
Herr del Giudice 1871 jene Brochure : Del Grande
archivio di Napoli. Er setzte in derselben aus-
einander, dass die Archive sämmtlich dem Cul-
tusministerium untergeordnet werden müssten,
weil dieselben vornemlich zum Dienst der Wis-
senschaft bestimmt seien, er critisirte von die-
sem Gesichtspunkte aus dann jenes Gesetz von
1818 für das neapolitanische Archiv, empfahl die
Ausführung der bisher vernachlässigten Be-
stimmungen desselben in Betrefi der Einsetzung
einer historischen Commission zur Herausgabe
eines Codex diplomaticus, verlangte dagegen
die Aufhebung jener anderen Bestimmungen des-
selben über die Einrichtung des Archivs und
eine Neuordnung desselben. Er schlug vor, die
ganze Schriftenmasse desselben chronologisch in
zwei. Hauptatheilungen zu sondern, die erste
sollte die Vergangenheit, etwa bis 1806 oder
del Giudice, D. codice diplomatico angioino etc. 849
1735, der zweite die Neuzeit umfassen, jene er*
stere vornehmlich wissenschaftlichen, die zweite
den practiscben Zwecken der Verwaltung dienen
und demnach die Anordnung derselben im Ein*
zelnen eingerichtet werden. Gegen diese Schrift
nun ziehen die Verfasser der Annalisi ebenfalls
mit der grössten Erbitterung zu Felde. Wir
verkennen nicht, dass, so richtig auch der Grund-
gedanke des Herrn del Giudice ist, dennoch ge-
gen die Ausführbarkeit seiner Vorschläge im
Einzelnen manche Bedenken erhoben werden
können, darin aber können wir Herrn del Giu-
dice nur beistimmen, wenn derselbe in der Apo-
logia von seinen Gegnern verlangt, dass sie,
wenn sie anderer Meinung sind als er, dieselbe
sachgemäßs und in anständiger Form hätten
vortragen sollen, dass sie ferner nicht nur ein-
zelne Partien aus seiner Schrift hätten heraus*
greifen, sondern diese in ihrem ganzen Zusam-
menhange erörtern sollen. Denn in der That
enthält der betreffende Abschnitt der Annalisi
in der Hauptsache nur persönliche Invectiven
und Schmähungen, welche nur auf die Angreifer
und nicht auf den Angegriffenen ein schlechtes
Licht werfen können und durch welche am we«
nigsten die von Herrn del Giudice angeregten
Fragen ihre Erledigung finden.
Die Angriffe jener 20 Archivbeamten sind
also unserer Meinung nach nicht dazu angethan,
die angesehene Stellung, welche Herr del Giudice
in der gelehrten Welt einnimmt, zu erschüttern.
Zu unsrer Freude ersehen wir aus der Apologie,
dass derselbe mit der Fortsetzung seines Godice
diplomatico beschäftigt ist und dass der dritte
Band desselben bald erscheinen wird. Wir hof-
fen, dass jener unerfreuliche Streit wenigstens
den günstigen Erfolg haben wird, einmal, dass
65
850 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
der Verfasser selbst durch noch grossere Sorg-
falt weiteren Angriffen vorbeugen , andererseits
aber, class das Werk bei dem gelehrten Publi-
cum Italiens grössere Beachtung und bei der
Regierung diejenige Unterstützung finden wird,
ohne welche die Vollendung desselben seinem
grossen ursprünglichen Plane gemäss kaum mög-
lich erscheint
Berlin. Dr. Ferdinand Hirsch.
£tude de Physiologie therapeutiqtte.
L'alcool, son action physiologique, son utilitä
et 86s applications en hygiene et en thärapeu-
tique, par M. Ang. Marvaud, professeur
aggrege ä l'Ecole de m6decine du Val-de-Grace.
Avec 25 planches lithographies. 292 Seiten in
Octav. Paris, librairie Roziere. 1872.
Die Beziehungen des Alkohols zu dem ge-
sunden und kranken Organismus sind bekannt-
lich in neuerer Zeit wiederholt der Gegenstand
der Forschung von Seiten der Aerzte gewesen,
und erst noch vor Kurzem haben wir eine Schrift
von Bouvier, welche die in Bonnes pharma-
kologischen Institute gemachten Versuche mit-
theilt, in diesen Blättern besprochen. Es sind
freilich grade über den in Rede stehenden Stoff
so abweichende Resultate erhalten, dass dervor-
urtheilsfreie Beurtheiler in hohem Qrade davon
überrascht wird. Man erhebt von der einen
Seite mit Emphase die antipyretische Wirkung,
während man auf der anderen Seite dieselbe voll-
ständig negirt; die eine Partei (denn man kann
hier geradezu von Parteien reden) sucht die
Maraud, £tude de Physiologie th&apeutique. 85 1
Fehlerquellen in der Beobachtung der anderen
Partei aufzuspüren und diesen das Resultat auf-
zubürden, während die andere Partei diese
Fehlerquellen als nicht vorhanden erachtet oder
mit Umgehung und Vermeidung derselben die
Versuche wiederholt, welche dann wieder das
frühere Ergebniss liefern I So ist z. B. Rabow,
der unter Ley den in Königsberg an Kranken
Versuche anstellte, welche die antipyretische
Wirkung des Alkohols sehr problematisch er-
scheinen Hessen, in einer neuen Arbeit, (Ueber
die Wirkung des Alkohols auf die Körpertempe-
ratur und den Puls. Strassburg, 1872. Diss.)
Senau zu den früheren Resultaten gelangt, trotz-
end er die ihm von Bonn aus imputirten Feh-
ler vermied. Nach unsrer Ansicht sind die
physiologischen Experimente zwar von Fehlern
in der Anstellung zu befreien, welche die Re-
sultate trüben können, aber die Versuche am
Krankenbette werden erst ein tadelloses Resul-
tat geben, wenn sie über eine viel grössere An-
zahl von Fällen sich erstrecken, als dies bisher
der Fall ist. Bei den wenigen Versuchen, die
wir aus Kliniken an gut überwachten Kranken
besitzen, kann die Individualität allerdings sehr
in Betracht kommen, zumal da offenbar die
Lebensweise, z. B. der habituelle Genuss von
Alkohol enthaltenden Getränken störend wirkt,
weshalb auch die Resultate in einer Nordischen
Universitätsstadt, wo der Branntwein in grössern
Mengen consumirt wird, nie als völlig entschei-
dend anzusehn sind.
Zu den Vertheidigern der antipyretischen
Wirkung des Alkohols hat sich neuerdings ein
Französischer Autor, M a r v a u d , mit einer sehr
beachtungswerthen Schrift gesellt, deren Grund-
lage zum Theil dem von uns gestellten Deside-
65*
852 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
rium, den Versuchen am Krankenbette in
grösserem Massstabe, Rechnung trägt. Sehoa
im Jahre 1869 hat Marvaud Studien über den
Alkohol unternommen, und zwar in Hinblick auf
die Bewerbung um einen von der Society de
m6decine von Bordeaux gestellten Preis für
die beste Studie »sur Taction physiologique et
therapeutique de Pal coole. Seine Arbeit trug
auch den Sieg über vier Mitbewerber davon
und erschien dann im Jahre 1869 und 1870 in
Französischen Journalen, leider aber in solchen,
welche in Folge der höchst mangelhaften Ein-
richtungen des Französischen Buchhandels ausser-
halb der Hauptstadt im Auslande ziemlich un-
zugänglich sind, nämlich in den Bulletins et
Memoires de la Societe de medecine de Bor*
deaux (1869) und in der Union medicale de la
Gironde 1870/71. So ist sie denn auch bei uns
unbeachtet geblieben.
Die gegenwärtig vorliegende Schrift basirt
auf dieser ersteren, aber sie ist in einer nicht
unerheblichen Weise vermehrt, indem gerade
die Beobachtungen am Krankenbette, welche in
der frühern Studie nur wenig angetroffen wur-
den, durch die Stellung des Verfassers als Gbef
de service in einem grossen Krankenhause
(Val-de-Gräce) erheblich erweitert werden konn-
ten. Marvauds Beobachtungen erstrecken sich
auf 500 Fieberkranke, von denen über die
Hälfte an Variola (während der Belagerung von
Paris), 80 an Typhus, 25 an Scarlatina, 30 an
Morbilli, 15 an Rheumatismus articulorum acu-
tus litten. Offenbar ist es diejenige Studie über
Alkoholwirkung bei Fieberkranken, der das
grösste Beobachtungsmaterial zu Grunde liegt.
Die Schrift ist übrigens nicht ausschliesslich
der Alkoholtherapie gewidmet, sondern sie zer-
Marvaud, fitude de Physiologie therapeutique. 853
fallt in drei Abschnitte, von denen nur der letz-
tere die Erfahrungen aber die Wirkung des
Mittels am Krankenbette umschliesst.
Von den beiden übrigen behandelt der erste
die physiologischen Wirkungen des Alkohols und
enthält u. a. die von Marvaud im Jahre 1869
angestellten physiologischen Versuche mit dieser
Substanz. Dieselben betreffen, wie die thera-
peutischen, den reinen Weingeist, da Marvaud
sieh wohl gehütet hat, wie dies so viele Andere
gethan, mit Wein zu experimentiren, dessen
übrige Bestandteile einen störenden Einfluss
auf die Reinheit des Experimentes ausüben
könnten. Sie beziehen sich vor Allem auf die
Einwirkung auf die Circulation beim Gesunden,
auf die Beeinflussung der Temperatur und der
Diurese mit besonderer Berücksichtigung der
Ausscheidung von Harnstoff, Harnsäure und von
festen Stoffe im Urin. Es sind aber nicht allein
diese Versuche, sondern auch das Bäsonnement
des Verfassers beach tens wert h. Er besitzt eine
sehr genaue Eenntniss der Literatur über den
von ihm behandelten Gegenstand, die auch auf
die Nichtfranzösische Literatur sich erstreckt
Wie freilich dieselbe acquirirt wurde, wollen
wir nicht untersuchen ; man ist es eben gewohnt,
in Französischen Autoren die Namen der pen-
seurs barbares, wie ein Französischer Autor uns
Deutsche neulich titulirte, in der lächerlichsten
Weise corrumpirt zu finden. Wie viel der Autor
und wie viel der Setzer Schuld hat, ist nicht
gut zu ermitteln. Aber constatiren wollen wir,
dass die ans Deutschen Autoren citirten Anga-
ben richtig citirt sind, während die citirten
Büchertitel ganz absonderliche Corruptionen er-
litten haben. Der bekannte Canstatt'sche Jah-
resbericht/ dessen Namen von dem verstorbenen
854 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
Erlanger Professor als erstem Herausgeber her-
rührt, wird vielleicht um zu beweisen, dass man
in Frankreich doch Geographie versteht, nach
Gannstadt als Druckort verlegt, und das alte
Werk des frühverstorbenen Böcker in Bonn
figurirt als Beiträge zur »Kran- kheils, genus
und Arzneiwirkungslehret von Bocker. An einer
anderen Stelle steht gesperrt gedruckt ' »fieber»
errengen« statt fiebererzeugend. Uebrigens
sind auch die Englischen und Italienischen
Autorennamen in gleicher Weise corrumpirt, so
dass es sich ganz gewiss nicht um Revanche
handelt; so heisst der viel citirte Sansom stets
Samson, Montegazza stets Mantegazza u. a. m.
Das stört freilich etwas, aber man wird durch
die Deductionen und die Räsonnements des
Verfassers für solche kleine Nationalfehler ent-
schädigt. Nicht als ob wir mit Allem einver-
standen wären, was der Autor sagt, die Lehre
von den Sparmitteln steht bekanntlich noch
keinesweges auf soliden Füssen und manches
liesse sich — ebenso wie die durch Fokker
nicht bestätigte Verminderung der Harnstofiaus-
scheidungen nach Alkohol — bestreiten, aber
selbst der Gegner der Antideperditoria wird an-
erkennen müssen, dass Marvaud seine Theo-
rien mit viel Geschick verficht und dass eine
Reihe origineller Ideen sich in diesem Theile
der Arbeit niederlegt findet. Auch hütet sich
der Verfasser vor den jetzt leider so häofigen
übereilten Schlussfolgerungen und er ist mit
Hypothesen nicht sehr bei der Hand, wo er
nicht starke Gründe fur solche hat. Bisweilen
zuckts ihn freilich in den Fingerspitzen, z. B.
bei der Frage, wie der Alkohol auf die Nerven-
substanz wirke, wo ihm das längst wieder be«
grabene Protagon in die Augen blitzt, aber er
Maraud, £tude de Physiologie therapeutique. 855
sagt doch: »Nous croyons prudent de ne pas
nous prononcer nettement sur ces resultats qui
ne sont pas suffisamment prouves, pour avoir
une grande importance scientifiquec
Ohne uns weiter in die Details dieses Capi-
tels zu vertiefen, bemerken wir nur, dass der
Schluss dahin geht, dass die Wirkung des Al-
kohols auf den gesunden Organismus theilweise
auf der Anwesenheit des Alkohols als solchen
im Blute, theils auf den Veränderungen beruht,
welche derselbe im Körper erleidet. Von der
Existenz des Alkohols in Substanz im Körper
leitet Marvaud zunächst Störungen im Blute
ab, indem sich Veränderungen der Blutkörper-
chen, der Blutgase und der Zusammensetzung
des Serums, ferner functionelle Störungen der
Blutkörperchen durch Beeinträchtigung der exo-
smotischen Strömung und Beeinträchtigung der
Haematose, dann solche im Nervensysteme, wo-
hin nicht allein die Störungen des Bewusstseins
und der Motilität und Sensibilität, die mit An-
ästhesie und Tod endigen, sondern auch die Al-
terationen in der Circulation, in der Respiration
und in der Wärmevertheilung im Thierkörper
gehören. Auf die Veränderungen des Alkohols
im Blute bezieht Marvaud die Wirkung des-
selben auf die Nutrition ; er bestreitet entschie-
den die Ansicht Liebigs, dass der Alkohol
ein Respirationsmittel sei und charakterisirt den
Alkohol als ein die Temperatur herabsetzendes
und den Stoffumsatz beschränkendes Medica-
ment, das einerseits die Quantität der durch die
Lungen exhalirten Kohlensäure beschränke, die
Körpertemperatur herabsetze, die Elimination
der Auswurfsstoffe durch den Urin beschränke
und die Steatose fördere. In letzterer Beziehung
glaubt der Verfasser, dass entweder eine directe
856 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
Umsetzung eines Theiles des Alkohols in Fett
erfolge oder eine solche unter Bildung von
Zwischenproducten stattfinde.
Auch die fettige Degeneration der Leber und
Muskeln, wie sie Alkohol bekanntlich so oft er-
zeugt, sieht Maryaud als Folge der Stoffum-
satzbeschränkung an und will sie eben allen
Antideperditoria als Wirkung vindiciren.
Die in dem zweiten Abschnitte von Mar-
yaud behandelten Beziehungen des Alkohols
zur Hygieine brauchen wir nur kurz zu berüh-
ren, weil sich Marvaud's Stellung aus dem
physiologischen Tbeile so zu sagen von selbst
ergibt. Er muss, unbeschadet der durch Al-
koholmissbrauch entstehenden pathologischen Ver-
änderungen und Schädigungen des öffentlichen
Wohles, doch in den Spirituosen ein Stimulans
und Nahrungsmittel im Elend und bei körper-
licher Anstrengung sehen, welches in gewaltiger
Weise zur Function der Muskeln beiträgt. Mar-
yaud hebt in letzterer Beziehung hervor, dass
der Alkohol einmal eine Excitation des motori-
schen Nerven bewirkt und dadurch Muskelcon-
tractionen auslöst, dass er zweitens durch Be-
schränkung des Stoffumsatzes die stickstoffhaltigen
Elemente der Muskeln stabiler mache und end-
lich vermöge seiner Umsetzung im Blute eine
Wärmequelle abgebe , welche letztere er freilich
als »in süffisante, comparativement ä la grande
proportion de calorique dont il determine la
transformation en force, par suite de la stimu-
lation qu'il produit dans les centres nerveux et
dans les appareils qui en dependent« be-
zeichnet.
In dem therapeutischen Abschnitt entwickelt
Marvaud zuerst einige allgemeine Grundsätze
über die Beurtheilung des Werthes der
Maryaud, l&tude de Physiologie therapeutique. 857
sen Substanzen als Medicament, wobei er sehr
gesunden Anschauungen huldigt, und gibt eini-
ges nicht eigentlich neue Historische über die
Spirituosa. Nach einer kurzen Betrachtung des
Alkohols als Hauptreiz und als Befrigerans be-
trachtet er die Behandlung der Wunden mit
Alkohol, wobei sich der Verfasser besonders an
die Darstellung von E. 6 u er in (1867) hält.
Das Hauptcapitel bildet natürlich das die in-
terne Anwendung des Alkohols betreffende, wo
Marvaud zunächst ausführlich die Schriften
von Todd und seinen Anhängern in England
durchgeht, dann eine Analyse der Arbeiten sei-
ner Landsleute gibt, welche in die Fusstapfen
der Englischen Alkoholtherapeuten getreten
sind. Was die Erfahrungen Marvaud' s selbst
anlangt, so treten dieselben zunächst bei Be-
sprechung des Typhus hervor, in Bezug auf
welche schon früher ein Schüler des Verfassers,
A u t e 1 1 e t , (De Paction antipyretique de Palcool
employ^ dans la fievre typhoide. Paris. These.
1871.) eine besondere Arbeit veröffentlichte.
Marvaud weist auf die brillanten Erfolge bei
Adynamic im Typhus hin, wo namentlich unter
der Alkoholbehandlung die Abmagerung nicht
so bedeutend wird und die Beconvalescenz von«
kürzerer Dauer ist und wo ein sehr erheblicher
Einflu88 auch auf das Delirium anaemicum sich
Consta tiren lässt, ferner auf die Modificationen,
welche die Curve des Fiebers erfährt, die beim
Alkohol lange nicht so deutlich in ihren drei
charakteristischen Theilen (Ascendenz, Stationär-
bleiben, Descendenz) hervortritt (durch Sinken
der Temperatur um 0,5 — 2,5° nach dem Alko-
hol, das sich mehrere Tage hält, worauf dann
unbedeutende abendliche Steigerung folgt) und
nie die Höhe erreicht, wohin sie sonst gelangt,
858 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
vielmehr selten über 39° hinausgeht. Das durch
sehr hohe Fiebertemperaturen bedingte Delirium
sah Marvaud mehrfach durch grosse Do9en
Alkoholika schwinden, natürlich bei gleichzeiti-
gem Fieberabfalle. Sehr interessant sind auch
die Beobachtungen bei Variola simplex, wo so-
wol im Anfange die febrile Temperatur durch
Alkohol herabgedrückt werden konnte, so dass
sie nicht das gewöhnliche Maximum erreichte,
als auch die zweite Steigerung vom 3 Tage au
niedriger gehalten werden konnte. Das mit die»
sen Steigerungen coincidirende Delirium wurde
dadurch wiederholt coupirt. Noch erheblicher
waren die Erfolge bei Variola haemorrhagica,
und von der im Allgemeinen stets tödtlicben
Form der primären Variola haemorrhagica ge-
lang es durch diese Behandlung von 16 Kranken
ein Drittel zu retten, während von 56 an secun-
därer Variola haemorrhagica Erkrankten sogar
nur 18 erlagen, eine Mortalität, die während
der Belagerung von Paris, wo der höchste Man-
gel herrschte und die allerungünstigsten Ver-
hältnisse vorlagen, sehr gering genannt werden
muss. Auch bei Scharlach und Masern waren
die Erfolge der Alkoholtherapie in derselben
Zeit sehr zufriedenstellend, doch sind die Zah-
len der Bebandelten kleiner. Bei athenischer
Pneumonie verlor Marvaud sogar von 30
Kranken keinen Einzigen und fand dabei, dass
die Periode des Fieberabfalles viel früher ein-
trat als bei anderen Behandlungsweisen. Von
15 Fällen von Rheumatismus acutus genasen 13,
in 4 Fällen stellten sich Complicationen seitens
des Herzens ein; durch die Alkoholtherapie ver-
schwanden die Schmerzen und das Delirium,
die Pulsfrequenz ging ebenfalls beträchtlich
Maraud, Ätude de Physiologie th&apeutique. 850
herunter und von 4 — 12 Tage der Krankheit
stellte sich ein recht erheblicher Temperatur«
abfall ein.
In weiteren Capiteln bespricht Marvaud so«
dann die Toleranz gegen Alkohol, die Stellung
desselben im System des Arzneischatzes und des«
sen Anwendungsweise. Alle diese Abschnitte
sind gut geschrieben und verrathen, dass der
Verfasser die Literatur des Gegenstandes ebenso
genau kennt wie er sie zu würdigen versteht.
Sehr richtig sind auch die Anschauungen
des Verfassers in Bezug auf die Beseitigung der
Trunksucht, wobei er hervorhebt, dass alle Ge-
waltmassregeln nicht fruchten. »II n'y a qu'un
moyen, sagt Marvaud, de mettre un terme ä
la consommation croissante des liqueurs spiri-
tueux et des boissons excitantes, c'est d'ame-
liorer le regime du pauvre et de l'ouvrier, et de
faciliter ä ceux-ci l'acquisition des aliments
plastiques et veritablement reparateurs. Dass
die Bourgeois-Republik des heutigen Frankreichs
nicht dazu angethan ist, um dieses Mittel zur
Abhülfe der Trunksucht zu schaffen, brauchen
wir wohl nicht hervorzuheben. Die Forderung
des Verfassers, Etablissements zu errichten, wo
die Arbeiter für wenig Kosten an Nährstoffen
reiche Speisen und kräftige Getränke in be-
schränkten Dosen finden sollen, die Arbeitgeber
zu zwingen, in der Nähe der Arbeiterwerkstätten
Restaurationen zu errichten, in denen die Ar-
beiter unverfälschte Nahrungsmittel finden soll-
ten, und zwar um so reichlicher, je mehr sie
durch die Arbeit angegriffen sind, wird wohl
in Versailles kaum Gehör finden.
Theod. Husemann.
860 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 22.
Des Beatus Rhenanus literarische
Thätigkeit in den Jahren 1508—1530
und: in den Jahren 1530 — 1546. Von
Adalbert Horawitz. Wien 1872 und 1873.
In Commission bei Carl Gerolds Sohn. 2 Hefte.
50 und 56 SS. in lex. 8°.
Bei der Besprechung des ersten Theils (G.
G. A. 1872 S. 1761—67) dieser in drei geson-
derten Abhandlungen — zuerst in den Sitzungs-
berichten der kais. Akademie der Wissenschaf-
ten zu Wien — erschienenen Schrift wies ich
darauf hin, dass das damals Gebotene, nämlich
die Schilderung der Lebensschicksale des Rhe-
nanus, nur geringere Bedeutung in Anspruch
nehmen könnte und dass der wichtigere Theü
der Schrift, der uns die Schilderung seiner ge-
sammten literarischen Thätigkeit zu geben habe,
noch ausstehe. Während es damals zu beklagen
war, dass unbenutzte, vielleicht erreichbare,
Quellen, vor Allem die noch handschriftlich in
Schlett8tadt aufbewahrten Briefe, zur Vervoll-
ständigung des Lebensbildes nicht benutzt wor-
den waren, deren baldige Ausbeutung nun übri-
gens, wie wir hören, in Aussicht steht, so muss
jetzt dankbar anerkannt werden, dass vom Verf.
mit grossem Fleisse alle ihm nur irgend zu-
gänglichen Schriften, welche Rhenanus geschrie-
ben oder herausgegeben hat, herangezogen wor-
den sind und besprochen werden. Auf Grund
dieser Materialien erhalten wir nun, im Gegen-
satz zu den früher von Mähly bearbeiteten
lebensvollen frischen Skizze eine tüchtige, frei-
lich wie es die Natur des Gegenstandes mit sich
brachte, an manchen Stellen etwas trockene, an
anderen zu weit ausgeführte wissenschaftliche
Monographie.
fiorawitz, D. Beatus Rhenanus lit. Thätigkeit. 861
Ueber die Anordnung des Stoffes Hesse sich
streiten« Der Verf. hat es vorgezogen, chrono-
logisch zu Werke zu gehn, das Material in zwei
ungleiche Hälften zu zerlegen, und ohne Rück-
sichtnahme auf den Inhalt die Schriften hinter
einander nach den Jahren zu besprechen, in
welchen sie erschienen sind. Da aber die zu
schildernde Thätigkeit eine rein gelehrte, theils
philologische, theils historische ist, bei der wol
eine Entwicklung, eine Vervollkommnung des
Schriftstellers möglich, aber keine Nöthigung
vorhanden ist, die Leistungen, welche durch
Lebensereignisse und äussere Verhältnisse nicht
bedingt sind, strenge nach den Jahren ihrer
Entstehung zu betrachten, so wäre es in diesem
Falle vielleicht geeigneter gewesen, zuerst sowol
fur die philologische als für die historische
Thätigkeit aus dem gesammten Material die An-
schauungen zu entwickeln, von denen Rhenanus
ausging, die kritischen und methodischen Grund-
sätze darzustellen, nach denen er arbeitete, und
dann deren Anwendung durch Vorführung einer
Reihe von Beispielen bei den einzelnen Werken
deutlich zu machen. Dadurch würde dann für
den Leser ein schärfer und klarer zu erkennen-
des Bild hergestellt, das Ganze würde in einem
dem Gegenstand angemesseneren , knapperen
Rahmen zusammengedrängt worden sein, manche
unnöthige Wiederholungen wären vermieden, die
grossen Auszüge aus den, jede Schrift eröffnen-
den Widmungsschreiben wären verkürzt und da-
her der Zusammenhang, der durch diese Hinein-
mengung persönlicher Nachrichten in die Schil-
derung der literarischen Wirksamkeit gestört
wird, nicht unterbrochen worden. ,
Zur Erreichung des gleichen Zweckes, der
knapperen Zusammenfassung, hätte auch die
i
862 Gott. gel. Am. 1873. Stück 22.
Entfernung der bibliographischen Beschreibung
aus dem Text und ihre Verweisung in die An-
merkungen gedient. In Betreff dieser Zuthaten
glaube ich nicht, dass die Hoffnung des Verf.
»es dürfte durch seine Schrift für die biblische
Genauigkeit hinlänglich gesorgt sein« sich ganz
erfüllt habe, sondern finde hier grade manche
Mängel (so ist II, S. 20 fg. der eigentliche Titel
der Schrift gar nicht angegeben), und eine Un-
gleichheit, die darin besteht, dass manchmal
(z. B. II, S. 16) eine Zeilenabtheilung der Ori-
ginald nicke angedeutet wird, meistens aber nicht,
und dass an wenigen Stellen (vgl. II, 8, 33) die
Abkürzungen des Originals beibehalten werden,
während fast überall, wie natürlich, dieselben
aufgelöst sind.
Was die Behandlungsart der einzelnen Schrif-
ten betrifft, so kann ich darüber nur meine
volle Befriedigung ausdrücken: sie sind mit
liebevollstem Eingehen in den Stoff beschrieben,
die neueste Forschung über die Schriftstella,
denen Rhenanus seine Editionstbätigkeit zu-
wendete, ist mit der grössten Aufmerksamkeit
berücksichtigt und die Beurtheilungen der Lei-
stungen ist, wenn sie auch mit Vorliebe die
Verdienste des Geschilderten würdigt, frei von
panegyrischem Schwulst und ungerechter Hervor-
hebung des Einzelnen. Ich will versuchen, dies
Urtheil durch eine kurze Uebersicht des Darge-
botenen zu rechtfertigen, bei der ich Rhenanus,
der Herausgeber von dem selbstständigen Schrift-
steller unterscheiden will.
Die Thätigkeit des ersteren zerfallt in zwei
Theile, sie wendet sich 1. Schriften seiner Leh-
rer, wie des Franzosen Faustus Andrelinus,
vor Allem des hochgefeierten, aufs Engste mit
ihm verbundenen Erasmus, und Zeitgenossen,
Horawitz, D. Beatus Rhenanus lit. Thätigkeit. 863
z. B. des gepriesenen italienischen Philosophen
Joh. Pikus von Mirandula zu, ist ihrem Wesen
nach cosmopolitisch und durchzieht die ganze
Lebenszeit des Rhenanus; sie bemüht sich 2,
Schriften des Mittelalters und besonders des
Alterthums, die entweder noch gar nicht, oder
in ungenügender Weise herausgegeben waren,
neu bekannt zu machen. Denn darin beruht
das Hauptverdienst des Rhenanus in seiner
Editionsthätigkeit, dass er sich nicht mit einer
ihm zufallig zugänglichen Textesüberlieferung
begnügte, sondern dass er durch Reisen, die er
nach Klöstern unternahm, durch Freunde, deren
Bibliotheken er aufs eifrigste durchforschte, sich
in den Besitz vieler Handschriften setzte, und
dass er diese nicht nach Willkür benutzte , son-
dern nach festen Grundsätzen behandelte, Alter
und Eigentümlichkeit zu bestimmen und da-
nach ihren Werth festzusetzen suchte, endlich
auch, wenn die vorhandenen Lesarten den Sinn,
welchen der Zusammenhang nothwendig er-
heischte, nicht ergaben, auch mit eigenen Con-
jekturen vorzugehn und so das Verderbte selbst-
ständig zu bessern sich nicht scheute. Dadurch
hat er gerade in dieser Beziehung Leistungen
hervorgerufen, die sich den trefflichsten jener
Zeit zur Seite stellen lassen und noch heute
von den neuesten Herausgebern derselben Auto-
ren mit Anerkennung genannt werden. Von den
Schriftstellern des Alterthums sind es der Ludus
des Seneca, die Geschichte Alexanders d. Gr.
von Gurtius Rufus, die platonischen Reden des
Philosophen Maximus Tyrius, die römische Ge-
schichte des Vellejus Paterculus, die Werke dee
Tacitus, welche ihm eine vollständige, manche
zugleich die erste Ausgabe verdanken; das Ge-
schichtswerk des Livius, bei dessen Herausgabe
864 Gott. gel. Am. 1873. Stack 22.
ihm wenigstens ein grosser Antheil gebührt;
und die Naturgeschichte des Plinius, welcher er
ein besonderes, von grossem Fleiss und durch-
dringendem Scharfsinn zeugendes, und auch heute
noch von bedeutenden Philologen hochgerühmtes
Emendatioü8werk widmete. Ausser dieser echt
humanistischen Beschäftigung hat er aber, be-
sonders durch seinen Freund Erasmus angeregt,
der zuerst dieses Feld wissenschaftlicher Thätag-
keit anbaute, auch den Schriftstellern der er-
sten christlichen Zeit sich zugewendet und ab
Frucht dieses Fleisses grosse werthvolle Aus-
gaben des Tertullian und der Aatores historiae
ecciesia8ticae , nämlich des Eusebius, Ruffinus
und der Fragmente einiger anderer hinterlassen,
während er die von Gelenius und Erasmus be-
sorgte Originesausgabe nur mit einleitenden Be«
merkungen und einem kurzen Lebensabriss des
Erasmus versah. Mit diesen Bestrebungen stand
er schon im Mittelalter, aber zu ihm zog ihn,
ausser seinen religiösen Neigungen, noch ein
zweites: das historische Interesse nämlich, das
in jener Zeit überhaupt mächtig erwacht, den
Rhenanus und die gleichstrebenden Zeitgenossen
auf die Vergangenheit, als auf die Grundlage
der gegenwärtigen Bildung, als auf die not-
wendige Vorbedingung der vorhandenen Zustände
wies. Um dies Interesse zu befriedigen gab er,
in ähnlicher Weise wie gleichzeitige Gelehrte
kurz vor und nach ihm andere mittelalterliche
Historiker 1531, u. d. T.: De rebus Gothorum,
Persarum ac Vandalorum libri 7 Geschicht-
schreiber des Mittelalters und zwar den Pro-
kop, Agathias, Sidonius Apolinaris und Jorda-
nes heraus.
Der selbständige Schriftsteller Rhenanus ist,
ausser in den Briefen, die bei ihm wie bei vie-
Horawitz, D. Beatus Rhenanus lit. Thätigkeit. 865
len Zeitgenossen sorgsam, häufig mit vieler Kunst
ausgearbeitete Leistungen sind, besonders mit
historischen Schriften hervorgetreten , zwei Bio-
graphien und einem umfassenden geschichtlichen
Werk; die ersteren, das Leben des Strassburger
Predigers Job. Geiler v. Keisersperg und das
des Erasmus enthaltend, jenes eine Jugendarbeit,
dieses eine Frucht der letzten Lebensjahre, sind
in ihrer Art gleich, beides Denkmäler, die den
ihnen aufgeprägten Charakter des Gelegenheits-
werks unverlöscht an sich tragen, Denkmäler,
zu wenig individuell, um die Zuge des Darzu-
stellenden wiederzugeben, vielmehr nur geeignet,
Zeugniss von der oratorischen Kunst, nicht von
der psychologischen Begabung des Darstellers
abzulegen. Die Kunst der Biographik, ist, wie
der Verf. richtig ausführt, »nidht Sache jener
Zeiten und jener Männer. Denn zu eng und be-
grenzt ist der Kreis ihrer Muster, an die sie sich
in Form und Darstellung anschliessende. Zu die-
sen beiden Biographien kommt nun, wie ich vom
Verf. höre, noch eine dritte, eben von ihm auf-
gefundene, daher in der vorliegenden Abhand-
lung noch nicht benutzte, eine vita Jacobi Wim-
phelingi hinzu, auf die wir, selbst wenn auch sie,
der vEigenthümlichkeit der genannten entspre-
chend, mehr ein Panegyrikus, als eine eingehende
Lebensschilderung sein sollte, als auf ein zeit-
genössisches Lebensbild eines dem Rhenanus auch
räumlich so nahe verbundenen Mannes sehr be-
gierig sein dürfen.
Das Hauptwerk des Rhenanus ist aber keine
der genannten Schriften, sondern sind seine Re-
rum germanicarum libri tres, ein eigenthümiiehes,
geschichtlich-geographisches Buch, deutsche Ge-
schichte des ersten Jahrtausends und hauptsäch-
lich der ersten fünf Jahrhunderte — und zwar
66
866 Gott, gel Anz. 1873. Stück 22.
diese mit besonderer Berücksichtigung der
fassungs- nnd Culturgeschichte, ausserdem Topo-
graphie Deutschlands, zumeist aus blossen Auf-
zählungen, seltener aus eingehenden, vortrefflich
geschriebenen Schilderungen bestehend, Allee un-
termischt mit mannigfachen Erkursen kritischen
Inhalts, ein Werk also, das der ganzen Bearbei-
tung nach nicht als ein Kunstwerk ersten Ban-
ges, aber als eine frisch und lebendig geschrie-
bene, durch wissenschaftliche Gründlichkeit, Ge-
diegenheit der Forschung und Klarheit der Auf-
fassung hervorragende und noch jetzt beachtens-
werte Arbeit betrachtet werden muss. Der vom
Verf. diesem Werke gewidmete ausführliche Ab-
schnitt (III, S. 5 — 41) ist mit vollster Beherr-
schung des Stoffes gearbeitet, nur dass vielleicht
der Leser etwAs mehr als billig genöthigt ist,
die Forscherarbeit selbst mitzumachen.
Zuerst gibt der Vir. kurz den Inhalt der drei
Bücher an, wobei er freilich zweimal Kritik mit
der Inhaltsangabe mischt (vergl. S. 9 und 12),
führt dann, nach Besprechung eines, wie mir
scheint, nicht recht an diese Stelle gehörigen
Briefes von Wilibald Pirkheimer, die benutzten
Quellen auf, die er nach verschiedenen Abthei-
lungen: alte, mittelalterliche, neuere Schriftstel-
ler, die 8. g. Panegyriker, Gesetze, Urkunden,
Inscriptionen sondert, mit grossem Fleisse alles
hierher Gehörige sammelt und, soweit mir auf-
gefallen ist, nur denPlautus (vgl. ed. 1610 p. 88)
auslässt; spricht über die Benutzung der Quel-
len , das Paraphrasiren der als glaubwürdig an-
genommenen, das critische Verhalten gegen die
bedenklich erscheinenden, in Bezug worauf na-
mentlich der Zurückweisung des falschen Bero-
8U3 und der Fabel, dass die Franken von den
Troern abstammten, gedacht wird; geht femer
Horawitz, D. Beatus Rhenanus lit. Thatigkeit. 867
ein auf die vielen von Rhenanus versuchten,
meist sehr eigenthümlichen Etymologieen und
weist, nach dem Vorgange Schöpflin's, einzelne
darin und auch sonst gemachte Fehler zurück;
und hebt endlich die Art der Darstellung, die
Berücksichtigung culturgeschichtlicher und ar-
chäologischer Beziehungen, die Vaterlandsliebe
und die trotz derselben andern Völkern gegen-
über bewährte Unparteilichkeit hervor.
Unter den Ausgaben des eben besprochenen
Werkes ist dem Verf. eine unbekannt geblieben
und gerade diese habe ich benutzt. Sie hat fol-
genden Titel, den ich angebe, ohne auf topogra-
phische Eigenthümlichkeiten Rücksicht zu neh-
men: Beati Rhenani Selestadiensis rerum Ger-
manicarum libri tres qui bus nunc diligenter re-
visis et emendatis praemissa est vita Beati Rhe-
nani a Joanne Sturmio eleganter conscripta. Ac-
cedit hac editione ejusdem Beati Rhenani et Jo-
doci Willichii in üb. Cornelii Taciti de moribus
Oermanorum commentaria, Bilibaldi Pirkheimeri
Descriptio Germaniae, Gerardi Noviomagi infe-
rioris Germaniae historia, Conradi Celtis, de situ
et moribus Germaniae ac Hercinia Silva additio-
nes. Argentorati 1610, 738 S. in 8.
Ausser dieser ihm unzugänglichen Ausgabe
stellt der Verf. (Ill, S. 51 fg.) eine ziemliche
Anzahl kleinerer Schriften zusammen, die er sich
nicht habe verschaffen können, unter denen ich
3 eigne, 4 Vorreden und Uebersetzungen, 6 Aus-
gaben fremder Schriften gezählt habe. Bei die-
ser Aufzählung hätte aber angeführt werden sol-
len, woher die Bekanntschaft des Verf. mit die-
sen Titeln stammt, nur von der einen Ueberse-
tzung aus Nazianz spricht Sturms vita Rhenani.
Sie stammt wahrscheinlich aus bibliographischen
Verzeichnissen; wie leicht aber diese irrthümli-
. 66*
868 Gott. geL Anz. 1873. Stack 22.
che Mittheilungen aufnehmen und zur Verbrei-
tung derselben beitragen, das weiss Jeder, der
nur einmal versucht hat, nach solchen Sammel-
werken das literarische Wirken eines Mannes zu
erkennen. Daher wäre es am Platze gewesen,
diese Mittheilungen genauer zu prüfen und durch
ein näheres Eingehen vielleicht den Ungrund man-
cher derselben zu erweisen.
Ausser diesen, dem Verf. wenigstens dem Ti-
tel nach bekannten, sind ihm zwei kleine Schrif-
ten, richtiger Ausgaben, des Rhenanus gänzlich
entgangen, die ich in der hiesigen königlich«
Bibliothek gefunden habe. Beide sind aus dem
J. 1509, das eine die Ausgabe eines Gedichtes
des schon oben genannten Faustus Andrelinus:
De virtutibus cum moralibus, tum intellectuali-
bus, das andre eine Ausgabe der epigrammata
et bymni Michaelis Tarchaniotae Marulli Con-
stantinopolitani. Bhenanus' Thätigkeit in beiden
Schriften beschränkt sich auf Auswahl und Zu*
sammenstelluDg des Stoffes, auf kurze Argumente,
mit denen er einzelne Stücke einleitet, und auf
"Widmungsschreiben, in denen der sittliche Ernst
und die strenge christliche Gesinnung des Schrei-
bers hervortritt. In dem des ersten Schriftchens,
eines nicht besonders hervorragenden Buches, das
er Jacobo Fullonio Bernensium Rhetori zuschreibt,
empfiehlt er dasselbe als ein solches, das geeig-
net sei , den Menschen von seiner Neigung zur
Sinnlichkeit ab- und der Tugend zuzuführen; in
den — Anfang und Ende des zweiten Schrift-
chens ausmachenden — Schreiben an Sapidus
und einer Paraenesis ad lectorem wird eine Kri-
tik gegen die Gedichte des Marullus, eines sonst
nicht sehr bekannten, aber wie aus dieser Samm-
lung hervorgeht, poetisch begabten und die Zeit-
verhältnisse und die Zeitgenossen in seine Werke
Horawitz, D. Beatus Rhenanus lit. Thätigkeit. 869
hineinziehenden Dichters giebt, die darin gipfelt,
da86 der Dichter ins Alterthnm versenkt sei,
dass er providentiam dei in has inferiores res
abnuere yideatur, und viel Schöneres hätte lei-
sten können, wenn er Christus hätte feiern wollen«
In der Ausdrucksweise und in einzelnen Be-
hauptungen sind manche Kleinigkeiten zu be-
mängeln, doch würde es zu weit führen, sie alle
hier aufzuführen. Daher schliesse ich mit dem
Wunsche, dass der Verf. seinem schönen Vor-
satz, die Geschichte der Historiographie des 16.
Jahrh. zunächst durch einzelne Beiträge zu be-
reichern, treubleiben, und durch gediegene Ein-
zelleistungen, deren der Gegenstand noch sehr
viele zulässt, eine Gesammtdarstellung des gan-
zen noch so wenig durchforschten Gebietes vor-
bereite und ermögliche.
Berlin. Ludwig Geiger.
De Infiniüvi linguarum Sanscritae Bactricae
Persicae Graecae Oscae Umbricae Latinae Goti-
cae Forma et Usu. Sscripsit Eugenius Wil-
helm us, Phil. Doctor, Gymnasii Praeceptor or-
din. Isenaci, sumptibus J. Bacmeisteri. (1873).
gross 8vo.
Es ist für den Ref. stets eine Freude, wenn
er eine tüchtige wissenschaftliche Arbeit aus dem
Kreise von Schulmännern hervortreten sieht. Er
weiss aus eigener Erfahrung — er war selbst
eine, wenn auch nur kurze, Zeit in einer derar-
tigen Stellung — wie sehr die praktische Thä-
tigkeit, insbesondre daa Bedürfniss nur positives
870 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 22.
zu lehren, selbst unbewusst dabin wirken kann,
auch minder positivem den Schein von unzwei-
felhaftem zu geben und dadurch die Hauptgrand-
lage aller Wissenschaft, das critische Gewissen,
in dem Lehrer nach und nach abzustumpfen;
ist das aber geschehen, so wird seine Autorität
auch auf begabte Schüler, und auf diese vielleicht
am meisten, nach dieser Richtung hin nachthei-
lig, allen wissenschaftlichen Sinn ertödtend wir-
ken und dem Streben nach prüfungsloser Viel-
wisserei statt Kräftigung des Urtheils Vorschuß
leisten. Gegen diese sich leicht einschleichende
Abstumpfung kann einzig wissenschaftliche For-
schung ein kräftiges Gegengewicht bilden und,
wenn auch nur ab und zu und in geringem Um-
fang geübt, wird sie dennoch nicht verfehlen, den
wahrhaft wissenschaftlichen Sinn jedesmal wieder
aufzufrischen, zu stärken und so kräftig zu er-
halten, dass er den Kampf mit der sich nur zu
leicht einschleichenden Routine siegreich zu be-
stehen vermag.
Schon darum und, natürlich eben so sehr,
wegen des wissenschaftlichen Werthes derselben,
haben wir die frühere Arbeit des Herrn Vfs. in
diesen Anzeigen (1869 S. 1440) mit grosser Theil-
nahme begrüsst und mit derselben Theilnahme
und Anerkennung begrüssen wir auch die vorlie-
gende, welche theils eine gewissermassen verbes-
serte Ausgabe, theils eine Fortsetzung der vori-
gen bildet. Es ist nämlich zu dem früher behan-
delten Theile: de Infinitivi forma, welche in der
vorliegenden Arbeit das lste Gapitel und im Ver-
ein mit der Einleitung S. 1 — 24 füllt, ein 2tes
Capitel gefügt: De Infinitivi usu, welches S. 25
bis zu Ende (S. 96) umfasst und den Versuch
bildet den Gebrauch des Infinitivs in allen auf
Wilhelm, De Infinitivi linguar. Sanscritae. 871
dem Titel genannten Sprachen vergleichend zu
verfolgen und so die Behandlung eines der wich-
tigsten und lehrreichsten Capitel der Vergleichen-
den Syntax im Indogermanischen Sprachstamm
anzubahnen. Denn wegen des innigen und hier
verhältnissmässig sehr klar hervortretenden Zu-
sammenhangs zwischen den Formen und dem
Gebrauch dieser grammatischen Categoric lässt
sich deren Entwickelung und Geschichte mit grö-
sserer Sicherheit als die irgend einer andern bloss
legen und es4 gereicht dem Ref. zu besonderer
Befriedigung anerkennen zu dürfen, dass von dem
Vf. eine recht brauchbare Grundlage dafür ge-
liefert ist. Er zeigt sich als tüchtigen Kenner
der verglichenen Sprachen, weiss mit Besonnen-
heit das Sichere, mehr oder minder wahrschein-
liche von dem Unsichern, mehr oder minder un-
wahrscheinlichen zu unterscheiden und das in
Folge davon methodisch ausgewählte Material
mit Geschick zu bearbeiten und klar darzustel-
len. Ref. kann auch nicht unbemerkt lassen,
dass die Latinität der Darstellung einen sehr an-
genehmen Eindruck auf ihn gemacht hat und um so
anerkennenswerter ist, als die Kunst des Latein-
schreibens selbst da, wo sie wenigstens als Zierde
mit grösserer Sorgsamkeit gepflegt werden sollte,
immer mehr verschwindet und man nur noch
selten einem so ungezierten, einfachen, verständ-
lich und gut hinfliessenden lateinischen Stil be-
gegnet, wie in der anzuzeigenden Schrift.
Auf einzelnes einzugehen, muss sich Ref. ver-
sagen. Es versteht sich von selbst, dass der
reiche und umfassende Gegenstand sich nicht auf
96 Seiten erschöpfen lässt und zu manchen Zu-
sätzen Gelegenheit giebt. Nur beiläufig bemerkt
Ref. zu S. 95, dass die in denVeden so oft er-
872 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 22.
scheinende Stellung des Objects des Infinitivs in
denselben Casus, in welchem der Infinitiv selbst
erscheint, welche er in der »Vollständigen San-
skrit-Grammatikc S. 432 (1852) mit der Con-
struction des Participii Futuri Passivi verglichen
hat (vgl. z. B. Rv. X. 105, 7 eäjram yd$ cakrd
suhändya ddsyave, wörtlich qui fecit fulmen oo
cidendo Daemoni, oder ad occidendum Daemo-
nem), am besten als Gerundiv-Construction be-
zeichnet wird ; der Name Attraction, welcher ge-
wöhnlich gebraucht wird, ist auf jeden Fall sehr
unpassend. Auch ist diese Construction nicht
auf den Dativ als Infinitiv beschränkt, wie S. 9f
angegeben wird, sondern erscheint auch bei den
Genetiv als Infinitiv, z. B. Rv. VII. 4. 6. t$£ H
. . . amritasya bhÜrer Ige räyäh stwiriasya däto\
wörtlich Dominus enim est copiosae ambrosiia
(dandae), dominus divitiarum posteritatisque dan-
darum. Eben so Taittir. Sanh. II. 1. 2. 6 yrf
igvarö väcö vddiloh son eScam nd eädet, wirt-
lich »Qui sermonis pronunciandi potens senno-
niam non pronuntiat«.
Schliesslich kann Ref. nur wünschen, dass
der Vf. uns bald mit einer neuen Frucht seiner
sprachvergleichenden Beschäftigung beschenken
möge. Th. Benfej.
Michelis, D.häretCharakt.d.Infaffibffitätsl. 873
Michelis, Dr. Fr., ord. Prof. der Phil, am
Lyceum Hosianum zu Braunsberg : Der häretische
Charakter der Infallibilitätslehre. Eine katholi-
sche Antwort auf die römische Excommunication.
Hannover, Carl Meyer, 1872. 80 8. gr. 8.
Das Interesse, welches wir von unserm evan-
gelischen Standpunkte aus an der vorliegenden
Schrift nehmen, beruht nicht darauf, dass uns
erst der in ihr versuchte Nachweis von der völ-
ligen Unhaltbarkeit des vaticanischen Dogma's
vom J. 1870 geführt zu werden brauchte. Diese
stand uns fest, noch ehe das Dogma durch Ma-
ioritätsbeschluss bestätigt und durch das päpst-
iche Decret vom 18. Juli als die allein zu glau-
bende Wahrheit der erstaunten Christenheit an-
befohlen worden war, und zwar stand uns diese
Unhaltbarkeit von vorn herein fest, weil in un-
serm ganzen Denken die Voraussetzungen fehlen,
auf denen diese Lehre vom unfehlbaren Papst
überhaupt erwachsen könnte. Wir können in
dieser Hinsicht nur sagen, dass wir, schon als
wir nur von der Möglichkeit eines Beschlusses,
wie des vaticanischen, hörten, das Gefühl eines
unsäglich widerwärtigen Anachronismus gehabt
haben. Aber was uns des Verf. Auseinanderse-
tzungen gleichwohl interessant macht, das ist zu-
nächst der allgemeine culturhistorische Gesichts-
punkt, aus welchem wir uns längst gewöhnt ha«
ben, alle diese Vorgänge zu betrachten, und der
Umstand, dass sie uns zeigen, wie man denn
überhaupt in den Kreisen zu denken und zu phi-
losophiren gewohnt ist, die in der Lage sind,
noch eine andre, als einfach ablehnende Stellung
zu diesen neuesten Vorgängen innerhalb der sg.
katholischen Kirche zu nehmen. Dann aber kom-
874 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 22.
men für uns auch politische und kirchenpoliti-
sche Interessen in Frage, und wer möchte sich
denn noch verhehlen, class auch unsre nationale
Zukunft bei diesen Kämpfen innerhalb der ka-
tholischen Kirche mit engagirt ist, dass da Vie-
les von dem Masse der Klarheit abhängt, mit
welcher die Partei, zu deren Verfechtern der V£
gehört, ihre Sache zu fähren im Stande ist? Ob
der Altkatholicismus eine Zukunft haben und
desshalb eine Bedeutung für unser gesammtes
nationales Leben gewinnen, namentlich ob es
durch ihn möglich werden wird, auch die katho-
lische Kirche Deutschlands auf eigene Füsse zu
stellen und so den Theil der Fremdherrschaft zu
beseitigen, der hier noch immer auf weiten Stre-
cken Deutschlands lastet, das ist ja in der That
doch eine der grossen Fragen der Zeit, und da
nimmt man denn Bücher, wie das vorliegende,
mit besonderem Antheil in die Hand, auch wenn
man nicht hofft, durch dieselben in christlicher
Erkenntniss noch gefördert werden zu können.
Und anerkannt muss nun von der vorliegen-
den Schrift auch werden, dass sie wirklich eine
sehr erfreuliche Erscheinung uns darbietet und
uns zeigt, wie Arbeiten und Untersuchungen un-
serer heutigen wissenschaftlichen Theologie auch
in den Kreisen nicht wirkungslos geblieben sind,
denen der Verf. angehört. Sind es, wie nicht
anders zu erwarten, auch immer noch die Vor-
aussetzungen der katholischen Kirche, von denen
der Verf. ausgeht, so dass denn freilich der evan-
gelische Theologe doch immer eine ganze An-
zahl von Fragezeichen neben des Verf. Ausfüh-
rungen zu setzen sich veranlasst sehen wird, so
kann doch auch auf der anderen Seite nicht ent-
gehen, dass wir es hier mit einer Geistesart zu
Michelis, D. häret. Charakt. d. InfallibilitätsL 875
thuii haben, welche yon dem »Katholicismus« der
leider bereits landläufig gewordenen Art sich we-
sentlich unterscheidet und zwar durch eine ganz
respectable Wissenschaftlichkeit und noch respec-
tablere Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Das tritt
schon in dem Abschnitte hervor (S. 8 ff.) , in
welchem versucht wird, »die Sophistik der Infal-
libili tätsieh r e « in's Licht zu setzen. Hier ver-
lässt der Verf. freilich den Boden der gemeinen
katholischen Anschauung am allerwenigsten, viel-
mehr sucht er von diesem aus seine Gegner in
ihrem ganzen Unrechte darzustellen, aber eben
die Art, wie er diess thut, zeugt nicht bloss von
guter philosophischer Schulung, sondern auch von
einer Unbefangenheit, wie sie gerade den Sophi-
stereien des Jesuitismus gegenüber so schwer
sich bewahrt, sobald man gewisse Voraussetzun-
gen mit ihnen theilt. In ganz trefflicher Weise
versteht es der Verf., die argen Begriffsvertau-
schungen aufzudecken , auf denen die Infallibili-
tatslehre beruht, und namentlich auch die Aus-
reden in ihrem wahren Werthe zu zeigen, mit
denen die deutschen Bischöfe ihre Unterwerfung
unter das vaticanische Dogma zu beschönigen
gesucht haben. Dass die Bischöfe in ihren Aus-
lassungen zu Gunsten des Dogma's »ihre Stel-
lung zur Wissenschaft in einer mitleiderregenden
Weise kundgegeben haben«, wird eben so schla-
gend gezeigt, wie es gut beleuchtet wird, was
das heisst, dass von ihnen und speciellvon dem
Erzbischofe Melcbers von Cöln »die Infallibilitäts-
definition als der Triumph des Autoritätsprindps
gefeiert wird, der dazu angethan sei, den Hocn-
muth der Vernunft zu brechen«. Und nicht min-
der klar stellt der Verf. in's Licht, dass man
>den Papst, weil er die höchste jurißdictionelle
876 Gott, gel Anz. 1873. Stück 22.
Instanz in der Kirche sei, doch noch nicht mit
dem Wesen und inneren Begriff der Kirche selbst
identificiren« dürfe, dass überhaupt »die Verfas-
sung der Kirche wohl Etwas sei, ohne welches
die wahre Kirche auf Erden nicht sein könne,
dass sie aber nicht Das sei, wodurch die Kir-
che auf Erden sei«, dass sie nicht als »das We*
sen, als der innere Lebensquell der Kirche« be-
trachtet werden dürfe. Würde der evangelische
Christ auch noch in ganz anderer Weise die Un-
haltbarkeit der Infallibilitätslehre und die dersel-
ben zu Grunde liegenden Erschleichungen nach-
zuweisen suchen, als es hier geschieht, und würde
er auch selbst aus den von dem Verf. angerufe-
nen allgemeinen Sätzen noch viel weiter gehende
Folgerungen herleiten, als dem Verf. sein Stand-
punkt es erlaubt hat, das, was der Verf. hier
beibringt, zeigt zur Genüge, wie schlimm es mit
dem neuesten Dogma hinsichtlich seiner Gründe
bestellt ist und dass man auch auf dem Boden
der katholischen Kirche keineswegs bei ihm an-
zukommen braucht, sobald man nur, wie eben
der Verf., sich die Nüchternheit des Geistes und
einen relativ unbefangenen Sinn für Wahrheit
bewahrt hat.
Namentlich aber von Interesse ist fur uns der
3. Abschnitt der Schrift gewesen, welcher »die
Infallibilitätssophistik in ihren weltgeschichtli-
chen Gründen« darzustellen sucht, und hier be-
sonders tritt es hervor, dass die neueren ge-
schichtlichen Forschungen in Beziehung auf die
Entstehung des römischen Papstthums für den
Verf. keineswegs vergeblich gewesen sind. Nicht
zwar, dass er Allem zustimmte, was von prote-
stantischer Geschichtswissenschaft da nachgewie-
sen oder doch mit grosser Wahrscheinlichkeit
j
Michelis, D. häret. Charakt. d. Infallibilitatsl. 87?
behauptet worden ist. So »halt er fest, dass
schon Petrus nach Born gekommen sei« n. dgl.,
aber doch ist es erfreulich, wie auch er die Stel-
lung, die Rom in der Kirche zu erlangen ge-
wusst hat, aus ganz andern Gründen herzuleiten
weiss, als aus dem Vorzüge des Petrus, des »A-
postelfürsten«. Die weltgeschichtliche Stellung
Borns mit dem »mythisch-religiösen Schimmer«,
mit welchem sich die Stadt umgab und der »aus
dem Heidenthume in die christliche Zeit hinüber
genommen« worden ist, hat den Papst nicht we-
niger dazu verholfen, das Oberhaupt der christ-
lichen Kirche mit dem »aus dem heidnischen
Priesterthume Rom's herübergenommenen Titel
das ponifex maximus« zu werden, als verschiedene
andere geschichtliche Vorgänge, auf welche der
Verf. hindeutet, und selbst die »Philosophie« des
Areopagiten hat, wie sehr richtig hervorgehoben
wird, hier einen »direct realen Einfluss auf die
Ausbildung der päpstlichen Hierarchie« ausgeübt,
der ganz und gar nicht »unterschätzt« werden
darf. Aber so ist es denn ein sehr deutliches
Bewusstsein von der zeitgeschichtlichen und rein
menschlichen Grundlage der Papstherrschaft,
was bei dem Verf. unumwunden zu Tage tritt,
und mit aller Bestimmtheit hebt er es hervor,
dass es »Fälschungen sind, ohne welche das mit-
telalterliche Papstthum sich nie aufgebaut ha-
ben würde«, dass »die mittelalterliche Papstherr-
lichkeit mit geschichtlicher Lügenhaftigkeit und
Fälschung durchwachsen« ist: Behauptungen,
welche von protestantischer Seite längst nicht
mehr neu sind, die aber an Bedeutung gerade
in dem Munde eines Mannes gewinnen, der sonst
an den Voraussetzungen der katholischen Kirche
festhalten will und keineswegs gesonnen ist, den
€78 Gott, gel Anz. 1873. Stack 22.
Primat des Papstes in dem von der Kirche bis-
her behaupteten Sinne zu bestreiten. In der
That, gerade dieser Abschnitt — und zum Theil
auch der vierte« in welchem »der dämonische
Hintergrund der Infallibilitätssophistik« hervor-
gehoben wird — erscheint uns als der bedeu-
tungsvollste in dieser Schrift, und der uns vor
allen Dingen die Hoffnung geben möchte, es
werde der »altkatholischen c Bewegung gelingen,
den mythischen Nebel zu zerstreuen, der sich um
das Papstthum gebreitet hat und der ihm noch
immer eine so grosse Macht giebt, weil derselbe
denn freilich auch noch immer im Stande ist,
die Gemüther der Menge zu umnebeln und mit
der »romanhaften Unwahrheit« zu umstricken,
in welche sich nach dem Verf. »das Papstthum
immer mehr hineingelebt hat«.
Nur freilich ob der Standpunkt des Verf.
nicht doch auch noch der Weiterfuhrung und
einer völligen Abklärung bedarf, wenn die Frucht
der Kämpfe, in denen er steht, eine dauernd be-
friedigende und erfreuliche sein soll, das ist eine
Frage, die wir denn doch Bedenken tragen, so
geradezu zu verneinen. Manches von dem papi-
stischen Sauerteige klebt doch auch ihm noch
in bedenklicher Weise an und möchte man wün-
schen, dass das auch noch hinweggethan würde.
Aufrichtig: in die Idee des Primats, wie er sie
beibehalten wissen will, können wir uns nicht
finden und sehen auch kein Heil in ihr. Wie
der Verf. dazu kommt, an ihr festzuhalten, ver-
stehen wir allerdings wohl, aber wie sie prak-
tisch gemacht werden sollte, ohne dass aus ihr
sich doch wieder die alten Sehäden entwickelten,
das bekennen wir nicht einzusehen. Nach un-
trer Ueberzeugung ist die Zeit eines Primats in
Michelis, D. häret. Charakt. d.Infallibilitatsl. 879
der Kirche Jesu Christi zu Ende, und Nichts
hat ans in dieser Ueberzeugung mehr bestärkt,
als der Umstand, class, wie der Verf. so trefflich
gezeigt hat, gerade der Primat des Papstes den
höchsten Gipfel seiner Herrlichkeit nicht hat be«
schreiten können, ohne sich der widerwärtigsteh
Sophistik in die Arme zn werfen und ohne von
der ursprünglichen Idee der christlichen Kirche
ein reines Zerrbild zu liefern. Recht hat der
Verf., wenn er diese Sophistik nachweist und
das Zerrbild in das rechte Licht stellt, aber hat
er auch Recht, wenn er meint, diese geschicht-
liche Entwicklung hätte sich vermeiden lassen
und es wäre diess infallibilistische Papstthum
nicht doch die Gonsequenz des ursprünglich zu
Grunde liegenden, nach unsrer Ueberzeugung
von Anfang an falschen Gedankens ? Das N. T.
kennt einen Primat, auch bloss auf die Juris-
diction beschränkt, so wenig, dass z. B. Gal. 2,
9 sich die Keime von zwei selbständig neben
einander bestehender Nationalkirchen zeigen,
ohne dass die höhere kirchliche Einheit, die Ge-
meinschaft der Liebe, dadurch zerrissen worden
wäre. Und dann . . . der Verf. schildert uns das
Klägliche des in der katholischen Scholastik noch
immer herrschenden Aristotelismus« mit recht
lebhaften Farben , und dass er Ursache hat mit
den Klagen, die er da erhebt, wird nicht leicht
ein Kundiger leugnen wollen. Aber ob es nun
helfen wird, sich über Aristoteles zu Piaton hin-
fuhren zn lassen, der, wie der Verf. sagt, »zu
jenem wie die innere organisch arbeitende Kraft
zu der erstarrten organischen Form des Denkens
sich verhält?« und ob mit der Wiedereinführung
Plato's in's kirchliche Bewusstsein« wirklich die
Wiedererweckung des lebendigen wissenschaftli-
880 Gott, gel Adz. 1873. Stack 22.
eben Entwicklungsprincips der Kirche« wurde
gewonnen, werden , »welches mit dem Siege des
(arabischen) Aristotelismus sistirt worden ist?c
Ref. erinnert sich freilich sehr wohl, class audi
zur Zeit der Reformation im 16. Jahrh. die wie-
dererweckten platonischen Studien nicht ohne Be-
deutung für Befreiung des Bewusstseins von den
starren Formen der Scholastik gewesen sind, al-
lein ob dieselben jetzt noch die gleiche Bedeu-
tung haben würden, ist eine andere Frage, und
wirklich kann auch kein Christ zweifelhaft sein,
dass das Heil auch hier nicht von Piaton kom-
men kann, sondern Ton Einem, von dem der
Verf. denn freilich auch zu sagen weiss, dass
»die Katholiken zu der gründlichen Einsicht
kommen müssen , dass sie auf die menschliche
Vertretung in der Kirche etwas weniger und auf
Christus selbst etwas mehr Gewicht legen müs-
sen, als bisher !c Nicht bloss etwas mehr, son-
dern alles Gewicht! und hoffentlich wird sich der
Verf. und seine Partei noch vollends zu der Er-
kenntniss hindurch arbeiten, dass die Unfehlbar-
keit überhaupt nicht in der Kirche, sei es mit
oder ohne Papst, sondern in Christus ist, dann
aber ist an ihrem scbliesslichen Siege nicht zu
zweifeln. Hoc signo yincesl
F. Brandes.
881
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 23. 4. Juni 1873
Die künstlich dargestellten Mineralien nach
Gustav Rose's krystallochemischem Mineralsystem
geordnet von Dr. C. W. C. Fuchs, Professor
in Heidelberg. (Naturkundige Verhandelingen
3d6 Verz. Deel I). Harlem. De erveu Loosjes
1872. 4°. 174 Seiten. (Eine von der hollän-
dischen Gesellschaft der Wissenschaften in Har-
lem am 20. Mai 1871 gekrönte Preisschrift).
Schon wiederholt hat die holländische Ge-
sellschaft der Wissenschaften in Harlem durch
ihre Preisfragen die mineralogischen Wissen-
schaften sehr bedeutend gefördert, indem sie
wichtige Fragen besonders hervorhob und die
sämmtlichen Forscher zur Beantwortung dersel-
ben ausdrücklich einlud. Eine Förderung der
Wissenschaft ist jedenfalls auch die vorliegende
von Prof. Fuchs unternommene Lösung der Preis-
aufgabe: »Die Gesellschaft verlangt eine genaue
Beschreibung der physikalisch-chemischen Pro-
zesse, wodurch man zufällig oder absichtlich
chemische Verbindungen erhalten hat, welche in
ihren chemischen und physikalischen Eigenschaf-
67
682 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
ten mit den natürlichen Mineralien überein-
stimmen.
Die Darstellung nener künstlicher Mineralien
wird nicht gefordert, wohl aber eine kritische
Beurtheilung der früher erhaltenen Produkte
und eine genaue Angabe der Werke und Ab-
handlungen, worin die Darstellung derselben be-
schrieben ist. Die Anordnung muss sich einem
der meist gebräuchlichen Mineralsysteme an-
schliessend
Denn werden uns, wie das ja von der Auf-
gabe gar nicht verlangt wird, auch keine neuen
Mineralien in künstlicher Darstellung vorgefahrt,
werden auch keine neuen Methoden zur Darstel-
lung von Mineralien auf künstlichem Wege an-
gegeben, so ist es doch dem Forscher von
grossem Werth und es erleichtert manche Ar-
beit, das über diesen wichtigen Gegenstand Be-
kannte kurz und übersichtlich zusammengestellt
zu sehen. Nur zu sehr ist ja Alles, was bisher
über die Erzeugung künstlicher Mineralien publi-
cirt wurde, in der ganzen Literatur, in einer
Menge von Büchern und Zeitschriften zerstreut
Um sich davon eine Vorstellung zu machen,
darf man nur das vom Verfasser pag. 10 und
11 gegebene Verzeichniss der von ihm benutz-
ten Litteratur vergleichen« (Dabei ist jedoch
ein Versehen zu corrigiren: Es sind nämlich
neben der »Zeitschrift der Deutschen geologi-
schen Gesellschaft«, auch noch »Berichte der
deutschen geologischen Gesellschaft«, angeführt,
welche Berichte nicht existiren, auch nie ezi-
stirt haben).
Schon früher hat man zwar Versuche ge-
macht, das über den vorliegenden Gegenstand
Bekannte zu sammeln, man hat sich aber bei-
nahe blos darauf beschränkt! die in der Hitze
Fuchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 883
erzengten künstlichen Mineralien zu betrachten,
die auf wässrigem Wege erzeugten wurden ziem-
lich vernachlässigt. Eine Zusammenstellung der
Art machte E. C. v. Leonhard in seiner Schrift:
Hüttenerzeugnisse und andere auf künstlichem
Wege gebildeten Mineralien, als Stützpunkt geo-
logischer Hypothesen. Stuttg. 1858, um von
dieser Seite aus die plutonistischen Ansichten zu
stützen, nachdem schon 1857 Ourlt eine »Ueber-
sicht der pvrogeneten künstlichen Mineralien,
namentlich der krystallisirten Hüttenerzeugnisse
gegeben hatte. Seitdem hat sich Niemand mehr
die Mühe genommen die neuen Resultate zu
sammeln. Man hat mit grossem Fleiss That-
sachen auf Thatsachen gehäuft, aber alle diese
Thatsachen sind so zerstreut mitgetheilt, dass
eine Uebersicht über den Stand der Sache blos
dem möglich war, der gerade diesen Zweig der
Wissenschaft mit besonderem Eifer verfolgt hatte.
Nach einer kurzen allgemeinen Einleitung
über die Entwicklung der Mineralogie kommt
der Verfasser auf den hohen Werth der Ver-
suche zu sprechen, die in der Natur vorkom-
menden sogenannten Mineralkörper auch künst-
lich darzustellen, und hebt die Wichtigkeit
derselben für eine gesunde Entwicklung der
geogenetischen Ideen hervor mit der Bemerkung,
dass man aus der geologischen Forschung allein
ebensowenig die Oeogenie begründen könne, als
die Physiologie allein aus der Anatomie. Dies
ist sicher ganz richtig, aber es bleibt die geo-
logische Beobachtung doch immer die Haupt-
sache bei der Aufstellung einer geogenetischen
Theorie, die dann durch diese künstliche Dar-
stellung der Mineralien noch weiter gestützt, be«
ziehungsweise modificirt werden Kann. Der
^Verfasser hebt selbst ganz richtig hervor, dass
V
884 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
ein- und dasselbe Mineral auf rerschiedene Art
und Weise entstehen, kann, dass man also ein
Mineral sehr wohl künstlich auf einem gewissen
Wege darstellen kann, ohne dass darum die
Natur denselben Weg gegangen zu sein braucht,
und dass es deshalb unmöglich ist. aus dem
Erfolg oder Nichterfolg eines Versuchs eine hy-
pothetisch aufgestellte Erklärung der Entstehung
eines krystallisirten Minerals zu bestätigen oder
zu widerlegen. Stimmt die aus den chemischen
Versuchen geschlossene Erklärung einer Thal-
sache mit der aus der geologischen Beobachtung
geschlossenen Erklärung überein, so ist dadurch
diese Erklärung um so wahrscheinlicher gewor-
den. Führt aber der Versuch scheinbar so
einem anderen Resultat, als die geologische Be-
obachtung, so ist der Versuch abzuändern und
zu wiederholen, denn in den seltensten Fällen
ist die Chemie im Stande, die Unmöglichkeit
eines aus geologischen Thatsachen geschlossenen
Prozesses für den speziellen Fall nachzuweisen,
während umgekehrt die geologische Beobachtung
häufig eine ganze Anzahl zwar im Allgemeinen
chemisch möglicher chemischer Prozesse als fur
den speziellen Fall unmöglich ausschliesst.
Deshalb sind auch die Versuche derjenigen
Chemiker fur geologische Zwecke am brauch-
barsten, welche sich bei der Erzeugung von
künstlichen Mineralien an die Vorgänge in der
Natur gehalten haben, was freilich zuweilen Mos
bis zu einem geringen Grade gelang. Solche
Forscher sind z. B. Durocher, welcher Gas-
ströme über Metallchlorüre bei höherer Tempe-
ratur leitete, und dadurch gewisse Mineralien
herstellte ; Daubree zersetzte Metallchloriddämpfe
durch Wasserdampf; ähnliche Versuche mach-
Fuchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 886
ten Troo8t und Deville; Becquerel benützte den
Einfluss elektrischer Ströme u. 8. w.
Neben dem Interesse für die Frage nach der
Entstehung der Mineralien in der Natur sucht
nun der Verf. der vorliegenden Frage noch ein
weiteres Interesse abzugewinnnen, das unabhän-
gig von der Art der Entstehung in der Natur
ist. Es ist dies die Entscheidung der Frage,
auf wie viele und zwar auf welche Arten eine
Substanz überhaupt entstehen und besonders
auf welche verschiedene Arten sie krystallisiren
kann. Diese Frage ist sicher sehr interessant,
nur beschränkt sie sich nicht auf die hier ein-
zig in Betracht kommenden Mineralien, sondern
sie drängt sich auch bei allen nur künstlich
bekannten Substanzen auf. Von besonderem
Interesse ist aber die Beantwortung obiger
Frage gerade wieder bei den Mineralien, denn
wenn man einmal dahin gelangt sein wird, sa-
gen zu können, diese oder jede Substanz kann
auf so und so vielen bestimmten Wegen und
unmöglich auf einem andern Weg entstehen und
krystallisiren, dann wird man durch die geo-
logische Untersuchung für jedes einzelne Vor-
kommen den in den Experimenten analogen Fall
mit grosser Wahrscheinlichkeit auffinden können.
Dann wird auch erst die Zeit sein, sich mit vie-
len geogenetischen Fragen zu beschäftigen, die
bis dahin noch besser unberührt bleiben; dann
wird auch, aber erst dann, die Chemie in der
Beantwortung solcher geogenetischer Fragen, auf
der gleichen Höhe mit der geologischen Beob-
achtung stehen, während sie vorher eine doch
mehr untergeordnete Bedeutung hat. Es ist
deshalb auch allerdings für den Mineralogen
und Geologen von Werth , dass möglichst -viele
Methoden der Erzeugung eines und desselben
886 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
Minerals gefunden werden, nm, wie sich dor
Verfasser ausdrückt, die Grenzen der Krystalli-
sationsfahigkeit für jede Substanz zu bestimmen,
besser, wenigstens vom geogenetischen Stand-
punkt aus, würde die Frage allgemeiner nach
den Grenzen der Möglichkeit der Entstehung
(nicht blos des Krystallisirens) gestellt werden.
Nach diesen allgemeinen Erwägungen Bind es
besonders 2 Aufgaben, welche, nach des Verfas-
sers Ansicht, die künstliche Mineralbildung zu
lösen hat:
1) Möglichst viele Methoden aufzufinden, um
den Molekilen einer Substanz die Möglichkeit
zu verschaffen und ihnen hinreichend Zeit zu
lassen, sieb zu Krystallen zu gruppiren. Wenn
möglich sollen dabei die Grenzen der KrystaUi-
sationsfähigkeit für jede Substanz bestimmt wer-
den. Diese Aufgabe ist rein chemischer Natur.
2) Den Nachweis zu liefern, ob und welche
der dabei angewandten Bedingungen in der Na-
tur vorbanden wäre; also Identifizirung der
Entstehungsweise einzelner Mineralvorkommen
mit den Experimenten. Diese Aufgabe (also die
Frage nach der Entstehung der Mineralien in
der Natur) kann nur mit Hülfe geognostischer
Untersuchungen gelöst werden.
Es folgt nun eine ausführliche, sehr über-
sichtliche Zusammenstellung der wichtigsten Me-
thoden, welche bis jetzt zur Darstellung krystal-
lisirter Mineralien benutzt wurden:
I. Molekulare Umlagerung.
a) freiwillige: (Silber, Quarz, Schwefel, ar-
senige Säure).
b) in hoher Temperatur: (Quarz zu Tridy-
mit etc.).
c) in Flüssigkeiten: (amorpher CaCO» wird
unter Wasser zu Kalkspath tu s w.).
Fachs, D. künstlich dargestelltes Mineralien. 887
d) in Gasströmen (CaWCU im HCl-Strom
wird Scheelit).
II. Sublimation :
a) bei Luftabschluss : (Arsen, Bleiglanz,
Blende etc.).
b) in Gasen, die chemisch nicht wirken:
(GdS im Hstrom wird Greenokit, ZnS
wird Würtzit).
IIL Zersetzung von Dämpfen in hoher Tem-
peratur.
a) Chloride und Schwefelwasserstoff: (Kupfer-
glanz, Rothgültigerz etc.).
b) Chloride und Wasserdampf: Eisenglanz,
Quarz, Zinnstein, Korund etc.).
c) Fluoride und Wasserdampf: (TiFU und
H20 giebt Rutil).
d) Fluoride und Borsäureanhydrid: (Zirkon,
Gahnit, Staurolith, Korund).
IV. Einwirkung von Gasen und Dämpfen auf
stark erhitzte feste Körper:
(Willemit, viele Silikate, Quarz etc.).
V. Schmelzung:
a) Krystallisation aus homogenen geschmol-
zenen Massen: Metalle, Olivin, Augit,
Antimonglanz).
b) Krystallisation in Drusen nach Ausguss
des flüssigen Rests: Wismuth, Schwefel,
Wismuthglanz).
c) Krystallisation durch Zusammenschmelzen :
(Augit, Humboldilith , Apatit, Feld-
spath etc.).
d) Schmelzung mit Schlackenmassen, die
allzuschnelles Erstarren hindern: (z. B.
Borazit durch Zusammenschmelzen der
Bestandteile mit Ueberschuss von MgCls
und NaCl etc.).
e) Krystallisation durch Ausscheidung beim
888 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 23.
Erstarren ans solchen Körpern, die im
geschmolzenen Zustand als Lösungsmittel
dienen: (Borax und Borsäure, um Spi-
nelle etc. darzustellen, Phosphorsalz um
Tridymit, Potasche um Olivin zu krystal-
lisiren etc.).
VI. Lösung in Flüssigkeiten.
a) Verflüchtigung des Lösungsmittels in
einer Temperatur bis zu 100°. S aus
CS2 etc.).
b) Verflüchtigung des Lösungsmittels in
Temperaturen über 100° (Spinell durch
Verdampfen von Borsäure etc.).
c) Uebersättigung in hoher Temperatur und
Ausscheiden beim Erkalten (Graphit in
Eisen etc.).
d) Lösung durch Gasgehalt und Ausschei-
dung durch Verlust der Gase (CaCOs in
CO2 haltigem Wasser).
e) Lösung bei hoher Temperatur und hohem
Druck (auch blos hoher Druck oder blos
hohe Temperatur).
f) Ausscheidungen aus Lösungen durch lang-
same Reduktion:
1) durch organische Stoffe (Reduktion
der Vitriole durch Holz etc.).
2) durch unorganische Stoffe (Bi aus
salpetersaurem Wismuth durch Zn etc.).
VII. Langsame Vereinigung verdünnter Lö-
sungen.
VIII. Durch Elektrolyse.
(Viele Metalle).
IX. Diffusion von Lösungen.
X. Vereinigung langsam auf einander wir-
kender Substanzen:
a) ohne höheren Druck und höhere Tem-
"Fuchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 889
peratur (Gyps und Wasserglas giebt Kalk-
spath und Quarz).
b) bei hohem Druck und hoher Tempera-
tur: (Arragonit, Malachit, Kupferlasur).
c) Einwirkung durch den galvanischen Strom
(Bleiganz, Vivianit, Quarz).
Bei manchen dieser Prozesse sind sehr com-
plizirte Vorrichtungen nöthig und es kommen
in natürlichem Zustand vollkommen unbekannte
Substanzen zur Einwirkung, so dass ein Theil die-
ser künstlichen Methoden zur Nachahmung der
Mineralien als in der Natur mit hoher Wahr-
scheinlichkeit nicht vor sich gehend, ja wohl als
in der Natur unmöglich bezeichnet werden muss.
Bei manchen solchen Prozessen wird wohl Jeder-
mann über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
des Vorsichgehens in der Natur einig sein, bei
andern wird die Entscheidung, ob in der Natur
möglich oder nicht, zur Zeit noch verschieden aus-
fallen, je nach dem mehr plutonistischen oder nep-
tuni8 tischen Standpunkt, den der betreffende For-
scher einnimmt. Der Verfasser hat sich aller
Bemerkungen hierüber enthalten, giebt aber eine
Zusammenstellung der in der Natur wirklich
beobachteten Arten der Mineralentstehung:
I. Molekulare Umwandlung.
IL Sublimation.
III. Zersetzung von Gasen (z. B. HiS und
SO» geben Schwefel).
IV. Zersetzung von Dämpfen bei hoher Tem-
peratur.
V. Schmelzung.
a) einfache Schmelzung.
b) Schmelzung mit Scblackenmassen.
VI. Lösung in Flüssigkeiten:
4) Verflüchtigung des Lösungsmittels unter
einer Temperatur von 100°.
68
V
890 Gott. gel. Ans. 1873. Stück 23.
b) Uebersättignng bei hoher Temperatur.
c) Lösung durch Gasgehalt.
d) Ausscheidung durch langsame Oxydation.
e) Lösung durch langsame Reduktion mit-
telst organischer oder unorganischer Stoffe.
VII. Langsame Verflüchtigung verdünnter Lö-
sungen.
VIII. Diffusion Ton Lösungen.
IX. Vereinigung langsam aufeinander wirken-
der Substanzen.
Der Verfasser geht nun zum speziellen Thal,
zur Aufzählung und Anordnung der künstlichen
Mineralien über, welcher zweite Theil den bei
weitem grösseren Theil des Buches einnimmt
Sehr zweckmässig wählt er bei der Anord-
nung das krystallochemische Mineralsystem tob
Gustav Kose, das unter den bekannten Mineral*
Systemen jedenfalls noch am ersten den Namen
eines natürlichen Systems verdient, da es die
Mineralsubstanzen nach ihren wesentlichsten
Kennzeichen, den chemischen und krystallogra-
phischen, aneinanderreiht. Der Verfasser giebt
bei jedem Mineral die von Kose gebrauchte For-
mel und darunter in Klammern die Formel nach
den neuen Atomgewichten und nach den neue-
ren chemischen Untersuchungen theilweise ab-
geändert. Leider hat der Verfasser nicht durch-
weg die durch die neusten Untersuchungen als
richtig erwiesenen Atomgewichte benutzt. So
nimmt er Beryllium nicht als zweiwerthiges Me-
tall, sondern er setzt es in die Aluminiumgruppe.
Es kommen dadurch einige Mineralien im System
an ganz falsche Plätze; so wird der Zusammen-
hang zwischen den Gliedern der isomorphen
Willemit-Gruppe ( Willemi t, Troostit, Dioptas
und Phenakit) zerrissen und der Phenakit zwi-
schen Zirkon und Beryll untergebracht. Ferner
Fuchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 891
ist es gewiss unrichtig, den Zirkon zu den Sili-
katen mit dreiatomigen Basen in die Nähe des
Staurolith, Disthen etc. zu stellen, statt als iso-
morphe Mischung von ZnO* und SiO* neben den
Zinnstein, mit dem er isomorph ist.
Bei den einzelnen Mineralien werden die
verschiedenen Darstellungsmethoden alle kurz
angeführt und erläutert, unter sorgfaltiger An-
gabe der Literatur für jeden einzelnen Fall, so
dass Jeder, der sich über irgend einen Gegen-
stand näher unterrichten will, sofort weiss, wo
er die Originalarbeit zu suchen hat. Gelegent-
lich sind auch Bemerkungen zugefügt, welche
▼on den künstlichen Prozessen die Natur wohl
vorgenommen hat, um die betreffende Mineral-
substanz herzustellen.
In das System sind eine ganze Reihe von
Mineralien, die bei der Aufstellung des krystallo-
chemischen Mineralsystems noch nicht bekannt
waren, an passender Stelle mit aufgenommen.
Da es gewiss Manchem, dem das Buch selbst
nicht zugänglich ist, angenehm sein wird, eine
Uebersicht über die bis jetzt künstlich darge-
stellten Mineralien zu haben, so folgt hier das
yerzeichniss derselben nach der Tabelle von Fuchs
pg. 171 ; welche am besten einen Ueberblick über
den gegenwärtigen Stand der Sache giebt:
I. Einfache Körper.
1) Reguläre Metalle.
Kupfer, Silber, Gold, Eisen, Platin, Amal-
gam, Blei.
2) Quadratische Metalle.
Zinn.
3) Rhomboedri8che Metalle.
Arsen, Wismutb, Antimon, Tellur.
4J Diamant
5) Graphit.
68*
892 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 23.
6) Schwefel.
7) Seien.
II. Antimon-, Arsen-, Tellur-, Selen-
und Schwefelverbindungen.
A) Binäre Verbindungen.
a) Verbindungen R*Ai.
Nickelspeise.
b) Verbindungen RA.
Kupfernickel, Antimonnickel, Arsensilber,
Antimonsilber , Haarkies , Silberglanx,
Bleiglanz, Manganglanz, Selenblei, Selen-
kupfer, Selenkupferblei, Tellurblei, Kupfer-
glanz, Greenokit, Blende, Wützit, Zinnober,
Selenquecksilber, Realgar.
c) Verbindungen RsAs.
Antimonglanz, Antimonblende, Wismutt
glanz, Auripigment.
d) Verbindungen RA».
Speisskobalt , Eisenkies, Hauerit, Mar-
kasit, Arsenkies, Molybdänglanz, Schrift-
erz, Kupferindig.
B) Doppeltbinäre Verbindungen,
a) Verbindungen von AaS*.
1) A = As, Sb, Bi.
Fahlerz, Rothgültigerz, Zinkenit, Kupfer-
wismutbglanz.
2) A = Fe, Ni, Co.
Magnetkies, Kupferkies, Buntkupferer*.
III. Chlor-, Fluor-, Brom- und Jod-
verbindungen.
A) Binäre Verbindungen.
a) Verbindungen von BfA:
Quecksilberhornerz.
b) Verbindungen RA.
Steinsalz, Salmiak, Sylvin, Karnallit, Hon-
erz, Bromsilber, Cotunnit, Flussspath.
Fuchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 893
B) Doppeltbinäre Verbindungen.
Kryolith.
IV. Sauerstoff Verbindungen.
A) Binäre Verbindungen.
a) Verbindungen R*0.
Rothkupfererz.
b) Verbindungen RO:
Perikla8, Zinkoxyd, Kupferoxyd, Bleioxyd,
Mennige.
c) Verbindungen RsO»:
Chrysoberyll, Korund, Eisenglanz, Chrom-
oxyd, Sennarmontit, Arsenikblüthe , An-
timonblüthe, Arsenphyllit
d) Verbindungen RO*:
Zinnstein, Rutil, Brookit, Anatas, Quarz,
Tridymit, Opal.
e) Verbindungen ROs :
Molybdänocker, Wolframocker, Wismuth-
ocker.
B) Doppel- und mehrfach binäre Verbin-
dungen.
a) Verbindungen von RsO oder RO.
cti) Verbindungen von RO mit Schwefel-
verbindungen :
Voltzit.
as) Verbindungen von RO mit Clverbin-
dungen :
Matlokit
ß) Hydrate mit Chlorverbindungen:
Atakamit.
b) Verbindungen RsOs.
bi) Verbindung von RsOs mit Schwefel-
verbindungen :
Rothantimonerz. .
bt) Verbindungen von R*Os mit Sauer-
stoffverbindungen,
a) einfache Aluminate.
\
894 Gott gel. Anz. 1873, Stuck 23.
ax) Alominate mit Erden und Metall-
oxyden als Basen:
Spineil, Chlorospinell, Gahnit, Her-
cynit, Chromeisenstein, Franklinit,
Magneteisen, Hausmannit.
as) Aluminate mit basischem Wasser:
Brauneisenstein, Hydrargyüit, Dias-
por, Nadeleisenerz, Mangan it,
c) Verbindungen von ROi.
Ci) Carbonate.
a) Einfache Carbonate;
Kalkspath, Dolomit, Eisenspath, Man-
ganspath, Zinkspath, Aragonit, Wi-
therit , Strontianit , Weissbleierz,
Magnesit.
ß) Carbonate mit Wasser :
Soda, Thermonatrit, Trona, Gay-
Lü8sit.
y) Carbonate mit Hydraten:
Malachit, Kupferlasur, Zinkblüthe,
Hydromagnesit.
et) Silikate.
a) Einfache Silikate.
ax) Silikate mit einatomigen Basen.
ax*) Vt Silikate:
Olivin, Chondrodit, Willemit
«i«) 2/s Silikate:
Wollastonit , Augit , Diopstd,
Enstatit, ßhodonit, Hyperstehn.
ax*) % Silikate:
Hornblende, Strahlstein, Asbest
ot) Silikate mit 8 atomigen Basen:
Staurolith, Disthen, Zirkon, Phena-
kit, Beryll und Smaragd, Eukto,
Topas,
as) Silikate mit 1- und Satomigen
Basen.
Puchs, D. künstlich dargestellten Mineralien. 895
as1) Vb Silikate:
Gehlenit , Humboldilith, Granat,
Idokras.
ob*) Neutrale Silikate:
Feldspath , Labrador , Glimmer,
Turmalin.
ß) Silikate mit Wasser.
ßi) Silikate mit latomigen Basen:
lft) Basen = CaO und NaO.
Apopbyllit.
2ft) Basen = MgO and FeO.
Meerschaum.
lft4) Neutrale Silikate:
Skolezit, Levyn, Phillipsit, Ittnerit.
b) Silikate mit Titana ton:
Titanit, Greenovit.
ob) Titanate:
Perow8kit.
d) Verbindungen von IUO5.
ß) Phosphate und Arseniate mit Cl- und
Flverbindungen:
Apatit, Pyromorphit, Eisenapatit, Wag-
nerit, Phosphorsaure Tttererde.
r) Phosphate und Arseniate. mit Wasser:
Wawellit, Haidingerit, Mimetesit, Gibb-
sit, Chalkolith, Uranit, Vivianit, Kobalt*
blüthe, Nickelbliithe, Libethenit, Olivenit.
e) Verbindungen von ROs.
e2) Borate.
a) Einfache Borate:
Borazit, Sassolin.
ß) Wasserhaltige Borate:
Tinkal.
es) Sulphate, Chromate, Molybdate, Wolf-
ramiate, Tantalate.
Thenardit, Glaserit, Anhydrit, Glau-
berit, Schwerspath, Cölestin, Blerritriol,
896 Gott. gel. Adz. 1873. Stack 23.
Seh eel it, Stolzit, Gelbbleierz, Rothblei-
erz, Melanochroit, Wolframit, Tantalit,
Pyrochlor.
y) Wasserhaltige Sulphate:
Gyps, Brochantit, Kieserit, Bittersais,
Aluminit, Keramohalit, Alunit, Alaun,
Uranvitriol, Zinkvitriol, Eisenvitriol,
Kupfervitriol, Kobaltvitriol, Nickel-
vitriol.
Berlin. Dr. Max Bauer.
Geschichte der k. k. Archive in Wien. Von
G. Wolf. Wien 1871, Braumüller. V 248 S.
Nicht nur in Verfassung und Verwaltung,
auch in Kunst und Wissenschaft will das Oest-
reich der Gegenwart voran kommen. Zeuge fur
letzteres ist auch vorliegende Schrift
Wer voran kommen will, muss vor allen Din-
gen wissen, wo er steht, d. h. was hinter ihm
und was vor ihm liegt.
So beschäftigt sich denn Wolf einmal mit der
Geschichte derk. k. Archive (S. 25 — 191), dann
mit ihrer Zukunft (Schluss S. 202—209; Nach-
trag S. 244 — 248). Ausserdem gibt er ein Vor-
wort S. III — V, eine Einleitung S. 1 — 25 und
Beilagen S. 211 — 244. Ich will jedes Einzelne
der Reihe nach besprechen, nachdem ich einige
einleitende Bemerkungen vorausgesandt habe.
So viel ich weiss, ist dies der erste Versuch
einer Geschichte der Wiener Archive. Auch
Wolf erwähnt keinerlei Vorarbeiten. Es fallt
auf, da8s nun nicht etwa Arneth, Meiller, Fied-
ler, Tomaschek oder Zahn sich dieser Arbeit un-
terzogen) sondern gerade Wolf. Noch auffallen-
Wolf, Geschiebte der k. k. Archive in Wien. 897
der ist , class der erste Versuch erst jetzt ge-
macht wurde; in der That, Oestreich hat sich
nicht nur (Wolf S. 64) von Belgien, Frankreich,
Preussen, Baiern, Wirtemberg, es hat sich auch
von Italien überholen lassen. Vgl. (Bonaini)
Opuscoli di 6. F. Böhmer circa all' ordinäre
gli archivi e specialmente gli arcbivi di Firenze.
Firenze Cellini 1865*).
Was sich uns nun besonders bei Lesung dieses
Buches von Wolf aufdrängt, ist die Wahrneh-
mung, dass die grosse Verwirrung, welche seit
dem 30jährigen Kriege in Oestreich heimisch
geworden, sich auch aufs stärkste in der Ge-
schichte der Wiener Archive zeigt. Wir gera-
then hier in ein Durcheinander, aus dem kein
Faden der Ariadne herauszufuhren scheint. Ich
glaube, in keinem Staate hat man so viel und
so schlecht experimentirt, als in Oestreich. Und
bis auf den heutigen Tag ist man nicht ans Ziel
und in Ruhe gekommen. Hören wir Wolf selbst.
»Ist es doch gewisse, sagt er S. 206, »dass der-
artige Zustände, wie wir sie haben, beispiellos
sind ... Man sollte glauben, dass**) ein der-
artiger Zustand nicht ein Jahrzehnt dauern kann.
Und doch dauert er, wenn wir uns nicht täu-
schen wollen, schon Jahrhundertec
Die Archive galten lange Zeit als Anhängsel
der Behörden; die Hauptbehörden aber änder-
ten bald ihren Namen, bald ihren Wirkungs-
kreis (Ressort); bald wurden verschiedene Be-
*) Bald nachher erschien die Schrift des Piemontes.
Anonymus, die ich Gott. gel. Anz. 1872 Stück 50 und
die Clarettas Scilla ricoetituzione della scuola di paleo-
grafia ed arte critica diplomatics negli archivi di stato
di Torino, Firenze 1872, die ich das. 1873 St. 14 anzeigte.
**) Wolf schreibt ,das', was wir ihm aber nicht nach-
schreiben.
898 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
hörden zu einer vereinigt, bald eise Behörde
in verschiedene zerlegt. Die Folge war dann
immer, dass die Archivakten wandern mussten.
Es kommt hinzu, dass man gleich von Anfang
an die Aktenstücke nicht immer an die richti-
gen Archive abgab ; man mnss sich freuen, wenn
man sie überhaupt der Aufbewahrung für wür-
dig hielt. Der Uebelstände sind aber noch mehr.
Wolf macht S. 202 besonders 5 mit Recht
namhaft.
1. »Man ist in keinem Archive, selbst nicht
im Haus- Hof- und Staatsarchive*) mit sämmt-
lichen vorhandenen Archivschätzen vertraut. . . .
Ein Archiv soll jedoch nicht ein unbekanntes
Land sein, wo Entdeckungen gemacht werden« **).
2. Die Archive enthalten vieles, was sie
nicht enthalten sollten; und vieles, was sie ent-
halten sollten, findet sich in ihnen nicht.
3. »Die Archive unter einander stehen ohne
alle Verbindung, als würden sie verschiedenen
Staaten und Souveränen angehören c
4. »Die Archive haben grosse Einbusse durch
Vandalismen verschiedener Art erlitten . . . Hin-
gegen besitzen sie Ballast, der die Uebersicht
und die Herstellung der Ordnung erschwert«.
Ist eigentlich = 2.
5. (Eigentlich schon in 2. enthalten) »Die
Archive der Kronländer enthalten Documenta
und Urkunden, die auf den Gesammtstaat Be-
*) Wir bezeichnen es von nun an kurz H. H. St. A.
**) Ich rnußs hier übrigens gleich zum Voraus be-
merken, dass man in Wolfe Buch auch Entdeckungs-
reisen in Hinsicht der Grammatik and des Deutschen
Ausdruckes machen kann. Das Nähere darüber unten.
Diese Verwirrung in der Form ist vielleicht eben so
gross, als die Verwirrung in den Archiven, die Wolf
beschreibt.
Wolf, Geschichte d. k. k. Archive in Wien. 899
*
zng haben, und daher in die Archive der Central-
behörden gehören«.
Das heisst mit andern Worten : Es ist gegen-
wärtig noch immer sehr schwer, das, dessen man
bedarf, rasch in einem Archive aufzufinden.
Das ist aber die schlechteste Eigenschaft, die
ein Archiv überhaupt haben kann.
Wir wenden uns nun wieder dem Buche zu
und fragen:
Welche Quellen benutzt der Verfasser?
Was bietet er uns?
Wie bietet er es uns?
Der Verf. gibt seine Quellen in den wenig-
sten Fällen an; einigemal hat er schriftliche
Aufzeichnungen von Archivbeamten benutzt, die
eine mehr oder minder ausführliche Geschichte
der betreffenden Archive gaben. So hatte für
das Archiv des Reichskriegsministeriums Oberst-
lieutenant RothauBcher die Güte, »uns einen Ab«
ri8s der Geschichte des Kriegsarchives, deren
Verfasser er ist, zur Einsicht und Benutzung
zu überlassen«. Für das Archiv des Ministe-
riums des Innern benutzte Wolf eine Denk-
schrift von Viktor Reuterer, »welche einen Ab-
ides der Geschichte des Archives enthält«. Es
ist sonderbar, dass diese Herren nicht selbst
ihre Abrisse veröffentlicht haben; sie würden
damit der gelehrten Welt einen grossen Dienst
gethan haben. Dann benutzte der Verf. natür-
lich besonders die Originalquellen, Erlasse von
den Fürsten Oestreichs, namentlich die der
Kaiserin Maria Theresia, amtliche Vorschläge
der Archiworstände an den Regenten, Memo-
randa, Protokolle u. 8. w. Es ist merkwürdig,
dass bei weitem die meiste Sorgfalt auf die Ar-
chive von Maria Theresia verwandt wurde. Sie
gründete 1753 das H. H. St. A,, mit dessen
900 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
Errichtung, wie Wolf sagt (HI), man erst festen
Boden gewinnt. Von ihr stammen die meisten
Erlasse her, und was sie anordnete, hatte fast
immer Hand und Fuss. Inmitten der allgemei-
nen Verwirrung macht ihr kräftiges Walten den
wohlthuendsten Eindruck, und könnte man sie
mit einer Kristine von Schweden oder Savoien
vergleichen. Während aber die Handlungen der
ersten vielfach aus wissenschaftlichem Drange,
die der zweiten aus der Noth der Lage hervor-
Singen, ist es bei Maria Theresia vorzugsweise
as Pflichtgefühl, gerade wie bei Friedrich dem
Grossen, das sie antreibt. So schrieb sie 1749
Mai 1 von Schönbrunn an den Grafen Harrach:
»Von dem Eintritt Meiner schweren Regierung
habe Ich Mir nichts mehreres zu Gemüte ge-
zohen, als wie die Mir von Gott anvertrauten
weitschichtige Länder, sowol in der Rechtspflege
als auch in denen Landesangelegenheiten oder
sogenannten publicis et politicis wol besorget,
mithin, wie einem jeden reich und armen, die
Gott gefallige Gerechtigkeit schleunig adniini-
strirt, also auch der status publicus Meiner
Königreiche und Länder zu Meinem Dienst und
deren Länder eigene Sicherheit in bessere Ver-
fassung gebracht werden möge .... Wie ich
dann in Justizsachen Mein Gewissen entledigen
und alles der schweren Verantwortung Meiner
obersten Justizstelle überlassen haben will«.
Wolf 179—181. Dass zu ihrer Zeit aber die
Archive nur als Anhängsel der Verwaltung und
Rechtspflege angesehen wurden, ist bekannt. In
wie fern Wolf die Regesten Reuterers (8. 146)
benutzte, geht aus der Darstellung nicht hervor.
Endlich hat der Verf. noch manche Nachrichten
verwerthet, welche er mundlich durch die Ar-
Wolf, Geschichte d. k. k. Archive in Wien. 901
chivbeamten erhielt; so dankt er S. V Meiller,
»der mir sehr schätzbare Winke gäbe
Was aber die Bestände der einzelnen Ar-
chive anlangt, so schöpfte er natürlich Vorzugs*
weise aus Indices, Registern u. s. w. Seine Dar-
stellung behandelt so immer zuerst die Ge-
schichte, dann die Bestände der Archive. Da-
nach hätte er sein Buch besser betitelt: Ge-
schichte und Bestände der k. k. Archive in Wien.
Aber freilich bei der noch immer ungenügenden
Ordnung mochte er wohl die genaue Aufzeich-
nung der Bestände der Zukunft überlassen, ob-
wohl er selbst bei seinen Besuchen durch 14
Jahre einen guten Theil der Archive kennen ler-
nen musste. »Wo mir die Behelfe gegeben wur-
den, habe ich auch über die Bibliotheken be-
richtet«.
Schliesslich bemerke ich an dieser Stelle, dass
Wolf im Anführen von Werken hätte genauer
sein können. Man findet diesen Fehler gegen-
wärtig öfter. (Vgl. Gott. gel. Anz. 1871 St. 15
S. 594). So führt er S. 191 Eink Geschichte
der Universität ohne Jahreszahl und Druckort
an; man fragt doch auch unwillkürlich: welcher
Universität? Daneben führt er an H eifert Die
Volksschule in 0 Österreich, ebenfalls ohne Jahr
und Druckort. Aehnlich S. 193 Helfert, System.
Nun mögen einem Oestreicher diese Werke be-
kannt und geläufig sein; aber ich denke (und
Herr Wolf wahrscheinlich auch), das vorliegende
Buch ist nicht allein für Oestreicher geschrie-
ben. Besonders aber vermiest man das Anfüh-
ren der benutzten Archivalien, namentlich der
höchsten Verordnungen, nach den Rubriken der
Archive. Die Wort- und Satzbildung in densel-
ben ist mitunter derartig, dass man gern die
Originale nachsieht.
902 Gott, gel Anz. 1873. Stück 23.
Wir wenden uns nun zur Beantwortung der
zweiten Frage, was uns der Verf. gegeben hat.
Und da müssen wir wohl sagen : Fast nur neues
und unbekanntes. Desshalb ist sein Werk for
uns von höchstem Werthe. Die Geschichte der
Wiener Archive und ihre Bestände waren bis-
her eine terra incognita. Es sind nun 6, die
wir genauer kennen lernen:
1) Das H. H. St. Ä. S. 25.
2) Das Archiv des Reichsfinanzministeriums.
S. 103.
3) Das Archiv des Ministeriums des Innern.
S. 129.
4) Das Archiv des Reichskriegsministeriums.
S. 160.
5) Das Archiv des obersten Gerichtshofes und
des Justizministeriums. S. 179.
6) Das Archiv und die Registratur im Mini-
sterium für Kultus und Unterricht. S. 191.
Dazu gibt Wolf 9 schätzbare Beilagen:
1) E. ungarisches Haus- und Kronarchiv,
Böhmisches Hausarchiv, Oestreichisches Haus-
archiv.
2) SphragidothecaSmitner-Löschner (1818 an*
gekauft vom H. H. St. A.).
3) Urkunden von Klöstern in Steiermark,
Kärnten, Krain, Tirol und in den Vorlanden,
aus Böhmen und Mähren.
4) Pro memoria des Directors Baron Rein*
hart über den klassischen und historischen
Unterricht an den k. östreichischen niederen
und höheren Lehranstalten. 1842 Apr. 7.
5) Zuwüchse des Hausarchivs aus dem Ar-
chive des Staatsratbes, 1866 Aug.
6) Deutsches Reichsarchiv.
7) Schreiben Kaisers Franz I. an den Hof-
kammerpräsidenten Grafen Zichy, 1806 Dez. 30.
Wolf, Geschichte der k. k. Archive m Wien. 903
Schreiben desselben von 1807 (Rechte und
Pflichten der Beamten).
8) Taxen für Adel und Titel 1719.
9) Aus dem Erlasse Pillersdorffs, als Minister
des Innern, an die Polizeidirektionen. 1848
März 28.
Der Verf. hat, wie es scheint, die Archive
nach ihrem Alter besprochen und bemerkt:
»Die Archive, resp. die Registraturen der Mini-
sterien für Ackerbau, Handel und Gewerbe und
Landesverteidigung habe ich unberücksichtigt
gelassen, da deren Agenden fast nur aus der
neuesten Zeit bestehen. Das Archiv der nieder-
österreichischen Statthalterei beginnt wohl mit
1792; die Agenden desselben sind jedoch ge-
wis8erma88en selbstverständlich. Ebenso glaubte
ich mich beschränken zu sollen und das Archiv
der niederösterreichischen Stände, so wie das Ar-
chiv des Magistrates vorläufig ausser Acht zu
lassen. Ich hatte allerdings die Absicht, das
Archiv des ehemaligen Staatsrates, der jetzt
ganz der Geschichte angehört, in den Kreis mei-
ner Forschungen einzubeziehen. Ich wendete
mich deshalb mit einem Gesuche an den Vor-
stand der Gabinetskanzlei Sr. Majestät des Kai-
sers an Seine Excellenz den Herrn Ritter von
Braun ; doch ich erhielt gar keinen Bescheide
Wir wollen hoffen, dass auch Herr v. Braun
die Wichtigkeit der Wolfschen Veröffentlichun-
gen einsehen und demgemäss Herrn Wolf er«
wünschten Bescheid, wenn auch verspätet, er-
theilen wird. Dagegen seien an dieser Stelle
auch die Namen der trefflichen Männer nicht
verschwiegen, welche Herrn Wolf unterstützt ha-
ben. Es sind im Archive gewesen:
1) Arneth, Meiller, Klemm 2) Neubauer,
Kirschner 3) Viktor Reuterer, Alex. Gigl, Würz-
904 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
bach 4) Earl Rothauscher 5) Maloch, Job.
Nötzl 6) Slavik, Päumann, S. H. Moaenthal,
endlich Herr Kern im Landesvertheidigungs-
ministerium. Allen diesen, so verschieden an
Stand, Rang and Stellung, ist mit dem Verf.
auch die ganze gelehrte Welt dankbar; sie wer-
den auch gewisslich weitere Arbeiten gern unter-
stützen.
Wir kommen nun zu den einzelnen Ab-
schnitten.
»Ich habe in der Einleitung die Vorge-
schichte der Archive, bis zur Zeit der Kaiserin
Maria Theresia gegeben. Ich konnte da nur
ein Mosaikbild aus verschiedenen versprengten
Notizen liefern. Erst mit der Errichtung des
geh. H. H. St A. gewinnt man festen Boden . . .
Da Archive nicht ihrer selbst willen entstehen,
sondern ein Gorrolar der betreffenden Behörden
sind, so habe ich der Geschichte der Archive
die Geschichte der betreffenden Centralstelle,
wenn auch nur in kürzen Umrissen, beigefugt.
Ich glaube in dieser Beziehung der Zustimmung
der Leser um so mehr sicher zu sein, da bis
jetzt keine Geschichte der Gentralbehörden in
Wien vorhanden ist«. Gewiss ist das eine sehr
dankenswerthe Zugabe.
Nun aber kann es mir nicht beifallen, etwa
von allem Gelieferten einen Auszug zu geben.
Es gibt Bücher, die keinen Auszug gestatten,
und dazu gehört sicher das vorliegende. Ich
werde aber einzelnes herausheben, was mir auf-
gefallen ist.
Seite 6 Z. 9 steht Lausnitz wohl für Lausitz.
Der Ausdruck Puschen S: 7 öfter ist wohl =*
filza. S. 16 Absatz 6 muss es heissen: In der
letzteren (Ergänzung). Dass auch Almosen in
einem Archivbudget figuriren, S. 24, ist sehr
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 905
merkwürdig. S. 26 ist unter 2. conventiones zu
lesen. S. 28 Z. 2 ist Baron Esklin wohl =
Erskin*). S. 31 ist Lunig wohl = Lünig, Lun-
dorp wohl ss Londorp. S. 33: das Schreiben
der Maria Theresia an den Grafen Kaunitz, Hof-
und Staatskanzler, von 1763 enthält folgende
sonderbare Stelle, die wir nicht fibergeben dür-
fen: »Ich versehe mich daher zu seinem Mir in
allen Gelegenheiten erprobten Diensteifer, dass
Er sich anch dieser Ihme hiermit anvertrauten
Direction (des H. H. St. A.) unterziehen, den
Stand dieses Archives einnehmen und Mir seiner
Zeit vorschlagen werde, auf was weise durch
die daselbst vorhandenen Instrumenta die grösten«
theils verschlafenen Gerechtsamen Meines Erz-
hauses erwirkt auch überhaupt eothanes Archiv in
das vollkommene Geschick eingeleitet werden möge,
um davon den Zweck und Nutzen zu schöpfen,
welchen Ich mit Errichtung desselben zum Grund
gelegt habec Maria Theresia erkannte es also,
dass man in Oestreich zu viel geschlafen habe.
Hätte man in ihrem Sinne fortgefahren, so wäre
man 1866 durch den Kanonendonner beiSadowa
nicht so schrecklich aufgeweckt worden. S. 35:
»Die beiden Archivare haben, um nur den Dienst
und die aufgetragene Arbeiten nicht ins Stocken
kommen zu lassen, sich bemüssigt gesehen aus
ihren eigenen Mitteln der ohnedies bei den jetzi-
gen theueren Zeiten unzureichenden Besoldungen,
zum empfindlichen Abbruch ihres notdürftigen
*) Der Schwedische Oberst Erskin war beim Nürn-
berger Rezess 1662 betheiligt, wird auch in der Flug-
schrift: »Der schwedische Jäger in Teutschland 1648«
(Exemplar auf der Paulina in Münster) genannt. Nähe-
res über diese Flugschrift im WesUäl. Merkur 1873
April 1 unter dem Artikel: Ans dem Alterthums-
▼ereine»
69
906 Gott, gel- Anz. 1873. Stück 23.
Lebensunterhaltes zumal bei dem seit 3 — 4 Jah-
ren beizutragen gehabten massenhaften Kriegs-
steuern und Verluste an den Papieren viele der
kostbarsten Bücher selbst baar anzuschaffenc
Du Cange, Schilters, Wächters, Frischens Werke
mussten sie auf eigene Kosten anschaffen. S. 36
Anm. 1 ist zu lesen jure amplissimo. 1749 war
eine Sekretarstelle zu besetzen, 14 bewarben
sich ; jeder von ihnen war an den Kanzler, Gra-
fen Harrach, mit ausserordentlichen Em-
pfehlungen versehen. Die Petenten wurden auf-
gefordert, eine Probe abzulegen, ein Rathspro-
tokoll abzufassen. »Doch 11 derselben erklärten
nicht in der Lage zu sein, ein derartiges Schrift-
stückauszufertigen*). Diesem Uebelstande wollte
der damals an der Stelle Rosenthals als erster
Archivar fungirende Rat Hops dadurch abhel-
fen, indem er empfahl, das Archiv als Bildungs-
anstalt für angehende Beamte zu benutzen ....
Er meinte, dass derartige Personen, die früher
Studien absolvirt haben, die von Registrants
stufenweise endlich als Räte in die Länder be-
förderten Leute . • • • nach der Zeit weit ge-
schicktere Hofräte, (sei. würden) als aus Advo-
caten und Professoren werden können,
welche, so gelehrt sie immer sein mö-
gen, doch niemals Kenntniss und Einsicht von
den Kanzleigeschäften besitzen und lange Zeit
entweder alles nach ihren steifen
Schulgrundsätzen behandeln, oder nur
nach Gutdünken und Scheingründen,
zuweilen auch zum Nachtheile des Dienstes ra-
ten, bis sie vielleicht solche, als für sie ganz
*) Ich habe 1867 in Italien einen kgl. Archivbeam-
ten kennen gelernt, welcher des Lateinischen nur in sehr
mangelhafter Weise mächtig war; und das war nicht
etwa an einem kleineren Orte«
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 907
was neues, nach und nach kennen gelernt ha-
ben«. S. 38. Wäre man nur etwas steifer und
pedantischer, d. h. ordentlicher in den Archiven
gewesen! »Man habe zwar am k. k. Hofe von
Zeit zu Zeit sehr geschickte Männer gesehen,
welche aber grösstenteils nur deswegen in sol*
ehern Ruhme standen, weil andere wenig oder
Sir nichts wussten«. Das. — Der Direktor des
erliner Staatsarchives heisst nicht Lanczizollet
(S. 39 Anm. 2). 1865 fand man Elosterakten
im Pferdestall des ehemaligen Hofraths Guvelier
in Wien. (8. 40). S. 42 a. Die Venezianischen
Finalrelazionen reichen wohl weiter als 1250!
S. 43 ß. Der Nobile hiess Contarini. Fiedler hat
denselben Fehler. Vgl. Tourtual Dispacci Ri-
dolfi, geschichtliche Einleitung. S. 44 Z. 7 1.
Bercbtesgaden. S. 48 heisst es: >Die Rubrik:
»»Beschaffenheit der Urkunden«« hört mit 1410
auf, da von da ab die Eigenheiten aufhörten«*).
Wie so? Sollten die Urkunden von 1410 an
nichts Eigentümliches haben? S. 51 Z. 18 ist
zu lesen ihrer, weiter unten corpus diplomats
cum. Unangenehmer berührt die Congregation
St. Maux. Wenn Verf. S. 55 Anm. 1 sagt:
»Wurzbach gibt in seinem Lexicon (welchem?)
an, da8s Hormayr auch eine Geschichte des Ar-
chives (H. H. St. A.) geschrieben habe. Dies
scheint jedoch blos eine Sage zu sein, da nir-
gends aas betreffende Ms. vorhanden ist«, so
möge er doch bedenken, dass das ein sehr ge-
wagter Ausspruch ist. Wo so vieles abhanden
gekommen, konnte da nicht auch Hormayrs Hs.
abhanden kommen oder verlegt werden? Um so
mehr, da, wie Verf. selbst S. 55 anführt, nach
dem Urtheil der damaligen Archivsbeamten Hör*
*) Es sind Worte des Gf. Stadion von 1806 Sept. 14.
69*
908 Götl gel. Abz. 1873. Stack 23«
mayr selbst die vorhandene Ordnung störte.
S. 56 lesen wir eine interessante Nachricht
»Unter Rademachers Direction wurde die jähr-
liche Dotation des Archives (n. 1) von 320 auf
500 Gulden erhöhet. Es sollte dadurch mög-
lich werden, die Bibliothek zu ergänzen und
einige Journale: die Augsburger aUg. Zeitung,
die europ. Annalen, die Göttinger gel. Anzeigen,
eine von den allgemeinen Literaturzeitungen in
Jena oder Halle und eine inländische literari-
sche Zeitung zu halten«. 1823 wurden Ministe-
rialakten aus dem 17. Jahrh. für das Haus-
archiv gewonnen, von den Erben des Grafen
Pottnig, k. k. Gesandten am Spanischen Hofe
in der zweiten Hälfte des 17 ten Jahrhunderts,
enthaltend k. Originalschreiben von 1666 — 1672,
4 Bände; die Konzepte der Berichte an den
Kaiser 1663 — 73; Relazionen, theils an den
Kaiser, theils an den Fürsten Portia, 4 Bände.
»Die Correspondenz verbreitet sich über Staats-
und k. Familienangelegenheiten, enthält Zöge
aus dem häuslichen Leben des Kaisers und des
Madrider Hofes; gibt Nachrichten von verschie-
denen geheimen Intriguen und liefert Schilde-
rungen von den bedeutendsten Männern der da-
maligen Zeit, sowol in Oesterreich wie in Spa*
nien. Es ist mehr eine Privat- als eine offi-
cielle Correspondenz, die nebenher laufte. Sie
hätte gewiss Herrn Peter guten Stoff für die
Vorgeschichte des Krieges gegen Frankreich ge-
geben. (Vgl. Göttinger gel. Anz. 1871 St. 8).
Zu diesen Akten wurde bemerkt: »Es ist ein
wahres Glück, dass die Erben des Grafen von
Potting (so) diese Correspondenz wie ein Fami-
lienvermächtniss bewachten, und besonders kei-
nem Schriftsteller von Profession die Benutzung
dieser Briefe erlaubtenc. (S. 58).
i
J
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 909
Dass Verf. ein eigentümliches Deutsch
schreibt, wird er wohl selbst nicht läugnen kön-
nen. Der Ausdruck ȟber Vortrage wiederholt
sich öfter; S. 59 ist zu lesen Z. 1 folgenden,
Z. 8 Manuscripten; Anm. I Z. 5 vergleichende.
S. 60 lesen wir: über Empfehlung, S. 61 sogar
Perz*); ferner: den bestandenen Vorschriften ge-
mäss, Familienurkunden, deren Mittheilung . . .
nicht geeignet waren; S. 63 ist zu lesen: welche
irgend ein auf staatsrechtliches u. s. w. S. 64
lesen wir: da musste der Beamte mit . . . Vor*
sieht antworten, um keine Blossen zu geben
und sich verfänglich zu machen. Ueberwiegen-
heit statt Ueberlegenheit. S. 65 Z. 1 ist zu le-
sen: Einleitungen, enthaltend auch die nötigen
Noten. S. 65 Z. 5 ist wohl zu lesen: in Ver-
bindung. Das. Z. 3 von unt. ist nach Geschichte
zu ergänzen: erfolgen kann. S. 66 Z. 10 lesen
wir: Durch den Druck und den Postenverkehr
erleichterte Verbreitung und Mittheilung alles
menschlichen Wissens und einzelner Erfahrun-
gen ward eine allgemeine Bildung bewirkt u. 8. w. t
S. 67 Z. 12 von unt. ist der Zusatz: ,obschon
sie sehr glücklich war9, sehr unglücklich, da er
zeigt, wie wenig Verf. vom kanonischen Recht
versteht. S. 69 Z. 14 von unt. ist zu lesen
wurde statt wurden. Doch genug ; diese Proben
*) Dies scheint kein Druckfehler zu sein, denn auch
8. 66 Z. 2- von unt. lesen wir Perz. Dagegen wollen
wir es for einen Druckfehler halten, wenn Heinr. d. Löwe
1823 der Gemeinde Rostock eine Schenkungsurkunde
ausstellt (S. 169). S. 148 oben ist nicht zu sehen, ob
Verf. die Abschrift einer Turnierordnung, (aus d. J.
935), welche Kaiser Heinrich I., der Vogelsteller, 1
Jahr vor seinem Tode erlassen hat, für echt h<. S.
170 L Aldringer. S. 178 1. itinerarii Peutingeriani. S.
174 due de Bohan. S. 181 variaa aetatis.
910 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
genügen. Wir bemerken nur noch, dass auch
Wörter Latein. Ursprungs falsch behandelt Bind
(S. 72 Anm. 1). Anderes ist gerade nicht
falsch, aber doch ungebräuchlich, so churerz-
mainzisch (S. 74). — Ohne Zweifel ist sprach-
liche Ausbildung beim Archivbeamten eines der
wichtigsten Erfordernisse und aufch die Italiäni-
sche Kommission von 1870 hat neuerdings viel
Gewicht darauf gelegt. (Claretta Ricostituzione
p 19. 20). Mit Verwunderung lesen wir daher
bei Wolf S. 69 : Bis auf den heutigen Tag be-
findet sich jedoch im Hausarchiv kein Beamter,
der Eenntniss der orientalischen Sprachen hat
Merkwürdig ist, wie manche Archivalien nach
Wien geriethen. Am 4. Okt. 1792 flüchtete
das Kurmainzische Archiv nach Bonn, Ton da
nach Köln, von da nach Amsterdam, von
Amsterdam nach Koblenz, von da wieder nach
Mainz; Okt. 1794 mit dem Preussischen Heer
nach Aschaffen bürg, wo es bis 1810 blieb. Von
da wurde es auf Oestreichs Befehl und Kosten
nach Frankfurt gebracht. ,Die deutschen Re-
gierungen, insbesondere die preussische, durch
den Gesandten Grafen Arnim, erhoben ge-
gen die Uebersiedlung nach Wien 1852 Ein-
sprache, worüber seiner Zeit die Journale, ins-
besondere die Allgemeine Zeitung in Augsburg
und die Ostdeutsche Post in Wien berichteten.
Nichts destoweniger wurde das genannte Archiv
1854 nach Wien gebracht' (zus. 217 Kisten).
Die Archivare Hess und v. Meiller berichteten:
Das Archiv ist sehr verworren. Die 3 Haupt-
archive des churerzkanzleri8chen (so), des
churrheini8chen Kreises und des Erzstiftes sind
vermischt . . . und mangelhaft. Die Acten des
15. Jahrh. fehlen, ebenso frühere Acten u. s. w.
1846 Jänner wurde Clemens Freiherr v. Hügel
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 911
zum Archiv8direktor des H. H. St. A. ernannt.
»Ueber dessen Wirksamkeit im Archive haben
wir nichts zu berichten. Er hatte eben blos
eine Sinecure*). Die Stürme des Jahres 1848
berührten nicht das Archiv. 1849 beabsichtigte
der damalige Obersthofmeister des Kaisers, Fürst
Liechtenstein, das Archiv in die Stall bürg zu
verlegen. Doch der Minister des Aeussern,
Fürst Schwarzenberg, bemerkte, 17. Aug. 1849:
,Da8 geh. Hausarchiv umfasst die kostbaren
Urkunden, auf denen der Besitzstand der Dynastie
in den verschiedenen Eronländern . . . gegründet
ist; die Tractate, die des Reiches Grenzen, die
seine Gerechtsame dem Auslande gegenüber be-
stimmen; die Verträge und Documente endlich,
die das innere Recht des Kaiserhauses mittelst
der Ehepacten, der Eheverträge, der Testamente
bilden. Schätze die unersetzlich sind und deren
Wert insbes. für das Kaiserhaus in seiner dy-
nastischen Beziehung das (so) möglichst grösste
sein muss'. In Folge dessen verblieb das Ar-
chiv an seinem Orte.
Von Hügel blieb bis 1850 Direktor; an seine
Stelle trat Dr. Franz Baron Erb. ,Derselbe
war zuerst Conceptspracticant bei der Polizei-
und Censurhofstelle **), später Secretär Sr. k.
Hoheit des Erzherzogs Franz Carl. Er be-
trachtete sich ausschliesslich als Beamte (so).
Die wissenschaftlichen Zwecke des Institutes
standen für ihn in zweiter, ja in dritter Linie.
. . . Selbst den Archivsbeamten machte er ge-
wissermassen die literarische Benützung des Ar-
*) Solches kommt auch von anderen Archiv-Direk-
toren weiter unten vor, von denen einige nioht einmal
ihr Arohiv betraten. S. 182 Z. 1 1. 11. Aug. 1749. S.
191: Das Jahr 1526 fallt nicht ins Pontifikat Clemens VIII.
**) Eine schöne Vorbereitung for den Arohivdienst l
912 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
chives unmöglich'. Erb erstattete einen Bericht
über das H. H. St. A., aus dem wir entnehmen,
wie mangelhaft die Ordnung desselben war.
1862 Aug. 1 äusserte sich Erb noch in einem
Berichte: ,Der Bittsteller scheint von der gewiss
verzeihlichen Voraussetzung auszugehen, dass so
wie in Baiern, Belgien, Frankreich, zum Theile
in Preussen und wie in sehr vielen anderen
Staaten auch in Oesterreich ein wolgeordnetea
Archivswesen bestehe, welches sich in einem
Staats- oder Reichsarchiv concentrirt, und weiss
es offenbar nicht, dass von so etwas bei
uns nicht eine Spur zu finden ist: son-
dern dass das Staatsarchiv nur in seltenen Fäl-
len mit Bestimmtheit angeben kann, wo ge-
wünschte Documente gesucht werden sollen; in
den meisten Fällen aber darauf angewiesen ist
zu — raten'. Wir glauben, sagt Wolf, der Di-
rector hat etwas zu schwarz gesehen. So arg
war die Sache nicht bestellt. Nun, dann war
es jedenfalls sehr thöricht, dass der Herr Di-
rektor sich schriftlich so unvorsichtig und im«
wahr äusserte I Vielleicht liess er sich, meint
Wolf, zu dieser harten Anklage verleiten, weil
ihm die Beamten nicht genug fleissig erschienen,
und weil er die Privatgelehrten, die im Archive
arbeiteten, gewissermassen als Störefriede (so)
betrachtete. Im letzten Punkte mag er sehr
Recht haben; wenigstens bin ich gewiss, in Ita-
lien auf Archiven oft als Störenfried betrachtet
worden zu sein. 1852 befürwortete Graf Ar-
nim das Gesuch des Dr. Schubert, diesem be-
hufs der Abfassung eines Werkes über die Kai-
serin Maria Theresia und ihre Zeit die Benützung
des Archives zu gestatten. ,Die Direction sprach
sich jedoch dagegen aus, weil dadurch nur der
alte Hader erneuert werden könnte. Nichts
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 913
destoweniger war die Schlacht bei KSniggratz*.
Wie, wenn nun heute jemand sagte, dass die
gegenwärtige Direktion selbst durch ähnliche
Veröffentlichungen den alten Hader erneuert
hätte? Aber das ist Gott Dank jetzt ein über«
wundener Standpunkt. Wolf führt dann noch
2 ahnliche Fälle aus dem J. 1857 an. Im 2.
Falle riet die Direction unter der Bedingung
auf die Gewährung des Gesuches ein (so), wenn
zuvor selbstverständlich das ungeeignete aus
demMateriale entfernt wird. Schöne Geschieht«
Schreibung, die aus solcher Auswahl entstehen
muss!
,Ein Uebelstand anderer Art, fahrt Wolf
fort, machte und macht*) sich noch in diesem
und wie wir sofort hinzufügen wollen, auch in
den andern k. Archiven geltend, nämlich der
Mangel irgend welcher fester Normen An
diesen Uebelstand reiht sich noch ein anderer.
Geschweige von den Archiven (so) in den Kron-
ländern, stehen selbst die Archive in der Resi-
denz ohne Zusammenhang unter sich und haben
keine Eenntniss von einander. Jede Behörde
geht ihren Weg oder sie lässt die Dinge gehen,
wie sie eben gehen1. Ein liebliches Bild! Schon
1641 berichtete Ridolfi von der Kaiserin von
Oestreich: Lascia correre**). Es ist das, sagt
Wolf, ein gar trauriges Lied, das wir hier vor-
läufig blos intonirt haben. Der ehemalige Mi-
nister des Innern, Frh. v. Bach, beabsichtigte
bei Gelegenheit der Wiener Stadterweiterung,
welche von Sr. Majestät am 20. Dec. 1857 ge-
nehmigt wurde, ein Reichsarchivsgebäude auf«
führen zu lassen, wo sämmtliche Ministeridl-
*) So offenbar zu lesen statt machte.
**) Toortaal Badolfis Begensburger Depeschen.
914 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
archive Platz finden sollten ... es durfte die
Sache wol eingeschlafen sein. Erb klagte 1867
März 1. es sei im Staatsarchive fur die sehr be-
deutenden ungarischen und orientalischen Archi-
valien nicht Ein Sprachkundiger. Die neue
parlamentarische Aera, die 1861 über Oester-
reich kam, Hess das Hausarchiv unangetastet.
S. 82 ist statt 29. Oct. 1867 wohl 29. Oct.
1862 zu lesen. Nach der Schlacht bei Sadowa
muBßte das Archiv wieder flüchten. Der Ar-
chivbeamte Klemm führte es nach Ofen über,
1866 Juli 11, und so war zum Theil das Wort
Bismarcks erfüllt, dass der Schwerpunkt Oest-
reichs nach Ofen verlegt werden müsse; doch
war dieser Zustand nur von kurzer Dauer, in-
dem das Archiv bereits am 20. August 1866
nach Wien zurückgebracht wurde. ,In Folge
des Friedens, nach welchem Venedig und die
Adnexa an Italien kamen, hat das H. H. St. A.
einen sehr empfindlichen . Verlust erlitten , da
nach Artikel 18 des Tractates vom 3. Dec.
1866 die venet. Kunstschätze und Archivalien,
die bis dahin Oesterreich gehörten, an Italien
ausgeliefert wurden.
So gross auch die Verluste Oesterreichs in
Folge jenes Krieges nach Aussen und nach In-
nen waren: so nehmen die Verluste jener Schätze
der Kunst und Wissenschaft einen hervorragen-
den Platz ein. Leider sind diese Archivsschätze
während der Zeit, als sie in Wien waren, ver-
hältnissmässig wenig ausgebeutet worden'. Man
hat eben dort geschlafen. Eine rühmliche Aus-
nahme machte unter anderen Fiedler, da er die
Finalrelazionen der Venez. Gesandten heraus-
gab. Das Venez. Archiv umfasste nach Wolf
4 Abtheilungen: 1. Depeschen der Gesandten
aus Rom, vom k. Hoflager zu Mailand, Spanien,
Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien. 915
Turin, Florenz, Neapel, Mantua. 2. Die FinaK
relazionen. 3. Libri secreti. 4. Scrittnre se-
crete. Mai 1867 ward Erb pensionirt und AI*
fred Ritter v. Arneth trat an seine Stelle, der
seit 1860 Vizedirektor gewesen. ,Arneth rückte
auf diesen Posten vor, nicht blos deshalb, weil
er Vicedirector war, und nun die höhere Sprosse
auf der Leiter der Bureaukratie zu ersteigen
hatte, sondern weil er sich durch seine Werke:
Eugen v. Savoyen, Maria Theresias erste Re-
gierungsjahre u. 8. w. als Geschichtsforscher
einen Namen und Ruf erworben hatte1. Die
Stelle eines Vizedirektors ward zugleich aufge-
hoben. Bei dieser Gelegenheit gibt Wolf Sie
Liste der Gehälter der Beamten des H. H. St.
A. an, bei deren Summirung er sich aber, we-
nigstens meiner Rechnung nach, bedeutend ver-
rechnet ; die Summe der zweiten Reihe ist nicht
5351, sondern 2141, und dies zu der Summe
der ersten Reihe addirt gibt 19875, nicht aber
20085, welche Zahl auch durch die Summirung
der beiden Wolf sehen Summen 17734 und 5351
nicht entsteht; es entsteht vielmehr dadurch die
Summe 23085. Mithin bat Wolf den Archiv-
beamten unter dem Quartiergeld zu viel, trotz-
dem aber in Summa Summarum (nach seinen
Zahlen) zu wenig gegeben.
Mit Arneth aber begann eine neue Zeit für
die Arcbivforschung in Wien, wie mit Bonaini
in Toskana, mit Bianchi in Turin. Eine frische,
gesunde Luft trat an die Stelle der Dumpfheit
und wehte dem Forscher wohlthuend entgegen.
Und der Forscher bedarf derselben. Arneths
Bericht vom 12. Juni 1868 an den Minister des
Aeus8ern Grafen Beust eröffnet die neue Aera.
Die Aufgabe des Staatsarchivs wird hier als
eine 3£ache bezeichnet. Es sei 1) ein Aufbe-
916 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 23.
wahrungs- und Auffindungsort. 2) eine Rüst-
kammer für juristische und diplomatische Zwecke.
3) Eine Fundgrube fur wissenschaftliche Arbei-
ten*). Am vollständigsten, sagt Wolf, ist der
Zweck bei la) erreicht, in Bezug auf lb) fehle
noch viel. Bezüglich 3) ist zu bemerken:
,Auch die wissenschaftliche Verwertung der
historischen Schätze des Staatsarchives sollte in
Zukunft ein Theil der amtlichen Beschäftigung
derjenigen Beamten des St. A. sein, welche Lust
unci ausreichende Befähigung dazu besitzen1. In
Betreff der Benutzung des Archivs durch Fremde
befürwortete Arneth, die Entscheidung der Di-
rektion zu überlassen , nur in wichtigen Fällen
die Entscheidung des Ministeriums einzuholen.
Das Ministerium des Aeussern genehmigte unter
d. 22. Juni 1868 diese Vorschläge. Und damit
ist das Eis gesprengt. Und wer möchte nun
verkennen, dass dieser Vorgang Oestreichs auf
Italien eingewirkt hat, wo 1870 der Anlauf be-
gann**), während in Oestreich die Kommission
schon 1869 zusammentrat.
Von der Geschichte wendet sich Verf. zu den
Beständen des H. H. St. A. Es ist sicher eins
der grös8ten der Welt. »Wir müssten ein bänder-
reiches (so) Werk liefern und kaum dürfte für
Eine Person 1 " Menschenalter hinreichen«. Unter
den Akten findet 6ich sogar auch eine Abthei-
lung Algier; dann Tripolis 1724—1767, Tunis
1733—1761. S. 93 ist bei Reichsdeputations-
acten wohl eine andere Zahl zu lesen. S. 95 ist
Pötting wohl derselbe mit Potting S. 58 and
Pottnig S. 57. 3 grössere Abtheilungen desAr-
*) Es verschlägt wohl nicht, wenn Arneth nicht ge-
rade diese Ausdrücke, sondern längere Ausführungen ge-
braucht.
**) Gott gel Ana. 1873 St. 14 S. 567.
Neubauer, The book of Hebrew roots etc. 91?
chives sind: Das Reichshofrathsarchiv; das Ital.
und das Nieder!, oder Belgische Archiv. Die
Akten des 1. befinden sich im Laurenzengebäude
am Fleischmarkt mit denen der Reichshof kanzlei;
die beiden letzteren im Batthy&nischen Hause»
— Der Druck lässt vieles zu wünschen übrig.
Münster. Dr. Florenz Tourtual.
The book of Hebrew roots, by Abu-lValld
Mervan ibn Janäch, otherwise called Rabbi
Yon ah. Now first edited, with an appendix,
containing extracts from other Hebrew-Arabic
dictionaries, by Ad. Neubauer. Fascicu-
lus I. »f— ft. Oxford: at the Clarendon Press.
MDCCCLXXIII. — 336 8. in Grossquart.
Wir kündigen hier den Druck eines Haupt-
werkes aus dem Arabisch-Jüdischen Schriftthume
des Mittelalters an, dessen Erscheinen schon
sehr lange von allen Sachkennern umsonst ge-
wünscht war, nun aber endlich kein blosser
frommer Wunsch bleiben soll. Der Spanische
Rabbi Jona aus Kordova, nach seinem Arabi-
schen Schriftstellernamen Abulvalid Mervan,
war allen denen welche das erste Entstehen und
Aufblühen der Hebräischen Sprachwissenschaft
im Mittelalter verfolgten, schon lange als der
bedeutendste Gründer dieser Wissenschaft be-
kannt: allein da er Arabisch schrieb, so blieben
seine Werke- schon deswegen in ihren Urschrif-
ten nur wenigen Kennern zu unserer Zeit zu-
gänglich; und da sich von ihnen bis in diese
unsere Zeit herab nur sehr wenige Handschriften
erbalten haben, so war es auch den Arabischen
Sprachgelehrten unserer Tage bisher immer sehr
schwer sie zu benutzen ; dieses aber war wiederum
am unangenehmsten gerade bei dem Hauptwerke
918 Gott. gel. Abz. 1873. Stuck 23.
dieses Spanisch-Jüdischen Gelehrten , seinem
grossen Wörterbuche der Hebräischen Sprache
des Alten Testaments. Wichtige Werke des
Mittelalters von kleinerem oder grösserem Um-
fange welche sich so wie die unseres Gelehrten
von Eordova heute nur in sehr wenigen oder
gar nur in einer einzigen Handschrift erhalten
haben, sollte man überhaupt immer durch einen
sorgfältigen Druck vor allen künftigen Unglücks-
fällen zu sichern eilen, auch wenn man ihnen
nicht sogleich erklärende Anmerkungen beifugen
kann: und wir müssen es schon deshalb den
hohen Beamten der Clarendon Press in Oxford
Dank wissen dass sie dieses in seiner Art uner-
setzliche Arabisch-Jüdische Werk durch den
Druck zu veröffentlichen beschlossen. Sie ha-
ben sich aber auch dazu in Dr. Adolf Neubauer
einen Mann gewählt welcher durch seine lange
•und genaue Beschäftigung mit dem Arabisch-
Jüdischen Schriftthume ebenso wie durch seine
übrigen Fähigkeiten der für diese Arbeit ge-
schickteste ist welchen sie sich ausersehen konnten.
Das Werk erscheint nun nicht in der bei
den Juden im Mittelalter immer mehr allein ge-
wöhnlich gewordenen Arabisch- Jüdischen sondern
in der rein Arabischen Schrift gedruckt: was
den heutigen Gelehrten ohne Zweifel am lieb-
sten sein wird. Hinzugefügt sind nur die vie-
len und theilweise sehr wichtigen verschiedenen
Lesarten welche sich dem Herausgeber aus der
genauen Vergleichung der zwei einzigen Hand-
schriften des Werkes ergaben welche heute noch
übrig zu sein scheinen, der schon von vielen
neueren Gelehrten benutzten Oxforder und der
fast ganz unbekannt gebliebenen von Rouen in
Frankreich. Der hier gedruckt vorliegende
Theil enthält etwa die Hälfte des Werkes. Der
Wucherer, Alvarenga. 919
Herausgeber verspricht aber am Ende noch Aus-
züge aus anderen Werken des Mittelalters ähn-
lichen Inhaltes. Die Fachkenner wissen dass er
ein ganzes Werk dieser Art selbst erst entdeckt
und sich mit dem gesammten Schriftthume die-
ses Faches schon lange sehr eifrig beschäftigt
hat, wir können hier also mit Recht von ihm
weitere nützliche Veröffentlichungen erwarten.
Demnach aber haben wir wohl auf noch zwei
Bande ähnlichen Umfanges zu hoffen. Und da
wie es scheint erst zum Schlüsse die Vorrede
zu dem ganzen Werke erscheinen soll, so be-
halten wir uns vor alsdann in den Gel. Anz.
ausführlicher über es zu reden, und wollen fiir
jetzt nur wünschen dass es bald glücklich been-
digt werden möge. H. E.
Alvarenga. Grundzüge der allgemeinen kli-
nischen Thermometrie und der Thermosemiologie
und Thermacologie, aus dem Portugiesischen
übersetzt von Dr. 0. Wucherer. Stuttgart.
1873. Bei E. Kirn. 8. 254 Seiten.
Es ist natürlich ein gewagtes Unternehmen,
aus einer fremden Sprache ein Buch über Ther-
mometrie in das Deutsche zu übersetzen, da die
Deutschen in der theoretischen, wie practischen
Verwerthung der Wärmelehre die Spitze genom-
men zu haben glauben. Weiter ist es eine
schwierige Sache, ein 1869 geschriebenes Buch
über diesen Gegenstand erst 1873 zu übersetzen.
Trotzdem dass die Fehlerquellen, welche in die-
sen beiden Gesichtspunkten liegen , durchaus
in diesem Buche nicht vermieden sind, macht es
doch einen sehr wohlthuenden Eindruck. Haupt-
sächlich wohl weil es von einer urbanen Liebens-
würdigkeit durchweht ist, welche die deutsche
Medicin nicht mehr zu kennen scheint. Der
Verf., vollständig seine Materie beherrschend,
920 Gott. gel. Ans. 1873. Stack 23.
giebt allen Autoren jeder Nation ihr gebühren»
des Recht. Leider müssen wir gestehen, dass
der deutsche medicinische Gelehrte fast nur seine
eigenen Forschungen kennt, jedesfalls sie allein
anerkennt, und in höchst fruchtloser, oft wider*
Ucher Polemik sich wohl zu, fühlen scheint.
Der Verf. behandelt die Theorie der Thermo-
metrie, ihren Einfluss auf die Krankheitslehre
und Therapie, und er stellt seinen Gegenstand
in sehr gewandter Weise dar. Er entscheidet
sich für die Messung in der Achselhöhle, und
gewiss mit Hecht. Die Erklärung der pathologi-
schen Temperaturerhöhung ist nach A. nur in einer
Steigerung der physiologischen Wärmequellen zu
suchen. Alle Theorien zur Erklärung der Fieber-
hitze verwirft er als ungenügend , auch das Cen-
trum der Wärmeregulirung im Rückenmark leug-
net er. Dies ist nur dadurch zu erklären, dass
das Buch 1869 geschrieben ist. Die Gesetze,
dass nicht die absolute Höbe der Temperatur,
sondern nur der Gang der Temperatur die Ma-
terialien zur differentiellen Diagnose liefert, sind
klar entwickelt. — Sehr ruhig wird die Einwir-
kung der Heilmittel auf die Fiebertemperatur
geschildert, nur leider die Wirkung der Bäder
viel zu kurz abgethan und zu gering geschätzt
Auch hier muss Ref. gestehen, dass diese ge-
ringe Beachtung gegen die gewaltige Ueber-
schätzung der Bäder, welche sich in der deut-
schen Literatur breit macht, nicht unangenehm
absticht. Dem Chinin schreibt Verf. keine Wir-
kung auf die Temperatur zu, dagegen preist er
den Erfolg der Ipecacuanha, des kohlensauren
Ammoniak und besonders der Digitalis. Es be-
steht hierin eine grosse Differenz mit den deut-
schen Beobachtungen.
Die Uebersetzung ist gut und völlig sach-
verständig. IL
921
G 6 1 1 ingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsiebt
der König]. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 24. 11. Juni 1873
Untersuchungen über das Hofsystem im Mit-
telalter mit besonderer Beziehung auf deutsches
Alpen land. Von Dr. Karl Theodor von Inama-
Sternegg, k. k. o. ö. Professor an der Universi-
tät zu Innsbruck. Innsbruck, Wagnersche Univ.
Buchhandlung 1872. 129 S.
Eine Festschrift zur 400jährigen Jubelfeier
der Universität München. Der Verfasser moti-
virt diese Arbeit damit, dass die neuen histo-
risch-nationalökonomiscben Untersuchungen über
das Agrarwesen eigentlich nur das Dorfsystem
beträfen und entweder theilnahmlos an dem Hof-
system vorübergingen oder demselben, wenn sie
sich auf die Darlegung der nationalökonomischen
Verschiedenheiten der beiden Systeme einliessen,
doch so wenig Bedeutung beilegten, dass sie
höchstens einzelne charakteristische Momente
betonten, ohne im Mindesten ein abgeschlossenes
und erschöpfendes Bild des Hofsystems, seiner
Einrichtung, seines Hechtes und seines örtlichen
und zeitlichen Vorkommens zu geben.
Diese Lücke will er wenigstens für Ein Haupt-
70
922 Gott, gel Anz. 1873. Stuck 24.
gebiet des Hofsystems, das deutsche Alpenland
ausfüllen und hat sich damit eine sehr inter-
essante Aufgabe gestellt, deren Bearbeitung ihm
dadurch erleichtert worden ist, dass die bei der
Kaiserlichen Akademie in Wien niedergesetzte
Commission zur Erforschung der österreichischen
Weisthfimer ihn in Verbindung mit Prof. Zin-
gerle mit der Herausgabe der tirolischen Weis-
tbümer betrauet hatte, womit ihm >eine seltene
Gelegenheit geboten ward, einen tiefen Blick in
das Volksleben jener Zeiten zu werfen, welche
sich in diesen volkstümlichen, lebensfrischen
Aufzeichnungen heimischer Rechts- und Wirth-
schaftszustände so treu und ungeschminkt wie-
derspiegelnc
Die Abhandlung zerfallt in fünf Abschnitte:
1. Das Wesen und der nationalökonomische
Charakter des Hofsystems.
2. Die Berichte des Tacitus über die agra-
rischen Zustande der Germanen.
3. Das Hofsystem in den Zeiten der Volks-
rechte.
4. Die allgemeinen Verhältnisse des Hof-
systems in der zweiten Hälfte des Mittelalters.
5. Das Hofsystem nach den Weisthümern
des deutschen Alpenlandes.
Mit Recht geht der Verfasser davon aus,
dass der Unterschied des Hofsystems vom Dorf-
system nicht bloss in der Einzellage eines Hofes
im Gegensatze zu dem Wohnverband eines Dor-
fes, sondern zugleich in dem arrondirten
Grundbesitz der privativen Ländereien im Gegen-
satze zu der Gemenglage auf den Dorffeldmar-
ken besteht, woraus von selber die Flurfreiheit
(um es kurz so zu nennen) einerseits und der
Flurzwang andererseits*) resultirt. Man wird
*) Durch Aufhebung des Fltmswanges ohne vor-
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 923
nicht Tom Hofsystem sprechen dürfen, wenn die
Landstellen (eines Dorfes) zwar wie Einzelhöfe
auseinander, die dazu gehörigen Ländereien aber
im Gemenge auf der Dorffeldmark untereinander
liegen; eben so noch nicht vom Dorfsystem,
wenn ein arrondirter Hof in zwei oder mehrere
kleine Höfe getheilt worden, deren Gebäude
zwar nahe an einander wie in Dörfern aufge-
richtet worden sind , die aber abgesondert ihre
Ländereien erhalten haben. Selbst wenn in
solchem Falle ein anderer Theilungsmodus statt-
gefunden und eine Gemenglage im Kleinen ent-
standen oder auch von vornherein einige nahe
Hegende Höfe ihr Ackerland nicht gegeneinander
arrondirt besitzen *) ist dieser Zustand doch von
der Feldmarkverfassung eines Dorfes zu unter*
scheiden. Hiebei können freilich die agrarischen
Verhältnisse so gestaltet sein, dass es zweifel-
haft ist, ob man noch den Begriff des Hof-
Bystems festhalten darf oder schon das Dorfsystem
anerkennen muss41*). Klar ist die Situation,
wenn aus einem grossen arrondirten Hofe (Her-
renhof) in Einem Gusse entweder ein ganzes
Dorf mit einer Dorffeldmark gebildet ist, wie
dies im Mittelalter zuweilen vorgekommen ist***)
gängige Fddzusammenlegung und Regulirung der Feld-
wege u. s. w. sind die Uebelstände der alten Gemeng-
lage nur noch verschärft worden.
*) Auf beiderlei Ursprang wird die Erscheinung
zurückgeführt, dass im Münsterlande häufig; zwei Hole
(auch wohl mehrere) »ihr altes Ackerland auf Einem
Esche zusammenliegen haben.
**) Die in Süddeutschland sogenannten Weiler,
welche so häufig in einiger Entfernung von grossen Dör-
fern gefunden werden, können kleine Gruppen von Ein-
zelhöfen oder auch Töchterdörfer sein.
***) Das Umgekehrte, der Uebergang vom Dorfsystem
sum Hofsystem seit dem Ende des Mittelalters freilich
924 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 24.
oder durch Parzellirung eine Reihe abgeschlos-
sener kleiner Höfe entstanden ist, wie bei der
Niederlegung von Domanialhöfen im 18 ten Jahr-
hundert in Dänemark, Schleswig-Holstein u. s. w.
Das Hofsystem ist noch nicht perfect ge-
worden , wenn z. B. ein Rittergut durch
die* Separation (allgemeine Feldzusammenlegung
und Gemeinheitstheilung) zwar einen zusammen-
hängenden Grundbesitz erlangt hat, die Wohn-
und Wirtschaftsgebäude desselben aber im
Dorfe verblieben sind; hier muss der Ausbau
noch hinzutreten.
Eine Schwierigkeit für diese Systematisirung
bereiten auch die zahlreichen, nach flämischen
und fränkischen Hufen gegründeten Colonies,
jene zuerst im 12 ten Jahrhundert in den Bruch-,
Moor- und Marschgegenden der Nieder-Elbe und
Nieder- Weser und dann weiter sich verbreitend
nach Pommern, Schlesien etc., diese theilweise
schon in noch früheren Jahrhunderten in wal-
digen Gebirgsgegenden (daher auch Waldhufen
genannt), wie im Odenwald, im Erzgebirge, in
den Sudeten u. s. w. und dann auch weiterhin
im nördlichen Deutschland angewendet; beide
auch zu Grunde gelegt für die Umgestaltung
altslavischer Dörfer und Dorffeldmarken, nament-
lich in Schlesien ; in dem hier in Betracht kom-
menden Punkte — Anlage der Gehöfte und Län-
dereivertheilung — mit einander übereinstim-
mend. Die einzelnen Hufen einer solchen
Colonie haben ihre gesammte Länderei in
einem langen zusammenhängenden Streifen (das
Maass der alten flämischen Höfe 720 Ru-
then lang und 30 Ruthen breit, die fränki-
viel häufiger: Gründung von HerrenhÖfen durch Niedar-
legung ganzer Dörfer.
Inama-Sternegg, Untersuch, fib. d. Hofsystem. 92S
sehe Hofe von grösserer Breite und geringerer
Länge). Diese Streifen laufen parallel neben-
einander ; die Gehöfte liegen getrennt von einan-
der in Einer fortlaufenden Reihe an der Strasse
entweder am Kopfe eines jeden Streifens oder
so, dass jeder Streifen von der Strasse quer
durchschnitten wird*).
Im Erzgebirge, Odenwald etc. liegen die Ge-
höfte längs des Weges an der Grenze von Acker-
land und Wiese, so dass jedes Gehöft vor sich
thalabwärts seine Wiesen, hinter sich bergauf-
wärts seinen Acker hat, an welchen sich oben
der Waldantheil in der Höhe schliesst; oder
es folgt auf das eigentliche Ackerland zunächst
noch sogenanntes Wildland (Dreeschland etc.)**).
Der Complex von Höfen einer solchen Co-
lonisations-Anlage, welche im Gemeindeverbande
stehen, heisst nun zwar auch Dorf, allein es
fehlen die wesentlichsten Kriterien des Dorf-
systems: Gemenglage und Flurzwang, Jeder hat
seine Feldwege und Viehtrifften für sich u. s. w.;
und die oft stundenlange Einzelreihe der Ge-
höfte schafft doch nicht einen eigentlichen Wohn-
verband. Röscher nennt diese Golonien (wel-
che in Schlesien etwa ein Viertel des Landes
*) Näheres bei Meitzen der Boden und die land-
wirtschaftlichen Verhältnisse des preussischen Staates
I, 356 ff.
**) Die ganz andere Anlage der uralten Einzelhöfe
des nördlichen Westphalens leuchtet auf den ersten An-
blick ein: keine geometrische Eintheilung; statt des re-
gilm&ssigen Oblongs des ganzen Streifens eine irreguläre
estaltung, die einigermassen der Kreisform sich nähern
mag; innerhalb des Hofgebietes je nach den Terrain-
verhältnissen die mannigfaltigste Gruppirung von Acker-
land, Holzgründen, Wiesen, Weiden etc.; die einzelnen
Höfe meist durch (ursprüngliche) Gemeinheitsgründe von
einander geschieden.
926 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 24.
einnehmen) »Uebergangsdörfert. Im Sinne des
Verfassers werden sie noch zum Hofsystem
selbst dann zu rechnen sein» wenn eine gewisse
Weide-Genossenschaft auf den Aeckern, in den
Wald-Antheilen etc. früher stattgefunden haben
sollte oder auch noch stattfindet4'). Es ist z.B.
eine gemeinschaftliche Stoppelweide der Einzel-
höfe denkbar, wenn dieselben, wie hie und da
im Odenwalde nur durch eine Furche oder auch
durch einen Feldweg von einander geschieden
sind **).
Der Verfasser macht, doch wohl in Hinblick
auf seine Alpengegenden, p. 13 die Bemerkung,
dass immerhin auch beim Hofsystem der Flur-
zwang in Betreff der »gegenseitigen Weidebe-
rechtigung auf den ungebauten Feldern c als
AuBfluBS ursprünglicher Feldgemeinschaft be-
stehen könne. Ueber dieses Verhältniss hätten
wir näheren Aufschluss gewünscht. Eine » gegen-
seitige € Weideberechtigung auf den Feldern
setzt voraus, dass diese sich im Privateigenthum
befinden, welches wir bei den dortigen Einzel-
*) Die Colonisation in den Marschen nach flamischen
Hufen kann man am Unbedenklichsten als reines Hof-
system auffassen. Die Frage der Waldgenossenschaft
fallt hier von selber weg. Eben so die Frage einer et-
waigen gemeinsamen Beweidung der Aecker in der Stoppel,
Brache oder Dreesch, da der Ackerstreifen einer jeden Hufe
dnrch breite Entwässerungsgraben von den angrenzenden
Ackerstreifen getrennt ist. Die Graben in den Marschen
vertreten überhaupt die Einfriedigung von Landereien in
anderen Gegenden, z. B. im nördlichen Westphalen.
**) Häufiger freilich sind sie dort durch einen 8 bis
10 Fuss breiten, mit Rasen und Hecken bewachsenen
steinigen Rain gegen einander abgegrenzt« (Landau Ter-
ritorien p. 23). Aehnlich in den Sudeten dnrch Dämme
von, mit Gestrüppen bewachsenen Gesteinen, die bei der
Rodung aus den, das Neuland bedeckenden Felstrümmern
zusammengeworfen worden (Meitzen I, 867).
Inama-Sternegg, Untersuch, fib. d. Hofsystem. 927
höfen für durchgäDgig eingefriedigt hielten, wo-
bei also gegenseitige Weiderechte etc. nicht be-
stehen würden. Nach der Aeusserung des Verf.
scheint es nun aber vorzukommen, dass die
Einzelhöfe ausser ihrem hauptsächlichen einge-
friedigten Grundbesitz noch uneingefriedigte
privative Ländereien haben, die der gemein-
schaftlichen Beweidung wegen (denn doch nur
so können die »gegenseitigen* Weiderechte aus-
geübt werden) unter Flurzwang zu bewirt-
schaften sind. Man ist gezwungen, dabei an
eine, sei es regelmässige, sei es unregelmässige
Feldgraswirthschaft mit gemeinsamer Beweidung
in den Dreeschjahren zu denken. Denn unter
»unbebauten Feldern« kann der Verf. doch nur
die Felder während der Jahre, wo sie nicht be-
baut sind, gemeint haben; diesen Ausdruck für
permanente Weideflächen zu gebrauchen, würde
ganz ungewöhnlich sein, auch existirte ja dann
kein Flurzwang, sondern nur eine Regelung des
Weidebetriebs. Wir werden es hier also ver-
muthlich mit den, auch in mitteldeutschen Ge-
birgsgegenden (z. B. auf dem Hundsrück, im
westphälischen Sauerlande u. s. w.) heimischen
sogenannten Anssenfeldern oder Wildländereien
zu thun haben, die in gleicher Weise vorhanden
sein können bei den, aus Einzelhöfen bestehen-
den Bauerschaften, wie bei den Dorfschaften.
Entstanden sind sie wohl durch Ausscheidung
aus den Markengründen, welche Ausscheidung
ursprünglich nur zur vorübergehenden Acker-
nutzung nach Loosvertheilung unter Conserva-
tion des Ge8ammteigenthum8 vorgenommen wurde.
Ist hier später Privateigenthum entstanden, und
die Vertheilung nicht so vorgenommen, dass Je-
der seinen Antheil einfriedigen und selbstständig
bewirtschaften kann, sondern nach demselben
928 Gott, gel Anz. 1873. Stück 24.
Verfahren wie bei der früheren Loostheilung,
dann bleibt die offene Gemenglage and mit ihr
die Feldgemeinschaft, so dass dieser Theil der
Besitzungen den Anblick von Dorffeldmarken
gewährt. Sind aber die Besitzungen in der be-
treffenden Gegend nach ihrem alten Länderei-
bestand und der Art des Wohnens Einzelhöfe,
dann wird man auch mit dem Verfasser um die-
ses Appendixes wegen nicht das Hofsystem in
Abrede stellen. Von noch durchgreifenderer
Bedeutung ist, dass das Wesen des Hofsystems
nicht alterirt wird durch die Markgenossen-
schaft, welche sowohl für das Hof6ystem als für
das Dorfsystem die historische Grundlage bildet,
da sie überhaupt mit der ersten Gultivirung
zusammenhängt. (Maurer u. A.) — Keineswegs
sind die Einzelhöfe in der germanischen Vor-
zeit durch beliebige Occupationen entstanden,
sondern eben so wie die Dorffeldmarken, nur
nach einer anderen Art der Acker- Vertheilung,
von der grossen Markgenossenschaft aus. Sind
auch die späteren Marken nur Trümmer der
alten grossen, so lässt es sich doch insbesondere
von Westphalen nachweisen, dass mehrere
Bauerschaften (Complexe von Einzelhöfen) so
gut wie mehrere Dorfschaften an derselben
grossen Mark betheiligt waren. Es war der
natürliche Gang der Entwicklung, dass in den
meisten Gegenden die Marken allmählig so weit
getheilt wurden, dass jede Dorfschaft oder jede
Bauerschaft ihren Marken-Antheil als ein neues
Ganze für sich ausgeschieden erlangte und dass
schliesslich diese spezifirten Marken zur Privat-
vertheilung unter die Dorf-Interessenten, resp.
unter die Einzelhöfe gelangten. Aber bis auf
die neuere und neueste Zeit beruhete in West-
phalen die wirtschaftliche Existenz auch der
Inama-Sternegg, Untersuch. üb. d. Hofsystem. 929
Einzelhöfe ganz wesentlich auf der Marken-
Nutzung, fast mehr als auf dem privaten und
arrondirtem Grundbesitz an Aeckern. Denn die
Marken ernährten die Schafe und das Jungvieh,
ermöglichten die Bienenzucht , lieferten die
Plaggen für die Acker-Düngung, in ihren Wal-
dungen ausser Bau-, Nutz- und Brennholz Vieh-
weide und Eicheln und Bucheckern für die
Herbstma8tung der Schweine; endlich auch das
Heu zur Winterfütterung, da die meisten Wie-
sen Harkengründe waren.
Ein abstract reines Hofsystem, wie es z. B.
im Westen der vereinigten Staaten Nordameri-
kas von vornherein durch die Ausweisung der
Staats-Ländereien entsteht (einzufriedigende Qua-
drate von bestimmter Grösse), so dass kein Be-
sitzer in irgend einer agrarischen Beziehung zu
seinen Feldnachbarn und überhaupt nach aussen
steht, hat es ursprünglich in Deutschland sicher-
lich nicht gegeben. Wo wir Einzelhöfe im vol-
len Sinne des Wortes finden, sind sie später ent-
standen, z. B. durch Niederlegung von Dörfern
zu Gutshöfen oder durch okkupatorische oder
bewilligte Waldrodung und Urbarmachung
eines einzelnen Ansiedlers oder durch die neue-
ren Separationen (Verkoppelungen), wenn diese
zugleich zum Ausbau aus den Dörfern führten.
Als erste natürliche Veranlassung zum Hof-
system im deutschen Alpenland hebt der Ver-
fasser, der hierbei speciell Tyrol und Salzburg,
auch Südbaiern vor Augen hat, die dortigen
Terrainverhältnisse hervor. Die Menge der ab-
solut unfruchtbaren und uncultivirbaren Stellen,
die vielen nur zu einseitiger Bewirtschaftung
geeigneten Gründe — absolute Weideplätze,
71
930 Gott gel. Abz. 1873. Stück 24.
absoluter Waldboden — sind eben so viele na-
türliche Productionshindernisse , die aber nicht
beisammen liegen, sondern die einzelnen Stücke
artbaren Landes trennen, welche keinen hin-
länglichen Raum fur die Gründung von Dorf-
feldmarken gewähren. Hieran schliesst sich als
hauptsächliches wirtschaftliches Motiv, dass die
Erleichterung der Gultur durch das Zusammen-
liegen von Hofstätte und - Ackerland im Gebirge,
wo die Natur derselben so viele Hindernisse
entgegengestellt, von besonderer Wichtigkeit ist
» Während die mit der Gemenglage der Felder
nothwendige Arbeitsverschwendung*) in derka-
*) Von den vielen sonstigen Nachtheilen der Ge-
menglage berührt der Verf. in einem anderen Satze noch
die mit der Gemenglage unvermeidliche Bodenverschwen-
dung an Grenzen und Feldwegen. Dies ist richtig in
Bezug auf die vielen Grenzfurchen (oder Raine in man-
chen Gegenden) zwischen den einzelnen Stücken in den
Gewannen, nicht aber in Bezug auf die Feldwege. Viel-
mehr charakteri8iren sich die alten Dorffeldmarken durch
einen auffallenden Mangel an Wegen. Die Gewanne
stossen sehr häufig unmittelbar quer auf einander und
sehr viele Gewanne haben in ihrer eingeklemmten Lage
gar keine selbstständige Zukömmlichkeit. Daher die vie-
len Wegeservituten auf dem Ackerland, das Wenderecht
oder Trapprecht auf den Anwandäckern. Der Flurzwang
machte durch die Uebereinstimmung in der Rotation, in
der Zeit der Feldbestellung und Erndte auf den sämmt-
lichen eine (ökonomische) Flurabtheilung bildenden Ge-
wannen, in dem Anfang und Ende der Feldweide (—
ähnlich bei der Wiesennutzung) den an sich sehr schäd-
lichen Mangel an Feldwegen in früheren Zeiten bei der
einfachen Cultur weniger fühlbar. Bei den Feldzusam-
menlegungen müssen ganz erhebliche Flächen für das
neue Setz von Wegen und Entwässerungsgräben auf der
reformirten Feldmark vorab von den bisherigen Aeckern
entnommen werden (etwa 3 bis 5 Proc). Dem gegen-
über steht aber der meist eben so grosse Landgewinn
durch das Einziehen so vieler Grenzfurchen oder Raine.
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 931
pitalarmen Zeit des Mittelalters unter den gün-
stigeren Bedingungen des flachen Landes nicht
nachtheilig empfunden wurde, musste der Ge-
birgsbewohner, der zu allen Zeiten einen viel
härteren Kampf um das Dasein mit der Natur
zu kämpfen hatte, immer von dem Bestreben
geleitet sein, durch möglichste Concentration
seiner Arbeitskraft das zu ersetzen, was ihm
an Gunst der ökonomischen Lage versagt war«.
(p. 10). Ferner:
»Ein weiteres Hauptmotiv des Hofsystems in
den Alpen ist die dadurch gewonnene Möglich-
keit, bei der Wahl und Durchführung einer Be-
triebsweise sich den Anforderungen jeder Oert-
lichkeit, den Eigenschaften jedes Grundstückes
und endlich auch den Bedürfnissen der eigenen
Wirthschaft so wie den Konjunkturen des Mark-
tes viel besser und vollkommener anschmiegen
zu können, während bei Gemenglage höchstens
der Ge8ammtgemeinde , aber nicht dem einzel-
nen Grundbesitzer die Möglichkeit einer freien
Wahl des Wirthschaftsbetriebes offen steht.
Und besonders das für natürliche Viehzucht-
Standorte so wichtige Element jeder Landwirt-
schaft, die Wiese, der Futterbau und die Weide,
kann bei der Gemenglage nicht leicht von dem
Einzelnen , entsprechend seinem wechselnden
Viehstand beliebig erweitert oder vermindert
werdenc (p. 15. 16). Sehr richtig, nur dass
diese wirthschaftlichen Bücksichten nicht die
primitive Hofansiedelung in den Alpengegenden
bewirkt haben können, sondern das Motiv für
späteren Uebergang vom Dorfsystem zum Hof-
system gewesen sind, wie derselbe in den letz-
ten 3 Jahrhunderten in grosser Ausdehnung im
Allgäu ausgeführt worden. —
Bekanntlich ist die Feldgraswirthschaft in
71*
932 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
den eigentlichen Alpengegenden vorherrschend.
Der Verfasser erklärt dies nicht bloss ans der
Naturbeschaffenheit und Lage der Ländereien*)
und den Bedürfnissen der überwiegenden Vieh-
wirthschaft, sondern auch aus dem Hof-
system selber, (p. 17). Die Feldgraswirth-
sch&ft finde hier eine der ersten Voraussetzun-
gen ihres Betriebes vor: zusammenhängende
Flächen, arrondirten Grundbesitz, wofür der
Flurzwang beim Dorfsystem doch keinen vollen
Ersatz biete. Ein innerer Grund sei auch wohl
darin zu finden, dass Feldgraswirthschaft voll-
kommen (oder doch vollkommener) durchgeführ-
tes Privateigenthum voraussetze, dieses aber bei
separirtem und arrondirtem Grundbesitz der
Höfe doch eher vorhanden sei, als bei der Ge-
menglage des Dorfsystems. Daraus erkläre sich
auch die Thatsache, dass auch anderwärts 'mit
dem Hofsystem thatsächlich in der Regel die
Feldgraswirthschaft auftrete, ja dass sogar im
Gefolge der neueren Arrondirungen und Ver-
einödungen die Feldgraswirthschaft an Stelle
der früheren Dreifelderwirthschaft eingeführt
worden. Hiermit hängt folgende Aeusserung in
einer Anmerkung p. 18 zusammen: »Selbst
Hanssen, der im Allgemeinen den Zusammenhang
von Hofsystem und Feldgraswirthschaft bestrei-
tet, (Tüb. Ztschr. 1865 p. 79 ft.) kann doch
nicht umhin, eine Reihe von Thatsachen zu
verzeichnen, welche mit dem oben (vom Verf.
*) »Je leichter in Folge hohen Feuchtigkeitgrades
oder sonstiger natürlicher Umstände die Berasung des
Ackers sich vollzieht, desto reiner tritt auch im Ge-
birge eine regelmässige schlagmassige Feldgraswirth-
schaft auf; so häufiger auf Schiefer-, als auf Kalkgebirge,
häufiger auf der Schatten-, als auf der Sonnenseite der
von West Dach Ost laufenden Thälerc (p. 18).
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofeystem. 933
im Texte) ausgesprochenen Urtheil übereinstim*
men (z. B. a. a. 0. 1865 p. 73. 1868 p. 497.
512). Ja, an einzelnen Stellen nimmt er sogar
diesen Zusammenhang doch wieder als etwas
Selbstverständliches an. (a. a. 0. 1868 p. 509.
512)«.
Die Citate beziehen sich auf die, in der
Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft
artikelweise veröffentlichte (noch nicht been-
digte) Abhandlung: »Zur Geschichte der Feld-
systeme in Deutschland t. Nach der Aeusserung
des Verfassers müsste ich hinsichtlich des frag-
lichen Punktes zuerst einen theoretischen Satz
a priori aufgestellt haben und hinterher durch
die Macht der selbst angeführten Thatsachen
gezwungen gewesen sein, ihn wieder zurückzu-
nehmen. Nun heisst es aber a. a. 0. 1865
p. 78 : »Mit diesem Gegensatze des Wohnens und
Wirthschaftens ( — auf Einzelhöfen und in Dör-
fern — ) bringen Viele die Dreifelderwirtschaft
und die Feldgraswirthschaft in einen derarti-
Sen nothwendigen Zusammenhang,
ass erstere der Dorfwirthschaft, letztere der
Einzelwirtschaft eigenthttmlich sein solle«
Diese Anschauung habe ich als grundfalsch
widerlegt und historisch-statistisch nachgewiesen,
dass weder die Dreifelderwirthschaft (oder Zwei-,
Vierfelderwirthschaft etc.) der Dorfansiedelung
noch die Feldgraswirthschaft der Hofansiedelung
gewissermassen anklebt. Alle in den einzelnen
Artikeln angeführten Thatsachen bestätigen die-
sen Satz, den ich mit keiner Silbe späterhin
modificirt habe, wie der Verfasser missverstand-
lieh herausgelesen hat.
Um einen inneren nothwendigen Zu-
sammenhang handelt es sich hier und dieser
muss entschieden gelaugnet werden. Ich will
934 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
hier nur wenige Beispiele aus den verschieden«
sten Gegenden in Erinnerung bringen. Vor der
Separation trieben die holsteinischen Bauern die
Feldgraswirthschaft unter Gemenglage und Flur-
zwang auf ihren im Privateigenthum befindlichen
Feldern, die wirtschaftlich zu grossen Dorf-
koppeln vereinigt waren, gleicher Weise wie die
Gutsherren auf den arrondirten Höfen, oder wie
sie selber sie jetzt auf ihren Privatkoppeln bei
völliger Freiheit betreiben, von einer weiteren
Ausbildung und Entwickelung des Systems na-
türlich abgesehen. Die Feldgraswirthschaft setzt
daher nicht nothwendig arrondirten Privatbesitz
voraus. Allerdings kann der Einzelne bei Ge-
menglage auf der Dorffeldmark sie nicht nach
eigenem Belieben, unabhängig von den Anderen
treiben, aber der Flurzwang schafft ja eben zu-
sammenhängende grosse Weideflächen während
der Dreeschjahre. Dass, wie der Verfasser sagt,
der Flurzwang des Dorfsystems der Feldgras-
wirthschaft keinen vollen Ersatz fur arrondirten
Privatbesitz bietet, ist richtig, gilt aber eben
so wohl für die Dreifelderwirtschaft, (oder eine
andere Felderwirthschaft), die gleichfalls auf
einem unabhängigen Einzelhof zu grösserem
Bruttoertrag mit geringeren Kosten durchgeführt
werden kann, als in der Gemenglage auf den
Dorffeldmarken.
Die Feldgraswirthschaft setzt nicht {einmal
agrarisches Privateigenthum überhaupt voraus.
Von ihrem Betriebe bei Gesammteigentbum auf
den Dorffeldmarken unter Gemenglage der
Loosantheile und Flurzwang haben sich die
Reste bis auf unsere Zeiten erhalten. So
wurde bis Anfang dieses Jahrhunderts auf
den Dorffeldmarken an der Nord Westküste
von Schleswig und auf den Dorfieldmarken der
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 935
gegenüberliegenden nordfriesischen Geestinseln
die Hauptmasse der Länderei (Vongland) im
Gesammteigentbum feldgraswirthscbaftlich in der
Weise genutzt, dass den Einzelnen nach ihren
ideellen Antheilen Streifen (in Gemenglage) auf
einige Jahre zum Getreidebau durch das Loos
überwiesen wurden, worauf dieses Land wieder
eine weit längere Reihe von Jahren als gemein-
schaftliche Weide diente und eine andere Strecke
aufgebrochen ward. Und noch jetzt werden auf
manchen gehöferschafüichen Feldmarken des
Hundsrücks die — im Gesammteigenthum be-
findlichen — sogenannten Wildländereien auf
Grund der Verloosung in Gemenglage nach
Feldgraswirthschaft, nur in geregelterer Weise
betrieben. —
Eben so wenig aber als die Feldgraswirth-
schaft ist die Dreifelderwirthschaft durch das
Sondereigenthum bedingt. Denn die zuletzt er-
wähnten Feldmarken kannten bis vor wenigen
Jahrzehnten (resp. Jahren) das Sondereigenthum
auch noch nicht an dem eigentlichen, den Dör-
fern näher gelegenen permanenten Ackerlande
und dieses war der Dreifelderwirthschaft unter-
worfen. Hier finden wir also auf einer und der-
selben Feldmark (und zwar bei Gesammteigen-
thum) unter Gemenglage und Flurzwang neben-
einander Dreifelderwirthschaft und Feldgras-
wirthschaft, und dasselbe Nebeneinanderbestehen
beider Wirtschaftssysteme finden wir auch
sonst in vielen Gebirgsgegenden, z. B. bei den
Dorfschaften des Allgäus, wo wenigstens das
permanente Ackerland längst in Sondereigenthum
übergegangen war und meistens auch wohl schon
die Aussenfelder. —
Ein Beispiel nach der anderen Seite hin.
Beim Hof system auf dem Erzgebirge hat
936 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 24.
ebenfalls die Dreifelderwirtschaft auf den nähe-
ren, die Feldgra8wirth8cbaft auf den ferneren
Ländereien eines und desselben Grundbesitzes
Fuss gefasst. Das Hofsystem an sich oder das
Dorfsystem an sich hat also weder mit der
Dreifelderwirtschaft noch mit der Feldgras-
wirthschaft eine organische Verbindung. — In
den ebenen Gegenden von Sachsen und Deutsch-
land überhaupt u. A. auch in Mecklenburg
wurde bekanntlich noch im vorigen Jahrhunderte
und darüber hinaus exclusiv Dreifelderwirt-
schaft eben so wohl auf damals schon arrondir-
ten Höfen, als auf den Dorffeldmarken getrie-
ben. Wo man nun entweder schon früher freie
Hand auf arrondirtem Hofe hatte oder durch
die Separation aus den Fesseln der Gemenglage
und des Flurzwangs erlöst ward, ist man aus
der abgelebten Dreifelderwirtschaft z. B. in
Mecklenburg zur Feldgraswirthschaft, in den
Ebenen von Sachsen u. s. w. zur Fruchtwechsel-
wirthschaft mit Stallfütterung übergegangen und
hat zu der einen wie zu der anderen Procedur
seine guten Gründe gehabt. Im sächsischen
Erzgebirge verliert die Feldgraswirthschaft an
Terrain auch beim Hofsystem, im Allgäu ge-
winnt sie an Terrain mit weiterer Verbreitung
des Hofsystems durch die sogenannten Verein-
öd un gen. Der »vereinödete« Allgäuer Bauer
aber greift doch nicht deshalb zur Feldgras-
wirthschaft, weil er den Einzelhof erlangt hat,
sondern er erstrebt, abgesehen von dem allge-
meinen hohen . wirtschaftlichem Werthe der Se-
parirung, den Einzelhof, weil er eine gehobene
Feldgraswirthschaft treiben will, welche über
dem Dorfbetrieb der Dreifelderwirtschaft fund
einer etwaigen ungeregelten Feldgraswirthschaft
auf den ferneren Feldern) steht, zu weloher
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 937
aber den allgemeinen Uebergang im Dorfbetriebe
zn erreichen fast unmöglich ist*), und sollte es
dazu kommen, so ist der Einzelne von der
neuen Feldrotation des Dorfes wegen der Ge-
menglage eben so abhängig, wie früher von der
alten.
In England ist' man nach Auflösung der al-
ten Dorffeldmarken und nach erlangter Arron-
dirung von der Dreifelderwirtschaft in einigen
Grafschaften zur Feld gras wirthschaft übergegan-
gen, in anderen dahingegen zur Fruchtwechsel-
wirthschaft (ich erinnere nur an die weite Ver-
breitung der sogenannten Norfolker Vierfelder-
wirthschaft) woneben dann permanente Kunst-
weiden auftreten; auch sind beide Systeme in
derselben Gegend nach der starken Individuali-
sirung der Wirtschaften vertreten.
Man könnte also eben so gut von einem Zu-
sammenhange zwischen Hofsystem und Frucht-
wechselwirtbschaft als zwischen Hofsystem und
Feldgraswirthschaft sprechen, beides aber würde
gleich unrichtig sein. —
Wie es nun nach dem Verf. mit dem Zu-
sammenhange zwischen Hofsystem und Feld-
graswirthschaft, oder zwischen der Art der An-
siedelung und den Wirtschaftssystemen über-
haupt sich eigentlich verhalten soll, ist uns aus
*) Ditz erzählt in seiner Geschichte der Vereinödung
im Hochstift Kempten (Kempten 1865) einen, auch vom
Verf. kurz berührten Vorgang, wie eine Dorfschaft 1710
den Anlauf nimmt, insgeeammt ans der Dreifelderwirth-
ßohaffc zur Feldgraswirthschaft versuchsweise auf 9 Jahre
in der Art überzugehen, dass das p. t. Brachfeld auf 3
Jahre zur Weide liegen bleiben und die beiden anderen
Felder vom Flurzwange (trotz der bleibenden Gemeng-
lage) befreiet werden sollten. Nur die sofortige durch-
greifende Vereinödung hätte hier gründlich helfen kön-
nen. —
938 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
seinen erwähnten Aeusserungen in Verbindung
mit anderen hieher gehörigen Stellen der Ab-
handlung nicht klar geworden. Vorher hatte er
auf p. 17 selber berichtet, dass bei dem Hof-
8y8tem im Allgemeinen eine viel grössere Man-
nigfaltigkeit der Betriebsweisen als beim Dorf-
system gefunden werde, insbesondere sei reine
Feldgraswirthschaft mit dem Hofsysteme in den
Alpen nicht nothwendig verbunden;
ewige Wiesen fanden sich eben so gut wie per-
manentes Ackerland und letzteres werde dann
und wann auch wohl nach zwei-, drei- oder vier-
feldrigem Turnus behandelt. Hiermit harmonist,
nachdem gezeigt worden, warum factisch die
Feldgraswirthschaft daselbst prävalirt, was p. 19
unten steht : »Daraus nun erklärt sich wohl zur
Genüge das häufig gleichzeitige Auftreten von
Hofsystem und Feldgraswirthschaft, ohne dass
sie deshalb nothwendig mit einander
verbunden wärest. Also kein not-
wendiger Zusammenhang. Dann wäre
des Verfassers Polemik gegen mein Abläugnen
dieses notwendigen Zusammenhanges gegen-
standslos. Pag. 39 sagt er jedoch (nach seiner
unten zu berührenden Interpretation von cap. 26
der Germania), dass ein gewisser innerer
Zusammenhang zwischen den Besitz- und
Bewirthschaftungsverhältnissen nicht zu läugnen
sei. Und endlich lesen wir p. 42 folgendes:
»Mag auch immerhin Hanssen Recht haben,
dass das Wirtschaftssystem weder durch die
Verschiedenheit des Wohnens in Dörfern oder
auf Einzelhöfen noch durch die Agrarverfassung
mit Notwendigkeit bestimmt wird, so geht er
doch zu weit, jeden Zusammenhang zu läugnen;
die Kegeln gemeinsamen Auftretens, wie sie
Koscher entwickelt, werden ja dadurch nicht
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 939
schon beseitigt, class Ausnahmen von denselben
sich wiederholt nachweisen lassen c
Hier steht nun Anfang und Ende in offen-
barem Widerspruch; jener Satz kann nicht zu-
gleich richtig und unrichtig sein.
Der Verfasser hat sich von der früheren An-
schauung Boschers leiten lassen, welcher noch
in der vierten Auflage seiner Nationalökonomik
des Ackerbaus (Stuttgart 1865) p. 75 sagt, die
Feldgraswirtbschaft setze in der Regel ein voll-
kommen durchgeführtes Privateigentum des
Bodens voraus, daher sie zumTheil unvordenk-
lich in solchen Gegenden, wo die Bauern ge-
schlossene Einzelhöfe bewohnen, gefunden werde,
und fügt dann p. 76 in einer Anmerkung hinzu:
»Nur eine Ausnahme scheint es, wenn auch die
Feldgraswirthschaft mit Gemengebesitz und Flur-
zwang verbunden gewesen; so z. B. in Hol-
stein: Haussen, Aufhebung der Leibeigenschaft
in Schleswig-Holstein, 1861 S. 69 ff.c Allein Rö-
scher selber hat sich später durch die ihm ge-
machten Einwendungen von der Unrichtigkeit
seiner Auffassung, als ob hier Regel und Aus-
nahme gegenübergestellt werden könnte, über-
zeugt und schon in der 5ten Auflage (Stuttgart
1867) p. 79 den betreffenden Passus im Texte
sammt der Anmerkung weggelassen. —
Geschichtlich geht der Verfasser bis auf die
Nachrichten in Gap. 16 und 26 der Germania
zurück, mit welchen sich nun schon so viele
Philologen, Historiker und Nationalökonomen
abgemüht haben, ohne dass eine Einigung des
Verständnisses erzielt ist. Dies wird auch
schwerlich je gelingen, nicht bloss weil die ge-
drängte Schreibweise des Tacitus gerade in die-
ser Materie das Verständniss erschwert, sondern
vornehmlich, weil Tacitus selber es nicht zu
"1
940 Gott. gel. Ans. 1873. Stück 24.
einem hinlänglich klaren Verständniss des ger-
manischen Agrarwesens gebracht hat, was um
so weniger zu verwundern ist, als manche un-
serer gelehrten Zeitgenossen agrarische Institu-
tionen, die noch bis vor Kurzem bestanden oder
noch jetzt bestehen , ungeachtet ausfuhrlicher
Schilderungen oder des Augenscheins selber irrig
auffassen. Erwägt man aber, was Alles aus den
erwähnten Stellen heraus oder in dieselben
hineinpretirt worden, so sollte man fast wün-
schen, Tacitus hätte uns dieses Vermächtniss
gar nicht hinterlassen. Denn in der That liegt
die Sache so, nicht class Tacitus die eigentliche
Quelle unserer Belehrung über das Agrarwesen
der germanischen Vorzeit ist, wodurch uns die
mittelalterlichen Quellen u. s. w. verständlicher
werden, sondern dass wir suchen müssen, so
weit wir damit kommen können, aus unserer
Eenntniss der mittelalterlichen Quellen und der
noch conservirten Ueberbleibsel althistorischen
Agrarwesens einen Sinn in Tacitus hineinzu-
bringen.
Gap. 16 handelt von der Art der Ansie-
delung.
Cap. 26 von der Landnahme, Landver-
theilung und Landnutzung. Ans der Fassung
von Cap. 16 geht dem Verfasser (mit manchen
Anderen, womit auch Ref. übereinstimmt) her-
vor, dass Tacitus sowohl von der Hofansiede-
lung, als von der Dorfaußiedelung der Germa-
nen Kunde gehabt, wenn er auch nicht näher
berichtet, auf welche Stämme, resp. Gegenden
das Eine oder Andere sich bezieht.
Cap. 26 beginnt mit der gemeinschaftlichen
Inbesitznahme der alten grossen Marken. Hier-
auf würden wir in Hinblick auf Cap. 16 Bericht
erwarten dürfen, wie innerhalb der Markgenossen-
Inama-Sternegg, Untersuch, üb* d. Hofsystem . 941
schaft das Agrarwesen verschieden sich gestaltete
1'e nach der Austheilung von separirtem Acker-
ande zu Einzelhöfen und je nach der Einrich-
tung ron Dorffeldmarken mit Gemenglage und
Flurzwang. Hierüber erhalten wir aber nur
ganz ungenügende, unklare, in einander ver-
flochtene Andeutungen, die theils auf das Hof-
system, theils auf das Dorfsystem bezogen wor-
den sind. Der Verfasser indessen macht, wenn
der Ausdruck gestattet ist, »rein Hause für das
Hofsystem, welches er hier ausschlieslich ge-
schildert findet. Nach einer ausführlichen Inter-
pretation der Stelle kommt er p. 38 zu folgen-
dem Abschlüsse: »Die Schilderungen des Taci-
tus stehen der Annahme eines ursprünglichen
Hofsystems nicht nur nicht entgegen, sondern
lassen sogar in ihrem ganzen Umfange eine Be-
ziehung auf die germanischen Ansiedelungen zu,
welche hofweise vor sich gegangen sind. Bald
nach erfolgter Ansiedelung durch einen genos-
senschaftlichen Verband wurde die ganze Feld-
mark getheilt, wodurch jeder Hofbesitzer zu
einem der Hauptsache nach arrondirten Grund-
besitz kam und ihn selbstständig bewirtschaftete.
Ueber das Verbleiben eines ungeteilten Ge-
meinlandes und Gemeinwirth8chaft finden sich
keine Spuren und sind wir daher zu der An-
nahme berechtigt, dass der Gemeindeverband
vorzugsweise nur als Verband der Sippe und
der Waffengenossenschaft bestand, während ein
wirtschaftlicher Verband höchstens in den An-
fangen nachzuweisen ist (genossenschaftliche
Occupation) und jedenfalls noch ohne nam-
hafte Bedeutung für das Wirtschaftsleben im
Ganzen c.
Wenn Tacitus nicht mehr sagen wollte oder
konnte, als Dieses, so würden wir nur um so
942 Gott, gel Adz. 1873. Stück 24.
geringere Gesammt-Kunde vom altgermanischen
Agrarwesen durch ihn erlangen.
Es fehlt dann zunächst die Markgenossen-
schaft der Einzelhöfe, da, nachdem die Occupa-
tion noch genossenschaftlich ausgeführt worden,
hernach die agrarische Gemeinschaft aufgehört
oder wenn etwa irgendwie fortgesetzt, auf lange
hin keinen rechten Effect gehabt haben soll.
Und warum? »Weil Tacitus an keiner Stelle
weder von einer Regelung einer solchen Gemein-
benutzung (der Marken) spricht, noch von eige-
ner wirtschaftlicher Verwaltung durch die Ge-
meinde oder ihre Organe. Auch hören wir ja
nichts von einer Abgrenzung der Mark, welche
daher eine unbestimmte Grösse gewesen sein
muss; wohl der Einzelne, der den Nutzen da-
von zog, nicht aber die Gemeinde hatte also
an der Mark Interesse und so erscheint auch
in dieser Auffassung*) das Gemeinland als ein
nicht berührenswerthes, vielleicht gar nicht äusser-
lieh hervorgetretenes und daher auch nicht be-
obachtetes Verhältnisse (p. 37 unten und 38
oben). Ungeachtet der genossenschaftlichen
Occupation soll die Genossenschaft nachher um
ihre gemeine Mark nicht weiter sich gekümmert
haben, da die »einzige Benutzungsweise dersel-
ben die durch die einzelnen eultores und zwar
unbestimmt und unbegrenzte gewesen (p. 37
Mitte). Also in der ältesten Zeit beliebige
Privatnutzung der Marken durch die Einzelhöfe,
jeder lässt sein Vieh für sich weiden wo er will
und wie viel er will, mäht Gras wo und wie
viel ihm gut dünkt und die Marken selber nicht
*) Es bandelt sich um die verschiedenen Auffassun-
fen von agri in der Taciteischen Stelle, die aber dem
erfasser for das fragliche Verhältnis dasselbe Resultat
geben.
Inama-Stemegg, Untersuch, ab. d. Hofsystem. 943
abgegrenzt gegen einander, mithin eigentlich keine
Marken, zu herrenlosem Lande zerfliessend,
was bald einen Krieg omnium contra omnes
hervorgerufen haben würde. Und späterhin erst,
etwa im frühen Mittelalter ein Wiederaufleben
der primitiven Genossenschaftlichkeit und Con-
stituirung des markgenossenschaftlichen Nutzungs-
verbandes 1 Und das zu glauben, sollen wir
durch Tacitus oder vielmehr durch die Inter-
pretation seiner dunklen Mittheilung gezwun-
gen sein!
Pag. 74 aber sagt der Verfasser selber im
vollen Widerspruch mit dem, was er im Tacitus
gefunden: »Da die Ansiedelung immer ge-
schlechterweise vor sich gegangen, so war eine
ursprüngliche und fortdauernde Markgenossen-
schaft damit schon gegeben« und fügt weiterhin
erläuternd hinzu, der Unterschied zwischen Hof-
und Dorfsystem bestände (nämlich ad hoc) nur
darin, dass beim Hofsystem die Genossenschaft
meist nur auf Weide und Wald sich beschränke
und die allgemeine Feldgemeinschaft des Dorf-
systems fehle. Sehr richtig, aber was ist dann
mit der ganzen Interpretation erreicht worden?
Diese Interpretation beseitigt ferner jede,
wenn auch noch so entfernte Andeutung der
Dorffeldmarken mit der Feldgemeinschaft aus
der Germania und auch damit ist nichts gewon-
nen, weil nach allen neueren Untersuchungen
das Dorfsystem die durchgreifende primitive Art
der Ansiedelung bei den germanischen Völkern
(und nicht bloss bei diesen, ebenso bei den
skandinavischen, slavischen, celtischen) gewesen
und die Niederlassung nach Einzelhöfen pri-
mitiv auf wenige Gegenden sich beschränkt
hat (Innerhalb der Germania des Tacitus muth-
masslich auf das nördliche Westphalen und
944 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 24.
einen Theil des Niederrheins). .Der Verfasser
freilich scheint, obwohl er jenen Untersuchungen
in der Einleitung seine Anerkennung nicht Ter-
sagt, doch die Ergebnisse derselben zu bezwei-
feln: praeoccupirt, wie man fast vermuthen
möchte, durch ßeine auf allgemeines Hofsystem
hinzielende Interpretation der Taciteischen Stelle,
übrigens des Näheren geleitet durch folgende
Auffassung: Er stimmt Denen (u. A. auch dem
Referenten) bei, welche in der Germania noch
keine Dreifelderwirthschaft finden, sondern das
Arva per annos mutant etc. auf eine primi-
tive Feldgraswirthschaft deuten. Da er nun an
einen Zusammenhang zwischen Feldgraswirth-
schaft und Einzelhöfen einerseits und zwischen
Dreifelderwirthschaft und Dorffeldmarken (mit
Feldgemeinschaft, Gemenglage, Flur2wang) an-
dererseits glaubt, so ist für Tacitus Zeiten mit
der Dreifelderwirthschaft auch die Feldmarkver-
fassung der Dörfer nach ihm zu bezweifeln.
»Die festere Ordnung des Dreifeldersystems
wird eher da Bedürfniss 6ein, wo Gemenglage
stattfindet, als- bei arrondirtem Besitz, die Un-
regelmässigkeit einer primitiven Feldgraswirth-
schaft dagegen dürfte bei Gemenglage kaum
häufige Anwendung erfahren haben«, (p. 39 unt.*).
»Was endlich Feldgemeinschaft und Flur-
zwang betrifft, so haben wir schon gezeigt, dass
die strammeren Regeln der Dreifelderwirthschaft
dieselben viel leichter, als die unregelmässige
Wechselwirthschaft ermöglichten, daher wir auch
*) Damit harmonirt wieder nicht recht, daps nach
p. 41 (Mitte) die (damalige) Feldgraswirthschaft eben so
gut als allgemein freiwillig, gewissermassen naturnotu-
wendig durchgeführt zu denken sei, als »durch genos-
senschaftliche Anordnung«. Letztere «etat Gemenglage
voraus.
Inama-Sternegg, Untersuch, üb\ d. Höfsystem. 945
an diese Verhältnisse in der Zeit des Tacitus
nicht recht glauben mögen«, p. 42 *). Und eben
daselbst ein dritter Satz : »Erst, nachdem durch
dichtere Bevölkerung und näheres Zusammen-
rücken der Höfe ein Bedürfniss nach Regelung
sowohl der Weide als auch der Marknutzung
entstanden war, mögen auch allgemein verbind-
liche Normen über die Feldbestellung aufge-
kommen sein« u. s. w.
Man sieht, wohin auch in der Geschichts-
wissenschaft die unklare Auffassung rein reali-
stischer Verhältnisse führen kann. — Es ge-
winnt hiernach den Anschein, als ob der Ver-
fasser die ältere, für hinlänglich widerlegt ge-
haltene Auffassung theile, dass der Wohnverband
der Dörfer erst später durch ein Zusammen-
rücken von Einzelhöfen und, da letztere ihre
Aecker jeder bis dahin für sich hatten, folge-
recht auch die Feldmarken der Dörfer erst durch
ein Untereinanderwerfen der Hofländereien zur
Oemenglage mit Flurzwang entstanden sind. Aber
schon wenige Seiten weiter finden wir die ent-
gegengesetzte richtige Vorstellung adoptirt: pag.
45, wo der Verf. rechtfertigt, dass er den Aus-
gangspunkt seiner geschichtlichen Untersuchung
erst von Tacitus und nicht von Caesar (de bell.
Gall. VI, 22) genommen, indem letzterer noch
keinerlei Aufschluss über die hof- oder dorf-
weise Ansiedelung gebe. »Denn es ist klar,
dass hier nur von einer inneren Vertheilung des
Gebietes einer Völkerschaft an die einzelnen Ge-
schlechtergenossenschaften die Rede ist, von de-
nen jede für sich die Bevölkerung einer künf-
tigen Dorf- oder Hofgenossenschaft**) bildete.
*) Die Confusion, aus welcher diese Satze entspran-
gen, ist implicite schon oben nachgewiesen worden.
**) Bauerschaft würden wir für eine Genossenschaft
von Einaelhöfen sagen.
72
946 Gott. gel. Anz. 1873. Stück
l
24.
Sobald das Wanderleben der Germanen auf-
hörte, wie es die Noth zu Zeiten Caesars mit
sich brachte und eine dauernde Seashaftigkeit
eintrat, wie wir sie zu des Tacitus Zeiten fin-
den, konnte Beides erfolgen; der ganze ager,
welchen die magistrates et principes, nan zum
letzten Male, den gentibus cognationjbusqne
hominum, qui una coierunt attribuunt, konnte
dorfweise oder hofweise von diesen besiedelt
werden und ist es auch in der That ge-
wordene. Ob Caesar noch ein eigentliches
Wanderleben germanischer Völker oder den
Wechsel der Feldmarken unter den gentibus
und cognationibus innerhalb des Gebietes eines
im Ganzen schon sesshaften populus vor Augen
gehabt, kommt hier nicht weiter in Betracht*).
Genug, class der Verfasser hier anerkennt, dass
die dorfweise Besiedelung ebenso primitiv ist
als die hofweise Besiedelung. In Ueberein-
stimmung hiemit nimmt er p. 100 eben so wohl
eine »originairec dorfmässige Ansiedelung als
eine originaire Hofansiedelung an zum Unter-
schiede von einer »sekundären« Ansiedelung der
einen oder anderen Art, wenn ein Dorf erst
später auf dem Grund und Boden eines Einzel-
hofes oder ein Einzelhof durch Ausbau aus
einem Dorfe entstanden ist. Dass er aber un-
ter Dorfansiedelung nicht bloss den Wohnver-
band versteht, sondern ganz richtig eo ipso die
Feldgemeinschaft mit Gemenglage, Flurzwang
u. 8. w. geht aus vielen Stellen der Abhandlung
hervor, z. B. p. 101 unten, p. 127 unten, p.
128 oben verzichtet er auch auf den Versuch,
*) Nebenbei bemerkt, gebraucht der Verf. p. 81
»Wechsel in der ganzen Feldflur« und» Wechsel der gan-
zen Feldmark« identisch, was .aber gans verschieden«!
Zustanden des Agrarwesens angehört.
Inama-Sternegg, Untersuch . fib. d. Hofsystem. 947
die Nachrichten des Tacitus ausschliesslich
auf das Hofsystem zu deuten. In Bezug auf
seine Alpengegenden hätte er sich diese Mühe
von rornherein ersparen können, da sie damals
noch gar nicht von germanischen Volksstämmen
besiedelt waren, mithin die Nachrichten des
Tacitus sich nicht auf dieselben mit beziehen.
Immerhin kann in einigen Alpengegenden das
Hofsystem uralt sein, nur ist das nicht aus Ta-
citus zu deduciren. —
Wir müssen dem Verfasser jetzt weiter
folgen in die Zeiten der Volksrechte, der ersten
sicheren Quellen, deren Aufzeichnung in das
6te bis 8te Jahrhundert fällt und deren Wirk-
samkeit bis in das Ute Jahrhundert reicht.
Für seine Untersuchung kommen vornehmlich
die lex Bajuvariorum und demnächst die lex
Alamannorum in Betracht. Der Verfasser be-
merkt, dass keines dieser beiden. Rechte sich
ausdrücklich über die Art der Ansiedelung, über
Flurverfassung und Wirtschaftssystem ausspreche,
es könne aber auch nicht angenommen werden,
dass in dem Gebiete derselben ausschliesslich
Hofsystem oder Dorfsystem bestanden habe.
Die Lex. Baj. lässt das Sondereigenthum am
Acker als Regel erscheinen , also nicht bloss
bei den Einzelhöfen, sondern auch auf den
Dorffeldmarken, bezeugt ferner auch eine wei-
tere Ausbreitung des Sondereigenthums auf
Wiese, Weide, Wald, was der Verf. zunächst
auf das Hofsystem zu beziehen scheint.
Durch den vierten Abschnitt unterbricht der
Verfasser den Faden seiner speciellen Unter-
suchung über das Hofsystem der Alpengegenden,
indem er zum besseren Verständniss des fünf-
ten Abschnittes andere Stationen des Hof systems
in Deutschland nach den Angaben, die hierüber
72*
948 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 24.
bei Maurer, Landau, Stüve u. A. zu finden, mit
heranzieht*). Hierin lässt er Betrachtungen
über das Charakteristische des Hofsystems ein-
fliessen, welche einzelne Punkte näher ausfuhren,
die schon im ersten Abschniite berührt und da-
her auch von uns bereits besprochen sind.
Im fünften und letzten Abschnitt kehrt der
Verfasser zu den Alpengegenden zurück, um
die weitere Entwickelung des dortigen Hof-
systems darzulegen nach den Weisthumern,
welche zwar erst vom 14ten Jahrhundert an da-
tiren, deren Sätze aber unbedenklich bis ins
12te Jahrhundert »yordatirtc (p. 52) werden
können, was gewiss unbedenklich ist, da die'
agrarischen Zustände im Mittelalter nur lang-
sam sich geändert haben; der Verf. zieht diese
Zeitgrenze mit Rücksicht darauf, dass bis dahin
noch die Volksrechte nachweisbar ihre Gültig-
keit behauptet haben, womit er denn eine Con-
tinuität der Rechtsquellen gewinnt.
Die Weisthümer lassen den tiefgreifenden
Gegensatz von Dorf und Einzelhof nur schwach
durch eine bestimmte Terminologie erkennen.
Hof bedeutet in den südbaierschen, tirolischen
etc. Weisthumern und Urkunden im Allgemeinen
immer einen Inbegrifi von Grundstücken sammt
den dazu notwendigen Wohn- und Wirtschafts-
gebäuden auf dem Lande, kann also eben so gut
eine Landstelle im Dorfe mit den dazu gehöri-
gen Ländereien und Berechtigungen auf der
Dorffeldmark (eine Hufe) sein. Anders schon,
wenn der Hof einen besonderen Namen führt,
*) Diese Angaben bedürfen theilweise noch sehr
einer kritischen Sichtung und Vervollständigung, insbe-
sondere hinsichtlich der Frage, wo das Hofsyatem ab
primitiv anzusehen oder erst spater entstanden sein
möchte.
i
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 949
zumal wenn dieser Name von einer bestimmten
Oertlichkeit hergenommen ist, wie denn solche
Höfe zahllos in den Weisthümern vorkommen.
Am bestimmtesten weist der Ausdruck Ein-
öde (Ainöd, Ainet) auf den eigentlichen Einzel-
hof hin ; derselbe ist dem Verf. indessen in den
tirolischen und salzburgischen Weisthümern nur
einige Male begegnet, während er in Baiern
heimisch ist und dort daher auch der Ueber-
gang vom Dorfsystem zum Hofsystem als »Ver-
einödung« bezeichnet wird*).
In den tirolischen Weisthümern hat der
Verf. häufig Berg- und Thalbewohner dersel-
ben Gemeinde in Begleitung von Angaben,
welche hinsichtlich der ersteren auf Einzelhöfe
weisen, unterschieden gefunden. »Bergmann
und Ebenmann«. Es kommt vor, dass die Berg-
leute entweder ganz oder grösstenteils von dem
Gemeindenutzen, besonders von der gemeinen
Weide ausgeschlossen sind, was indessen voraus-
setzt, dass ihnen besondere Gemeindegründe
ausgeschieden worden (S. unten), und dies konnte
zu neuen Gemeindebildungen Veranlassung ge-
ben. — Aehnlich: »Dorfnachbar und Aussen-
mann (äusserer Mann)«, oder »Dorf- undAussen-
felderc Nach dem Weisthume von Rietz sollen
alle äusseren Güter sich selbst frieden mit ihren
Zäunen: eine Bestimmung, die zugleich beweist,
dass diese Güter doch noch im (weiteren) Ge-
meindeverbande von Rietz verblieben, weil sonst
das Weisthum nicht mit ihnen sich zu beschäf-
tigen haben würde.
*) Sollte nicht, wo der Ausdruck Einöde vorkommt,
iu prasnmiren sein, dass man es nioht mit ursprüngli-
chen Einseihöfen, sondern mit später durch Ausbau aus
den Dörfern oder auch durch Waldrodung etc. entstande-
nen n than hat?
950 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
»Ebenso: »Sonderfeld und Sonderfeldter«
nach Salzburgischen Weisthümern. »Die Son-
derfeldter haben in die Gemeinfelder nichts zu
treiben; sie sollen ihre Felder frieden c Ein
weiteres Kennzeichen der Existenz von räumlich
abgeschlossenen, arrondirten Höfen ist, wenn
diese als Grenzen der Gemeinweiden oder der
genossenschaftlichen Brach- und Stoppelweiden,
auch als Gemeindegrenzen in den Weisthümern
aufgeführt werden; ferner: das häufige Auftreten
von Wege- oder anderen Real-Servituten, welche
einzelne Höfe zu Gunsten der Gemeinde zu
tragen haben*).
Das sicherste Kennzeichen aber bleibt im-
mer, dass die Umfriedung erwähnt wird: der
Zaun (Etter, Gatter) des Hofes, innerhalb des-
sen ausser dem Felde und den Wiesen zuweilen
selbst der Wald liegt. Nicht selten tritt der
Gatter geradezu an Stelle der Gutsbezeichnung
auf. — Mit der Einzäunung fallen die Weide-
rechte fort, welche auf den Privatgrundstücken
eines solchen Hofes andere Einzelhöfe oder eine
Dorfschaft ausübten, womit consequenter Weise
auch die in Gegenseitigkeit ausgeübten Weide-
rechte des Hofes auf den Privatgrundsücken
*) p. 96: »Der Hof hat der Gemein oder den
Nachbarn eine offen Gassen zu halten, oder, es geht ein
gemeiner Viehweg durch des Hofs .... Felder können
wir zu dutzend Malen lesen und in den meisten Fallen
wird es auf geschlossene d. h. arrondirte Höfe sich be-
ziehen«. Man ist versucht, hier an die vom Verf. söge*
nannte sekundaire Hofbildung zu denken d. h. dass diese
Höfe erst durch Ausbau aus den Dörfern (Vereinödung)
entstanden sind. Wenn Gemeindegründe zwischen den
Höfen zerstreut lagen (Ampasser W. ibid.), mit anderen
Worten, die Höfe durch Markengründe von einander ge-
schieden waren (wie oft in Westphalen), so werden wir
eher eine primitive Hofansiedelung ftwnfAynAyt dürfen.
Inama-Stornegg, Untersuch, üb. d. Hofsystem. 95 1
der Anderen wegfallen. Wie solche Auseinan-
dersetzungen erfolgt sind, wird von dem Ver-
fasser aus Weisthümern näher dargethan.
Unabhängig hiervon ist der mögliche Fort-
bestand eines agrarischen Verbandes der, Eine
Gemeinde bildenden Einzelhöfe durch gemeine
Gründe zu genossenschaftlicher Nutzung. Der
Verf. meint, dass letztere bei dieser Art von
Gemeinden nicht gerade bedeutend gewesen
seien (p. 113), lässt aber dabei offen, dass sie
der Hauptsache nach »sofern sie in den älte-
sten Zeiten überhaupt vorhanden waren« (dies
ursprüngliche Vorhandensein ist wohl schwer-
lich zu bezweifeln) frühzeitig zur Vertheilung
Sekommen seien. Er hat Einzelhof-Gemein-
en gefunden, welche entweder gar kein Ge-
meindeland haben oder welche ein solches erst
in neuer Zeit erhalten (wiedererhalten?) haben,
wie z. B. Hart im Zillerthale durch landes-
herrliche Verleihung eines ehemaligen Staats-
forstes.
Gomplicirter sind die äusseren agrarischen
Beziehungen der Einzelhöfe in den Gemeinden,
wo sie neben der dorfmässigen Besiedelung auf-
treten und letztere zumeist überwiegend war,
es auch mancherwärts noch jetzt sein mag. Ob
und wann man auch hier eine ursprüngliche
Niederlassung nach Einzelhöfen annehmen darf,
wird zweifelhaft bleiben, das Quellenmaterial
weist auf die spätere Entstehung von Einzel-
höfen durch Vereinödung hin.
»Bei dieser zweiten Art der Gemeinden —
sagt der Verf. p. 115 — tritt eine ganz wesent-
liche Verschiedenheit der Rechte und Pflichten
bei Gemeinsleuten und sogenannten Einödbauern
auf. Das Ausscheiden aus der Feldgemeinschaft,
was mit der Vereinödung schon begriffsmässig ein-
trat) bildete hier gewissermassen den Ausgangs-
952 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
punkt für eine weitgehende Auseinandersetzung
zwischen den Hofleuten und den Dorfleuten, bei
welcher, was die Rechte am Gemeinsnutzen an-
langt, der Hofbesitzer in der Regel den kürze-
ren zog, ja sogar nicht selten als Ȋusserer
Mann« ähnlich dem Fremden behandelt wurde« *).
Das compensirte sich indessen wohl reichlich
mit dem Vortheile der Feldarrondirung und der
dadurch erlangten wirtschaftlichen Freiheit. Im
Allgäu wurde hiefür (für das »Beundtrecht«)
auch baar Geld an die Gemeinde gezahlt
Definitiv und gänzlich aus dem Gemeinde*
verband schieden indessen zumeist nur solche
Einzelhöfe aus, welche sich zu Herrenhöfen
(Frohnhöfen) emporgeschwungen hatten und als
solche sich eine eigene Hofverfassung geben
konnten, wie dies häufig mit den später soge-
nannten Hofmarken der Fall war. Aber auch
bei diesen ist die vollständige Ausscheidung
keineswegs ausnahmslos eingetreten. Die Herr-
schaft Thaur z. B. hat ausser dem Burgfried
in ganz gleicher Weise Weidegemeinschaft mit
der Gemeinde Thaur und muss sich den An-
ordnungen und der Aufsicht des Fluraufsehers
ebenso fügen wie die Dorfangehörigen, (p. 117).
Um so begreiflicher ist, dass die vielen Ein-
zelhöfe, welche keine Immunität erlangten, nicht
bloss im politischen, sondern auch in einem ge»
*) Charakteristisch für diese Behandlung ist, was
das W. von ßaumkirchen über die Benutzung der Mühle
ausspricht: »Ob ain äusserer Nachbar zu der Ehmühl
käme, nnd malen wollt und hatt sein Korn aufgeechütt
und ob in der weil ein Nachbar im Dorfe an der Mühl
käme mit einem Korn and malen wollt, so soll der Mül-
ler dem äussern Nachbar sein Korn wieder herabtragen
und soll dem Nachbarn im Dorfe sein Korn aufschütten
nnd malen, wo er des nit geraten wolt oder kain
leid habenc. (p. 125),
Inama-Sternegg, Untersuch . Ob. d. Hofsystem. 953
wissen agrarischen Verbände mit ihren Gemein-
den verblieben, namentlich in Betreff der Ge-
meinweiden, wofür der Verf. als ihre Gegen-
leistung ansieht u. A. die Belastung der Höfe
mit Wege-Servituten , besonders aber die Ver-
pflichtung zur Haltung eines Stiers oder andern
Saamenviehs. Die Beweidung wurde dann häufig
so regulirt, dass den Einzelhöfen einer Gemeinde
(diesen, wie es scheint, insgesamrot) ein beson-
derer Weidebezirk angewiesen wurde, für wel-
chen sie dann auch ohne Zweifel ihre eigenen
Gemeindehirten halten mussten. Diese Art der
Nutzabfindung war die natürlichste und lag im
beiderseitigen Interesse, wenn Strecken von Ge-
meinweiden den Einzelhöfen nahe, dagegen fern
vom Dorfe lagen, welches seinerseits die ihm
verbleibenden Weiden näher liegen hatte. Wie
leicht übrigens das eigentliche Eigenthumsver-
hältniss zwischen den Dörfern und Einzelhöfen
späterhin sich verdunkeln konnte, zeigt eine Kund-
schaft aus Achenthai über einen Streit zwischen
der Gemeinde Achen und den ausgeschiedenen
Höfen zu Ampelsbach wegen der Weide. Die
Gemeinde glaubt den Höfen gar keine Berech-
tigung an der gemeinen Weide zugestehen zu
können, die Höfe sprechen einen bestimmten
Weidebezirk zu Eigen an; das Urtheil lautet,
dass der angesprochene Bezirk zwar Gemeinde-
grund sei, an diesem aber auch die Höfe Mit-
genuss der Weide hätten, (p. 122). —
Am Schlüsse der Abhandlung erhalten wir
das Resultat der ganzen Forschung im Wesent-
lichen folgendermaassen zusammengefasst: »So
weit die gesicherte historische Kunde von den
Ansiedelungen im deutschen Alpengebiete zurück-
reicht, finden wir die Hofansiedelung, und zwar
ist sie in älterer Zeit relativ häufiger als in
954 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 24.
spaterer Zeit, besonders wenn wir dabei die
Herrschaft des Hofsystems in den einzelnen Ge-
meinden im Auge haben. — In späteren Zeiten
vermehrten sich zwar die Einzelhöfe durch die
Bildung von geschlossenen Herrenhöfen (Hof-
marken) so wie durch die Ausscheidung einzel-
ner Bauernhöfe oder durch Rodungen im Ge-
mein* oder königlichen Wald; diese Vorgänge
sind aber dennoch nicht allzuhäufig gewesen
und haben sicher keine Vermehrung der abso-
luten Ziffer des Procentsatzes der Höfe herbei-
geführt. Dagegen entstanden häufig neue Dör-
fer entweder auf Rottland oder durch Besiede-
lung der grossen Einzelböfe mit Colonen, oder
auch durch Tb eilung mehrfach besetzter Höfe
in der früher beschriebenen Weise der Weiler-
bildung, endlich auch nicht selten durch Zubau,
wodurch oft das Dorf allmählig in der Gemeinde
herrschend wurde, während früher das Hof-
system diese beherrschende Stellung eingenom-
men hatte. Dabei ist dann der wichtige Unter-
schied aufgetreten zwischen den Gemeinden mit
reinem oder überwiegendem Hofsystem ohne
Feldgemeinschaft, oft auch ohne Gemeinland,
aber doch mit selbstständigem Gemeinderegi-
ment und den Gemeinden mit gemischtem Sy-
stem, wo dieEinhöfe zwar aus der Feldgemein-
schaft ausgeschieden sind, aber der Zusammen-
hang mit der Dorfmarkgemeindo auch ökono-
misch zumeist aufrecht erhalten blieb. Gänz-
lich ausgeschieden sind nicht einmal immer die
Frohnhöfe, während da, wo dieser Fall eintrat,
der Keim zu neuer Gemeindebildung gege-
ben war«.
Hienach hätte also das Hofsystem gegen das
Dorfsystem in den Alpengegenden an Terrain
und Herrschaft im Laufe der Zeiten eher yer-
Inama-Sternegg, Untersuch, üb. d. Hof system. 95S
loren als gewonnen, indem die spätere Ent-
stehung von Einzelhöfen durch Ausbau und Ro-
dungen den späteren Dorfbildungen kaum das
Gleichgewicht gehalten. Wir sind bei dem Man-
gel an umfassenden statistischen Aufnahmen
über diesen Punkt in früheren und späteren
Zeiten nicht befugt, das Oegentheil für die
Alpengegenden von Tirol und Salzburg, dem
eigentlichen Untersuchungsgebiete des Verfas-
sers, zu behaupten, können aber den Zweifel
nicht unterdrücken, ob auf dieses Urtheil nicht
von Einflusß gewesen, dass der Verf. von vorne
herein geneigt ist, das Hofsystem als schon ur-
sprünglich sehr weit verbreitet und in Ueberein-
stimmung damit die Existenz von Urdörfern als
sehr beschränkt sich zu denken, somit bei den
jetzt vorhandenen Einzelhöfen seltener und bei
den jetzt vorhandenen Dörfern häufiger, als es
wirklich der Fall gewesen mag, die »sekundärec
(spätere) Entstehung anzunehmen. Er führt
zwar p. 111 ausdrücklich an, dass von der
Vereinödung ganzer Dorfschaften, wie im AU-
gäu, ihm kein einziger Fall aus seinen Gegen-
den bekannt geworden. Allein was er aus den
Weisthümern u. s. w. über die Ausscheidung
aus den Dorffeldmarken detailirt anführt, hat
uns den Eindruck hinterlassen, dass die Ver-
einödung einzelner Höfe häufig vorgekommen
sein muss, und wenn dies auf derselben Feld-
mark, sei es auch nach langen Intervallen, suc-
cessive geschah , indem Einer dem Anderen
folgte, (was auch im AUgäu häufig der Qang der
Dinge war), so kann schliesslich das Hofsystem
in einer ursprünglichen Dorfgemeinde überwiegen
oder selbst zur ausschliesslichen Existenz ge-
langen, ohne dass die Umwandelung hinterher
so deutlich sich nachweisen läset, als wenn die
956 Gott. gel. Anz. 1373. Stück 24.
ganze Operation auf einmal vorgenommen wor-
den. Wie umgekehrt das Hofsystem seine
herrschende Stellung in einer Gemeinde durch
neue Dorf- und Weiler-Bildungen verloren, hat
der Verf. in der Abhandlung selber nicht spe-
cieller behandelt, da diese entgegengesetzte Ent-
wickelung des Agrarwesens seiner Aufgabe fer-
ner lag; es ist aber zu wünschen, dass audi
nach dieser Seite hin genauere Untersuchungen
angestellt werden.
G. Haussen.
Albertani Brixiensis Liber Conso-
lationis et Consilii, ex quo hausta est fa-
fula de Melibeo et Prudentia. Edidit Thor
Sundby. Havniae apud A. F. H*st et filium.
MDCCCLXXin. XXIV — 136 S. 8°.
Von dem nämlichen Gelehrten, welcher im
Jahre 1869 im Anhange zu seiner verdienstli-
chen Schrift über Brunetto Latino den zweiten
von den drei lateinischen Tractaten des Brescia-
ner Richters (de arte loquendi et tacendi, 1245)
nach fünf alten Drucken herausgegeben hat, er-
halten wir hier den umfangreichern und literar-
historisch wichtigeren dritten vom Jahre 1246,
so dass wir nun bloss noch für den ersten (de
amore et dilectione Dei u. s. w., 1238) auf die
allerdings nicht eben seltenen Handschriften,
den unerreichbaren Druck und die alten Ueber-
setzungen angewiesen sind. Die Chaucer-So-
ciety, fur welche die vorliegende Schrift zwar
nicht als unmittelbare Vorlage, aber als letzte
Quelle von Chauoers Tale of Melibeus besonde-
Sundby, Albert. Brixiensis Lib. Consolat. etc. 957
res Interesse haben musste, hat die Herausgabe
möglich gemacht (für welche überdies die kön.
dänische Akademie einige Unterstützung ge-
währte), und diesem Umstände wird es zuzu-
schreiben sein, dass der Herr Verfasser in der
Einleitung diesmal vom Gebrauche seiner Mutter-
sprache zu Gunsten der englischen abgegangen
ist. Diese Einleitung stellt zusammen, was über
die Lebensumstände Albertano's (zumeist in ge-
legentlichen eigenen Angaben desselben) sich
Torfindet , charakterisirt das Werk zutreffend
und handelt von den Nachbildungen, die es er-
fahren hat In Betreff der letzten beiden Punkte
würde ein noch etwas tieferes Eingehn erwünscht
gewesen sein. Wer mit so unermüdlicher Sorge
und so gutem Erfolge dem Aufsuchen der Stel-
len lateinischer Autoren obgelegen hat, für de-
ren Sammlung und Ordnung die dürftige Fabel
von Melibeus und Prudentia doch nur ein Vor-
wand Albertano's ist, wie Herr Sundby hier ge-
than hat (und von gleichem Fleisse zeugte die
frühere Publication), dem nimmt nicht gern ein
Andrer die leichtere, aber schönere Aufgabe ab,
den bereits vorhandenen höchst dankenswerthen
alphabetischen Index der angeführten Autoren
in eine Uebersicht der literarischen Studien des
Verfassers umzuwandeln, welche ja nicht bloss
für diesen charakteristisch sein würde. Viel-
leicht dass der Herausgeber eine derartige Ar-
beit sich für die Ausgabe des noch übrigen
Tractates sowie der Reden Albertano's vorbe-
hält. Von den Uebersetzungen und Bearbeitun-
gen des Liber Consolationis ist zwar schon öf-
ter gehandelt worden, zuletzt wohl in Mätzners
und Goldbecks altenglischen Sprachproben (2.
Abtheil. S. 373), aber noch fehlt es an einer
vollständigen Uebersicht', welche den Zusammen-
058 Gott. gel. Adz. 1873. Stack 24.
bang derselben unter einander und mit der Ur-
schrift klar erkennen Hesse; auch die Frage
nach dem Verfasser der freieren von den beiden
(oder sind ihrer »wenigstens drei«, wie Pichon
im Menag. I 186 sagt?) französischen Bearbei-
tungen scheint noch nicht endgiltig und für Alle
überzeugend beantwortet zu sein: noch nachdem
P. Paris (Manuscrits, T. V S. 61) die Stelle
mitgetheilt hat, wonach der Verfasser identisch
wäre mit demjenigen der in einer Handschrift
Toranstehenden, zweifellos von Renaud aus Lou-
hans herrührenden metrischen Uebersetzung des
Boethiue, hat Montaiglon (Chevalier de la Tour
Landry S. XLIII) die Histoire de Melibee wie-
der ein Werk der Christine de Pisan genannt,
und eine Anmerkung von Sund by (S. XV11I)
lehrt uns, dass P. Meyer dieselbe dem Jehan
de Meung zuschreibe. Es ist zu bedauern, dass
der Verfasser des Menagier nicht mit gleicher
Offenheit wie über die Herkunft der Griselidis
und des Chemin de Pauvrete et de Richesse
über den Ursprung der Histoire de Melibee sich
ausgesprochen hat. Die unlängst erschienene
Schrift: Benaut de Louens, poete franc-comtois
du XIVe siecle par A. Vayssiere. Paris. 16 S.
8°, welche vielleicht neue Aufschlüsse bringt, ist
dem Ref. noch nicht zu Gesichte gekommen.
Für die Ausgabe konnten nur sechs Hand-
schriften vollständig verglichen werden, die übri-
gen sechs dem Herausgeber bekannt geworde-
nen, darunter zwei dem 13. Jahrhundert zuge-
wiesene, nur für einzelne Stellen; indessen stehn
die verschiedenen Texte sich sehr nah, die Va-
rianten betreffen fast nur indifferente Dinge.
Eine Ausnahme macht die eine Brüsseler Hand-
schrift, welche vielfach interpolirt sein soll;
Herr Sundby hat es aber leider unterlassen
Sundby, Albert. Brixiensis Lib. Consolat. etc. 059
durch probeweise Mittheilungen fiber den Cha-
rakter dieser Einschiebsel Anfschluss zu geben.
Die Collation scheint im Ganzen sorgfaltig aus*
geführt zu sein; doch hat Referent bei Nach-
vergleichung einiger Seiten der Berliner Hand-
schrift, welche alle drei Tractate und alle fünf
Sermones enthält , ausser manchen blossen
Schreibfehlern doch auch einige Abweichungen
unbeachtet gefunden, welche hätten verzeichnet
werden müssen; so 10, 11 multi enim in, 12, 3
tnecum consilium habere, 14, 10 hilaris non
asperaro, 14, 12 importiert*; 10, 2 und 10, 32
werden irrthümlicb Abweichungen notirt. —
Ganz besonderes Lob verdient die sorgsame
Nachweisung der von Albertano aneinander ge-
reihten, in der Mehrzahl der Fälle nur von dem
Namen des Autors, sehr selten auch von der
Angabe der Schrift begleiteten Stellen, deren
manche übrigens, durch ein blosses scriptum
est u. dgl. als fremdes Eigenthum bezeichnet
oder gar ohne Weiteres Albertano's eigner Bede
einverleibt, dem Nachforschenden ein ganz be«
sonders reiches Mass von Arbeit überlassen. Es
ist. denn auch Herrn Sundby bei aller Vertraut-
heit mit der in Betracht kommenden Literatur
noch nicht überall gelungen, Albertano's Quellen
nachzuweisen, aber des nicht Nachgewiesenen ist
doch verhältmssmässig nur wenig und Herrn
Sundby's und Anderer Nacharbeit, zu welcher
der saubere Index einladet, wird über kurz oder
lang mit dem Reste wohl fertig zu werden wis-
sen. Hier sei nur bemerkt, dass der dreimal
citirte Ysopus der Alter Aesopus des Baldo ist;
zwei der ihm entnommenen Stellen finden sich
in Du Meril's Abdrucke (Poäsies inedites du
mpyen-age, Paris 1854) S. 232 und S. 221, die
dritte fehlt da. Das Sprichwort 15, 21 von den
1
960 Gott. geL Anz. 1873. Stück 24
drei Dingen, die dem Manne das Hans verleiden
(Nannucci, Mannale I 408 vermengt damit die
menandriscbe, dem Mittelalter ebenfalls geläufige
Zusammenstellung der drei Unersättlichen, Meer,
Feuer, Weib), hat auch der normandi&che Cleri-
ker Guillaume gekannt, s. Besant de Dieu S.
XXIX und 124, aber sicher nicht aufgebracht.
Antonio Pucci (Propugnatore III 1, 41) hält es
für einen Ausspruch des Aristoteles. Nicht
glücklich variirt ist es von Teofilo Folengo im
Orlandino V 69: Tre cose l'uomo cacciano di
casa, 11 fumo, il foco e la moglie malvasa. —
Die drei Feinde jedes Menschen (Welt, Fleisch,
Teufel) sind ebenfalls ein Gemeinplatz des 13.
Jahrhunderts (84, 10); aus Anlass der Verse
409 ff. des Besant de Dieu hat Martin S. XVIII
und S. 124 einige Parallelstellen beigebracht;
etwas später findet sich der Gedanke auch in
Pucci's Sammlung (Propugn. III 1, 35), wo als
vierter und als fünfter Feind der Mensch und
das böse Weib sich den dreien zugesellen, in
dem grossen Werke des Arcipreste deHita Str.
1558, in dem waldensi&chen Novel Sermo, wo
jenen dreien als den drei Herren, denen der
Mensch dienen könne, als vierter Oott gegen-
über steht. Martin's Frage nach dem ersten
Vorkommen dieser Trilogie kann Ref. nur wie-
derholen; doch sei erinnert, dass die Histoire
littöraire XXIII 253 die Zeilen Mundus, caro,
demonia Diversa movent prelia Turbantque
cordis sabatum, mit denen ein übrigens franzö-
sisches Gedicht wobl des dreizehnten Jahrhun-
derts anhebt, als »debut de l'ancienne hymne«
bezeichnet. Bei Daniel oder Mone findet sich
ein derartiger Hymnus nicht.
Berlin. Adolf Tobler.
961
G5ttingisehe
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 25. 18. Juni 1873.
mm
Augustinus: Sein theologisches Sy*
stem und seine religionsphilosophi-
sche Anschauung dargestellt von Lie.
Dr. Dorn er. Berlin bei Wilh. Hertz (Besser-
sche Buchhandlung) 1873.
Bei der Schrift, welche ich über das System
Ang's verfasst habe, war es mir insbesondere
darum zu thun, auf den Zusammenhang der
Augustinischen Weltanschauung aufmerksam zu
machen, wie dieser selbst in den Widersprüchen,
die sein ganzes System consequent durchziehen,
hervortritt. Es Bind nicht nur einzelne Dogmen,
die er bestimmt hat; er hat vielmehr der Ent-
wicklung der christlichen Kirche auf längere
Zeit eine eigentümliche Richtung gegeben:
zwar die Vorstellungen der alten Völker, der
vorchristlichen Welt durchkreuzen sich in ihm
mit christlichen Ideen; insbesondere streiten
bei ihm die neoplatonische und die christ-
liche Weltanschauung. Allein gerade dieser
so scharf ausgeprägte Gegensatz, der sich durch
seine Anschauung hindurchzieht, ist für die
Folgezeit von grosser Bedeutung. Für ihn
73
962 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 25.
ist es charakteristisch, und ein Beweis dafür,
dass die ethische Richtung des Cbristenthums
beginnt Wurzel zu schlagen, dass er, obgleich
dem NeopIatoni8mus völlig ergeben, daneben vor
Allem die Welt des Willens dem Christenthume
erobern will, ein für die abendländische mittel-
alterliche Kirche durchaus charakteristischer
Zug. An den Neoplatonismus lehnt sich Ang's
Gottesbegriff an, sowie der durch seine ganze
Anschauung hindurchgehende akosmistische Zug.
Er neigt in seiner Schöpfungslehre, in seiner
Anthropologie, in seiner Vorstellung von dem
Werthe der Welt und des Menschen gegenüber
dem göttlichen Wesen, von der Wirksamkeit
des Menschen im Verhältniss zu Gott überall
dazu die endlichen Wesen in den Hintergrund
treten zu lassen , ihren Werth zu unterschätzen,
sie als endliche, soweit sie nicht göttliche Wir-
kung sind, bloss als der Negation angehörig zu
betrachten. Freilich genügt ihm, der doch ne-
ben alle dem einen durchweg realistischen Zug
hat und die Welt des Willens in das Auge
fasst, diese Anschauung nicht. Wir finden tim
Gegentheil auf der andern Seite das Bestreben,
die Welt für sich ihren Gang gehen zu lassen,
soweit sie Veränderungen unterworfen ist, in-
dem der unveränderliche Gott sich ihr gegen-
über stets gleich verhält* Das zeigt sich in
seiner Auffassung des Verhältnisses Gottes zu
Raum und Zeit, in seiner Lehre vom Wunder
und nicht minder in den spezifisch-christlichen
Lehren namentlich in der von der Kirche«
Fragt man nach der gemeinsamen Wurzel
dieser durch das System sich hindurchziehenden
Gegensätze, so liegt diese in der Art und Weise,
wie bei Aug. Gott und sein Verhältniss zur
Welt gedacht ist. Der neoplatonische Gottes-
Dorner, Augustinus : S. theolog. System etc. 963
begriff überwiegt bei ihm. Zwar hat er die
Lehre von der Trinität durch den Gedanken
der göttlichen Selbstliebe und des göttlichen
Selbstbewusstseins zu begründen gesucht. Allein
diese mehr intellectuelle und ethische Auffas-
sung des göttlichen Wesens stimmt nicht mit
seiner sonstigen Betrachtung desselben. Denn
obgleich er die absolute Geistigkeit Gottes auf
das bestimmteste verficht, so wird doch Gott
von ihm sonst als essentia, als schlechthin ein-
faches Sein, in welchem keine Unterschiede zu
finden sind, angesehen. Die metaphysische Be-
trachtung des göttlichen Wesens hat vor der
ethischen, die sich zu regen beginnt, bei Wei-
tem den Vorzug. Und diese Vorstellung von
dem göttlichen Wesen macht sich auch in dem
Verhältoiiss Gottes zur Welt geltend. Welt und
Gott vermag er nur so zu unterscheiden, dass
Gott vollkommenes Sein ist, die Welt unvoll-
kommenes Sein, Sein mit Negation; er vermag,
weil er Gott noch als die allgemeine Essenz
denkt, den Schöpfungsbegriff noch nicht klar
zu erfassen. Das Product der göttlichen Thä-
tigkeit und sie selbst wird von ihm noch nicht
klar unterschieden, weil er auch durch diesen
Unterschied die göttliche Einfachheit würde ge-
fährdet glauben. So kommt der Unterschied
der Welt von Gott nur durch Zuziehung der
Negation zu Stande. Gott ist einfaches Sein,
die Welt beschränktes Sein, Gott unveränder-
lich, die Welt veränderlich. Gott und Welt
wird nur durch die Negation unterschieden,
über deren Ursprung nichts gesagt wird. Hier-
aus ergiebt sich beides oben Hervorgehobene.
Sofern die Welt bloss vermindertes Sein ist,
hat sie in sich keinen Werth, ist nur ein un-
vollkommenes Abbild des vollkommenen gött-
"H
984 GStt. gel, Anz. 1873. Stuck 36.
lichen Seins : nach diese*- Seite ist Aug. der epi-
nozistischen Weltanschauung nicht fremd. So-
fern er aber nun doch dem Einflüss des Chri-
sten th ums zu sehr unterworfen ist, um so akos-
raistisch zu lehren, so ergiebt sich bei Betonung
der Selbstständigkeit der Welt nothwendig eine
Ueberschätzung derselben ; die Negation ist dann
der alleinige Grund der Veränderungen. Die
ganze Weltbewegung, sofern sie aus Wehver-
änderungen besteht, kann von ihm nur aus der
Negation erklärt werden, der unveränderliche
Gott verhält sich in seiner Wirksamkeit diesen
Veränderungen gegenüber immer gleichmässig.
So ergiebt sich, sofern Aug. auf die Welten!-
Wickelung refleCtirt, eine deistisehe Neigung zu
erkennen. Gott und Welt schliessen sich völlig
aus. Betont er die Selbstständigkeit der Welt,
so muss Gott in den Hintergrund treten und
umgekehrt.
Fragen wir indes, welche Seite bei Aug.
überwiege, so ist es die der Abhängigkeit der
Welt. Er ist vor Allem eine tief religiöse Na-
tur. Aber er fasst die Religion vorwiegend
noch in metaphysischer Weise auf. Es sind
auch hier weniger die spezifisch christlichen, die
auf die ethische Beschaffenheit des religiösen
Lebens gerichteten Fragen^ die in den Vorder-
grund treten als vielmehr allgemein metaphysi-
sche. Denn so sehr er auGh den Gegensatz von
Sünde und Gnade in den Vordergrund treten
lfi8st, so wird doch die Sünde selbst weit mehr
unter dem metaphysischen Begriff einer Schwfi-
chung, einer Minderung der Kraft, einer Krank-
heit als unter dem eines bestimmt moralischen
Uebels aufgefasst, was man an seinem Schuld-
begriff besonders erkennen kann. In dem pe-
kgianischen Streite handelt es sich ihm haupt-
Dorner, Augustinus: S. theolog. System etc. 968
sächlich um die allgemeine Frage fiber das Ver*
b<niss der göttlichen und menschlichen Tha-
tigkeit, um die Machtspbäre Gottes und des
Menschen bei der Bekehrung. Der vollkommene
Zustand ist dann gegeben, wenn Gott in dem
Menschen Alles wirkt, wenn der Geist Yöllig
yen göttlicher Wirksamkeit erfüllt ist. Die
Sünde besteht darin, dass die Negation eine zu
grosse Macht in uns hat, dass die göttliche
Wirksamkeit in dem Geiste zurücktritt und
zwar ist dieser Zustand bei allen Menschen
ausser Adam erblich. Wenn man auch nicht
sagen kann, dass nach ihm die Sünde notwen-
dige Folge der Negation an sich, der Beschränkt-
heit und Endlichkeit des Seins sei, da sie eine
Verminderung der Seinskraft ist , die nicht sein
so U, und bei Adam aus einem Abfall stammt,
zu dem er nicht genöthigt war, so ist doch
nicht zu leugnen, dass die Sünde der Nachkom-
men, soweit sie als Erbsünde anzusehen ist, als
poena peccati, mehr als ein Schwäcbezustand,
in dem sie einmal sind, als eine Verminderung
der Seinskraft betrachtet wird, also weniger
ethisch als physisch, wie auch auf physische
Weise dieser Zustand gewonnen wird. Bei der
Aufhebung der Sünde handelt es sich in dem
pelagtaniechen Streit gar nicht um eine beson->
dere Wirksamkeit Christi , sondern nur um
Durchführung des allgemeinen Gedankens, dass
Gott immer in dem Menschen wirken solle,
dass auch bei der Aufbebung der Sünde Alles
der göttlichen Thätigkeit zuzuschreiben sei, dem
Grundsatze gemäss, dass Alles positire von Gott
stammt, wie ja die Sünde selbst dämm eine
Verminderung der Seinskraft ist, weil Gottes
operatio in dem Sünder geringer ist
Die spezifische Wirksamkeit Christi tritt in
966 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
Aug.'s lehrhafter Darstellung bei Weitem in den
Hintergrund. Die historische Seite des Christen-
thum8, die Versöhnung Christi, die Aufhebung
der Schuld durch ihn, tritt bei Aug. im Ganzen
noch zurück. Die Inspiration der Liebe, die
Beseelung des Willens durch Gott ist das, wor-
auf ihm das Hauptgewicht fallt. Die allge-
meine Wirksamkeit Gottes im Menschen und in
seinen Kräften kommt nach ihm in dem Chri-
stenthume zur Vollendung. Sein Interesse geht
vorwiegend auf metaphysische Fragen. Die ethi-
schen Begriffe, welche in dem Christenthum die
erste Rolle spielen , der Begriff der Schuld, der
Begriff der Persönlichkeit treten noch zurück.
Die Schuld wird auf die Strafe bezogen und es
ist auch nur die Aufhebung der Strafe, auf die
ihm bei der Aufhebung der Schuld das Haupt-
gewicht fällt. Die Befreiung von der Schuld ist
ihm identisch mit der Erlösung aus der Schuld-
haft des Teufels und Todes. Von einer unmit-
telbaren Erfahrung der Versöhnung ist fur ihn
nicht die Rede, deshalb auch nicht von persön-
licher Heilsgewissheit. Seine Mystik, welche
die unmittelbare Wirksamkeit Gottes im Men-
schen betont, ist zu der historischen Seite des
Christenthums nicht in Beziehung gesetzt, weil
die ethische Seite nicht genügend hervorgekehrt
wird, weil die Aufhebung der Schuld, welche
das ethische Centrum in dem Begriff der Sünde
ist, nicht genügend betont wird. Wenn daher
Aug. auch dem Pelagianismus gegenüber die All-
wirksamkeit der Gnade behauptet, so ist darum
doch im Wesentlichen nur ein metaphysischer
Satz ausgesprochen, welcher noch dazu in akos-
mistischer Weise durchgeführt wird, so dass alle
Selbstständigkeit des Individuums aufgehoben
ist. Zugleich aber stellt sich hier auch das
Dorner, Augustinus: S. theolog. System etc. 967
ein, was oben bemerkt wurde ; er will doch nicht
die Selbstständigkeit des Menschen völlig vernich-
ten; es wird deshalb wie hier zu wenig so auf
der andern Seite wieder zu sehr dieselbe her-
vorgehoben, indem das Heil mit durch gute
Werke verdient wird. Er hat deshalb auch
den Pelagiani8mus nicht völlig überwunden, weil
er mit demselben die gemeinsame Voraussetzung
des ausschliessenden Verhältnisses von Gott und
Mensch theilt, so dass wenn Gott wirkt, die
Tbätigkeit des Menschen möglichst aufgehoben
wird und umgekehrt, wenn er auf die Willens-
acte des Menschen reflectirt, er doch wieder in
den verdienstlichen Werken Almosen, Gebet etc.
die Selbstständigkeit unwillkürlich hervortreten
lässt. Da das Eigentümliche des Christentums
noch zurücktritt, die Versöhnung durch Christus,
so ist auch der vorchristliche von dem christ-
lichen Zustand doch nur quantitativ unterschie-
den, insofern einerseits auch vor der Bekehrung
Gott schon eine gewisse Liebe und Erkenntniss
in der Seele wirkt, da bei gänzlicher Gottver-
lassenheit auch für die Bekehrung kein An-
knüpfungspunkt gegeben wäre, andrerseits aber
nach der Bekehrung weder die Liebe noch die
Erkenntniss vollkommen und von Sünde frei ist.
Wenn so die Augustinische Gnadenlehre noch
mehr metaphysischer Art ist und seine Mystik
sich noch nicht der ethischen Seite des Christen-
thums völlig bemächtigt und die Bedeutung des
Historischen in seiner Gnadenlehre nicht genü-
gend gewürdigt wird, so ist nicht zu verwundern,
dass er die historische Seite des Christentums,
die er anerkennt, nicht mit seiner Mystik ver-
webt. Von hier aus bekommen wir ein ganz
anderes Bild. Das Historische ist nicht Gegen-
stand unmittelbarer Erfahrung; aber auch die
968 Gott gel. A». 1873. Stück 25.
Bedeutung desselben soll Dicht können unmit-
telbar erfahren werden. Von der Versöhnung,
der Aufhebung der Schuld giebt es keine un-
mittelbare innere göttliche Gewissheit. Das ist
schon deshalb nicht möglich, weil Gott zu me-
taphysisch gedacht der Schuld fremd bleibt,
selbst weder zürnt noch versöhnt wird; dann
aber auch, weil die Schuld selbst mehr als ein
metaphysisches Uebel angesehen wird , da auch
unbewusste Wesen, nemlich Kinder, sie haben
können, und sie deshalb, wie gesagt, auf die
Strafe der Schuldhaft des Teufels und Todes
bezogen wird. Der ganze Process der Versöh-
nung spielt sich so innerhalb der Welt ab ohne
eine besondere Einwirkung Gottes. Christus
befreit uns, die göttliche Gnade repräsentirend,
aus der Schuldhaft des Teufels, der die gött-
liche Gerechtigkeit offenbart, Eigenschaften, die
im göttlichen Wesen ununterschieden sind und
nur in der Offenbarung auseinandertreten. Diese
Befreiung von Teufel und Tod kann pätürlich nur
historisch geglaubt werden. Da der Schuldbegriff
als Bewusstsein der Strafwürdigkeit
und der Werth de* einzelnen Persönlichkeit!
noch nicht tief erfasst ist, so ist Aijg. noch nicht
in das Herz der christlichen Weltanschauung
eingedrungen; die Versöhnung wird noch nicht
erfahren, ist gewissermaassen noch äusserlich
noch Gegenstand des historischen, autoritativen
Glaubens, da sie vornehmlich sich auf Befreiung
von äusserer Strafe reducirt. So ist einerseits
unmittelbares alleiniges Wirken Gottes im In-
nern von ihm angenommen, andrerseits tritt
das eigentümlich Christliche, die Versöhnung
als fremder Stoff noch äusserlich für das reli-
giöse Bewusstsein auf. Die Hüterin des histo-
rischen Christenthums ist die Kirche; an sie ist
man in dem Glauben deshalb gebunden; von
Domer, Augustinus: S. theolog. System etc. 969
ihr soll der Einzelne in seinem Verhältniss zu
Gott abhängen. Obgleich namentlich die Kirche
in der Vollendung mehr als Gemeinschaft
der Prädestinirten aufgefasst wird, als die Ge-
meinschaft derer, in denen Gott unmittelbar
Willen und Intellect beseelt, so wird doch die
irdische Kirche mehr als die Hüterin des histo-
rischen Christenthums in ihrer den Einzelnen
gegenüber unbedingt autoritativen Stellung er-
fasst, der Einzelne als Exemplar der Gattung
tritt völlig hinter dem Ganzen zurück, von wel-
chem er in Bezug auf seine Stellung zu Gott
abhängt. Ausser der Kirche ist kein Heil, weil
sie die historischen Schätze hütet, welche zu
glauben für Jeden Bedingung der Seligkeit ist.
Da ohne den historischen Glauben keiner selig
werden kann und dieser nur in der erscheinenden
Kirche zu haben ist, so muss die Kirche auch
organisirt sein und als Einheit erscheinen, was
dadurch geschieht, dass sie im Friesterthum re-
präsentirt ist.
Wie die ethische Seite bei Aug. in den Hin-
tergrund tritt, zeigt sich auch hier in seiner
Auffassung der Kirche als Heilsanstalt, als wel-
cher ihr eine dingliche von der Person unab-
hängige Heiligkeit zugeschrieben wird. Der ein-
seitig religiösmetaphysische Zug seines ganzen
Systems macht hier sich geltend in Hervorhebung
des unethischen character indelebilis. Die Gna-
denmittel haben ausschliesslich in der Kirche
Heilswirksamkeit, wenn auch nicht Gültigkeit,
indem wenigstens Taufe und Ordination immer
einen Character verleihen, durch welchen ihre
Gültigkeit bestimmt wird. So haben wir ein
autoritatives System, indem der historische,
dem innersten Bewusstsein noch fremde Stoö
des Christenthums, von dem aber doch die Se-
74
970 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
ligkeit abhängen soll, durch die aber den Erd-
kreis verbreitete, katholische Kirche und deren
Vertreter verbürgt wird. Dass hier die Kirche
eine zwischen Gott und Menschen vermittelnde
Stellung einnehmen muss, liegt eben darin be-
gründet, dass der Stoff, welcher zur Seligkeit
nöthig und doch dem Bewusstsein der Einzelnen
fremd und äusserlich bleibt, nur durch ihre
Auctorität bleibend verbürgt ist. Und dieser
Stoff ist darum noch so fremd, weil Aug. 's Auf-
fassung noch nicht völlig ethisch ist, weil eine
unmittelbare Erfahrung der Aufhebung der
Schuld in der Gemeinschaft mit Christus, einer
Versöhnung mit Gott ihm noch unbekannt ist,
weil er die Schuld selbst noch nicht in ihrer
ethischen Bedeutung völlig erfasst hat. Hieran
schlie8St sich natürlich auch an, dass die Kirche
deistisch betrachtet wird. Während jene Wirk-
samkeit Gottes in dem Einzelnen akosmistisch
gefärbt ist, so scheint hier der Geist Gottes an
die Kirche abgetreten; ausser ihr kann man
keine Liebe haben, auf die Alles ankommt. Hier
macht sich die Selbstständigkeit der endlichen
Seite wieder geltend; die Kirche ist Inhaberin
des Geistes Gottes; auf sie ist er beschränkt,
an sie ist er gebunden. So erscheint es fast,
als ob an die Kirche Gott seinen Geist abge-
treten hätte, nicht nur insofern der Einzelne
nur durch die Kirche und ihre Repräsentanten,
die ordinirten Priester, mit Gott in Verbindung
kommt, sondern auch insofern, als der Geist
Gottes mit seiner höchsten Wirkung auf die
Kirche beschränkt erscheint.
Gemäss der Stellung, welche bei Augustin
die Religion überhaupt hat, ist es sehr natür-
lich, dass der Werth von allem Irdischen von
ihm nach seinem Verhältnies zu der Religion be-
Dorner, Augustinus: S. theolog. System etc. 971
messen wird. Insofern die Augustinische My-
Btik an den Neoplatonismus anschliessend Alles
endliche fur verhältnissmässig werthlos, weil
mit Negation gemischt ansieht, zeigt sich diese
Richtung in der Geringschätzung der Natur
und Naturwissenschaft, des Eigenthums, der Fa-
milie, der Ehe, des Staats. Er sieht von hier
aus Zurückziehung von der Welt als den höch-
sten Gipfel der Religiosität an. Wenn er da-
gegen auf die erscheinende Kirche reflectirt, so
wird Alles bemessen in seinem Verhältnisse zu
dieser, als der Vertreterin der wahren Religion
auf Erden. Wie sie zwischen Gott und dem
Einzelnen vermittelt, so heiligt sie auch die
Sphären des Staates, der Ehe, der Familie, ja
auch das Eigenthum, zumal alle nicht nur in
sich von keinem bleibenden Werthe, sondern
auch von der Sünde verunreinigt sind. Erst
durch die erscheinende Kirche, die, wenn auch
nicht lauter heilige Personen, so doch heilige
Anstalten besitzt und darum mit der wahren
Kirche sich deckt, werden diese Sphären ge-
heiligt.
Wie im Allgemeinen eine pantheistische Rieh»
tung mit deistischen Neigungen in seiner An-
schauung sich kreuzt, so zeigt sich in seinem
theologisch-christlichen System der Gegensatz
zwischen einer pantheistisch gefärbten Mystik
und einem kirchlichen Deismus und insofern
kann man ihn mit Recht als den Vorläufer des
Mittelalters bezeichnen.
Wir haben es uns im Einzelnen besonders
angelegen sein lassen, gerade darauf zu verwei-
sen, dass in seinem Gottesbegriff wie in seiner
Weltanschauung überall der Grundton mehr ein
metaphysischer als ethischer ist, dass Aug. öfter
auch die ethischen Begriffe unter metaphysische
74*
972 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
Categorieen zu bringen sucht, und deshalb im
Christenthume nur den allgemein religiösen Ge-
danken göttlicher Causal i tat im Geiste des Men-
schen, göttlicher Gnaden Wirkungen mit seiner
Mystik erreicht, hingegen den Schuldbegriff, die
Versöhnung und Rechtfertigung im protestanti-
schen Sinne noch keineswegs klar erfasst bat.
Vielmehr sind diese ethischen Begriffe ihm noch
fern, und die Kirche, welche die historische Ver-
söhnung verbürgt, muss ihm durch äussere Aucto-
rität ersetzen, was seiner Anschauung an inne-
rer Erfahrung der Versöhnung mangelt. Und
für diese Kirche selbst, von deren vermittelnder
Auctorität die Seligkeit des Einzelnen bleibend
abhängt, kommt es ihm weit mehr auf dingliche,
so zu sagen metaphysische, als auf persönliche,
ethische Heiligkeit an. Freilich ist nicht zu
leugnen, dass bei Aug. die Welt des Willens
weit mehr in den Vordergrund tritt, als bei den
griechischen Vätern; alles Christenthum gipfelt
ihm in der Liebe, die er durchaus als Sache
des Willens ansieht. Er betont gerade der Hel-
lenischen Anschauung gegenüber, dass der Wille
darum noch nicht gut sein müsse, weil der In-
tellect völlig richtige Erkenntnisse habe; er ver-
langt, dass Gott auch unmittelbar in dem Wil-
len wirke und ihn beseele, und das gerade ist
seine neue Anschauung gegenüber dem Pelagia-
nismus. Aber trotzdem ist es doch berechtigt,
wenn wir sagen, die Art, wie er den Willen
betrachtet, das, was er in der Ethik hervor-
hebt, schliefst sich noch mehr an die Metaphy-
sik an; es handelt sich ihm, wie gesagt, noch
vorwiegend um die göttliche Causalität in dem
Willen des Menschen, um die Aufhebung des
languor der Erbsünde durch göttliche Macht-
wirkung. Die Befreiung ist mehr Befreiung von
Dorner, Augustinus) S. theolog. System etc. 973
Schwäche und von Uebeln, von der Schuldhaft
des Teufels und Todes als Befreiung von ethi-
scher Schuld.
Man würde indes irren, wenn man der Mei-
nung wäre, bei Aug. spiele die göttliche All-
macht die Hauptrolle, vielmehr ist für ihn —
und hierin ist er hellenisch — der Zweck, dem
alle diese göttlichen Machtwirkungen dienen , die
Schönheit und Harmonie der Welt. Auch dies
hängt mit seinem Gottesbegrifi zusammen, in-
dem der göttlichen Einfachheit in der Offen-
barungswelt eine so geartete Offenbarung ent-
spricht, dass alle in Gott selbst ungeschiedenen
Eigenschaften in der Welt möglichst gleich-
massig dargestellt werden, und hierin eben sieht
er die Harmonie der Welt. Diesem Zwecke
dient das Böse, dienen die Verdammten, welche
die justitia offenbaren, dienen die Erlösten, an
welchen die misericordia zur Erscheinung kommt.
Die harmonische Offenbarung Gottes ist der
Endzweck der Welt, sie hat in sich noch nicht
Werth, sie ist Mittel in Gottes Hand, göttliches
Offenbarungsorgan , noch nicht ein Selbstzweck.
Es möge an diesen Bemerkungen genügen;
wir haben versucht, die hier angedeuteten Ge-
danken im Einzelnen bei Aug. nachzuweisen und
theilweise im Zusammenhang mit seiner histori-
schen Umgebung zu begreifen. Wir beschrän-
ken uns hier darauf, auf die Ausführungen selbst
mit obigen wenigen Sätzen aufmerksam gemacht
zu haben. Lie. Dr. Dorner.
974 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
Quellenschriften für Kunstgeschichte und
Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance
herausgegeben von R. Eitelbergerv. E del-
be rg. in. Dürers Briefe, Tagebücher und
Reime nebst einem Anhange von Zuschriften an
und für Dürer übersetzt und mit Einleitung,
Anmerkungen, Personenverzeichniss und einer
Reisekarte versehen von Moritz Thausing.
Wien 1872. Wilhelm Braumüller. XX und
250 SS. in 8°.
Wenn ich es heute versuche , das vorliegende
Buch, den dritten Band einer grossangelegten,
wenn auch in der Ausführung noch nicht Behr
weit vorgeschrittenen Sammlung von Schriften
zur Kunstgeschichte zu besprechen, so bedarf
es für diesen Versuch, vielleicht einer zwie-
fachen Entschuldigung. Denn erstens mag 66
ungebührlich erscheinen, dass ein Laie in künst-
lerischen Dingen das Wort ergreife, rechtfertigt
sich aber dadurch , dass Dürer durch seine
Schicksale und sein Streben mit den deutschen
Humanisten in nächster Beziehung stand; und
zweitens mag eine Uebersetzung als ein zur
Besprechung in einem gelehrten Blatte nicht
geeigneter Gegenstand erscheinen, was aber in
unserm Falle nicht zutrifft, weil die vorliegende
Schrift auf den Namen einer wissenschaftlichen
durchaus gerechtfertigten Anspruch erheben darf.
Sie begnügt sich nämlich keineswegs mit
einer Uebersetzung, sondern mehr als ein Dritt-
theil ist werthvollen, mit der grössten Sach-
kenntni88 gearbeiteten Anmerkungen gewidmet
Zu der Ausarbeitung derselben war der Verf.
theils durch zwei neuerdings erschienene Schrif-
ten unterstützt, die eine: Die Personennamen
in Albrecht Dürers Briefen aus Venedig von
Thausing, Quellenschrift, f. Kunstgesch. etc. 975
G. W. E. Lochner, Nürnberg 1670, die in
diesen Blättern bereits von sachkundiger Hand
.eine Besprechung erfahren hat, die andere:
Jakob Heller und Albrecht Dürer. Ein Beitrag
zur Sitten- und Kunstgeschichte des alten Frank-
furt am Main um 1500 von Otto Cornill.
Frankfurt 1871, erschienen als Neujahrsblatt
des Vereins für Geschichte und Alterthums-
kunde zu Frankfurt a. Main für das Jahr 1871,
die ich bei dieser Gelegenheit der Aufmerk-
samkeit der Leser als eine überaus öeissige und
sorgsame Specialstudie empfehle; theils auch
durch eigene Dürer- Studien (Ueber Dürers
Hausfrau Ztschr. für bildende Kunst IV, S. 33
—42, 77—88; andre Studien das. VI, S. 93—
96, 135 — 139; Jahrb. für Kunstwissenschaft II,
S. 175 — 182) grade zu dieser Arbeit ganz be-
sonders berufen. Die vorliegende Sammlung
enthält: Briefe Dürers an Wilib. Pirckheimer,
an Jakob Heller und einige Andere; Tagebü-
cher, die sich in Familienchronik, Niederländi-
sche Reise und einige Bruchstücke theilen,
Keime, und eine Anzahl Briefe an resp. über
Dürer.
Sehen wir von den letzteren als den am
wenigsten wichtigen, auch nicht von Dürer her-
rührenden Stücken ab, so sind alle übrigen in
deutscher. Sprache abgefasst und es handelte
sich daher weniger um eine wirkliche Ueber-
setzung als um eine Verwandelung der uns ent-
fremdeten in die ungewohnte Ausdrucksweise.
Grade deswegen war die Aufgabe schwieriger
als sie es bei der Uebersetzung aus einer frem-
den Sprache gewesen wäre. Denn nicht in eine
gewählte, modern-poürte Sprache durfte die
Dürersche Schreibweise, die häufig ohne jede
Kunst, gradezu formlos erscheint, übertragen
976 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 25.
und dadurch der eigentümliche Charakter der-
selben gänzlich verwischt werden, sondern grade
dieser musste möglichst gewahrt bleiben, nur die
uns unverständlichen oder wenigstens unge-
bräuchlichen Ausdrücke umgetauscht werden.
Das bat der Verf. meist mit gutem Glucke un-
ternommen, nur manchmal finden sich unüber-
setzte oder nicht glücklich gewendete Ausdrücke.
z.B. S. 4: »ich brauche weder der Mutter, noch
der Frau kein Geld zu schicken 4 , das. »aus
Kunstwaare gelöst«, das. »dem Weibe«, S. 70
»in der dritten Stunde des nächsten Tages nach
Peter und Paul«, S. 81 »zwei Gulden mehr 14
Weisspfenningec, S. 95: »ein Haus aufreissen«,
S. 103 »dagegen soll — und habe ich ihn por-
trätirtc, S. 107 »ich habe bei mir selbst ge-
gessen«, S. 114 »wir assen zu Morgen«, 8. 123
»aufgehöht«, S. 127 »überhalten«.
Aber selbst eine in jeder Beziehung zufrie-
denstellende Uebertragung genügte nicht, denn
in gewisser Weise kann man auch auf die
Uebertragung das Wort Eye' 6 anwenden:
»Man sieht übrigens, dass die grössere Treue
in Wiedergabe der Briefe, deren Inhalt nicht
grade verständlicher macht«. Daher mussten
die Anmerkungen hinzugefügt werden. Wah-
rend bei der Ausarbeitung der letzteren fur die
Briefe der Herausgeber sich auf die Schriften von
Lochner und Cornill beziehen konnte, war er
für die Tagebücher vollständig auf sich ange-
wiesen und hat hier namentlich die unzähligen
Hinweisungen auf oft nur angedeutete Künst-
lernamen mit einer ganz vortrefflichen Sach-
kenntniss gegeben. Gegen seine Ausfuhrungen
habe ich nur Einzelnes zu erwähnen. Bei
dem Tagebuch hätte die Frage eine Bespre-
chung erwähnt, wann es denn eigentlich ge-
* j
Thausing, Quellenschrift, f. Kunstgesch. etc. 977
schrieben sei. Denn offenbar sind, obwol die
Bemerkungen meist gleich nach den Er-
eignissen aufgezeichnet wurden , Einschiebun-
gen und nachträgliche Mittheilungen gemacht,
z. B. die Angaben über seine Mahlzeiten, für
die er Raum Hess und später ihn durchstriche
ausfüllte, ferner die Stelle S. 113, in welcher
er, noch in den Niederlanden weilend, das auf-
zählt, was er seinen Nürnberger Landsleuten
mitgebracht habe. Ferner hätte ich Folgendes
zu berühren. Der Brief S. 39 (vergl. S. 198)
ist nach Z. 11 ganz entschieden auf Maximilian
zu beziehn ; der Brief S. 48 fg. hätte von dem
S. 61 und S. 63 fg. nicht getrennt werden dür-
fen. Die S. 71 erwähnten Nürnberger hätten
wenigstens in kurzen Bemerkungen behandelt
werden können. Der S. 96 erwähnte Dialogus
wird von Thausing S. 218 als der berühmte
Dialog zwischen einem Pfarrer und Schultheiss
erklärt, aber offenbar mit Unrecht, denn dieses
von Schade, Satiren aus der Reformationszeit
II, S. 135—154, 327—339 abgedruckte und be-
handelte, jetzt auch von Baur: Deutschland in
den Jahren 1517—1525, S. 113—128 bearbeitete
Gespräch enthält eine Hinweisung auf Luthers
Aufenthalt iq Worms, kann also nicht von D.
bereits Okt. 1520 gekauft worden sein; ich
würde den bei Schade II, 128—32, 325—27,
Baur S. 58 — 60 mitgetheilten und behandelten
Dialog vorschlagen, welcher der Zeit nach passt
und auch, waswol zu beachten, eine Hindeutung
auf Antwerpen enthält. S. 109 Z. 5 hätte der
Ausdruck: 6 Knoten/ S. 145 Z. 6 v. u. der:
»Zwei Ellen und ein Viertele, S. 147 Z. 4 v. u.
die Worte »ein Notar« eine Erklärung verdient,
denn er lässt sich doch wol nicht auf den sonst
im Gedicht verspotteten Lazarus Spengler be»
j
978 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
ziehen. Ferner habe ich zu S. 242, zu der Er-
klärung zu S. 183, 15 berichtigend hinzuzu-
fügen, dass die Freundschaft zwischen Pirck-
heimer und dem jüngeren Pikus von Mirandula
nicht in Italien, sondern erst bei einem Be-
suche des Letzteren in Deutschland 1507 ge-
schlossen worden ist«
Doch können diese Ausstellungen nur dazu
dienen, das Wort zu bewahrheiten, dass auch
dem Aehrenleser, der nach dem Schnitter
kommt, noch Manches zu thun übrig bleibt; sie
sollen aber durchaus nicht den Werth der Lei-
stung beeinträchtigen und den Genuss an der
schönen Gabe schmälern, welche der Heraus-
geber uns geboten hat. Zum Nachweise des
Werthes der Gabe muss es gestattet sein, einige
Worte hinzuzufügen, deren Aufgabe es freilich
nicht sein kann zu zeigen, was Dürer als Maler
gewesen ist, zumal da ein solcher Versuch. nur
die Wirkung hätte, längst Bekanntes zu wieder-
holen, besser Gesagtes mit andern Worten auszu-
drücken. Ueberdies hat es auch der vorliegende
Band weniger mit Dürer dem Maler zu thun,
mit dem sich ein andrer Band der Sammlung,
der die Fachschriften wenigstens in Auszügen
bringen soll, beschäftigen wird, als mit Dürer
dem Menschen. Dieser tritt uns mit solcher
Offenheit , Schlichtheit und Liebenswürdigkeit
entgegen, dass es sich wol lohnt, einen Augen-
blick bei ihm zu verweilen.
Seine Briefe an Pirckheimer hat er aus Ve-
nedig im Jahre 1506 geschrieben. Er war hier-
her, nach dem Lande der Sehnsucht für alle
Maler, ja, sagen wir, für alle geistig strebenden
Männer des 16. Jahrh. gegangen, um zu lernen,
und trotz der Unbill, der Missgunst, die er ge-
rade von seinen Collegen bitter zu erfahren
Thausing, Quellenschrift, f. Kunstgesch. etc. 979
hatte, fasste er, bei allem echtdeutschen Patrio-
tismus, eine warme Anhänglichkeit für das Land,
die er bei seinem Abschiede von demselben in
rührenden Worten aussprach: »0, wie wird mich
nach der Sonnen frieren ! Hier bin ich ein Herr,
daheim ein Schmarotzer«. (S. 22). Aber diese
wehmüthig-ärgerliche Stimmung, in welche ihn
sonst wol verdriessliche Geldgeschäfte und man-
cherlei unangenehme Aufträge, welche der Nürn-
berger Freund, Pirckheimer, ihm gab, versetzten,
war keineswegs die vorherrschende. Vielmehr
ist er sorglos, dem Tage lebend, der Zukunft
ihre Lasten und Mühen überlassend, voll Hu-
mors und neckischen, oft derben Spottes gegen
den Addressaten. Denn dessen politische Mis-
sion und hohe Stellung bei Fürsten und Herrn,
deren der Freund sich wol gerühmt, weiss er
gar anmuthig zu belächeln und hält dem vor-
nehmen Patricier und grossen Gelehrten in er-
götzlichen Worten, die er wohl auch durch
Zeichnungen illustrirt, seine Liebschaften vor.
Und so gewinnen wir aus diesen Briefen, deren
Verständniss uns nun erst recht erschlossen ist,
ein nicht unwichtiges geschichtliches Resultat:
Pirckheimers oft sehr gerühmter Charakter wird
angetastet, von seinem Edelsinn, von seinem
Eunstmäcenat bleibt wenig übrig; wissen wir
doch, dass in seinem ganzen Nachlass nicht ein
einziges Bild eines Nürnberger Künstlers sich ,
vorgefunden hat. Noch ein anderes, für Dürer
wichtiges, Resultat geben uns diese Briefe und
Tagebücher, das Thausing bereits in einem der
oben angeführten Aufsätze erhalten hatte: das
Verhältniss nämlich zwischen Dürer und seiner
Frau hört auf in dem hässlichen Lichte zu er-
scheinen, das frühere Biographen unwissend oder
geflissentlich darüber verbreitet haben, und zeigt
980 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 25.
sich in Wahrheit als ein durchaus freundliches
und harmonisches. (Freilich bleibt die Stelle
S. 21, Z. 8 unerklärt). Doch schliesst der Um-
stand, dass er mit seiner Frau in Eintracht
lebte, nicht aus, dass er manchmal ein hartes
Wort über die Frauen sagt, »dass es verlorene
Müh sei mit den Weibern c, (S. 12) oder als
ein grosses Wunder betrachtet, dass eine Frau
malen kann (S. 124).
Haben uns diese Briefe Dürer in seinem
Umgange mit den Nächststehenden gezeigt, so
stellt die Briefreihe an Albrecht Heller in Frank-
furt ihn uns in seiner Eünstlerarbeit und in
seinem Eünstlerbewusstsein dar. In diesen Briefen
handelt es sich nämlich um ein Bild, das Dürer
in kurzer Zeit und zu geringem Preise zu liefern
versprochen hatte, später aber, da Muhe und
Kosten sehr gross wurden, weder zu dem aus-
gemachten Termine noch Preise liefern konnte,
und die männliche Art und Weise, in welcher
er auf seinem Recht besteht, ohne irgendwie ge-
winnsüchtigen Sinn zu zeigen, macht uns sein
Wesen angenehm und vertraut. Diesem echt
künstlerischen Zuge, Freunde gern zu beschen-
ken, für sich selbst aber wenig zu erwerben,
begegnen wir namentlich in seinem Tagebuch
über die niederländische Reise, in welchem er
an manchen Stellen (S. 124, 129) äussert, dass
er für seine Zeichnungen nur von Wenigen et-
was erhalten habe, auch nicht von der Erz*
herzogin Margarethe, und dass er bei der gan-
zen Reise Schaden und Verlust erlitten habe.
Unter diesem Tagebuch haben wir uns nun
nicht etwa die Beschreibung einer Künstlerfahrt
im modernen Sinne, eine Schilderung von Land
und Leuten, verziert mit geistreichen Bemer-
kungen, witzigen Einfallen und eingefügten Zeich-
Thausing, Quellenschrift, f. Kunstgesch. etc. 981
nungen zu denken, sondern eine ganz kurze Auf-
zählung der Aufenthaltsorte, genaue Angaben
über seine Einnahmen und Aasgaben für Essen,
Trinken und Spielen — freilich gibt er auch
getreulich an, wenn er gewinnt — Nennung der
Personen, mit denen er zusammengewesen, und,
was dem Ganzen seine hohe Bedeutung für die
Kunstgeschichte verleiht, sehr zuverlässige Mit-
theilungen über Alles, was er gezeichnet und
gemalt und über die Gemälde, welche er ge-
Behen hat, wobei ich die neidlose Anerkennung
fremden Talentes besonders hervorhebe. Nur
selten gibt er etwas ausgeführte Schilderungen
von Merkwürdigkeiten, die er gesehen, z. B.
eines Wallfischs, eines Riesen (S. 103, 95), oder
erlebt hat: die Krönung Kaiser Karl's, die An-
kunft des Königs von Dänemark, die Seegefahr
(S. 98, 131 fg., 105).
Wohl mag er manches verständige Wort auf
der Reise gesprochen und gehört haben und er
vergisst auch nicht, die bedeutenden Männer zu
nennen, mit welchen er zusammentraf — der
bedeutendste ist Erasmus — , er gibt die Bü-
cher an, welche er gekauft und wahrscheinlich
auch gelesen hat, aber er hält es nicht für
seine Aufgabe , weitläufig darauf einzugehn.
Denn ein Gelehrter ist Dürer nicht, wenn er
auch durch die Einwirkungen des Kreises, in
welchem er lebte, nicht unberührt geblieben ist
von der literarischen Strömung,, deren Wogen in
jener Zeit hoch genug gingen. Er hat wol
Interesse für die Forschungen Anderer, fragt in
Venedig für Pirckheimer nach neu erschienenen
griechischen Büchern (S. 14, 21), beruft sich in
den Vorreden zu seinen wissenschaftlichen Wer-
ken auf die Vorgänger, die er gehabt, und spricht
982 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
sich mit hübschen Worten über sie ans
(S. 55).
Da er kein Gelehrter war, so hat er sicher-
lich anch nicht die Sitte der Gelehrten seiner
Zeit mitgemacht, lateinische Verse zu schmie-
den* aber deutsche hat er gemacht, deren lieber-
Setzung in unsrer Sammlung gleichfalls mitge-
theilt wird, Verse, die theils sinnige Gedanken
in angemessener Form wiedergeben, theils in
schalkhaften Worten den Verf. oder andere Per-
sonen belachen. Wie hübsch ist die Art und
Weise, in der er sGine ersten Keimversuche er-
zählt, und der Humor, in welchem er das Spott-
gedicht, das sein Reimverbesserer Lazarus
Spengler auf ihn gemacht hat, beantwortet.
Neben diesen reichen humoristischen An-
wandlungen fehlt es aber nicht ausrasten Ge-
danken, an religiösen Empfindungen.- Nament-
lich den Angriffen gegenüber, welche behaupte-
ten, dass die Kunst den Materialismus befördere,
zur Verehrung von Holz und Stein führe, betont
er mit aller Stärke, dass im Gegentheil die
Kunst den Geist veredle und das Gemüth er-
hebe (S. 55). Die Berichte über den Tod sei-
nes Vaters und seiner Mutter, die er uns hinter-
lassen hat, athmen den Geist tiefer Religiosität ;
in den Erzählungen mancher Ereignisse, wie der
Gefahr, die er zur See bestand, tritt sein Gotfc-
vertraun deutlich hervor. Und während er durch
abergläubische Vorstellungen (von einem Kreuze,
das vom Himmel fiel, von einem Traumgesicht
S. 135, 138) als rechtes Kind seiner Zeit er-
scheint, während er durch seine Verehrung der
Reliquien, . des Rosenkranzes (S. 97, 126) noch
auf dem Standpunkte des alten Glaubens zu ver-
harren scheint (auch den Beichtvater, dessen er
sich bedient, erwähnt er oft S. 113, 114, 125),
Thaußing, Quellenschrift, f. Kunstgesch. etc. 983
ist er doch ein warmer verehrungsvoller Anhän-
ger Luther 8. Er kauft seine Schriften und
möchte gern, wenn ihm das vergönnt wäre,, sein
Bild malen (S. 42) und als er auf der nieder-
ländischen Reise das falsche Gerücht hört, Lu-
ther sei gefangen, ja vielleicht gestorben, da
bricht er in eine gewaltige, erschütternde Klage
über den furchtbaren Verlust aus und ruft mit
flehenden Worten dem Erasmus zu, dass nun er
als »Ritter Christi hervorreite neben dem Herrn
Jesus, die Wahrheit beschütze und der Märty-
rer Krone erlange««
Wie er sich so dem gewaltigen Kampfe des
Volkes nicht entzieht, so steht er auch sonst
seinem Volk nahe: er ist ein Bewunderer der
Kaiser, ein treuer Freund seines Vaterlandes,
ein trefflicher Sohn seiner Stadt.
Ich zweifle nicht, dass die Hoffnung, welche
der Herausgeber ausspricht, dass seine Samm-
lung »dazu beitragen werde, Dürer dem Herzen
seines Volkes wieder näher zu bringen, dem er
wie nur Einer, mit jeder Fiber seines Wesens
angehörte sich erfüllen werde, und spreche gern
an dieser Stelle für die verdienstliche Leistung
gebührenden Dank aus.
Berlin. Ludwig Geiger.
Ten years north ofthe Orange river;
a story of e very-day life and work among the
South African tribes from 1859 to 1869. By
John Mackenzie of the London Missionary
society. Edinburgh, Ed monston & Douglas 1871.
XIX und 523 Seiten, kl. Octav.
Der vorstehende Titel versetzt den Leser
984 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 25.
andeutungsweise wenigstens mitten hinein in den
Inhalt des Buches, welches die Erlebnisse und
Beobachtungen des Verf., die er während eines
zehnjährigen Aufenthaltes in Süd-Afrika gemacht
hat, erzählt. Mit mehreren Arbeitsgenossen,
speciell mit Mr. Price, beide von der Lon-
doner Missionsgesellschaft angewiesen, unter den
Makololo zu arbeiten, verliess er im Juni 1858
Southampton; nach 38 Tagen stiegen sie in der
Gapstadt ans Land. (Introduction & Ghapt I
S. 5). Wir eilen mit dem Verf. durch das erste
Kapitel (the Cape Colony p. 5 — 27) nach Hope
town. Von hier tritt er die Weiterreise mit
Hrn. Price zu den Bechuanas an; leider ver-
missen wir genaue Zeitangaben hier schon und
später, so dass sich die Zeitdauer der grösseren
Reisen nicht hinreichend feststellen lässt. Von
Hope town zuerst nach Griqua town, dann nach
Kuruman , wo sie Ende 1858 eintrafen. Nach
fünfmonatlichem Aufenthalt begaben sie sich
nach Fauresmith, wo sie am 7. Juni 1859 an-
kamen. Auf einem mit Pferden bespannten
Wagen reisten beide in 6 Tagen zurück nach
Kuruman, vom 29. Juni bis 4. Juli, und von
da zurück nach Fauresmith, über Griqua town
und Campbell, wo sie am 14 ten Juli ankamen:
»it being winter, schreibt der Verf., the weather
was pleasant during the day, but bitterly cold
at night« (S. 38). Um diese Zeit traten die
Missionare Helmore und Price mit ihren Frauen
und Kindern und der nöthigen Begleitung von
Eingebornen die Reise in das Land der Makololo
ftn, von welcher nur Price lebend zurückkehrte.
Der Verf. blieb zurück, studirte die Sechuana-
Sprache und half den Eingebornen mit seinen
medicinischen Kenntnissen aus (S. 40 — 45). Die
vier folgenden Kapitel von Ch. III bis Ch. VI
Mackenzie, Ten years north of the Orange river. 985
sind eine Episode historischen Inhalts über die
Missionen unter den Griquas und Betchuanen,
die daher nur Bekanntes bringen, was in den
betreffenden Missionsschriften laugst veröffent-
licht worden. Eigentümlich sind in diesem
Abschnitt seine Ansichten von der Zukunft Süd-
afrika's. Die europäischen Colonisten dringen
immer weiter vor nach Norden: wie soll das
britische Gouvernement sich gegen die unver-
meidlich daraus entstehenden Streitigkeiten um
den Besitz des Bodens vorhalten? »Is it best,
fragt der Verf., that the Europeans in South
Africa should be divided into small independent
and antagonistic States ?c Er meint dies nicht,
und hält »one large and powerful European
community« für besser, wobei er hofft, dass die
von Geschlecht zu Geschlecht weiter vorwärts
dringende englische Sprache dazu beitragen
werde, alle Provinzen zu einem Bundesstaat un-
ter der Oberherrschaft der Königin von Gross-
britannien zu vereinigen (S. 55). Ch. V han-
delt von der Ortschaft Kuruman; eine lebendige
Schilderung eines Sonntag-Morgens daselbst
steht S. 72 u. ff. Ch. VI beschreibt die Mis-
sion unter den Batlaping, einem Stamm der
Betchuanas, in Taung und in Likhatlong; sie
erscheint ihm darum besonders lobenswerth,
dass sie unter den feindseligen Stämmen Frie-
den stiftet (S. 89). Am 25. Mai I860 begiebt
sich der Verf. selbst auf die Reise in das Ma-
kololo-Land (Gh. VII, S. 98). Dieselbe dauerte
9 Monate, denn am 14. Februar des nächsten
Jahres befand sich Hr. Mackenzie wieder in
Kuruman (S. 221). Wie viel hatte er inzwischen
erlebt und gesehen 1 Seine zwölf Begleiter ge-
hörten verschiedenen Volksstämmen an: Bet-
chuanen, Hottentotten, Buschmännern u. s. w.
75
986 Gott, gel. Anz. 1873. Stück 25.
Die Dienerin seiner Frau war eine Kaffer-Frau,
deren achtjähriger Sohn, Fama, die Mutter be«
gleitete. Mebalwe, ein früher Reisegenosae
Livingstone's, und Furu, der Treiber der 70
Ochsen, waren erprobte Männer (S. 99 u. f.).
Kanye, die erste grosse Stadt im Bangwaketse-
Lande, liegt mitten unter grossen Aloebäumen,
in einer wohlbewässerten, waldigen Landschaft.
An Kolobeng, bekannt aus Livingstone's Reisen,
vorüber kommen sie nach zweitägigem Marsch
nach Liteyana, der Residenz des Häuptlings
Sechele, der sie freundlich empfängt (S. 105).
Von hier wandten sie sich nördlich nach Ko-
pong, Boatlanama und Eopepe; am 20. Juli
zogen sie in Shoshong, der Stadt der Bamang-
wato, deren Häuptling Sekbome, ein (S. 112).
Diese Stadt ist die grösste im Bechuana-Lande,
eine der grössten überhaupt in Süd-Afrika.
Hier war der Missionar Moffat anwesend (S.
112). Der schwierigste Theil der Reise stand
nun erst bevor (S. 114). Die nächste grössere
Stadt war Kanne im Bakalahari-Land , über
welche hinaus sich eine weite öde Wüste aus-
dehnt. Nach zwei Tagereisen kamen sie nach
Nkowane. »The country was exceedingly mono-
tonous and uninteresting«, ohne Wasser, »an
undulating prairie, whose gently sloping ridges
of sand followed one after another like the
waves of the seac. Hie und da in dem hohen
Grase »a solitary camel-thorn, with fantasti-
cally turned branches«, »small shrubs and bushes
between the tall white grass«, »not a living
creature was seen for miles«. (S. 118u. f.). In
der Nabe des Lagerplatzes zeigte sich ein klei-
ner Vogel, der wie eine Lerche auffliegend, einen
kurzen Gesang vernehmen liess; in einiger Ent-
fernung wurden Antilopen und Giraffen gesehen
Mackenzie, Ten years north of theOrange river. 98?
(S. 119). In Lotlakane fanden die Reisenden
Sporen yon Helmore und Price, die hier einige
Wochen zugebracht hatten (S. 121). Ein er*
greifender Brief von der Frau Helmore, in wel-
chem sie ihre grossen Entbehrungen beschreibt,
schliesst dies Kapitel (S. 121—127). Die Be-
chuanas spielen hier die Herren, die Buschmän-
ner sind ihre Sklaven; erstere haben die Ge-
wohnheit, die letzteren auszuplündern (Gh. VIII,
S. 128u.ff.). Handel mit Elfenbein und Straussen-
federn ist lebhaft; kaum weniger der Bürger-
krieg zwischen den benachbarten Stämmen, bei
welcher Gelegenheit die Buschmänner in die
Berge und Wälder fliehen. Sie zeichnen sich
durch Schlauheit und Intelligenz aus, besitzen
gute medicinische Kenntnisse und sind sehr
abergläubisch (S. 133 u. ff.). Am 6. August
brachen die Reisenden von Lotlakane auf und
waren Abends in Nchokotsa, an dem Bette
eines ausgetrockneten Sees gelegen. Hier hörte
die Kenntniss des Weges auf, daher man ge-
nöthigt war Buschmänner aufzusuchen, die als
Führer dienen konnten. Dies gelang, wenn
auch nicht ohne Mühe (S. 140 u. f.). Am 10.
August wurde der Zouga oder Botletle über-
schritten, an einer sehr seichten Stelle; höher
hinauf fand sich mehr Wasser. Am folgenden
Tage wurde Kube (auf der Karte Kobe) erreicht
(S. 143), von wo der Marsch durch eine sehr
öde Ebene nach Ntwetwe führte. Auf dem
Wege dahin »we found that on every side, as
far as the eye could reach, there extended what
has probably been the bed of an inland sea,
but is now completely dry in winter and
gradually curtailed and intersected by the ad-
vance of vegetation. Farther north I came
upon a »pan« in which this process had been
75*
s
988 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 25.
completed; vegetation extended from one end of
it to the otherc (S. 145). Solcher pans 8ind
auf der beigegebenen Karte in dieser Gegend
mehrere, grössere und kleinere, als Salt-pans
verzeichnet. Nachts raubt ein Löwe ein Pferd
S. 146 u. f.). Am 17. August waren die Reisen-
en unweit der Quelle Maila in einer kleinen
Stadt der Makalaka, deren Bewohner, obwol
Wild genug (Büffel, Zebras, Gnus etc.) vorhanden,
Hunger litten — weil sie eben nur Ackerbauer,
keine Jäger waren — »an illustration of the
strength of hereditary prejudices or principles
as to the manners and customs of a tribe« (S.
149). Hier erfuhren sie aus dem Munde eines
Buschmanns von dem Tode Helmore's in Liny-
anti, hielten die Nachricht jedoch für erdichtet.
Ein Brief von Miss Helmore aus 1859 ist hier
eingeschaltet (S. 160—165). Die Führer woll-
ten nun die Karawane nicht weiter nördlich ge-
leiten: »there is no water, nothing but sun«,
hiess es. Endlich entschlossen sie sich doch
dazu, nachdem der Häuptling der Buschmänner,
Mokantse, gesagt, es gäbe fünf Quellen auf dem
Wege (S. 167). Der Aufbruch von Maila ge-
schah am 20. August. Die Route wird von
jetzt an bestimmt durch das Suchen nach Quel-
len; Menschen und Thiere leiden Durst. End-
lich gelangen sie, nachdem sie sich durch einen
dichten Wald mit der Axt den Weg gebahnt
haben, an den Zouga-Flufes (S. 173). Hier ver-
nehmen sie abermals die Erzählung von Hel-
more's Tod: »all dead except one man and two
children c (S. 174), »and the surviving teacher
at Lechulatebe's town«. Hr. Mackenzie meinte
auch diesmal, es sei alles nicht wahr. Auf-
fallender Weise ist die Route an den Zouga
auf der Karte nicht verzeichnet, der die Route
Mackenzie, Ten years north of the Orange river. 989
markirende Strich bis Linyanti nimmt eine ganz
andere Richtung; es scheint, als fehle ein sol-
cher Strich von Maila westlich hinüber nach
dem Zouga, da der Verf. S. 167 schreibt: >I
found towards evening that we were going almost
due west«. Nach einigen Tagen Rast am Zouga-
fluss ziehen die Reisenden weiter, am 6. Sep-
tember; wieder stösst eine Gesandtschaft von
Lechulatebe, the chief, zu ihnen. Der Häuptling
sendet ihnen Boote, über den Fluss zu setzen,
und lässt sagen, ein weisser Mann, »your dear
friend, but sick and tired c, sei bei ihm. Auch
jetzt glaubt Hr. M. nicht, dass dies wahr sei.
Er zieht seines Weges weiter; da am folgenden
Tage trifft er seinen Freund Price mit Helmo-
re's beiden Kindern. Ein erschütterndes Wie-
dersehen : «we sat down and wept for those who
where note (S. 182). Das Räthsel war gelöst:
die führenden Buschmänner hatten absichtlich
Hrn. M. an den Zouga geleitet statt gen Nor-
den : »I have the utmost pleasure in mentioning
the 8tricking instance of the genuine benevolence
and thoughtful kindness in the Bushmen of the
African desertc (S. 184 u. f.). Ch. X (S. 186—
203) mit der Ueberschrift Linyanti beschreibt
all das Unglück , wovon Helmore und seine
Reisegefährten betroffen worden waren. Man
befand sich nun im Lande der Makoba und
fuhr den Zouga hinauf nach der Stadt des
Häuptlings der Batowana, Lechulatebe, unweit
des Ngami oder Nghabi-Sees (am 18. Septbr.),
wo am 23. September ein Gottesdienst ge-
halten wurde. Nach drei Tagen Rast wurde
die Rückreise angetreten. Der eigentliche Zweck
der Reise, unter den Makololo eine Miösions-
station zu gründen, war nicht erreicht. Aber
Niemand wollte Hrn. M. nach Linyanti beglei-
990 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
ten. Es blieb nichts übrig, als nach Euroman
zurückzukehren, wo die Reisenden, wie obener-
wähnt, am 14. Februar 1861 ankamen. Die
nächste Zeit beschäftigen den Verf. literarische
Arbeiten, Uebertragungen in dieSechuana-Sprache.
Dann dirigirt ihn die Londoner Missionsgesell-
schaft nach Shoshong, im Mai 1862 (Ch. XII,
S. 227). Unterweges besteht er ein Abenteuer
mit einem Löwen, nachdem er das Land der
Barolong durchzogen ; im Juni ist er in Shoshong,
wo Hr. Price sich schon vorher niedergelassen
hat (S. 238 u. f.). Der Plan bis zu den Makololo
von hier aus vorzudringen ward durch ver-
schiedene Gründe vereitelt (S. 242): Sekeletu,
der Häuptling der Makololo, starb 1863; der
Stamm selbst geräth durch Verrath (S. 245)
unter die Botmässigkeit von Lechulatebe: »thus
perished the Makololo from among the number
of South African tribes« (S. 247). In Shoshong
brachen die Blattern aus, zugleich mit den Ma-
sern. Der Verf. bemerkt, sie seien 1713 durch
die Besatzung eines Schiffes nach der Kapstadt
und von da ins Land gebracht, kehrten dann
1755, 1767, 1812, 1831 und 1858 wieder. Die
Bamangwato kannten die Impfung: »they were
in the habit of inoculating for 6mall — pox —
sometimes in the forehead but more frequently
on the front of the leg a little above the knee«
(S. 252). Der Verf. fand öfter Gelegenheit zur
Jagd, erlebte manches Abenteuer und heilte
Kranke, wodurch sein Ansehen bedeutend stieg.
Im folgenden Kapitel (XIV) erzählt er den Ver-
lauf eines Krieges zwischen den Bamangwato
und den Matabele, durch den er gezwungen
wurde, mit seiner Familie in die Berge zu
flüchten (S. 273 u. f.). Mitte Juli 1863, nach-
dem die Matabele sich zurückgezogen, unter-
Mackenzie, Ten years north of the Orange river. 991
nahm Hr. Mackenzie eine Reise in das Land der
Matabele (Ch. XV). Ch. XVI ist der Geschichte
des oft genannten Häuptlings dieses Stammes,
Moselekatse, gewidmet und Ch. XVH handelt
von der militärischen Organisation unter den
Matabele und den Wirkungen des Ghristenthnms
unter ihnen. Ende Februar 1864 kam er nach
Shoshong zurück (S. 352). Auf der Karte ist
zwar die Reiseroute nachlnyate, der Hauptstadt
im Matabele-Land, bezeichnet, aber kein einzi-
ger der im Text genannten Ortsnamen, welche
die Reisenden berührten, angegeben. Sehr sorg-
faltig gesammelte und zusammengestellte Nach-
richten über die der Familie der Betchuanen
angehörenden Bamangwato enthalten Ch. XVIII
und XIX, das erstere die Geschichte dieses
Stammes, das letztgenannte dessen religiöse
Vorstellungen und politische Verfassung im weite-
sten Sinne des Wortes. Familienzwiste unter den
Häuptlingen haben zu Spaltungen unter diesem
Volke und langjährigen Kriegen geführt. Auf
den Bergen finden sich noch die Ruinen ehe-
maliger Wohnungen, Zufluchtsstätten in Kriegs-
zeiten (S. 365). Shoshong, die Hauptstadt,
zählt 30,000 Einwohner; in den von der Stadt
am meisten entfernten Dörfern wohnen die Ma-
kalaka, in nordöstlicher Richtung die Mach-
wapong, drei Tagereisen gen Osten die Basilika
S. 386 u. f.). Festbestimmte Grenzen zwischen
en verschiedenen Stämmen giebt es nicht (S.
369); an den äussersten Grenzen liegen Jagd-
Stationen, von welchen aus in Friedenszeiten die
Stämme mit einander verkehren. Hinsichtlich
ihrer geistigen Fähigkeiten stehen die Betchuana
und die verwandten Stämme kaum einem andern
Volke dach (S. 396 u. ff. in Ch. XX), aber dem
Evangelium sind sie schwer zugänglich. Der
s
992 Gott. gel. Anz. 1878. Stück 25*
Verf. verbreitet sich ausführlich über die Stel-
lang des Häuptlings Sekhome zum Christen-
thum Ch. XXI. Derselbe besass eine nicht ge-
wöhnliche Kenntniss vom christlichen Glauben,
aber er verhielt sich demselben gegenüber feind-
selig. Seine Söhne wollte er zur Vielweiberei,
der sie abgeneigt waren, weil sie sich zum
Ghristenthum bekannten, nöthigen. Sie wider-
standen. Als er Gewalt gegen 6ie anwenden
wollte, weigerten seine Soldaten ihm zu gehor-
chen. Er floh und verbarg sich in einem Neben-
gebäude bei der Wohnung seiner Mutter. Seine
Söhne, anstatt sich zu rächen, verhielten sich
ruhig; der Vater musste sein Vorhaben vorlaufig
aufgeben. Aber er sann auf neue Pläne seineu
Willen durchzusetzen: the father against the
son lautet die Ueberschrift von Ch. XXII, wel-
ches hievon handelt. Es kam zu offnen Feind-
seligkeiten (S. 427 u. ff.). Der Verf. wurde in
Mitleidenschaft gezogen; ausführlich beschreibt
er seine Bemühungen Frieden zu stiften, was
ihm aber nicht gelang. Inzwischen berief
Sekhome seinen Bruder Macheng und übertrug
ihm die Herrscherwürde. Mit diesem söhnte
sich Ehame, der Sohn Sekhome's aus, indem er
sich ihm unterwarf. Sekhome sah seine Sache
verloren und entfloh. Der Verf., von allen ge-
achtet, weil er stets zur Aussöhnung gerathen,
blieb unbehelligt; sein Benehmen kam der
Sache, die er vertrat zu Gute: »the Christian
life and character were a new force in the town
of the Bamangwato (S. 451). It was a thing
to be wondered at — perhaps admired c etc.
Aehnlich und noch eingehender lautet das Ur-
theil des Verf. über den sichtbar wohlthuenden
Einflus8 der Mission auf den Volkscharacter S.
472 iL f. Nicht wenige Einwohner in Shoshong '
Mackenzie, Ten years north of the Orange river. 993
bezeugen dem Sonntag eine gewisse Achtung;
tritt Regen ein, so sagt man jetzt : Gott hat nns
mit Regen ausgeholfen. Sogar über die Stadt
hinaus auf den Jagdgebieten haben die Heiden
Respect vor dem Sonntage: wer am Sonntag
jagt, 6agt ein Heide, der erlegt nichts, er trifft
auf einen Löwen, oder verwundet sich mit einem
Dorn, oder seine Flinte zerspringt. Im Jahr
1867 fing der Verf. an, in Shoshong eine Kirche
zu bauen. Nachdem sie fertig, wurde sie unter
grossem Zulauf eingeweiht (S. 459 ff.). In dem-
selben Jahre wurde am Tatie-Fluss, auf dem
Wege von Shoshong nach dem Lande der Ma-
tabele, Gold entdeckt (Ch. XXIV, S. 453 ff.);
zu einer energischen Ausbeutung kam es übri-
gens nicht, da diese Gegend für Fremde, die am
Kap landen, zu weit entfernt ist. 1869 kehrte
der Verf. nach England zurück (S. 474). Er
scbliesst seine ausführliche, mitunter sehr breite,
immerhin aber lehrreiche Darstellung seiner Er-
lebnisse während zehn Jahren unter jenen Völ-
kern Süd-Afrika^ mit allgemeinen Bemerkungen
über den civilisirenden Einfluss der evangeli-
schen Mission auf das Heidenthum. Diese Be-
strebungen fortzusetzen ist 'die Pflicht der
Kirche Christi (S. 479). — In dem angeKäng-
ten Appendix S. 483 — 523 verbreitet sich der
Verf. über die früheren Einwohner der von ihm
bereisten Gegenden, deren Religion, Sitten und
Gewohnheiten von ihren gegenwärtigen Nach-
kommen noch aufs äusserste festgehalten wer-
den (S. 483 — 489). Darnach versucht er eine
Gliederung der verschiedenen südafrikanischen
Stämme nach ihrer Sprache in zwei Familien:
die Sprachen der Hottentotten und Buschmänner
und die Sprachen der Ban-tu-Familie, wobei
einige Sprachproben, Wortbildungen, Wort-
994 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 25.
beugungen u. 8. w. angegeben werden. Diese
beiden Familien Bind auch in ihrer äusseren Er-
scheinung sehr verschieden von einander: die
erstere hat einen mongolischen, die zweite einen
arabischen Typus (S. 498). Ein kurzer mit
Abbildungen versehener Abschnitt (S. 498 —
504) bespricht einzelne religiöse Gebräuche,
den Bau der Häuser und die Waffen. Diesem
schliesst sich ein kurzer Nachweis an über den
die Stämme verändernden Einfluss des Klima's
und der Nahrung, nachdem sie aus ihren ur-
sprünglichen Wohnsitzen verdrängt worden (S.
504 — 508). Die Berührung mit den Europäern
hat auf die in Sprache, Sitten und Character
verschiedenen Stämme eine verschiedene Wir-
kung gehabt. Dies sucht der Verf. in einer
kurzen Skizze des ersten Zusammentreffens der
Europäer mit den Buschmännern, den Hotten-
totten, den Kaffern und Betchuanen nachzuwei-
sen. Das Resultat dieses Nachweises fasst er
in den Schlussworten seines Buchs zusammen:
»In Southern Africa and without the inter-
ference of any one, the restless, the powerful
and skilful are passing northwards; the com-
paratively weak and ignorant are emigrating
southward and there finding a peaceful home«.
. Der Werth des Buches beruht auf dem reichen
Material, welches Hr. M. darin über den Cha-
racter, die Lebensweise, die Denkart und die
Sitten der vielen Stämme, unter denen er ge-
lebt, niedergelegt hat. Dergleichen zu sammeln
hat ein Missionar die beste Gelegenheit, dafür
pflegt er auch am meisten durch seine Berufs-
bildung befähigt zu sein. Die 6 landschaft-
lichen Bilder, Lithographien, sind besser hin-
sichtlich der Zeichnung als des Drucks ; unter
den 6 Holzschnitten ist der der Matabele-
Dalton, D. evangelische Bewegung in Spanien. 995
Soldaten am meisten characteris tisch. Der
Druck des Buchs ist uns sehr correct er-
schienen.
Altona. Dr. Biernatzki.
Dalton, Hermann (reform. Pfarrer in St.
Petersburg) : Die evangelische Bewegung in Spa-
nien. Reiseeindrüche. Wiesbaden, Julius Nied-
ner's Verlagshandlung, 1872. Philadelphia bei
Schäfer und Konradi. 88 Seiten.
»Die evangelische Bewegung in Spanien zieht
so sehr die Aufmerksamkeit der evangelischen
Kirche auf sich, das Land selber aber wird von
deutschen evangelischen Theologen noch so sel-
ten betreten, dass jeder Geistliche, der da aus
eigener Eenntniss der Sache näher getreten,
fast verpflichtet ist, seinen Erwerb den Amts-
brüdern und Gemeindegliedern, die sich dafür
interessiren, mitzutheilenc So der Verf. in
der Vorrede, und ganz ohne Zweifel können
wir ihm nur dankbar sein, dass er diesem Ge-
fühle der Verpflichtung nachgekommen und uns
die Eindrücke geschildert hat, welche er auf
seiner im Jahre 1871 unternommenen Ferien-
reise nach Spanien von der dortigen evangeli-
schen Bewegung bekommen. Es ist ganz ge-
wiss wahr, was kürzlich anderswo bemerkt
wurde, dass uns die kirchlichen Zustände der
pyrenäischen Halbinsel doch so ziemlich eine
terra incognita und dass die Kirchengeschichte
Spaniens bei uns über die Gebühr vernachlässigt
worden ist. Aber eben deshalb ist denn auch
jeder auf bewährte Quellen oder auf Autopsie
gegründete Beitrag zur näheren Eenntniss der
dortigen kirchlichen Zustände willkommen, und
von dem, was der Verf. darbietet, darf gesagt
996 Gott, gel Anz. 1873. Stück 25.
werden, dass es den da zu machenden Anforde-
rungen in hohem Masse entspricht: er schildert
anschaulich und mit allem warmen Interesse,
was er gefunden hat, aber er schildert es auch
mit dem nüchternen Sinne, der sich an That-
sächliches hält und sich nicht jedem ersten Ein-
drucke bingiebt. Wir lernen hier allerdings
kennen, wie es um das Evangelium in Spanien steht.
Und da ist es denn freilich und leider selbst-
verständlich, dass es nicht heitere Bilder sind,
die uns der Verf. vor Augen fuhrt. Er hat
seine Mittheilungen in zwei Theile getheilt: in
dem ersten schildert er die Schicksale des Evan-
geliums und seiner Bekenner iu Spanien wäh-
rend des Reformationsjahrhunderts, und in dem
zweiten das, was das wiedererwachende Evange-
lium und die, in denen und durch die dies ge-
schehen ist, in unserem Jahrhundert in dem
»Lande voll Sonnenschein« zu erleben gehabt
haben, allein dass beides, die Geschichte des
Evangeliums im 16 ten und die im 19 ten Jahr-
hundert, lediglich eine Märtyrergeschichte bat
sein können, das lag denn freilich in der Na-
tur der Sache. Wahrhaft erschütternd ist, was
da aus den Tagen der Reformation an Gross-
thaten der Inquisition mitgetheilt wird, und wenn
der Jammer, den die Glaubensrichter in unseren
Tagen dort angerichtet, jene grauenvollen Tha-
ten nicht erreicht, so ist das wohl ein Zeichen,
dass die Milde der Zeit auch dort ihren Einfluss
nicht ganz verloren hat, aber schlimm bleibt
doch immer auch noch die Behandlung, welche
man bis vor Kurzem und so lange der Jesuitis-
mus durch die Königin Isabelle in dem Lande
jenseits der Pyrenäen regierte, den Bekennera
des Evangeliums geglaubt hat anthun zu müs-
sen, und gewiss ist es erwünscht, dies Alles von
Dalton, D. evangelische Bewegung in Spanien. 997
dem Verf. hier actenmässig zusammen gestellt
zu sehen. Je mehr wir gerade jetzt mit den
Mächten zu kämpfen haben, denen noch vor
einem Jahrzehent ein Matamoros und dessen Ge-
sinnungsgenossen in Spanien erlegen sind, und
je mehr gerade diese Mächte bei uns auf die
»Glaubens- und Gewissensfreiheit« pochen, diese
für sich in Anspruch nehmend, um so interessanter
ist es, zu sehen, wie sie selbst da, wo sie die
Herrschaft haben, die Glaubens- und Gewissens-
freiheit zu handhaben gewohnt sind. Im 16ten
Jahrhundert sehen wir die Feuergerichte die von
den Jesuiten gewährte Gewissensfreiheit in das
rechte Licht stellen, und in unsern Zeiten lehren
uns die von ihnen über Evangelische verhängten
Eerkerstrafen und Landesverweisungen, wie sie
es verstehen, wenn sie für sich die Gewissens-
freiheit fordern, und dass der Verf. das Alles
uns schildert, macht sein Buch für uns im höch-
sten Grade lehrreich und interessant, wenn es
auch nicht immer erfreulich ist, was wir da lesen.
Am Schluss stellt der Verf. Beobachtungen
über den Erfolg an, den man der evangelischen
Bewegung in Spanien vorher sagen dürfe, und
da verhehlt er sich denn die Schwierigkeiten
nicht, die es hat, das im 16 ten Jahrhundert
Versäumte, resp. Unterdrückte in dem unsrigen
nachzuholen. Doch meint er auch nicht muthlos
sein zu müssen. Die Arbeit ist schwer und for-
dert viel Geduld, aber sie ist nicht hoffnungslos,
wenn sie recht getrieben wird. Die hier von dem
Verf. gegebenen Winke sind gewiss beachtens-
werth. F. Brandes.
Nicolai Copernici Thorunensis de revolutioni-
bus orbium caelestium libri VI. Ex auctoris
autographo recudi curavit societas Copernicana
998 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 25.
Thorunensi8. Accedit Georgii Joachimi Rhetici
de libris revolutionum narratio prima. Thoruni
8umptibu8 societatis Copernicanae. 1873. XXX
und 494 S. in 4.
Diese neue Ausgabe des berühmten Werkes
ist zum 400jährigen Geburtsfeste des unsterb-
lichen Verfassers als würdigste Feier erschienen.
Gewidmet ist sie dem deutschen Kaiser, durch
dessen Munificenz es ermöglicht wurde, dieselbe
auch äusserlich so vortrefflich auszustatten, wie
es der Veranlassung ihres Erscheinens angemes-
sen war.
Sie unterscheidet sich von allen früheren dar
durch, da6S hier zum ersten Male Copernicus
eigene Handschrift zum Abdruck gelangt ist
Diese Handschrift, über welche, so wie über jede
der früheren Ausgaben und die vorliegende, in
den dem Werke vorausgeschickten Prolegomena
sich ausführliche Mittheilungen finden, hat ur-
sprünglich Rheticus, der bekannte Freund und
Schüler des Copernicus besessen; aus seiner
Bibliothek ist sie durch verschiedene Hände ge-
wandert, zuletzt im 17 ten Jahrhundert an das
freiherrliche jetzt gräfliche Haus Nostitz gekom-
men , in dessen Besitz sich dieselbe noch jetzt
zu Prag befindet. Lange war die Existenz, noch
länger der Werth der Handschrift unbekannt,
und zwar in der Weise, dass in einem, angeb-
lich von Sachkennern, im Jahre 1834 angefertig-
ten Cataloge der Nostitzschen Bibliothek als
Werth ein Gulden, und da dieser Preis noch
zu hoch erschien, später sogar nur ein halber
Gulden angesetzt wurde.
Dass die Handschrift wirklich die des Coper-
nicus ist, dessen Namensunterschrift allerdings
nirgendwo darin vorkommt, geht aus dem Ver-
gleich mit anderen seiner Handschriften sicher
Rhetici, Nicolai Copernd. 999
hervor. Gassendi sagt in seinem Leben des Co-
pernicus: cum videri potuisset, satis fecisse cae-
teris, sibi tarnen ipsi nunquam satisfactum pu-
tavit. Die Handschrift giebt ein treues Abbild
dieses Streben 8 nach Vollendung und ist, schon
aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, ein höchst
ehrwürdiges Denkmal. Es sind viele .Stellen
durchgestrichen, vieles am Rande hinzugeschrie-
ben, auch sind einzelne Blätter eingelegt.
Es giebt vier frühere Ausgaben. Die erste
ist die im Jahre 1543 in Nürnberg gedruckte
und von Rheticus besorgte. Wie Gassendi er-
zählt, wurde Copernicus wenige Stunden vor sei-
nem Tode, ein Exemplar dieser Ausgabe über-
bracht. Nun behauptet Humboldt im Kosmos
(Bd. 2 S. 344) dies sey nicht richtig, Coperni-
cus sey nicht wenige Stunden, sondern erst meh-
rere Tage nachher gestorben, er beruft sich hier-
bei in einer Anmerkung auf verschiedene Zeug-
nisse. Allein diese Zeugnisse sagen nur aus,
dass das Werk wenige Tage vor dem Ableben
des Verfassers erschienen war und das ist
gewiss richtig und steht durchaus in keinem
Widerspruche mit Gassendis Angabe, da es jeden-
falls mehrere Tage dauerte, bis das Exemplar
von Nürnberg nach Frauenburg gelangte. Eine
zweite Ausgabe erschien zu Basel 1546, eine
dritte zu Amsterdam 1617. Erst nach einem
langen Zwischenraum erschien die vierte Aus-,
gäbe im Jahre 1854 in Warschau mit polnischer
Uebersetzung. Durch diese Ausgabe wurde erst
die Copernicanische Handschrift in weiteren Krei-
sen bekannt, denn hier erschien zum ersten Male
die Einleitung in das erste Buch, welche die
früheren Ausgaben nicht enthalten. Im Uebri-
gen aber wurde die Handschrift nicht benutzt.
Ueber das Verbältniss der verschiedenen Aus-
1000 Gott. gel. Anz. 1873. Stuck 25.
gaben, und namentlich der ersten, von welcher
die zweite nur ein fehlerhafter Abdruck ist, zu
einander und zur Handschrift findet man in den
Prolegomena ausführlichen Bericht. Nach der
Beschaffenheit der Handschrift, urtheilen die
Herausgeber, sei es einem Drucker gar nicht
möglich gewesen, sich durch das Durchgestrichene
und Zugesetzte hindurch zu finden, und vermu-
then daher, class der erste Druck nicht nach
diesem Autograph, sondern nach einer Abschrift
gemacht worden sey, woraus sich sehr viele
Differenzen erklären lassen. Ueber die polni-
sche Ausgabe, welche Ref. nicht aus eigener An-
schauung kennt, urtheilen die Herausgeber, dass
so wie sie äusserlich die am glänzendsten aus-
gestattete, sie zugleich bis zur Unbrauchbarkeit
fehlerhaft ist.
In dieser neuen Ausgabe, aber welche die
Prolegomena ebenfalls ausführlich berichten, ist
nun die Handschrift im Wesentlichen, von offen-
baren Schreibfehlern abgesehen, genau wieder-
gegeben, so dass auch die mitunter eigentüm-
liche Schreibweise nicht geändert worden ist
Unter dem Texte sind nicht blos die verschie-
denen Lesarten der verschiedenen Ausgaben an-
gegeben, sondern es sind auch die Stellen, welche
Copernicus wieder ausgestrichen hat, ebenfalls
abgedruckt. Eine besonders merkwürdige unter
diesen ausgestrichenen Stellen ist diejenige (p.
166 dieser Ausgabe), in welcher die Möglichkeit
angedeutet wird, dass die Planeten sich in ellip-
tischen Bahnen bewegen könnten. Wäre nicht
Copernicus, wie noch sein ganzes Zeitalter, durch
die Vorstellung von der Vollkommenheit der
Kreisbewegung gefesselt gewesen, so hätte er
den grossen Bruch mit der alten Astronomie
vollzogen, welchen erst Eeppler gewagt hat.
Stern.
1001
6 ft 1 1 i a g i s c li e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 26. 25. Juni 1873.
Die Mitwirkung der Parteien im Strafprocess.
Ein Beitrag zur Beurtheilung des Entwurfs einer
Deutschen Strafprocessordnung. Von Dr. Hugo
Meyer, ord.Prof. d. R. zu Erlangen. Erlangen
1873. Verlag von Deichert. 70 S. in 8.
Kritik des Entwurfes einer Strafprocessord-
nung für das Deutsche Reich. Von Dr. W. E.
"Wahlberg, k. k. Hofrath und Universitäts-
professor. Wien, Verlag der Manz'scben Buch-
handlung. Ib73. 94 S. in gr. 8. —
Kritik der Principien des Entwurfs einer
Deutschen Strafprocessordnung vom Januar 1873.
Von Dr. L. v. Bar, o. ö. Prof. an der Univer-
sität Breslau. Berlin Verlag von J. Gutteu-
berg (D. Collin) 1873. 58 6. in 8. —
Ueber den in diesem Jahre vom Preussiscben
Justiz-Ministerium veröflentlichten, nunmehr den
Berathungen der Bundes-CommissioD unterliegen-
den Entwurf einer Deutschen Strafprocessordnung
hat die Deutsche rechtswissenschaftliche Literatur,
76
1002 Gott. gel. Aoz. 1873. Stück 26.
abgesehen von der Schöffen- oder Geschworenen-
gerichtsfrage und abgesehen von gelegentlichen
Aeusserungen geringeren Umfanges» sich kaum
noch vernehmen lassen*). Die drei in der
Ueherschrift genannten Kritiken sind bis jetzt
noch die ersten, und sie sind so kurze Zeit nach
einander erschienen, dass keine die andere mehr
berücksichtigen konnte. So wird es vielleicht
von einigem Interesse sein, in einer Gesammt-
anzeige die Ergebnisse der drei genannten Schrif-
ten zusammenzustellen.
Der Entwurf will nun bekanntlich die Ge-
schworenengerichte völlig beseitigen, sie durch
Schöffengerichte, weiche für die Aburtheilung
aller Strafsachen als grosse, mittlere und
kleine Schöffengerichte bestehen sollen, ersetzen.
H. Meyer, der Verfasser der erstgenannten
Schrift, hat sich bereits anderweit**) für die-
sen Plan ausgesprochen. Der Verfasser der
zweiten Schrift ist, wie er bereits verschiedent-
lich bethätigt hat, ein entschiedener Anhänger
des Geschworenen- und Gegner des von dem
Entwürfe adoptirten Schöffengerichts. Er wid-
met auch in der vorliegenden Schrift dieser
Frage einen besonderen Abschnitt (S. 10 — 29),
in welchem er insbesondere gegen den Hauptver-
treter des modernen Schöffengerichts (Sc h w a rze)
polemisirt und eine Zusammenstellung giebt der
Anhänger und der Gegner des Geschworenenge-
richts, wobei denn unzweifelhaft sich heraus-
stellt, dass die grosse Mehrzahl der Theoretiker
durchaus für das Geschworenen- und gegen das
*) Eine kurze Anzeige des Entwurfs von Zacharii
siehe jedoch in diesen Anzeigen btüok 16 vom SO. April
dieses Jahres.
**) Die Frage des Schöffengerichts geprüft an der
Aufgabe der Geschworenen. Erlangen 1873.
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1003
Schöffengericht sich erklärt bat. Der Verfasser
der dritten Schrift spricht sich in der Vorrede,
wie er auch dies schon im Jahre 1865 (Recht
tind Beweis im Geschworenengericht S. 51 ff.)
gethan, gleichfalls mit Bestimmtheit für das
Geschworenengericht aus, behält aber eine weitere
Verstärkung seiner Gründe mit Rücksicht auf
die neuerdings vorgebrachten Angriffe der Geg-
ner einer besonderen Schrift vor. Bei der
Schwierigkeit die Geschworenen- oder Schöffen-
gerichtsfrage in einer kurzen Anzeige mit zu er-
örtern, wird es daher gerechtfertigt sein, die
letztere auf den übrigen — bei der tiefgreifen-
den Bedeutung des Entwurfs für die Deutsche
Rechtspflege doch eine ganze Reihe prinripieller
Fragen berührenden — Inhalt der drei Kritiken
zu beschränken.
Die Schrift von H. Meyer, der sich im
Grossen und Ganzen sehr günstig über den Ent-
wurf ausspricht, behandelt ausführlich nur die
freilich weitreichende Frage der Durchführung
des Anklageprincip8, nämlich S. 9 — 24 in Bezug
auf das Vorverfahren, S. 25 — 35 bezüglich der
Erhebung der Anklage und S. 36—59 bezüglich
der Hauptverhandlung, und fugt nur in einem
Anhange S. 60 — 69 noch einige specielle kriti-
sche Bemerkungen über andere Vorschriften des
Entwurfs hinzu.
Die zweite Schrift ist die umfangreichste.
Sie bebandelt, im Ganzen in zehn Abschnitte
zerfallend, abgesehen von dem bereits erwähn-
ten zweiten Abschnitte über die Schwurgerichts-
frage, S. 3 — 9 die Technik und Oekonomie des
Entwurfs, S. 29—43 die öffentliche Anklage und
Privatanklage, S. 44 — 50 das Verhältnis des
Urtheils zu der Anklage, S. 50—58 die Unter-
suchungshaft, S. 58—64 die Staatsanwaltschaft-
1004 Gott. gel. Anz. 1873. Stade 26.
liebe Vorerhebung und gerichtliche Vorunter-
suchung,, 8. G5 — 68 die Vernehmung des Be-
schuldigten, S. 68 — 75 die Verteidigung. S. 75
—85 den Beweis und S. 86—94 die Rechts-
mittel des Entwurfs.
Die dritte Schrift will nur die Principien
des Entwurfs , diese aber in ihrer Gesammt-
wirkung und in ihrem Verhältnis» zu einander
prüfen, um, wenn thunlich, auch dem gebildeten
Laien und insbesondere den Vertretern unseres
Volks, die nicht Juristen von Fach sind, ein Ur-
theil über den Entwurf bilden zu helfen. Der
erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem An-
klagemonopol der Staatsanwaltschaft, der
zweite mit der Durchführung des Anklageprin-
cips in den vorbereitenden Abschnitten des Pro«
cesses (S. 13 — 35), der dritte mit der Durch*
fribrufig der Principien der Anklage und der
Mündlichkeit in der Hauptverhandlung, der vierte
(S. 42—48) mit den Voraussetzungen und Fol-
gen def vom Entwürfe proponirten vollständigen
Aufhebung der Berufungsinstanz, und in einem
fünften Abschnitte (S. 48 — 57) sind noch einige
Detailfragen, insbesondere die Untersuchungshaft
und der Zwang zürn Zeugnisse behandelt.
Was die von Meyer behandelten Fragen
betrifft, so kommen alle drei Schriften hier in
der Hauptsache zu demselben Ergebnisse,
dass nämlich der Entwurf noch fast durchaus
in den Traditionen des Inquisitionsprincips sich
bewegt und hinter den Anforderungen der Deut-
schen Rechtswissenschaft, wie selbst hinter dem-
jenigen zurückbleibt, was in einzelnen Deutschen
•JStrafprocessordnungen, namentlich in der Braun*
schweigischen und jetzt in der neuen Oesterrei*
chischen, bereits von beiden Häusern des Cis-
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 100Ö
leithanischen Reichstags genehmigten Straf-
processordn ung verwirklicht worden ist.
Der Entwurf fasst, wie man leicht bemerkt,
im Wesentlichen auf der bisherigen Preussischea
Gesetzgebung und Praxis. Wie diese will er
die Voruntersuchung durchaus inquisito-
risch einrichten und dabei, wie namentlich in
der dritten Schrift S. 18 dargelegt wird, die
Staatsanwaltschaft noch indirect zum Herrn der
Voruntersuchung machen, so dass selbst bei der
Anwendung von Zwangsmassregeln, insbesondere
von Zwangsmassregeln zur Erlangung eines Zeug-
nisses das Gericht nicht viel mehr als ein Werk-
zeug in der Hand des Staatsanwaltes sein
würde: denn, wie die Motive des Entwurfs S»
108 erklären, soll der Richter bei den Vor-
erbebungen, deren Ausdehnung allein vom Er-
messen der Staatsanwaltschaft abhängt, nur die
gesetzliche Zulässigkeit, nicht aber die
Zweckmässigkeit der von ihm vorzuneh-
menden Handlungen, also im Allgemeinen auch
wohl der Anwendung von Zwangsmitteln zu
prüfen haben. Freilich gilt dies letztere nur
von den s. g. Vorerhebungen oder wie man in
der Altpreussischen Gerichtssprache sich aus-
drückt, von dem Scrutinialverfahren, während
nach den Bestimmungen des Entwurfs in der
eigentlichen Voruntersuchung der Richter gerade
unabhängig von den Anträgen des Staatsanwalts
vorgehen soll. Aber da einerseits der Beginn
der eigentlichen Voruntersuchung durchaus von
dem Ermessen der Staatsanwaltschaft abhängt,
und nach dem Entwürfe nicht einmal im Falle
der Verhaftung ein Zwang zur Erhebung der
öffentlichen Klage binnen bestimmter Frist statt-
finden soll, andererseits die Vorerhebungen Be-
standteile der Voruntersuchungsacten werden,
1006 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
so sieht man leicht, dass die Garantien der
Voruntersuchung im Wesentlichen von dem
Ermessen und dem guten Willen der Staatsan-
waltschaft abhängig gemacht sind.
Gegen diese unhaltbare Unterscheidung von
Vorerbebungen , welche unter Direction des
Staatsanwalts stehen, und inquisitorischer Vor-
untersuchung sind insbesondere in Meyer's
Schrift höchst beachtenswerte Ausführungen
gerichtet. Meyer S. 16 ff. will, dass die Deut-
sche Strafprocessordnung auf das, was technisch
als Voruntersuchung bezeichnet werde, verzichte.
Es sollte seiner Ansicht nach zunächst dem An-
kläger überlassen bleiben, aussergerichtlich die
erforderlichen Nachforschungen anzustellen, und
nur da, wo es ihm noth wendig erscheint, oder
durch besondere gesetzliche Vorschrift für notb-
wendig erklärt ist, sollte der Ankläger gericht-
liche Erhebungen besonders beantragen. Meyer
erwartet davon nicht nur die Aufrechterhaltung
einer wirklich unparteiischen Stellung des Rich-
ters, sondern, wie wir glauben mit Recht, auch
eine kräftigere Förderung der Untersuchung,
da ja der Staatsanwalt, der mit den polizeilichen
ersten Ermittelungen vertraut ist, und der den
ersten Anstoss zur Untersuchung giebt, auch die
Zweckmässigkeit der Reihenfolge der einzelnen
Untersuchungshandlungen in der Regel am be-
sten zu beurtheilen in der Lage ist. »Dabei
würde dann von selbst sich die Praxis einstel-
len, dass diese Vernehmungen wo möglich ver-
einigt, mehrere von ihnen oder alle in dem-
selben Termine, erfolgen, so dass danach das
Vorverfahren, ähnlich wie im englischen Straf-
process ... sich zusammenzieht zu einem
oder einigen solcher Termine, in denen
die erforderlich erscheinenden gerichtlichen Ver-
nehmungen stattfinden^ Diesen Terminen
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1007
musste dann auch, wie Meyer weiter ausfährt,
der Beschuldigte in Assistenz eines rechtsgelehr-
ten Vertheidigers beiwohnen dürfen unter gleich-
zeitiger Einführung voller Oeffentlicbkeit.
Allerdings hat der Entwurf, was die Mitwirkung
der Parteien und insbesondere des Beschuldig-
ten betrifft, mehrere beach tens werthe Schritte
vorwärts getban. Meyer erachtet sie aber, in
Uebereinstimmung mit den beiden anderen
Schriften, nicht für ausreichend, wie denn auch
in Belgien die volle Oeffentlichkeit der Vorunter«
Buchung mit Entschiedenheit gefordert, und man
in England davon überzeugt ist, dass die
Oeffentlicbkeit der Voruntersuchung nicht nur
das Vertrauen zur Rechtspflege stärke, sondern
selbst die Entdeckung und Verfolgung der Ver-
brecher geradezu erleichtere.
Wenn in der dritten Schrift der richterlichen
Voruntersuchung gegenüber dem s. g. Scrutinial-
verfahren des bisherigen Preussischen Rechts das
Wort geredet wird, 60 ist der Widerspruch den
Meyerschen Ausführungen gegenüber doch nur
ein scheinbarer. Es soll eben der ganze Unter-
schied zwischen Vorerhebung und eigentlicher
Voruntersuchung aufhören, das Untersuchungs-
gericht im Webentlicben nur auf Antrag thätig
•werden, wo es aber thätig wird, die volle Cog-
nition über die vorzunehmende Handlung er-
halten, das Gericht soll nie blosses Werkzeug
des Staatsanwalts sein. Sodann aber will der
Verf. ein den Vorschriften des englischen Rechts
entsprechendes Verbot der Benutzung von Be-
weishandlungen (durch Verlesung der Protokolle),
bei denen dem Angeklagten nicht die Möglich-
keit formeller Vertheidigung (Assistenz) gewährt
worden ist, es müsste denn Gefahr im Verzuge
von Seiten des Untersuchungsrichters bei Vor-
1008 Gott gel. Am. 1873. Stuck 96.
nähme der fraglichen Handlung besonders be*
zeugt worden sein. Auch Wahlberg macht
S* 63 darauf aufmerksam, dass der Entwurf
was das Verhältniss von Vorerhebung und «eigent-
licher gerichtlicher Voruntersuchung betreffe!
höchst bedenkliche Lücken und Unklarheiten in
seinen Bestimmungen aufweise.
Bei einmal eröffneter förmlicher gerichtlicher
Voruntersuchung will der Entwurf in lieberem*
Stimmung mit dem Französischen Recht und der
grossen Mehrzahl der bisherigen Deutschen
Strafproce8sge6etze dem Staatsanwälte eine ein-
fache Zurücknahme der erhobenen öffentlichen
Klage nicht mehr gestatten, fordert vielmehr
hierzu einen Gerichtsbeschluss. Meyer S. 25
erklärt sich hier mit dem Entwürfe- einverstan-
den; Wahlberg und Bar dagegen treten
mit Entschiedenheit auf die Seite der neuen
Oesterreichischen Processordnung , die jene Zu-
rücknahme gestattet. Bar will wenigstens,
sofern der Angeschuldigte nicht selbst auf Fort-
setzung der Suche dringt, die Zurücknahme der
öffentlichen Klage dem Staatsanwälte bis zum
förmlichen Anklagebeschlusse gestatten ; denn
ohne solchen förmlichen Anklagebeschluss kann
in der That no« h gar nicht davon geredet wer-
den, dass das Gericht die Sache fur unbedingt
verfolgbar erklärt, sie zu der seinigen gemacht
habe, und die gegenteilige Auffassung setzt,
wie Wahlberg S. 30 bemerkt, den Staatsan-
walt wesentlich zum blossen Promotor inquisi-
tionis herab. Es liegt auf der Hand, dass mit
der Befugniss des Staatsanwalts zum Fallen
Jassen der erhobenen Klage eine grosse Menge
von Weitläufigkeiten und Schreibereien erspart
werden, und nicht minder der Staatsanwalt mit
der unnatürlichen Aufgabe verschont bleibt, eine
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1009
Anklage, die er selbst nicht mehr fur haltbar
erachtet, nun auf Beschlass eines Gerichts doch
weiter führen zu müssen. Dagegen ist allerdings
fur jene weitergehende Befugniss des Staatsan-
walts die Zulassung einer subsidiären Privatklage
nicht unwesentlich, ein Punkt, der von Meyer
nicht erörtert wird, während Wahlberg und
v. Bar nach v. Holtzendorff und in Ueber-
einstimmung mit der neuen Oesterreichischen
Strafprocessordnung die Preisgabe des s. g. A n-
klagemonopols der Staatsanwaltschaft unter
gewissen der Privatanklage aufzuerlegenden Cau-
telen fordern. An diesem Anklagemonopole der
Staatsanwaltschaft aber hält der Entwurf —
wie Bar 8. 8. 9 nachzuweisen unternimmt, aus
ganz unzutreffenden historisch-philosophischen
Gründen — im Wesentlichen durchaus fest: die
weitläufigen Vorschriften im fünften Buche des
Entwurfs über die Betheiligung des Verletzten
am Strafverfahren, welche letztere hauptsächlich
nur bei den auf Antrag verfolgbaren Delicten
zugelassen wird, sind praktisch wenig bedeutend
und innerlich, wie Wahlberg S. 33 ff. zeigt,
in manchen Beziehungen verkünstelt und zum
Theil sich selbst widersprechend.
Eine weitere Differenz der drei Schriften zeigt
sich darin, dass Meyer S. .30 ff. zwar nicht in
dem Umfange, wie der Entwurf, aber doch in allen
schweren Strafsachen eine gerichtliche Vorprü-
fung von Amtswegen darüber eintreten lassen
will ob der Angeklagte vor das erkennende Ge-
richt zu stellen sei, während Wahlberg (S. 34)
in Uebereinstimmung mit einem Aufsatze Gla-
ser's und mit der Oesterreichischen Straf-
processordnung die gerichtliche Vorprüfung nur
dann fur nöthig erachtet, wenn der Angeklagte
sich der Stellung vor das erkennende Gericht
77
1010 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
opponirt. Hier müssen wir nun Meyer
Recht geben, dass der Angeklagte bei dem letz-
teren Systeme leicht zu einer für ihn bedenkli-
chen Ueberlegung veranlasst wird. In der drit-
ten Schrift ist daher für den Schluss der Vor-
untersuchung eine öffentliche Verhandlung vor-
geschlagen, in welcher vor einem Richter, der
nicht der Untersuchungsrichter sein darf (be-
ziehungsweise vor einem Gerichtscollegium), nur
über die Frage summarisch verhandelt wird,
ob die Anklage für die Hauptverhandlung ge-
nügend vorbereitet sei. Bei einer solchen nur
summarischen Verhandlung wird eine grössere
Schonung des Angeschuldigten ermöglicht — es
ißt dabei keinenfalls nöthig die ganze Vita ante
acta festzustellen — und zugleich kann dabei
der Angeklagte sich mehr oder weniger, ohne
doch einen formellen Entschluss fassen zu müs-
sen, opponiren; was dann in zweifelhaften Fäl-
len von selbst auf die Entscheidung des Rich-
ters oder des Gerichtscollegiums von Einfluss
sein wird. Ueber die juristische Qualification
der Anklage würde nach diesem Vorschlage nicht
entschieden werden. Aber diese sollte auch
nach Meyer's Ansicht, der insoweit wieder mit
Glaser übereinkommt, gar nicht zum Gegen-
stande deß gerichtlichen Anklagebeschlusses ge-
macht werden.
Die Herbeischaffung der Beweismittel zur
Hauptverhandlung soll nach dem Entwürfe zu-
nächst Sache des Anklägers sein. Der Ange-
klagte kann auf seine Kosten (unter baarer
Hinterlegung der Zeugengebühren) selbständig
Zeugen laden lassen ; will er Ladung auf Staats-
kosten, so muss er sich an die Staatsanwalt-
schaft wenden, falls diese nicht zustimmt, an
den Gerichtsvorsitzenden (S. 177). Hier greift
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1011
Meyer (S. 37 ff.) den Entwarf stark an, wäh-
rend Wahlberg (S. 73) und Bar (S. 34) es
fur principiell richtig erklären, den Parteien
selbst zunächst die Vorbereitung der Hauptver-
handlung zuzuweisen. Meyer meint, der Ange-
klagte dürfe hier der Staatsanwaltschaft gegen-
über nicht wie ein Bittender erscheinen; daher
müsse das Gericht entscheiden. Dagegen ist
wohl zu erinnern, dass im Interesse der Münd-
lichkeit es wünschenswerth sein muss, das Ge-
richt selbst vor der Hauptverhandlung thunlichst
nicht mit der Sache zu befassen. Hier liegt
u. E. wohl nur ein Mangel in dem formellen
Ausdrucke des Gesetzes vor, wie denn die ent-
sprechenden Vorschriften der früheren revidir-
ten Hannoverschen Strafprocessordnung , auf
welche die Motive sich berufen, wie wir selbst
bezeugen können, sich praktisch durchaus be-
währt haben. Statt dass im § 177 dem Ge-
richtsvorsitzenden auch die Befugniss gegeben
wird, die Ladung von Zeugen und Sachverstän-
digen zur Hauptverhandlung zu verfügen, musste
es in Uebereinstimmung mit der erwähnten Han-
noverschen Processordnungheissen, dass im Falle
der Meinungsverschiedenheit zwischen Staatsan-
walt und Angeklagtem (Vertheidiger) der letztere
sich an den Gerichtsvorsitzenden behuf der Ent-
scheidung wenden könne.
Dagegen halten Wahlberg S. 78 und Bar
S. 34 die Bestimmung des § 173 des Entwurfs,
wonach ohne Weiteres von verspäteten, nicht
rechtzeitig angezeigten Beweismitteln in der
Hauptverhandlung selbst zu Gunsten der Anklage
Gebrauch gemacht werden kann, für eine höchst
gefahrliche, mit dem Wesen des Anklageprincips
unverträgliche : Ueberraschungen müssen hier
durchaus vermieden werden, und zumal in einem
77*
1012 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
Verfahren, in welchem es keine Berufungsinstanz
giebt. Der Angeklagte muss hier Aassetzung
der Verhandlung fordern dürfen. Meyer, der
überhaupt weniger streng an dem Anklageprin-
cip fest hält, erachtet die Vorschrift zwar fur
nicht ganz unbedenklich, hofft aber auf ein die
Hechte des Angeklagten genügend wahrendes
billiges richterliches Ermessen. Hier erscheint
es am Orte, auf eine principielle Differenz der
sonst in so vielfacher Beziehung übereinkommen-
den drei Schriften aufmerksam zu machen.
Meyer betont es mehrfach mit Nachdruck,
dass der Strafprocess nicht der Verwirklichung
eines abstracten Princips, sondern der Gerech-
tigkeit zu dienen habe, weshalb denn auch von
ihm mehrfach vermittelnde Bestimmungen in
Vorschlag gebracht werden. Wir sind nun ge-
wiss mit dem ersteren Satze durchaus einver-
standen, meinen aber, und es ist das in der
dritten Schrift auch verschiedentlich hervorge-
hoben, dass in einem Anklageproce6se es be-
stimmte Punkte geben muss, wo das richterliche
Ermessen authört, das unbedingte Recht der
Partei beginnt. Möglich freilich , dass dabei
zuweilen die materielle Gerechtigkeit Schaden
leidet, insbesondere die Freiheit der Anklage
beeinträchtigt wird. Aber präsumtiv und in
der Mehrzahl der Fälle dürfte es anders sich
verbalten, und darauf allein scheint es anzu-
kommen. »Soll diese Erwägung nicht gelten, so
muss man überhaupt die Organisation zweier
Parteien im Strafprocesse verwerfen, das reine
Inquisitionsprincip vertreten; denn möglich ist
es, dass der durch keine Parteien und Partei-
anträge behinderte Richter in einzelnen Fäl-
len am besten die Wahrheit an's Licht bringt.
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1013
Ueber Einzelnheiten wird sich freilich in mannicb-
facher Weise streiten lassen.
Besonders eingehend beschäftigt sich die erste
Schrift (S. 36 IST.) mit der Modification der An-
klage in der Hauptverhandlung nnd mit der Zu-
lässigkeit einer Verurtheilung auf Grund einer
veränderten juristischen Qualification. Uqs will
es scheinen, als begnüge Meyer sich doch mit
einer zu grossen Allgemeinheit der Anklage:
die blosse Bezeichnung der That mit cöncre-
ten Umständen der Art, dass sie nur einmal
begangen sein kann, dürfte auch dem englischen
Bechte und der englischen Praxis nicht ent-
sprechen. Näher hierauf, wie auf die Frage
einer Verurtheilung aus veränderten rechtlichen
Gesichtspunkten einzugehen, dürfte an diesem
Orte indess nicht möglich sein. Wir wollen
nur bemerken, dass Meyer, der bekanntlich
mit Becht die Untrennbarkeit der That und der
Rechtsfrage im Geschworenengerichte so strict
behauptet und bewiesen bat, hier nicht so prin-
cipiell, wie es S. 57, 58 geschieht, die tbatsäch-
lichen Aenderungen von den rechtlichen wird
scheiden dürfen, sofern es sich eben nicht le-
diglich um die Subsumtion der in allen
ihren Bestandtheilen (Merkmalen) un-
verändert bleibenden That unter einen
anderen Verbrechens be griff handelt. (?) Stel-
ling (Ueber Anklagebesserüng, 1866 S. 42 ff.)
hat hier wesentlich Gewicht gelegt auf die von
ihm sogenannte formale Anklagebesserung,
d. h. auf einen vorherigen besonderen Antrag
des Anklägers. U. E. liegt hier ein nicht un-
richtiger Gedanke zum, Grunde; nur hat er
nicht die absolute Bedeutung, welche Stelling
ihm beilegt. Der die Anklage verbessernde (mo-
dificirende) Antrag des Staatsanwalts kann den
1014 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 26.
Angeklagten sehr wohl auf besondere Vertheidi-
gungsgründe rechtzeitig aufmerksam machen,
und auch das ist nicht gleichgültig, dass dent
Angeklagten die Möglichkeit wird, gegen eine
veränderte rechtliche Auffassung andere Rechts-
deductionen vorzutragen. Im Allgemeinen wird
daher das Gericht bei einem vorherigen die An-
klage modificirenden Antrage des Anklägers nicht
so leicht die nothwendige Vertheidigung des An-
geklagten beschränken. Der vorherige Antrag
des Anklägers reicht aber keineswegs in allen
Fällen für die Sicherung der Vertheidigung aus,
wenn nämlich der Angeklagte etwa noch that-
säcbliche Erkundigungen einziehen müsste. Die
Vortheile dieser formellen Anklagebesserung wer-
den ebenfalls erreicht durch § 215 des Ent-
wurfs — und zwar unter noch besserer Wah-
rung der materiellen Gerechtigkeit — , da nach
diesem § das Gericht von der veränderten
rechtlichen Auffassung, von der es Gebrauch
machen will, den Angeklagten zuvor in Kennt-
nis8 setzen muss, während, wie Meyer sehr
richtig bemerkt, in der Weise, wie Stelling
es will, die Auffassung des Gerichts nicht von
der des Anklägers abhängig gemacht werden
darf. Alle drei Schriften (vgl. Wahlberg S.
49, Bar S. 42) sind aber darüber einig, dass
nicht, wie der Entwurf bestimmt, die Aussetzung
der Sache bei veränderter Auffassung der Sache
lediglich vom Ermessen des Gerichts abhän-
gen dürfe, womit denn auch jede Nichtigkeits-
beschwerde (Revision) wegen Verletzung des
Vertheidigung8rechtes in solchem Falle ausge-
schlossen sein würde.
Einstimmig erklären sich ferner die drei
Schriften gegen die im Entwürfe (vgl. §§119,
197) noch gestattete inquisitorische Ver-
Meyer, Wahlberg, v.Bar, Strafprocessordn. 1015
nehmung des Angeschuldigten. Meyer S. 43
spricht zwar ausdrücklich nur von der inquisi-
torischen Vernehmung in der Hauptyerhand-
lung; der Consequenz nach wird er sie auch
während der Voruntersuchung verwerfen müs-
sen. Nach Meyer 's Ansicht sollte dem An-
geklagten, bezw. seinem Vertheidiger, nur die
Befugniss gegeben werden, sich nach dem
Vortrage der Anklage über deren Inhalt zu
äussern. Die dritte Schrift verlangt in Ueber-
einstimmung mit dem Englischen Rechte und
mit der Braunschweigischen Processordnting
eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift dahin,
dass der Angeklagte zu keiner Antwort oder
Erklärung genöthigt werden könne (S. 25): »Wo
die Gesetzgebung dem Beschuldigten nicht for-
mell das Recht zugesteht, die Antwort zu wei-
gern, und ihm andererseits (in der Vorunter-
suchung) den Beistand eines Vertheidigers for-
mell entzieht, da bestimmt sie indirect, dass
der Untersuchungsrichter jeden Anlass zur Er-
langung eines Geständnisses benutzen, auf dieses
hinarbeiten, den Beschuldigten*) bearbei-
ten solle«.
Eine ausführlichere Erörterung findet sich in
der ersten und dritten Schrift über das 8. g.
Kreuzverhör. Der Entwurf 6 194 will als
Regel in der Hauptverhandlung die inquisitori-
sche Beweisaufnahme unmittelbar durch den
Präsidenten des Gerichts festhalten, die Beweis-
führung aber durch die Parteien in wesentlicher
Ueberein8timmung mit dem bisherigen Preussi-
schen Gesetze von besonderer Erlaubniss des
Vorsitzenden abhängen lassen, eine halbe Mass-
*) Hier ist 8. 25 statt »Beschuldigten« »Schuldigen«
gedruckt.
1016 Gott. gel. Anz. 1873. Stack 26.
regel, die als solche dann auch ebenso unwirk-
sam bleiben wird, wie sie dies im bisherigen
Preus8ischen Strafprocesse gewesen ist: das be-
sondere Verlangen der Partei die Beweis-
führung selbst statt des Präsidenten zu über-
nehmen enthält dem letzteren gegenüber ein
nicht unbedenkliches Misstrauensvotura. Indem
nun sowohl Meyer S. 44 ff. als Bar S. 35 ff.
in Ueberein8timmung z. B. auch mit ZachariS
u. A. die Beweisführung durch die Parteien un-
ter Einführung des in England als unumgäng-
liche Gewähr der Beweisführung betrachteten
s. g. Kreuzverhörs verlangen, greifen sie beide
die hier in der That sehr schwache Logik der
Motive des Entwurfs an , welche sich vergeblich
bemühen, dieser unabweisbaren Consequenz des
Anklageprincips zu begegnen.
Kann hiernach allen drei Schriften zufolge
ein Zweifel darüber nicht bestehen, dass der
Entwurf das Anklageprincip gar nicht zum
Grunde legt, dass er vielmehr das Inquisitions-
princip nur mit einigen Zusätzen und Milderan-
gen, welche aus dem Anklageprincip entnommen
werden, verficht, so macht Bar S. 38 noch
besonders darauf aufmerksam, dass bei einem
Verfahren ohne Berufungsinstanz einerseits und
andererseits der Ersetzung des Geschworenenge-
richts durch Schöffengerichte, bei denen der be-
weisführende Richter mit den urtheilenden Per-
sonen in demselben Collegium vereinigt ist und
eine dieser urtheilenden Personen selbst ist, der
inquisitorische Charakter des Verfahrens noch
viel schärfer wieder hervortreten werde, als dies
in dem bisherigen Verfahren mit Berufungs-
instanz, beziehungsweise mit Geschworenen der
Fall war.
Die Schriften von Wahlberg und Bar
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1017
beschäftigen sich auch eingehender mit den Vor-
schriften des Entwurfs über die Untersuchungs-
haft. Beide gelangen zu dem Resultat, dass der
Entwurf auch hier viel zu sehr und mehr als
eine ganze Reihe bisheriger Deutscher Straf-
processgesetze, weit mehr auch als die neue
Oesterreichische Strafprocessordnung in den
Traditionen des Inquisitioneprocesses haften
bleibt und besonders bei den weiten Strafrah-
men des Deutschen Strafgesetzbuchs, nach denen
für geringfügigere Fälle doch ein hohes Straf-
maximum denkbar erscheint, die Unter-
suchungshaft in einem viel zu weiten Umfange
gestattet und damit indirect auch vorschreibt.
Bar (S. 51) verwirft überhaupt die Collu-
sionsbaft, insofern sie aus dem Grunde ein-
treten soll, dass befürchtet wird, der Verdäch-
tige werde sich mit Mitschuldigen oder Zeugen
über die zu machenden Aussagen verabreden.
Diese Haft ist in der That nur zu begründen,
wenn man dem Staate ein Recht auf das Ge-
ständniss des Schuldigen beilegt*).
Die Schrift von Wahl b erg, welche allein
von den drei genannten Schriften sich auch mit
dem Beweisrechte des Entwurfs eingehend
beschäftigt, weist hier mehrfache Inconsequenzen
und Unklarheiten auf, insbesondere was die Be-
nutzung unbeeidigter Zeugenaussagen betrifft.
Sie geht ferner auch, wie bemerkt, genauer ein
auf das Rechtsmittelsystem des Entwurfs«
Meyer S. 68 erklärt sich mit demselben im
Allgemeinen einverstanden, und alle drei Schrif-
ten sind darüber einig, dass die vom Entwürfe
proponirte Beseitigung der Berufungsinstanz für
*) Vgl. namentlich S. Mayer, Zur Reform des
Strafproceases 1870 S. 19 ff.
1018 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
die gegenwärtig schon bei den C oil egi alge-
richten verhandelten Strafsachen als ein er-
heblicher Fortschritt — wie Bar frei-
lich mehrfach hervorhebt, nur unter den erfor-
derlichen Voraussetzungen, insbesondere unter
der Voraussetzung eines genügend freien Ver-
theidigungsrechtes des Angeklagten — zu be-
trachten sei. Dagegen will Bar S. 46 die
Berufung allerdings aufrecht erbalten wissen fur
die Uebertretungen , und er befindet sich mit
dieser Ansicht in Uebereinstimmung mit der
neuen Oesterreichischen Strafprocessordnung,
deren Verfasser (Glaser) sonst auch ein ent-
schiedener Gegner der Berufung ist. Anschei-
nend wird durch Beseitigung der Berufung in
allen Strafsachen die grösste Harmonie herge-
stellt. »In Wahrheit aber verhält es sich an-
ders. Die Beseitigung der Berufung wirkt ganz
anders in einem mehr mit schützenden Formen
umgebenen, sorgfältiger vorbereiteten und regel-
mässig, bei den Strafgerichten höchster Ordnung
nothwendig unter Zuziehung eines rechtsgelehr-
ten Vertheidigers vor sich gehenden Verfahren,
als in einem mehr formlosen Verfahren, wie es
bei den Strafgerichten unterster Ordnung ge-
setzlich und mehr noch nach der Praxis statt-
finden wird«. Bar erachtet die Beseitigung
der Berufung in diesen vor den untersten Straf-
gerichten zu verhandelnden Strafsachen in einem
Grossstaate für ein höchst gefahrliches le-
gislatives Experiment.
Die Revision des Entwurfs, welche gegen
rechtliche Fehler des Endurtheils im weite-
sten Umfange stattfinden soll — im Wesent-
lichen eine von formellen Vorschriften mög-
lichst entbundene Nichtigkeitsbeschwerde — ist,
wie Wahlberg S. 86 auch anerkennt, sehr
Meyer, Wahlberg, v. Bar, Strafprocessordn. 1019
einfach und consequent durchgeführt. Tndess er-
giebt eine nüchterne Prüfung, dass in Wirklich-
keit bei den sehr laxen Formvorschriften des
Entwurfs, dem grossen Spielräume, welcher
überall dem richterlichen Ermessen, zuweilen
selbst des Gerichts Vorsitzenden allein überlassen
ist, bei den äusserst wenigen als absolut vom
Entwürfe aufgestellten Nichtigkeitsgründen der
Rechtsschutz, welchen der Entwurf den Parteien
gewährt, nicht sehr tiefgreifend sein dürfte.
Vielleicht wird man die Erfahrung erst noch
machen wollen, dass die französischen Vorschrif-
ten in gewissem Umfange doch ihren guten
Grund haben , und eine allzugrosse Freiheit des
Revisionsgerichts hier vom Uebel ist
Auf weitere Einzelheiten einzugehen wird
dieser Anzeige nicht gestattet sein. Es sei da-
her nur noch bemerkt, dass sowohl Wahlberg
als Bar die Verteidigung durch einen rechts-
gelehrten Beistand in dem Entwürfe — nament-
lich bei dem Wegfalle der Berufungsinstanz —
zu wenig liberal behandelt finden, dass ferner
Wahlberg eine vollständige Würdigung
des Entwurfs nur im Zusammenhange mit dem
noch ausstehenden Entwürfe des Gesetzes über
die Gerichtsverfassung möglich, die Trennung
der in den letztgenannten Entwurf und der in
die Strafprocessordnung gehörigen Materien vom
Entwürfe nicht für folgerichtig vorgenommen
erachtet.
Die Sprache des Entwurfs ist im Ganzen
elegant und fliessend. Nicht selten aber hat
darunter, wie von Wahlberg und Bar, in
einzelnen Beziehungen auch von Meyer hervor-
gehoben wird , die erforderliche gesetzgeberische
Bestimmtheit gelitten, und einzelne Sätze dürf-
ten der erforderlichen Ausführung im Einzelnen,
1020 Gott gel. Anz. 1873. Stack 26.
ohne welche sie selbst leicht fromme Wünsche
bleiben, ermangeln.
Nach allen drei Schriften aber dürften dem
Entwürfe noch sehr tiefgreifende Aenderungen
zu wünschen sein, wenn er dem Deutschen
Reiche nicht nur ein neues Stück Rechtseinheit,
sondern auch einen die Einheit, am Besten be-
siegelnden heilsamen Fortschritt brin-
gen soll!
Breslau. L. v. Bar.
Wünsche, Dr. August: Jesus in seiner
Stellung zu den Frauen mit Hinblick auf die
Bedeutung derselben im Mosaismus, im talmu-
dischen Judenthum und Ghristenthum. Berlin,
Verlag yon F. Henschel, 1872. 146 Seiten.
Man kann nicht sagen , dass dies Buch viel
Neues enthielte, und das nicht längst bekannt
gewesen wäre, auch nicht, dass es seinen Gegen-
stand in tiefgehender Weise erfasste. Was es
bringt, ist eben nur eine Zusammenstellung von
längst 6ewus8tem und wie sie Jeder, der sich
nur einiger Massen mit dem Gegenstande
befasst hätte, auch würde machen können
und zwar ohne vielen Aufwand von Mühe.
Doch aber mag das Buch ja für einen grossen
Theil des lesenden Publicums recht gut sein,
und wie die Zusammenstellung mit Verstand ge-
macht und den Bedürfnissen derer angepasst
ist, welchen es" nicht um Wissenschaft im eigent-
lichen Sinne zu thun ist, so ist die Tendenz,
die der Verf. verfolgt hat, auch eine recht an-
erkennenswerthe : er lehrt die Frau in ihrer
höheren Bedeutung für das Reich Gottes schätzen
Wünsche, Jesus in s. Stellung zu d. Frauen. 1021
und seine Arbeit kann jedenfalls dazu beitragen,
da88 die Frauen immermehr dahin kommen, den
Beruf, den sie gerade in dieser Beziehung ha-
ben, recht und mit vollem Ernst zu ergreifen.
Das erste Kapitel versucht, eine Anschauung
Ton der »Stellung des Weibes in der alten Welt
im Allgemeinen« zu geben, und ist das dort
auf 4 Seiten Gesagte ohne Zweifel richtig, nur
dass es doch vielleicht wünschenswerth gewesen
wäre, auch hier ein wenig näher in's Detail zu
gehen und namentlich auch die Unterschiede,
die hier doch auch wieder bei den Völkern der
Alten Welt hervortreten, in ein genaueres Licht
zu stellen. Andeutungen finden sich, aber eben
auch nur Andeutungen, und doch wäre es auch
dem Verf. wohl nicht unmöglich gewesen, auch
hier eine fortschreitende Entwicklung im Zusam-
menhange mit der religiösen Entwicklung der
Völker der alten Welt überhaupt darzustellen
und so den Einfluss erkennen zu lassen, den
die Verschiedenheit hinsichtlich der religiösen
Anschauungen überhaupt auch auf diese socialen
Verhältnisse ausgeübt hat.
Reichhaltiger und in vieler Beziehung an-
sprechend ist das zweite Kapitel, die »Erziehung
und Stellung des Weibes bei den Hebräern« dar-
stellend, und namentlich auch, was aus der tal-
mudischen Zeit an überaus zartsinniger Auf-
fassung des Verhältnisses der Frauen beigebracht
worden ist, wird dem Leser zur Freude und Er-
bauung gereichen. Nur ist die Frage, ob der
Verf. hier nicht doch allzusehr bloss die Licht-
seiten der alttestamentlichen Verhältnisse her-
vorgehoben hat, so dass das Bild, welches er da
von der Stellung der Frauen im Judenthum uns
zeichnet, ein all zu ideales geworden ist. Es
kamen, was denn doch nicht ausser Acht ge-
1022 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
lassen und jedenfalls schärfer betont werden
sollte, als es von dem Verf. geschieht, doch
auch sehr wenig erfreuliche Dinge bei dem Volke
des Alten Bundes hinsichtlich der Stellung vor,
die das Weib dort einnahm, wie Jeder erkennen
muss, der nur die auch bei den Hebräern wal-
tende Harem swirth schaft näher in's Auge fasst,
und um so weniger durfte diese Seite verschwie-
gen oder auch nur zurückgestellt werden, als es
sich darum handelte, den Fortschritt in's Licht
zu stellen, der hier durch das Cbristenthum ge-
macht worden ist und als dieser nur dann recht
deutlich werden kann, wenn man bei den He-
bräern nicht Alles Licht in Licht malt. Noch
möchten wir bei diesem Kapitel fragen, ob es
bei einer rein geschichtlichen Darstellung, wie
die des Verf. doch sein soll, verstattet sein
kann, die Verhältnisse in dem Reflexe zu schil-
dern, denn sie durch spätere Dichtungen ge-
wonnen haben. Wenn da in die Geschichte
Jephtha's und seiner Tochter Worte aus dem
»religiösen Drama Niemeier's, »Mesala, die Toch-
ter Jephtha's« eingestreut werden, so dürfte das
wenigstens in der Weise, wie der Verf. es thut,
doch am Ende nicht gebilligt werden können.
Auf das Hauptthema der Schrift, das Ver-
hältniss Jesu zu den Frauen, kommt dann
das dritte Kapitel zu reden und zwar schildert
es uns zunächst »Jesus im Umgange mit den
Frauen im Allgemeinen«, wo dann die verschie-
denen Frauen, mit denen Jesus zusammenge-
troffen ist, aufgezählt und ihre Erlebnisse mit
Jesus kurz charakterisirt werden. Der Verf.
hält sich hier im Ganzen an den biblischen Text
und Jeder wird leicht finden, dass er das Sei-
nige thut, um die Bedeutung, welche die Frauen
in Jesu Leben gehabt haben, in ein schönes
Wunsche, Jesus in s. Stellung zu d. Frauen. 1023
Licht zu stellen, so wie auch, dass er dies thut
mit sinnigem Gemüth und am Wenigsten in der
Weise, wie der französische Lebensbeschreiber
Jesu das Verhältniss des Heilandes zu den
Frauen auffassen zu müssen gemeint hat. Nur
freilich, dass hier die Schilderung des Verf. doch
ein wenig zu sehr äusserlich, so zu sagen no-
vellistisch bleibt und in unbegreiflicher Weise
übergangen wird, was vor allen Dingen betont
werden musste : die höhere Weibe, welche Jesus
dem ehelichen Leben zu Theil werden lässt.
Die bekannten Stellen, wo Jesus sich gegen
leichtfertige Trennung des ehelichen Bandes
rein nach der Willkür des Mannes ausspricht,
sind doch hier ohne alle Frage von der höch-
sten Wichtigkeit, denn eben dadurch ist das
Weib dem Manne ebenbürtig gegenüber gestellt
worden, und diese Stellen mussten durch den
Verf. gerade da, wo er von Jesu Verhältniss zu
den Frauen im Allgemeinen handelt, zum Fun-
dament seiner Darstellung gemacht werden:
ganz bestimmt erhebt sich hier ja Jesus über
den alttestamentlichen Standpunkt, der noch
erlaubt hatte, einen Scheidebrief zu geben >um
der Herzenshärtigkeit willen!«
Sehr ansprechend sind dann die folgenden
Kapitel (4 — 6), wo auf den Verkehr Jesu mit
einzelnen Frauen, mit der Samariterin, mit den
Schwestern von Bethanien und mit Maria Magda-
lena näher eingegangen wird, und hier treten
uns einzelne feine Bemerkungen entgegen, die
auch zu homiletischer Verwendung brauchbar
sein dürften. Besonders die Schilderung der
Samariterin ist da hervorzuheben, vor Allem
auch deshalb, weil der Verf. diese Frau hier so
rein menschlich und natürlich auffasst, ohne in
sie so Manches hinein zu exegisiren, was man
1024 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
in neuster Zeit in ihr hat finden wollen. Und
eben so ist auch die Charakteristik zutreffend,
welche von den beiden Betbanierinnen gegeben
wird, während das über Maria Magdalena Bei-
gebrachte ziemlich dürftig ist und das schon in
Kap. 3 Gesagte zum Theil wiederholt.
Zustimmen können wir sodann auch dem in
Kap. 7 über die Mutter Jesu und deren Ver-
hältniss zu ihrem Sohne Gesagten. Der Verf.
hat hier die in den Evangelischen Berichten vor-
kommenden Andeutungen über die Stellung,
welche sich Maria ihrem Sohne gegenüber ge-
geben hat, auf treffende und unbefangene Weise
benutzt, und wenn demnach dies Verbältniss
nicht so ideal erscheint, wie es nicht bloss von
der römischen Kirche, sondern auch noch oft
genug von Evangelischen aufgefasst wird, so
kann man eben nur sagen, dass der Verf. Nichts
thut, ab die erwähnten Andeutungen auch zur
Charakterisirung der Maria benutzen, ohne ihren
wirklichen Sinn auf künstliche Weise hinweg zu
deuten, und dass es mit zu den schweren Lei-
den Jesu gehört hat, von Mutter und Geschwi-
stern eben so wenig völlig verstanden worden
zu sein, wie von den übrigen Menschen, mit de-
nen er leben musste. Unter allen Umständen
aber muss hier klar werden, dass die Stellung,
welche die »katholische Kirche«, auch selbst ab-
gesehen von ihrer neusten Entwicklung, der
Maria gegeben hat, eine rein fingirte und den
urkundlichen Thatsachen ganz und gar nicht
entsprechende ist. — —
Das achte Kapitel erörtert dann die Frage,
weshalb Jesus denn überhaupt mit den Frauen
verkehrt habe, und auch hier treffen wir auf
manche gute Bemerkung , nur dass uns hier und
da doch des Guten in Verherrlichung der Frauen
Wünsche, Jesu in s. Stellung zu d. Frauen. 1025
zu viel gethan zu sein scheint und dass es bei-
nahe den Anschein gewinnt, als sei die Meinung
des Verf., dass die Religion Jesu hauptsächlich
dem weiblichen Ingenium gemäss sei. Pie Klippe,
die Religion und den ganzen Charakter Jesu zu
weiblich und damit zu weichlich aufzufassen, ist
ja allerdings vorhanden, und doch wie unzutref-
fend ist eine solche Auffassung. Wir können
den Charakter Jesu nicht ernst, kräftig und
entschieden genug auffassen, wie ihm ja auch
Paulus das > volle männliche Alter« beilegt, und
am Ende fühlten sich auch eben deshalb die
Frauen zu ihm hingezogen, nicht weil ihnen in
ihm eine übergrosse Weichheit entgegen trat,
sondern vielmehr, weil sie in ihm den Mann der
höchsten sittlich-religiösen Kraft erblickten, an
den sie in den Wirrnissen des Lebens sich hal-
ten könnten. Eben diese Seite in der Erschei-
nung Jesu und in seinem Verhältniss zu den
Frauen hätten wir doch mehr betont zu sehen
gewünscht, als es wirklich geschehen ist. —
In den drei folgenden Kapiteln erfahren wir
noch von dem Einfluss, den christliche Frauen
im Verlaufe der Geschichte der christlichen
Kirche gehabt haben: in der apostolischen und
patristischen Zeit (Kap. 9) in der Zeit des Mit-
telalters (Kap. 10) und in der der Reformation
(Kap. 11), und auch da hat der Verf. manches
Gute zusammen getragen. Ob jedoch Alles,
was wirklich wünschenswerth gewesen, bezwei-
feln wir freilich. Unter allen Umständen hätte
unter den Frauen der Reformation noch wohl
die eine und die andre verdient, genannt und
näher geschildert zu werden. Tritt unter den
deutschen Frauen auch Luthers Käthe besonders
hervor, so gab es doch auch noch andre, die da
hervorgetreten sind, wir erinnern nur an die
78
1026 Gott. gel. Ans. 1873. Stück 26.
Gemahlin Johann Friedrichs von Sachsen, an
die Gemahlin des Kurfürsten Joachim I. von
Brandenburg und eben so auch an die Frau des
Weifen Erich, die gewiss neben Katharina Ton
Bora und Auguste von Grumbach zu sieben
verdienten. Und hätte von au 88 erdeutschen
Frauen nicht auch die ältere Margarethe von
Valois, Jeanne d' Albret, die Mutter Heinrichs IV.,
und die Frau Duplessis-Mornay's, die Charlotte
von Arbaleste, Erwähnung verdient ? Dann aber
auch in den nachreformatorischen Zeiten wie
manche Frau aus hohem und niederem Hanse
hätte da genannt werden können als Fördererin
christlicher Gesinnung und christlichen Lebens
in ihren Kreisen 1 wie denn auch auf der andren
Seite es wohl dienlich gewesen wäre, auch die
Kehrseite hervorzuheben und jenen Fördererin-
nen des Christen thum s die Weiber entgegen zu
setzen, die es im Laufe der christlichen Ge-
schichte verstört und die Kirche verwüsten ge-
holfen haben. Weder die Marozia und ihre
Sippe, noch die Weiber aus dem Hause der
Borgia's und Medici's hätten unerwähnt bleiben
dürfen, und so manche andre, welche sogar ge-
meint haben, durch blutige Verfolgungen Anders-
glaubender Gott einen Dienst zu thun. Durch
Schilderung dieser Kehrseiten hätte das Buch
erst recht wirksam werden können, und dass
Warnungen noch immer nicht unnütz sind, leh-
ren die Erfahrungen bis auf diese Tage ja wohl
hinreichend. —
Die »Schlussbetrachtung« zieht dann noch
die »Frauenfragec in ihren Bereich, aber da
muss Ref. denn gestehen, dass er selten etwas
Oberflächlicheres gelesen hat, als der Verf. hier
bietet. Was da gesagt wird, ist freilich 80
selbstverständlich, dass sich Nichts dagegen
Wünsche, Jesu in 8. Stellung zu d. Frau». 1027
sagen läset, aber eben dass es so selbstreratänd-
lich ist, ist schwerlich ein Beweis von tiefer
Durchdringung der hier berührten Fragen» Nach
dieser Seite hin fehlt dem Verf. denn vielleicht
doch das Zeug zu einer befriedigenden Erörte-
rung, und jedenfalls müssen sich seine Studien
hier noch bedeutend erweitern und vertiefen, um
Resultate bieten zu können, mit denen sich
überhaupt etwas machen läset. Doch sind wir
E* »ichwohl überzeugt , dass auch diess Schluss-
pitel in mancher Hinsieht anregend wirken
kann, und jedenfalls soll Alles, was wir tadelnd
haben hervorheben müssen, nicht in dem Sinne
verstanden werden, als ob das Buch absolut
werthlos wäre. Den Ansprüchen der Wissen*
schaft entspricht es nicht, aber für solche Kreise,
welche diese Ansprüche nicht erbeben, wird
es immerhin eine gute Lecture sein»
F. Brandes.
Nordiskt medicinsk Arkiv, Under
medverkan af Dr. A, Asp, Prof. Dr. J. Est-
land er, Prof. Dr. H. Bjelt, i Helsingfors, ~-
Prof. Dr. H. Hei borg, Prof, Dr. J. Nico-
laysen, Prof. Dr. E. Winge, i Kristiania. ~~
Prof. Dr. P. L. Panum, Dr. C Reis«, Dr.
F. Trier i Köbenhavn. — Prof. Dr. C. Ask,
Prof. Dr. G. Naumann, Adj. Dr. V. Odenius
i Lund, — Adj. Dr. IL Bruzelius, E. ©.Prof.
Dr. G. Rossander, JS. o. Prof« Dr. £. Oed-
m aas son i Stockholm, — Adj. Dr, J. Björ<-
kea, Prof. Dr. P. Hed<eniue, Pnof. Dr. Fr.
Holmgren i Upsal*. Redigeradt af Dr. Axel
Key, Pjpot i patokg. *»at« i Stockholm. Fj erde
Bandet. Med H tafler onh flere träsnitt. 1872.
78*
1028 Gott. gel. Adz. 1873. Stuck 26.
Stockholm , Samson & Wallin. Helsingfors,
Frenckel & sons bokhandel. Kristiania, J. W.
Cappelen, Eöbenhavn, H. Hagerup. In Octav.
(Die Seitenzahlen sind auch dieses Hai nicht
exact zu bestimmen, da die einzelnen Aufsätze
eine besondere Paginirung zeigen).
Die verspätete Anzeige des vierten Bandes
des Nordischen medicinischen Archivs, dessen
erste drei Bände wir in diesen Blättern dem
Interesse des Deutschen Publicums empfahlen,
ist die Folge der Weitläufigkeit und Umstand*
liebkeit der buchhändlerischen Verbindungen
Schwedens und Deutschlands, so dass wir erst
vor wenigen Wochen den Schluss des vorliegen*
den vierten Bandes (gleichzeitig mit dem lsten
Hefte des öten Bandes) erhielten. Das Erschei-
nen des vierten Bandes einer periodisch erschei-
nenden wissenschaftlichen Zeitschrift gilt bei uns
als die Signatur der Prosperität des Unterneh-
mens und eines langen Lebens, und wenn bei
der Mitwirkung der vortrefflichsten Vertreter
der medicinischen Wissenschaft an den Univer-
sitäten der drei Nordischen Königreiche und des
stammverwandten Finnlands auch nicht daran
zu zweifeln war, dass das Archiv sich einen
hinreichenden Leserkreis in den Nordischen Rei-
chen sichern werde, wenn mehr als der Name
der Mitarbeiter der Werth der von ihnen ge-
lieferten Beiträge und der rege wissenschaftliche
Eifer der Nordischen Aerzte dies verbürgte, wie
wir dies wiederholt in d. Bl. hervorgehoben ha-
ben, so freut es uns doch, unsere Erwartungen
in dieser Beziehung nicht getäuscht zu finden.
Es mag für Deutsche Aerzte bemerkt werden,
dass das Nordische medicinische Archiv, wie die
uns von dem Herrn Redacteur im vergangenen
Nordiskt medicinsk Arkiv. 1029
Winter mündlich mitgetheilten Zahlen beweisen,
mehr Abonnenten zählt als (von den Wochen-
blättern und Sammeljournalen abgesehen) irgend
eine der gelesensten Fachzeitschriften Deutsch-
lands, obschon ja gut redigirte und der. Unter*
Stützung namhafter Gelehrter sich erfreuende
andre medicinische Journale in keinem der
Scandinavischen Reiche fehlen. Eine solche Un-
terstützung seitens der Nordischen Aerzte be-
darf die Zeitschrift bei ihrem billigen Preise
und der brillanten Ausstattung, zumal mit Ta-
feln, die in keinem Hefte fehlen und zum Theil
zu dem Vollendetsten gehören, was wir in die-
ser Hinsicht in medicinischen Journalen gesehen
haben, allerdings auch; und es freut uns zu
constatiren, dass er nicht ausgeblieben ist.
Auch Ton dem vorliegenden vierten Bande
dürfen wir dreist behaupten, dass er an Reich-
haltigkeit, Gediegenheit und Trefflichkeit des
Inhaltes mit jeder Deutschen und Englischen
Zeitschrift ähnlicher Tendenz gleichkommt, und
dass er an Mannigfaltigkeit von keinem der
früheren Jahrgänge des Archivs übertroffen wird.
Das erste Heft beginnt mit einem »Aus den
Lazarethen in Deutschland und Frankreich«
überschriebenen Aufsatze von Dr. Jacob Hei-
berg aus Christiania. Der mit einem Stipen-
dium zum Studium der Chirurgie und Augen-
heilkunde ausgerüstete Verfasser hatte im Juli
1870 es zweckmässig gefunden, dieses in der
Weise zu benutzen, dass er in Berlin einen
Platz bei den Preussischen Armeehospitälern
suchte. Obschon er einen solchen in Goblenz
erhielt, zog er es doch vor, nicht davon Ge-
brauch zu machen, sondern in Berlin zu blei-
ben und in den dortigen Barackenlazarethen bis
Mitte März 1871 freiwillige Dienste zu thun.
1030 Gott. gel. Ans. 1873. Stück 26.
Die Arbeit über Hospitalbrand, zu welcher die*
ser Aufenthalt führte, tat in Virchows Archiv
publicirt und hat den jungen Norwegischen Chi-
rurgen in Deutschland bekannt gemacht. Der
Aufsatz, den Heiberg von Rostock aus hier
veröffentlicht, enthält manche sehr treffende
Bemerkung über die Einrichtung von Lazarethen,
die freiwillige weibliche Krankenpflege, die Car-
bülsäure, Irrigation, Drainirung von Wunden,
Thermometrie. Dem Hauptaufsatze sind zwei
kleinere Artikel über Barackenhospitäler und
Sanitätszüge angeschlossen.
Die zweite Arbeit im ersten Heft ist von
Dr. Christian Lov6n in Stockholm und han-
delt über die vitale Mittelstellung der Lungen.
Die Versuche des Verfassers vervollständigen
die früher von Pan um in dieser Beziehung ge-
machten, woraus dieser Forscher den Sohluss
zog, das* in stehender Position mit gefüllteren
Lungen als in sitzender oder liegender geath-
met wird und dass im Liegen mit weniger ge-
füllten Lungen als im Sitzen gearbeitet wird,
und dass die vitale Mittelstellung bei verschie-
denen Individuen grosse Variationen zeigt und
dass sie sich dem Inspirationsmaximum nähert,
wenn man unter dem Einflüsse eines höheren
Luftdruckes (in einem medicopneumatischen
Apparate) athmet. Mittelst verbesserter Me*
thoden fand Loven, dass die normale Mittel*
Stellung der Lungen bei einer und derselben Person
nicht nur bei Wechsel der Position, sondern auch
bei Beibehaltung derselben Position vielfach v&-
riirt, dfcss ausserdem das Alter dabei eine be-
sondere Bolle spielt, indem die normale Stel-
lung der Lungen bei jüngeren Personen dem
Exspirationsmaximum näher liegt als bei alte*
reu, und dass letztere überhaupt von anderen
Nordiskt medicin8k Arkiv. 1031
Ursachen als von den äusseren, für die Respira-
tionsbewegungen günstigen oder ungünstigen
Momenten, wie solche direct aus den verschie«
denen Körperstellungen hervorgehen, abhängt.
Weiter folgt eine Abhandlung von Gand.
med. et chir. A. Goldschmidt aus Kopen-
hagen über die totale Bewegung des Embryo
und deren ätiologische Bedeutung für Schädel-
geburten , worin namentlich das neuerdings in
Deutschland gesammelte Material statistisch ver*
werthet und bezüglich der Ursache der fraglichen
Bewegung der von Küneke ausgesprochenen
Ansicht, dass dieselbe eine automatische seitens
des Fötus sei, beigepflichtet wird.
Hieran reiht sich ein kürzerer Aufsatz von
Dr. Sven Sköldberg in Stockholm, der eine
Fortsetzung der im zweiten Bande des Archivs
befindlichen Abhandlung des Verfassers über
den ulcerativen Katarrh im Cervix uteri ist, wel*
eben er besonders durch Touchiren mit Zink-
alaun behandelt, und ein weiterer von Dr. Adam
Oewie in Christiania über die Frage, von wem
Vererbung der Syphilis stattfindet, wobei sich
der Verfasser gegen die, in Schweden besonders
von Abel in vertretene Ansicht der Möglichkeit
der Vererbung vom Vater auf das Kind, ohne
dass die Mutter inficirt wird, ausspricht. Der
Aufsatz hat eine Entgegnung von Abelin her-
vorgerufen, welche sich im vierten Hefte des
vorliegenden Bandes findet und dem Skeptiker
eine Casuistik von sieben Fällen, darunter einen
aus Abe lins eigener Praxis vorfuhrt, welche
in der That überzeugend genug sein dürften.
Die kleineren Mittheilungen in diesem Hefte
sind anatomischen Inhalts und betreffen das
Vorhandensein eines Saftkanalsystems im respir
ratorischen Theile der Nasenschleimhaut nach
1032 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
Untersuchungen von Prof. Hjalmar Heiberg
in Ghri8tiania und einen von Prof. A.6. Drach-
mann in Kopenhagen mitgetheilten Fall von
angeborenem Mangel des M. quadriceps femoris.
Das zweite Heft bringt zunächst aus der
Feder von Prof. Dr. F. G. Faye in Ghristiania
Betrachtungen über Krankheiten, welche sieh
epidemisch und durch Uebertragung verbreiten
können , mit besondrer Rücksicht auf die Ent-
stehung des Pueperalfiebers , welche auch im
dritten Hefte fortgesetzt werden. Der Aufsatz
ist wohl geeignet, eine Discussion über diese
namentlich die Gesundheitspolizei berührenden
Gegenstände wach zu rufen.
Der zweite Aufsatz von Med. Lie. G us tar
Zander betrifft das medico-mechanische Insti-
tut in Stockholm. Es ist dies eine neue Art
von Instituten, welche eine Modification der
Schwedischen heilgymnastischen Anstalten dar-
stellt, wo die Gymnasten, denen die Ausführung
der passiven Bewegungen obliegt, durch mecha-
nische Apparate ersetzt sind, welche entweder
zur Beugung, Streckung u. s. w. der einzelnen
Glieder dienen oder deren Bewegung die An-
spannung gewisser Muskelgruppen erfordert. Es
läset sich nicht verkennen, dass auf diese Weise
eine grössere Gleichmässigkeit der Bewegungen
erzielt wird, als bei der sog. manuellen Gymna-
stik. Das Einzelne wird durch beigegebene
Tafeln veranschaulicht.
Sehr lesenewerth ist die darauf folgende Ab-
handlung von Jacob Heiberg über Erysipe-
las, deren Grundlage Beobachtungen auf der
chirurgischen Klinik zu Rostock bilden; ebenso
ein Aufsatz von G. Lange in Kopenhagen über
das Leitungsvermögen in den Hintersträngen
des Rückenmarkes, woran sich einige Beiner-
Nordiskt medicinsk Arkiv. 1033
kungen über die Pathologie der Tabe» dorsua-
lis knüpfen.
Cand. med.etchir. Sophus Fenger bringt
Untersuchungen über Epithelialregeneration auf
der Cornea nach Versuchen an Kaninchen,
welche, wie auch die früheren Versuche von
Wadsworth, Ebert, Hoffmann und Hei-
berg, als Ausgangspunkt das Epithellager
selbst, nicht die unterliegenden Gewebe, welche
noch ganz intact sind, wenn die Regeneration
bereits begonnen, erscheinen lassen.
Weiter handelt Dr. A. Lil jenrot h über
Otomycosis, anknüpfend an die neueren Beob-
achtungen von W reden über Pilze im Ohre
und sechs Fälle aus eigner Praxis beschreibend,
wo Aspergillus flavescens die Erkrankung des
Meatus auditorius bedingte.
Kürzere Mittheilungen in diesem Hefte bil-
den ein von Drachmann mitgetheilter Fall
von Anchylose des Hüftgelenkes nach Coxi-
tis, Bruch des Collum femoris beim Brisement
force und Heilung mit verkürzter, aber grader
und brauchbarer Extremität, eine Notiz von
Jacob Heiberg über Chlorzink nach seinen in
Deutschland gesammelten Erfahrungen und eine
histologische Arbeit von Gustav Betzius über
Knorpelgewebe, nach welcher zwar nicht in den
Knorpeln mit hyaliner Grundsubstanz und in
den Netzknorpeln, wohl aber in den Gelenk-
knorpeln Saftkanäle sich finden.
Im dritten Hefte treffen wir zuerst auf den
Schlu8s der Abhandlung von Faye, dann auf
einen Aufsatz von Prof. J. E. Estland er in
Helsingfors, welcher eine von ihm erfundene
Methode der Cheiloplastik, wodurch der Sub-
stanzverlust in der einen Lippe und am Kinn
aus der anderen Lippe ersetzt wird, die offen-
1034 Gott. gel. Anz. 1873. Stück 26.
bar einen Fortschritt in der Technik dieser
Operation bekundet, detaillirt beschreibt.
Hierauf folgen Untersuchungen über die sen-
siblen Muskelnerven von Dr. M. V. Oden ins
in Lund, wozu der Verf. seine Studien 1868 in
Würzburg unter Recklinghausen begonnen,
später in Schweden mit ziemlich abweichenden
Resultaten fortgesetzt hatte.
Eine Mittheilung von Dr. 6. Berghman
in Stockholm über eine Hirnverletzung durch
Hufschlag beweist aufs deutlichste, dass diö
neuerdings sehr verbreiteten Franzosischen An-
sichten, dass die Sprache ihren Sitz in den vor*
deren Hirnlappen habe, unrichtig sei, indem bei
dem betreffenden Patienten die vorderen Hirn-
lappen völlig zerstört waren, ohne das6 Aphasie
eintrat.
Carl Wettergren in Stockholm bringt
einen besonders in Bezug auf pathologische Ana*
tomie nnd Histologie werthvollen Beitrag zur
Eenntnis8 des Cystoma testiculi, welcher noch
im folgenden Hefte fortgesetzt wird, und welcher
auf drei Fälle des gedachten Leidens sich gründet
Ebenso finden sich die Studien über Anato-
mie des Nervensystems von Axel Key und
Gustav Retzius in den beiden letzten Heften
dieses Bandes. Dieselben reihen sich an die
früheren gemeinsamen Arbeiten, durch welche
die beiden gründlichen und gewissenhaften For-
scher sich die Anerkennung des Auslandes in so
hohem Grade erworben haben, an. Während
jene ersten Aufsätze die Hüllen und serösen
Käume des Gehirns und der Sinnesorgane zum
Gegenstande hatten nnd darin der Uebergang von
Injectionsflüssigkeiten in das Blutgefasssystem
durch die Pacchionischen Granulationon, der
Bau derselben und ihre, wie es scheint, grosse
Nordiskt medicinsk Arkiv. 1035
physiologische Bedeutung, endlich in Kürze der
Uebergang der Flüssigkeiten von den serösen
Räumen des Gehirns und die peripherischen
Nerven dargelegt wurde, bezieht sich der vor-
liegende Aufsatz auf die Hüllen und serösen
Räume des Rückenmarks und des peripherischen
Nervensystems, wobei dann allerdings auch an-
dere Fragen, z. B. der Bau der Nerven selbst,
die Pacinischen Körperchen, endlich die Structur
des Bindegewebes berührt werden. Die beiden
Aufsätze enthalten des Neuen und Wichtigen so
viel, dass die Histologen gewiss mit Freuden der
Publication des grösseren Werkes über die Hül-
len und serösen Häute des Rückenmarks, wel-
ches Key und Retzius in Aussicht gestellt
haben, entgegensehen, werden, zumal da es in
einer bekannteren Sprache als der Schwedischen
erscheinen wird. Die den beiden Aufsätzen im
Nordisk medicinsk Arkiv, welche somit gewisser-
mas8en als vorläufige Mittheilungen aus dem
grösseren Werke anzusehen sind, beigegebenen
Tafeln lassen toraussehen, dass das Werk auch
in artistischer Beziehung ein Musterwerk sein
wird.
Von den kürzeren Mittheilungen des dritten
Heftes ist uns von speriellem Interesse eine No-
tiz von Dr. Oscar Th. Sandahl in Stock«
holm über das officinelle Rhizoma Chinae, wo-
nach dasselbe nicht als Rhizom, sondern als
Knolle zu bezeichnen ist, gewesen, die erste
pharmacologische Arbeit, welche das Nordische
Archiv bringt. Die Anschauungen Sandahls
über das Rhizom entsprechen übrigens im Gan-
zen den von Wiggers früher gemachten. Prof«
A. Stadtfeld in Kopenhagen bringt einen klei-
nen Aufsatz über die Ursache von Pyelits im
Puerperium, in Bezugnahme auf eine eigene äl-
1036 Gott, gel Anz. 1873. Stück 26.
tere Arbeit über Hydronephrose, welche von
Deutschen Geburtshelfern nicht gewürdigt zu
sein scheint.
Aus dem vierten Hefte haben wir ausser den
bereits erwähnten Arbeiten von Wettergren
über Cystoma testiculi, von Key und Retzius
über die Hüllen und serösen Räume der Medulla
spinalis u. 8. w., welche Fortsetzungen aus dem
dritten Hefte bilden, und von Abel in über
Vererbung von Syphilis einen grösseren Original-
aufsatz von Prof. Ernst OedmansBon über
subcutane Sublimatinjectionen, nach dem Vor-
gange, von Lewin an 123 Patienten versucht,
welche zusammen 2694 Injectionen erhielten.
In 28 Fällen konnte die Behandlung nicht zu
Ende geführt werden. Von den übrigen Patien-
ten bekamen 37, also fast 40 Proc., ein Recidiv.
Im Ganzen glaubt Oedmansson sich zu dem
Ausspruche berechtigt, class die Sublimatinjection
als Mittel gegen Syphilis sich dem Quecksilber-
jodiir, Calomel und dem internen Gebrauche von
Sublimat ebenbürtig zur Seite stelle , aber in
der Sicherheit der Wirkung bedeutend hinter
der Schmiercur zurückstehn, obschon es vor die-
ser den Vorzug einer genauen Dosirung des
Quecksilbers und das Fehlen von intensiver Sto-
matitis in den meisten Fällen besitzt. Beson-
ders indicirt hält er dieselben bei Syphilis mit
bedeutenden Allgemeinerscheinungen (Schwäche-
zustand, Kachexie) bei relativ minder ausge-
prägten localen Symptomen, so . dass also der
Werth des Verfahrens eigentlich nur in der
Milde, die sich nothwendig auch mit Verringe-
rung der Sicherheit paart, zu suchen wäre.
Auch die einzige kürzere Mittheilung im letz-
ten Heft bezieht sich auf Syphilis. Dieselbe ist
eine höchst -interessante experimentelle Studie
Nordiskt medicinßk Arkiv. 1037
von Prof. Dr. W. B o e c k und Reservearzt Axel
Scheel in Christiania über die Inoculabilität
deß syphilitischen Giftes bei Aufbewahrung, Ein-
trocknung zu Krusten, Einwirkung von Wärme
und Kälte und Mischung mit diversen Substan-
zen (Wasser, Glycerin).
Diese kurzem Andeutungen dürften genügen,
die Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit des In-
haltes der vorliegenden Zeitschrift einerseits und
den wissenschaftlichen Werth der Originalauf-
sätze in klares Licht zu stellen. Möge das
Streben der Mitarbeiter des Nordischen Archivs
auch in Zukunft ein gleiches sein, damit das
Archiv der Sammelpunkt der trefflichsten Origi-
nalarbeiten der drei Scandinavischen Reiche und
die Zierde der Scandinavischen medicinischen
Literatur bleibe. Dass die Zahl derer, welche
berufen sind, Bausteine zur Weiterentwickelung
des Baues herbeizuschaffen, eine nicht unbe-
deutepde ist, lehrt nicht nur ein Blick auf die
Namen der hervorragenden Professoren der ver-
schiedenen Zweige der Medicin und der Aerzte,
welche zu diesem und zu den vorhergehenden
Bänden Original beitrage brachten, sondern na-
mentlich auch die Zahl der Arbeiten, über welche
der vierte Band, nach dem Vorgange der frühe«
ren kurze, aber ausreichende Referate liefert
Schliesslich möchten wir noch einmal darauf
hinweisen, dass im Interesse derer, welche die
Zeitschrift wiederholt und namentlich zu wissen-
schaftlichen Zwecken benutzen und nachschlagen,
eine fortlaufende Paginirung (statt der störenden
und • unbequemen separaten Paginirung der ein-
zelnen Aufsätze) sehr wünschehswerth wäre.
Theod. Husemann.
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