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Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

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A 5 

/O- 


Göttin  ei  sc  Le- 

gelehrte  Anzeigen. 

* ' 


• l. 

Unter  der  Aufsicht 

* 

der 


Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 


1894. 


Erster  Band. 


G öttingen. 

N.  • 

Verlag  der  Dieterichschen  Buchhandlung. 

1874. 


i. 


GSttingei, 

Drnek  der  Dieterichschen  UniY.-Bnchdn&ckerei. 
W.  Fr.  Kleiner. 


1 


* 


<1  fit  t ingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  1.  7.  Januar  1874. 


Celsus’  wahres  Wort.  Aelteste  Streitschrift 
antiker  Weltanschauung  gegen  das  Christen- 
thum vom  Jahr  178  n.  Chr.  Wiederhergestellt, 
aus  dem  Griechischen  übersetzt,  untersucht  und 
erläutert,  mit  Lucian  und  Minucius  Felix  ver- 
glichen von  Dr.  Theodor  Keim  ord.  Profes- 
sor an  der  Universität  Zürich.  Zürich,  Druck 
und  Verlag  von  Orell,  Füssli  et  Co.  1873. 
XV  u.  295  S.  in  8. 

Ueber  die  Christlichkeit  der  heutigen  Theo- 
logie. Streit-  und  Friedensschritt  von  Franz 
Overbeck,  Dr.  der  Phil,  und  Theol. , ord. 
Professor  der  Theologie  an  der  Universität  Ba- 
sel. Leipzig,  Verlag  von  E.  W.  Fritzsch.  1873. 
VII  und  103  S.  in  8. 

Indem  der  Unterzeichnete  den  ihm  aufgetra- 
genen Bericht  über  die  erste  Schrift  mit  dem 
über  die  fast  zugleich  erschienene  zweite  ver- 
bindet, ist  es  ihm  als  ob  der  Unterschied  zwi- 
schen jener  ältesten  und  dieser  allerneuesten 
nur  darin  liege  dass  die  Feindschaft  gegen  das 
Christenthum  in  jener  offen,  in  dieser  halb  ver- 

I 


2 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

deckt , und  in  jener  von  einem  sich  als  solchen 
laut  rühmenden  Heiden,  in  dieser  von  einem 
solchen  gepredigt  werde  der  als  öffentlich  ange- 
stellter  Professor  der  Theologie  sich  nur  nicht 
offen  als  Heide  bekennen  könne.  Einen  andern 
Unterschied  zwischen  beiden  vermögen  wir  in 
dem  was  hier  allein  wesentlich  ist  nicht  aufzufinden, 
wollen  jedoch  hier  zuerst  nur  über  Jene  älteste 
Schrift  urtheilen,  über  welche  man  ja  ganz  ab- 
gesehen von  allem  heutigen  christlichen  oder  un- 
christlichen Wesen  in  Deutschland  abschliessend 
urtheilen  kann. 

Des  Celsus  böses  Buch  gegen  die  von  der 
Römischen  Staatsmacht  mit  gewaltsamer  Vertil- 
gung bedrohten  Christen  war  schon  um  die 
Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  nach  Chr.  ver- 
öffentlicht: allein  die  Christen  hatten  zu  schwer 
noch  mit  ganz  anderen  und  quälenderen  Wider- 
wärtigkeiten zu  kämpfen,  als  dass  sie  jedes  der 
tausend  unaufhörlich  und  in  jeder  denkbaren 
Gestalt  gegen  sie  geschleuderten  giftigen  Worte 
sogleich  hätten  ebenso  öffentlich  zurückweisen 
können.  So  blieb  dieses  dickangesch wollene  gif- 
tige Buch,  nach  allem  was  wir  jetzt  wissen,  zu 
seiner  Zeit  unbeantwortet  liegen;  Celsus  starb, 
und  sein  Werk  wäre  wahrscheinlich  völlig  ver- 
loren und  vergessen,  wenn  nicht  des  Origenes 
herrlicher  Freund  Ambrosios  es  fast  ein  Jahr- 
hundert später  irgendwo  aufgefunden  und  diesen 
gebeten  hätte  es  öiner  Widerlegung  zu  würdigen. 
Der  schon  ins  Greisenalter  getretene  grosse 
christliche  Gelehrte  wollte  dieser  Bitte  nicht 
gänzlich  widerstehen,  und  verfasste  so  seine  ,,acht 
Bücher  gegen  Celsus“  wollte  aber  auch  da  er 
einmal  seine  Mühe  darauf  verwandte  ein  mög- 
lichst vollkommenes  Werk  ausarbeiten.  An  Ge- 
lehrsamkeit an  Scharfsinn  und  an  Schriftkunst  dem 


3 


Keim,  Celsus5  wahres  Wort. 

einstigen  Philosophen  Celsus  völlig  ebenbürtig, 
hätte  er  von  oben  herab  gegen  ihn  reden  und 
ein  mehr  rednerisch  hinreissendes  als  genau  in 
alle  die  einzelnen  Vorwürfe  eingehendes  Werk 
veröffentlichen  können:  er  that  dies  nicht,  son- 
dern ging  in  den  gesammten  Inhalt  des  bösen 
Werkes  mit  voller  Genauigkeit  ein,  und  ver- 
flocht so  fast  den  ganzen  Umfang  der  Worte  und 
Sätze  desselben  in  sein  Werk,  um  es  hinreichend 
klar  und  vollständig  vor  den  Augen  aller  Leser 
zu  widerlegen;  auch  die  bösesten  Worte  und 
widerwärtigsten  Gedanken  des  Philosophen  ver- 
steckte er  nicht,  etwa  weil  er  nichts  gesundes 
und  richtiges  darauf  hätte  erwidern  können, 
oder  weil  er  die  zarten  Ohren  seiner  christli- 
chen Leser  damit  zu  verletzen  gefürchtet  hätte. 
Und  so  hat  sein  ausführliches  Werk  gegen  den 
Mann  Celsus  heute  für  uns  einen  doppelten 
Nutzen.  Es  ist  eine  Fundgrube  der  mannichfal- 
tigsten  Gelehrsamkeit,  wie  man  sie  nur  aus  dem 
dritten  Jahrhundert  nach  Chr.  erwarten  kann, 
und  reicht  uns  viele  und  theilweise  sehr  wich- 
tige Zeugnisse  über  Heidnisches  und  Christliches 
aus  dem  Alterthume  was  man  heute  sonst  nicht 
findet.  Aber  es  ist  auch  selbst  ein  gutes  Zeug- 
niss  für  die  Selbstgewissheit  und  Herrlichkeit 
des  Christen thumes,  so  wie  es  in  Männern  wie 
Ambrosios  und  Origenes  lebte.  Denn  man 
braucht  ja  nur  die  Geschichte  der  Entstehung 
dieses  Werkes  anzuschauen,  um  sich  davon  zu 
überzeugen. 

Wenn  nun  Dr.  Keim  hier  aus  Origenes’ 
Buche  das  ursprüngliche  Buch  des  Heiden  Cel- 
sus soweit  es  geht  wiederherzustellen  sucht,  so 
kann  man  das  zunächst  als  ein  rein  wissen- 
schaftliches Verfahren  betrachten  und  schätzen. 
Man  sucht  ja  jetzt  aus  allen  uns  irgendwie  zu- 

1* 


4 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  1. 

gänglichen  Quellen  die  verloren  gegangenen 
Bücher  des  Alterthums  aller  Völker  wiederher- 
zustellen: warum  sollte  nicht  auch  der  alte  Phi- 
losoph und  Christenfeiud  dieses  Glück  uud  diese 
Ehre  heute  unter  uns  finden  ? Dieser  Celsus  ist 
dazu  unter  allen  alten  Heiden  welche  das  Chri- 
stenthum schriftlich  bekämpften  nicht  nur  der  älte- 
ste uns  bekannte,  sondern  auch  der  beste  und  in 
seiner  Art  vollkommenste  d.  i.  giftigste:  warum 
nicht  am  liebsten  sogleich  den  ärgsten  aller  Feinde 
kennen  lernen,  mit  welchem  man  sie  eigentlich 
schon  alle  kennt?  Zwar  konnten  alle  Gelehrte 
welchen  es  darum  zu  thun  war,  schon  aus  Mos- 
heims 1745  erschienenen  und  in  ihrer  Art  (wie 
alle  Werke  Mosheim’s)  ausgezeichneten  Ueber- 
setzung  des  grossen  Werkes  Origenes’  den  In- 
halt fast  des  ganzen  Celsusbuches  leicht  über- 
sehen, weil  Mosheim  alle  Worte  des  Celsus  mit 
grossen  Buchstaben  hat  drucken  lassen:  allein 
warum  sie  nicht  heute  auch  zu  noch  grösserer 
Bequemlichkeit  der  Leser  rein  für  sich  zusam- 
menstellen? Zwar  standen  dem  heutigen  Wie- 
derhersteller keine  neue  gelehrte  Hülfsmittel  zu 
dem  Zwecke  zu  Gebote:  allein  wir  beeilen  uns 
an  dieser  Stelle  zu  sagen  dass  die  deutschen 
Leser  hier  wirklich  eine , so  * weit  das  heute 
leicht  möglich  ist,  recht  vollständige  und  zuver- 
lässige Wiederherstellung  der  WTorte  des  Heiden 
gegen  die  Christen  finden.  Man  wird  hier  we- 
nige Worte  treffen  die  nicht  deutlich  und  treu 
genug  Deutsch  wiedergegeben  wären : wiewohl 
es  an  diesen  nicht  fehlt.  So  wird  die  Rede  S. 
137  f.  wirkljch  sehr  verwirrt  und  unverständlich, 
weil  der  Uebersetzer  die  Worte  aus  Celsus  nach 
8,09  nicht  nur  unmittelbar  mit  den  anderen 
nach  8,71  verbindet,  sondern  auch  nicht  be- 
merkt dass  der  Sinn  des  Satzes  sich  mit  seinem 


5 


Keim,  Celsus’  wahres  Wort. 

du  und  ihr  im  Verlaufe  dieser  zweiten  Stelle 
völlig  ändert.  Auch  der  sorgfältigere  Leser  kann 
sich  hier  nicht  zurecht  finden,  weil  ihm  nicht  be- 
merkt wird  dass  die  Haltung  der  Rede  sich  mit  den 
Worten  pi%q^ndvtwv . . . aXufxopivuiv  völlig  ändert, 
indem  Celsus  selbst  die  Rede  oder  vielmehr  den 
Gedanken  den  er  eben  einem  Christen  in  den 
Mund  gelegt  hat  geradezu  spottend  umdrehet 
und  frägt  wird  nicht  etwa  irgend  eine 

Herrschaft ? Ein  Fragwörtchen  wie  py  mag 

vor  einem  plans  verloren  gegangen  und  so  für 
äpa  zu  lesen  seyn.  Das  Griechische  Wortgefüge 
des  Buches  ist  in  den  bisherigen  Ausgaben  sehr 
ungenügend,  und  wartet  noch  auf  seinen  sach- 
kundigen und  geschickten  Hersteller.  Allein  in 
solchen  Fällen  kann  doch  die  Uebersetzung  so- 
gleich deutlich  eingerichtet  werden:  während  an 
dieser  Stelle  der  Sinn  des  verschlungenen  lan- 
gen Satzes  auch  deswegen  dem  Leser  ganz  un- 
verständlich bleibt  weil  der  deutsche  Uebersetzer 
den  folgenden  Satz  wo  Origines  selbst  von  sei- 
nem Standorte  aus  näher  auf  ihn  eingeht  und 
ihn  zu  widerlegen  sucht  völlig  auslässt.  Den 
Spott  und  Hohn  (oder,  wenn  man  es  nach  der 
heutigen  Sprache  hören  will,  die  Ironie) 
in  der  Rede  eines  Heiden  und  dazu  eines  Phi- 
losophen muss  man  richtig  finden  können,  wenn 
man  einen  Celsus  verstehen  will.  Auch  Mos- 
heim hat  freilich  an  dieser  ganzen  langen  Stelle 
den  wahren  Sinn  nicht  erreicht,  trotzdem  dass 
er  auch  hier  sehr  frei  zu  übersetzen  sich  begnügt. 

Allein  es  ist  bekannt  dass  heute  alle  die 
Schriften  der  ärgsten  Christenfeinde  sogar  solchen 
Deutschen  welche  Philosophen  und  Theologen 
seyn  wollen  die  liebsten  sind ; und  wie  der  Lud- 
wigsburgische Strauss  die  christenfeindlichen 
Schriften  eines  Reimarus  mit  Vorliebe  betrachtet 


6 


Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stuck  1. 

und  sie  neu  herausgibt,  ebenso  hätte  er  wohl 
auch  den  Celsus  längst  aus  der  Griechischen 
Hülle  des  Origenes  erlöst , wäre  das  nicht  viel 
schwieriger  als  etwa  einen  Reimarus  herausge- 
hen. Wir  bemerken  nun  hier  zwar  mit  Vergnü- 
gen dass  Dr.  Keim  auch  in  Sachen  des  Anti- 
christen Celsus  keineswegs  mit  Hu.  Strauss,  ja 
auch  nicht  einmahl  mit  seinem  einstigen  Tübin- 
gischen  Lehrer  Baur  zu  weit  gehen  will.  Den- 
noch erblicken  wir  ihn  auch  hier  noch  immer 
von  der  Vorneigung  jener  grundverkehrten 
Schule  für  die  Gedanken  und  Werke  der  Chri- 
stenfeinde  nicht  genug  befreit.  Seine  Urtheile 
über  den  Geist  und  Willen  des  Christenfeindes 
Celsus  wie  er  sie  S.  257  f.  auspricht,  sind  viel 
zu  günstig  und  eben  deshalb  für  Bibel  und 
Christenthum  viel  zu  ungünstig.  Wir  wollen 
hier  nur  zweierlei  hervorheben.  Er  meint  »Cel- 
sus*  Kritik  so  mancher  dogmatischer  und  noch 
mehr  geschichtlicher  Partien  des  Judenthums 
und  Christenthums,  insbesondere  der  Schöpfungs- 
geschichte und  der  Sagengeschichte  alter  und 
neuer  Zeit  überhaupt,  habe  schadhafte  Inklina- 
tionen und  bedenkliche  Schwächen  der  neuen 
siegenden  Religion  aufgezeigt«.  Allein  Celsus 
kommt  zu  Bibel  und  Christenthum  gerade  so 
wie  ein  Bär  mit  seinen  Tatzen  über  ein  ihm 
verhasst  gewordenes  sei  es  thierisches  oder 
menschliches  Wesen  herfallt:  Bibel  und  Chri- 
stentum sind  ihm  von  vorn  an  verhasst,  und  er 
redet  und  schreibt  über  sie  ohne  sie  im  gering- 
sten zu  verstehen  nur  um  sie  zu  zerfetzen  und 
zu  zerreissen,  wenn’s  gelänge!  Und  es  muss  uns 
ernstlich  leid  thun  dass  Dr.  Keim  auch  über 
die  Schöpfungsgeschichten  der  Bibel  und  die 
»Sagengeschichten«  derselben  nicht  besser  ur- 
theilt,  Dinge  die  man  ebenso  leicht  wie  alles 


7 


Keim,  Celsus’  wahres  Wort« 

andre  übel  anwenden  kann  und  die  in  der 
Kirche  oder  vielmehr  von  einzelnen  Gliedern 
der  Kirche  unendlich  oft  übel  verstanden  und 
angewandt  sind,  ohne  dass  man  deshalb  auf 
der  einen  Seite  den  unsterblichen  Inhalt  welchen 
sie  in  sich  tragen  übersehen  und  auf  der  anderen 
den  zarten  Duft  des  Geistes  aller  wahren  Reli- 
gion vergiften  sollte  welcher  über  sie  ausgebrei- 
tet ist.  — Sodann  meint  er  den  Mann  Celsus 
insofern  ungemein  entschuldigen  und  empfehlen 
zu  können  als  er  es  mit  den  Christen  doch  un- 
verkennbar gut  gemeint  und  sie  so  geschickt 
ermahnt  habe  sich  doch  dem  Willen  des  Kaisers 
zi^  unterwerfen.  Allein  wir  bedauern  auch  die- 
ses ganz  anders  betrachten  zu  müssen.  Dass 
ein  Mann  der  gelehrter  Philosoph  seyn  will  und 
mit  Platon  viel  um  sich  wirft , nicht  überall  so 
ganz  offen  die  Keule  schwingen  wird,  ist  selbst- 
verständlich. Allein  statt  der  Keule  steht  ihm 
ja  die  Zunge  zu  Gebote : und  wer  genau  zusieht 
wie  dieser  Epikureer  diese  schwingt,  oder  wer 
auch  nur  die  oben  berührte  Stelle  8,71  seines 
Buches  richtiger  versteht  als  sie  hier  bei  Dr.  K. 
wiedergegeben  ist,  der  wird  begreifen  dass  ein 
Philosoph  gar  nicht  giftiger  und  feindlicher  schrei- 
ben kann  als  dieser  Celsus  es  sich  gegen  die  (wie 
er  wusste  und  wie  er  spottet)  völlig  wehrlosen 
Christen  erlaubte.  Man  kann  einem  Tacitus  der 
in  grossen  Geschichtswerken  nur  ganz  bei- 
läufig die  Christen  berührt  seine  haarsträuben- 
den Urtheile  über  sie  eher  verzeihen  als  einem 
Philosophen  Celsus  der  dicke  Bücher  über  sie 
allein  schreibt  ohne  sie  richtig  zu  kennen. 

Letzteres  führt  uns  dann  auch  auf  den  ein- 
zig geraden  Weg  hin  auf  welchem  Dr.  Keim  den 
Celsus  hätte  richtig  schätzen  sollen.  Wer  als 
Philosoph  etwas  öffentlich  beurtheilen  will,  muss 


8 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

offenbar  den  Gegenstand  einer  Lehre  oder  ei- 
ner Schrift  zuvor  ganz  genau  kennen  soweit  er 
nur  gegenwärtig  erkennbar  ist,  bevor  er  über 
ihn  zu  reden  oder  gar  in  alle  Welt  zu  schrei- 
ben beginnt.  Thut  er  das  nicht,  so  ist  er  eben 
keirf  Philosoph,  sondern  man  mag  ihn  sonst  nen- 
nen wie  man  will.  Auch  wäre  es  verkehrt 
diese  Forderung  gegen  einen  Philosophen  des 
heidnischen  Alterthums  nicht  aufstellen  zu  wol- 
len: hatten  Männer  wie  Sokrates  und  Platon 
nicht  umsonst  gelebt,  so  hatten  sie  bei  allen 
Mängeln  und  Irrthümem  wenigstens  auf  den 
richtigen  Weg  hingewiesen,  obgleich  dann  Ari- 
stoteles weil  er  schon  das  ganze  Gebiet  alles 
Forschens  und  Wissens  umfassen  wollte  eben 
deshalb  im  einzelnen  doch  nur  weniges  gründ- 
licher erschöpfen  konnte.  Allein  die  Griechi- 
schen Weisheitsschüler  schritten  auf  dem  allein 
richtigen  Wege  zwar  nach  einigen  Richtungen 
hin  wo  es  mehr  auf  die  Betrachtung  des  Sinn- 
lichen in  der  Welt  ankommt  herrlich  voran, 
verstanden  aber  das  Geistige  richtig  zu  begrei- 
fen und  zu  beherrschen  immer  weniger,  und 
wurden  ihrer  grossen  Menge  nach  ebenso  blosse 
redselige  und  schreiblustige  Tagesdiener  wie  wir 
dieses  auch  unter  uns  in  unsern  Tagen  genug 
vor  Augen  sehen.  Sobald  nun  das  Christen- 
thum und  schon  früher  das  Judenthum  da- 
zwischen kam,  vollzog  sich  unter  ihnen  die 
mächtige  Scheidung  welche  man  heute  endlich 
einmal  wieder  genauer  erkennen  sollte.  Die 
ernster  unter  ihnen  gestimmten  bewunderten 
schon  vor  Christus  das  A.  T. , so  weit  sie  es 
verstanden;  und  wurden  dann  in  grosser  An- 
zahl Christen.  Die  übrigen  wurden  mit  ihrer 
Kunst  Spötter  und  Verächter  des  Christenthu- 
mes  bloss  weil  sie  es  nicht  verstanden  und  die 


Keim,  Celsus’  wahres  Wort.  9 

Macht  des  Staates  damals  nicht  auf  Seiten  der 
Christen  stand.  Und  Celsus  ist  in  diesem  sei* 
nem  Buche  durchaus  nichts  als  ein  oberflächli- 
cher gelehrter  Schwätzer  über  Dinge  die  er  zu 
ergründen  sich  keine  Mühe  gibt.  Seine  Eitel- 
keit gibt  sich  sogar  schon  in  der  Aufschrift  die 
er  seinem  Werke  gab  hinreichend  zu  erkennen: 
er  nannte  es  zwar  nicht  wie  Dr.  Keim  meint 
schlechthin  Das  wahre  Wort  oder  wie  ein 
heutiger  Buchmacher  sagen  würde  Die  Wahr- 
heit; das  ist  bloss  sein  abgekürzter  Name, 
unter  dem  es  von  anderen  Schriftstellern  be- 
zeichnet wird,  und  diese  Aufschrift  würde  an 
sich  ganz  unklar  sein ; er  nannte  es  Das 
wahre  Wort  gegen  die  Christen.  Allein 
er  machte  es  damit  nur  ebenso  wie  tausende 
unserer  heutigen  Schriftsteller  und  Aufschriften- 
macher. 

Wir  wünschten  Dr.  K.  hätte  an  den  Mann 
diese  allein  für  ihn  passende  Richtschnur  ge- 
legt: er  hätte  ihn  dann  gewiss  weit  treffender 
und  gerechter  beurtheilt.  Da  er  übrigens  den 
Gegenstand  mit  einem  sehr  gelehrten  Fleisse 
behandelt,  so  gelangt  er  dennoch  wenigstens  in 
einer  wichtigen  Sache  zu  einem  Ergebnisse  wel- 
ches ihn  weit  von  dem  Pfade  der  Strauss-Bauri- 
schen  Schule  ablenkt.  Er  muss  bei  einer  ge- 
naueren Betrachtung  der  NTlichen  Bücher  welche 
dem  Celsus  Vorlagen  zugeben  dass  zu  seiner 
Zeit  das  Johannesevangelium  längst  mit  zum 
Kanon  der  Evangelien  gezählt  wurde.  Dies 
wussten  zwar  alle  die  längst  welche  von  der 
einen  Seite  dieses  Evangelium  von  der  anderen 
die  älteste  Geschichte  des  Christenthumes  bes- 
ser kannten:  allein  welchen  Schlag  versetzt  der 
Verf.  damit  allen  den  Gelehrten  welche  heute 
sich  über  alles  steif  eingebildet  haben  dieses 


10 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

Evangelium  sei  nicht  vom  Apostel!  Leider  aber 
greifen  auch  hier  bei  ihm,  weil  er  dies  Evange- 
lium nun  einmal  verwerfen  will,  dennoch  noch 
immer  wieder  die  alten  Vorurtheile  seiner 
Strauss-Baurischen  Schule  ein:  er  will  nun 
solche  Zeugnisse  über  das  Ansehen  dieses  Evan- 
geliums in  der  alten  Kirche  dadurch  schwächen 
dass  er  sie  in  so  späte  Zeiten  herabsetzt  als 
ihm  nur  irgend  nach  seinen  Voraussetzungen 
möglich  scheint.  So  will  er  S.  272  beweisen 
das  Sendschreiben  an  Diognetos  sei  erst  zwi- 
schen 177 — 180  nach  Chr.  geschrieben.  Allein 
der  einzige  Grund  welcher  dafür  beweisend  sein 
würde,  ist  der  dass  er  in  C.  7 eine  Anspielung 
auf  »zwei  Kaiser,  Vater  und  Sohn,  M.  Aurel 
und  Commodus«  findet.  Vergleicht  man  jedoch 
die  Worte  in  ihrem  Zusammenhänge  auf  diese 
Versicherung  hin,  so  sieht  man  sofort  wie  grund- 
los diese  ist.  Denn  dort  ist  nur  beispielsweise 
von  einem  Könige  die  Rede  der  einen  Sohn  an 
seiner  statt  wohin  sendet:  das  geschieht  aber 
(sofern  es  überhaupt  Sinn  hat)  zu  allen  Zeiten; 
und  man  könnte  mit  demselben  Rechte  meinen 
die  in  allen  drei  ersten  Evangelien  wiederhol- 
ten Worte  Matth.  21,  37  seien  erst  in  dieser 
Zeit  geschrieben.  Was  aber  Celsus  selbst  be- 
trifft, so  gibt  der  Verf.  zu  er  sei  derselbe  Epi- 
kureer welchen  Origenes  als  den  Verfasser  die- 
ses Werkes  nennt;  demnach  müsste  es  also 
mehr  ein  blosser  Kunstgriff  sein  wenn  Celsus 
sich  in  diesem  Werke  am  meisten  auf  Platon 
beruft.  Wir  bedauern  dabei  nur  dass  der  Verf. 
S.  278  Origines’  Worte  (4,  36  am  Ende)  über 
Celsus  als  Epikureer  mit  seinem  Lehrer  Baur 
unrichtig  versteht  und  übersetzt:  vergleicht  man 
diese  Worte  mit  den  andern  8,  76  wo  Origenes 
leider  mehr  nur  kurz  berichtet  was  er  bei  Cel- 


Keim,  Celsus*  wahres  Wort.  11 

sus  las,  so  kann  man  nicht  zweifeln  dass  Cel- 
sus  am  Ende  seiner  Schrift  angekündigt  hatte 
er  werde  vermittelst  eines  späteren  Werkes  wel- 
ches nur  Origines  hier  (fvvtaypa  nennt,  in  zwei 
Büchern  zeigen  wie  die  Christen  nach  seiner 
eignen  (also  der  Epikureischen)  Weise  leben  müss- 
ten wenn  sie  ihm  folgen  1)  wollten  und  2) 
könnten.  Wollte  er  hier  zeigen  wie  man  leben 
müsse,  so  verstand  sich  von  selbst  dass  er  von 
Herakleitischen  und  Platonischen  Worten  zu 
Epikureischen  übergehen  musste;  und  in  der 
Lebensphilosophie  standen  damals  (bevor  die 
Neuplatoniker  mächtig  wurden)  nur  Stoiker  und 
Epikureer  einander  gegenüber;  dass  Celsus  aber 
kein  Stoiker  war,  ersieht  man  aus  seinem  er- 
haltenen Buche  deutlich.  Auch  diese  zweite 
Schrift  in  welcher  demnach  Celsus  sich  ganz  als 
Epikureer  wie  er  auch  am  Ende  dieser  ge- 
äussert  hatte  enthüllen  musste,  wollte  Origenes 
widerlegen,  sobald  sein  Ambrosios  wie  er  ver- 
sprochen sie  ihm  brächte:  und  es  lässt  sich 
leicht  denken  dass  ihm  hier  die  Widerlegung 
noch  viel  leichter  geworden  wäre.  Aber  Am- 
brosios hatte  sie,  als  Origenes  mit  seiner  uns  er- 
haltenen Schrift  fertig  war,  noch  nicht  aufge- 
funden. Dass  jedoch  Origenes  sich  ganz  genau 
erkundigt  hatte  dieser  Epikureer  Celsus  den  er 
von  einem  andern  gleichnamigen  unter  Nero 
wohl  unterscheidet  habe  zu  Hadrian’s  Zeit  und 
noch  längen* gelebt,  sollte  doch  niemand  zu 
läugnen  noch  heute  so  ungerecht  sein.  Und 
die  Gründe  nach  denen  unser  Verf.  meint  Cel- 
sus habe  erst  178  n.  Ch.  geschrieben,  sind  so 
wenig  beweisend  dass  man  seine  Schrift  ebenso 
sicher  in  die  erste  Hälfte  der  Herrschaft  des 
Antoninus  Pius  setzen  kann.  Der  Zustand  des 
Römischen  Reiches  auf  welchen  sich  Dr.  Keim 


12  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

beruft  war  schon  damals  der  Art  wie  ihn  Cel- 
6U9  schilderte,  und  wie  er  sein  musste  seitdem 
Hadrian  durch  das  Aufgeben  der  Trajanischen 
Eroberungsreichskunst  aller  Welt  verrathen 
hatte  wie  schwach  das  Komische  Reich  in  der 
That  sei. 

— Wollen  nun  heute  in  Deutschland  neue 
Celsusleute  aufstehen,  so  ist  wenigstens  so  viel 
zu  fordern  dass  sie  offen  auftreten  und  jenem 
alten  Heiden  auch  darin  gleichen:  man  kann 
dann  leicht  sehen  ob  sie  neue  Gründe  gegen 
das  Christenthum  vorzubringen  haben,  oder  im- 
mer nur  das  alte  dürre  Stroh  uns  wieder  an- 
bieten. Die  Französischen  Umsturzmänner  vor 
mehr  als  80  Jahren  hatten  bekanntlich  diesen 
Muth  und  diese  Folgerichtigkeit  ihres  Denkens 
und  Schreibens:  die  Geschichte  hat  gezeigt  was 
aus  ihnen  bis  heute  geworden  ist.  In  Deutsch- 
land hat  endlich  der  Ludwigsburgische  Strauss 
vor  einem  Jahre  vollkommen  und  vor  allem 
Volke  enthüllt  was,  wie  die  besseren  Kenner 
wussten,  schon  vorher  seit  langen  Jahren  stets 
in  seinem  Geiste  verborgen  lag : allein  dass  man 
wissenschaftlich  genommen  heute  gar  keine  so 
lange  Widerlegung  wie  sie  einst  Origenes  schrieb 
gegen  solche  Irrthümer  und  falsche  Bestrebun- 
gen nöthig  hat,  wurde  damals  alsbald  in  die-  * 
sen  Gel.  Anz.  1873  S.  136 — 149  bewiesen.  Es 
müsste  ja  sonderbar  sein  und  wäre  allerdings 
ein  Beweis  gegen  die  Wahrheit  Äs  Christen- 
thumes,  wenn  die  Theologie  d.  i.  die  christliche 
Wissenschaft  von  ihrem  ersten  grossen  Vertre- 
ter Origenes  an  bis  heute  nicht  solche  Fort- 
schritte gemacht  hätte  welche  der  langen  Reihe 
der  inzwischen  verflossenen  Jahrhunderte  ent- 
sprächen. Aber  solche  sind  gemacht;  und  wis- 
senschaftlich ist  es  uns  daher  heute  noch  viel 


Overbeck,  Ueb.  d.  Christlichkeit  d.  h.  Theologie.  1 3 

leichter  als  einst  dem  Origenes  die  Einwürfe 
aller  neuen  Celsusleute  sogleich  vollkommen 
zurückzuweisen. 

Das  ist  wenigstens  in  Deutschland  möglich: 
aber  das  wahre  Uebel  ist  dass  es  unter  uns 
heute  so  viele  Gelehrte  und  sogar  Theologen 
giebt  welche  nicht  offen  aufzutreten  wagen  und 
doch  sich  zu  jener  Seite  hinneigen,  als  wä-  . 
ren  sie  wohl  gerne  wie  Celsus  und  wie  der 
Ludwigsburgische  Schriftsteller,  fänden  es  aber 
in  eben  dieser  helldunkeln  Gegenwart  noch  nicht 
gerathen  sich  völlig  zu  enthüllen.  Leider  macht 
die  zweite  der  obengenannten  Schriften  ganz 
diesen  Eindruck,  und  wir  müssen  vor  allem 
hier  bemerken  dass  sie  das  gar  nicht  enthält 
was  sie  ihrer  Aufschrift  nach  verspricht.  Ob 
»unsere  heutige  Theologie«  christlich  sei,  also 
aus  den  unwandelbaren  Wahrheiten  und  uner- 
schöpflichen Tiefen  des  Christenthumes  ge- 
schöpft oder  von  jenen  mehr  oder  weniger  ab- 
gefallen und  um  diese  unbekümmert  sei  oder 
nicht,  das  ist  eine  Frage  die  sich  heute  sehr 
wohl  aufwerfen  und  nützlich  beantworten  liesse. 
Man  könnte  dabei  alle  unsre  heutigen  theologi- 
schen Parteien  durchnehmen  und  jeder  die  Irr- 
thümer  nachweisen  in  welche  sie  entweder  schon 
gefallen  sei  oder  zu  fallen  drohe,  jeder  auch  die 
Mängel  aufdecken  an  denen  sie  zur  Zeit  leide. 
Denn  jede  Partei;  auch  jede  theologische,  ist 
solchen  Irrthümern  und  Mängeln , auch  nicht 
etwa  in  einer  sondern  in  allen  Kirchen  ausge- 
setzt; und  je  deutlicher  sich  in  Deutschland 
gegenwärtig  alles  zu  einem  hohen  kirchlichen 
und  demnach  auch  theologischen  Kampfe  zu- 
spitzt, desto  unterrichtender  müsste  es  sein 
jene  Frage  richtig  zu  beantworten.  Wir  kauf- 
ten uns  deshalb  dieses  Buch:  sehen  uns  nun 


14 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  I. 


aber  in  jener  Erwartung  sehr  getäuscht.  Allein 
der  Verf.  selbst  scheint  auch  etwas  ganz  ande- 
res mit  seinem  Buche  gewollt  zu  haben:  denn 
die  innere  Seite  desselben  führt  die  Nebenauf- 
schrift »Streit-  und  Friedensschrift«  vielmehr 
allein;  und  wenn  der  Verf.  nichts  als  sie  auf 
das  äussere  Blatt  gesetzt  hätte,  so  würde  er 
keine  solche  Erwartung  erregt  haben.  Wir  hal- 
ten uns  aber  bei  unserer  Beurtheilung  eben  des- 
halb bloss  an  den  Sinn  dieser  Aufschrift  zwit- 
terhaften Inhaltes. 

Der  obenerwähnte  Hr.  Strauss  veröffent- 
lichte einst  »Streitschriften«:  unser  Verf.  ist 
noch  heute,  auch  nachdem  jener  sich  ganz  ent- 
hüllt hat,  ein  grosser  Verehrer  von  ihm,  und 
veröffentlicht  auch  so  eine  Streitschrift.  Er 
streitet  nun  in  dieser  S.  70 — 78  wirklich  auch 
gegen  die  neueste  Straussische  Schrift:  allein  er 
ist  so  weit  davon  entfernt  die  unheilbaren 
Grundgebrechen  der  (wie  er  sie  noch  immer  ge- 
nannt und  geehrt  wissen  will)  »kritischen« 
Theolologie  deutlich  einzusehen  und  gründlich 
zu  meiden,  dass  er  sich  nur  die  »Erlaubnisse 
ausbittet  »die  Hast  und  Rücksichtslosigkeit 
nicht  zu  theilen  mit  welchen  der  (von  Strauss 
sogenannte)  neue  Glaube  (der  aber  gar  kein 
Glaube  ist)  uns  die  Bande  des  alten  zu  zer- 
reissen  lehrt«.  Nichts  ist  für  den  Sinn  und  die 
Zwecke  des  Verf.  sprechender  als  dies:  im 
Grunde  seufzt  er  nur  dass  jener  Mann  plötzlich 
und  vor  der  Zeit  so  rücksichtslos  sich  enthüllt 
habe.  Ein  bekannter  Seufzer  welcher  vielfach 
in  unserer  Zeit  und  auch  laut  genug  erschallt, 
aber  nirgends  ein  rechtes  Verständniss  und 
noch  weniger  ein  Erhören  findet.  Man  ist  ent- 
setzt, man  seufzt  über  zu  grosse  Hast  und 
Rücksichtslosigkeit,  und  will  die  Sache  selbst 


Overbeck,  Ueb.  d.  Christlichkeit  d.  h,  Theologie.  15 

doch  nicht  gründlich  von  sich  weisen,  lässt  sich 
vielmehr  (da  beständiges  Seufzen  zu  unangenehm 
ist  und  man  sie  im  Grunde  billigt)  bald  genug 
von  ihr  weiter  und  weiter  ziehen.  Wie  die 
Dinge  vor  jedes  wissenschaftlichen  Mannes  Auge 
längst  klar  lagen,  hegte  jener  Sohn  und  zugleich 
Vater  der  Tübingischen  Schule  theologischer 
Philosophen  schon  seit  über  30  Jahren  nur  et- 
was versteckter  ganz  dieselben  Gedanken  und 
Bestrebungen  die  er  jüngst  der  günstigen  Ge- 
legenheit wegen  völlig  enthüllte:  dass  jemand 
die  günstige  Gelegenheit  am  Zipfel  festhält, 
kann  ihm  an  sich  nicht  zum  Tadel  gereichen; 
und  was  ist  da  über  Hast  und  Rücksichtslosig- 
keit zu  klagen?  Fühlte  jedoch  der  Verf.  sich 
wirklich  durch  die  Veröffentlichung  der  paar 
Bogen  eines  längst  bekannten  Schriftstellers  so 
übel  berührt,  so  hätte  er  ja  dadurch  tief  genug 
über  eine  so  unliebe  rohe  Sache  nachzudenken 
endlich  Gelegenheit  und  Aufforderung  genug  ge- 
habt. Statt  dessen  bleibt  er  noch  immer  ebenso 
wie  er  es  früher  war  der  Anhänger  und  Be- 
iober einer  Schule  die  er  die  »kritische«  nennt, 
während  längst  bewiesen  ist  dass  sie  eine  durch 
und  durch  unkritische  ist.  Er  bleibt  wie  bei 
den  eiteln  Voraussetzungen  so  auch  bei  den 
grundlosen  Ergebnissen  dieser  durch  die  Wis- 
senschaft ebensowohl  wie  durch  die  Christlich- 
keit längst  widerlegten  Kirchenschule  stehen, 
und  weiss  sogar  die  Begriffe  und  Namen  der 
Dinge  nicht  anders  zu  stellen  als  wie  sie  diese 
Schule  gestellt  und  wie  sie  dazu  die  neueste 
Zeit  ihm  geheiligt  hat.  So  streitet  er  denn 
zwar,  wie  eben  gesagt,  nur  halb  und  etwas  miss- 
vergnügt gegen  den  »neuen  Glauben«  des  Bü- 
chelchens  von  1872,  mit  vollem  Vergnügen  aber 
gegen  die  beiden  Parteien  welche  er  die  apo- 


16  Gott,  gel,  Anz.  1874.  Stuck  1. 

logetische  (als  wäre  es  eine  Dummheit  oder 
gar  ein  Verbrechen  das  Christenthum  verthei- 
digen  zu  wollen!)  und  die  liberale  nennt, 
spricht  bei  dieser  besonders  auch  gegen  Dr. 
Keim  und  die  Schweizer  und  gegen  Dr.  Schen- 
kel mit  dessen  heutigem  Protestantenvereine. 
Gegen  diesen  Verein  hat  zwar  nicht  bloss  der 
Verf.  zu  reden:  allein  das  üble  ist  dass  der 
Verf.  gerade  das  an  ihm  nicht  tadelt  was  christ- 
lich und  kirchlich  genommen  am  wenigsten  zu 
billigen  ist. 

Indessen  will  der  Verf.  seine  Streitschrift  ja 
auch  zu  einer  Friedensschritt  machen:  man 
wird  nur  leider  schon  zum  voraus  ahnen  dass, 
wenn  er  so  wenig  richtig  zu  streiten  weiss, 
auch  der  Frieden  welchen  er  bringen  will  so 
gut  wie  gar  kein  Frieden  sein  kann.  Und 
wirklich  trifft  dies  nur  zu  sehr  ein.  Er  meint 
man  möge  doch  Christenthum  und  Theologie, 
da  Hr.  Strauss  gar  zu  heftig  und  rücksichtslos 
gegen  sie  vorgehe,  trotz  ihrer  grossen  Mängel 
nur  noch  ein  wenig,  nur  eine  nächste  Zwischen- 
zeit hindurch  ertragen:  also  etwa  so  wie  ein 
Arzt  das  Leben  eines  zwar  unrettbaren  aber 
langsam  kranken  Mannes  durch  milde  Behand- 
lung zu  fristen  und  seinen  demnächstigen  Tod 
zu  erleichtern  sucht.  Und  als  das  Hauptmittel 
welches  diesem  Kranken  Erleichterung  und  Trost 
gewähren  soll,  räth  er  an  man  möge  öffentlich 
einen  Unterschied  zwischen  esoterischem  und 
exoterischem  Christenthum  machen  um  die  Geist- 
lichen nicht  auf  jenes  sondern  auf  dieses  zu 
verpflichten.  Wäre  nun  letzteres  wirklich  so 
nothwendig  wie  der  Verf.  meint,  so  könnte  ja 
das  Christenthum  keinen  Augenblick  weiter, 
auch  nicht  einmal'  auf  jene  Teufelsfrist  hin  be- 
stehen die  ihm  der  Verf.  aus  hoher  Güte  noch 


Overbeck,  Ueb.  d . Christlichkeit  d.  h.  Theologie.  1 7 

gönnen  will.  Denn  es  ist  bekannt  dass  ein 
Unterschied  zwischen  öffentlichen  und  geheimen 
Lehren  wol  einst  von  Griechischen  Philosophen 
gemacht  wurde,  im  Christenthume  aber  von  An- 
fang an  und  durch  sein  Wesen  unmöglich  ist. 
Auch  die  disciplines  arcani  im  dritten  Jahrh. 
nach  Chr.  (auf  welche  Bich  übrigens  der  Verf. 
nicht  beruft)  hatte  nur  vorübergehende  Bedeu« 
tung,  entsprang  aus  Zeitumständen  welche  das 
gerade  Gegen theil  der  heutigen  sind,  und  sollte 
nicht  das  Cbristenthum  aufzulösen  sondern  seine 
volle  Kraft  für  bessere  Zeiten  aufzusparen  die- 
nen. Wenn  also  der  Verf.  keinen  andern  Frie- 
den anzurathen  weiss,  so  wäre  es  unstreitig  bes- 
ser er  beredete  alle  heutigen  Deutschen,  Theo- 
logen und  Nichttheologen,  sofort  in  den  »neuen 
(glaubenslosen)  Glauben«  des  Ludwigsburgi- 
schen Mannes  einzutreten.  Ja  wer  wie  der 
Verf.  überzeugt  ist  das  Christen thum  könne  und 
werde  bald  vorübergehen,  der  hat  überhaupt 
keinen  solchen  Glauben  mehr  wie  ihn  ein  Christ 
haben  muss. 

Blickt  man  nun  auf  die  Gründe  welche  den 
Verf.  in  glatter  Sprache  so  zu  reden  treiben, 
so  stösst  man  da  nur  auf  die  schweren  Irrthu- 
mer  seiner  verkehrten  Kirchenschule,  die  aber 
für  ihn  bereits  zu  Dogmen  geworden  sind,  so 
dass  sich  dabei  nur  der  in  unsern  Tagen  schon 
alte  Satz  erneuert  dass  gerade  die  welche  wie 
der  Verf.  am  meisten  gegen  Dogmen  schreien 
selbst  nur  in  den  Ketten  ihrer  eignen  für  sie 
bereits  ganz  starr  gewordenen  Dogmen  sich 
bewegen.  Zwischen  dem  christlichen  Glauben 
und  der  Wissenschaft  sei  unversöhnliche  Feind- 
schaft; das  ist  so  ein  erstes  Dogma  an  welches 
er  von  jener  Schule  her  starr  glaubt:  alsob  er 
jucht  wissen  könnte  dass  von  Origenes7  Tagen 

2 


18 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  1. 

an  bis  in  unsre  eignen  Jahrhunderte  herab  ge- 
rade die  am  meisten  wissenschaftlichen  Männer 
und  die  strengsten  Denker  stets  die  besten 
Christen  waren  1 Wissen  und  Glauben  sind 
allerdings  zweierlei  höchst  verschieden#  Dinge, 
allein  nur  so  wie  Vernunft  und  Einbildung  sehr 
verschiedene  Geisteskräfte  sind  und  doch  in 
demselben  menschlichen  Geiste  Zusammenwir- 
ken und  sich  gegenseitig  tragen  können;  nur 
üble  Menschengeister  bringen  in  Wissen  und 
Glauben  oder  in  Vernunft  und  Einbildung  oder 
in  Denken  und  Handeln  Widerspruch  und  un- 
lösbare Feindschaft.  — Das  Christenthum  ver- 
lange die  Weltflucht:  das  ist  so  ein  zweites 
Hauptdogma  für  den  Verf.  ganz  aus  derselben 
Quelle  geschöpft,  wobei  wir  nur  bedauern  dass 
der  Verf.  als  Theologe  noch  gar  nicht  weiss 
was  denn  die  Welt  sofern  man  sie  fliehen  solle 
im  Sinne  der  Bibel  und  des  Christenthumes  sei. 
Wenn  der  Verf.  hier  einmal  wie  zum  Beweise 
für  sein  Dogma  auf  die  Stelle  Matth.  19,  12 
hinweist  (die  einzige  Stelle  der  Bibel  die  er  in 
seinem  Buche  anfübrt),  so  können  wir  an  die- 
sem Orte  nur  kurz  bemerken  dass  er  sie  nicht 
verstanden  hat. 

Darum  (um  zum  Anfänge  zurückzukehren) 
sei  man  nur  nicht  in  ganz  unrichtiger  Weise 
besorgt  wenn  in  unsern  Tagen  die  ganzen  oder 
die  halben  Celsusleute  mit  ganz  neuer  Gewalt 
wiederkehren  wollen.  Es  ist  nicht  die  Wissen- 
schaft welche  gegen  das  Christen thum  ins  Feld 
geführt  werden  kann,  heute  noch  viel  weniger 
als  einst  zu  Celsus’  Zeit,  und  am  wenigsten  in 
der  Evangelischen  Kirche.  Es  handelt  sich  nur 
darum  ob  man  auch  heute  unter  uns  den  Grund- 
sätzen und  Geboten  des  Christenthumes  folgen 
wolle  oder  nicht.  Die  Lage  der  Dinge  ist  die 


I 


Overbeck,  TJeb.  d.  Christlichkeit  d.  h.  Theologie.  1 9 

dass  diesen  Grundsätzen  und  Geboten  zu  folgen 
niemals  nothwendiger  und  unausweichbarer  war 
als  heute;  und  nur  weil  heute  dies  so  viele  ent- 
weder nicht  begreifen  (was  doch  vor  allen  an- 
deren die  Theologen  sämmtlich  am  vollkommen- 
sten begreifen  sollten),  oder  davor  als  ihrer 
Meinung  nach  zu  schwer  zurückbeben  (in  der 
Wirklichkeit  aber  trifft  dieses  beides  bei  den 
einzelnen  Menschen  heute  nur  zu  oft  zusammen), 
finden  solche  Bücher  wie  die  des  Ludwigsburgi- 
schen Strauss  und  das  vorliegende  eine  Mög- 
lichkeit ans  Tageslicht  zu  treten.  Aber  das 
Tageslicht  kann  sie  auch  sofort  noch  schneller 
als  die  Eintagsfliegen  wieder  verscheuchen;  und 
das  wird  auch  den  Schriften  des  Ludwigsburgi- 
schen Gelehrten  trotz  ihrer  wiederholten  Auf- 
lagen so  gehen. 

81.  October  1873.  H.  E. 


Debates  in  the  house  of  Commons 
in  1625.  Edited  from  a Ms.  in  the 
library  of  Sir  Rainald  K nightley,  Bart. 
By  Samuel  Bawson  Gardiner.  Printed 
for  the  Camden  Society.  1873.  XXIV 
und  190  SS. 

Erst  vor  Kurzem  ist  in  diesen  Blättern  (G. 
G.  A.  1872  S.  1964  ff.)  der  Camden-Society  und 
der  unermüdlichen  Thätigkeit,  die  sie  seit  fünf- 
unddreissig  Jahren  entfaltet,  gedacht  worden. 
Unter  den  neueren  Beweisen  dieses  Schaffens- 
Dranges  verdient , um  von  den  übrigen  zu 
schweigen,  namentlich  der  uns  vorliegende  Band 
eine  Erwähnung.  Auch  diese  Edition  verdankt 
man  wiederum  Herrn  Rawson  Gardiner,  der  so 
glücklich  war  das  schon  von  Bruce  eingesebene 

2* 


i 


20  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

Ms.  von  dem  Besitzer,  Sir  Rainald  Knightley 
für  den  Druck  zu  erhalten. 

Im  Anhang  wird  ausser  einigen  lehrreichen 
Briefen  und  Akten  aus  dem  State  Paper  Office 
ein  unabhängiger  Bericht  der  in  Oxford  fortge- 
führten  Parlaments-Debatten  aus  dem  Harl.  Ms. 
5007  mitgetheilt.  Er  zeigt  indes  nicht  nur 
grosse  chronologische  Verwirrung,  sondern  ent- 
hält auch  ausserordentlich  grosse  Lücken.  So 
lässt  er  die  grosse  Rede  von  Sir  Robert  Philips 
zum  5.  August  1625  ganz  aus,  stellt  zu  dem- 
selben Tage  die  Rede  Sir  Edward  Cokes  an  den 
Anfang  u.  s.  w.  Zu  bedauern  ist,  dass  gerade 
die  Debatte  des  10.  August  in  diesem  Bericht 
vollständig  ausgefallen  ist.  — Der  Herausgeber 
spricht  sich  in  der  Einleitung  klar  und  bündig 
über  den  Werth  dieser  Publikation  aus.  Da 
die  Journale  der  beiden  Häuser  aus  dieser  Zeit 
ausserordentlich  fragmentarisch  und  sonstige 
Berichte  höchst  mangelhaft  sind,  so  war  unsre 
Kenntnis  von  den  Debatten  des  ersten  Parla- 
ments Karls  I.  eine  sehr  dürftige,  bis  das  Er- 
scheinen von  Forster’s  ausgezeichnetem  Werk 
über  John  Eliot  (London  1864)  mehr  Licht 
über  die  parlamentarischen  Vorgänge  verbreitete. 
Daselbst  (s.  namentlich  Bd.  I.  p.  209  ff.  II. 
382  ff.)  konnte  nämlich  ein  äusserst  interessan- 
tes Ms.  Eliots , von  ihm  selbst  bezeichnend 
»Negotium  Posterorum«  überschrieben,  benutzt 
werden.  Diese  kostbare  Reliquie  des  edlen 
Märtyrers  der  Englischen  Freiheit,  mit  vielen 
anderen  wichtigen  Papieren,  im  Familien-Archiv 
des  Earl  of  St.  Germans  vorgefunden,  ein 
Bruchtheil  eines  grösseren  historischen  Werkes, 
welches  Eliot  plante,  offenbar  in  der  Einsam- 
keit der  Haft  entstanden,  ist  ein  förmliches, 
fein  ausgearbeitetes  Memoire  über  das  erste 


Gardiner,  Debates  in  the  house  of  Commons  etc.  2 1 

Parlament  Karls  L,  mit  Wiedergabe  der  Reden, 
Charakteristik  der  Hauptmitglieder  der  Ver- 
sammlung , Einschiebung  historisch-politischer 
Betrachtungen : mithin  eine  Quelle  ersten  Ranges. 

Ein  grosser  Theil  des  Interesse  der  vor- 
liegenden Veröffentlichung  liegt  nun  eben  darin, 
dass  es  möglich  ist,  die  Aufzeichnungen  des  un- 
bekannten Berichterstatters  mit  den  erhaltenen 
Notizen  Eliots  zu  vergleichen,  welche  H.  For- 
ster dem  Herausgeber  vollständig  zur  Verfügung 
stellte.  So  wird  uns  nicht  nur  die  Handhabe 
geboten,  durch  jene  Aufzeichnungen  den  offi- 
ciellen  Text  der  Journale  zu  ergänzen  (s.  z.  B. 
S.  7 Anm.  c.  71  Anm.  b),  sondern  sie  auch  zu 
einer  Kritik  Eliots  zu  benutzen.  Es  zeigt  sich, 
dass  sein  Parteieifer  ihn  doch  mitunter  zu  fal- 
schen Annahmen  verleitet  hat  (s.  S.  V und  7). 
Auch  geht  er  in  seinem  Ms.  ein  Mal  ganz  kurz 
über  eine  von  ihm  selbst  gehaltene  Rede  hin- 
weg, die  sich  in  ziemlich  erwünschter  Ausführ- 
lichkeit (S.  137)  in  dieser  Publikation  vorfindet. 
Ich  kann  dem  Herausgeber  zwar  in  der  Be- 
hauptung nicht  beistimmen,  dass  er  sie  ganz 
und  gar  nicht  erwähne  (S.  XIV:  »which  he  did 
not  think  fit  even  to  mention«),  denn  bei  For- 
ster I.  387,  der  sich  doch  auf  das  »Negotium 
Poster  or  um«  stützt,  findet  sich  eine  Andeutung 
davon,  wenn  schon  die  Inhalts- Angabe , ent- 
sprechend der  in  den  Journalen,  nicht  zu  dem 
vorliegenden  Texte  stimmt.  Aber  dass  es  bei 
dieser  Andeutung  in  Eliots  Ms.  geblieben  ist, 
dass  er  aus  seiner  Rede  nicht  ein  Mal  das 
Wichtige  hervorgehoben,  lässt  sich  gewiss  auf 
die  Gründe  zurückführen,  die  R.  Gardiner  für 
sein  völliges  Verschweigen  annehmen  zu  müssen 
geglaubt  hat.  »Man  darf  sich  vielleicht  nicht 
darüber  wundern,  dass  ihm  nichts  daran  lag  ins 


22 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  i. 

Gedächtnis  zurückzurufen,  was  er  an  jenem 
Tage  gesagt  hatte  ....  Es  war  sein  letzter 
Versuch  zu  vermitteln , der  letzte  Ausdruck 
einer  Art  von  Vertrauen  zu  Buckingham,  und 
Niemand  liebt  es  an  einen  Versuch  zu  erinnern, 
der  völlig  gescheitert  ist,  zumal  wenn  dieser 
Versuch  gemacht  worden  in  Folge  übel  ange- 
brachten Vertrauens  zu  einem  Anderen«.  Wenn 
dieses  schon  im  Stande  ist  den  Glauben  an  die 
unbedingte  Autorität  des  Eliotschen  Ms.  zu  er- 
schüttern, so  wäre  ein  noch  wichtigeres  Ergeb- 
nis für  die  Kritik  desselben,  wenn  wir  bemer- 
ken müssten,  dass  sich  Eliot  eine  Rede  in  den 
Mund  gelegt  hat,  die  er  wohl  ausgearbeitet, 
aber  höchster  Wahrscheinlichkeit  nach  nie  ge- 
halten hat.  Dies  ist  in  der  That  die  Ansicht  des 
Herausgebers  mit  Bezug  auf  die  grosse  Rede, 
die  sich  bei  Forster  I,  414  ff.  findet,  und  zu  der, 
sie  mag  nun  gebalten  sein  oder  nicht  unzwei- 
felhaft die  Gelehrsamkeit  Sir  Robert  Cottons 
das  Material  geliefert  hat.  Die  Frage  ist  nicht 
leicht  zu  entscheiden.  Dass  nun  auch  in  die- 
ser Niederschrift  der  Debatten,  wie  in  den  Jour- 
nalen das  ganze  Stück  fehlt  und  statt  dessen 
eine  Rede  von  Sir  Francis  Seymour  erscheint, 
fällt  allerdings  schwer  ins  Gewicht.  Anderer- 
seits braucht  man  noch  nicht  mit  dem  Heraus- 
geber für  entscheidend  zu  halten,  dass  in  der 
Rede  Sir  Richard  Westons,  die  darauf,  wie  alle 
Quellen  übereinstimmend  angeben,  folgte,  nicht 
die  mindeste  Anspielung  auf  irgend  eines  der 
Argumente  zu  finden  ist,  die  Eliot  vorgebracht 
haben  will,  während  sie  die  direkte  Erwiederung 
auf  Seymours  Worte  enthält.  Denn  denkbar 
wäre  doch,  dass  beide  hintereinander  das  Wort 
ergriffen  hätten,  zuerst  Eliot,  dann  Seymour, 
den  ja  auch  das  »Negotium  Post  er  or  um« 


i 


Gardiner,  Debates  in  the  house  of  Commons  etc.  2 3 

(Forster  I,  424)  wenn  schon  an  einer  anderen 
Stelle  der  Verhandlung  an  jenem  Tage  das  Wort 
nehmen  lässt.  Was  mich  bestimmt  mich  der 
Ansicht  des  Herausgebers  anzuschliessen,  ist, 
dass  Sir  Simonds  d’Ewes  in  seinem  Briefe  (s. 
p.  XXIV  das  dort  citirte  Werk  liegt  mir  augen- 
blicklich nicht  vor)  es  doch  nicht  hätte  umgehn 
können  zu  erwähnen,  dass  Eliot  jene  Rede  ge- 
halten habe,  wofern  es  wirklich  der  Fall  gewe- 
sen. Wie  kam  aber  Eliot  dazu  die  Rede  doch, 
als  sei  sie  gehalten,  in  sein  Memoiren-Werk 
aufzunehmen?  Man  mag  geneigt  sein  anzuneh- 
men,  dass  lediglich  seine  Phantasie  ihm  einen 
Possen  gespielt  hat.  Eine  andere  Erklärung 
versucht  H.  Rawson  Gardiner.  Es  sei  wahr- 
scheinlich — und  dies  ist  es  in  der  That  schon 
nach  Sir  Simonds  d’Ewes  Brief  zu  schliessen, 
— dass  der  Entwurf  der  Rede,  wenigstens  in 
der  Form,  die  Cotton  ihm  gegeben,  unter  den 
Mitgliedern  des  Hauses  im  Ms.  circulirt  habe, 
womit  Eliots  Bericht,  jene  Argumente  hätten 
Eindruck  gemacht,  wohl  vereinbar  seien.  Aber 
die  Worte:  »that  the  affections  of  the  house 
were  so  far  inflamed  by  what  he  had  said«  etc., 
welche  nach  Forster  I,  422  doch  wohl  in  Eliots 
Werke  Vorkommen,  weisen  allzudeutlicb  auf 
eine  nach  der  Ansicht  des  Autors  wirklich  ge- 
haltene Rede  bin,  als  dass  jener  Erklärungs- 
versuch zulässig  erscheinen  könnte.  Sollte  die 
Annahme  zu  kühn  sein,  dass  Eliot  ein  so  schö- 
nes Stück  Rhetorik  in  seinem  Werke  nicht 
missen  wollte  und  für  erlaubt  hielt  das  Bei- 
spiel der  Alten  nacbzuahmen:  eine  Rede  einzu? 
schieben,  welche  nicht  gehalten  ist,  aber  der 
Situation  angemessen,  hätte  gehalten  sein  kön- 
nen, um  so  mehr,  da  sie  wirklich  in  dieser 
Form  vorbereitet  worden  war?  Die  Treue  sei- 


24  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

ner  Aufzeichnungen  würde  dadurch  freilich  noch 
mehr  verdächtigt,  ich  gestehe  indes,  dass  ich 
auch  an  anderen  Stellen  derselben,  z.  B.  bei 
Forster  I,  298  in  dem  Bericht  seiner  Unter» 
redung  mit  Buckingham  etwas  zu  Viel  von  der 
nachhelfenden  Hand  des  künstlerisch  gestalten* 
den  Memoiren-Schreibers  zu  finden  glaube. 

Die  Fragen  der  Quellen-Kritik,  zu  denen 
diese  Berichte  veranlassen  können,  werden  indes 
an  Wichtigkeit  noch  weit  überragt  durch  die 
allgemeinen  Fragen  der  damaligen  Englischen 
Politik,  auf  die  sie  einige  ganz  neue  Streif- 
lichter werfen.  Die  anwacbsende  Verstimmung 
zwischen  König  und  Parlament,  die  Stellung 
beider  zu  dem  festländischen  Kriege,  die  An- 
näherung des  offenen  Bruches  zwischen  Buckingham 
and  Eliot,  den  H.  Rawson  Gardiner  mit  Grund 
(und  in  Uebereinstimmung  mit  Rankes  Engl. 
Gesch.  II,  177)  erst  iu’s  Jahr  1626  setzt.  Das 
sind  die  Gegenstände,  welche  vor  Allem  durch 
diese  schätzbare  Publikation  neu  beleuchtet 
werden.  Möchte  der  Herausgeber  Müsse  finden, 
nachdem  er  sich  in  Besitz  neuen  Quellen-Mate- 
rials gesetzt  hat,  uns  auch  mit  einer  Darstellung 
dieser  Epoche  zu  beschenken,  welche  sich  un- 
gezwungen an  die  beiden  grösseren  bistorio- 
graphischen  Werke  anschliessen  würde,  die  wir 
Uim  bereits  verdanken!  Erst  nach  vorbereiten- 
den Arbeiten  dieser  Art  kann  man  sich  wieder 
mit  Erfolg  der  Geschichte  der  Englischen  Revo- 
lution selbst  nähern,  welche  sich  in  den  parla- 
mentarischen Ereignissen  dieser  ersten  Jahre 
Carls  I.  bereits  von  Ferne  ankündigt«. 

Bern.  Alfred  Stem. 


Richter,  Annalen  des  Fränkischen  Reichs  etc.  25 

Annalen  des  Fränkischen  Reichs  im  Zeitalter 
der  Merovinger.  Vom  ersten  Auftreten  der 
Franken  bis  zur  Krönung  Pippins.  Mit  fort« 
laufenden  Quellenauszügen  und  Literaturangaben. 
Von  Gustav  Richter,  Prof,  am  Gymnasium 
zu  Weimar.  Halle,  Verlag  der  Buchhandlung 
des  Waisenhauses  1873.  X und  230  Seiten  in 
gross  Octav. 

(Auch  unter  dem  Titel:  Annalen  der  Deut- 
schen Geschichte  im  Mittelalter.  Von  der  Grün- 
dung des  Fränkischen  Reichs  bis  zum  ' Unter- 
gang der  Hohenstaufen.  Mit  fortlaufenden  Quel- 
lenauszügen und  Literaturangaben.  Ein  Hülfs- 
buch  für  Geschichtslehrer  an  höheren  Unter- 
richts-Anstalten und  Studierende.  1.  Abtheilung). 

Fasst  man  das  vorliegende  Buch  nach  dem 
hier  vorangestellten  Titel  auf,  so  kann  man  ihm 
nur  in  jeder  Beziehung  das  beste  Lob  ertheilen, 
während  dies  vielleicht  zweifelhafter  wird,  wenn 
man  den  andern  Titel  berücksichtigt,  den  Band 
als  Theil  eines  grösseren  Ganzen,  eines  Hülfs- 
buchs  für  Lehrer  an  höheren  Unterichtsanstal- 
ten  zu  beurtheilen  hat.  Ich  bescheide  mich 
gern,  nicht  zu  wissen,  was  diesen  nützlich  und 
angenehm  sein  mag:  die  meisten,  fürchte  ich, 
werden  durch  die  Fülle  des  hier  gebotenen 
Stoffs  mehr  verwirrt  als  gefordert  werden. 
Aber  auch  davon  abgesehen , scheint  mir  die 
Durchführung  der  gestellten  Aufgabe  in  dieser 
Weise,  in  dem  derselben  gegebenen  Umfang  mit 
nicht  geringen  Schwierigkeiten  verbunden.  Der 
Verf.  selbst  deutet  freilich  an,  dass  er  später 
sich  mehr  zu  beschränken  haben  werde,  und 
dass  er  nur  aus  besonderen  Gründen  geglaubt 
in  dieser  Abtheilung  etwas  weiter  gehen  zu  dür- 
fen, wobei  er  besonders  die  »studierende  Jugend 


26 


Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stuck  1. 

auf  den  Universitäten«  im  Auge  gehabt  habe« 
Meint  er  da  die  Studierenden  speciell  der  Ge* 
schichte,  so  wird  man  beistimmen:  ihnen  kann 
ein  solches  Buch  nur  sehr  nützlich  sein.  Ein 
früher  als  Programm  veröffentlichter  Theil  der 
Arbeit,  Annalen  der  Geschichte  Ottos  I.,  ist 
mir  nicht  zu  Gesicht  gekommen,  und  so  vermag 
ich  nicht  zu  sagen,  wie  der  Verf.  sich  die 
Weiterführung  denkt,  lasse  das  aber  auch  gern 
dahingestellt  und  halte  mich  an  den  Band  als 
selbständiges  Ganzes. 

Da  wird  eine  auf  sorgfältiger  Benutzung  der 
Quellen  und  der  neueren  Literatur  beruhende 
Uebersicht  der  älteren  Fränkischen  Geschichte 
gegeben,  genau  und  vollständig,  wie  man  sie 
nur  wünschen  kann.  Der  Text  ist  freilich  sehr 
knapp,  ganz  chronologisch,  die  Ereignisse  kurz 
andeutend;  ihn  begleiten  aber  doppelte  Noten, 
die  regelmässigen,  recht  eigentlich  zu  dem  We- 
sen des  Buchs  gehörigen,  welche  die  Nachweise 
und  meist  auch  die  wichtigeren  Worte  der 
Quellen  geben,  dazu  Verweisungen  auf  neuere 
Bücher,  auch  wohl  einzelne  kritische  Erörte- 
rungen, und  ausserdem  andere,  welche  noch  als 
weitere  Zugabe  erscheinen,  bald  auf  Neben- 
punkte eingehen  oder  speciellere  Ausführungen 
enthalten,  mitunter  aber  auch  mehr  zusammen- 
fassende Bemerkungen  über  einzelne  Personen- 
und  Begebenheiten  bringen.  Gerade  unter  die- 
sen verdienen  einige  besonders  hervorgehoben 
zu  werden:  sie  bezeugen  am  besten,  wie  der 
Verf.  den  Stoff  vollständig  beherrscht  und  gut 
aufgefasst  hat.  Ueberhaupt  ist  von  demselben 
wohl  die  volle  Arbeit  gethan,  die  zu  einer  kri- 
tischen Geschichte  der  Merovingischen  Zeit  er- 
forderlich wäre,  und  man  mag  vielleicht  be- 
dauern , dass  Hr.  Richter  sich  nicht  diese 


Richter,  Annalen  des  Fränkischen  Reichs  etc.  27 

höhere  Aufgabe  gestellt  hat.  Auch  den  Ver~ 
fassungsverhältnissen  widmet  er  volle  Aufmerk- 
samkeit und  behandelt  sie  in  eigenen  Abschnit- 
ten mit  Rücksicht  auf  die  neueren  Darstellun- 
gen sehr  ausführlich  (S.  27 — 32.  108 — 150). 
Als  selbst  betheiligt  kann  ich  nur  sagen,  dass 
er,  wenn  auch  im  ganzen  geneigt  der  letzten 
Ausführung  sich  anzuschliessen , doch  sich  ein 
eigenes  Urtheil  bewahrt,  so  z.  B.  das  Bedenk- 
liche in  manchen  von  Sohms  neuen  Aufstellun- 
gen wohl  bemerkt  und  hervorgehoben  hat;  über 
die  Stellung  des  Majordomus,  über  die  soge- 
nannte Säcularisation  des  Eirchengutes  vertritt 
er  eine  selbständige  Ansicht,  die  Beachtung  ver- 
dient. 

Es  liegt  dieser  Anzeige  ferne  auf  solche  strei- 
tige Fragen  näher  einzugehen  oder  sonst  hervor- 
zuheben, wo  ich  von  der  hier  vertretenen  An- 
sicht abweichen  muss.  Die  Literatur  ist  sehr 
vollständig,  zum  Theil  noch  in  Nachträgen  be- 
nutzt; es  fehlen  auch  die  Schriften  Dedericbs 
nicht,  der  seine  bekannten  Ansichten  über  die 
Entstehung  des  Frankenbundes  eben  in  einer 
neuen  Schrift  wiederholt  und  sich  dabei  beklagt, 
dass  dieselbe  bisher  keine  Berücksichtigung  von 
Seiten  der  Geschichtsforscher  gefunden,  während 
er  selbst  ohne  alle  Kunde  von  dem  zu  sein 
scheint,  was  gegen  die  Existenz  überhaupt  eines 
solchen  »Bundes«  der  Franken  gesagt  ist.  Ich 
vermisse  nur  etwa  Müllenhoffs  Erläuterung  zu 
den  Deutschen  Völkernamen  in  dem  Verzeich- 
nis der  Provinzen  von  297,  Leo  über  Beowulf, 
der  über  die  S.  229  erwähnte  Zusammenstellung 
der  Chochilaichus  und  Hygelac  ausführlicher 
handelt  (wie  früher  auch  Dahlmann , For- 
schungen I,  S.  440),  und  eine  Anzahl  französi- 
scher Schriften  (wie  Dom  Pitra,  Histoire  de 


28  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

St.  Leger;  Drspeyron,  De  Burgundiae  historia 
et  ratione  politica  Merovingorum  aetate  u.  a.), 
die  dem  Verf.  wohl  unzugänglich  waren;  die 
spätere  Ausführung  Dünzelmanns  über  die  Chro- 
nologie der  Bonifazischen  Briefe  in  Forschungen 
Bd.  XIV  konnte  ihm  wohl  noch  nicht  bekannt 
sein;  eine  S.  104  angeführte  Abhandlung  von 
Wauters  über  Thierri  d* Alsace,  wird  sich  nicht 
auf  den  Austrasischen  König,  sondern  den  Nie- 
derlothringischen Herzog  beziehen. 

G.  Waitz. 


Beitrag  zur  Kunde  der  norditalienischen 
Mundarten  im  XV.  Jahrhunderte  von  Adolf 
Mussafia,  wirkl.  Mitglied  der  kais.  Akademie 
der  Wissenschaften.  Wien  1873.  In  Commis- 
sion bei  Karl  Gerold’s  Sohn.  128  Seiten  Gross- 
quart. (Separatabdruck  aus  dem  XXII.  Bande 
der  phil.-hist.  Classe  der  kais.  Akad.  d.  Wiss.). 

Eine  ganz  vortreffliche  Arbeit  des  ausge- 
zeichneten Romanisten,  auf  die  ich  hier,  wenn 
auch  zuvörderst  nur  mit  wenigen  Worten,  hin- 
weisen  will,  da  sie  dazu  bestimmt  scheint,  eine 
der  wichtigsten  Stellen  auf  dem  betreffenden 
Gebiete  einzunehmen.  Mussafia  hat  dabei 
einige  in  Wien  und  München  befindliche  Hand- 
schriften sowie  Incunabeln  und  andere  ältere 
Drucke  benutzt,  welche  italienisch-deutsche  Glos- 
sare des  XV.Jahrh.  und  demgemäss  eine  grosse 
Zahl  Wörter  und  Wortformen  enthalten,  wie  sie 
um  jene  Zeit  in  einzelnen  Theilen  Norditaliens 
in  Gebrauch  waren.  Er  giebt  zuerst  eine  über- 
sichtliche Zusammenstellung  alles  dessen,  was 


Mussafia,Beitr.z.  Kunde  d.  nordital. Mundarten.  29 

daraus  in  Bezug  auf  Laut*  und  Flexionslehre 
hervorgeht,  worauf  dann  das  alphabetisch  ge- 
ordnete Verzeichniss  sämmtlicher  Wörter  der 
verschiedenen  Quellen  kommt,  insoweit  sie  näm- 
lich entweder  rein  mundartlich  sind  oder,  ob- 
wol  auch  der  Schriftsprache  eigen,  doch  hin* 
sichtlich  der  Form  oder  der  Bedeutung  etwas 
Bemerkenswerthes  bieten,  wobei  jedes  Wort,  so- 
weit dem  Verf.  möglich,  in  den  andern  Mund- 
arten Italiens  verfolgt  wird.  Die  Vergleichung 
mit  denen  anderer  Gebiete  ist  bis  auf  einzelne 
Fälle  absichtlich  unterlassen;  dagegen  sind  ge- 
legentlich mehrere  kleine  höchst  schätzbare  Ex* 
curse  über  weitere  Verbreitung  einzelner  Wör- 
ter und  über  verschiedene  Ausdrücke  zur  Be- 
zeichnung einzelner  Begriffe  hinzugefügt.  Der 
Verf.  wünscht  eingehende  Prüfung,  Ergänzung 
und  Berichtigung  seiner  Erörterungen  von  Fach- 
genossen; die  sehr  wenigen  nachfolgenden  Be- 
merkungen können  jedoch  durchaus  nicht  als 
von  irgend  welcher  Bedeutung  angesehen  wer- 
den und  sollen  zunächst  nur  zeigen,  mit  wel- 
chem Interesse  ich  die  so  schätzbare  Arbeit 
durchgegangen ; ich  hebe  dabei  nur  die  für  mich 
wichtigsten  Stellen  der  betreffenden  Artikel  aus. 

»Barbizuolo  ‘kin’  . . . Auch  die  Crusca  führt 
ein  Beispiel  von  ‘barba’  Kinn  an«.  Beide  Be- 
deutungen vereint  uns  das  gr.  y&veiov.  — »JSa- 
roero  ‘scherg’,  it.  ‘berroviere,  birr.7,  zuerst  Ge- 
richtsdiener, Häscher  ....  Ueber  das  Etymon 
Diez  II,  222«,  wonach  es  aus  dem  frz.  ‘berruier’ 
stammt  und  eigentlich  einen  Bewohner  von 
Berry  bedeutet , obwohl  es  keine  Gewissheit 
darüber  giebt,  aus  welchem  Grunde  es  zum 
Appellativ  geworden  ist.  Hierzu  bemerke  ich, 
dass  die  römischen  ‘Bruttiani’  gleichfalls  als 
Gerichtsdiener,  Häscher  u.  s.  w.  fungirten  und 


30 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

zugleich  einen  Yolksnamen  enthalten,  wobei  die 
Frage  entsteht,  ob  die  von  Gellius  gegebene  Er- 
klärung über  den  Ursprung  dieses  Wortes  die 
richtige  sei,  was  ich  sehr  bezweifle.  — » Boldon 
. . . (Anm.  S.  35)  ‘basoffia’  mundartl.  . . . ‘vi- 
yanda  quasi  liquid  a composta  di  cose  sozze’«. 
Letzteres  Wort  findet  sich  auch  mit  derselben 
Bedeutung  in  dem  spanischen  und  portugiesischen 
‘bazofia’.  — » Destro  ‘privet*  . . . comsk.  als  Adj. 
'schmutzig’  ...  Für  letzteres  Wort  stellt  Bion- 
delli  ein  deutsches  ‘drist’  als  Etymon  auf ; es 
ist  aber  leicht  zu  begreifen,  dass  sich  diese  Be- 
deutung aus  der  von  latrina  entwickelte«.  Ganz 
richtig;  man  denke  nur  an  das  schlesische  ‘be- 
schissen’, welches  ganz  arglos  für  ‘schmutzig* 
gebraucht  wird;  s.  Grimm  WB.  1,  1560,  2.  — 
*In  pe  ‘anstatt’  .. . (Anm.  S.  71).  Ferr.  ‘impe’ 
bedeutet  dagegen  ‘neben,  knapp  an’,  dann  in 
zeitlicher  Beziehung  ‘unmittelbar  auf.  ‘A  pe' 
in  der  erstem  Bedeutung  im  ältera  Venez. 
Veron.,  bei  Buzzante  u.  s.  w.«.  Ebenso  port, 
‘ao  pe’.  — »Lusene  ‘pliczen’  . . . comsk.  ‘sber- 
lusciä,  sberlus’«.  Mail,  ‘barluss’,  welchem  das 
frz.  ‘berlue’,  Funke  oder  Blitz  vor  den  Augen, 
entspricht;  s.  Diez  I,  220  s.  v.  Bellugae.  — 
» Mazaruol  ‘schratel’  . . . (Anm.  S.  78).  Zu  den 
von  Diez  II,  371  angeführten  Ausdrücken  für 
‘incubus’  möge  folgendes  Verzeichniss  hinzukom- 
men ....  gen.  ‘pantasma’.  Wahrscheinlich  von 
‘fantasma’  mit  Anlehnung  an  den  Stamm  ‘pant-' 
drücken,  das  im  ven.  ‘pantezare’  com.  ‘pantegih' 
u.  8.  w.  vorkommt;  s.  Diez  II,  396  s.  v.  pan- 
tois  . . . Folgende  Ausdrücke  sind  mir  dann 
von  Seiten  ihres  Etymons  undeutlich : . . . gar- 
fagnanisch  ‘buffardello’  — neap,  ‘monaciello’«. 
Ueber  ‘fantasma’  s.  Grimm  Myth.  450;  ‘buffar- 
dello’ bezeichnet  wol  eigentlich  einen  neckischen 


Mussafia,  Beitr.  z.  Kunde d.  nordital. Mundarten.  31 

Kobold;  vgl.  ebend.  478  und  auch  der  ‘mona- 
ciello’  ist  kein  Alp,  sondern  ein  Nachtgeist,  der 
die  Personen,  welche  ihm  zu  folgen  den  Muth 
haben,  zu  verborgenen  Schätzen  führt  und  in 
Mönchsgewand  mit  breitrandigem  Hute  erscheint, 
woher  auch  sein  Name  (nach  Keightley's  Fairy 
Mythol.);  vgl.  auch  den  von  Grimm  479  ange- 
führten span«  Kobold!  ‘era  un  frayle  tomamto 
y tenia  un  cucurucho  tomano’;  ferner  die  ‘moy- 
nes  bourez’  bei  Delrius  Disqu.  Mag.  L.  H.  Qu. 
27.  Sect.  2 p.  328a.  Colon.  1657  und  den 
ebend.  p.  342b  erwähnten  Schneebergischen 
Berggeist  (nigro  cucullo  vestitus’ ; ferner  Mone’s 
Anz.  3,  365 ff.  — *Orbega  ‘lorper’  ...  bergam. 
‘birimbaga’.  Was  ist  der  erste  Theil  des  Wor- 
tes?« Ich  denke,  es  ist  das  deutsche  Wort 
‘Beere;’  über  die  Verwandlung  des  e in  i s.  S. 
11  und  m drängt  sich  oft  vor  b ein;  vgl.  Diez 
WB.  1,  402  s.  v.  Strambo.  Wir  hätten  hier 
also  eine  tautologische  Wortbildung , wie  in 
‘loup-garou,  cormoran,  Mongibello’;  s.  Diez  2, 
363;  füge  hinzu  das  neap.  Schimpfwort  cane- 
perro’  fern,  ‘canazza  perra’,  wo  das  span,  ‘perro’ 
das  it.  ‘cane’  wiederholt.  Ganz  ähnlich  heisst 
es  in  Florisende  Blanceflor  v.  618  ‘hondert 
bliaude  purpersanguine\  wo  beide  Theile  des 
letztem  Wortes  eben  nur  dasselbe  besagen,  und 
auch  in  dem  schwed.  ‘plogärna*  Bachstelze  (eig. 
Pflugpflügerim)  scheint  die  nämliche  Tautologie 
eingetreten  zu  sein,  weil  die  ursprüngliche  Be- 
deutung von  ‘ärna’  vergessen  war;  vgl.  Grimm 
WB.  8.  v.  Ackermännchen.  — » Quadorro  (in 
der  Handschrift  nicht  ganz  deutlich  zu  lesen) 
‘eccket’.  Ich  verstehe  das  Wort  nicht«.  ‘Ecket’ ist 
soviel  wie  ‘eckig*;  s.  Grimm  WB.  s.  v.  Sanders 
WB.  s.  v.  Ecken,  und  für  quadorro’  lese  ich 
‘quadorno’  oder  ‘quaderno’  mit  adjectiver  Be- 


82  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1. 

deutung  ‘viereckig’,  dann  im  Allgemeinen  ‘eckig*. 

» Remote  ‘cleiben’.  Meiner  Ansicht  nach  von 

‘re-’  und  ‘molere’  also  ‘remolo’  zu  vergleichen 
mit  ‘amolum’  flos  farinae  bei  Papias«.  Letzte- 
res Wort  kommt  in  der  Form  ‘amylum,  amu- 
lum’  schon  bei  Cato  vor;  es  ist  das  gr.  äpvlo» 
nnd  mit  ‘molere’  nur  in  der  Wurzel  verwandt. 
— »Riale  ‘getrewV  Die  für  das  it.  ‘reale’  an- 
geführte Bedeutung  ‘wahrheitliebend’,  churw. 
‘real  rechtschaffen’,  hat  auch  im  Deutschen  das 
Wort  ‘reell’  z.  B.  »ein  reeller  Kaufmann.«  — 
» Siartifico  ‘künftig’.  Verschrieben  für  ‘siant’? 
Oder  steckt  ‘arte’  darin?«  Ist  ‘künftig’  hier 
verdruckt  für  ‘künstig’?  oder  doch  nicht  etwa 
für  ‘zünftig’,  obwol  ‘arte’  auch  ‘Zunft’  heisst?  — 
» Squassacoa  ‘wasserstelz’ ...  (Anm.  1)  • • • Sard, 
‘madischedda’«.  Letzteres  Wort  (— ■ edda  be- 
kanntlich ss  ßlia)  ist  das  lat.  motacilla. 

Die  Arbeit,  an  welcher  ausser  der  Gelehr- 
samkeit und  Sorgfalt  auch  noch  ein  hoher 
Grad  von  Besonnenheit  zu  rühmen  ist,  schliesst 
mit  einem  Literaturverzeichniss,  das  durch  den 
fast  vollständigen  Nachweis  der  die  italienische 
Dialektkunde  betreffenden  Lexika  und  sonstiger 
Werke  ebenfalls  sehr  willkommen  sein  wird. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


An  die  Abonnenten. 

Um  den  bisherigen  Preis  der  Anzeigen  und 
Nachrichten,  der  bei  den  bekanntlich  sehr  ver- 
mehrten Kosten  des  Satzes  und  Papiers  nicht 
unbedeutend  hätte  erhöht  werden  müssen,  bei- 
behalten zu  können,  werden  wöchentlich  von  den 
Anzeigen  in  der  Folge  nur  zwei  Bogen  er- 
scheinen; der  ausfallende  halbe  Bogen  wird  aber 
durch  den  6eit  mehreren  Jahren  fast  verdoppel- 
ten Umfang  der  Nachrichten  mehr  als  ersetzt. 


33 


Göttingi  sehe 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  2*  14 . Januar  1874. 


Monumenta  Poloniae  historica.  Pomniki 
dziejowe  Polski  wydat  August  Bielowski. 
Lemberg.  Verlag  des  Herausgebers.  1872. 
XXVI  und  998  S.  gr.  8.  (mit  8 facsimilirten 
Tafeln)*). 

Mit  grösster  Spannung  sah  man  dem  zwei- 
ten Bande  dieser  für  die  polnische  Geschichte 
des  Mittelalters  so  überaus  wichtigen  Publica- 
tion entgegen.  Die  lange  Frist  von  acht  Jah- 
ren, die  seit  dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes 
verflossen  ist,  sucht  der  Herausgeber  (Director 
der  Lemberger  Ossolinski’schen  Bibliothek)  durch 
äussere,  von  ihm  unabhängige  Umstände  zu 
rechtfertigen.  Und  in  der  That  wird  man  sie 
begreiflich  finden,  wenn  man  bedenkt,  dass  er 
diesem  Werke  nicht  nur  seine  Mussestunden  ge- 
widmet, sondern  auch,  mit  grösster  Uneigen- 
nützigkeit, die  bedeutenden  Kosten  der  Ver- 
öffentlichung desselben  bestritten  hat. 

*)  Vgl.  die  Recenßion  von  H.  Zeissberg  in  Sybels 
Hist.  Ztschr.  1873.  4.  Heft.  S.  403  ff. 


3 


84 


Gott  gel.  Adz.  1874.  Stück  2. 

Vor  Allem  muss  ein  Umstand  in  Betracht 
gezogen  werden,  der  sich  auf  den  allgemeinen 
Plan  der  ganzen  Publication  bezieht.  Man  hat 
oft  an  ihr  auszusetzen  gehabt,  dass  die  Einlei- 
tungen und  zahlreiche  kritische  Anmerkungen 
dem  grössten  Theile  der  fremden,  der  polni- 
schen Sprache  unkundigen  Geschichtsforscher 
unzugänglich  sind.  Man  soll  aber  nicht  ver- 
gessen, dass  fast  sämmtliche  in  dieser  Samm- 
lung zu  veröffentlichte  Quellen  sich  auf  eine 
Periode  der  polnischen  Geschichte  beziehen,  in  der 
Polen  in  der  allgemeinen  europäischen  Geschichte 
noch  eine  sehr  unbedeutende  Rolle  spielte.  Sie 
kommen  eigentlich  fast  nur  für  denjenigen  in  Be- 
tracht, der  sich  speciell  mit  der  polnischen  Ge- 
schichte beschäftigt;  wenn  man  also  den  allge- 
meinen Satz  unangefochten  lässt,  dass  derjenige, 
der  die  Geschichte  eines  Volkes  schreiben  will, 
auch  der  Sprache  desselben  mächtig  sein  muss, 
wird  man  wohl  gegen  diesen  Umstand  nichts 
einzu wenden  haben.  Bei  Sammlungen  von 
Quellen,  die  keine  universelle  Bedeutung  haben, 
wie  die  SS.  rerum  Silesiacarum  oder  SS.  rerum 
Prussicarum,  wird  ja  derselbe  Grundsatz  befolgt. 

Der  erste  Band  enthält  zum  grössten  Theile 
Auszüge  aus  fremden  Quellen,  die  sich  auf  die 
früheste  Geschichte  Polens  (bis  zum  Anfänge 
des  XII.  Jahrh.)  beziehen.  Diese  Zusammen- 
stellung von  zerstreuten  Stellen  aus  den  aller- 
verschiedensten Quellen  war  allerdings  sehr 
willkommen  und  für  den  Zweck  der  Monum. 
Pol.  hist,  nothwendig,  da  die  eigentliche  polni- 
sche Historiographie  erst  am  Anfänge  des  XII. 
Jahrh.  beginnt.  Etwas  zu  weit  scheint  der 
Herausgeber  in  dieser  Hinsicht  gegangen  zu 
sein,  wenn  er  die  ganze  Chronik  Nestors  in 
seine  Sammlung  aufgenommen  hat.  Bei  der 


Bielowski,  Äfonumenta  Poloniae  historica.  36 

Dürftigkeit  der  Quellen  zur  frühesten  Geschichte 
Polens,  war  es  auch  zweckmässig,  dass  im  er- 
sten Bande  neben  historiographischen  Quellen, 
deren  Veröffentlichung  doch  der  Hauptzweck 
der  Mon.  Pol.  h.  ist,  auch  das  in  dieser  Zeit 
noch  überaus  spärliche  urkundliche  Material 
Aufnahme  gefunden  hat. 

Man  muss  aber  gestehen,  dass  diese  beiden 
Umstände  eine  gewisse  Besorgniss  über  den 
Plan  der  ganzen  Publication  erwecken  konnten. 
Der  Herausgeber  hat  sich  nicht  klar  darüber 
ausgesprochen,  wie  er  weiter  in  Betreff  der 
fremden  Quellen  und  des  urkundlichen  Materials 
zu  verfahren  gedenkt.  Consequent  musste  man 
erwarten,  dass  der  für  die  polnische  Geschichte 
fast  ebenso  wie  Nestor  wichtige  Cosmas,  die 
reichhaltigen  russischen  und  preussischen  Chro- 
niken und  andere  auswärtige  Quellen,  in  zweck- 
mässigen Auszügen  in  folgenden  Bänden  Auf- 
nahme finden  werden.  So  erwünscht  auch  die 
consequente  Durchführung  eines  solchen  Planes 
war,  erweckte  derselbe  andererseits  die  berech- 
tigte Besorgniss,  dass  er  eine  kritische  Edition 
einheimischer  polnischer  Quellen  bedeutend 
verzögern  wird.  In  dem  jetzt  vorliegenden  zwei- 
ten Bande  hoffte  man  Aufschluss  darüber  zu 
finden. 

Derselbe  enthält  die  wichtigsten  Denkmale 
der  einheimischen  polnischen  Historiographie  vor 
Dlugosz;  fremde  Quellen  werden  hier  nur  durch 
wenige  Auszüge  aus  den  Zwifaltener  Kloster- 
chroniken (Ortliebs  und  Bertholds)  und  aus  den 
Lebensbeschreibungen  des  Bischofs  Otto  von 
Bamberg  (von  Ebbo,  Herbord  und  dem  Mona- 
chus  Prieflingen8is)  vertreten.  Der  Heraus- 
geber hat  sich  also  durch  den  praktischen 
Gesichtspunct  leiten  lassen,  indem  er  auf  den 

3* 


86  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  2. 

ursprünglichen  Plan  verzichtete  und  vorläufig 
dem  Mangel  an  einer  kritischen  Edition  ein- 
heimischer Quellen  abzuhelfen  suchte.  Um  so 
mehr  muss  es  befremden,  dass  dennoch  eine 
Anzahl  von  Urkunden  in  diesem  Bande  abge- 
druckt wurde.  Gegen  die  Aufnahme  von  13 
Urkundenstücken,  die,  an  verschiedenen  Orten 
dieses  Bandes  zerstreut,  zur  Erläuterung  ein- 
zelner Stellen  der  historiograpbischen  Quellen 
dienen  sollen,  lässt  sich  allerdings  kaum  etwas 
einwenden.  Ausserdem  wurden  aber  noch  17 
(zum  grössten  Theile  in  der  Bibi,  rerum  germ, 
von  Jaffe  herausgegebene)  Urkunden  in  einer 
besonderen  Abtheilung  des  Bandes,  als  »Bullen 
und  Briefe,  auf  Polen  bezüglich«,  abgedruckt. 
Die  Aufnahme  derselben  kann  weder  durch  den 
Plan  der  ganzen  Publication  — da  man  sich 
in  dieser  Hinsicht  wohl  auf  die  ältesten,  auf  das 
XI.  Jahrh.  bezüglichen,  im  I.  Bande  abgedruck- 
ten Urkunden  beschränken  konnte  — noch  durch 
die  praktische  Rücksicht  gerechtfertigt  werden. 
Mit  einem  Worte,  kann  dem  Herausgeber  der 
Vorwurf  einer  gewissen  Inconsequenz  nicht  er- 
spart werden.  Wenn  vor  Allem  auf  den  prak- 
tischen Zweck  der  Publication  abgesehen  wurde, 
was  sich  durch  factische  Umstände  vollständig 
rechtfertigen  lässt,  so  hätte  auf  die  Aufnahme 
jener  Auszüge  aus  fremden  Quellen  und  na- 
mentlich jener  17  Urkunden,  verzichtet  werden 
sollen.  Dagegen  wäre  sehr  erwünscht  gewesen, 
dass  dafür  der  Rest  von  polnischen  Annalen, 
deren  Ausgabe  sich  Herr  B.  für  den  folgenden 
Band  Vorbehalten  hat*),  schon  in  diesem  Bande 

*)  Der  Herausgeber  wurde  (Vorrede  p.  XXIII)  dazu 
eben  durch  den  Umstand  bewogen,  dass  sonst  der 
zweite  Band  einen  zu  grossen  Umfang  erreichen  würde. 


Bielowski,  Mormmenta  Poloniae  historica.  37 

veröffentlicht  worden  wäre.  Forscher,  denen  es 
die  Umstände  nicht  erlauben,  zum  zerstreuten 
handschriftlichen  Material  zu  gelangen,  müssen 
jetzt  geduldig  auf  das  Erscheinen  des  nächsten 
Bandes  der  Mon.  Pol.  h.  warten;  namentlich 
wird  die  Brauchbarkeit  der  kritischen  Ausgabe 
der  Chronik  Boguphals  und  Godyslaws  dadurch 
wesentlich  verringert,  dass  die  mit  derselben 
im  engsten  Zusammenhänge  stehenden  gross- 
polnischen Annalen  in  diesen  Band  keine  Auf- 
nahme gefunden  haben. 

Die  Reihe  der  einheimischen  Quellen  wird 
durch  die  Chronik  Mierzwa’s  eröffnet.  Die  Ein- 
leitung zu  derselben  bildet  unzweifelhaft  die 
schwächste  Seite  des  ganzen  Bandes.  Der 
Herausgeber  hält  hartnäckig  an  seiner  früheren, 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  eigenthümli- 
chen  - — denn  in  der  That  von  Niemandem 
sonst  getheilten  — Ansicht  fest,  dass  der  An- 
fang dieser  Chronik  (bis  zum  23.  Cap.)  das  äl- 
teste Denkmal  der  polnischen  Historiographie 
und  eine  Quelle  des  Vincentius  sei,  wäh- 
rend er  doch  offenbar,  so  wie  die  ganze  Chro- 
nik nur  ein  durch  schlechte  Zusätze  bereicher- 
ter Auszug  aus  Vincentius  ist.  Treffend  wurde 
einmal  diese  Ansicht  als  Vivisection  des  Vincen- 
tius bezeichnet*).  Glücklicherweise  wird  da- 
durch die  Ausgabe  des  Textes  — so  viel  zu  er- 
sehen ist  — gar  nicht  berührt;  nur  unnöthig 
wurde  der  Anfang  der  Chronik  von  dem  weite- 

*)  Ich  verweise  hier  auf  die  oben  angeführte  Recen- 
sion von  B.  Zeissberg,  da  es  wirklich  nicht  der  Mühe 
werth  ist,  diese  Frage  weiter  zu  erörtern.  Was  den 
Namen  des  Chronisten  — Mierzwa  oder  Dzierswa  — be- 
trifft, so  scheint  Hr.  B.  Recht  zu  haben,  wenn  er  die 
erste  Form  vorzieht  Vgl.  Smolka,  Polnische  Annalen 
(Lemberg,  1873)  p.  24. 


38  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StBck  2. 

ren  Theil  e,  der  mit  Vincentins  zusammengestellt 
ist,  abge trennt.  Auch  drängt  sich  die  Berner* 
kung  auf,  dass  der  letzte  annalistische  Theil 
der  Compilation  Mierzwa’s  schon  des  Zusammen- 
hangs wegen  in  den  zweiten  Band  hätte  auf- 
genommen werden  sollen. 

Einen  grossen  Theil  des  Bandes  (p.  194 — 
453)  nimmt  die  Chronik  des  Magister  Vineen- 
tius  ein.  Trotz  einer  Anzahl  von  Ausgaben  der- 
selben, deren  zwei  sogar  im  letzten  Decennium 
erschienen,  hat  es  bisher  an  einer  wissenschaft- 
lichen, kritischen  Edition  gefehlt;  als  eine  solche 
kann  man  die  vorliegende,  von  Hrn.  B.  selbst 
besorgte,  Ausgabe  betrachten.  Dem  Heraus- 
geber standen  10  Handschriften  zu  Gebote;  die 
Reconstruction  des  Textes  stützt  sich  aber  we- 
sentlich auf  die  zwei  ältesten  und  wichtigsten 
derselben,  die  sog.  Petersburger  Kuropatnicki- 
sche  Handschrift  (I)  und  die  vom  Grafen 
Przezdziecki  entdeckte  und  herausgegebene  Wie- 
ner Hs.  (II).  Das  gründliche  Buch  von  Zeiss- 
berg  über  Vincentius  ist  dem  Herausgeber  lei- 
der zu  spät  zugekommen,  nachdem  der  Druck 
der  Chronik  bereits  beendigt  war  (p.  248) ; 
doch  hat  er  die  Resultate  der  Untersuchungen 
desselben  über  die  Quellen  der  Erudition  des 
Chronisten  in  Randbemerkungen  zu  verwerthen 
gewusst.  Um  so  selbständiger  erscheint  die 
werthvolle,  55  Seiten  umfassende,  kritische  Ein- 
leitung des  Herausgebers,  die,  von  Zeissbergs 
Resultaten  nicht  selten  abweichend,  dieselben  in 
mancher  Hinsicht  ergänzt. 

Manche  Ansichten  über  diese  Chronik,  die 
der  Herausgeber  vor  mehr  als  zwanzig  Jahren 
in  seiner  »kritischen  Einleitung  zur  Geschichte 
Polens  niedergelegt  hat,  erscheinen  jetzt  wesent- 
lich modificirt.  Früher  hat  er  ganz  entschie- 


Bielowski,  Monumenta  Poloniae  historica.  39 

den  die  Ansicht , dass  der  Krakauer  Bischof 
Matthäus  (1143 — 1165)  der  Verfasser  der  drei 
ersten  Bücner  der  Chronik  sei,  verfochten;  jetzt 
lässt  er  dieselbe  fallen,  indem  er  nur  behaup- 
tet, es  sei  möglich  anzunebmen,  dass  es  einen 
Chronisten  Matthäus  gegeben  habe,  dessen  Werk 
Vincentius  vorlag.  »Wenn  wir  aber  auch  mit 
Sicherheit  behaupten  könnten«,  sagt  er  p.  229, 
»dass  Matthäus  eine  Chronik  geschrieben  habe, 
wäre  sie  jetzt  als  verloren  zu  betrachten  und 
es  wäre  ein  Irrthum  anzunehmen,  dass  sie  in 
dem  Werke  des  Vincentius  erhalten  sei«.  Eine 
solche  Erklärung  steht  doch  einer  vollständigen 
Waffenstreckung,  die  allerdings  noch  viel  mehr 
am  Platze  wäre,  ziemlich  nahe,  was  um  so  mehr 
zu  betonen  ist,  als  Zeissberg  in  der  oben  ange- 
führten Recension  irrthümlich  behauptet,  dass 
Bielowski  noch  immer  die  Ansicht  aufrecht  er- 
hält, Matthäus  sei  der  Verfasser  der  ersten  drei 
Bücher  der  Chronik. 

In  der  allgemeinen  Beurtheilung  des  Werths 
der  Chronik  erscheint  B.  auch  viel  gerechter 
als  früher;  er  verkennt  nicht  die  mannigfachen 
Schattenseiten  derselben.  Ueberhaupt  verdient 
die  Characteristik  des  Chronisten,  die  B.  giebt, 
Beachtung,  indem  sie  auf  manche  wichtige  Um- 
stände aufmerksam  macht,  die  Zeissberg  ent- 
gangen sind.  Treffend  beurtheilt  B.  den  Unter- 
schied zwischen  der  Auffassung  des  Gallus  und 
des  Vincentius.  »In  einem  und  demselben 
Jahrhundert  haben  Gallus  und  Vincentius  ge- 
lebt, der  eine  am  Anfänge,  der  andere  am 
Schlüsse  desselben.  Beide  schrieben  selbster- 
lebte Geschichte,  der  eine  die  des  Vaters  .(Bo- 
leslaw  III),  der  andere  die  der  Söhne.  Mannig- 
faltige Umwälzungen,  die  sich  dazwischen  voll- 
zogen, riefen  eine  wesentliche  Veränderung  in 


40  Gott»  gel.  Anz.  1874.  Stück  2. 

« 

den  Auffassungen  des  Volkes  hervor.  Vincen- 
tius  ist  der  Repräsentant  derselben,  indem  er 
den  Grundsätzen  derjenigen,  die  in  jenen  Um- 
wälzungen Oberhand  gewonnnen,  huldigt:  da- 
her rührt  der  Unterschied  zwischen  ihm  und 
seinem  Vorgänger  ....  Die  Verehrung  der 
Fürsten  laus  principum  ist  das  Losungswort 
des  Gallus;  bei  Vincentius  ist  zu  derselben  Höhe, 
ja  sogar  über  dieselbe  die  Verehrung  der 
Grossen  des  Reichs  erhoben.  Im  Prolog,  wo  er 
die  Wichtigkeit  seiner  Aufgabe  darlegt,  ruft  er: 
sacri  senatus  assistere  tenemur  suggestui,  seine 
Chronik  beginnt  mit  dem  Lobe  der  Senatoren, 
der  patres  concripti , indem  er  sie  mit  Himmels- 
lichtern, die  das  Reich  (rempublicam)  mit  herz- 
lichsten Thaten  bestrahlen,  mit  goldenen  Säu- 
len, auf  denen  das  Gebäude  des  Vaterlandes 
ruht,  vergleicht.  Die  Beachtung  dieses  Stand- 
puncts  des  Vincentius  erleichtert  die  Beurthei- 
lung  des  Ganzen  und  zeigt  zugleich  die  Schat- 
tenseiten seines  Werkes.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  dass  die  älteren  Söhne  Boleslaws  HI. 
sich  gewisser  Missbrauche  schuldig  gemacht  har 
ben;  gewiss  ist  aber  auch,  dass  bei  den,.Ei> 
hebungen  gegen  dieselben  nicht  minder  wichtig? 
Factoren  im  Spiel  waren,  die  in  persönliche!? 
Eigensinn  und  Ehrgeiz  der  Grossen  des  Rei- 
ches lagen  ....  Auf  diese  Factoren  pflegt  Vinr 
centius  keine  Rücksicht  zu  nehmen;  beredt, 
wenn  es  sich  um  Missbräuche  der  Fürsten  und 
um  das  Lob  der  Magnaten  handelt,  wird  ep 
auffallend  schweigsam,  wo  man  erfahren  möchte, 
was  für  Rücksichten  auf  Jacob  oder  Gedeon 
eingewirkt  haben,  bis  es  zur  Bildung  jener 
Petarde  kam,  die  den  Thron  Wladislaws  II. 
oder  Mieszkos  III.  umgestürzt  hat  . . . Bei  Gal* 
lus  wird  die  Herrlichkeit,  die  den  Thron  der 


Btelowski,  Monumenta  Poloniae  historica.  41 

Monarchen  umgab,  denselben  zu  Ehren  gerech- 
net; von  Vincentius  wird  sie  streng  getadelt, 
mit  Verachtung  erzählt  er  ja  vom  Ehrgeiz  und 
der  Prunkliebe  Wladislaws  II.;  eine  Ohrfeige, 
die  Kasimir  II.  einmal  geduldig  ertragen  haben 
soll,  gilt  in  einer  bei  Vine,  angeführten  Rede 
eines  Grossen  als  die  beste  Empfehlung  zum 
Throne«. 

Der  wichtigste  Punct,  in  dem  die  Ansichten 
von  Bielowski  und  Zeissberg  divergiren,  ist  die 
Frage  nach  der  Abfassungszeit  der  Chronik. 
Zeissberg  erblickt  in  einer  Stelle  derselben  eine 
bildliche  Andeutung  darauf,  dass  sie  im  stillen 
Cisterzienserkloster,  in  dem  der  Chronist  die 
letzten  Jahre  seines  Lebens  zugebracht  hat,  ent- 
standen ist;  interessant  ist  es,  dass  Gutschmidt, 
auf  ebenso  metaphorische  Interpretation  einer  an- 
deren Stelle  gestützt,  die  Abfassung  der  Chronik 
in  die  Zeit  versetzt,  da  Vincentius  Bischof  von 
Krakau  war,.  Wenn  man  aber  den  panegiri- 
schen  Ton,  in  dem  Vine,  über  Kasimir  den  Ge- 
rechten (f  1194)  spricht,  so  wie  die  mehrmalige 
directe  Anrede  an  diesen  Fürsten  bedenkt, 
wird  man  die  Ansicht  Bielowski’s  vorziehen, 
dass  er  den  Auftrag  zur  Abfassung  seiner  Chro- 
nik von  Kasimir  erhielt,  nicht  erst  von  dessen 
Sohne  Leszko,  von  dem  nur  in  den  letzten  Ca- 
piteln  des  Werkes  und  bei  weitem  nicht  in  so 
auszeichnender  Weise  die  Rede  ist.  Es  wäre 
übrigens  sonderbar,  wenn  Vincentius,  nachdem 
er  auf  seinen  Bischofssitz  verzichtet  und  sich  in 
die  Stille  des  contemplativen  Lebens  zurückge- 
zogen batte,  mit  höfischer  Dienstfertigkeit  auf 
Leszko’s  Wunsch  seine  Chronik  zu  schreiben 
angefangen . hätte ; leichter  ist  dies  von  einem 
Manne  zu  vermuthen,  vor  dem  noch  eine  ehren- 
volle Laufbahn  offen  stand  und  der  durch  seine 


1 


42  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  2. 

Gelehrsamkeit  die  Aufmerksamkeit  des  die  Wis- 
senschaft liebenden  Kasimirs  leicht  anf  sich 
lenken  konnte. 

Mehr  aber  als  diese  subjectiven  Gründe 
spricht  dafür  ein  wichtiger  Umstand,  anf  den 
Bielowski  zuerst  aufmerksam  geworden  ist.  Bis 
zum  17.  Gap.  des  IV.  Buches  weichen  die  Hss. 

I und  II  mitunter  beträchtlich  von  einander  ab. 
In  II  scheint  der  Text  vollkommener  ausgear- 
beitet zu  sein;  in  I fehlen  die  in  II  vorhande- 
nen Aufschriften  einzelner  Bücher,  auch  ist 
darin  am  Anfänge  des  I.  Buches  eine  Auslas- 
sung wahrzunehmen,  aus  der  sich  schliessen 
lässt,  dass  an  das  Manuscript,  von  dem  wir  in  I 
eine  Abschrift  besitzen,  noch  nicht  die  letzte 
Hand  gelegt  wurde*).  In, den  letzten  Capiteln 
des  IV.  Buches  dagegen,  vom  Cap.  17  ange- 
fangen, weichen  die  Hss.  I und  II  viel  weniger 
von  einander  ab;  in  der  Hs.  I sollen  diese  Ca- 
pital von  einer  anderen  Hand,  als  der  übrige 
Theil  der  Chronik,  geschrieben  sein.  Merkwür- 
dig ist,  dass  diese  beiden  Handschriften  I und 

II  in  dem  letzten  Theile  der  Chronik  eine 
Eigentümlichkeit  theilen,  die  bei  den  sonstigen 
Abweichungen  derselben  höchst  characteristisch 
ist;  nach  den  Worten  consilium  et  auxilium 
im  25  Cap.  des  IV.  Buches  folgt  in  ihnen  ein 
Absatz  von  60  Zeilen  aus  dem  folgenden  Capi- 
tel  und  erst  nach  demselben  wird  in  der  Fort- 
setzung des  Cap.  25  zurückgekehrt.  Höchst 
wahrscheinlich  ist  also  die  Vermutung  Bie- 

*)  In  II  lautet  der  Anfang  des  I.  Baches:  Fuit, 
fuit  quondam  in  hac  republica  virtus,  — in  I finden  wir 
das  unverständliche : Quondam  in  hac  republica  virtus. 
Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  ersten  beiden  Worte 
in  der  Vorlage  der  Hs.  I nachträglich  miniirt  werden 
sollten  und  deshalb  vorläufig  ausgelassen  wurden. 


Bielowski,  Monumenta  Poloniae  historic*.  43 

lowski’s,  dass  die  Hs.  I ursprünglich  nur  die 
erste  Redaction  der  Chronik,  die  bis  zum  17. 
Cap.  des  IV.  Buches  reichte,  enthielt;  erst  spä- 
ter wurden  die  folgenden  9 Capitel  von  einer 
anderen  Hand  und  zwar  aus  einer  dem  ms.  II 
nahe  verwandten  Handschrift  zugesetzt.  Diese 
Annahme  wird  noch  durch  die  Interpolation  be- 
stätigt, die  sich  in  allen  Hss.  mitten  im  17. 
Cap.  findet:  »Vidit  enim  Vincentius,  qui  scripsit 
hoc  et  8cimus,  quia  verum  est  testimonium 
ejus«.  Hier  endigte  also  ursprünglich  die  erste 
Redaction  der  Chronik  und  zwar  mit  der  Er- 
zählung von  der  Versöhnung  zwischen  Kasimir 
und  Mieszko.  Nach  dieser  Interpolation  folgen 
im  Cap.  17  noch  einige  Phrasen  über  die  Ver- 
dienste des  Vermittlers  dieser  Versöhnung,  des 
Erzbischofs  Peter,  woran  sich  ein  Lobgedicht 
auf  ihn  anschliesst;  im  folgenden  Capitel  wird 
die  Erzählung  über  die  Regierung  Kasimirs 
fortgeführt.  Die  letzte  directe  Anrede  des  Chro- 
nisten an  Kasimir  ist  im  16.  Cap.  des  IV.  Bu- 
ches zu  finden,  im  20  Cap.  wird  sein  Tod  be- 
schrieben. Die  Ansicht  Bielowski’s,  dass  die 
erste  Redaction  noch  znr  Zeit  Kasimirs  ent- 
stand, wird  durch  diese  Umstände  nahezu  zur 
Gewissheit  erhoben. 

Höchst  willkommen  ist  die  neue  Ausgabe  der 
zwei  wichtigen  Erzeugnisse  der  grosspolnischen 
Historiographie  aus  dem  XIII.  und  XIV.  Jahrh., 
der  Chroniken  Boguphal-Godyslaws  und  Johanns 
von  Czarnkow.  Bei  der  Ausgabe  der  ersten 
Chronik,  um  die  sich  der  Warschauer  Rechts- 
gelehrte W.  A.  Maciejowski  verdient  gemacht 
hat,  wurde  allerdings,  wie  erwähnt,  nicht  alles 
getban,  was  gethan  werden  konnte  und  sollte, 
da  man  sich  nicht  bemüht  hatte,  das  eigen- 
thümliche  Verhältniss  zwischen  der  Chronik  und 


44 


G5tt.  gel.  Am.  1874.  Stack  2. 


den  grosspolnischen  Annalen  zn  erklären.  So 
lange  dies  nicht  geschehen  ist,  so  lange  jene 
Annalen  zur  Herstellung  des  Textes  der  Chro- 
nik nicht  verwerthet  wurden,  kann  keine  Aus- 
gabe der  letzteren  den  Anspruch  darauf  erho- 
ben, die  wesentlichsten  Anforderungen  der  hi- 
storischen Kritik  erfüllt  zu  haben.  Damit  soll 
aber  der  vorliegenden  auf  genauer  Vergleichung 
von  vier  Hss.  beruhenden  Ausgabe  nicht  ein 
grosses  Verdienst  abgesprochen  werden;  wenn 
man  sie  aus  angegebenen  Gründen  nicht  als 
vollkommen  befriedigend  bezeichnen  kann,  so 
ermöglicht  sie  doch  die  wissenschaftliche  Be- 
nutzung dieser  wichtigen  Chronik,  die  bisher  — 
so  wie  die  Chronik  Johanns  von  Czarnkow  — 
nur  in  dem  höchst  fehlerhaften  Abdrucke  Som- 
mersbergs (SS.  rer.  Siles.  II.  1730)  vorlag. 

Musterhaft  kann  die  von  dem  dazwischen 
leider  zu  früh  verstorbenen  Krakauer  Gelehrten 
Szlachtowski  besorgte  Ausgabe  Johanns  von 
Czarnkow  genannt  werden.  Der  Herausgeber 
hat  mit  mannigfaltigen  Schwierigkeiten  zu  käm- 
pfen gehabt.  Diese  Chronik  ist  uns  nämlich  in 
neun  unter  einander  verwandten  Handschriften 
erhalten,  die  sämmtlich  ausserdem  auch  die 
Chronik  Boguphal-Godyslaws  und  das  eigen- 
thümliche  bisher  noch  nicht  untersuchte  Ge- 
misch von  grosspolnischen  Annalen  umfassen. 
Die  einzelnen  Capitel  der  Chronik  sind  in  ein- 
zelnen Hss.  verschiedenartig  verschoben,  einige 
derselben  waren  sogar  erst  aus  jenem  losen  an- 
nalistischen  Gefüge  auszusondern.  Die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  ist  im  Ganzen  sehr 
fehlerhaft,  es  kommen  mitunter  Auslassungen 
und  Entstellungen  vor,  zu  denen  der  Parteistand- 
punct  des  Chronisten  den  Anlass  gegeben  hat. 
Auch  war  man  bisher  noch  uneinig  darüber, 


Bielowski,  Moxmmenta  Poloniae  historica.  45 

wo  eigentlich  die  Arbeit  J's  v.  Cz.  beginnt. 
Die  dem  Chronisten  eigentümliche,  memoiren- 
artige Erzählung  beginnt  erst  im  (4)  Capitel: 
de  morte  regis  Kazimiri  Poloniae;  der  Heraus- 
geber betrachtet  mit  Recht  die  in  allen  Hand- 
schriften in  verwickeltster  Weise  verschobenen 
und  in  zwiefacher  Redaction*)  vorliegenden  Ca- 
pitel: »de  morte  Wladislai  Lokyetk  regis  Po- 
loniae«, »de  coronatione  Kasimiri  regis  Pol.« 
und  »Quomodo  (Kasimir)  regebat  regnum  et 
populum«  als  eine  Art  Einleitung,  die  der  Chro- 
nist der  Abrundung  des  Werkes  wegen  seinen 
Memoiren  vorgesetzt  hat.  Es  scheint  aber, 
dass  die  kurze  annalistische  Compilation,  die  in 
Sommersberg  II.  94—96  unmittelbar  vor  dem 
Capitel  »de  morte  Wladislai«  steht,  auch  für 
Johann  von  Czarukow  zu  vindiciren  ist.  Den 
Anfang  derselben  bildet  ein  Auszug  aus  den 
Krakauer  Capitelannalen ; der  fremdländische 
aus  deutschen  Quellen  herrührende  Stamm  der- 
selben**) wird  fast  vollständig  in  die  Compila- 
tion aufgenommen,  die  eigentlichen  Krakauer 
Aufzeichnungen  dagegen  nur  sehr  flüchtig  ex- 
cerpiert.  Mit  dem  Jahre  1279  beginnt  der 
selbständige  Theil  dieser  Compilation,  ein  kur- 
zer Ueberblick  über  die  wichtigsten  Ereignisse 
der  polnischen  Geschichte  seit  dem  Tode  Bo- 
leslaws  des  Keuschen  von  Krakau,  in  dem  die 
Eigentümlichkeiten  des  Styls  Johanns  v.  Cz. 

*)  Der  Herausgeber  betrachtet  die  kürzere  Fassung 
jener  Capitel  als  ursprüngliche  Entwürfe  des  Chronisten, 
die  später  ausgearbeitet  und  dem  Werke  beigefügt  wur- 
den; man  muss  es  bedauern,  dass  er  sie  in  seiner  Aus- 
gabe nicht  mitgetheilt  hat. 

**)  Vgl.  Waitz,  Verlorene  Mainzer  Annalen  in  Nach- 
richten von  der  kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  u* 
d.  G.-A.-Univ.  zu  Göttingen.  1873.  No.  15. 


46 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stüde  2. 

nicht  zu  verkennen  sind.  Er  schliesst  mit  dem 
Berichte  über  den  Krieg  Wladislaw  Lokieteks 
mit  dem  Deutschen  Orden  im  Jahre  1331;  das 
Capitel  »de  morte  Wladislai«  (f  1333)  erscheint 
somit  als  Fortsetzung  dieser  Aufzeichnungen. 
Der  Umstand,  dass  der  Herausgeber  dies  über- 
sehen hat,  ist  um  so  mehr  zu  bedauern,  da  der 
Lubiner  Codex  (VII),  der  sonst  der  Sommers- 
berg’schen  Ausgabe  ziemlich  nahe  steht,  in  Be- 
treff dieser  Compilation  — wie  wir  p.  610  er- 
fahren — von  derselben  beträchtlich  abwei- 
chen soll. 

Einen  höchst  willkommenen  Beitrag  zur  Kri- 
tik polnischer  Geschichtsquellen  des  Mittelalters 
erhalten  wir  in  der  sorgfältigen  und  genauen 
Beschreibung  der  neun  die  Chronik  Johanns 
enthaltenden  Codices,  namentlich  des  Römischen 
Cod.  Ottobonianus  und  des  Pariser  Cod.  San- 
divogii.  Mit  Hülfe  derselben  kann  man  sich 
eioigermassen  über  die  handschriftliche  Ueber- 
lieferung  von  grosspolnischen  Annalen  orientiren. 
Der  Herausgeber  theilt  diese  Codices  in  zwei 
Gruppen  ein,  deren  eine  die  Codd.  I — IV,  die 
andere  V — IX  umfasst.  Diese  Eintheilung  ist 
insofern  richtig,  als  sie  sich  auf  die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  der  Chronik  Johanna 
v.  Cz.  bezieht.  In  Betreff  der  Anordnung  der 
grosspolnischen  Annalen  ist  das  Verhältniss  et- 
was anders.  Die  Codd.  II  und  III  bilden  in 
dieser  Hinsicht  eine,  die  Codd.  V — VHI  eine 
andere  Gruppe,  die  mit  dem  Cod.  I nahe  ver- 
wandt ist;  die  Codd.  IV  und  IX  kommen  in 
Betreff  jener  Annalen  fast  gar  nicht  in  Betracht. 

Das  im  II.  Bande  der  Mon.  Pol.  h.  heraus- 
gegebene annalistische  Material  besteht  wesent- 
lich in  den  im  XIX.  Bande  der  Mon.  Germ.  h. 
edirten  polnischen  Annalen;  nur  zwei  neue 


Bielowski,  Monumenta  Poloniae  historica.  47 

Denkmale  ohne  grosse  Bedeutung  sind  hinzuge- 
kommen:  die  Annales  Sandivogii  und  ein  Frag- 
ment von  Czerwinsk’er  annalistischen  Notizen. 
Der  Fortschritt  der  früheren  Edition  gegenüber, 
besteht,  von  hie  und  da  zerstreuten  Einzelhei- 
ten abgesehen,  hauptsächlich  in  der  sorgfältigen 
Ausgabe  der  überaus  wichtigen  Krakauer  Ga- 
pitelannalen.  Die  genaue  Beschreibung  der 
Handschrift  liefert  einen  erwünschten  Beitrag 
zur  Würdigung  des  Quellenwerthes  derselben; 
dem  interessanten,  von  den  früheren  Editionen 
ungemein  stiefmütterlich  behandelten  Prolog, 
welcher  — wie  es  sich  jetzt  herausgestellt  hat 
— von  dem  im  J.  1269  zum  Krakauer  Dom- 
herr erhobenen  Wisson  stammt,  hat  Bielowski 
die  ihm  gebührende  Sorgfalt  zugewandt.  Auch 
der  am  Anfänge  der  Capitelannalen  befindliche 
kurze  Auszug  aus  dem  lib.  V cap.  39  der  Isi- 
dorischen  Libri  etymologiarum,  den  die  frühe- 
ren Editoren  ausgelassen  haben,  hat  B.  mitge- 
theilt.  Mit  Recht  hat  er  mit  den  Capitelanna- 
len anstatt  der  Ann.  cracov.  compilati,  die  in 
den  Mon.  Germ,  neben  denselben  abgedruckt 
sind,  die  mit  ihnen  am  nächsten  verwandten 
Ann.  crac.  breves  zusammengestellt.  Mit  der 
Veröffentlichung  der  kurzen  am  Anfänge  der 
letzten  Annalen  befindlichen  Zeitberechnung 
»secundum  beatum  Jeronimum«  wird  man  wohl 
einverstanden  sein,  zumal  dieselbe  eine  Andeu- 
tung darauf  enthält,  dass  die  Ann.  crac.  breves 
in  die  späteren  Ann.  S.  Grucis  aufgenommen 
worden  sind.  Gegen  die  Zusammenstellung  je- 
nes oben  erwähnten  am  Anfänge  der  Chronik 
Johanns  von  Czarukow  aufbewahrten  Auszuges 
aus  den  alten  Capitelannalen  mit  den  späteren 
Ann.  capit.  crac.  wird  man  auch  kaum  etwas 
einzuwenden  haben,  da  dieselbe  zur  Kritik  der 


48  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  2. 

letzteren  beitragen  kann;  ganz  entschieden  muss 
man  sich  aber  gegen  die  jenem  Ansznge  von 
Bielowski  gegebene  Bezeichnung  »grosspolnische 
Annalen«  und  seine  damit  zusammenhängenden 
weiteren  Schlüsse  wenden.  Ich  verweise  hier 
auf  meine  oben  angeführte  Abhandlung  über  die 
polnischen  Annalen  p.  66,  wo  ich  diese  Frag* 
ausführlicher  behandelt  habe. 

Ein  wirklicher  Rückschritt  der  früheren  Aus- 
gabe gegenüber  ist  leider  in  Betreff  der  Ann. 
Polonorum  wahrzunehmen.  Wenn  man  einer- 
seits die  Zusammenstellung  der  Ann.  Polonorum 
mit  den  ihnen  sehr  nahe  verwandten  Ann. 
cracov.  compil.  zweifellos  billigen  muss,  so  wird 
andererseits  durch  die  einseitige  ausschliessliche 
Berücksichtigung  der  I.  Redaction  der  ersteren 
die  ganze  Ausgabe  vollständig  unbrauchbar  ge- 
macht. Nur  durch  Vergleichung  aller  vier  Re- 
dactionen dieser  Annalen  bei  einer  jeden  in  Be- 
tracht kommenden  Stelle  ist  es  möglich,  sich 
eine  Vorstellung  von  der  ursprünglichen  Grund- 
lage, deren  Modificationen  sie  sind,  zu  machen. 
— Die  am  Anfänge  der  Redactionen  II— IV  be- 
findlichen Notizen  über  meist  auswärtige  Er- 
eignisse der  Jahre  899 — 964  wurden  von  Bie- 
lowski abgesondert  als  älteste  »kleinpolnische 
Annalen«  edirt.  Unterdessen  ist  bereits  in  der 
vor  kurzem  erschienenen  »Polo.  Geschichts- 
schreibung« von  Zeissberg  gezeigt  worden,  dass 
sie  aus  der  Weltchronik  des  Martinus  Oppav. 
stammen.  Sehr  willkommen  ist  auch  die  neue 
Ausgabe  des  wichtigen  Krakauer  Kalendars  (und 
Nekrologs),  in  den  Eintragungen  aus  verschiede- 
nen Jahrhunderten  (dem  XIII.,  XIV.  und  XV.) 
durch  verschiedenen  Druck  hervorgehoben  sind. 

Dr.  Stanislaw  Smolka. 


Papers  relating  to  the  Treaty  of  Washington.  49 

Papers  relating  to  the  Treaty  of  Washing- 
ton. Geneva  Arbitration.  Washington: 
Government  Printing  Office.  1872.  8°.  Vols 
I — IV  (856  S.  XVII  und  604  S.  XVI  und  653  S. 
XI  und  573  S.) 

Notes  upon  the  Treaties  of  the  United 
States  with  other  Powers;  with  references 
to  negociations  preceding  them;  to  their  exe- 
cutive, legislative  or  judicial  construction;  and 
to  the  causes  of  the  abrogation  of  some  of 
them.  Preceded  by  a list  of  the  treaties  and 
conventions  with  foreign  powers,  chronologically 
arranged,  and  followed  by  an  analytical  index 
and  a synoptical  index  of  the  treaties.  Washington. 
Government  Printing  Office.  1873.  Gross  8°. 
(245  S.) 

Es  soll  hier  auf  zwei  auf  Veranlassung  der 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika herausgegebene  Werke  hingewiesen  wer- 
den, die  nicht  nur  für  das  öffentliche  Recht  der 
grossen  transatlantischen  Republik,  sondern  für 
die  Literatur  des  allgemeinen  Völkerrechts  über- 
haupt hervorragende  Bedeutung  haben.  Ein 
Verfasser  ist  weder  auf  dem  Titelblatt  noch 
hinter  der  Vorrede  genannt,  aber  zu  ihrer 
Herausgabe  war  ein  in  diesen  Stücken  beson- 
ders befähigter  Staatsmann  autorisirt  worden, 
über  den  zunächst  das  Erforderliche  bemerkt 
werden  mag.  J.  C.  Bancroft  Davis  ist  der 
Neffe  des  durch  sein  treffliches  Geschichtswerk 
gleich  sehr  wie  als  Mensch  und  Gelehrter  auch 
unter  uns  Deutschen  allgemein  verehrten  Ge- 
sandten der  Vereinigten  Staaten  in  Berlin.  Auch 
der  Name  seines  Vaters  John  Davis  hatte  in 
der  Heimath  einen  guten  Klang;  Mitglied  des 

4 


50 


Gott.  gel.  An z.  1874.  Stück  2. 

Senats  der  Union  für  Mass&chussets,  gehörte  er 
der  gegenwärtig  verschwundenen  Partei  der 
Whigs  an,  jener  Gruppe  besonnener  Staats- 
männer aus  dem  Norden,  die  sich  vor  dreissig, 
vierzig  Jahren  um  Daniel  Webster  scharten  um 
sowohl  die  Union  drinnen  gegen  die  drohende 
Spaltung  als  ihr  nach  Aussen  ein  zuträgliches 
Handelssystem  zu  sichern.  Bancroft  Davis  hatte 
die  juristische  Laufbahn  ergriffen  und  unter- 
brach dieselbe  nur,  als  er  1850  auf  einige  Jahre 
als  Legationssecretär  der  Gesandtschaft  in  Lon- 
don beigegeben  wurde,  von  wo  aus  er  sich  viel- 
fach auch  auf  dem  Continent  umsah.  Später- 
hin liess  er  die  eigene  glänzende  Thätigkeit  als 
Anwalt  erst  wieder  fahren,  als  ihn  Präsident 
Grant  zum  Unterstaatssecretär  im  auswärtigen 
Amt  zu  Washington  machte  von  vornherein  in 
der  Absicht,  sich  die  Dienste  des  in  internatio- 
nalen Angelegenheiten  bewanderten  Mannes  za 
sichern,  sobald  es  die  mit  der  grossbritanni- 
schen Regierung  seit  dem  vierjährigen  Bürger- 
kriege zwischen  Union  und  Confederation  (1861 
— 1865)  schwebenden  Streitigkeiten  zu -entschei- 
den galt.  Davis  ist,  was  nicht  sofort  allgemein 
bekannt  geworden,  der  Verfasser  der  schneidi- 
gen amerikanischen  Anklageschrift,  deren  Publi- 
cation wegen  der  hohen  für  die  sogenannten 
Indirect  Claims  beanspruchten  Summen  vor 
zwei  Jahren  so  grosses  Aufsehn  machte.  Der 
Präsident  ernannte  ihn  alsdann  zum  Agenten 
der  Vereinigten  Staaten  beim  Arbitrations  Con- 
gress in  Genf,  wo  er  im  Jahre  1872  gegen  den 
britischen  Agenten  Lord  Tenterden  zwar  nicht 
jene  indirecten  Ansprüche  im  Werthe  von  Mil- 
liarden, aber  die  Verurtheilung  Grossbritanniens 
für  gewisse  ihm  nachgewiesenen  Fälle  des  Neu- 
tralitätsbruchs, eine  namhafte  Entschädigung 


Papers  relating  to  the  Treaty  of  Washington.  5 1 

von  15,500,000  Dollars  und  vorzüglich  principiell 
die  gütliche  Entscheidung  eines  solchen  Streits 
durch  internationale  Vermittlung  durchfocht. 
Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  Niemand 
befähigter  war  die  Actenstücke  über  so  denk- 
würdige Verhandlungen,  ein  vollständiges,  na- 
mentlich auch  für  die  Weiterbildung  der  Prin- 
cipien  lehrreiches  Urkundenbuch,  herauszugeben 
als  gerade  dieser  Staatsmann. 

Die  vier  mit  der  bekannten  Opulenz  der 
Regierung  von  Washington  ausgestatteten  und 
freigebig  zur  Verfügung  gestellten  Bände  bergen 
ein  reiches  Material  zur  Geschichte  der  nun 
bald  seit  hundert  Jahren  getroffenen  Entschei- 
dungen für  und  wider  die  Krieg  führenden  Par* 
teien  so  gut  wie  die  Neutralen  zumal  nach  der 
seerechtlichen  Seite.  Um  von  der  Fülle  des 
Inhalts  einen  Begriff  zu  geben,  diene  folgende 
Aufzählung. 

Der  erste  Band  beginnt  mit  nochmaligem 
Abdruck  der  von  Davis  verfassten,  so  allgemei- 
nes Aufsehn  erregenden  Anklageschrift:  The 
Case  of  the  United  States  laid  before  the  Tri- 
bunal of  arbitration  convened  at  Geneva,  auf 
Grund  des  zwischen  den  beiden  streitenden 
Mächten  zu  Washington  am  8.  Mai  1871  ge- 
schlossenen Vertrags,  wonach  sie  ihre  Sache 
durch  ein  internationales  Schiedsgericht  austra- 
gen lassen  sollen.  Darauf  folgt:  Case  presented 
on  the  part  of  the  Government  of  Her  Britannic 
Majesty,  ein  sehr  umfangreiches  Machwerk,  dem 
eine  Menge  officieller  Schreiben  und  Gutachten 
eingeflochten  sind.  Daran  schliesst  sich  noch 
umfangreicher:  The  Counter  Case  of  the  United 
States,  nach  kurzer  Einleitung  eine  vollständige 
Sammlung  officieller  Correspondenz  im  ersten 
Theil  zu  den  verschiedenen  internationalen  Ver- 

4* 


52  Gott  gel.  Anz.  1874.  Stack  2. 

Wicklungen  der  Vereinigten  Staaten  von  1811 
bis  1869,  im  zweiten  Theil  der  Schriftwechsel 
wegen  Cuba  von  1866  bis  1871  und  die  diplo- 
matischen Erörterungen,  zu  denen  die  Ereignisse 
des  Bürgerkriegs  mit  anderen  europäischen  Staa- 
ten wie  mit  Brasilien  geführt  haben,  nebst  Aus- 
zügen aus  dem  geschriebenen  Recht  dieser  Staa- 
ten. Die  Masse  dieser,  falls  im  Original  wieder- 
gegebenen meist  auch  mit  Uebersetzung  ver- 
sehenen Documents  reicht  weit  hinein  in  den 
zweiten  Band.  Erst  ü,  198  beginnt:  Counter 
Case  presented  on  the  part  of  the  Government 
of  Her  Britannic  Majesty,  eine  Abhandlung, 
welche  nicht  nur  die  Amerika  zu  machenden 
Gegenvorwürfe  aufführt,  sondern  fast  doctrinäre 
Zuflucht  zu  der  völkerrechtlichen  Literatur  der 
Deutschen  und  der  Franzosen,  der  Italiener  und 
der  Spanier  nimmt.  In  den  Beilagen  finden 
sich  z.  B.  ganze  Abschnitte  aus  Heffter,  Das 
Europäische  Völkerrecht  der  Gegenwart,  3 Aus- 
gabe, im  Original  ausgezogen.  Hierauf  folgen 
die  vom  Staatsdepartement  in  Washington  an 
J.  C.  B.  Davis  als  Agenten  und  an  die  ameri- 
kanischen Anwälte  ertheilten  Instructionen,  die 
Briefe  und  Berichte  zur  Einsetzung  des  aus 
Amerika  und  England,  aus  Sardinien,  Schweiz 
und  Brasilien  bestehenden  Tribunals  zu  Genf 
am  15.  December  1871,  zu  dem  Zusammentritt 
desselben  am  15.  April  1872  und  über  einen 
Zusatzartikel  zum  Vertrage  von  Washington  bis 
herab  in  den  Juni. 

Der  dritte  Band  enthält  die  allgemeinen 
Plaidoyers  von  amerikanischer  und  englischer 
Seite  abermals  mit  den  erforderlichen  Beilagen 
und  dann  die  besonderen  Gutachten  der  An- 
wälte beider  Theile.  Eine  Menge  Tabellen  für 
und  wider  die  Schäden  und  deren  Verhütung 


Papers  relating  to  the  Treaty  of  Washington.  53 

dienen  zur  Erläuterung  der  advocatorischen  In- 
terpretation. Im  vierten  Bande  folgen  auf  den 
Generalbericht  von  Mr.  Davis  an  Mr.  Fish,  den 
Staatssecretär  in  Washington,  Paris  September 
21.  1872,  die  Protocolle  der  einzelnen  Sitzungen 
und  p.  49  ff.  der  bekannte  Spruch  des  Schieds- 
gerichts. Daran  schliessen  sich  die  schriftlich 
abgegebenen  Vota  von  Graf  Sclopis,  Vicomte 
d’Itajuba  und  Herrn  Staempfli,  die  englische 
Uebersetzung  im  Text,  das  französische  Original 
unter  dem  Strich.  Eben  so  geschieht  es  mit 
dem  Votum  des  amerikanischen  Schiedsrichters 
Mr.  Adams,  aber  nicht  mit  der  höchst  ausführ- 
liehen,  mit  einem  grossen  Aufwand  von  Rechts- 
gelehrsamkeit  ausgestatteten  Arbeit  des  Eng- 
länders Sir  Alexander  Cockburn,  die  nur  im 
englischen  Original  abgedruckt  ist.  Sie  strotzt 
von  Citaten,  diplomatischen  und  völkerrecht- 
lichen, doch  erscheinen  die  Auszüge  aus  Heffter 
und  Bluntschli  im  französischen  Gewände.  Die 
letzten  Schriftstücke  sind  ein  Schreiben  von 
Fish  an  Davis  vom  22.  October,  worin  er  noch 
nachträglich  gegen  gewisse  Auffassungen  Cock- 
burn8  Verwahrung  einlegt,  und  der  Schlussbe- 
richt der  amerikanischen  Anwälte  vom  25.  No- 
vember. Am  Ende  des  Bandes  finden  sich  die 
Aeus8erungen  verschiedener  Staatsmänner  und 
der  Presse  Grossbritanniens  und  des  europäi- 
schen Continents  über  die  Ausführung  des  Ver- 
trags von  Washington  übersichtlich  ausgezogen. 
Ein  jeder  Band  ist  zum  Nachschlagen  mit  be- 
quemen Inhaltsverzeichnissen  versehn.  Zu  den 
Raubfahrten  der  Alabama  und  der  anderen  Pi- 
ratenschiffe  finden  sich  mehrere  treffliche  Kar- 
ten, in  Band  I von  amerikanischer  Seite  der 
mexikanische  Golf  mit  scharfer  Angabe  aller 
Inseln  und  Plätze  unter  britischer  Flagge,  in 


54 


Gott.  gel.  An z.  1874.  Stück  2. 

Band  II  von  englischer  Port  Philipp  Bay  bei 
Melbourne  so  wie  in  Band  IV  die  Gewässer 
zwischen  Liverpool  und  der  Insel  Anglesea. 

Von  dem  zweiten  Werke,  welches  ursprüng- 
lich ein  Theil  einer  im  Jahre  1871  für  den  Con- 
gress veranstalteten  Ausgabe  von  Staatsverträ- 
gen bildet,  sind  nur  wenige  Exemplare  abge- 
zogen. Es  bietet  aber  einen  höchst  werthvollen 
Wegweiser  zu  der  ganzen  diplomatischen  Ge- 
schichte der  Union  von  ihrem  ersten  Entstehen 
bis  zur  Gegenwart,  für  den  Historiker  wie  für 
den  Staatsmann  gewissennassen  den  Schlüssel 
zu  sämmtlichen  officiellen  Ausgaben  und  zu  der 
ganzen  Masse  der  im  Gesammtarchiv  registrir- 
ten  Verträge. 

Im  Anschluss  an  eine  vollständige  Liste 
sämmtlicher  mit  auswärtigen  Mächten  geschlos- 
senen Verträge  und  Conventionen,  chronologisch 
angelegt  vom  6.  Februar  1778  (Frankreich)  bis 
zum  7.  Juni  1873  (Grossbritannien)  handelt  der 
Verfasser  in  einer  kurzen  äusserst  präcisen  Ein- 
leitung 1)  über  die  diplomatische  Entwicklung 
der  Unionsregierung  von  dem  Aufstande  gegen 
Grossbritannien  bis  auf  diesen  Tag,  2)  von  der 
Feststellung  gewisser  staatsrechtlicher  Principien 
aus  einer  Anzahl  von  Verträgen  durch  die 
oberstrichterlichen  Autoritäten  der  Union,  3) 
über  die  Resolutionen  des  Congresses  in  Betreff 
des  Vertragsrechts  zumal  in  solchen  Fällen,  wo 
Legislatur  und  Executive  entgegenstehender  Mei- 
nung waren,  4)  über  die  Geschichte  desStaats- 
secretariats  für  auswärtige  Angelegenheiten  aus 
den  Acten  desselben.  Eine  Liste  aller  Staats- 
secretäre  bis  herab  auf  Hamilton  Fish  ist  bei- 
gefügt. 

Hieran  schliessen  sich  alphabetisch  geord- 
nete Bemerkungen  (Notes)  zu  einzelnen  Mate- 


Not  upon  the  Treaties  of  the  United  States  etc.  5 5 

rien  und  Staatsverträgen,  eine  Verbindung,  die 
bei  der  ersten  Benutzung  etwas  Störendes  hat, 
denn  mitten  zwischen  Staaten  und  Ländern,  un- 
ter denen  Barbary  States,  Borneo,  Madagascar 
eben  so  wenig  fehlen  wie  China  und  Japan,  be- 
gegnen Paragraphen  über  Claims,  Commerce, 
Consuls,  Extradition,  Naturalization,  Neutrals, 
Gleich  der  Anfang  wird  gemacht  mit  abrogirten 
oder  sonst  ausser  Kraft  getretenen  Verträgen, 
besonders  mit  Staaten,  welche  seitdem  in  andere 
aufgegangen  sind  wie  die  italienischen  Einver- 
leibungen seit  1860,  die  deutschen  seit  1866. 
Sehr  bedeutendes  Detail  steckt  in  den  Erläute- 
rungen, welche  der  Geschichte  der  diplomati- 
schen Beziehungen  mit  Frankreich  und  mit 
Grossbritannien  gewidmet  sind.  Aber  auch  auf 
andere  Paragraphen  muss  hingewiesen  werden, 
auf  Spanien,  Colombia,  Mexico,  Peru  u.  s.  w. 
wegen  der  Trennung  der  central-  und  südame- 
rikanischen Colonien  vom  Mutterland,  ihrer  An- 
erkennung durch  die  nordaroerikanische  Union 
und  die  gegenwärtigen  Beziehungen  zu  dersel- 
ben, auf  Dänemark  hinsichtlich  der  Aufhebung 
des  Sundzolls,  auf  Preussen,  welches  Friedrich 
der  Grosse  noch  durch  den  bekannten  Vertrag 
von  1785  auf  gutem  Fuss  mit  dem  jungen  Frei- 
staat brachte,  dann  wegen  der  allemeusten  Her- 
gänge, der  in  Washington  mit  Freuden  begrüss- 
ten  seerechtlichen  Declaration  vom  Sommer 
1870  und  Bismarcks  vor  dem  Reichstag  abge- 
gebenen Erklärung  hinsichtlich  der  Wehrpflicht 
in  den  Vereinigten  Staaten  sesshaft  gewordener 
Deutschen,  auf  Russland,  von  dem  es  kurz  heisst  : 
seine  ununterbrochen  guten  Beziehungen  zu  den 
Vereinigten  Staaten  bieten  glücklicher  Weise 
wenig  Stoff  zu  »Bemerkungen«. 

Den  Schloss  bilden  zwei  Verzeichnisse:  ein 


\ Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stflck  2. 

inlytisches  in  Bezog  auf  die  in  den  Verträgen 
»-handelten  Gegenstände,  und  ein  synoptisches 
it  specieller  Angabe  der  Titel  der  Verträge, 
>r  Daten  ihres  Abschlusses,  der  Verhandlung 
l Senat,  der  Ratification  durch  den  Präsiden- 
m,  Auswechslung  der  Ratificationen  und  Ver- 
iindigung  durch  den  Präsidenten.  Beide  Ver- 
öchnisse  sind  alphabetisch  angelegt,  greifen 
ichgemä88  in  einander  und  liefern  jeden  wün- 
:henswerthen  Nachweis  zu  den  gedruckten  und 
ogedruckten  Acten.  Ueber  die  Einzelverträge 
er  früheren  Staaten  des  deutschen  Bundes,  der 
ansestädte  Bremen  und  Hamburg  insbesondere 
aterrichtet  das  letztere  am  Besten. 

R.  Pauli. 


The  successive  visions  of  the  Cherubim  di- 
dnguished,  and  newly  interpreted;  showing  the 
rogressive  revelation  through  them  of  the 
octrine  of  the  Incarnation,  and  of  the  Gospel 
f redemption  and  sanctification.  By  S.  R. 
osanquet,  M.  A.  member  of  the  Society  of 
rts.  London,  Hatchards,  1871.  — VIH  nnd 
54  S.  in  8. 

Dieses  uns  zugesandte  Buch  behandelt  einen 
>wohl  künstlerisch  als  christlich  allerdings 
benso  wichtigen  als  schwierigen  Gegenstand, 
ber  welchen  beute  recht  wohl  und  recht  nütz- 
ch  ein  Buch  von  162  Seiten  veröffentlicht  wer- 
en  könnte.  Allein  so  wie  der  Verf.  ihn  hier 
ehandelt,  wird  er  uns  weder  gewisser  undkla- 
er  noch  fördernder  und  erspriesslicher.  Wir 
ahen  in  Deutschland  jetzt  hinreichend  sicher 


Bosanquet,  The  succes.  visions  of  the  Cherubim.  5T 

erkannt  dass  die  Kerftbe  Saraphe  und  andere 
solche  himmlisch-göttliche  Gestalten  in  der  Ge- 
meinde der  wahren  Religion  wie  sie  seit  Mose 
besteht  sich  als  Ueberbleibsel  jener  ältesten 
noch  äusserst  bilderreichen  und  im  Bilderreich- 
thume  mit  allem  Heidentbume  wetteifernden  Re- 
ligion erhalten  haben  welche  schon  in  den  ent- 
ferntesten Urzeiten  die  der  Vorfahren  des  Vol- 
kes Israel  war;  dass  sie  sich  in  der  Gemeinde 
zunächst  nnr  aus  künstlerischen  und  dichteri- 
schen Antrieben  erhielten,  aber  je  länger  sie 
sich  in  ihr  erhielten,  desto  mehr  von  dem 
höhern  Geiste  durchdrungen  und  wie  wiederge- 
boren wurden  welcher  der  wahren  Religion  eigen- 
tümlich ist ; und  dass  sie  so  schliesslich  in  ihr 
eine  Bedeutung  empfingen  vor  welcher  ihre  ur- 
sprüngliche immer  mehr  wie  erblasste  ohne  doch 
je  sich  vollkommen  verlieren  zu  können.  Diese 
Gestalten  göttlicher  Einbildung  (alle  diese  Worte 
in  ihrem  entsprechend  besten  und  reinsten 
Sinne  verstanden)  versinnlichen  uns  demnach, 
so  wie  sie  zerstreut  in  der  Bibel  erscheinen, 
von  der  einen  Seite  den  Zusammenhang  aller 
wahren  Religion  wie  sie  seit  Mose  unter  Men- 
schen ist  mit  ihren  frühesten  und  insofern  bil- 
derreichsten Anfängen  in  den  Urzeiten,  von  der 
andern  die  Möglichkeit  wie  weit  Bilder  über- 
haupt in  ihr  gelten  dürfen  ohne  gegen  das 
zweite  der  Zehn  Gebote  zu  verstossen:  und 
wer  kann  läugnen  dass  sie  nach  beiden  Seiten 
hin  noch  heute  ihre  gute  Bedeutung  haben  und 
mannichfach  lehrreich  sein  können? 

Allein  ganz  anders  betrachtet  und  behandelt 
sie  unser  Verfasser.  Er  stellt  sie  nicht  in  das 
geschichtliche  Licht,  in  welchem  sie  doch  in  die 
menschliche  Welt  eintraten  und  ohne  welches 
wir  ihr  Wesen  nicht  richtig  schätzen  können.. 


98 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  2. 

Er  fragt  auch  nicht  was  sie  ursprünglich  be- 
deuteten, stellt  die  Kerübe  den  Saraphen  gleich 
von  welchen  sie  gänzlich  verschieden  sind,  sucht 
und  sieht  sie  auch  sonst  da  in  der  Bibel  wo 
sie  weder  erwähnt  sind  noch  auch  nur  gemeint 
sein  können,  und  bildet  sich  so  aus  allerlei  fast 
durchaus  missverstandenen  Stellen  der  Bibel 
eine  allgemeine  Vorstellung  über  sie  welche  den 
Worten  nach  sehr  christlich  klingt  nur  dass  sie 
leider  in  der  Bibel  selbst  keinen  Grund  hat. 
Er  meint  nämlich  die  Kerübe  deuteten  die  Er- 
lösung des  menschlichen  Geschlechts  durch 
Christus  und  den  h.  Geist  an ; und  möchte  schon 
in  der  Zweiheit  der  Kerübenbilder  auf  der  Bun- 
deslade gerne  Christus  und  den  h.  Geist  sehen. 
Diese  Bedeutung  derselben  nun,  meint  er  wei- 
ter, sei  in  der  Bibel  gerade  in  zehn  Stufen  im- 
mer vollkommner  enthüllt:  1)  in  der  Erzählung 
vom  Paradiese  Gen.  3,  24;  2)  in  der  von  der 
Jakobsleiter;  3)  in  der  von  der  Wolken-  und 
Feuersäule  in  der  Wüste  unter  Mose ; 4)  in  den 
Erzählungen  Ex.  24,  1 f.  9 — 11;  5)  in  der  von 
der  Bundeslade  Ex.  25,  10—22;  6)  in  den  Er- 
zählungen von  den  Kerüben  im  Salomonischen 
Tempel;  7)  Jes.  c.  6;  8)  Hez.  c.  1— 3;  9)  Zakh. 
c.  4;  10)  Apok.  c.  4.  Allein  schon  aus  der 
Aufzählung  dieser  Biblischen  Stellen  kann  man 
sehen  dass  der  Verf.  theils  viele  Stellen  hieher 
zieht  wefche  weder  von  den  Kerüben  wörtlich 
handeln  noch  auf  sie  anspielen;  theils  andere 
ebenso  wichtige  willkürlich  auslässt  welche  von 
ihnen  handeln.  Schon  hieraus  erhellt  hinrei- 
chend wie  grundlos  die  ganze  obwohl  sehr  müh- 
sam und  in  ihrer  Art  recht  scharfsinnig  aufge- 
bauete  Vorstellung  ist  welche  der  Verf.  entwirft. 
Sie  beruhet  im  wesentlichen  auf  der  allegori- 
schen Erklärung  der  Bibel.  Allein  diese  ist 


Bosanquet,  The  succes.  visions  of  the  Cherubim.  59 

wenigstens  in  ihrer  künstlichen  Durchführung 
eine  Erfindung  der  Alexandriniscb-Jüdischen 
Schule,  und  spielt  wol  in  ein  paar  Stellen  des 
Neuen  Testaments  ein,  hat  aber  weder  bei  Chri- 
stus selbst  noch  bei  seinen  unmittelbaren  Schü- 
lern eine  solche  Bedeutung,  und  hat  in  der 
Kirche  wo  sie  ernstlich  genommen  wurde,  nir- 
gends einen  wahren  Nutzen  gestiftet,  kann  das 
auch  nicht  weil  sie  ungeschichtlichen  Wesens 
und  Strebens  ist.  Und  am  wenigsten  kann  sie 
uns  innerhalb  des  Christenthums  heute  etwas 
niitzen,  da  sie  nicht  einmal  vor  dem  Lichte  der 
Wissenschaft  wie  viel  weniger  vor  dem  christ- 
lichen Gewissen  bestehen  kann,  wenn  man  wirk- 
lich mit  ihr  Ernst  machen  wollte.  Der  Schat- 
ten aber  welchen  sie  über  einige  Stellen  der 
Briefe  des  Apostels  Paulus  und  noch  etwas  dich- 
ter über  den  Hebräerbrief  geworfen  hat,  erklärt 
sich  anderweitig  sehr  leicht,  und  berechtigt  uns 
in  keiner  Weise  über  die  Kerube  Sarapheu.  8.  w. 
so  gänzlich  ungeschichtlich  und  verkehrt  zu  ur- 
theilen  wie  es  der  Verf.  dieser  Schrift  thut. 

In  England  aber  gibt  es  noch  heute  eine 
sehr  weit  verbreitete  Menge  welche  aus  einer 
solchen  Art  die  Bibel  zu  erklären  ihr  Glaubens- 
zeichen und  ihre  Partei  macht.  Diese  Partei 
herrscht  in  der  sogenannten  Low  church  ebenso 
wohl  wie  in  der  High  church:  während  die 
Broad  church  dort  leicht  nur  zu  leichtsinnig 
über  die  Bibel  urtheilt.  Unser  Verf.  führt  z.  B. 
S.  17  f.  eine  Schrift  an  unter  der  Aufschrift 
An  Inquiry  into  the  Doctrine  of  the  Cherubim, 
critical,  exegetical,  and  practical,  and  into  the 
symbolical  character  and  design  of  the  Cherubic 
Figures  of  Holy  Scripture,  by  Dr.  George 
Smith  (London,  Longman,  1850),  welche  etwa 
ebenso  ausführlich  wie  diese  aber  etwas  ganz 


60  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  2. 

anderes  über  die  Cherübim  beweisen  will,  näm- 
lich sie  seien  »emblematical  representation  of 
true  believers  in  every  dispensation  of  grace« 
d.  i.  bildliche  Stellvertreter  treuer  Gläubiger 
im  Alten  und  Neuen  Testament;  eine  besondere 
allegorische  Erklärung  welche  ebenso  richtig 
und  ebenso  unrichtig  ist  wie  die  unsres  Verf.s; 
denn  die  allegorische  Erklärung  gebiert,  eben 
weil  sie  von  vorne  an  willkürlich  ist,  tausenderlei 
verschiedene  immer  aber  nur  solche  Gedanken 
welche  entweder  an  sich  völlig  untreffend  sind 
oder  doch  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen 
die  man  leicht  übersieht  nicht  zum  Untreffen- 
den hinführen.  Möchte  man  bald  in  England, 
ohne  irgendwie  in  die  Netze  der  Strauss- 
Baurischen  Schule  zu  fallen,  aus  solchen  Netzen 
sich  befreien  welche  christlich  übertüncht  sind 
aber  schliesslich  mit  jenen  einen  nur  zu  nahen 
Zusammenhang  haben,  so  dass  wer  in  sie  fallt 
aus  ihnen  nur  zu  leicht  auch  wider  Willen  in 
jene  bineingleitet ! Dies  ist  das  einzige  was 
sich  schliesslich  bei  allen  solchen  Büchern  wie 
das  vorstehende  wieder  eins  ist,  sagen  und 
wünschen  lässt.  H.  E. 


Charlemagne  legislateur.  Etude  sur  la  le- 
gislation franke  par  M.  Fr.  Monnier.  Paris 
Librairie  academique  Didier  et  C.  (1873).  ^82 
Seiten  in  Octav. 

Der  Verfasser,  der  sich  vor  einer  Reihe  von 
Jahren  durch  eine  Schrift  über  Alcuin  bekannt 
gemacht,  behandelt  hier  in  einem  Vortrag  für 
die  Academie  des  Sciences  morales  et  politiques 


Monnier,  Charlemagne  legislates.  61 

in  Paris  ein  Thema,  das,  so  oft  es  auch  Gegen- 
stand der  Bearbeitung  gewesen,  doch  keines- 
wegs als  erschöpft  gelten  kann,  zu  dem  die  Be- 
trachtung wenigstens  gern  wieder  und  wieder 
zurückkehren  mag.  Vor  wenigen  Jahren  ver- 
öffentlichte ein  ausgezeichneter  Forscher  Deut- 
schen Rechts  eine  Arbeit  unter  ganz  ähnlichem 
Titel:  Karl  der  Grosse  als  Gesetzgeber,  Vortrag 
von  Prof.  Friedrich  von  Wyss  (Zürich  1869), 
die  der  Verf.  schwerlich  gekannt  hat,  von  der 
er  auch  in  fast  jeder  Beziehung  abweicht.  Wyss 
giebt  eine  kurze,  die  Resultate  neuerer  For- 
schungen zusammenfassende  Darstellung , die 
keinen  Anspruch  macht  neue  Resultate  zu  lie- 
fern, aber  ein  gutes  Bild  der  ganzen  umfassen- 
den Thätigkeit  Karls  auf  diesem  Gebiet  giebt 
und  seine  Bestrebungen  angemessen  würdigt. 
Dagegen  will  sich  Hr.  Monnier  auf  die  Jahre 
nach  der  Kaiserkrönung  beschränken,  die  in  die- 
ser Zeit  erlassenen  Capitularien  als  ein  in  sich 
zusammenhängendes  Ganzes  auffassen  und  die 
in  ihnen  waltende  Tendenz  darlegen,  gestützt, 
wie  er  sagt,  auf  die  verschiedenen  Editionen  in 
Italien,  Deutschland  und  Frankreich  und  auf 
die  Handschriften,  ‘qui  peuvent  servir  ä les  cor- 
riger  et  ä les  completer’. 

Was  zunächst  diese  Hülfsmittel  betrifft,  so 
sind  S.  3 eine  Anzahl  Bücher  aufgeführt,  die 
zum  Theil  mit  den  Capitularien  und  der  Ge- 
setzgebung Karls  nichts  zu  thun  haben,  später 
übrigens  fast  nur  Baluze  citiert , nur  an 
einer  Stelle,  so  viel  ich  bemerkt,  Pertz.  Das 
hat  die  Folge  gehabt,  dass  die  aus  Benedict 
entlehnten  falschen  oder  interpolierten  Capitu- 
larien einfach  als  echte  benutzt  werden,  nament- 
lich die  angeblichen  des  Jahres  803  aus  Worms 
über  den  Kriegsdienst  der  Geistlichen.  Auf  die 


64  Gott.  gel.  An z.  1874.  Stück  2. 

excellence«,  und  er  setzt  hinzu:  dont  une  partie 
a ete  appelee  Baviere  rhenane  et  Prusse  rh6- 
nane  depuis  1815 , momentanement  alienee, 
comme  l’Alsace  et  la  Lorraine,  de  ce  grand 
corps  indestructible  qu’on  appellä  la  France 
physique  (S.  15).  Wir  können  uns  gern  ge- 
fallen lassen,  wenn  man  sich  in  Frankreich  ge- 
wöhnt die  zuletzt  zuriickgegebenen  Deutschen 
Lande  nicht  anders  als  Rhein -Baiern  und 
Preussen  zu  betrachten,  möchten  aber  doch  fra- 
gen, was  diese  Bemerkungen  mit  Earl  des 
Grossen  Gesetzgebung  zu  thun  haben,  und  ob 
man  in  der  Pariser  Akademie  so  wenig  Ge- 
schichte kennt,  oder  auf  einem  so  sublimen 
Standpunkt  steht,  dass  man  für  einen  Moment 
erachtet,  was  seit  tausend  Jahren  mit  kurzen 
Unterbrechungen  Bestand  gehabt? 

G.  Waitz. 


Berichtigung. 

Im  letzten  Stücke  des  Jahrganges  1873  der 
Gel.  Anz.  S.  2046  letzte  Zeile  lese  man  secundo 
in  potestate  regali  ohne  tum;  S.  2060  vorletzte 
Zeile  streiche  man  zu.  Die  Verbesserung  des 
Wortes  secundum  in  dem  dort  erläuterten  Mu- 
ratorischen  Fragmente  in  secundo  in  ist  am 
leichtesten. 


65 


Gftttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  3.  21.  Januar  1874. 


Immigration  into  the  United  States.  By 
Edward  Jarvis.  M.  D.  Boston  1872.  15 S.  8. 

The  increase  of  human  life.  Bead  before 
the  American  Statistical  Association,  by  Edward 
Jarvis.  M.  D.  Boston  1872.  55  S.  8. 

Special  Report  on  Immigration ; accompanying 
Information  for  Immigrants  relative  to  the 
prices  and  rentals  of  land,  the  staple  products, 
facilities  of  access  to  market,  cost  of  farm  stock, 
kind  of  labor  in  demand  in  the  western  and 
southern  states  etc.  etc,,  by  Edward  Young. 
Ph.  D.  Chief  of  the  Bureau  of  Statistics. 
Washington:  Government  Printing  Office  1871. 
XXVII  und  231  S.  8. 

Handbook  for  Immigrants  to  the  United 
States,  prepared  by  the  American  Social  Science 
Association.  With  maps.  New*York:  published 
for  the  Association , by  Hurd  and  Houghton 
1871.  217  S.  8. 

Die  in  der  Ueberschrift  zuerst  genannte 
Schrift  eines  der  eifrigsten  und  gründlich- 
sten amerikanischen  Statistiker,  der  sich  seit 

5 


66 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  3. 

einer  Reihe  von  Jahren  sowohl  durch  selb- 
ständige statistische  Untersuchungen  besonders 
über  die  Mortalitäts-Verhältnisse  in  den  Ver- 
einigten Staaten , wie  auch  durch  die  Heraus- 
gabe verschiedener  Abtheilungen  der  officiellen 
Statistik  der  Union  und  des  Staats  Massachu- 
setts grosse  Verdienste  um  die  Statistik  seines 
Vaterlandes  erworben  hat,  unternimmt  es,  eine 
neuerdings  mehrfach  in  den  Vereinigten  Staa- 
ten erörterte  interessante  Streitfrage  über  den 
Einfluss  der  europäischen  Einwanderung  auf 
die  Bevölkerung  der  Vereinigten  Staaten  in 
exacter  Weise  durch  statistische  Deduction  zum 
definitiven  Abschluss  zu  bringen.  Angeregt 
wurde  diese  Frage  zuerst  durch  einen  in  der 
Versammlung  der  Britisch  Association  for  the 
Advancement  of  Science  im  J.  1856  zu  Chelten- 
ham von  Edw.  Clibborn  gehaltenen  Vortrag 
»über  die  Tendenz  der  Europäischen  Racen  in 
den  Vereinigten  Staaten  zu  Grunde  zu  gehen«. 
(Im  Auszuge  mitgetheilt  im  Report  of  the 
twenty-sixth  Meeting  of  the  British  Assoc.  Lond. 
1857  p.  136).  Der  Zweck  dieses  Vortrags  war 
der  Nachweis  der  Wahrscheinlichkeit , dass 
in  den  Vereinigten  Staaten  nicht  bloss  die  cel- 
tische  oder  irische  Race,  sondern  alle  europäi- 
schen Racen  aussterben  würden,  wenn  alle  Ver- 
bindung mit  Europa  aufgehoben  würde,  und  ge- 
stützt wurde  dies  Argument  auf  ein  wie  es  heisst, 
in  den  Vereinigten  Staaten  allgemein  zugestan- 
denes Factum,  dass  die  städtischen  Bevölkerun- 
gen ( town  populations)  dort  gesunder  und  pro- 
ductiver seien  als  die  der  ländlichen  Districte 
und  dass,  da  in  den  Vereinigten  Staaten  ebenso 
wie  in  Irland  und  anderen  Theilen  Europas  das 
Gesetz  des  Aussterbens  der  städtischen  Bevöl- 
kerungen existire  (as  the  law  of  extinction  of 


Jarvis,  Immigration  into  the  United  States.  67 

town  populations  exists ) und  da  der  jährliche 
Bevölkerungs- Verlust  nicht  durch  die  ländlichen 
Districte  ersetzt  werden  könnte,  welche  im  Ge* 
gentheil  gewissermassen  durch  die  Städte  Er« 
Satz  erhielten  (are  replenished) ; so  folge,  dass 
im  Laufe  weniger  Generationen  sowohl  die 
Städte,  wie  die  Landdistricte  entvölkert  sein 
würden  (would  be  left  without  inhabitants ) — 
wenn  der  jährliche  Abgang  in  beiden  nicht 
durch  Einwanderer  aus  Europa  ersetzt  würde«. 

Es  ist  nun  zwar  unbegreiflich,  wie  eine  solche 
auf  lauter  unerwiesenen  und  wir  behaupten  auch 
unbeweisbaren  Behauptungen  beruhende  Ar- 
gumentation nur  irgend  welchen  Eindruck  hat 
machen  können  auf  Leute,  die  auch  nur  jemals 
etwas  mit  Bevölkerungs-Statistik  sich  beschäf* 
tigt  haben;  in  Wirklichkeit  hat  aber  die  von 
Glibborn  aufgestellte  These  Beifall  gefunden,  so- 
wohl in  Europa,  wo  sie  namentlich  von  einem 
Engländer  Knox  in  seinen  Vorlesungen  über 
Anthropologie  und  von  dem  bekannten  franzö- 
sischen Ethnographen  A.  Garlier  in  seinem  inter* 
essanten  Memoire  sur  V Acclimatement  des  Baces 
en  Amerique  (in  den  Memoires  de  la  Sodete 
d’ Anthropologie  de  Baris . P.  1IL  1868)  wieder- 
holt worden  *),  wie  auch  in  den  Vereinigten  Staa- 

*)  So  behauptet  der  Verf.  Garlier  nimmt  aber  kei- 
neswegs die  Clibbornsche  Theorie  der  Tendenz  der  Euro- 
päischen Eacen,  in  den  Vereinigten  Staaten  auszusterben 
an.  Er  behandelt  nur  das  von  ihm  allerdings  irrthüm- 
lich  berechnete,  aber  als  Factum  constatirte  allmähliche 
Sinken  der  Zuwachsrate  unter  der  Bevölkerung  in  den 
Vereinigten  Staaten  seit  1790,  was  er  dann  geradezu 
auf  das  seiner  Behauptung  nach  in  den  Ver.  Staaten  in 
erschrecklicher  Weise  verbreitete  Verbrechen  der  procu - 
ratio  abortus  zurückführt  und  wofür  er  denn  auch  einige 
merkwürdige  Zeugnisse  von  amerikanischen  Professoren 
der  Medicin  beibringt.  Im  Uebrigen  tritt  G.  sehr  ent- 

5* 


68 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

ten,  hier  jedoch,  wie  es  scheint,  nur  hei  Deutsch- 
Amerikanern,  was  wohl  auf  nationale  Gründe 
zurückzuführen  ist.  Hr.  Jarvis  führt  von  den 
letzteren  namentlich  zwei  auf,  Ludwig  Schade, 
der  darüber  ein  eigenes  Werk  im  Jahre  1856 
in  Washington  publizirt  hat,  in  welchem  er  so- 
gar einen  statistischen  Beweis  aufstellt  und 
Friedr.  Kapp,  der  in  einem  vor  der  American 
Social  Science  Association  im  Jahre  1870  gehal- 
tenen Vortrage  diese  Doctrin  warm  vertheidigte 
und  »es  als  das  grosse  Verdienst  Schade’s  be- 
zeichnet©, zuerst  das  wahre  Princip  zur  Berech- 
nung des  Volkszuwachses  angewendet  zu  haben«. 
Wir  bedauern  sehr,  das  Werk  des  Hm.  Schade 
uns  nicht  verschaffen  gekonnt  zu  haben,  es 
müsste  ein  wahrer  Genuss  für  einen  Statistiker 
sein,  an  diesem  Werk,  in  welchem  dargethan 
wird,  dass  der  natürliche  Zuwachs  der  bei  der 
Freiwerdung  in  den  Vereinigten  Staaten  befind- 
lichen Bevölkerung  nur  1,88°/°  P*  Jahr  betragen 
habe,  während  der  übrige  Theil  der  Bevölke- 
rungszunahme seit  jener  Periode  den  neuen 
Einwanderern  und  ihren  fruchtbaren  Familien 
zu  verdanken  sei,  einmal  wissenschaftliche  Kri- 
tik zu  üben.  Indess  nothwendig  ist  das  nicht, 
um  beurtheilen  zu  können,  ob  und  wie  weit  Hr. 
Jarvis  recht  hat,  der  nun  nicht  allein  Clibborn 
und  dessen  Nachfolger  zu  widerlegen  unter- 
nimmt, sondern  auch  statistisch  beweisen  zu 
können  meint,  dass  durch  die  fremde  Einwan- 
derung nicht  allein  die  natürliche  Zuwachsrate 
der  Bevölkerung  der  Vereinigten  Staaten  nicht 

schieden  gegen  den  allgemein  verbreiteten  Glauben  an 
die  Entartung  und  den  Verfall  der  Europäischen  Race 
in  den  Vereinigten  Staaten  auf.  Vgl.  auch  seine  Erör- 
terung darüber  in:  Bulletins  de  la  Soc . d’ Anthropologie 
de  Paris.  T,  VI.  Annee  1865  p,  130 ff. 


Jarvis,  Immigration  into  the  United  States.  69 

erhöht , sondern  umgekehrt  erniedrigt  wor- 
den ist. 

Nach  Schade  und  Kapp  würden  von  der 
gegenwärtigen  weissen  Bevölkerung  ungefähr 
zwei  Drittheile  aus  Fremden  und  Kindern  und 
Nachkommen  dieser  Fremden  oder  früherer  Ein- 
gewanderten bestehen,  und  nur  ein  Drittheil  aus 
Amerikanern,  d.  h.  aus  Nachkommen  der  im  J. 
1790  in  den  Vereinigten  Staaten  befindlichen 
Bevölkerung.  Hr.  Jarvis  behauptet  nun,  dass 
um  dies  möglich  erscheinen  zu  lassen,  man  ent- 
weder eine  unglaublich  grosse  Einwanderung  in 
früherer  Zeit  oder  eine  unmögliche  Fruchtbarkeit 
der  Eingewanderten  annehmen  müsse,  und  dass, 
obgleich  sich  nicht  nachweisen  lasse,  auf  wel- 
chem von  diesen  beiden  Fehlern  die  Berechnung 
des  angenommenen  fremden  Elements  von  Schade, 
die  auch  von  Kapp  einfach  angenommen  wird, 
beruhe,  da  derselbe  nicht  unterscheidet,  welche 
Proportion  dieses  fremden  Elements  auf  in  an- 
deren Ländern  gebomene  Einwanderer  und  wel- 
che auf  deren  in  den  Vereinigten  Staaten  ge- 
borene Kinder,  Enkel  u.  s.  w.  kommt,  Schade 
und  Kapp  wahrscheinlich  auch  eine  viel  zu  grosse 
frühere  Einwanderung,  gewiss  aber  eine  alle 
menschliche  Erfahrung  übersteigende  Frucht- 
barkeit der  eingewanderten  Fremden  anneh- 
men. Was  nun  zuerst  den  Gewinn  an  Bevölke- 
rung durch  die  Einwanderung  betrifft,  so  lässt 
sich  dafür  die  Uebertreibung  zwar  nicht  stricte 
nachweisen,  da  erst  seit  1820  officielle  Erhe- 
bungen über  die  Einwanderung  angestellt  und 
veröffentlicht  worden,  doch  glaubt  Hr.  J. 
behaupten  zu  müssen,  dass  allgemein  von  den 
Fremden  in  Amerika  und  in  deren  Mutterlän- 
dern das  fremde  Element  unter  der  amerikani- 
schen Bevölkerung  viel  höher  angenommen 


7.0  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  3. 

werde,  als  es  möglich  erscheint,  wenn  man  nicht 
die  Zahl  der  vor  1820  Eingewanderten  um  das 
mehrfache  zu  hoch  schätzt.  Und  darin  kann 
man  dem  Verf.  nur  zustimmen.  Der  Unter- 
zeichnete hat  zwar  nur  einmal  in  den  vierziger 
Jahren  über  die  Zahl  der  Deutschen  in  den 
Vereinigten  Staaten  d.  h.  der  deutschen  Ein- 
wanderer und  der  Nachkommen  von  solchen 
eine  Untersuchung  angestellt  und  darnach  ge- 
funden, dass  deren  damalige  vornehmlich  auf 
Friedrich  von  Räumers  Angaben  beruhende 
Schätzung  auf  etwa  5 Millionen  Seelen  um  we- 
nigstens das  doppelte  zu  hoch  sei  (s.  Deutsche 
Auswanderung  und  Colonisation.  Leipzig.  1846. 
S.  63)  und  eine  gleiche  Ueberschätzung  erscheint 
auch  für  alle  andern  Fremden  sehr  wahrschein- 
lich, weil  alle  solche  Schätzungen  auf  mangel- 
haften Beobachtungen  beruhen,  wie  sie  sich  dem 
Fremden  in  einem  Lande  darzubieten  pflegen, 
in  welchem  er  in  einzelnen  Theilen  Landsleute 
in  grösserer  Zahl  zusammen  findet,  mit  denen  er 
dann  natürlich  auch  vorzugsweise  in  Berührung 
kommt  und  deshalb  leicht  sich  eine  übertriebene 
Vorstellung  von  ihrer  Proportion  zur  Gesammt- 
bevölkerung  macht. 

Viel  bestimmter  aber  lässt  sich  der  Irrthum 
nachweisen,  den  Schade  und  Eapp  in  der  An- 
nahme der  natürlichen  Zunahme  der  Bevölke- 
rung in  den  Vereinigten  Staaten  durch  den 
Ueberschuss  der  Geburten  über  die  Sterbefälle 
sich  haben  zu  Schulden  kommen  lassen.  Der 
erstere  berechnet  diese  Zuwachsrate,  indem  er 
die  in  dem  7 Census  der  Vereinigten  Staaten 
S.  XLI  mitgetheilten  Daten  über  die  Gebur- 
ten und  die  Sterbefalle  des  mit  dem  1.  Juni 
1850  endenden  Jahres  vergleicht,  zu  l,ss  % pr. 
Jahr  und  Eapp  folgert,  diese  Zunahmerate  als 


Jarvis,  Immigration  into  the  United  States.  71 

erwiesen  erachtend,  darnach,  dass,  weil  bei 
dieser  Zuwachsrate  die  weisse  Bevölkerung  von 
1790  bis  1865  nur  auf  9,034,249  Seelen  ange- 
wachsen sein  würde,  dieselbe  aber  in  Wirklich- 
keit im  Jahre  1865  30  Millionen  (in  runder 
Zahl)  betragen  habe,  der  Unterschied,  also  fast 
21  Millionen,  durch  die  fremden  Einwanderer 
und  deren  Nachkommen  bewirkt  worden  sei. 
Selbst  zugegeben  auch,  dass  es  erlaubt  sei,  die 
für  ein  einzelnes  Jahr  aus  der  Vergleichung  der 
Geburten  und  der  Sterbefälle  berechnete  Zu- 
wachsrate als  maassgebend  für  eine  Periode  von 
75  Jahren  anzunehmen  — was  beiläufig  gesagt, 
kein  Statistiker  thun  würde,  da  bekanntlich  die 
Zahl  der  Geburten  und  Sterbefalle  von  einem 
zum  anderen  Jahre  sehr  erheblich  wechseln 
können  — würde  jener  Schluss  doch  schon  des- 
halb falsch  sein , weil  die  Zunahme  der  Bevöl- 
kerung in  der  angegebenen  Periode  keineswegs 
allein  durch  den  natürlichen  Zuwachs  und  durch 
die  Einwanderung  bewirkt  worden , sondern 
auch  durch  Einverleibung  neuer  Gebiete  mit 
ihrer  Bevölkerung.  Nun  weist  aber  Hr.  Jarvis 
überdies  noch  nach,  dass  Schade  bei  seiner  Be- 
rechnung die  Zahl  der  am  1.  Juni  1850  ge- 
zählten Kinder  unter  einem  Jahr  alt  verwech- 
selt hat  mit  der  Zahl  der  in  dem  mit  diesem 
Datum  abgelaufenen  Jahre  vorgekommenen  Ge- 
burten. Dieses  Versehen  ist  aber  um  so  un- 
verzeihlicher, als  unter  der  von  Schade  benutz- 
ten Tabelle  express  bemerkt  ist,  dass  die  in 
der  Columne  »births  « angegebenen  Zahlen  von 
den  gebornen  Kindern  nur  die  am  Ende  des 
Jahres  noch  am  Leben  befindlichen  umfasse 
(» include  only  those  who  where  surviving  at  the 
end  of  the  year«)  und  diese  Bemerkung  nicht 
allein  bei  den  entsprechenden  Tabellen  für  jeden 


72  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

Staat  d.  h.  im  Ganzen  fänfundvierzigmal  wie- 
derholt wird,  sondern  damit  noch  nicht  zufrie- 
den, der  Superintendent  des  Census  J.  De  Bow 
auch  noch  p.  XXXIX  und  ebenso  in  seinem  die 
Ergebnisse  dieses  Census  zusammenstellenden 
und  mit  denen  der  früheren  Volkszählungen 
vergleichenden  Statistical  View  of  the  United 
States  etc . ( Washington  1854)  p.  57  hervorhebt, 
dass  die  Tabellen,  welche  die  Geburten  etc.  an- 
geben, nur  sehr  wenig  Werth  hätten, 
weil  sie  nur  die  Zahl  der  unter  einem  Jahr  al- 
ten Bevölkerung  angäben  {»only  those  persons 
horn  within  the  year  and  surviving  at  the  end  of 
it,  where  included  in  the  table  of  births : in 
other  words  it  comprises  the  figures  of  the  column 
of  population  under  one  year  of  age*).  Damit 
fällt  natürlich  die  ganze  statistische  Argumen- 
tation von  Schade  und  Kapp  in  sich  zusammen 
und  hätte  Hr.  J.  gar  nicht  mehr  die  Mühe 
sich  zu  geben  nöthig  gehabt  nun  noch  nachzu- 
weisen, dass  schon  wegen  der  grossen  Kinder- 
sterblichkeit während  des  ersten  Monates  nach 
der  Geburt , die  mitgetheilten  Zahlen  hin- 
ter der  Zahl  der  wirklichen  Geburten  im  Jahre 
1849/ßo  weit  Zurückbleiben  mussten,  um  jeden 
Statistiker  zu  überzeugen,  dass  dieser  Versuch 
einer  statistischen  Begründung  der  Clibborn’- 
schen  Theorie  der  »Tendenz  der  Europäischen 
Bacen  in  denVereinigten  Staaten  auszusterben« 
völlig  verunglückt  ist.  Vielleicht  indess  war  es 
doch  nicht  überflüssig,  seinen  Landsleuten  durch 
Beispiele  aus  anderen  Ländern  noch  den  Unter- 
schied zwischen  der  Zahl  der  Geburten  und  der 
Untereinjährigen  deutlich  zu  machen,  da  die  von 
Schade  berechnete  Zuwachsrate  in  den  Ver. 
Staaten  grosse  Autorität  erlangt  zu  haben 
scheint  und  auch  dazu  benutzt  worden  ist,  za 


Jarvis,  Immigration  into  the  United  States.  73 

zeigen,  dass  die  Vereinigten  Staaten  darin  gün- 
stiger stehen  als  alle  europäischen  Staaten,  was 
eben  kein  günstiges  Zeugniss  für  die  statistische 
Bildung  der  amerikanischen  Publicisten  ablegt. 
S.  National  Almanac  and  Annual  Record  for 
the  yea/r  1864.  Philadelphia  p.  518. 

Mit  dieser  Abfertigung  von  Schade  und  Kapp 
hätte  übrigens  Hr.  J.  sich  begnügen  sollen.  Denn, 
wenn  er  nun  weitergehend  es  unternimmt,  nach- 
zuweisen, dass  im  Gegentheilmit  der  Zunahme  der 
fremden  Bevölkerung  die  natürliche  Zuwachsrate 
in  den  Vereinigten  Staaten  gesunken  sei  und  dar- 
nach annehmen  zu  können  meint,  dass  nicht 
die  fremde,  sondern  eher  die  amerikanische  Race 
die  fruchtbarere  sei,  so  geräth  er  damit  eben- 
falls auf  sehr  unsicheren  Boden.  Durch  eine 
Zusammenstellung  der  Proportion  der  Fremden 
unter  den  Weissen  und  der  natürlichen  Zu- 
nahme der  weissen  Bevölkerung  in  einer  Tabelle 
S.  15  findet  Hr.  J.  nämlich,  dass  die  Zuwachs- 
rate vonDecennium  zu  Decennium  gesunken  ist, 
während  die  Proportion  der  Fremden  zugenom- 
men hat  und  meint  Hr.  J.  daraus  nun  schliessen 
zu  können,  dass  der  natürliche  Zuwachs  oder 
die  wirkliche  Fruchtbarkeit  unter  den  fremden 
Familien  geringer  gewesen  als  unter  den  ameri- 
kanischen. Nun  ist  allerdings  gewiss,  dass  der 
natürliche  Zuwachs  der  Bevölkerung  der  Vereinig- 
ten Staaten  seit  1790  abgenommen  hat  und 
zwar  noch  regelmässiger  als  aus  der  von  Hr.J. 
zusammengestellten  Tabelle  hervorgeht,  wenn 
auch  nicht  in  den  daselbst  aufgeführten  Maassen, 
wonach  der  Zuwachs  in  der  zehnjährigen  Pe- 
riode von  1790 — 1800  34,77%  betragen  hat, 
und  in  den  darauf  folgenden  sieben  zehnjährigen 
Perioden  bis  1870  34,79,  35, 50,  28,99,  28, 66*  26,77, 
26,31  und  15,97  %>  so  dass  derselbe  innerhalb  80 


74 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  3. 

Jahren  auf  mehr  als  die  Hälfte  gesunken  wäre. 
Diese  Zahlen  sind  schon  deshalb  ungenau,  weil  Hr. 
J.  bei  seiner  Berechnung  des  natürlichen  Zu- 
wachses aus  der  Vergleichung  der  Einwohner- 
zahl nach  zwei  auf  einander  folgenden  Zählun- 
gen von  der  Differenz  blos  die  während  der 
zehn  Jahre  zwischen  den  beiden  Zählungen 
durch  die  Einwanderung  bewirkte.  Zunahme  ab- 
gezogen, nicht  aber  in  Rechnung  gebracht  hat, 
dass  wiederholt  zwischen  zwei  Zählungen  die 
Bevölkerung  auch  vermehrt  worden  ist  durch  die 
Bevölkerung  gekaufter,  annectirter  oder  erober- 
ter Gebiete,  welche  ebenso  wie  die  Einwanderer 
in  Abzug  gebracht  werden  musste,  um  die  na- 
türliche Zunahme,  d.  h.  die  durch  den  Ueber- 
schuss  der  Geburten  über  die  Gestorbenen  be- 
wirkte zu  finden.  Bringt  man  dies  nun  in  Rech- 
nung, so  findet  man  eine  sehr  merkwürdig  regel- 
mässige Abnahme  der  Zuwachsrate.  Sie  betrug, 
wie  wir  in  unsrer  allgem.  Bevölkerungsstatistik 
(I.  S.  124 f.)  gezeigt  haben,  im  Mittel  jährlich 
von  1790  bis  1800  2,89,  von  1800 — 10  2,8s,  von 
1810 — 1820  2,74,  von  1820 — 30  2,64,  von  1830 
— 40  2,52  % und  eben  so  regelmässig  hat  seit- 
dem, wie  wir  damals  voraussagten,  diese  Zu- 
wachsrate in  ihrem  Sinken  beharrt.  Sie  betrug 
ungefähr  (d.  h.  nur  die  Zahl  der  Einwande- 
rer zwischen  zwei  Zählungen  nicht  ihren  Beitrag 
zur  Volksvermehrung  durch  ihre  in  den  Ver- 
einigten Staaten  gebornen  Kinder  in  Anschlag 
gebracht,  wodurch  die  berechnete  natürliche  Zu- 
wachsrate noch  um  ein  weniges  erniedrigt  wer- 
den würde)  von  1840 — 50  2,89,  von  1850 — 60 
2,80  und  von  1860 — 70  1,48  °/o.  — Die  regel- 
mässige Abnahme  der  jährlichen  Zuwachsrate 
ist  also  constatirt,  daraus  aber,  wie  Hr.  Jarvis 
es  thut,  auf  eine  geringere  Propagationskraft  der 


Jarvis,  Immigration  into  the  United  States.  75 

Eingewanderten  den  Amerikanern  gegenüber  za 
schliessen,  weil  mit  dieser  Abnahme  der  Zu- 
wachsrate eine  Zunahme  der  Proportion  der 
Fremden  unter  den  Weisen  parallel  gegangen 
ist,  halten  wir  nicht  für  zulässig,  weil  dies  Sin- 
ken der  Zuwachsrate  nur  dem  allgemeinen  sta- 
tistischen Gesetze  conform  ist,  wonach  überall 
mit  der  Zunahme  der  Dichtigkeit  der  Bevölke- 
rung ihre  natürliche  Zunahme  abnimmt,  weil, 
nach  dem  Ausdrucke  Villermes  »die  Zunahme 
der  Bevölkerung  auf  die  Ursachen  reagirt,  welche 
sie  hervorbringen«.  Und  darnach  müssen  wir 
es  auch  für  sehr  misslich  halten,  wenn  H.  Jar- 
vis schliesslich  das  fremde  Element  unter  der 
Bevölkerung  der  Vereinigten  Staaten,  d.  h.  die 
Zahl  der  Fremden  und  ihrer  Familien  (nach 
dem  Census  von  1870  5,566,546  Personen)  und 
der  Nachkommen  aller  seit  1790  eingewander- 
ten Fremden  im  Ganzen  auf  ungefähr  IOV2  Mil- 
lionen, also  auf  ungefähr  ein  Drittheil  der  ge- 
8ammten  weissen  Bevölkerung  (33,586,989  See- 
len) berechnet  und  darnach  annimmt,  dass  das 
amerikanische  Element  (d.  h.  die  Nachkommen 
der  Bevölkerung  von  1790  und  die  noch  aus  der 
Zeit  Lebenden)  i.  J.  1850  80  und  im  J.  1860 
71%  der  ganzen  weissen  Bevölkerung  betragen 
habe,  wiewohl  es  uns  keinem  Zweifel  zu  unter- 
liegen scheint , dass  diese  Berechnung  der 
Wahrheit  näher  kommt,  als  die , wie  wir  ge- 
sehen haben  durchaus  unbegründeten  Behaup- 
tungen Kapps,  wonach  das  amerikanische  Ele- 
ment in  den  angeführten  Jahren  nur  reBp.  36 
und  *29%  betragen  haben  soll.  Immerhin  geht 
aber  aus  allen  diesen  Untersuchungen  hervor, 
dass,  wenn  die  Einwanderung  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  noch  ferner  in  der  gegenwärti- 
gen Höhe  beharrt,  dort  unter  der  Bevölkerung 


76 


Gott.  gel.  An z.  1874.  Stuck  3. 

das  amerikanische  Element  bald  nur  eine  Mi- 
norität bilden  wird. 

Die  andere  in  der  Ueberschrift  genannte 
Schrift  des  Hrn.  Jarvis  steht  mit  der  eben  be- 
sprochenen insofern  im  Zusammenhänge,  als  sie 
auch  für  die  Bevölkerung  der  Vereinigten  Staa- 
ten eine  günstige  Veränderung  der  Mortalitäts- 
verhältnisse und  insbesondere  für  die  anglo- 
sächsische  Race  eine  Abnahme  der  Kindersterb- 
lichkeit nachzuweisen  sucht,  was  dann  allerdings 
auch  dem  amerikanischen  Elemente  unter  der 
dortigen  Bevölkerung  in  seinem  Kampfe  gegen 
die  Ueberhandnahme  des  fremden,  und  nament- 
lich des  irischen  Elements  zu  Gute  kommen 
würde,  doch  verfolgt  der  Verf.  diesen  Punkt 
nicht  8pecieller.  Er  fasst  sein  Thema  allge- 
meiner, indem  er  an  die  auch  unter  seinen  Lands- 
leuten schon  vielfach  gehörte  Klage:  »dass  die 
halcyoniscben  Tage  vorüber,  und  die  gegenwär- 
tigen Tage  die  der  Degeneration  seien«  an- 
knüpfend, die  Beobachtungen  über  das  mensch- 
liche Leben,  auf  welche  sich  jene  Klage  am 
meisten  zu  berufen  pflegt,  durch  den  Beweis  des 
Gegentheils  zu  widerlegen  unternimmt.  Als 
solche  vermeintliche  Beobachtungen  führt  der 
Verf.  an,  »dass  gegenwärtig  eine  grössere  Pro- 
portion in  der  Kindheit  und  in  der  Jugendzeit 
sterbe,  und  dass  es  von  denen,  welche  das 
zwanzigste  Jahr  überleben  nur  einer  kleineren 
Proportion  gestattet  sei,  sich  der  vollen  Periode 
der  nützlichen  Thätigkeit  zu  erfreuen  und  in 
einem  guten  hohen  Alter  zu  sterben«.  Alles 
dies  sagt  der  Verf.,  sei  ohne  Fundament;  es  sei 
im  Gegentheil  nachzuweisen,  dass  das  Leben 
so  wohl  an  Kraft  wie  an  Dauer  zugenommen 
habe  und  gegenwärtig  mehr  zunehme,  als  je 
auvor. 


Jarvis,  The  increase  of  human  life.  77 

Um  dies  zu  beweisen,  bringt  der  Verf.  nun 
eine  grosse  Anzahl  von  Mittheilungen  aus  alten 
Civilstandsregistern,  aus  Berichten  von  Tontinen 
und  Lebensversicherungsgesellschaften,  über  die 
Wirkungen  von  sanitarischen  Verbesserungen  in 
verschiedenen  Städten  und  von  Verbesserungen 
in  Wohnung,  Kleidung,  Nahrung,  Unterrichts- 
wesen u.  s.  w.,  die  eine  gute  Bekanntschaft  mit 
der  betreffenden  Litteratur  zeigen  und  auch  im 
Ganzen  recht  interessant  sind.  Auch  beweisen 
dieselben  meistentheils , was  der  Verf.  in  dem 
besonderen  Falle  bezweckt,  nämlich  eine  Ab- 
nahme der  Sterblichkeit,  obgleich  freilich  auch 
Missverständnisse  über  die  Bedeutung  und  Trag- 
weite statistischer  Zahlen  Vorkommen,  wie  denn 
z.  B.  die  aus  den  alten  Civilstandsregistern  von 
Genf  für  die  Zunahme  der  menschlichen  Lebens- 
dauer hergeleiteten  Beweise , auf  welche  ein  so 
grosses  Gewicht  gelegt  zu  werden  pflegt,  längst 
von  d’Ivernois  bündig  widerlegt  sind  (s.  liiblio- 
theque  universelle  de  Geneve , Sept  et  Oct . 1833 
und  des  Unterz.  Allgem.  Bevölkerungsstatistik 
II  S.  13).  Untersucht  man  nun  aber  den  sta- 
tistischen Werth  aller  dieser  Mittheilungen,  so 
reducirt  sich  derselbe  auf  die  abermalige  Be- 
stätigung des  zuerst  von  dem  Statistiker  J.  G. 
Hoffmann  aufgestellten  Theorems:  »Wohlstand 
und  Sittlichkeit  verlängern  zunächst  die  Dauer 
des  menschlichen  Lebens  und  sprechen  sich  da- 
her in  den  Gesetzen  der  Sterblichkeit  zählbar 
aus«  (Die  Bevölkerung  des  Preuss.  Staates  u.  s.  w. 
Berlin  1839.  S.  39).  — Dieser  Ausspruch,  der 
übrigens  nur  eine  schon  von  Süssmilch  ge- 
machte »überraschende  Entdeckung«  (s.  die  gött- 
liche Ordnung  in  den  Veränderungen  des  mensch- 
lichen Geschlechts  u.  s.  w.  2.  Aufl.  Berlin  1762 
II.  S.  287)  verallgemeinerte  und  den  wir  jetzt, 


78 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

« 

wie  wir  in  unserer  allgemeinen  Bevölkerungs- 
statistik nachzuweisen  unternommen  haben,  da- 
hin präcisiren  .können,  dass  Wohlstand  und  Sitt- 
lichkeit die  die  Mortalität  am  meisten  beherr- 
schenden Factoren  sind,  ist  allerdings  von  der 
grössten  statistischen  Wichtigkeit,  weil  uns  da- 
mit nun  in  der  Mortalität  der  sicherste  Maass- 
stab zur  Bestimmung  der  Gulturstufe  einer  Be- 
völkerung gegeben  ist,  und  insofern  Hr.  Jarvis 
dafür  auch  einige  neue  Belege  beigebracht  hat, 
ist  seine  Arbeit  auch  für  den  Statistiker  von 
Werth.  Ganz  ohne  Werth  ist  sie  dagegen  als 
Beweis  dafür,  dass  das  menschliche  Leben  wirk- 
lich zugenommen  habe,  d.  h.  dass  die  mittlere 
Lebensdauer  der  gegenwärtigen  Generation  ge- 
gen die  der  früheren  (etwa  in  den  letzten  100 
Jahren)  wirklich  länger  geworden  sei.  Um  das 
exact  statistisch  für  die  Bevölkerung  eines  Lan- 
des zu  beweisen  genügt  durchaus  nicht  der 
Nachweis,  dass  hie  und  da,  in  einzelnen  Loka- 
litäten und  in  einzelnen  Classen  der  Bevölke- 
rung die  Mortalität  abgenommen  hat,  sondern 
dazu  ist  durchaus  erforderlich  eine  Berechnung 
der  wirklichen  mittleren  Lebensdauer  oder  der 
Vitalität  der  Bevölkerung  in  den  mit  einander 
zu  vergleichenden  Perioden  und  eine  solche  Be- 
rechnung fehlt  nicht  allein  in  der  vorliegenden 
Arbeit,  sondern  sie  ist  überhaupt  auch  noch 
gar  nicht  möglich,  weil  wir  dazu  noch  für  keine 
Bevölkerung  die  unumgänglich  nothwendigen 
statistischen  Beobachtungen  besitzen.  Nothwen- 
dig  namentlich  sind  zur  Berechnung  der  wahren 
mittleren  Lebensdauer  einer  Bevölkerung  ge- 
naue und  detaillirte  Bevölkerungs- , Geburten- 
und  Sterbelisten,  aus  denen  die  Vertheilung  so- 
wohl der  Lebenden  wie  der  Gestorbenen  nach 
dem  Alter,  und  zwar  nicht  blos  nach'  (3-  oder 


Jarvis , The  increase  of  human  life.  79 

5-  oder  noch  mehrjährigen)  Alters classen, 
sondern  mindestens  nach  einzelnen  Jahren  und 
für  die  Untereinjährigen  auch  nach  Monaten,  zu 
ersehen  ist.  Solche  Bevölkerungs-  und  Sterbe- 
listen besitzen  wir  aber  erst  für  die  Bevölke- 
rung zweier  Länder,  nämlich  von  Belgien  und 
den  Niederlanden  und  auch  für  diese  erst  seit 
ein  paar  Decennien.  Somit  ist  bis  jetzt  auch 
nur  für  diese  beiden  Bevölkerungen  eine  Be- 
stimmung der  gegenwärtigen  wahren  mittleren 
Lebensdauer  möglich  und  möglicherweise  wird 
in  einigen  Decennien  für  diese  beiden  Bevölke- 
rungen die  Frage,  mit  welcher  unser  Verf.  sich 
beschäftigt,  wirklich  exact  statistisch  zu  beant- 
worten sein.  Für  keine  andere  Bevölkerung  lässt 
sich  aber  bis  jetzt  die  wirkliche  mittlere  Lebens- 
dauer auch  nur  der  gegenwärtigen  Generation 
genauer  bestimmen  und  scheint  es  uns  auch 
noch  sehr  problematisch,  ob  die  allerdings  sehr 
zu  wünschende  allgemeinere  und  jetzt  auch  wohl 
für  Deutschland  zu  hoffende  Vervollkommnung 
der  Bevölkerungsstatistik,  wie  sie  in  Belgien  und 
den  Niederlanden  angebahnt  worden,  für  die  Zu- 
kunft noch  hinreichend  sicheres  und  vollständi- 
ges Material  für  eine  exacte  Beantwortung  der 
Frage  über  eine  Veränderung  der  Lebensdauer 
unserer  Bevölkerungen  zu  liefern  im  Stande  sein 
würde,  da  dafür  auch  noch  eine  Voraussetzung 
erfordert  wird,  nämlich  die  einer  viel  mehr 
dauernden  Unveränderlichkeit  des  Territorial- 
bestandes unserer  Staaten  als  in  dem  eisernen 
Zeitalter,  in  welches  wir  eingetreten  sind,  wahr- 
scheinlich ist. 

Hiernach  ist  nun  leicht  einzusehen,  was  da- 
von zu  halten  ist,  wenn  der  Verf.  seine  Arbeit 
mit  der  Bemerkung  schliesst,  dass,  obgleich  die 
Civilisation  so  viel  für  das  menschliche  Leben  ge- 


80 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

than,  sie  ihre  Aufgabe  noch  nicht  gelöst  habe, 
weil  die  mittlere  Lebensdauer  statt  70  bis  80 
Jahr,  wie  es  sein  sollte,  jetzt  in  den  verschie- 
denen Staaten  nur  noch  zwischen  24  und  37 
Jahre  betrage.  Die  dabei  mitgetheilten  Anga- 
ben über  die  Lebensdauer  unter  den  Bevölke- 
rungen verschiedener  Staaten  haben  gar  keinen 
statistischen  Werth,  weil  sie  allein  nach  Sterbe- 
tabellen berechnet  sind,  und  die  so  gefundene 
Zahl  derartig  von  der  Geburtenziffer,  die  als 
statistisches  Moment  gar  keinen  festen  Werth 
hat,  abhängig  ist,  dass,  wenn  die  Geburtenziffer 
sinkt,  diese  Berechnung  eine  Verlängerung  der 
mittlern  Lebensdauer  ergeben  muss,  ohne  dass 
dieselbe  wirklich  irgend  zugenommen  hat.  Des- 
halb wird  auch  eine  solche  Berechnung  der  mitt- 
leren Lebensdauer  unserer  Bevölkerungen  fast 
immer  eine  Zunahme  ergeben,  weil  mit  dem 
Dichterwerden  der  Bevölkerung  regelmässig  die 
Geburtenziffer  sinkt  und  ebenso  wird  eine  solche 
Berechnung  für  Bevölkerungen  mit  niedriger  Ge- 
burtenproportion immer  eine  höhere  Lebens- 
dauer ergeben,  als  bei  Bevölkerungen  mit  höhe- 
rer Geburtenziffer,  wenn  auch  die  wirkliche  Le- 
bensdauer bei  den  letzteren  gar  nicht  kürzer,  ja 
vielleicht  sogar  länger  ist.  Aus  diesem  Grunde 
hat  denn  auch  die  Anwendung  der  so  berech- 
neten Lebensdauer  als  Maassstab  der  relativen 
Prosperität  verschiedener  Bevölkerungen  schon 
zu  ganz  absurden  Schlüssen  geführt,  wie  dies 
z.  B.  selbst  dem  angesehenen  französischen  Sta- 
tistiker Benoiston  de  Ghateauneuf  in  einer  Ar- 
beit über  die  mittlere  Lebensdauer  in  Frank- 
reich und  Preussen  (in  den  Memoires  de  l’Aca- 
demie  des  Sciences  morales  et  politiques  1850)  be- 
gegnet ist,  nach  welcher  dieselbe  in  Frankreich 
38,77  und  in  Preussen  29,66  Jahre  beträgt, 


Jarvis,  The  increase  of  human  life.  81 

woraus  dann  der  Schluss  gezogen  wird,  dass 
die  Bevölkerung  in  Frankreich  im  Ganzen  viel 
prosperirender  und  glücklicher  sein  müsse,  als 
in  Preussen,  während  es  doch  auf  der  Hand 
liegt,  dass  der  so  berechnete  Unterschied  in  der 
Lebensdauer  der  beiden  Bevölkerungen  allein 
darin  seinen  Grund  hat,  dass  das  Geburten- 
verhältnißs  in  Preussen  viel  höher  ist  als  in 
Frankreich.  (Vgl.  Allgem.  Bevölkerungsstatistik 
II.  S.  11  und  Ueber  den  Begriff  und  die  stati- 
stisch e Bedeutung  der  mittleren  Lebensdauer  in 
den  Abhandlungen  der  K.  Societät  der  Wissen- 
schaften zu  Göttingen  Bd.  8).  So  gerne  wir 
deshalb  auch  den  von  dem  Verf.  auf  seine  Ar- 
beit gewandten  Fleiss  anerkennen,  so  müssen 
wir  doch  bedauern,  dass  sie  wiederum  nur  der 
allgemein  verbreiteten  Meinung  Vorschub  leisten 
wird,  dass  die  mittlere  Lebensdauer  unserer 
Bevölkerungen  gegen  früher  bedeutend  zugenom- 
men  habe  und  mithin  dadurch  ein  grosser  wahr- 
hafter Culturfortschritt  auch  statistisch  consta- 
tirt  sei.  Dass  dies  ein  Irrthum  ist,  dass  vielmehr, 
soweit  die  vorhandenen  statistischen  Beobach- 
tungen darüber  ein  annäherndes  Urtheil  ermög- 
lichen, angenommen  werden  muss,  dass  in  den 
letzten  100  oder  150  Jahren  in  unseren  Staa- 
ten die  wirkliche  Lebensdauer  der  Bevölkerun- 
gen sicherlich  nicht  erheblich,  ja  wahrscheinlich 
sogar  gar  nicht  zugenommen  hat,  glauben  wir 
ziemlich  sicher  nachgewiesen  zu  haben  (Allgem. 
Bevölkerungsstatistik  I.  S.  11).  Mag  man  da- 
gegen nun  auch  dies  und  das  einwenden  kön- 
nen, weil  eben  die  Daten,  welche  für  unsere 
Argumentation  zu  Gebote  standen,  zu  einem 
wirklichen  Beweise  unzureichend  sind,  so  bleibt 
doch  wenigstens  so  viel  gewiss,  dass  die  Bevöl- 
kerungsstatistik zum  Zeugniss  dafür,  »wie  herr- 

6 


82 


Gott.  gel.  Ariz.  1873.  Stuck  3. 


Vv 


lieh  weit  wir  es  endlich  gebracht  haben«  bis- 
lang keineswegs  angerufen  werden  darf. 

Wir  benutzen  diese  Gelegenheit,  um  noch 
auf  zwei  andere  Schriften  über  die  Einwande- 
rung in  denVereinigten  Staaten  aufmerksam  zu 
machen,  die  freilich  nicht  mehr  ganz  neu  sind, 
aber  doch,  wie  wir  glauben,  bei  uns  noch  nicht 
die  verdiente  Beachtung  gefunden  haben.  Das 
von  Hrn.  Young  herausgegebene  Buch  besteht 
aus  zwei  Abtheilungen,  einem  Specialbericht  an 
den  Staatssecretär  der  Finanzen  Boutwell  und 
aus  Informationen  für  Einwanderer.  Der  Be- 
richt bringt  uns  zum  ersten  Male  in  10  Tabel- 
len eine  Zusammenstellung  der  seit  1820  im 
Statistischen  Bureau  von  Washington  gesammel- 
ten statistischen  Erhebungen  über  die  Einwan- 
derung in  den  fünfzig  Jahren  von  1820  bis 
1870,  d.  h.  von  der  Zeit  an , wo  eine  officielle 
Erhebung  über  die  Einwanderung  überhaupt  an- 
gefangen hat.  — Tab,  1.  stellt  die  Zahl  der 
Einwanderer  nach  Decennien  und  nach  den  Her- 
kunftsländern zusammen,  von  denen  im  Ganzen 
7 1 unterschieden  werden.  Wir  wollen  daraus  nur 
die  Zahlen  für  Gr.  Britannien  und  Irland  und 
für  Deutschland,  welche  zusammen  den  bei  wei- 
tem grössten  Theil  der  Einwanderer  geliefert 
haben,  mittheilen  und  dazu  zur  Vergleichung 
mit  der  neuesten  Zeit  die  betreffenden  Zahlen 
für  die  Jahre  1871*)  bis  1873  hinzufügen,  wie  sie 
seit  Veröffentlichung  dieses  Berichtes  von  dem 
Hrn.  Young  in  dem  Monthly  Report  of  the  Chief 
of  the  Bureau  of  Statistics . Treasury  Depart- 
ment ( 1871  June  p.  396 , 1872  June  p.  572  und 
1873  November  p . 481)  mitgetheilt  worden. 

*)  d.  h.  in  dem  mit  dem  30.  Juni  1871  endenden 
fiscalischen  Jahre,  wogegen  für  die  frühere  Zeit  theils 


Young,  Special  Report  on  Immigration.  83 


Decennien. 


Or.  Brit.  u.  Deutschland  Oerter 
Irland.  incl.  Prenss.  reich. 


fibrin 

Länder. 


tetal. 


1820—30.  81827  7729  — 62268  161824. 

1831—40.  283191  162464  — 163480  699126. 

1841—50.  1,047763  434626  — 280862  1,713261. 

1861—60.  1,338093  961667  — 308454  2,598214. 

1861-70.  1,106976  822007  9398  553070  2,491451. 


1820—70.  3,857850  2,368483  9398  1,318134  7,553865. 

1870- 71.  142894  82554  4884  91018  821350. 

1871- 72.  153626  141109  4182  105889  404806. 

1872- 73.  166843  149671  5765  137524  459803. 

1870—78.  463363  373334  14831  334481  1,185959. 


Daraus  geht  hervor,  dass  in  den  50  Jahren 
von  1820  bis  1870  die  Britischen  Inseln  (Gross- 
Britannien  und  Irland)  und  Deutschland  zusam- 
men beinahe  vier  Fünftel  der  gesammten  Ein- 
wanderer geliefert  haben  und  zwar  die  ersteren 
allein  reichlich  die  Hälfte  (Irland  allein  über  ein 
Drittel),  so  dass  die  ausserordentliche  Zunahme 
der  Bevölkerung  der  Ver.  Staaten  durch  die 
Einwanderung  fast  ganz  allein  dem  Zuzuge  aus 
den  genannten  beiden  Ländern  zu  danken  ge- 
wesen, wobei  jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  die 
Einwanderung  aus  Deutschland,  wenn  sie  auch 
die  aus  den  Brit.  Inseln  noch  nicht  erreicht 
hat,  doch  in  einem  höheren  Maasse  gestiegen 
ist,  als  jene  und  dass  speciell  die  aus  Oester- 
reich erst  in  dem  letzten  Decennium  angefan- 
gen, dann  aber  rasch  zugenommen  hat.  Alles 
dies  ersieht  man  noch  deutlicher  aus  der  Tab.  2 
(S.  XII — XIX),  die  die  hier  nach  Decennien  ge- 
gebenen Daten  für  die  einzelnen  Jahre  specifi- 
cirt.  Eine  genauere  Betrachtung  dieser  Tabelle 


nach  fiscalischen,  theils  nach  Kalendeijahren  gerechnet 
ist,  welche  doppelte  Rechnung  auch  in  den  späteren  Be- 
richten beibehalten  wird,  und  deren  statistischen  Werth 
nicht  wenig  beeinträchtigt. 


6* 


84 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

ist  sehr  interessant,  da  es  uns  aber  hier  an 
Baum  für  tabellarische  Zusammenstellungen  fehlt, 
so  wollen  wir  uns  auf  ein  paar  allgemeine  Be- 
merkungen darüber  beschränken.  Was  zunächst 
den  Gang  der  Einwanderung  im  Allgemeinen 
betrifft,  so  sehen  wir  fortwährende  Zunahme, 
doch  ist  dieselbe  nicht  regelmässig,  sie  geschieht 
in  Sprüngen  und  geht  auch  mehre  Male  wieder 
etwas  rückwärts.  Die  grösste  plötzliche  Zunahme 
erfolgte  im  Anfang  der  dreissiger  Jahre  und  im 
J.  1847  und  offenbar  beidemale  verursacht  durch 
ausserordentliche  Notstände  in  Europa,  die  er- 
stere  durch  die  in  Irland  eingetretene  Hungersnoth, 
die  andere  durch  die  Missernte  von  1846,  deren 
Wirkung  in  fast  allen  Staaten  Europas  sich 
auch  in  der  Bewegung  der  Bevölkerung  so  wie 
in  der  Criminalstatistik  so  deutlich  zeigte  und 
namentlich  auch  eine  grosse  Zunahme  der  deut- 
schen Auswanderung  zur  Folge  hatte  (vgl.  All- 
gem.  Bevölkerungsstatistik  II.  S.  247  ff.  und  S. 
429).  Von  1847,  wo  die  Einwanderung  gegen 
das  Vorjahr  um  100,000  erhöht  ward  (sie  be- 
trug 234,968  gegen  132,393  im  Mittel  der  Jahre 
1845  und  46)  steigt  dieselbe  fast  regelmässig 
bis  1854,  wo  sie  ihr  Maximum  erreicht  (427,833), 
sinkt  dann  allmählig  wieder  auf  ungefähr  92,000 
(91,920  im  J.  1861  und  91,927  im  J.  1862), 
fängt  dann  wieder  an  regelmässig  zu  steigen 
und  erreicht  ihr  zweites  Maximum  in  dieser 
fünfzigjährigen  Periode  im  J.  1869  mit  395,922, 
wovon  sie  im  letzten  Jahre  dieser  Periode  auch 
nur  wenig  herabsinkt,  nämlich  auf  378,796.  — 
Der  Einfluss  des  Jahres  1866  zeigt  sich  im  Gan- 
zen wenig  (1865  ==  249,061;  1866  = 318,494; 
1867  = 297,215);  aber  verhältnissmässig  be- 
deutend in  der  deutschen  Einwanderung  (1865 
= 80,797;  1866  = 110,440;  1867  = 124,766). 


Young,  Special  Report  on  Immigration.  85 

Diese  sinkt  dann  wieder  anf  91,168  im  Kalen- 
derjahre 1870  (82,554  im  fiscalischen  Jahre 
1870/7i),  um  dann  in  der  neuen  Periode  wieder 
rasch  zu  steigen  (1871/72  = 141,109 ; 1872/78  = 
146,671),  wie  aus  den  von  uns  für  diese  neue 
Periode  beigefügten  Daten  hervorgeht.  Bemer- 
kenswerth ist  auch  noch,  dass  die  irische  Ein- 
wanderung, welche  in  der  Periode  von  1820  bis 
1870  für  den  Gang  der  Einwanderung  überhaupt 
maassgebend  gewesen  und  während  dieser  Pe- 
riode die  aus  England  und  Schottland  bedeu- 
tend überstieg,  in  neuerer  Zeit  durch  die  aus 
England  überholt  worden  ist.  Im  Jahre  1869 
waren  unter  den  147,716  Einwanderern  aus  den 
Britischen  Inseln  noch  79,030  aus  Irland,  im 
folgenden  Jahre  (fiscalisches  Jahr  1870)  bildeten 
die  Irländer  fast  genau  die  Hälfte  (80,336  von 
160,677)  und  von  da  an  kommen  dieselben  in 
die  Minorität  (187%  57,439  unter  142,894; 
18772  68,732  unter  153,626  und  1872/s  77,344 
unter  166,843).  Und  das  ist  beachtenswerth, 
weil  das  eine  vVerbesserung  in  der  Qualität 
der  Einwanderer  anzuzeigen  und  damit  die 
längere  Zeit  drohende  Gefahr,  dass  das  irische 
oder  celtische  Element  in  der  nordamerikani- 
schen Bevölkerung  ein  bedenkliches  Ueberge- 
wicht  erhalten  würde,  beseitigt  zu  werden 
scheint,  zumal  wenn  man  hinzunimmt,  dass  ne- 
ben der  Einwanderung  von  Deutschen  und  Eng- 
ländern auch  neuerdings  die  aus  Schweden,  Nor- 
wegen, Dänemark,  Holland  und  der  Schweiz  so 
wie  die  aus  dem  Britischen  Amerika  bedeutend 
zugenommen  hat  und  somit  auch  dahin  wirken 
wird,  das  irische  Element  mehr  zurückzudrän- 
gen. Diese  zuletzt  genannten  Länder,  aus  de- 
nen noch  vor  10  Jahren  kaum  6 — 7000  Perso- 
nen jährlich  einwanderten,  haben  in  den  letzten 


86 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 


3 Jahren  227,055  Einwanderer  geliefert,  wie  die 
folgende  auch  sonst  interessante  Zusammenstel- 
lung zeigt. 


Einwande- 
rer ans 


Schweden. 


Nor- 

wegen, 


Däne- 

mark, 


Schweiz, 


Hol- 

land, 


Brit. 

Amerika. 


1870 —  71  10,699.  9,418.  2,016.  2,269.  993.  47,082. 

1871— 72  13,464.  11,421.  3,690.  3,650.  1,908.  40,176. 

1872— 73  14,303.  16,247.  4,931.  3,107.  3,811.  37,871. 

38,466.  37,086.  10,636.  9,026.  6,712.  125,129. 


Wir  müssen  uns  mit  diesen  wenigen  Bemer- 
kungen über  diese  Tabellen  begnügen,  obgleich 
eine  eingehendere  Betrachtung  derselben  noch 
vielfache  interessante  Belehrungen  zu  geben  ge- 
eignet ist,  weshalb  wir  auch  bedauern  müssen, 
dass  der  Herausgeber  diese  Tabellen  ganz  ohne 
Gommentar  gegeben  und  es  nicht  in  seinen  Plan 
aufgenommen  hat,  die  mitgetheilten  Daten  auch 
statistisch,  etwa  im  Anschluss  an  die  Unter- 
suchungen von  G.  Tucker  (Progress  of  the  Uni- 
ted States  in  population  and  wealth  in  fifty 
years  as  exhibited  by  the  decennial  Census , New- 
York  1843)  zu  verwerthen. 

Unter  den  übrigen  Tabellen  sind  die  inter- 
essantesten N.  3,  welche  die  Einwanderer  nach 
den  beiden  Geschlechtern  und  N.  5,  welche  die- 
selben nach  den  Professionen  unterscheidet. 
Beide  Tabellen  umfassen  jedoch  von  dem  gan- 
zen fünfzigjährigen  Zeitraum  nur  das  letzte 
Jahr  (das  fiscaliscbe  Jahr  1869/7o),  so  dass  wei- 
ter gehende  Vergleichungen  nicht  möglich  sind. 
Und  da  auch  die  Gruppirung  der  verschiedenen 
Professionen,  (deren  nicht  weniger  als  130  unter- 
schieden werden),  in  5 Classen  uns  zu  wenig 
rationellerscheint,  um  durch  deren  Mittheilung  die 
volkswirtschaftliche  Qualität  der  Einwanderung 
characterisiren  zu  können;  zu  erläuternden  Ta- 


Young,  Special  Report  on  Immigration.  87 

bellen  hier  aber  kein  Raum  ist,  so  wollen  wir 
nur  die  Proportion  der  beiden  Geschlechter  un- 
ter der  Einwanderung  im  Ganzen  betrachten, 
wie  sie  sich  aus  der  angeführten  Tabelle  und 
für  die  folgenden  drei  Jahre  aus  dem  oben  ci- 
tirten  Monthly  Report  ergiebt.  Yon  der  Ge- 
sammtzahl  der  Einwanderer  waren 

1869/7o  187%i  1771/t2  187*/78. 

männl.  GescH.  235,612  190,428  240,170  275,792. 
weibl.  - 151,591  130,922  164,636  184,011. 

total  387,203  321,350  404y806  459,803. 

Darnach  war  unter  den  Einwanderern  der  Be- 
trag des  männlichen  Geschlechts  im  Jahre  1869/70 
= 60,85;  1870/7t  = 59,86;  1881/72  = 59, 84  und 
1872/7s  — 59,98  und  im  Durchschnitt  dieser  vier 
Jahre  = 59,88  %•  Unter  den  Einwanderern  aus 
den  Britischen  Inseln  und  aus  Deutschland  für 
sich  genommen  war  das  Verhältniss  etwas  nie- 
driger, bei  den  ersten  im  Durchschnitt  57,58, 
bei  den  Deutschen  58,65  %.  Demnach  ist  im 
Ganzen  das  Uebergewicht  des  männlichen  Ge- 
schlechts unter  den  Einwanderern  gegenwärtig 
geringer,  als  man  vor  etwa  20  Jahren  an- 
nahm und  wohl  annehmen  musste  (s.  Tucker 
p.  86)  und  geht  daraus  wohl  hervor,  dass  mit 
der  Zunahme  der  Einwanderung  auch  das  Ver- 
hältniss der  Einwanderung  in  ganzen  Familien 
gegen  die  Einzeleinwanderung  sehr  zugenommen 
hat,  wofür  es  auch  spricht,  dass  unter  der  Mas* 
seneinwanderung,  wie  die  aus  den  Brit.  In- 
seln und  Deutschland  es  gegenwärtig  ist,  das 
Verhältniss  des  männlichen  Geschlechts  noch 
unter  dem  unter  der  Gesammteinwanderung 
zurückbleibt,  folglich  aus  den  Ländern  welche 
nur  eine  geringe  Zahl  von  Einwanderern  lie- 
fern, mehr  Einzeleinwanderung  von  Erwachsenen 


88 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

stattfindet,  wobei  das  männliche  Geschlecht  im- 
mer in  grösserer  Ueberzahl  sich  betheiligt.  Dies 
ist  am  entschiedensten  der  Fall  unter  der  Ein- 
wanderung aus  China.  Von  den  47,255  chine- 
sischen Einwanderern  während  der  letzten  4 
Jahre  waren  44,901  d.  h.  95%  männlichen  Ge- 
schlechts. Sehr  interessant  wäre  es  nun  das 
Verhältnis  der  beiden  Geschlechter  in  den 
verschiedenen  Altersclassen  und  nach  dem  Ci- 
vilstande  zu  erfahren,  weil  dies  Verhältnis  zur 
genaueren  Beurtheilung  des  Einflusses  der  Ein- 
wanderung auf  die  Zunahme  der  Bevölkerung 
in  den  Vereinigten  Staaten  und  auf  die  Umge- 
staltung des  nationalen  Elementes  unter  der- 
selben durch  die  von  den  Einwanderern  nach 
ihrer  Niederlassung  zu  erwartende  natürliche 
Vermehrung  von  grosser  Bedeutung  ist.  Sehr 
zu  bedauern  ist  deshalb,  dass  die  hier  mitge- 
theilten  Tabellen  über  die  Alters-  und  Civil- 
standsverhältnisse  der  Einwanderer  gar  keine 
Mittheilungen  geben,  so  dass  in  dieser  Beziehung 
noch  eine  grosse  Lücke  in  der  Erhebung  der 
statistischen  Daten  auszufüllen  sein  wird.  Ein 
kleiner  Anfang  ist  damit  auch  schon  gemacht, 
indem  die  neueren  Publicationen  in  dem  Monthly 
Report  unter  den  Einwanderern  vom  letzten 
Quartal  des  fiscalischen  Jahres  187%i  an  wenig- 
stens 3 Altersclassen  unterscheiden,  unter  15 
Jahr,  von  15  bis  40  Jahr  und  40  Jahr  und 
darüber,  und  nach  diesen  Mittheilungen  waren 
von  1,007,989  Einwanderern  222,857  unter  15 
J.,  650,312  zwischen  15  und  40  J.  und  134,820 
40  J.  und  darüber  alt,  es  kamen  mithin  auf 
diese  drei  Altersclassen  resp.  22,*,  64,5  und 
13,8%,  was  wohl  als  Mittelverhältniss  ange- 
nommen werden  kann,  obgleich  die  Registrirung 
insofern  ungenau  ist,  als  nicht  das  Verhältnis 


Young,  Special  Report  on  Immigration.  89 

angegeben  wird,  wie  es  unter  den  wirklich  an* 
gekommenen  bestand,  sondern  wie  es  unter  den 
Auswanderern  mit  Einschluss  der  unterwegs  Oe- 
storbenen, deren  Zahl  indess  nur  auf  1279 
oder  auf  wenig  über  1 pr.  Mille  angegeben 
wird,  bestanden  hatte.  Das  hier  ermittelte  Ver- 
hältniss  ist  noch  etwas  günstiger  als  das  von 
dem  Herausgeber  in  seinen  Erläuterungen  zu 
den  Tabellen  angenommene  (25%  unter  Fünf- 
zehnjährige, weniger  als  15%  Uebervierzig- 
jährige  und  über  60%  in  der  Periode  der  vol- 
len Kraft  stehende  Individuen).  Diese  Verthei- 
lung  nach  dem  Alter  unter  den  Eingewanderten 
ist  nun  allerdings  eine  viel  günstigere  als  die  un- 
ter der  Bevölkerung  in  Nord- Amerika  im  Gan- 
zen, bei  welcher  im  Durchschnitt  auf  diese  Alters- 
classen  resp.  41,8,  41, e und  17, x%  kommen. 
Es  geht  daraus  hervor,  dass  durch  die  Einwan- 
derung gerade  die  volkswirtschaftlich  werth- 
vollsten Altersclassen  noch  immer  verhältniss- 
mässig  sehr  viel  Verstärkung  erhalten  und  dass 
mithin  der  volkswirtschaftliche  Werth  der  Ein- 
wanderung grösser  ist,  als  er  in  der  Zahl  der 
Einwanderer  ausgedrückt  erscheint.  Mit  diesem 
Werth  der  Einwanderung  hat  neuerdings  beson- 
ders auch  Hr.  Friedr.  Kapp  sich  beschäftigt  und 
auf  Grund  der  bekannten  Untersuchungen  von 
Engel  in  Berlin  über  den  Preis  der  Arbeit  den 
Werth  der  Einwanderer  zu  durchschnittlich 
1,125  Dollars  pr.  Kopf  berechnet.  Hr.  Young, 
der  in  seinen  Erläuterungen  ebenfalls  auf  diese 
Frage  zu  sprechen  kommt,  wendet  gegen  Hr. 
K.  ein,  dass  er  bei  seinen  Untersuchungen  Pro- 
ductionskosten  mit  Werth  verwechselt  habe;  und 
das  ist  vollkommen  richtig.  Wenn  Engel  durch 
seine  Berechnungen  nach  weist,  dass  jeder  Mensch 
während  seiner  Jugendperiode  durch  den  von 


90  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stfick  3. 


ihm  verursachten  Aufwand  von  Kosten  für  Er- 
nährung, Kleidung,  Erziehung  u.  s.  w.  eine  ge- 
wisse Erziehungsschuld  bei  der  Gesellschaft  con- 
trahirt.  die  er  während  der  Periode  seiner  Kraft 
und  Thätigkeit  durch  einen  gleichen  Aufwand 
auf  die  Heranbildung  der  neuen  Generation 
wieder  abtragen  muss,  wenn  die  Gesellschaft  im 
Ganzen  nicht  an  Culturcapital  Einbusse  erleiden 
soll,  so  ist  das  volkswirtschaftlich  betrachtet, 
vollkommen  richtig,  wenn  aber  diese  abzu- 
tragende Erziehungsschuld  eines  Menschen  als 
der  wirkliche  Werth  desselben  angenommen 
wird,  wie  Hr.  K.  es  thut,  so  ist  das  ebenso  irrig 
als  wenn  man  jede  Schuldforderung  als  wirk- 
liches Vermögen  des  Gläubigers  ansehen  wollte, 
während  doch  bekanntlich  nicht  jede  contrahirte 
Schuld  auch  wirklich  abbezahlt  wird,  nicht  zu 
gedenken,  dass  der  Werth  des  geistigen  Capi- 
tals, welches  die  Einwanderer  den  Vereinigten 
Staaten  durch  ihre  Erziehung,  ihren  ausgebilde- 
ten Geschmack  und  ihr  erfinderisches  Genie  zu- 
geführt haben,  und  wovon  wie  Hr.  Young  sagt 
auf  jeden  Schritt  der  Einfluss  gefühlt  werde, 
gar  nicht  in  Geld  zu  schätzen  ist. 

Zu  Ende  seines  Berichtes  wirft  der  Verf., 
nachdem  er  hervorgehoben , dass  Reichthum, 
Macht  und  Prosperität  des  Landes  durch  die 
Einwanderung  in  grossartiger  Weise  gefordert 
worden,  noch  die  Frage  auf,  welche  Pflichten 
eine  gesunde  Politik  der  Regierung  im  Ange- 
sichte eines  Interesses  von  so  grosser  nationaler 
Bedeutung  auferlege.  Zwei  Dinge,  sagt  der 
Verf.,  werden  von  der  Regierung  gebieterisch 
erfordert:  1)  Schutz  und  2)  zuverlässige  Beleh- 
rung der  Einwanderer.  Den  nothwendigen  Schutz 
den  Einwanderern  zu  gewähren,  habe  die  Re- 
gierung sich  nun  angelegen  sein  lassen  durch 


Young,  Special  Report  on  Immigration.  91 

das  Einwanderungsgesetz  ( Passenger  Act)  von 
1855  und  obgleich  dasselbe  in  der  Praxis  und 
in  der  Auslegung,  welche  es  gefunden,  wohl  sei« 
nen  Zweck  nicht  völlig  erreicht  habe,  so  sei 
doch  zu  hoffen,  dass  die  fortgesetzten  Bemühun* 
gen  des  Schatzdepartements,  darüber  eine  über- 
einstimmende Legislation  von  Seiten  der  leiten- 
den Nationen  Europa’s  und  der  Vereinigten  Staa- 
ten zu  Wege  zu  bringen  erfolgreich  sein  wer- 
den. Diese  Hoffnung  ist  ja  auch  seitdem  schon 
zum  Theil  erfüllt  worden,  wobei  jedoch  noch  zu 
bemerken  ist,  dass  auch*  der  Schutz  der  Ein- 
wanderer nach  ihrer  Ankunft  in  den  Vereinig- 
ten Staaten  gegen  die  Ausbeutung  und  den  Be- 
trug dortiger  Commissionäre  und  Speculanten 
aller  Art,  der  bisher  fast  nur  philanthropischen 
Privatvereinen  überlassen  worden,  noch  der  be- 
sonderen Fürsorge  der  amerikanischen  Regie- 
rungs-Behörden bedarf.  Ebenso  obligatorisch 
fährt  der  Verf.  fort,  sei  aber  noch  die  Samm- 
lung und  Verbreitung  zuverlässiger  Belehrung 
für  die  Einwanderer.  Denn  obgleich  allerdings 
die  Angehörigen  fremder  Länder  nicht  mehr 
den  übertriebenen  Schilderungen  glaubten,  wel- 
che ihnen  von  dem  grenzenlosen  Reichthume  des 
Landes  durch  interessirte  Parteien  gemacht 
werden,  so  wären  doch  die  Verhältnisse  der 
verschiedenen  Theile  des  Landes  und  die  Vor- 
theile, welche  sie  den  Einwanderern  darbieten, 
noch  wenig  bekannt.  Um  nun  solche  Beleh- 
rung über  die  verschiedenen  Staaten  der  Union 
zusammenzubringen,  und  somit  die  Einwanderer 
zur  richtigen  Wahl  der  ihnen  zusagenden  Nie- 
derlassungsstätte zu  leiten,  hat  unser  Verf.  eine 
Reihe  hierauf  bezüglicher  Fragen  zusammenge- 
stellt und  dieselbe  den  Steuerbeamten  (< assessors 
of  internal  revenue)  in  allen  Staaten  im  Westen 


92 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

und  Süden  von  Pennsylvanien  zur  Beantwortung 
zugeschickt  und  die  auf  diese  Frage  eingelaufe- 
nen Antworten  zusammen  mit  einer  Anzahl  be- 
sonderer selbstständiger  Berichte  werden  nun 
von  dem  Verf.  in  der  2.  Abtheilung  seines  Bu- 
ches mitgetheilt,  welche  auf  200  Seiten  bei  wei- 
tem den  grossem  Theil  desselben  einnimmt. 

Die  Punkte,  auf  welche  sich  diese  Fragen 
beziehen,  sind  vollständig  genug  aus  dem  ange- 
führten Titel  des  Buches  zu  ersehen,  so  dass 
wir  die  einzelnen  Fragen  hier  nicht  aufzuzählen 
brauchen,  um  darzuthun,  dass  sie  zweckmässig 
gewählt  sind,  um  über  die  wichtigsten  ökono- 
mischen und  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse 
Aufschluss  zu  erlangen.  Der  Verf.  hat  es  vor- 
gezogen, die  Antworten  und  Berichte  so  ab- 
drucken  zu  lassen,  wie  sie  eingelaufen  sind,  was 
ihren  unmittelbaren  Nutzen  für  Einwanderer 
wohl  etwas  beeinträchtigen  möchte,  ihren  Werth 
für  den  Statistiker  aber  nur  erhöhen  kann,  denn 
eine  Verarbeitung  derselben  würde  der  Darstel- 
lung doch  auch  eine  mehr  oder  weniger  subjec- 
tive Färbung  gegeben  haben.  So  erhalten  wir 
hier  in  der  That  eine  Enquete  über  die  wich- 
tigsten ökonomischen  und  volkswirtschaftlichen 
Zustände  des  grössten  Theils  der  Vereinigten 
Staaten,  die  in  Verbindung  mit  der  3.  Abtei- 
lung des  Buches  (S.  201 — 231,  welche  eine  von 
dem  Census-Superintendenten  Hr.  Francis  A. 
Walker  zusammengestellte  Reihe  von  sehr  inter- 
essanten Tabellen  über  den  durchschnittlichen 
Wochenlohn  fiir  Manufactur-,  Handwerks-  und 
Land- Arbeit,  über  die  Preise  von  Lebensmitteln, 
Material-  und  Manufacturwaaren  und  sonstige 
Haushaltsbedürfnisse  und  über  Hausmiethen  in 
den  verschiedenen  Manufacturdistricten  des  Lan- 
des bringt),  ein  überaus  reiches  Material  für 


Handbook  for  Immigrants  to  the  United  States.  93 

eine  volkswirtschaftliche  Statistik  der  Vereinig* 
ten  Staaten  darbietet. 

Dieselbe  Aufgabe,  welche  Hr.  Young  in  der 
2.  Abtheilung  seines  Buches  verfolgt,  hat  sich 
das  zuletzt  in  der  Ueberschrift  genannte  Hand- 
buch für  Einwanderer  nach  den  Vereinigten 
Staaten  gestellt.  Es  hat  dieselbe  aber  allgemei- 
ner aufgefasst,  indem  es  mit  den  Nachrichten 
über  die  volkswirthschaftlichen  Verhältnisse  der 
verschiedenen  Staaten  der  Union  auch  eine 
kurze  geographisch-statistische  Beschreibung  der 
Vereinigten  Staaten  und  eine  allgemeine  Beleh- 
rung für  Einwanderer  verbindet.  Diese  letztere 
( Part  1.  General  Directions  p.  1 — 23)  bildet, 
obgleich  nur  kurz  gehalten,  doch  u.  E.  den  werth- 
vollsten Theil  des  Buches,  indem  sie  mit  voll- 
kommener Kenntni8s  der  wirklichen  Verhältnisse 
darüber  Auskunft  giebt,  was  der  Einwandererin 
Nord-Amerika  zu  erwarten  hat,  für  wen  sich 
die  Einwanderung  dahin  schickt  und  nicht 
schickt  und  wessen  er  sich  dort  nach  seiner 
Ankunft  zunächst  zu  versehen  hat,  und  dabei 
auch  keine  Absicht  verräth,  den  Einwanderer 
vorzugsweise  für  die  Niederlassung  auf  gewissen 
zum  Verkauf  ausgebotenen  Ländereien  von  Eisen- 
bahngesellschaften zu  gewinnen,  wie  auf  den  er- 
sten Blick  zwei  der  beigegebenen  Charten  wohl 
argwöhnen  lassen  könnten.  Die  2.  Abtheilung 
(S.  25 — 53)  bringt  eine  kurze  geographisch- 
statistische Beschreibung  des  Landes  mit  Her- 
vorhebung einiger  die  Einwanderer  besonders 
interessirenden  Gesetze.  Hierauf  werden  in 
der  3.  und  4.  Abth.  (S.  56 — 107)  die  einzelnen 
Staaten  und  Territorien  in  ihren  geographischen 
und  volkswirthschaftlichen  Verhältnissen  vorge- 
führt, worauf  in  einer  5.  Abtheilung  (S.  108— 
112)  noch  über  die  öffentlichen  Ländereien  und 


94  Gott»  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

die  Erwerbung  derselben  einige  Auskunft  und 
endlich  in  einem  Anbange  einige  Mittheilungen 
über  Einwanderer-Unterstützungs-Gesellschaften 
in  verschiedenen  Staaten,  über  die  von  der 
Northern  Pacific  Raüroad  zum  Verkaufe  ausge- 
botenen Ländereien  und  über  die  auf  Ward’s 
Island  bei  New-York  bestehenden  wohlthätigen 
Anstalten  für  Einwanderer  hinzugefügt  werden. 
Das  Ganze  bildet  zusammen  mit  den  beigege- 
benen Charten  — einer  allgemeinen  recht  gu- 
ten Charte  der  Vereinigten  Staaten  aus  der  be- 
kannten geographischen  Anstalt  von  Colton  in 
New-York,  einer  kleinen  Charte  der  von  der 
Burlington  and  Missouri  River  Raüroad  Com- 
pany in  Nebraska  und  einer  grösseren  der  von 
verschiedenen  Eisenbahngesellschaften  in  Jowa 
zum  Verkauf  gestellten  Ländereien  — einen 
wirklich  praktischen  Führer  für  Auswanderer 
und  wäre  der  Schrift  wohl  eine  gute  deutsche 
Bearbeitung  durch  einen  unparteiischen  Sach- 
verständigen zu  wünschen.  Sehr  verlohnen 
würde  es  sich  aber  auch  das  hier  und  beson- 
ders das  von  Hrn.  Young  därgebotene  reiche 
Material  zu  einer  Neubearbeitung  der  volks- 
wirtschaftlichen Statistik  der  Vereinigten  Staa- 
ten oder  auch  zu  solchen  volkswirtschaftlichen 
Monographien  zu  verwerten,  wie  sie  von  C.  L. 
Fleischmann  in  seinen  beiden  für  Ansiedler  in 
den  Vereinigten  Staaten  bestimmten  Werken: 
»der  amerikanische  Landmann«  1848  und  »Er- 
werbszweige, Fabrikwesen  und  Handel  der  Ver. 
Staaten  von  Nordamerika«  1850  geliefert  wor- 
den, die  ihrer  Zeit  eine  sehr  zeitgemässe  Auf- 
gabe vortrefflich  lösten,  gegenwärtig  aber  natür- 
lich mehr  oder  weniger  veraltet  sind  und  eine 
der  Gegenwart  genügende  Neubearbeitung  so- 


de  Carne,  Voyage  en  Indo-Chine  etc.  95 

wohl  im  Interesse  der  deutschen  Auswanderer 
wie  in  dem . der  nordamerikanischen  Statistik 
überhaupt  sehr  wünschenswerth  machen. 

Wappäus. 


Voyage  en  Indo-Chine  et  dans  l’empire  Chi- 
nois  par  Louis  de  Carne,  membre  de  la 
commission  d’exploration  du  Mekong.  Ouvrage 
or  ne  de  gravures  et  d’une  carte.  Paris  1872. 

• Der  Verf.  des  obigen  Buchs,  der  junge  Graf 
Carne,  wurde  von  der  französischen  Regierung 
der  im  Jahre  1866  organisirten  Expedition, 
welche  den  Lauf  und  die  Schiffbarkeit  des 
grossen  hinterindischen  Stromes  Mekong  und  die 
durch  ihn  und  seine  Thäler  angebahnten  Ver- 
bindungen mit  dem  westlichen  China  erforschen 
sollte,  als  Delegirter  des  Ministeriums  der  aus- 
wärtigen Angelegenheiten  und  als  Secretair  bei- 
gegeben und  beauftragt,  vorzugsweise  die  politi- 
schen und  Handels  - Angelegenheiten  Hinter- 
indiens und  West- Chinas  zu  studiren.  Der  Chef 
dieser  merkwürdigen,  schon  in  vielen  französi- 
schen, deutschen  und  andern  Blättern  besproche- 
nen Unternehmung,  M.  de  Lagree,  erlag  unter- 
wegs an  der  Gränze  Chinas  den  Beschwerden 
derReise  und  auch  unser  Verf.  starb  einige  Zeit 
nach  seiner  Heimkehr  im  Jahre  1870,  nachdem 
er  kurz  zuvor  einen  Bericht  über  seine  Erleb- 
nisse und  Anschauungen  in  Hinter-Indien  und 
China  abgefasst  und  vollendet  hatte.  Sein  Va- 
ter, Mitglied  der  französischen  Akademie,  hat 
diesen  Bericht  in  dem  vorliegenden  Werke  als 
ein  Monument  der  Bestrebungen  und  des  Fleisses 
Beines  Sohnes  publicirt.  — Dies  ist  wohl  das 
Beste,  was  man  von  dem  unter*  so  rührenden 
Verhältnissen  und  Umständen  entstandenen  Buche 


96 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  3. 

sagen  kann.  Die  Rücksicht  auf  diese  Umstände 
hindert  uns,  die  Unzulänglichkeit  und  Schwäche 
der  Arbeit  in  Bezug  auf  Anmuth  und  Klarheit 
der  Sprache,  Anschaulichkeit  der  Darstellung, 
Schärfe  der  Beobachtungen,  Neuheit  der  Ideen 
und  Ansichten,  so  wie  in  Bezug  auf  die  zu  ihrer 
Abfassung  mitgebrachten  Kenntnisse  und  ander- 
weitigen Befähigungen  näher  zu  beleuchten  und 
durch  Beispiele  zu  begründen.  Das  Werk  eines 
Märtyrers,  das  von  einem  liebenden  Vater  dar- 
geboten wird,  im  Detail  zu  zerlegen  unterlässt 
man  lieber,  wenn  es  nicht  durchaus  geboten  ist. 
Und  es  bei  dem  vorliegenden  Werke  zu  thnn 
ist  um  so  weniger  nöthig,  da  wir  bald  den 
offiziellen  Bericht  über  die  Expedition  erhalten 
sollen.  »Das  gelehrte  Europa«,  so  heisst  es  in 
der  Vorrede  zu  dem  Buche  S.  XI,  »wird  im 
Stande  sein,  über  die  Wichtigkeit  der  Arbeiten 
der  Commission  des  Mekong  zu  urtheilen,  nach- 
dem das  Werk,  welches  vom  Ministerium  der 
Marine  und  der  Colonien  vorbereitet  ist,  das 
Tageslicht  erblickt  haben  wird.  Aufgehalten 
durch  die  traurigen  Ereignisse  des  Krieges,  ist 
diese  Arbeit  jetzt  wieder  aufgenommen  und 
wird  unter  der  Direction  des  Marine-Offiziers 
Garnier,  mit  dem  Beistände  des  Schifislieutenants 
Delaporte  und  der  Doctoren  Joubert  und  Tho- 
rei ohne  Unterbrechung  fortgesetzt«.  — Wenn 
wir  dieses  Werk  besitzen,  wird  es  an  der  Zeit 
sein,  »die  wichtigen  Beobachtungen,  die  kost- 
baren Sammlungen,  die  neuen  Ergebnisse  für 
Geographie,  Naturgeschichte  und  Völkerkunde«, 
welche  man  dem  Publikum  verspricht,  zu  wür- 
digen und  herauszustellen,  was  unter  der  Füh- 
rung des  vorliegenden  »Avantcoureur«  zu  thun 
nicht  sehr  gedeihlich  wäre. 

Bremen.  J.  G.  Kohl. 


97 


GSttingisehe 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  4.  28.  Januar  1874. 


D.  Martini  Lutheri  Opera  latina  varii  argu- 
menti  ad  reformat] onis  historiam  imprimis  per- 
tinentia.  Guravit  Dr.  Henricus  Schmidt, 
scholae  latinae  Erlangensis  praeceptor.  Yol.  VU. 
Francofurti  a/M.  Sumptibus  Heyderi  et  Zimmeri. 
1873.  IV  und  572  SS.  in  8°. 

Mit  diesem  Bande  ist  die  Sammlung  von 
Luthers  lateinischen  reformationsgeschichtlichen 
Werken,  welche  sich  an  die  in  gleichem  Ver- 
lage erschienenen  lateinischen  exegetischen  und 
an  die  deutschen  Werke  des  Reformators  an- 
reiht, beschlossen,  und  es  ist  daher  wohl  ange- 
messen, dieses  ?on  der  Kritik  allgemein  sehr 
willkommen  geheissene  und  als  höchst  verdienst- 
voll anerkannte  Unternehmen  auch  in  diesen 
Blättern  einer  eingehenden  Besprechung  zu  unter- 
ziehen. Diese  Besprechung  soll  sich  allerdings 
ausführlich  nur  mit  dem  letzten  Band  beschäf- 
tigen, sie  soll  aber  auch  ein  kurzes  Wort  über 
die  vorangehenden  Bände  sagen. 

Die  Sammlung  wurde  im  Jahr  1864  begon- 
nen und  bildet  nun,  da  sie  vollendet  ist,  ein 

7 - . 


98 


Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

gut  abgeschlossenes  Ganze , das  freilich  nur  das 
Bild  eines  kleinen  Theiles  der  Wirksamkeit 
Luthers  gibt.  Denn  vom  J.  1523  an  sind  die 
meisten  wesentlichen  reformatorischen  Schriften 
L/s  in  deutscher  Sprache  abgefasst  und  daher 
von  unserer  Sammlung  ausgeschlossen,  so  dass 
den  schriftstellerischen  Erzeugnissen  fast  eines 
Vierteljahrhunderts  (1523 — 1546)  ein  einziger 
Band  gewidmet  ist,  eben  der  vorliegende  7., 
während  die  6 ersten  für  die  Schriften  aus  den 
Jahren  1517 — 1523  bestimmt  sind. 

Nur  wenige  gegen  Luther,  mehrere  für  Lu- 
ther veröffentlichte  Schriften  und  viele  die  Sache 
Luthers  und  der  Reformation  betreffende  Ur- 
kunden und  Aktenstücke  sind  aufgenommen, 
den  wesentlichen  Inhalt  bilden  natürlich  die 
Schriften  Luthers  selbst.  Aus  diesen  hebe  ich 
hervor:  Die  lateinischen  Predigten;  die  Schrif- 
ten, welche  den  Ablassstreit  behandeln ; die 
Acta  Augustana;  den  Schriftenkampf  mit  Joh. 
Eck  und  die  durch  die  Leipziger  Disputation 
hervorgerufenen  literarischen  Erzeugnisse ; die 
Schriften  gegen  die  verdammenden  Urtheile  der 
verschiedenen  theologischen  Fakultäten  und  ge- 
gen die  päpstliche  Bulle ; die  Appellation  an 
das  Concil  und  die  Erklärung  über  die  Ver- 
brennung der  Bulle  des  Papstes;  die  Schrift 
über  die  babylonische  Gefangenschaft,  die  ver- 
schiedenen Abhandlungen,  welche  der  Wormser 
Reichstag  veranlasst,  die  Schriften  über  die  Ab- 
schaffung der  Messe,  über  die  Klostergelübde 
und  gegen  König  Heinrich  VIII.  von  England. 

So  bildet  die  Sammlung  ein  stattliches 
Ganze,  von  dem  kein  wesentlicher  Theil  fehlt. 
Fügen  wir  hinzu,  dass  die  Ausstattung  des  Wer- 
kes würdig,  der  Druck  recht  correct  und  der 
Preis  mässig  ist,  so  ist  damit  genug  gesagt,  um 


Schmidt , D.  Martini  Lutheri  Opera  etc.  99 

das  Werk  allen  denen,  die  sich  als  Forscher 
oder  Liebhaber  mit  dem  Reformationszeitalter 
beschäftigen,  dringend  zu  empfehlen. 

Doch  bei  aller  Anerkennung  für  das  Aeussere 
und  den  Plan  der  Sammlung  erheben  sich  in 
Betreff  der  Ausführung  einzelne,  mitunter  schwer- 
wiegende Bedenken. 

Bei  einer  wesentlich  historischen  Sammlung, 
wie  der  vorliegenden,  in  der  häufig  Personen 
und  Dinge  genannt,  Anspielungen  gemacht  wer- 
den, welche  einer  Erklärung  bedürfen,  hätte  den 
sachlichen  Anmerkungen  ein  grösserer 
Platz  eingeräumt  werden  müssen.  Sie  fehlen 
nicht  ganz,  aber  werden  im  Verlaufe  des  Wer- 
kes immer  geringer ; daher  bleiben  manche 
Punkte  unerledigt  oder  ganz  unberührt,  wäh- 
rend es  doch  gerade  Aufgabe  dieser  Sammlung 
hätte  sein  sollen,  die  Resultate  angestellter 
Forschungen  zusammenzustellen  und  die  For- 
schung über  streitige  Punkte  abzuschliessen. 
Auch  die  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Schrif- 
ten, welche  in  das  Verständnis  derselben  durch 
bibliographische  und  historische  Angaben  ein- 
führen sollen,  sind,  wie  ich  an  einzelnen  Bei- 
spielen zeigen  werde,  nicht  immer  mit  der  ge- 
hörigen Sorgfalt  gearbeitet. 

Für  den  Text  der  einzelnen  Schriften  wäre 
es  nöthig  gewesen,  immer  auf  die  ersten  Drucke 
zurückzugehn,  ihnen  im  Wesentlichen  zu  folgen 
und  spätere  Texte  nur  zur  Controlirung  dieser 
Grundlage  zu  benutzen.  Ein  solches  Verfahren 
wird  manchmal  eingeschlagen,  aber  nicht  oft 
genug  und  ich  habe  unten  bei  der  Mittheilung 
der  Resultate  über  die  Durcharbeitung  eines 
Bandes  manche  Beispiele  zusammengestellt,  bei 
denen  diese  Unterlassung  den  kritischen  Werth 
und  die  Vollständigkeit  der  Ausgabe  geschädigt 

7*  ..  . 

c * 

O * C W 

.1  J 


100  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  4. 


hat.  Aber  selbst  wenn  die  ersten  Drucke  Vor- 
gelegen haben,  werden  die  Lesarten  der  Jenen- 
ser Ausgabe  der  Opp.  Luth.  (15571  in  den  Text 
aufgenommen  oder  in  den  Anmerkungen  citirt, 
ein  Verfahren,  das  mir  verfehlt  oder  überflüssig 
zu  sein  scheint.  Ein  ähnlicher  Fehler  ist  das 
Citiren  der  Aurifaberschen  Briefsammlung,  wah- 
rend de  Wette’s  Ausgabe  in  aller  Händen  ist» 
oder  das  Verweisen  auf  Seckendorfs  Historia 
Lutheranismi,  die  reineren  Quellen  Platz  ma- 
chen könnte. 

Ein  anderes  Erfordemiss,  das  man  mit  Becht 
an  Editionen  stellt,  die  genaue  Angabe  nämlich, 
wo  Bibel-  oder  Classikerstellen,  die  im  Wort- 
laute oder  dem  Sinne  nach  angegeben  werden, 
sich  finden,  wird  gleichfalls  nicht  erfüllt.  Bei 
Stellen  alter  Schriftsteller  und  Kirchenväter 
wird  überhaupt  kein  Versuch  dazu  gemacht,  bei 
Bibelstellen,  für  die  Luther  Buch  und  Kapitel 
angiebt,  nie  der  Vers,  bei  solchen,  für  die  Lu- 
ther keine  Stellenangabe  macht,  nur  in  den  sel- 
tensten Fällen  die  Stelle  citirt.  So  fehlt  z.  B. 
Bd.  VII,  S.  64  (5  mal),  66,  79,  473,  482,  484, 
486,  501,  513  jede  Angabe,  und  dieses  Ver- 
zeichniss liesse  sich  bei  Betrachtung  der  ganzen 
Sammlung  vielfach  vermehren.  Die  Stellen- 
angaben selbst  sind  auch  nicht  immer  fehlerfrei, 
so  muss  es  VII,  S.  54  statt  Hebr.  3, : Hebr  4,  2 
heissen. 

Ferner  scheint  mir  die  chronologische 
Ordnung  nicht  immer  streng  eingehalten  wor- 
den zu  sein,  obwohl  der  Herausgeber  in  seiner  der 
Sammlung  vorausgeschickten  kurzen  Einleitung 
die  Wahrung  einer  solchen  als  erstes  Erforder- 
niss zur  Erkenntniss  der  Wirksamkeit  Luthers 
hinstellt.  So  finde  ich,  dass  bereits  im  6.  Bande 
drei  Stücke  enthalten  sind,  welche  dem  Jahre 


Schmidt,  D.  Martini  Lutheri  Opera  etc.  101 

1523  angehören , ohne  dass  eine  genauere  Da- 
tirung  möglich  gewesen  wäre,  denen  im  7.  Bande 
zunächst  eine  Okt.  1523  geschriebene  folgt, 
dann  eine,  die  auf  Grund  einer  nicht  allzustich- 
haltigen Vermuthung  dem  Jahre  1523  zugewie- 
sen wird,  während  sie  15  3 1 zuerst  gedruckt 
wurde,  dann  eine  Schrift  aus  dem  Febr.  1523, 
zuletzt  eine  Dec.  1523. 

Bei  der  Durchnahme  dieses  Theils  der  Werke 
Luthers  fesselten  mich  zunächst  die  Bd.  VI,  S. 
1—24  mitgetheilten  Acta  D.  Mart.  Lutheri  in 
comitiis  principum  Wormatiae  1521.  Doch  ward 
ich  in  meiner  Erwartung,  hier  eine  Erwähnung 
oder  Weiterführung  der  von  Waltz  (Forsch, 
z.  d.  Gesch.  1868)  Burkhardt  (Ztschr.  f.  hist. 
Theol.  1869),  Enaake  (Zeitschr.  f.  luth.  Theol. 
u.  K.)  begonnenen  Untersuchungen  zu  finden 
getäuscht,  — die  betreffenden  Arbeiten  werden 
nicht  erwähnt,  auch  die  Frage,  ob  die  Schrift 
denn  überhaupt  von  Luther  stammt,  nicht  be- 
rührt. Zudem  wird,  obgleich  der  Herausgeber 
die  gleichzeitigen  Drucke  kennt,  der  Text  nach 
der  Jenenser  Ausgabe  1 5 57  gegeben,  und 
nur  für  Luthers  Rede  vor  dem  Kaiser  die  Ab- 
weichungen der  ed.  princ.  als  Varian- 
ten angeführt.  Daher  steht  im  Text:  Hier 
stehe  ich,  Ich  kan  nicht  anders,  Gott  helff  mir, 
Amen,  und  in  der  Anm.  heisst  es:  In  ed.  separ. 
tantummodo  legitur : Gott  helff  mir  Amen ; selbst 
offenbare  Druckfehler  der  späteren  Ausgabe  wer- 
den beibehalten,  wie  S.  13  Z.  7:  timere  Dei 
st.  timore;  kleinerer  Abweichungen,  bei  denen 
eine  tendenziöse  Abschwächung  in  der  späteren 
Ausgabe  leicht  ersichtlich  ist,  ganz  zu  ge- 
sch weigen. 

Die  Erkenntniss  eines  solchen , wie  mir 
scheint,  nicht  ganz  kritischen  Verfahrens  veran- 


102  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 


lassten  mich  den  letzten  Band  genau  durcbzu- 
gehn,  und,  wo  es  anging,  Vergleichungen  mit 
dem  Originaldruck  anzustellen. 

Der  Band,  welcher  Schriften  aus  den  Jahren 
1523 — 44  enthält  (1525  auf  dem  Titel  ist  einer 
der  wenigen  Druckfehler,  die  ich  bemerkt  habe) 
enthält  zuerst  die  erste  Mess-  und  Beichtord- 
nung, dann  das  zuerst  1531  gedruckte  Exem- 
plum  theologiae,  über  dessen  Aufnahme  an  die- 
ser Stelle  schon  oben  gesprochen  ist. 

Dann  folgt  (S.  41 — 60)  die  Schrift  gegen 
Cochläus,  bei  deren  Ausgabe  nicht  wenige  Män- 
gel bemerkt  werden  müssen.  Zunächst  sind  die 
bibliographischen  Angaben  nicht  vollständig. 
Unerwähnt  bleibt  folgende  Ausgabe:  Adversus 
| armatum  virum  | Cokleum  Mar  | tinus  Luther 
(ein  umgekehrtes  Blatt)  Wittembergae  | Anno 
MD  | XXIII  | (Alles  mit  grossen  Buchstaben) 
Colum  mulierem  decet  | Et  colus  decet  mulieres|. 
Fängt  auf  der  Rückseite  des  Titels  gleich  an: 
Vilheyllo,  wie  dieser  Name  durchgehends  ge- 
schrieben wird  und  schliesst  mit  dem  Worte 
prorsus.  6 Bll.  in  4°,  letzte  Seite  leer.  (Berl. 
Bibi.  Luth.  3061).  Allerdings  bietet  die  Aus- 
gabe nur  wenig  Varianten  S.  47:  festina  et  fe- 
stiva;  49:  schneck;  52  charitas;  S.  50:  sola 
fide  nos  justificari  durch  Druck  mit  grossen 
Buchstaben  hervorgehoben  u.  s.  w. 

Bedenklicher  ist  Folgendes.  Der  Schrift  ist 
vom  Herausgeber  eine  Einleitung  vorangesetzt 
worden,  in  der  nicht  einmal  die  Schrift  des 
Cochläus  genannt  wird,  gegen  welche  Lu- 
ther seine  Streitschrift  gerichtet  hat.  Denn  die 
Bemerkung  des  Herausgebers:  cum  bullae  Leo- 
ninae  defensionem  edidisset  C.  passt  nicht;  ge- 
meint ist  ohne  Zweifel  C’s:  De  gratia  sacra- 
mentorum  (Strassburg  1522  in  4°).  Aus  ihr  hätte 


Schmidt,  D.  Martini  Lutheri  Opera  etc.  103 

der  Herausgeber  gelernt,  dass  seine,  Luther  nach- 
gesprochenen, Worte:  *L.  ei  hunc  librum  opposuit, 
quo  gloriantem  eum  quod  Lutherum  Wormatiae 
sermone  suo  ad  laerimas  redegerit,  reprimit«  nicht 
ganz  dem  Sachverhalt  entsprechend  sind,  denn 
Cochl.  sagt  (a.  a.  0.  A2a)  Ego  vero  ad  redden- 
dam  studiis  religionique  ac  reipublicae  trän- 
quillitatem , Lutherum  pio  studio  adnumui  pri- 
mum  literis  ex  Nurenberga,  deinde  precibus  et 
lachrymis  Wormaciae.  Er  hätte  ferner  zur  Er- 
klärung der  Stelle  S.  48  fg.,  in  der  Luther  er- 
zählt, Cochläus  habe  ihm  eine  Disputation  an- 
geboten,  unter  der  Bedingung,  dass  er  (L.)  auf 
die  fides  publica  des  Kaisers  verzichten  solle, 
die  Worte  des  Cochläus  anfiihren  müssen: 
provocans  eum  ad  singulare  sub  judicibus  cer- 
tamen,  primum  quidem  ad  equale  periculum 
(d.  h.  wol  unter  der  von  L.  erzählten  Bedin- 
gung, die  sich  vielleicht  daraus  erklärt,  dass  C. 
meinte,  auch  keine  besondere  fides  publica  zu 
besitzen)  quo  mox  recusato,  ab  omni  prorsus 
periculo  immunem  obtuli  ei  congressum.  Er 
hätte  endlich  aus  den  Schlussworten  der  C’schen 
Schrift:  Viros  arrna  decent  das  seltsame  Motto 
der  L’schen,  und  die  Bezeichnung  des  C.  als 
armatus  vir  erklären  können. 

Aber  auch  sonst  sind  in  der  Ausgabe  dieser 
Schrift  Mängel  aufzuzeigen.  Der  Herausgeber 
sagt,  sie  sei  gewidmet  Guilhelmo  Neseno,  ma- 
gistro  Lovaniensi  qui  tum  Wittebergae  comrao- 
rabatur.  Diese  ungemein  dürftige  Angabe  hätte 
wol  nach  de  Wette  (Seidemann  Luthers  Briefe 
VI,  564 fg.,  vermehrt  werden  können;  aus  Clas- 
sen: Jakob  Micyllus  Fft  1859  S.  39—43  hätte 
ferner  entnommen  werden  können,  dass  H.  sich 
damals  noch  in  Frankfurt  a/M.,  nicht  in  Witten- 
berg, aufhielt,  nur  dadurch  werden  L’s  Worte 


104  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  4. 

erklärlich  tuis  Francofordiensibus  (S.  47) ; testu- 
dini  tuae  die  (S.  60). 

Auf  die  Streitschrift  gegen  Gochläus  folgt 
die  Bulle  des  Papstes  Clemens  VII.  vom  7.  Dec. 
1523,  die  vielleicht  mit  der  römischen  Bullen- 
sammlung hätte  verglichen  werden  können,  dann 
(aus  dem  J.  1524)  zwei  Schreiben  deutscher  Bi- 
schöfe, eins  für,  eins  gegen  Luther,  welche  die- 
ser mit  Anmerkungen  und  einer  Vorrede  heraus- 
gab. Die  Originalausgabe  lag  dem  Herausgeber 
nicht  vor,  ich  konnte  sie  aus  der  hiesigen  kön. 
Bibliothek  (Luth.  3761)  benutzen.  Sie  hat  fol- 
genden Titel:  DVAE  EPI  | SCOPALES  BVL 
LAE,  PRIOR  PH  | posterior  papistici  ponti- 
ficis,  super  doctrina  | Lutherans  & | Romans. 
| WITTEMBERGAE  | mit  hübscher  Leisten- 
einfassung. 0.  J.  Rückseite  des  Titels  und 
letzte  Seite  leer.  8 Bll.  in  4°.  Die  Abweichun- 
gen des  Textes  von  dem  hier  gebotenen  sind: 
S.  64:  exsecramur,  extra  synagogam  efficimur 
st.  exsecratur  ac  diris  nos  devovet , S.  65  Z.  4 : 
refarsit,  Z.  14  perisomate,  S.  66  Z.  5 : et  luctum, 
Z.  7. 8 fehlt  das  Datum,  S.  69  Anm.  c nach  abo- 
minabilem  steht  noch:  qualis  modo  sacrificulorum 
et  Canonicorum  et  monialium  est;  S.  71  Anm.  d: 
tarnen  st.  tandem;  S.  73  Anm.  a:  decretales. 

Auf  diese  Schrift  folgen  zwei  Schriften  ähn- 
lichen Inhalts,  eine  Vorrede  Luthers  ins  alte 
Testament  und  eine  Rede  über  das  Lesen  der 
mosaischen  Bücher  durch  die  Christen.  Bei  der 
ersteren  konnte  ich  das  Original  vergleichen  (in 
fol.  Berl.  Bibi.  Bu  4230)  und  muss  bedauern, 
dass  es  dem  Herausgeber  nicht  gleichfalls  mög- 
lich war.  Denn  er  hätte  in  dieser  vor  der 
eigentlichen  Vorrede  u.  d.  Aufschrift:  Lectori 
sfllutem  eine  Einleitung  bemerkt,  deren  Mitthei- 
lung durchaus  gerechtfertigt  gewesen  wäre. 


Schmidt,  D.  Martini  Lutheri  Opera  etc.  105 

Sechs  Jahre,  meint  Luther  darin,  sei  schon  keine 
ordentliche  lateinische  Bibelausgabe  vorhanden, 
und  daher  hätte  er,  vielen  Bitten  nachgebend, 
trotz  mannigfachster  Beschäftigung,  zur  Heraus- 
gabe einer  neuen  Bibelübersetzung  sich  ent- 
schlossen. Aber  es  sei  mit  der  Aenderung  ein- 
zelner fehlerhaften  Stellen  in  den  alten  Aus- 
gaben nicht  gethan  gewesen,  sondern  paulatim 
crevit  labor,  et  cum  interpretatio  plerisque  locis 
mutanda  esset,  nova  propemodum  translatio 
nata  est,  ut  per  omnia  responderet  latina 
lectio  ebraicae.  Er  habe  sich  zwar  die  redlich- 
ste Mühe  gegeben,  aber  gerade  bei  einer  sol- 
chen Arbeit  gelte  der  Satz:  Unus  vir,  nullus 
vir.  Uebrigen8  solle  seine  Uebersetzung  nicht 
die  alte  allgemein  angenommene  in  den  Tem- 
peln ersetzen,  sondern  sei  nur  zum  häuslichen 
Studium  bestimmt,  nam  publice  satius  est  ve- 
terem  et  ubique  similem  lectionem  retinere. 
Und  am  Schluss  heisst  es:  Sycophantae  qui 
odio  nostri  nominis  etiam  bene  dicta  reprehen- 
dunt,  ita  laudem  mereri  queant,  si  meliora  edant. 
Vale.  — 

In  der  eigentlichen  Lutherschen  Praefatio 
finden  sich  nun  in  dem  Originaltext  , der  aller- 
dings mit  Druckfehlern  überreichlich  bedacht 
ist,  einzelne  Abweichungen,  die  durchaus  verdie- 
nen angemerkt  zu  werden.  S.  76  Z.  10  v.  u. 
stulti8  st.  absurdis,  S.  77  vorl.  u.  L Z.  pecca- 
tum  ac  mortem  tolli  st.  unde  — esset,  S.  78 
Z.  1 ullae  tum  st.  tum  datae,  Z.  19  divinas  st. 
morales,  Z.  26  denuo  condit  st.  instaurat,  Z. 
39  sit  nach  legendus,  S.  80  Z.  13  v.  u.  si  quis 
verbum  sequatur  st.  quae — sequitur,  Z.  8 vor 
deum:  quibusdam,  S.  81  Z.  2 v.  o.  addiscere 
st.  sectari,  S.  85  Z.  4 v.  o.  ratio  peccata  esse 
judicat  st.  vere  et  sua  natura  peccata  sunt, 


106  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

Z.  6 nach  peccata:  quaeque  ratio  pro  peocatis 
non  agnoscit,  Z.  12  propria  8t.  sua  natura,  Z. 
13  esse  judicantur  st.  fiunt,  1.  Z.  muss  es  na- 
türlich exoptet  heissen,  S.  86  Z.  14  tales  autem 
st.  quales,  Z.  16  illuminet  st.  dignatur,  vorl.  Z. 
perveniebat  st.  perferebat  legem,  S.  87  Z.  20 
nach  gratia:  ad  earn  rem,  Z.  15.  16  haec  est 
st.  hie  quidem  sese  exserit,  S.  88  Z.  14  v.  u. 
terra  st.  hereditas. 

Ausserdem  aber  fehlt  in  der  neuen  Ausgabe 
der  ganze  Schlussabsatz  und  da  derselbe  mir 
durchaus  dieselbe  Bedeutung  zu  haben  scheint, 
wie  die  übrige  Vorrede,  so  wissen  mir  Freunde 
der  betr.  Literatur  vielleicht  Dank,  wenn  ich  ihn 
hier  folgen  lasse: 

Postremo  hoc  quoque  restat  ut  omnes  hujus 
translations  lectores  Deo  commendem  et  ad- 
moneam  quoque  ut  ipsi  Deum  orent  quo  coeptum 
hoc  a nobis  opus  foeliciter  ad  finem  perducatur. 
Fateor  enim,  me  iniquum  meis  viribus  pondus 
suscepisse,  nam  cum  Ebraea  lingua  adeo  inter- 
ciderit,  ut  ne  Judaei  quidem  satis  ipsam  intelli- 
gant,  video  quam  non  glossis  illorum  sit  cre- 
d end  um.  Si  igitur  aliquid  lucis  accedere  veteris 
Testamenti  libris  potest,  necesse  est  id  a Chri- 
stianis fieri  qui  cognitionem  Christi  habent  sine 
qua  linguarum  quoque  peritia  parum  est  pro- 
futura.  Atque  ea  quidem  causa  est  quod  Hie- 
ronymus aliique  veteres  interpretes  tarn  saepe 
sint  hallucinate  Quanquam  autem  meum  Stu- 
dium quod  in  hanc  tranßlationem  posui  com- 
mendare  ipse  nec  debeam  nec  velim,  hoc  tarnen 
certo  confirmare  possum  quod  innumeris  in  locis 
sententiam  clarius  et  majore  cum  fide  depen- 
derim  quam  Hieronymus.  Verum  hujus  rei 
judicium  penes  Lectorem  sit.  Deus  coeptum 
opus  feliciter  absolvat.  Amen. 


Schmidt,  D.  Martini  I^utheri  Opera  etc.  107 

Einen  grossen  Theil,  mehr  als  ein  Drittel 
des  Bandes  nimmt  die  Schrift  de  servo  arbitrio 
gegen  Erasmus  ein,  welche  auf  die  eben  be- 
trachtete folgt.  In  der  Einleitung  werden  die 
Ausgaben  dieser  und  der  Erasmischen  Angriffs- 
schrift kurz  angeführt,  der  Erasmischen  Ent- 
gegnung: Hyperaspistes  aber  nicht  gedacht« 

Letztere  hat  Luther  nicht  beantwortet,  obgleich 
er  sich  sehr  durch  sie  gekränkt  fühlte.  Wenig- 
stens ist  eine  Antwort  nicht  bekannt  und 
Kesslers  Bemerkung  (Sabbata  ed.  Götzinger 
I,  166)  steht  ganz  vereinzelt  da:  »Erasmus  ist 
in  aller  unru  uffgebrochen  und  wider  den  Luther 
an  buch  gestelt,  den  fryen  willen  . . zu  erhal- 
ten; hatt  Martinus  geantwurt,  er  widerumb,  ist 
Martinus  im  nach  mitt  ainer  antwurt 
begegnet,  durch  welche  (wie  ich  vernim) 
Erasmus  erinnert  siner  manung  und  kampfens 
abgestanden  ist«.  Wol  aber  hat  Luther  einige 
Jahre  später  (1534)  nochmals  das  Wort  gegen 
Erasmus  ergriffen,  in  einer  in  Briefform  abge- 
fassten Schrift  (de  Wette  IV,  S.  506 — 520)  de- 
ren Mittheilung  ebenso  gerechtfertigt  gewesen 
wäre,  wie  die  der  an  Nesenus  gerichteten  Streit- 
schrift wider  Cochläus.  (Eine  Vorrede  Luthers 
wider  Erasmus  ist  abgedruckt  S.  526 — 531). 

Wir  übergehen  die  zwei  folgenden  kleinen 
Schriften,  und  wenden  uns  zu  der  S.  434—451 
mitgetheilten  Schrift:  Cur  et  quomodo  christia- 
num  concilium  debeat  esse  liberum  1537.  Der 
Herausgeber  spricht  nur  von  der  Originalaus- 
gabe, er  erwähnt  nicht  folgende  merkwürdige 
Edition:  CVR  | ET  QVO  MODO  | CHRISTIANVM 
CON  | cilium  debeat  esse  | LIBERVM  | ET  DE 
CONIVRA  | TIONE  PAPISTA  | RVM.  | Cum 

praefatione  Pauli  Vergerii.  Luc.  XII | Re- 

giomonti  per  Joan  | nem  Daubmannum  | Anno 


108  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

1557  A..E  16°.  (Berl.  Bibi.  Luth.  7028).  Das 
Merkwürdige  an  dieser  Ausgabe  ist  nämlich  die 
Vorrede  des  Vergerius,  des  Mannes,  der  im  J. 
1537  als  Legat  des  Papstes  Deutschland  be- 
reiste, um  zum  Besuch  des  damals  nach  Mantua 
ausgeschriebenen  Goncils  einzuladen  und  der 
nun,  zwanzig  Jahre  später,  zum  eifrigen  Prote- 
stanten geworden,  die  Schrift,  welche  zur  Ver- 
nichtung seiner  damaligen  Wirksamkeit  beige- 
tragen batte,  aufs  Neue  zum  Druck  befördert. 
Die  Vorrede  ist  Soldaviae  1.  Jan.  ..  1557  da- 
tirt,  an  Joh.  Aurifaber  gerichtet  und  dazu  be- 
stimmt, die  Reformation  in  Polen  zu  fördern. 
Auf  diesen  ihren  Inhalt  einzugehn,  ist  hier  nicht 
der  Ort;  hier  sei  nur  erwähnt,  dass  Vergerius 
in  der  Vorrede  zwar  mehrmals  von  dem  auctor 
libelli  und  seinen  Ansichten  spricht,  nie  aber 
einen  bestimmten  Namen  nennt.  Das  hätte  er 
ohne  Zweifel  gethan,  wenn  er  ihn  gewusst  und 
er  oder  Aurifaber  hätte  ihn,  so  möchte  ich  wei- 
ter schliessen,  sicherlich  gewusst,  wenn  Luther 
der  Verfasser  gewesen  wäre. 

Wer  ist  nun  der  Verfasser  unsrer  Schrift? 
Auf  dem  Originaldruck  steht  kein  Name  und 
dieses  Fehlen  ist  insofern  ein  bedenkliches  Zei- 
chen, als,  soweit  meine  Kenntniss  reicht,  Luther 
mit  Recht  kaum  ein  von  ihm  geschriebenes 
Blättchen  aus  seiner  Hand  ausgehen  liess,  ohne 
seinen  Namen  9 oder  die  Initialen  desselben 
daraufzusetzen.  Der  Umstand  aber,  dass  die 
Schrift  in  die  Jenenser  Ausgabe  von  Luthers 
Werken  aufgenommen  ist,  ist,  wenn  er  auch 
unserm  Herausgeber  als  vollwichtiges  Zeugniss 
für  Luthers  Autorschaft  genügt,  doch  höchstens 
ausreichend,  zu  zeigen,  dass  Luther  damals  als 
Verfasser  galt.  Allerdings  spricht  Manches  für 
Luther:  Die  literarische  Bewegung  über  und 


Schmidt,  D.  Martini  Lutheri  Opera  etc.  109 

gegen  das  Concil  war  1537  sehr  stark  und  Lu« 
ther,  der  schon  in  seiner  hohen  Stellung  Ver- 
anlassung zum  Aussprechen  fand,  wurde  noch 
von  Aussen  dazu  gedrängt  (de  Wette  V,  S.  45  fg. 
Burckhardt,  Luthers  Briefwechsel  S.  277);  sei- 
nen damals  besonders  heftigen  Hass  gegen  das 
Papstthum  und  seine  Absicht,  demselben  öffent- 
lich Ausdruck  zu  geben,  zeigt  die  Stelle  aus 
seinem  damals  geschriebenen  Testament  (de 
Wette -Seidemann  VI,  186):  Ego  nunc  paratus 
sum  mori,  si  Dominus  vult.  Veilem  autem  vel 
usque  ad  Pentecosten*)  vivere,  ut  bestiam  illam 
Bomanam  et  regnum  ejus  publico  scripto  gra- 
vius  accusem  coram  mundo;  doch  scheinen  mir 
diese  Aeusserungen  nicht  genügend  in  einer 
streitigen  Sache  die  Entscheidung  abzugeben. 

Gegen  Luthers  Autorschaft  spricht  näm- 
lich die  Bemerkung,  welche  Schmidt  in  der 
Münchener  Ausgabe  des  Originalabdrucks  ge- 
funden hat:  Huius  libelli  auctor  est  Urbanus 
Rhegius  und  welche  er  leichthin  mit  der  Be- 
merkung abmacht:  ex  qua  quidem  nota  conji- 
cere  licet,  fuisse  superioribus  temporibus  qui 
hunc  librum  ab  Urbano  Regio  compositum  esse 
crederent.  Ein  solches  Verfahren  wäre  schon 
durchaus  unkritisch,  wenn  wirklich  die  Bemer- 
kung bloss  so  lautete,  wie  Schm,  angiebt,  denn 
man  hat  keinen  Grund  änzunehmen,  dass  ein 
Zeitgenosse  ohne  positiven  Anhalt  einen  belie- 
bigen Schriftsteller  als  Verfasser  bezeichnete; 
es  wird  aber  ganz  unbegreiflich,  da  die  Inschrift 
nach  den  von  Schmidt  angegebenen  Worten 
fortfährt:  qui  meo  hortatu  hanc  impiam  juris- 
jurandi  Camerinam  movere  vexit.  Hr.  Director 

*)  Das  Mantuaner  Goncü  war  auf  Pfingsten  an- 
gesagt. 


110  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

Halm,  dessen  freundlicher  Mittheilung  ich  die 
Eenntniss  dieser  Inschrift  verdanke,  fügt  hinzu, 
dass  die  Buchstaben  in  dem  lat.  Inscript  breit 
auseinandergezogen  sind,  so  dass  die  Schrift  an 
die  von  Heinr.  Bullinger  erinnert ; wie  dem  aber 
auch  sei,  das  Zeugniss  scheint  mir  60  unver- 
werflich zu  sein,  dass  nicht  der  geringste  Grund 
vorliegt,  an  der  Autorschaft  des  Drbanus  Rhe- 
gius  zu  zweifeln.  Zudem  passt  diese  Annahme 
vornemlich  in  den  Rahmen  des  Lebens  des  Rhe- 
gius.  Er  war  1537  mit  den  übrigen  Theologen 
in  Schmalkalden,  um  die  Artikel  zu  berathen, 
welche  auf  dem  Concil  vorgelegt  werden  sollten, 
war  gerade  damals  von  furchtbarem  Hass  ge- 
gen das  Papstthum  erfüllt  und  auch  sonst  in 
Angelegenheiten  des  Goncils  schriftstellerisch 
thätig,  dass  er  überdies  anonym  oder  pseudo- 
nym Schriften  veröffentlichte,  ist  durch  seine 
eignen  Worte  ausdrücklich  bezeugt.  (Vgl.  Uhl- 
horn U.  Rh.  Elberfeld  1860  S.  368fg.;  S.  329, 
S.  28  fg.). 

An  die  eben  ausführlich  besprochene  Schrift 
schließt  sich  eng  die  folgende  an:  Capita  fidei 
chri8tianae,  die,  1538  von  Luther  deutsch 
geschrieben , als  Grundlage  für  etwaige  Verhand- 
lungen auf  dem  Mantuaner  Concil  dienen  sollte, 
damals  aber  nicht  gedruckt,  erst  1541  (denn 
die  S.  452  Z.  7 nur  einmal  vorkommende 
Zahl:  154,2  scheint  mir  ein  Fehler  des  Original- 
druckes zu  sein)  in  der  lateinischen  Ueber- 
sefzung  des  (mir  sonst  unbekannten)  Petrus 
Generanus  veröffentlicht  wurde.  Wegen  der 
grossen  Seltenheit  und  Wichtigkeit  dieser 
Uebersetzung  hält  der  Herausgeber  ihre 
Mittheilung  für  gerechtfertigt. 

Den  Schluss  des  Bandes  und  der  ganzen 
Sammlung  machen  28  in  den  Jahren  1518 — 1544 


Schmidt,  D.  Martini  Lntheri  Opera  etc.  111 

von  Luther  geschriebene  lateinische  Vorreden, 
theih  zu  eignen  Werken,  theils  zu  Arbeiten  von 
Zeitgenossen,  theils  zu  neuen  Auflagen  älterer 
Schriften.  , Gerade  bei  diesem  Tbeile  wird  das 
Fehlen  sachlicher  Anmerkungen  am  meisten  em- 
pfunden werden.  Es  wäre,  wie  mir  scheint, 
durchaus  Aufgabe  einer  solchen  Sammlung  ge- 
wesen, mit  kürzen  Hinweisungen  auf  die  Briefe 
oder  andre  leicht  zugängliche  Quellen  Veranlas- 
sung und  Geschichte  dieser  Schriften  zu  er- 
zählen. Dagegen  begnügt  sich  der  Herausgeber 
mit  einer  bibliographischen  Beschreibung  der 
editio  princeps,  wenn  sie  ihm  zugänglich  war, 
und  einer  Angabe  der  ihm  bekannt  gewordenen 
Drucke;  nur  einmal  (S.  492  fg.)  gibt  er  eine 
kleine  Untersuchung,  deren  Resultat  durchaus 
beizustimmen  ist. 

Ich  erachtete  es  keineswegs  als  meine  Auf* 
gäbe,  alle  die  Schriften,  denen  Luther  diese 
Vorreden  vorangesetzt  hat,  in  ihren  Original- 
ausgaben, die  zum  Theil  von  grosser  Seltenheit 
sind,  zu  vergleichen.  Bei  der  einen,  der  Vor- 
rede zu  dem  exegetischen  Werke  des  Joh.  Brenz 
p.  510  ff.  stellte  ich  die  Vergleichung  an  und 
fand,  dass  die  in  den  Noten  mitgetheilten  Les- 
arten de  Wettes  auch  die  des  Originals  sind 
und  daher  in,  nicht  unter  den  Text  hätten 
gestellt  werden  müssen,  dass  ferner  S.  511  Z.  18 
viderentur  st.  videntur  zu  lesen  ist. 

Mit  diesen  Bemerkungen  und  Ausstellungen 
will  ich  durchaus  nicht  die  vorliegende  Aus- 
gabe verurtheilen , sondern  nur  auf  einzelne 
Punkte  hinweisen,  deren  Beachtung  für  die  Be* 
nutzer  derselben  erspriesslich , und  für  die 
Herausgeber  der  noch  folgenden  Theile  der  Ge- 
sammtausgabe  vielleicht  nicht  ganz  werthlos  sein 
möchte. 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


112  65tt.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  4. 

Thet  Oera  Linda  Bok,  naar  een  handschrift 
uit  de  dertiende  eeuw.  Met  vergunning  van  den 
eigenaar,  den  heer  C.  over  de  Linden  aan  den 
Helder,  bewerkt,  vertaald  en  uitgegeven  door 
Dr.  J.  G.  Ottern  a.  Te  Leeuwarden,  by  H. 
Kuipers.  1872.  XXX  und  256  SS.  gr.  8°. 

Dem  genialen  und  scharfsinnigen  Obbo  Em- 
mius  (f  1625),  der  in  seiner  üistoria  rerum 
Friscarum*)  seiner  Heimat  ein  in  mancher  Hin- 
sicht bis  auf  den  heutigen  Tag  unübertroffenes 
Denkmal  setzte,  traten  vor  allen  die  gelehrten 
Westfriesen  Suffridus  Petrus  (f  1597)  und  Bern- 
hard Furmerius  (f  um  1616)  entgegen.  Der 
Hauptgegenstand  des  Streites  war  die  ältere 
friesische  Geschichte : während  Emmius  die  zum 
Teil  schon  im  10.  Jahrhundert  entstande- 
nen Sagen  über  die  Herkunft  der  Friesen  zu 
Schiffe  aus  Indien  oder  Persien  unter  dem  See- 
könig Friso  und  die  sich  anschliessenden  Ge- 
schichten vorchristlicher  Friesenkönige  aufs  ent- 
schiedenste zurückwies,  boten  jene  Westfriesen 
alles  auf,  die  zerstreuten  sagenhaften  Erzählun- 
gen zusammenzustellen,  mit  einander  und  mit 
den  Thatsachen  der  Weltgeschichte  in  Einklang 
zu  bringen;  Lücken  wurden  durch  die  Phanta- 
sie, auch  wohl  durch  Beziehung  auf  erdichtete 
Schriftsteller  ausgefüllt,  und  so  entstanden  chro- 
nologisch genau  begrenzte  Geschichten  der  alten 
Friesen,  die  Emmius  sehr  richtig  mit  denen  des 
Trithem’schen  Hunibald  auf  eine  Linie  stellt. 

Die  vorliegende  Schrift  überbietet  alles,  was 
je  friesische  Patrioten  zu  Ehren  unseres  Stammes 
gefabelt  haben : wir  würden  dieselbe  keiner  Be- 

*)  Vollständige  Ausgabe  zusammen  mit  andern  klei- 
neren Schriften  Lugd.  Bat.,  Elzevir.  1616. 


Ottern 


rücksichtigung 
einiger  Staub 
Dass  hier  eir 
vorliegt,  wird 
können , wem 
erwägt. 

Der  erste  ' 
bok  thera  Ade 
ger  Adela’s;  n 
Herausgeber  e 
gefügt  hat,  v 
unbekannte  ’W 
Tage,  wo  die 
bracht  war  dt 
schlecht.  Alle 
der  andern  Se 
gerissen  und 
kommen,  und 
gewaltig  werd 
Um  dem  Unt 
allgemeine  Vol 
acht  bilidsen), 
welche  in  ein 
Jungfrauen  (1 
drei  Tage  ver 
rath  (al  go-re 
ben  Punkte, 
Da  zuletzt  bi 
that  wird)«, 
lang  Burgjung 
ter  erkoren  is 
weil  eie  A pol 
aber  dennoch 
tet,  ist  hin  ui 


' *)  Vgl.  z.  B 
292,  19.  Oct.:  , 


114  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  4. 


weiss  deshalb,  was  geschehen  ist.  Die  Stam- 
mesgenossen jenseit  der  Weser  sind  nicht  durch 
Waffengewalt  von  dem  Magy  bezwangen,  son- 
dern durch  arglistige  Ränke  und  noch  mehr 
durch  die  Habsucht  der  Herzoge  und  Edelinge. 
Frya  hat  gesagt,  wir  dürften  keine  Unfreien  bei 
uns  dulden,  aber  sie  haben  die  Gefangenen 
statt  sie  zu  tödten  oder  frei  zu  lassen  zu  Scla- 
ven  gemacht  (to  hjara  släfonum).  Daher  das 
Unglück.  Die  Kinder  der  freien  Friesen  spiel- 
ten mit  den  Kindern  der  Finnen  und  lernten 
ihre  Unarten;  später  vermählten  sie  sich  gar 
mit  ihnen.  Als  das  der  Magy  merkte  (onda 
nös  kryg),  veranlasste  er  die  schönsten  seiner 
Finnen  und  Magyaren  (Finna  and  Magyara) 
sich  von  den  Friesen  gefangen  nehmen  zu  las- 
sen; weiter  liess  er  Friesenkinder  aufgreifen 
und  in  seinen  verderblichen  Lehren  unterrichten, 
um  sie  später  zurückzusenden.  Als  die  Schein- 
Slaven  (skin-slavona)  die  friesische  Sprache  ken- 
nen gelernt,  überredeten  sie  die  Herzoge  und 
Edelinge  sich  ihnen  zu  unterwerfen,  dann  brauch- 
ten sie  für  ihre  Söhne  nicht  zu  fürchten : 
Volkswahl  für  deren  Nachfolge  wäre  dann  nicht 
mehr  nöthig.  So  sind  die  Friesen  jenseit  der 
Weser  heruntergekommen.  Man  soll  sie  sich 
selbst  überlassen  und  eine  neue  Volksmutter 
wählen:  dazu  eignet  sich  von  den  vorhandenen 
13  Burgjungfrauen  besonders  Tüntja,  die  Burg- 
jungfrau zu  Medenblick.  Dann  muss  man  zu 
den  Burgen  gehen  »und  dort  aufschreiben  alle 
Gesetze  von  Fryas  Text  (alle  ewa  fryas  tex), 
dazu  alle  die  alten  Geschichten , die  an  den 
Wänden  geschrieben  stehen,  damit  dieselben 
nicht  verloren  gehen«;  von  den  Thaten  und 
fernen  Seefahrten  der  heimischen  Helden  soll 
man  den  Kindern  erzählen. 


115 


Ottema,  Thet  Oera  Linda  Bok. 

Der  zweite  Teil  yon  Adelas  weisem  Bath 
wird  befolgt.  Fünf  Männer  besorgen  die  Samm- 
lung der  Inschriften  von  den  Burgwänden,  die 
das  erste  Buch  ausmachen,  das  Buch  thera 
Ad  ela  follistar.  Es  sind  Apol,  Adelas  man, 
der  dreimal  Seekönig  war  und  nun  Grevetman 
ist  über  Ost-Flyland  und  über  die  Linda-Orte; 
der  Saxman  Storo,  Sytjas  man;  Enoch,  Dywek 
his  man ; Foppa,  man  fon  Dunros.  Man  sieht, 
nicht  blos  als  Volksmütter  und  Burgjungfrauen 
oder  -priesterinnen,  sondern  auch  als  Ehehälften 
nehmen  die  Frauen  eine  bedeutende  Stellung 
ein.  Das  Buch  beginnt  sodann  mit  der  Wand- 
inschrift der  Fryasburg  auf  Texland,  enthal- 
tend die  Lehre  von  dem  ewigen  und  unendli- 
chen Wralda,  später  auch  Alfodar  genannt,  und 
die  Entstehung  des  Menschengeschlechts,  spe- 
ciell  der  Friesen;  dann  folgen  Gesetze,  ein  Be- 
richt über  die  Entstehung  des  Königthums,  und 
Bestimmungen  über  die  Grenzen  der  Macht  der 
Könige  und  Volksmütter,  über  die  Seefahrer; 
Geschichten  von  dem  Friesen  Minno,  der  den 
Kretern  Gesetze  gab,  von  der  Burgjungfrau 
Min-erva,  auch  Nyhellenia,  der  die  Griechen 
göttliche  Ehren  erwiesen,  und  was  dergleichen 
mehr  ist.  Die  Wände  der  Waraburg  liefern 
die  eigenthümliche  aus  dem  Julzeichen  gebildete 
Schrift,  in  welcher  uns  alle  diese  Nachrichten 
überliefert  sind;  sie  liegt  der  griechischen  zu- 
grunde und  ist  der  Art,  dass  »wir  unsere  älte- 
sten Schriften  ebenso  gut  lesen  können,  als  die, 
welche  gestern  geschrieben  sind«.  Zum  Glück 
haben  die  Grevetmänner  die  Schriftzeichen  selbst 
ihrem  Buche  einverleibt,  sodass  dem  Heraus- 
geber, der  zu  der  Stelle  eine  saubere  Nach- 
zeichnung liefert,  die  Entzifferung  nicht  schwer 
wurde.  Bald  nachher  wird  eine  neue  Aera  ein- 

8* 


116  Gott.  gel.  Asz.  1874.  Stück  4. 

geführt:  101  Jahr  nach  dem  Versinken  von  At- 
land  = Altland  = Atlantis;  die  Epoche  fallt 
nach  dem  an  der  Spitze  des  Codex  stehenden 
Briefe,  geschrieben  1256  p.  Chr.  = 3449  post 
Altl.,  auf  2193  a.  Chr.  Hier  kommt  uns  also 
zum  Bewusstsein,  dass  die  vorliegenden  Be- 
richte über  das  Jahr  2000  vor  unserer  Zeit- 
rechnung hinausgehen,  und  Dr.  Ottoma  hat  dem- 
nach in  der  Einleitung  berechnet,  dass  das 
Buch  ‘theraAdela  folstar’  im  Jahre  558  a.  Chr. 
geschrieben  ist. 

Der  zweite  Hauptteil  des  Werkes  giebt  sich 
als  geschrieben  durch  Adelas  Kinder,  Adelbrost 
und  Apollonia.  Ein  drittes  Stück,  etwa  250 
Jahr  später  verfasst,  schrieben  Frethorik,  Wil- 
jow,  seine  Wittwe,  ihr  Sohn  Konereed,  dessen 
Nelle  Beeden  und  ein  Unbekannter:  »er  wird 
wohl  ein  Sohn  von  Beeden  gewesen  sein«,  meint 
Dr.  Ottema.  Auch  das  letzte  Stück  stammt 
aus  vorchristlicher  Zeit.  Fragen  wir,  auf  was 
für  Stoll  alle  diese  weisen  Frauen  und  Män- 
ner schrieben,  so  sagt  uns  das  Werk  selbst, 
dass  es  ein  gewisser  ‘skriv  filt’  war,  den  man 
in  Friesland  fabricierte.  Der  Inhalt  der  beiden 
letzten  Teile  des  Werkes  ist  ebenso  mannig- 
faltig, wie  der  des  ersten:  »der  Inhalt  des  Gan- 
zen ist  in  jeder  Hinsicht  neu,  namentlich  steht 
fast  nichts  darin,  was  wir  sonst  schon  wüssten«, 
meint  der  Herausgeber.  Der  Leser  möge  sich 
selbst  durcharbeiten,  wir  wollen  ihm  den  Genuss 
nicht  vorwegnehmen.  Er  findet  nicht  nur  höchst 
erleuchtete  religiöse  Lehren  über  den  »allein 
guten«  Wralda  und  das  Gewissen  als  zuver- 
lässige Richtschnur  für  alles  Handeln,  »sofern 
es  gut  erzogen  ist«,  sondern  auch  in  bunter 
Fülle  von:  nachtule,  vampyra,  tohnekka  (Tunica), 
tot-horne  (Tuthörner);  in  uralter  Zeit  giebt  es 


Ottema,  Thet  Oera  Linda  Bok.  117 

hier  schon  die  Wörter : salt&tha,  scherke,  slavona 
(Sclaven),  Swetsar  — die  friesische  Colonisten, 
welche  die  Pfahlbauten  bewohnten  — Franka, 
Allemanna*).  Neben  Notizen  über  Handel  und 
Industrie,  über  Troja  — Dr.  Schliemann  ist  nicht 
berücksichtigt  — und  den  Kampf  zwischen  Rö- 
mern und  Puniern  »um  die  Herrschaft  über  den 
‘middelse’«  hört  er  von  Rheinreisen  alter  Frie- 
sen und  Friesinnen  und  der  Entstehung  des  Na- 
mens der  Germanen,  beglaubigte  Geschichten 
von  den  alten  Königen  Friso  und  Adel  I.  nebst 
Nachkommenschaft,  anschaulich  wird  ihm  die 
Entstehung  der  Landenge  von  Suez  vorgeführt, 
daneben  Thiere  und  Pflanzen  des  Himalaja. 
Gewis  ist  es  interessant  zu  erfahren,  dass  die 
Twisklandar  = Deutsche,  verbannte  und  wegge- 
laufene Fryaskinder  sind,  die  ihre  Frauen  von 
den  Tartaren  raubten.  »Die  Tartaren  sind  ein 
braunes  Findasvolk,  so  genannt,  weil  sie  alle 
Völker  zum  Streit  herausfordern  (uttarta).  Davon 
sind  die  Deutschen  ebenso  blutdürstig  geworden«, 
S.  211.  212.  Wahrscheinlich  ist  es  auch  auf  die 
bösen  Twisklandar  und  ihren  vorchristlichen  He- 
gel gemünzt,  wenn  es  heisst,  dass  in  Hindas 
Volk  »Wahnwitzige,  wanwysa,  vorhanden  sind, 
die  durch  ihre  übergrosse  Erfindungsgabe  so 
böse  geworden  sind,  dass  sie  sich  selbst  weis 
machen  und  ihr  Innerstes  überreden  zu  glauben, 
dass  sie  das  beste  Teil  sind  von  Wralda,  dass 
ihr  Geist  das  beste  Teil  von  Wraldas  Geist  ist, 
und  dass  Wralda  nur  denken  kann  durch  Hülfe 
ihres  eigenen  Gehirns«.  S.  250  sind  die  Twis- 
klandar sogar  ein  »schmutziges  Bastardvolk«; 
etwas  reiner  erhielt  sich  nur  der  Stamm,  der 

*)  Der  Art  sind  die  Wörter,  um  welohe  der  Sprach- 
schatz der  altfriesischen  Gesetze  vermehrt  wird.  Nach 
dem  Herausgeber,  S.  XV,  konnten  solche  in  neuerer  Zeit 

nicht  erfunden  werden. 


118  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 


sich  selbst  nannte  »Thjoth-his  suna,  that  is  folk- 
his  suna «. 

Doch  warum  den  Leser  noch  länger  mit  all 
dem  Unsinn  hinhalten?  Die  Handschrift  will 
aus  dem  Jahre  1256  p.  Ghr.  stammen  und  eine 
Abschrift  sein  von  einem  uralten  Skrivfilt-Codex, 
dem  ein  unfreiwilliges  Seebad  seine  Dauerbar- 
keit  genommen.  Sie  ist  unzweifelhaft  innerhalb 
der  letzten  20  Jahre  angefertigt,  wie  es  scheint 
mit  oberflächlicher  Kenntnis  mittelalterlicher 
Texte.  Die  Sprache  ist  überall  eine  Rücküber- 
setzung aus  dem  Holländischen  ins  Altfriesiscbe, 
oder  vielmehr  der  Versuch  einer  solchen  in  Be- 
zug auf  die  Wortbildung  und  -biegung,  denn 
die  Vocalisation  ist  keineswegs  correct,  und  der 
Satzbau  womöglich  noch  moderner , als  die 
nebenstehende  Uebersetzung.  Dr.  Ottema  ist 
ein  guter  Kenner  des  Altfriesischen  und,  wie 
die  vorstehende  Tafel  zu  p.  8 zeigt,  im  Rück- 
übersetzen geübt;  von  dem  Alter  der  Hand- 
schrift hat  er  sich  merkwürdig  rasch  überzeugt; 
in  der  Schrift  selbst  erkannte  er  sofort  die  von 
dem  Schreiber  wohl  beabsichtigte  »halbgriechi- 
sche« Schrift,  die  Cäsar  bei  den  Galliern  vor- 
fand; er  weiss  alle  Dunkelheiten  aufs  scharf- 
sinnigste und  treffendste  aufzuhellen  und  findet 
nirgends  Anstössiges : es  ist  fast  unglaublich,  dass 
er  sich  von  einem  Fälscher,  der  da  rechnete  auf  die 
‘dumhed  thera  manniska’,  sollte  haben  ‘lik  en  buhl 
by  thera  nose  omme  leidan’  lassen.  Täuschen  wir 
uns,  wenn  wir  dem  Herrn  Dr.  Ottema  zu  Ehren 
annehmen,  dass  er  selbst  sich  diese  sonderbare 
Mystification  erlaubt  hat?  Dass  der  Codex  in 
die  Hand  des  jetzigen  Besitzers  schon  im 
August  1848  gekommen  wäre,  wie  in  der  Ein- 
leitung erzählt  wird,  würde  man  vielleicht  noch 
glauben  können,  wenn  nicht  die  Pfahlbauten,  die 
darin  hervortretende  erst  in  neuerer  Zeit  bei  einigen 


Grill,  Verhältniss  d.  indog.  u.  sem.  Sprachw.  119 

Holländern  erstandene  Angst  vor  dem  deutschen 
Mutterlande  und  ähnliche  Eigentümlichkeiten 
entgegenständen.  Man  wird  wohl  annehmen  müs- 
sen, dass  die  ‘Inleiding’  ein  wesentlicher,  nur 
etwas  später  abgefasster  Bestandteil  des  Werkes 
selbst  ist.  Doch  dem  sei  wie  ihm  wolle:  ist 
Dr.  Ottema  an  dem  Entstehen  der  Handschrift 
unschuldig,  so  ist  zu  bedauern,  dass  er  so  viel 
Zeit  und  Mühe  auf  ihre  Herausgabe  und  Er- 
läuterung verwandt  hat. 

Aurich.  A.  Pannenborg. 

Ueber  das  Verhältniss  der  indogermanischen 
und  semitischen  Sprachwurzeln.  Ein  Beitrag 
zur  Physiologie  der  Sprache.  Von  J.  Grill, 
(in  der  Zeitschrift  der  Deutschen  Morgenländi- 
schen Gesellschaft  1873  S.  425 — 460). 

Sind  der  Mittelländische  und  der  Semitische 
Sprachstamm  mit  einander  verwandt?  und 
warum  sind  die  Wurzeln  nicht  in  jenem,  wohl 
aber  in  diesem  nothwendig  und  (man  kann  sa- 
gen) beständig  dreilautig?  Diese  beiden  aufs 
engste  mit  einander  verschlungenen  Fragen  sind 
(um  von  den  älteren  Zeiten  Europäischer  Wis- 
senschaft hier  zu  schweigen)  seit  dem  letzten 
halben  Jahrhunderte  stehend,  und  haben  schon 
sehr  vielerlei  gelehrte  Federn  beschäftigt.  Die 
erstere  der  beiden  Fragen  ist  neuestens  nament- 
lich auch  von  dem  vortrefflichen  Kenner  der 
Deutschen  Sprachen  und  Schriftthümer,  Hrn. 
Prof.  Rudolf  von  Raumer  in  Erlangen,  in 
seinen  » Gesamm  eiten  sprach  wi  ssenschaftlichen 
Schriften«  (Frankf.  a.  M.  1863)  mit  besonderem 
Eifer  verfolgt;  und  seit  1867  verfolgt  er  sie  mit 
demselben  Eifer  in  einer  Reihe  von  »Fort- 
setzungen der  Untersuchungen  über  die  Urver- 
wandtschaft der  semitischen  und  indogermani- 
schen Sprachen«  (ebenda  bei  Heyder  und  Zimmer), 


I 


120  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

auf  welche  wir  hier  gelegentlich  hinweisen.  Inder- 
that  ist  die  Urverwandtschaft  der  beiden  Sprach- 
8tämme  ebenso  gewiss  wie  es  z.  B.  unläugbar 
ist  dass  der  Begriff  des  Griechischen  yQaip  und 
Lateinischen  scnb  sich  im  Semitischen  ktab  nur 
lautlich  etwas  härter  ausdrückt.  — Die  oben 
bemerkte  neue  Abhandlung  setzt  die  Verwandt- 
schaft der  beiden  Sprachstämme  ebenfalls  voraus, 
will  aber  über  die  Bildung  der  Semitischen  Wur- 
zeln etwas  neues  sagen.  Der  Verf.  meint  näm- 
lich gefunden  zu  haben  ein  Hauptunterschied 
zwischen  dem  Mittelländischen  und  dem  Semiti- 
schen Sprachstamme  bestehe  darin  dass  in  je- 
nem der  »Formalismus«,  in  diesem  der  »Ma- 
terialismus* alles  beherrsche;  und  da  dadurch 
sogar  schon  der  Wurzelbau  in  beiden  verschie- 
den bedingt  sein  soll,  so  würde  dieser  Unter- 
schied so  gut  wie  den  ganzen  Sprachenbau  in 
beiden  bestimmen.  Aber  er  will  noch  weit 
darüber  hinausgehen,  und  behauptet  die  Semiten 
seien  überhaupt  von  Anfang  an  blosse  Materia- 
listen, die  Völker  des  Mittelländischen  Sprach- 
stammes  seien  dagegen  von  Geburt  die  aller- 
besten Formmenschen,  mit  dem  feinsten  Sinne 
für  Form,  Schönheit,  Kunst,  Wissenschaft,  Phi- 
losophie u.  s.  w.  begabt;  und  das  habe  ja  schon 
der  Pariser  Renan  gelehrt,  dessen  bekannte  An- 
sichten unser  Verf.  sich  mit  Freuden  aneignet. 

Dürfte  man  nun  überhaupt  (um  von  Völkern 
und  Volksstämmen  hier  zu  schweigen)  bei  Spra- 
chen und  Sprachstämmen  einen  solchen  Unter- 
schied machen,  so  würden  ja  sicher  gerade  um- 
gekehrt die  Semitischen  Sprachen  im  offenbaren 
Vorzüge  vor  den  Mittelländischen  die  Herrlich- 
keit des  »Formalismus«  besitzen.  Schon  von 
den  Wurzeln  an:  denn  was  ist  für  Gleichmässig- 
keit,  Masshaltung  und  Schönheit  sprechender  als 


Grill,  Verhältnis  d.  indog.  u.  sem.  Sprachw.  121 

die  vollkommen  gleichmässige  Weise  in  welcher 
sie  die  Wurzeln  wenigstens  der  Thatwörter  (und 
nur  auf  diese  kommt  es  vor  allem  an)  in  nicht 
zu  kleinem  und  nicht  zu  grossem  Umfange  und 
noch  dazu  so  äusserst  fügsam  und  bildsam  aus- 
gestaltet besitzen?  Was  entspricht  ferner  dem 
schönen  Bildungssinne  mehr  als  die  Ausbildung 
des  Semitischen  Wortes,  welches  überhaupt  wie 
in  keinem  andern  Sprachstamme  bildsam  und  ins- 
besondere dadurch  so  ausgezeichnet  ist  dass  es 
niemals  zu  einem  so  Ungeheuern  Umfange  an- 
wachsen  kann  wie  das  Mittelländische?  Letzte- 
res gleicht  darin  sogar  dem  Nordischen  (Tür- 
kisch-Tatarischen) Worte:  und  wer  wird  jenen 
rauhen  Nordischen  Sprachstamm  für  ein  Muster 
von  Bildungsschönbeit  halten?  Kurz,  es  bedarf 
im  Grunde  nur  einiger  etwas  ausgebreiteter  und 
gründlicherer  Sprachkenntniss  um  den  Satz  wel- 
chen der  Verf.  als  ein  herrliches  Kunststück  ge- 
funden zu  haben  meint,  geradezu  umzukehren» 
Allein  was  heisst  es  ansich,  die  Sprachstämme 
nach  Formalismus  und  Materialismus  unterschei- 
den wollen?  Es  giebt  allerdings  Menschen  die 
bei  allem  was  sie  reden  und  was  sie  sind  mehr 
auf  die  blosse  Form  als  auf  die  Wirklichkeit  und 
Wahrheit  halten:  meint  man  denn  aber  das  sei 
bei  den  Sprachen  oder  gar  bei  den  Ursprachen 
d.  i.  den  Sprachstämmen  ebenso?  Vielmehr  ist 
ja  das  Eigenthümliche  der  Sprachen  dass  die 
Stoffe  nicht  nur  als  die  Gedanken  und  Begriffe 
sondern  auch  als  die  Urlaute  bei  allen  diesel- 
ben, und  nur  die  Art  wie  sie  solche  ausdrücken 
verschieden  ist ; diese  Verschiedenheit  zeigt  sich 
aber  in  ihrer  wahren  Bedeutung  erst  wenn  man 
alle  Sprachen  und  Sprachstämme  mit  einander 
genau  vergleicht;  und  wer  bloss  von  zwei  Sprach- 
stämmen etwas  zerstreutes  weiss,  sollte  hier 


122  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  4. 

besser  schweigen.  Wer  nun  aber  noch  dazu 
solche  zwar  sehr  wirkliche  und  wahre  aber  rein 
urgeschichtliche  oder  vielmehr  vorgeschichtliche 
Dinge  als  den  Ursprung  der  Sprachwurzeln  und 
Sprachstämme  mit  Dingen  zusammenwirft  wie 
Wissenschaft,  Bildkunst,  Baukunst  und  anderen 
' welche  erst  in  kaum  bemessbar  späteren  und 
veränderten  Lagen  der  Menschheit  möglich  sind, 
der  verwirrt  ja  nur  alles  in  einander«  Und  wer 
endlich  in  Deutschland  noch  immer  auf  die  längst 
verscheuchten  träumerischen  Einbildungen  Re- 
nan's über  die  Nationalitäten  und  die  den  Se- 
miten angehornen  geistigen  Mängel  eine  neue 
Weisheit  bauen  will,  der  begreift  doch  inderthat 
kaum  was  Wissenschaft  ist  und  sein  soll. 

Es  schwirren  in  unsem  Zeiten  so  unabsehbar 
viele  halbe  Gedanken  und  verworrene  Vorstel- 
lungen durch  die  Lüfte  dass  nichts  leichter  ist 
als  dies  oder  jenes  Dutzend  von  ihnen  in  einem 
Hohlspiegel  aufzufangen  und  im  Blicke  darauf 
mit  Hülfe  bekannter  Schulausdrücke  immer  neue 
Abhandlungen  zu  schreiben.  Man  kennt  und 
benutzt  dabei  nicht  die  schon  vorhandenen  bes- 
seren Einsichten  und  Schriften:  aus  untergeord- 
neten Schriften  halber  oder  gar  keiner  Sach- 
kenner schöpft  man,  thut  etwas  vom  eignen  Be- 
lieben hinzu,  und  rühmt  sich  dann  Wunder  was 
neues  und  wichtiges  entdeckt  zu  haben.  Das 
ist  bei  Wissenschaften  welche  Schwierigeres  und 
von  unsem  gewöhnlichen  Kenntnissen  oder  Be- 
strebungen weiter  entfernt  Liegendes  behandeln, 
noch  ganz  besonders  gefährlich  und  schädlich: 
und  welche  Forschungen  gehören  dahin  mehr 
als  die  über  die  Urstände  aller  menschlichen 
Sprachen,  Gedanken  und  -Wahrheiten  einerseits 
und  die  über  Orientalisches  andererseits?  Allein 
bis  jetzt  scheint  man  in  Deutschland  noch  nicht 


Milberg,  Durch  die  Meanderbahnen  etc.  12? 

einmal  so  weit  zu  sein  um  in  solchen  Fächern 
auch  nur  die  Herrschaft  solcher  Franzosen  wie 
Renan  von  sich  zu  weisen.  Wie  Hr.  Renan  die 
Köpfe  unzählbarer  Deutschen  in  theologischen 
und  kirchlichen  zu  verwirren  mitgeholfen  hat, 
so  soll  er  auch  noch  in  Orientalischen  und 
sprachwissenschaftlichen  Fragen  gerade  da  wo 
diese  allgemein  wichtiger  aber  auch  schwieriger 
sind,  trotzdem  dass  in  Deutschland  längst  weit 
gründlichere  Forschungen  und  bessere  Ergebnisse 
vorliegen,  etwa  ebenso  fortherrschen  wie  im  vori- 
gen Jahrhunderte  Voltaire  die  Geister  unterjocht 
hielt.  Wir  wollten  das  wenigstens  bei  dieser 
Veranlassung  noch  einmal  bemerken,  ob  viel- 
leicht sich  einige  Deutsche  heute  finden  welche 
dies  Uebel  zu  begreifen  und  abzuweisen  ver- 
stehen. H.  E. 


Milberg,  J.  H.:  Durch  die Maeanderbahnen 
der  Astronomie  zur  Philosophie  und  zum  Chri- 
stenthum. Hamburg,  W.  Maucke  Söhne,  1873. 

Es  ist  nicht  zu  zweifeln,  dass  der  Verf.  recht 
ernstlich  überzeugt  ist,  durch  sein  vorliegendes 
Buch  zur  Förderung,  wie  der  Astronomie,  so  auch 
der  Philosophie  und  der  Erkenntniss  des  Christen- 
thums nicht  bloss  etwas  Tüchtiges  geleistet,  son- 
dern sogar  eine  neue  Aera  auf  den  drei  genann- 
ten Gebieten  menschlichen  Forschens  eingeleitet 
zu  haben.  Kaum  könnte  der  Ton,  in  welchem 
er  redet,  zuversichtlicher  und  in  Beziehung  auf 
seine  Vorgänger  wegwerfender  sein,  und  selbst 
Leistungen,  wie  diejenigen,  durch  welche  unsere 
heutigen  astronomischen  Anschauungen  begrün- 
det worden  sind,  bespricht  er  in  einer  Weise, 
als  ob  wir  deren  Werth  wenigstens  für  im  höch- 
sten Grade  zweifelhaft  zu  halten  hätten.  Wenn, 
um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  Newton  vorge- 


124  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  4. 

worfen  wird,  dass  er  »sich  in  die  gehaltlosesten 
Theorien  verloren«  habe,  und  wenn  von  seinem 
Systeme  weiter  gesagt  wird,  dass  es  »eine  ge- 
haltlose Verirrung  des  menschlichen  Geistes  sei, 
wie  eine  grössere  nie  dagewesen«,  ja,  wenn  es 
in  Beziehung  auf  Newton’s  Theorie  als  »eine  alte 
Erfahrung«  bezeichnet  wird,  das9,  »je  dümmer 
eine  Lehre,  sie  desto  mehr  Gläubige  finde«  und 
wenn  es  dann  heisst,  dass  eben  »so  in  die  des 
Newton  sehr  Viele  hinein  gefallen,  die  ihren 
Scharfsinn  in  dieselbe  begraben  hätten«,  so  ist 
das  denn  doch  wirklich  eine  Sprache,  die  nicht 
selbstbewusster  sein  könnte;  und  — jedenfalls 
berechtigt  uns  ein  solches  Auftreten  von  Seiten 
• des  Verf.,  nun  von  ihm  Etwas  zu  erwarten,  das 
ihn  als  den  Meister  über  seine  so  schwer  ge- 
scholtenen Vorgänger  zeigte.  Allein  ob  man 
nun  dies  wirklich  von  seiner  Leistung  werde  be- 
haupten können,  das  ist  eine  Frage,  die  wir  denn 
doch  unsrerseits  sehr  in  Zweifel  ziehen  möchten, 
auch  auf  die  Gefahr  hin,  von  ihm  auch  zu  denen 
gezählt  zu  werden,  die  »sich  nur  auf  die  Triumphe 
der  Principien  und  der  erstarkten  Wissenschaft 
stützen,  ohne  selbst  zu  denken,  und  die  nichts 
Anderes  thun , als  mit  ungeheuerer  Gelehrtheit 
die  alte  Lehre,  die  sie  selbst  nicht  verstanden, 
nachbeten,  obgleich  dieselbe  wegen  ihrer  Unfass- 
lichkeit jeden  Denker  dazu  führen  muss,  Rich- 
tigeres zu  suchen«. 

Allerdings  wollen  wir  nicht  in  Abrede  stel- 
len, dass  mit  der  Newton’schen  und  den  an  sie 
angeschlossenen  Theorieen  auch  die  letzten  Räth- 
sel  noch  nicht  gelöst  sind,  wie  nicht  leicht  Je- 
mand bestreiten  wird,  der  sich  auf  dieselben 
ernstlich  eingelassen  hat,  aber  — löst  denn  nun 
des  Verf.  Theorie  diese  Räthsel  in  einer  besse- 
ren Weise?  Er  beklagt  sich,  dass  die  Astrono- 


Milberg,  Durch  die  Maeanderbahnen  etc.  125 

men  vom  Fach  bisher  so  überaus  spröde  gegen 
seine  Aufstellungen  gewesen  sind.  »Die  gelehrten 
Herren  Astronomen«,  sagt  er  in  dieser  Beziehung, 
»können  gegen  mich  keinen  Beweis  liefern,  sie 
können  es  nicht  möglich  machen,  gegen  meine 
Behauptung,  dass  die  Maeanderbahnen  das  wahre 
Sonnensystem,  zu  Felde  zu  ziehen,  und  da  sie 
sich  nicht  von  Jemandem  belehren  lassen  dürfen, 
der  nicht  Astronom,  sondern  Naturphilosopb,  so 
ist  ihnen  die  ganze  Sachlage  eine  höchst  unbe- 
queme, Niemand  will  anerkennen  und  die  alten 
Bahnen  der  Ellipsen  vertheidigen,  noch  die 
Maeanderbahnen  angreifen,  Keiner  will  sich  bla* 
miren,  deshalb  giebt  es  nur  ein  Mittel,  todt- 
schweigen«.  Aber  abgesehen  von  dem  ganz  Un- 
geeigneten solcher  Auslassungen  in  einer  Schrift, 
in  der  man  es  mit  der  ruhigen  Erörterung  des 
Thatsächlichen  zu  thun  haben  sollte,  batten  wirk- 
lich die  »gelehrten  Herrn  Astronomen«  nichtRecht, 
eine  Schrift  nicht  zu  beachten,  die  weder  den 
Nachweis  der  Richtigkeit  ihrer  Behauptungen  in 
der  nun  einmal  hergebrachten  wissenschaftlichen, 
d.  h.  auf  Thatsachen  gegründeten  Weise  unter- 
nimmt, .noch  auch  in  dem,  was  sie  behauptet, 
mit  einer  ganzen  Reihe  von  Thatsachen,  die  zu 
den  wissenschaftlich  begründetsten  gehören,  in 
Einklang  gebracht  werden  kann?  Jedenfalls  hat 
der  »gelehrte  Astronom«  Recht,  wenn  er  natur- 
philosophische Phantasien,  so  lange  dieselben 
nichts  Anderes,  als  nur  dies  sind,  nicht  be- 
achtet, da  es  auf  keinem  Gebiete  mehr,  als  auf 
dem  der  Astronomie,  darauf  ankommt,  das,  was 
man  behauptet,  auch  zu  beweisen,  und  da  aller 
Fortschritt  auf  diesem  Gebiete  doch  wohl  haupt- 
sächlich nur  in  der  genauen  Beobachtung  und 
Feststellung  der  Thatsachen  und  in  der  Art  und 
Weise  bestehen  kann,  wie  diese  Thatsachen  für 


126  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

die  allgemeinen  Theorien  verwerthet  werden. 
Mit  Machtsprüchen  ist  hier  am  Allerwenigsten 
Etwas  gethan,  und  selbst  wenn  diese  Macht- 
sprüche mit  der  Versicherung  begleitet  sind, 
dass  »todtschweigen  nicht  helfe«,  dass  »die  Wahr- 
heit wie  der  Lichtstrahl  durch  Wolken  brechen«, 
dass  »das  Volk  die  neue  Lehre  verstehen  lernen 
und  dann  auch  die  Theorie,  die  Herren  der  al- 
ten Lehre  (siel),  hinterherschwanken  werde  und 
sie  nachbeten  müssen,  denn  — weil  es  so  ist,  so 
ist  es  so!«  Das  klingt  sehr  selbstgewiss,  aber  — 
mit  dem  blossen  »So  ist  es«  richtet  man  hier 
wirklich  nicht  viel  aus.  — 

Und  nicht  besser,  wie  mit  dem,  was  der  Verf. 
in  Beziehung  auf  Astronomie  vorbringt,  steht  es 
mit  seinen  Auslassungen  in  Hinsicht  auf  das 
zweite  grosse  Forschungsgebiet,  auf  das  er  eich 
begeben,  in  Hinsicht  auf  die  Philosophie.  Auch 
hier  dieselbe  Erhabenheit  des  Standpunktes,  die 
über  das,  was  auf  diesem  Gebiete  bisher  gelei- 
stet worden  ist,  nur  ein  absprechendes  Urtheil 
hat.  Kant  z.  B.,  der  »um  die  Welt  mit  Ge- 
lehrtheit zu  beglücken«,  die  Newton’sche  Theorie 
»als  begriffen  weiter  erzählt  und  anerkannt  hat«, 
wird  einer  »traurigen  Philosophie«  geziehen,  »die 
den  arithmetischen  Satz  annimmt,  dass  2 mal  2 
gleich  4 ist,  aber  nicht  erlaubt,  diesen  Satz  weiter 
zu  führen«,  und  ganz  und  gar  verhehlt  es  uns 
der  Verf.  nicht,  dass  diese  Philosophie  eigent- 
lich nur  »für  den,  der  nicht  denkt,  genügt«.  Und 
so  geht  es  dann  fort:  mit  unsrer  heutigen  Phi- 
losophie liegt  es  so  sehr  im  Argen,  dass  wir 
nicht  bloss  hinter  den  Griechen,  sondern  auch 
hinter  den  Chinesen  zurückstehen.  »Wo  sind 
denn,  ruft  er  aus,  »die  Errungenschaften  des 
Edlen,  Hohen,  der  geistige  Thron,  auf  dem  wir 
zu  stehen  träumen?  Sind  es  die Principien,  der 


Milberg,  Durch  die  Maeanderbahnen  etc.  127 

Triumph  der  erstarkten  Wissenschaften?«  Weit 
gefehlt!  Die  Wissenschaften  haben  auch  schon 
die  Alten  gehabt,  aber  »unsre  Lehrer  umhüllen 
die  Wahrheit  mit  Begriffslehren,  und  Alles,  was 
sie  erreichen  in  ihren  Burgen,  ist  ihrer  Eitelkeit 
zu  dienen,  ist,  in  fernen  Weltregionen  ein  neues 
Atom  zu  finden«.  Eine  ganze  Reihe  von  Seiten 
hindurch  ergeht  sich  der  Verf.  in  solchen  An- 
klagen, eine  wegwerfender,  als  die  andere,  und 
fragt  man,  was  er  selbst  denn  nun  eigentlich 
will,  so  erhält  man  denn  doch  nur  sehr  geringen 
Aufschluss  in  allgemeinen,  doch  gewiss  schon 
hinreichend  genug  gehörten  Phrasen.  Man  lese 
nur  von  S.  43  an  und  man  wird  staunen,  wie 
der  Verf.  rein  banale  Redensarten  für  neue  Er- 
kenntnisse auszugeben  wagt,  und  — wie  er  dann 
schliesslich  bloss  gegen  einen  Artikel  des  Brock- 
hausischen  Conversationslexikons  und  dessen  Be- 
griffsbestimmung der  Philosophie  zu  Felde  zieht, 
in  der  Meinung,  damit  das  ganze  heutige  philo- 
sophische Denken  in  seinem  Kernfehler  getroffen 
und  als  rein  verfehlt  zurecht  gewiesen  zu  haben. 
»Ich  habe«,  heisst  es  zum  Schluss  dieser  viele 
Seiten  füllenden  »Beleuchtung  der  im  Brockhaus'- 
schen  Lexikon  enthaltenen  Ansichten  über  Leh- 
ren der  Weisheit  zu  zeigen  mich  angestrengt, 
dass  die  augenblicklich  geltenden  Bestimmungen 
der  sogenannten  Philosophie  über  Gedanke,  über 
Begriff  und  Wissenschaft  ein  ungeheurer  Wirr- 
warr sind,  von  dem  sich  Jeder  überzeugt  hat, 
der  mit  dem  von  mir  gegebenen  Schlüssel  mir  in 
meinen  Auseinandersetzungen  gefolgt«,  und  »man 
kann  sich  daher  nicht  wundern,  dass  es  Men- 
schen gegeben  hat,  die  aus  diesem  Wirrwarr  in 
ihrem  Irrthum  Lehren  zusammen  fügten  und  Ge- 
setze zu  geben  es  gewagt  (sic!),  die  sie  selbst 
nicht  verstanden!«  Aber  wenn  man  nun  sagen 


128  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  4. 

soll,  was  er  selbst  denn  an  die  Stelle  der  heuti- 
gen Philosophie  setzen  will,  Bef.  muss  beken- 
nen, dass  er  es  aus  allen  Redensarten  des  Verl 
doch  eigentlich  nicht  hat  abnehmen  können.  — 
Endlich  das  über  das  Christenthum  Beige- 
brachte : es  ist  das,  mit  einem  Worte  gesagt,  der 
reine  Gallimathias!  Wie  wenig  der  Verf.  »be- 
rechtigt ist,  in  den  Kreis  der  wissenschaftlichen 
Betrachtungen  der  Astronomie  und  Philosophie 
auch  die  christliche  Lehre  hineinzuziehen€,  geht 
schon  daraus  hervor,  dass  er  in  den  Grundquel- 
len christlicher  Erkenntniss,  in  der  Bibel,  nicht 
einmal  recht  zu  Hause  ist.  Allerlei  Schriftstellen 
sind  ihm  wohl  noch  vom  Schulunterrichte  her 
im  Gedächtniss,  aber  wie  wirft  er  die  Worte 
Christi  und  der  Apostel  bunt  und  ohne  Unter- 
scheidung durch  einander,  dem  Einen  in  den 
Mund  legend,  was  doch  dem  Anderen  gehört,  ja 
wie  geht  er  sogar  so  weit  in  dieser  Vernachlässigung 
aller  Genauigkeit,  dass  er  (S.  76)  schreiben  kann: 
„der  Mensch  ist  seines  Glückes  Schmied,  sagt  der  Apo- 
stel, und  das  Sprichwort:  Prüfet  Alles  und  wählet  das 
Beste“.  Unter  solchen  Umständen  kann  denn  freilich 
von  wirklicher  Erkenntniss  auch  auf  diesem  dritten  For- 
schungsgebiete, die  der  Verf.  darböte,  nicht  die  Rede 
sein.  Alles  kommt  auch  da  in  ein  blosses  Deklamiren  voll 
hochtönender,  aber  sehr  allgemeiner  Phrasen  hinaus,  von 
denen  wohl  nur  der  Verf.  nicht  weiss,  dass  sie  längst  in 
aller  Munde  sind,  und  — schliesslich  läuft  Alles  in  die 
doch  kaum  mehr  als  ein  Lächeln  verdienende  Behaup- 
tung aus,  dass  Christus  ein  Repräsentant  deijenigen  Art 
von  „Naturphilosophie“  gewesen  sei,  die  den  Fleischge- 
nuss verabscheut,  des  „Vegetarianismus“. 

ln  einem  Schlussäbschnitte  meint  der  Verf..  „die 
Herren  Angestellten  hätten  sich  jetzt  ihrer  Haut  zu  wäh- 
ren (sic!),  wenn  ein  Fremdling  ihnen  den  alten,  gedan- 
kenlosen Weg  verlegen  wolle,  auf  dem  sie  so  gemüthlich 
umher  geschaukelt“,  Ref.  möchte  jedoch  glauben,  der 
Kampf  würde  den  „Herren  Angestellten“  nicht  eben 
schwer  werden.  Schliesslich  noch  die  Bemerkung,  dass 
das  Buch  von  Druckfehlern  und  Sprachschnitzern  über- 
füllt ist.  Brandes. 


129 


■Gift  f n g f s ehe 

9 

gelehrte  Ansteigen 

/ ' 

nutet  der  Aufsicht 

l 

9 

♦ 1 

dpt  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Sttlök  5.  4.  Februar  1874, 


Reisen  nach  dem  Nordpolarmeer  ih 
den  Jahren  1870  nnd  1871  von  M.  Th.  von 
Heuglin.  In  zwei  Theilen  und  einem  wissen- 
schaftlichen Anhang.  Mit  drefcOriginalkarten, 
zwei  Farbendruck-Bildern,  zahlreichen  Illustra- 
tionen nnd  Vorwort  von  Dr.  A.  Petermann. 
Erster  Thefl:  Reise  in  Norwegen  und  Spitz- 
bergen. Braunschweig.  Georg  Westermann, 
1872.  828  Seiten  Mittel-Octav. 

Obgleich  der  Verf.  des  vorstehenden  Werkes 
in  seinen  ersten  Briefen  an  Dr.  Petermann  in' 
Gotha  schrieb,  dass  seine  Reise  nicht  die  Prä- 
tension habe;  eine  wissenschaftliche  Expedition' 
zu  sein,  denn  dazu  hätte  er  ganz  anders  Vor- 
bereitet und  ausgerüstet  sein  müssen,  so  hatte 
er  sich  dock  einen  Plan  gemacht  und  hatte  be- 
stimmte Ziele  im  Auge.  Diese  nennt  er  eben- 
daselbst (Oebgr.  Mitth.  1870,  S.  341)  und  sie 
sind  erreicht  worden.  Die  Reise  hat  für  die 
Geologie , die  Sinologie  und  Botanik  der  Polar- 
gegenden anetkennenswerthe  Resultate  geliefert;' 

9 


130  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 


ebenso  wurden  reiche  Sammlungen  mitgebracht, 
yon  denen  leider  eine  fünf  Centner  schwere  Kiste 
mit  Mineralien  und  Petrefacten  heim  Verladen 

i 

des  Gepäcks  io  Bergen  in  Verlast  gerathen  war« 
Alle  Bemühungen  sie  wieder  zu  erlangen  blie- 
ben erfolglos«  Dem  eignen  Reiseplan  diente  zu 
grösserer  Klarheit  das  S.  4 bis  10  abgedruckte 
Schreiben  von  Dr.  Petermann  an  den  Verf.,  der 
hiebei  in  einer  Anmerkung  S.  5 wiederholt,  dass 
Entdeckungen  »»ausser  seiner  Absicht  lägen,  viel- 
mehr er  sich  auf  wissenschaftliche  Sammlungen 
und  Beobachtungen  beschränken  werde««.  Der 
eigentliche  Urheber  des  Reieeplans  wer  der  W ür- 
tembergische  Oberlieutnant  Graf  Waldburg-Zeil- 
Trauchburg,  der  dem  Verf/,  im  März  1870 jden 
Vorschlag  machte,  gemeinschaftlich  . mit  ihm, 
eine  Fahrt  nach  dem  Norden  zu  unternehmen 
(S.  1).  Alle  Vcjfbereitungen  wurden  ,rascb.b$T 
trieben.  Am  4.  Juni  fuhren  die  Reisenden  von 
Hamburg  nach  Norwegen  auf  dem  Dampfer 
»Hakon  Jarl«  und  von  hier  an  beginnen  die 
Beobachtungen  des  Verf.,  welche  sich  vorzugs- 
weise auf  die  Geologie,  die  Fauna  und  die  Flora 
der  erforschten  Gegenden  erstrecken.  Die  Fahrt 
nach  Tromsö» . . von , yro  aus  die  j Polarreise  auf 
dem  dort  gecharterten  Schuner  »Skjön  Valborg« . 
beginnt,  dauerte  15  Tage.  Der  »Hakon  Jarl« 
läuft  aber  auch  viele  Häfen  an:  Christiansand 
(S.  14  ff.),  Clere  (S.  10),  Farsund,  Ekesund  (S. 
17),  Stavanger  (S.  17  u.  18),  Bergen  (8.  Juni* 
S.  19  u.  ff.),  Aalesund  Hl.  Juni  S.  23),  Molde, . 
Trondbjem  (S.  23  ff.).  Von  hier  besteigen  die 
Reisenden  den  »Tordenskjöld«,  landen  am  16.. 
Juni  für  einige  Stunden  in  Namsos,  passirpn  an 
demselben  Tage  Nachmittags,  3 Uhr  die.Grepae 
des  Nordlands,  an}  folgenden  Tage  den  Polar*, 
kreis  und  die  ungefähre  Grenze  des  Nadelholzes 


Heuglin,  Reifen  hach  dem  Nordpolarmeer.  131 

in  der  NÜhe  der  Küste  (6.  28  u.  f.),  kommen 
dann  nach  Bodö,  Stoekmarknes  auf  Ulsö  (S.  30), 
Trane  (8.  84)*  Maalnes  (ebdas.),  endlich  nach 
TrömsS  (19.  Juni  S.  35).  Bis  hierher  ward  vom' 
Verf.  die  Meerfarbe  der  Nordsee  — tiefblau  im 
Skager  Rack,  — die  Meerestemperatur  an  eini- 
gen Stellen  (8.  13)  und  manches  andere  beob- 
achtet. Die  Domkirche  zu  Trondbjem  ist  in 
einem  feinen  Holzschnitt  abgebildet  (S.  24). 
Von  hier  an  bietet  sich  Gelegenheit,  Bekannt- 
schaft mit  den  nordischen  Seevögeln  zu  machen, 
die  sehr  zahlreich  auf  den  Klippen  und  Inseln 
vertreten  sind  (8.  27).  Das  Bild  eines  Fischers 
von  den  Lofoten  (S.  82)  bezeugt,  dass  der  Verf. 
sich  im  Bereich  dieser  Inselgruppe  befindet,  die 
er  kurz  skizzirt  (8.  81  bis  34).  Der  für  die 
Nordfahrt  bis  zum  15.  October  gemiethete 
Schuner  bot  wenig  Bequemlichkeit  für  die  Rei- 
senden (8.  88),  die  ihren  Aufenthalt  in  Tromsö. 
zur  Besichtigung  'der  gleichnamigen  Insel  be- 
nutzten. Auf  wenig  Beiten  bringt  der  Verf.  ein 
anschauliches  Bild  der  Waldungen , Wiesen- 
grunde, Gärten,  erster©  belebt1  von  weissen  Ha- 
sen, Mootschheehühnenr,  Wacholderdrosseln* 
u.  & w.  An  den  Gewässern  fand  er  Colymbus 
septemtrionalis  brütend  und  Phalaropus  eine- 
rius  (den  niedlichen  Lappenfuss);  am  Strande 
kleine  Regenpfeifer,  Meerstrandläufer,  Austern- 
fischer ; auf  der  See  Lummen  und  Alken  in 
ziemlich  dicht  geschlossenen  Gesellschaften,, 
mehrerlei*  Möwen;  auf  dem  Wiesenlande  die 
Rauchschwalbe,  die  Sumpfrohreule.  >Der  Strand 
der  Insel  ist  an.  einigen  Orten  bedeckt  von  einer, 
wahren  Musterkarte  von  plutonischen  Gesteinen, 
als  Granit,  Glimmerschiefer,  Chlorit,  Gabbro, 
Horablendefels  und  Granatit  ; auf  der  Westseite 
> steht  ein  geschichtetes  Gestein  an,  das  häufig 

9* 


12  Gott  get  Anz.  1874.  Stick  & 

s Baumaterial  augewendet  wird«  (S.  41).  Dar' 
erf.  hielt  es  für  dolomitischen  Kalk  und  ver- 
utbete,  derselbe  ruhe  auf  Glimmerschiefer, 
as  Thermometer  stieg  nicht  selten  auf  20 — 22 
rad  R.  im  Schatten  (S.  42).  Ein  Ausflug  ward 
ich  dem  nahen  Tromsdal  am  Festland,  einem 
»n  hohen  Bergwänden  eingeschlosseaen  Thal- 
888el,  in  dem  eine  Lappenfamilie  (wovon  2 Ab- 
ildungen)  mit  ihren  ßennthierheerden  wohnt, 
ämacht  (S.  43  u.  ff.).  Am  Vormittag  3.  Juli 
chtete  die  Skjön  Valborg  die  Anker  (damit  be- 
nnt  Kap.  2 S.  49  bis  93,  welches  die  Fahrt 
sn  Norden  bis  zur  ersten  Landung  in  Spitz- 
er gen  beschreibt).  Unter  widrigen  Winden 
langte  man  nach  zwei  Tagen  bis  in  den  en- 
en  Kanal/  von  Skorö,  von  wo  in  einem  Bar- 
unierboot  ein  Abstecher  nach  der  von  male- 
schen und  gewaltigen  Felsmassea  erfüllten  In- 
;1  Fuglö  (70°  10'  Nördl.  Br.)  gemacht  wurde. 
iie  Felsen,  aus  verschiedenen  Urgebirgsarten  be- 
lebend, sind  2*  bis  3000  Fuss  hoch,  zum  Theil 
lit  üppigem  Grün  bedeckt.  Zahllose  Vogel- 
ihaaren  nisten  an  den  Abhängen;  die  jährliche 
agdausbeute  liefert  30 — 40,000  Vögel  und  viel- 
licht  doppelt  so  viele  Eier  (S.  57).  Am  8.  Juli 
■üh  fuhr  der  Schoner  weiter,  das  Wetter  blieb 
•übe  und  neblig,  am  11.  meinte  der  Kapit&in 
abe  der  Bäreninsel  zu  sein,  was  dem  Verf.  Ge- 
igenheit  giebt,  diese  Insel  nach  Keilhau  und 
ieopold  v.  Buch  und  anderen  S.  64  bis  68  zu 
eschreiben.  An  ebendemselben  11.  Juli  pas- 
irte  man  auf  18  Grad  Oestl.  Länge  v.  Gr.  den 
5.  Grad  Nördl.  Breite  und  gerieth  bald  in 
'reibeis  (S.  69).  Die  Temperatur  war  4*2*/*° 
L,  das  Meerwasser  — 0,5°.  Die  Eismassen  wur- 
en  dichter,  undurchdringlicher;  gegen  den  ur- 
prUuglicheu  Plan  ward  beschlossen,  >um  das 


Heuglin,  Reisen  nach  den  Nordpolanneer.  133 

Sftdcap  von  Gross-Spitzbergen  hemm  Kings  der 
Westküste  desselben  hinznsegeln  nnd  hier 
einen  passenden  Hafen  zn  erreichen«  (S.  71), 
Das  Erscheinen  von  Finwalen  veranlasst  den 
Excars  über  den  längst  ans  den  Spitebergiscben 
Gewässern  verschwundenen  grönländischen  Wal 
S.  74  bis  88,  dem  sich  einige  Bemerkungen 
über  den  Fmfisch  anfügen  (8.  88 — 90).  Das 
Eis  nötbigte  zeerst  eine  rückgängige  and  dann 
eine  Bewegung  nacfa  Westen  zu  machen;  am 
IS.  Juli  befindet  man  sioh  dem  Südkap  südlich 
gegenüber,  Mitternacht  kommt  der  4500  Fuss 
hohe  Horn-Suud-Tind  in  Sicht;  am  16.  wird 
ans  Land  zu  geben  beschlossen  und  ausgeführt. 
Damit  beginnt  Kap.  3 (S.  94 — 155),  die  Landung 
südlich  von  Rotjes  Fell.  Die  Schilderung  der 
Gegend  ist  hier  besonders  detaillirend : der 
Strand  mit  Geröll  bedeckt,  am  Ufer  ruinen- 
artige Klippen,  die  Brutplätze  der  Bürgermeister* 
möven,  ein  um  das  Gefelse  herum  sich  schlei- 
chender Eisfuchs,  der  sich  einen  jungen  Vogel 
fängt,  Flüge  von  Eidervögeln  und  Grasgänsen, 
in  der  Ferne  um  die  Berge  undeutliche  nebel- 
artige  Streifen,  die  sioh  als8chaaren  von  Krab- 
bentauchern  ausweisen.  Die  eisumstarrte  Oede 
gewinnt  Leben  durch  des  Verf.  malerische  Dar- 
stellung. Der  Rotjes  Fell  besteht  aus  soge- 
nannten Hekla-Hook-Bildungen,  die  glasklingend, 
diebt,  spröde  und  brüchig  sind  (3.  97).  Allo 
Felsblöcke  sind  dicht  besäet  mit  Brntstellen. 
Ein  Krabbentauoher  ist  hier  abgebildet  (8.  96); 
»Hebe  Geschöpfe«  nennt  sie  der  Verf.,  sie  Bind 
die  kleinsten  der  in  Europa  heimischen  Schwimm- 
vögel. Der  Schoner  wird  in  den  Hafen  der 
Dunen-Inseln  bugBirt,  auf  welchen  die  Zahl  der 
Eiderenten  bedeutend  abgenommen  bat  (S.  102^. 
Die  Naturgeeohiohte  dieses  Vogels,  von  dem  hiev 


134  Gott.  geL  Apz.  1874.  Stück  8. 

eine  Abbildung,  folgt  ausführlich,  darnach  Wör- 
den der  Praohteidervogel  oder  die  Königsente 
(Somateria  spectabilis)  und  die  Eisente  {der 
Verf.  schreibt  Eisschellente,  Harelda  glacialie) 
beschrieben,  letztere  hauptsächlich  auf  Süss* 
wasserteicben  anzutreffen  nnd  sich  im  Sommer- 
kleide  fortpflanzend.  Die  Sohneeammer  ist  der 
einzige  hier  lebende  Singvogel  (S.  108  n.  f.),ein 
Wandervogel,  der  im  Mai  anlaogt;  die  kleine* 
ren  Süsswassertümpel  bevölkert  der  breit* 
8chnäbelige  Wassertreter  (Phakropus) ; Laras 
ist  mehrfach  vertreten,  anch  die  arktische  See* 
schwalbe  nnd  die  Ringelgans  (Bernicla  brenta 
oder  bei  Linnee  Anas  bernicla).  Während  des 
Aufenthalts  bei  den  Dunen-Inseln  machte  der 
Verf.  nachfolgende  Beobachtung,  die  als  jenen 
Polargegenden  eigentümlich  beachtet  zu.  wer- 
den verdient.  »Am  Morgen  des  19.  Juh  zwi- 
schen 6 und  8 Uhr  wüthete  auf  offener  See  ein 
rasender  Sturm,  es  dröhnte  und  schnaubte  wild 
durch  einander  wie  viele  Dampfmaschinen,  die 
Wogen  brachen  sich  mit  unglaublicher  Gewalt 
an  der  langen  Klippenbarre  im  Westen  und 
stürzten  und  rollten  schäumend  über  die  Felsen 
herein,  während  Luft  und  See  im  Hafen  selbst 
ziemlich  ruhig  blieben.  Solche  isolirte.Luft-  und 
Gegenströmungen  kommen  in  Spitzbergen  über- 
haupt sehr  häufig  vor.  In  einem  Fjord,  kann 
vollkommene  Windstille  herrschen,  während  auf 
eine  Entfernung  von  wenigen,  hundert.  Schritten 
flraussen  entsetzliches  Unwetter,  tobt;  andrer- 
seits fegt  die  durch  Verdampfung,  des  eisigen 
Schnees  der  Berge  erkältete  Luft  mit  grosser 
Gewalt  über  die  Gletscher  weg  zu  Thal,  in  » die 
Lnftschichten  der  Buchten  des  Westlandes,  die 
durch  die  warmen  Gewässer  der  aozseraten  Ver- 
gweigungen  des  Golfstroms  beständig  und^tetohr 


Heuglin,  Reisen  nach  dem  Nordpolarmeer.  195 

ibäsefger  erwärmt  sind«  (S.  114).  Am  21.  Juli 
wendete  das  Schifl'  wieder  nach  Süden,  gegen 
den  Wünsch  dösVerf.,  der  übrigens  nicht  bloss 
hier,  sondern  öfter  es  durchfühlen  lässt,  wie 
wenig  planmässig  die  Fahrt  durchgehalten 
wurde;  man  folgte,  wie  es  scheint,  mehr  der 
augenblicklichen  Laune,  und  von  einem  sicheren 
Commando  des  Schiffsführers  sowie  von  einer 
strengen  Disciplih  war  kaum  etwas  vorhanden. 
Dem  Leser  begegnen  derartige  Andeutungen  ge« 
nug,  wir  brauchen  sie  nicht  besonders  hervor- 
guheben.  So  kehrte  man  denn  jetzt  das  Steuer 
nach  Süden,  nicht  nach  Norden,  wie  der  Verf. 
wünschte,  der  es  vorgezogen  hätte,  Spitsbergen 
von  Westen  und  Norden  aus  zu  umschiffen  (S. 
216).  Am  Abend  des  22.  Juli  befand  man  sich 
auf  der  Höhe  des  Süd-Cap  bei  fürchterlichem 
Sturm,  in  folgender  Mitternacht  wurde  das  Süd- 
Cap  umsegelt  und  das  Schiff  steuerte  in  Wybe 
Jans  Water,  den  Stör  Fjord  der  Schweden,  hin- 
ein. Die  dem  Buch  beigegebenen  2 Karten,  die 
erste  * über  Spitzbergen  und  Nowaja-Semlja,  die 
zweite  von  Ostspitzbergen  allein,  sind  die  ur- 
sprünglich in  den  Geogr.  Mitth.  veröffentlichten, 
eritere  1872  Heft  VH.  Taf.  14,  letztere  1871 
Heft  V.  Taf.  9.  Die  letztere  tragt  118  neue 
Namen,  die  Dr.  Petermann,  ’der  beide  Karten 
gezeichnet,  runter  Rücksprache  und  Genehmi- 
gtiftrg  der  Herren  v.  Henglin  und  Graf  Zeil« 
eingetragen  hat  (Geogr.  Mitth.  18T1  S.'  182. 
Sie  gewährt  eih  sehr  dedtlich  es  Bild  der  vor- 
liegenden Reisb  zwischen  West-  und  Ostspitz- 
Uergen;  Wählend  die  erstgenannte  Karte,  des 
sähr  verkleinernden  Massstabes  wegen  (1 : 800,000), 
nur  Vreflig  Nataen  enthält.  Sonst  aber  veran- 
äehäniiciit  Sie  dfese  Fahrt  nach  Spitzbergen,  so» 
W&4&  später  • von  Heuglin  und  Rosenthal  ans- 


136  GqtjL  gd.  Ans.  1874.  St&*  #. 


geführte  oach  NowajarSaralja  d«rcb  genaue  Ver- 
zeichnung der  Schiflsknree,  denen  zahlreiche  An- 
gaben der  Meeres«  und  Lufttemperatur  biuzst- 

Sefügt  sind..  Conträre  Winde  und  Eis  machten^ 
ass  die  Beisenden,  wie  der  Verf.  sagt  S.  121, 
»tagelang  im  Stör  Fjord  nach  allen  Lichtungen 
hin  und  her  segelten  und  trieben«.  Am  28» 
Juli  yertbeilte  sich  das  Eis  und  das  Schiff  ging 
auf  der  Höhe  vor  dem  Gap  Agardh  vor  Anker 
(S.  129).  Die  am  Land  gelegenen.  Berge  wur- 
den, bestiegen,  ausgezeichnet  durch  die  Lage- 
rungsverhältnisse  grosser  Findlinge  (davon  eia 
Bild  S.  132),  deren  seltsame  Lagerung  der  Verf. 
ans  der  schnell  verwitternden  Oberfläche  der 
terrassenartig  aufgebauten  Mergelschiehten  za 
erklären  versucht.  Die  Absicht  nach  Ostspitz- 
bergen hinüberzusegeln  misslang,  der  Schuaer 
musste  wieder  zurück  und  ankerte  am  31.  Juh 
in  der  Duner-Bai.  Hier  wie  an  der  Agardh- 
Bai  wurden  Bene  erlegt  (S.  141).  Das  Sueben, 
n»ch  Versteinerungen  war  hier  von  reichem  Er- 
folg; einiges  von  dem  mitgebrachten  hat  Dr. 
Frsas  in  Stuttgart  untersucht  und  bestimmt 
(VgL  Geogr.  Mittb.  1872  S.  275—277).  Dia 
geologische  Beschreibung  der  Gestade  der  Du- 
ner-B&i  jst  ausführlich,  wie  dies  überall  der 
Fall  ist,  wo  der  Verf.  das  Festland  selbst  be- 
treten; so  gleich  hernach  die  Umgehung  der. 
Mohn-Bai, . in  welcher  das  Schiff  nach  vergeh*, 
liebem  Versuch  nordostwärts  durch  das  Eis  zu 
dringen  am  1.  August  vor  Anker  ging  (S.  auch 
die  Abbildung  zw,  S.  144  u.  145)«  Das  merk-, 
würdigste  hier-  ist  der  nördlich  gelegen«  m einer 
Breite  von  etwa  zwölf.  Meilen  dm  Küste  bep, 
deckende  Negri-Gletscher,  der  »nogh  weit  ins, 
Meer  vorspringt,  wo  er  in  mächtigen  Wänden, 
senkrecht  abstürzt«  (S.  14&);  Er  1st  .WähWfheiU'», 


Heuglin,  Reken  nach  dem  Nordpolarmeer.  487 

liefe  kn  Verrücken  begriffen  und  dürfte  bereit* 
Wallrosaen-Eiland,  ine  auch  einen  Theil  dar 
Wbales*Wicbes-Bai  der  alten  Karten  gänzlich 
bedeckt  haben.-  -Ein  Bild  »Schuner  mit  an* 
setzendem  Treibeis«  veranschaulicht  die  Lage 
des  Scbifls-  am  5.  Aegnet  (8.  152).  Ein  Ver» 
such,  am  7.  nach  Barents  Eiland  an  gelangen« 
missglückt ; man  steuert  an  der  Ostköate  sndt 
lieb  und  am  5.  August  früh  wird  bei  Gap.  Lee 
Anker  geworfen  (8.  155).  Der  Verf.  untersucht 
zunächst  die  Umgegend  des  genannten  Gaps; 
das  Bach  bringt  8.  158  eine  V ogelperspecti ve 
dieses  Vorgebirges.  Er  fand  Trümmer  mehret 
rer  Russenhüitten , noch  ein  grosse»  mit  starken 
Pieten  bedecktes  Grab,  in  dessen  Nähe  siob 
Polarfüchse  angesiedelt  hatten.  Das  PHaniem 
sammeln  ergab  eine  reiche  Ausbeute,  namantr 
lieh  stand  der  nordische  Mohn  (Papaver  nudi-* 
eaule)  wenn  auch  licht  ge  säet,  oft  anf  gronea 
Strecken.  Anf  diesem  Ausflug  gelangte  Hr. 
t.  Heuglin  Ins  au  die  Walter  Tbymens-Strasse, 
hier  3 bis  4 nautische  Meilen  breit,  gegenüber 
mit  Eis.  dicht'  besetzt*  an  der  Histe  diesseits 
ziemlich  eisfrei  (8.  165h  an  der  Kante  ein  hon 
rigontalea  Lager  von  Hyperit  (vgl.  die  Abbild 
düng  8.  166).  Bei  einem  zweiten  Ansfluge  be* 
sachte  der  Verf.  das  wohl  25  Fuss  hohe  raseW 
sehe  Votivkreuz,  von  dessen  Fuss  eine  wahrhaft 
grossartige  Fernsicht  bis  zum  Südcap,  Hora« 
snndptind,  Wbalesfcaad,  der  Agardh-Bai  und  date 
Negri-Gletscher.  Ein  Bild  8. 171  zeigt  ein;  Hy« 
perit-Lager  an  der  steilen  Küste,  hoeh  eiben  im 
Hintergrund  das  Russenkreuz.  Der  Verf.  flukl 
0.  a.  die1  wohleihgltenen  Rippen  eines  SaArien* 
hatte  abac  keine  Öeräthschaft,  weiten  Nach* 
gr&bungen  anansteUen.  Dn.  Fraas  erklärt.  die 
Rippen  fiir  solche  ton  Ichthyosaniüs  (Qeogi'T 


188  8Mt  gek'Ans.  1874.  6töcfc  Ä. 

Mittb.  1872  S.276).  DerselbeGelehrteglafäbt 
naieh  den  ibmvon  Hrn.  v.  Hennin  Torgelegten 
Fänden  an  der  tradischen  Natur  des  Cap  Lee 
bescheidene  Zweifel  hegen  zu  müssen.  Dies« 
Ansicht  waren  n&mHch  die  schwedischen  For- 
scher Lindström  und  Nordenskiold,  die  wie  Dr. 
F.  meint,  »augenscheinlich  jurassische  Fossile 
für  triadi8cbe  genommen  haben«  (ebendas.  8. 
277).  Hr.  v.  Hewglin  hält  auch  die  LindStröm’- 
Ache  Hallobia  für  identisch  mit  Monotis  substriata 
(8.  168).  Am  14.  August  Abends  unternahm  er 
seine  grössere  Expedition  nach  der  Walter  Tby- 
metis-Strasse  (S.175).  Das  Bemerkenswertbeste 
war  auf  dieser  Fahrt  die  Besteigung  des  Mid- 
dendorff-Berges  (S.  178  u.  ff.),  dessen  Gipfel 
(etwa  1200  Fuss  hoch)  in  einer  Stunde  erreicht 
wurde.  Derselbe  ist  ganz  mit  Ge6teinstrümmern 
bedeckt.  Die  Aussicht  war  überraschend,  be- 
sonders die  auf  das  östliche,  gf ossenthei  Is  mit 
schwimmenden  Eisflarden  erfüllte  Eismedr,  über 
welches  hinaus  der  Yerf.  in  einer  Entfernung 
won  gegen  60  Meilen  am  fernen  Horizont  in  N. 
66V4  Grad  O.  (magnetischer  Meridian)  eine 
hohe  tafelförmige,  wie  es  schien,  ganz  schnee- 
freie Bergmasse  erblickte.  Dies  Land  ist  Ähr 
einen  Tbeil  eines  grösseren  Continents  gehalten 
worden  und  wurde  vom  Verf.  König  Karls  Land 
genannt.  Dass  an  dem  Vorhandensein  einet 
solchen  Festlandes  nicht  zu  zweifeln,  beWfefeett 
Wahrnehmungen  aüs  älterer  und  neuerer  Zelt, 
die  der  Verf.  S.  180-^186  zusamUretmtellt.  nAtrf 
der  bdigegebeneu  Karte  ist  die  Küste  Nibses 
Festlandes  fast  um  einen  Längengrad  zü  irrt! 
nach  Westen  gezeichnet  (S.  185).  — Nirgends 
in  ganz  Spitzbergen  wurde  eine  so*  grosse  Masse 
▼on  Treibholz  angetroffen,  als  ah  diesem  Walter- 
Thynsdns  Fjord*  am  Strande  sowol,  wie  difeh 


Henglin,  Reisen  nach  dem  Nordpolarmeer.  ttl 

iMt  landeinwärts,  Stämme  Von  80  bis  60  Fush 
Länge  (Lärchen, ' Birken,  Wachholder  etc.),  each 
Walfischknochen  und  Sehifbtrtimmer.  Dos  In- 
nere  der  Niederung  zeigte  eine  reiche  Vegeta- 
tion, darunter  bunte,  namentlich  hochrotbe  Blatt« 
moose,  nicht  selten  mehr  als  einen  Fuss  lang 
(S.  167).  Hier  wurden  auch  Renthiere  erlegt 
Das  naoh  dem  Verf.  benannte  änsserste  Cap  der 
Strasse  besuchte  er  von  seinem  Rastplatz  aas 
und  nahm  dort  eine  Anzahl  Azimuth-W inkel  (S. 
190).  Die  Boots  man  DBcbaft  litt  sehr  unter  dem  , 
erschlaffenden  Einfluss  der  Temperatur.  Ein  Ex- 
ears  über  das  Spitzbergische  Aen,  die  Beobach- 
tungen Anderer  mit  den  eigenen  zusammen* 
«teilend,  findet  sich  S.  193 — 202.  Es  herrsch- 
ten häufig  dichte  Nebel  — es  war  Mitte  Angnst. 
Der  Verf.  glaubte  verschiedene  periodische  Ver* 
änderungen  des  Bodens  an  diesen  Ufern  nach- 
weisen  au  können,  ebenso  meint  er,  dass  hier 
in  früherer  Zeit  stattliche  Bäume  und  Wälder 
gestanden  (S.  204).  Am  i8.  Angnst  trafen  sie 
wieder  bei  dem  Schuner  ein.  Zum  ersten  Mal 
konnte  .man  den  Mond  deutlich  am  Südhinnnel 
sehen  und  Monddistanzen  aufnehmen  (S.  206). 
Die  Weiterfahrt  geschah  leider  ohne  die  rechte 
Energie  Seitens  des  Schiffsführers:  es  ging  nord- 
wärts nach  dem  Verwechselungs-Cap  (22.  Angnst). 
Das  Eis  war  hier  in  erschütternder  Bewegung, 
j&cbrese' graste  Berge  kippten  ganz  iu  detr  Nähe 
des  Bootes  und  stürzten  unter  bettabendem 
Erachten  zusammen,  das  Wasser  weithin  in  wir- 
belnde Brandung  setzend  (S.  210).  Am  Gestadte 
war  Hyperii  das : vorherrschende  Gestein.  Eine 
Bootfahrt  brachte  den  Verf.  längB  der  Nord- 
küste von  Barents  Land  durch  die  Ginevra-Bed 
Ins  <an  den  Hslissund,  wozu  S.  212  eine  land- 
sokafUrähe  Abbildung,  der  sich  eine  kleinere  8. 


U$  QM.  Ans.  1878.  Stück  8. 

217  anscbbesst.  Die  Mannschaft  zeigte  sieh 
tfiederholfc  sehr  nnlnstig  zur  Arbeit,  er  nennt 
sie  eine  »faule  Bande«  (’S.  218);  um  so  be- 
wundernswürdiger ist  die  unablässige  Tbätigkeit, 
die  der  Verf.  entwickelte.  Nahe  am  Eingang 
des  Helis-Sundes  auf  einer  Eisbärffihrte  erstieg 
er  auf  einem  bodenlosen  Wege  die  Uferterrasse 
ostwärts,  um  einen  Ueberblick  über  den  Sund 
und  dessen  nächste  Umgebung  zu  gewinnen. 
»Es  ist  die  wildeste  unwirklichste  Gegend,  die 
ich  je  gesehen«,  schreibt  er.  »Die  Meerenge 
gleicht  einem  felsigen  Katarakten-Land,  durch 
das  brausend  sich  ein  Strom  Bahn  gebrochen 
hat«  (S.  221).  Im  östlichen  Eismeer  sah  er 
nnr  loses  Treibeis,  überall  freie  Wasserftden 
und  Kanäle  zwischen  den  Flarden.  Eine  Durch* 
fahrt,  durch  den  Helis-8and  nach  der- Ostküste 
zu  gelangen,  wäre  ausführbar  gewesen  (S.  222). 
Am  25.  August  früh  traf  der  Verf.  wieder  an 
Bord  des  Schuners  ein,  der  sogleich  umkehrte 
und  in  südlicher  Richtung  zurüekfuhr,  um  zwi- 
sehen  der  Anderssen-Insel  und  dem  Duckwitz- 
Gletscher  zu  ankern.  Von  hier  unternahm  er 
eine  Bootfahrt,  um  das  Cap  Barkham  zu  be* 
suchen  (8.  228).  Der  Zweck  ward  des  Unwet- 
ters und  morastigen  Bodens  wegen  nicht  voll- 
ständig erreicht;  die  Peilungen  und  Terrain- 
skizzen  blieben  ungenügend.  Kein  lebendes  We- 
sen war  hier  zu  sehen  (8.  226).  Die  Rückfahrt 
des  Schuners  ging  rasch  von  Statten,  am  26. 
August  Mittags  befand  man  sich  der  Disko- 
Bueht  gegenüber,  am  27.  trieb  das  Fahrzeug  »mit 
fauler  Brise  und  widrigem  Wind  au  der  Mün- 
dhng'  des  Stor-Fjord  zwischen  Whales- Bead  und 
Wbales-Point  umher«.  Letzteres  (s.  das  Titel* 
bild)  »bietet  ein  Bild  abschreckendster  arktft* 
scher  WilÜhiss«  (8 .288).  Der  Verf.  ächattot  hier 


i 


Heuglin,  Reisen  nach  dem  Nordpolartneer.  14£ 

eine  Beschreibung  dieser  Landspitze  nich  den 
Mistheilungen  der  ersten  Schwedischen  Expedi- 
tion  ein  (8.  229 — 234),  Er  selbst  besuchte  die- 
Tausend-Inseln:  Hyperit-Terraesen,  mit  rauch'* 
schwanen  Flechten  bewachsen  und  mit  zahl-, 
reichen  Brutstätten  von  Seeschwalben,  Bürger-1 
meistern! öwen,  Eiderenten,  Teisten  u,  s.  w.  be*; 
deckt  (S.  236).  Er  zählte  15-  Inseln,  die  eine 
Gruppe  bilden  und  auf  der  Karte  König  Lud-' 
wigs  Inseln  genannt  sind.  Leider  ist  die  'Insel, - 
welche  der  Veri  Russö  nennt,  von  wo  er  sein» 
Beobachtungen  machte,  nicht  namentlich  be-r 
zeichnet  (wahrscheinlich  die  Arendts-Insel  ge- 
nannte). Hier  ward  eine  Bartrobhe  erlegt  (8J 
238  n.  ff.).  Am  80.  August  lawirte  der  Schu- 
ner  in  dis  Dei  crow- Bai  hinein  und  warf  unter 
dem  Schutz  der  ZieglerJnsel  Anker.  Walrosse 
wurden  gesehen,  aber  nicht  erbeutet.  Oie  Bai' 
war  eisfrei,  die  genannte  Insel  und  die 'benach- 
barte Delitsch-Insel  ebenfalls,  einige  Schluch- 
ten ausgenommen,  schneefrei.  In  den  folgenden 
Tagen  wütbete  ein  heftiger  Storm,  dabei  durch- 
dringende Kälte  (S.  263).  Die  Mund-  «ad 
Feaernngs-Vorrätbe  gingen  bedenklich  -auf  die 
Neige ; Steinkohlen  waren  schon  verbraucht,  man' 
heizte'  nur  noch  mit  schlechtem  Treibholz.  Auch' 
da«  Trinkwasser  war  verdorben  (S.  254).  Am 
7.  Septbf.  wurde  die  Rüokreise  angetreten,  Ver-' 
geh  lieh  suchte  man  Wbales-Point  an  erreichen, 
die  hoebgehende  See  machte  es  unmöglich  (5tes 
Kapitel  S.  259).  »Oie  Zeit  war  verbummelt 
und  unwiederbringlich  verloren«.  Man  fuhr  nun' 
noch  einmal  wieder  nm  Spitzbetgen  herum  bis 
hinauf  zum  Eis- Fjord,  in  diesen  hinein,  ankerte 
in  der  Advent- Bucht  (S.  268),  wo  man  mehrere 
andere  Schiffe  antraf  und  die  ersten  Nachrich- 
ten von  dem  Kriege  mit  Frankreich  hörte - (S. 


142  0Stb  g»L  Anz.  1674.  Stück  5; 

248).  : Der  rastloee  Verf.  lies»  ffich  hier  ans» 
Land  aetaen.  Unter  anderen  fand  er  anchf. 
einige  von  Lemmingen  gegrabene,  aber  unbe-- 
wobnte  Baue;  diese Thiere  wandern  wahrschein, 
lieh  auf  dem  Eise  so  weit  nordwärts,  fallen  aber, 
der  Kälte,  dem  Eisfuchs  und  anderen  Raub- 
thieren  znr  Beate.  Ein  Sandsteinlager  in  der; 
Advent-Bai  ist  S.  275  abgebildet.  Auf  mehre« 
ren  Wanderungen  am  Lande  fand  der  Verf. 
Sparen  älterer  Niederlassungen.  In.  der  Bai 
zeigten  sieb  Weiss-: Wale,  die  man  vergeblich, 
verfolgte  (S.  282).  Graf  Zeii  fahr  inzwischen 
nach  der  Sassen-Bai,  wo  er  mehrere  Schnee« 
bUhner  (Tetrao  hemileucurus, : Gray)  erlegte  (s. 
die  Abbildung  S.  288).  Auch  den  Safe-Hafen: 
besuchte  derselbe  und  bestieg  eine  Anhöhe  am 
Gletscher  des  Alkboras  (S.  289).  Am  17.  Sept 
befand  sieb  der  Schuner  vor  der  Mündung,  dea 
Is-Fiord ; die  Temperatur  des  Meers  betrug 
-fr  1,  2°  R. , am  folgenden.  Tage  weiter  • südlich, 
— eine  nähere  Angabe  fehlt  t (S.  292)  — schon 
-f-  4,7°.  »Es  ging  langsam  gegen  Süd,  in  ewi- 
gem Kampf,  mit  Gegenwind  und  den  rollenden. 
Wogen«.  ■ Die  Fahrt  i war  - höchst  nnbehaglieh. 
Der  .heftige  anhaltende  Sturm  versetzte  das  Fahr**, 
zeug,  io  beständig  rollende  Bewegung;  diet 
Pumpen  mussten  in  steter  Bewegung  gehalten* 
werden.  In  der  Kajüte  des  Kapitains  stand  das 
Wasser  oft  fast  fnsshoeb.  Dazu  kam  Holz-  und 
Wassermangel.  Am  Morgen,  des  23.  Septbr. 
war  man  der  Bären^Insel  gegenüber.  Am  24., 
trieb  das  Schifi  sehr  weit  nach  Ost  ab,  daher 
es  gewendet  werden  musste.  Endlich  am  26. 
sah  man  zuerst  die  Norwegische  Küste  und  fol- 
genden Tags  lief  der  Schuner  in  den  Hafen  von 
Hammerfest  ein.  Die  Schlussbemerkungen  des. 
Yerf.  über  Yerwerthung  der  Ladung,  Begegnung 


Heuglin,  Betten  nach  dem.Nordpolanaeer.  142 

rnftitfersehiedeBeui  Kapibsindn  eta.  werden.  .duBofa, 
eine  längere . Darstellung  der . älteren  Nordpol-, 
führten  $*  304  bis  320  unterbrochen,  denen  sieht 
eine  kurze  Erwähnung  der  -neuesten  Schwedin 
sehen  Expeditionen  seit  1861  anschliesst.  In 
Thron  dhjew  besutibte  der  Verl.  einige  höher  ge- 
legene Punkte  der  .Umgegend.  Nach,  zwei  Pho- 
tograpbien  entworfene  landschaftliche  Ansichten, 
von  - Romsdal  enthält  des  Buch  S. ; 394.  - - Am- 
23.  October  kam  der  Verb  .nach  Bergen,  vo& 
wo  er  nach  Hamburg  mit.  dem  Oampder  Bergern 
fuhr. . .Wir  glauben  .au  dem  Urtheil  berechtigt 
zu  sein,  dass  Br.  v.  Heuglin  das,  was  bei  so. 
mangelhafter-  Ausrüstung,  ungeschickter  Schifft«-; 
führung,  entschiedenem  Widerstreben  des  Kapi*> 
tains  und  dgl.  ,m.  ein  sterblicher  Mensch  hat 
leisten  können,  wirklich  geleistet  hat  Die  aehr 
splendide  Ausstattung  des  Buchs,  das  auch  für* 
den  nur  allgemein  Gebildeten  eine  lehrreiehei 
and.  angenehme  Lectüre  ist,  ist  wphl  angebracht.. 
Einige . Druckfehler  sind  uns  nicht  entgangen,; 
z.  B.  S.  71  iZ.ll  •?..  u.  Studeu/  statt-  Stunden,. 
S.  221 Z.  6 .7/0,  Katarkten.  statt-  Katarakten  ;i 
auch  ist  die  .Schreibart  einiger:  Heimen  : nicht: 
gtum : gleichmöasig. . 

. Altona. . Dr.  Biernateki.  . / 


Eutropi  bfeviarinm  ab  urbe  condita.  Guilel-. 
mos  Bartel  recognovit  - Beirblini  apud  Weid-* 
mannos  1872.  ’ 84  und  VIII  S. 

Eutropius  und  Panins 1 Diaconns  von  Prof. 
Drj  Wilhelm  Hartei,  corresp.  Mitgliede  deh 
k.  k.  Akademie: der  Wissenschaften.  Wien  18-72 
in,  Qammi8spen  bei  Karl  Gerold’s  Sohn.  Aua. 


144  Gftt  g*l.  An».  1874«  Stflek  4, 

dem  Aprilbefte  dee  Jahrganges  1872  der  Sitzung»- 
berichte  derphil.-hist.  Classe  der  kam.  Akademie 
der  Wissenschaften  (LXXI.  Bd.,  Seite-  227)  be- 
sonders abgedraekt.  86  S» 

So  wären  wir  endlioh  im  Besitz  eines  rieh* 
tigen  Entropiusl  Während  die  bisherige  Vulgata 
auf  ganz  falscher  und  schlechter  Grundlage  auf* 
gebaut  dar  und  die  Herausgeber  einem  will- 
kürlichen Eklektirisitras  huldigten,  hat  Härtet 
nunmehr  den  allein  richtigen  Weg  gezeigt  und 
singeechlagen , auf  welchem  man  za  einem  *•- 
gefälschten  Eatroptexte  gelangen  kann.  Die 
Hes.  theilen  sich  nämlich  in  zwei  scharf  einan- 
der gegenüberstehende  Familien:  11  in  die  äch- 
ten Eutropiusbss.  und  2)  in  die  interpolierten 
Hss.,  welche  auf  eine  Becenmon  des  Paulus  Dia« 
conus  znrickgehen.  Das  Verhältnis  beider  hat 
Harte!  in  der  oben  genannten  interessanten 
Schrift  »Entropius  und  Paulos  Diacoaus«  aus- 
führlich nnd  klar  dargelegt.  Die  reine  Ueber- 
lieferaag  gibt  vor  allem  der  aus  Fulda  stam- 
mende cod.  Oetbanus  101  saec.  VI1I1,  hei  Har- 
tei mit  F bezeichnet.  Diesem  nahe  verwandt 
ist  die  Leydener  Hs.  Lugdun.-  ftatav.  1 , deren 
Varianten  aber  hei  der  nothwendigen  Knappheit 
des  kritischen  Apparats  weggelassen  werden 
mussten:  der  Herausgeber  verbreitet  sich  über 
diese  Hs.  in  der  citierten  Abhandlung  S.  61 — 
65  nnd  gibt  ihre  Varianten  zum  1.  Buch  ganz 
ausführlich  auf  S.  84  nnd  86.  Aus  einer 'an- 
dern verwandten  Hs.  von  noch  grösserem  Werth, 
dem  cod.  Burdegalensis,  stehen  S.  66  und  67: 
nicht  unwichtige  Materialien.  — Die  andere 
Hss.familie  stammt  von  Paulus  Diaconus*  der 
Zwischen  766.  nnd  762  im  Auftrag  der  Herzogin 
Adalperga  von  Benevent  den  Eutrop  durch  da 


Hartei,  Eutropius  and  Paulus  Diaconus.  145 

und  dort  angebrachte  Modificationen  zu  einem 
nützlichen  Lehrbuch  der  römischen  Geschichte 
umzuformen  bestrebt  war;  bei  lobenswerther 
Schonung  des  Urtextes  hat  er  doch  allerlei  sti- 
listische und  sonstige  Aenderungen  und  zwar 
ganz  systematisch  darin  vorgenommen,  ja  er  hat 
sogar  aas  Werk  des  Börners  in  6 weiteren  Bü- 
chern bis  Valentinian  fortgesetzt.  Diese  That- 
sache,  die  in  der  neuesten  Zeit  bezweifelt  wurde, 
hat  Hartei  auf  das  evidenteste  bewiesen  und 
die  merkwürdige  Urkunde  aus  dem  Frühjahr 
oder  Sommer  763  bestehend  in  dem  Gedichte 
A principio  seculorum  beigezogen,  sowie  in  kri- 
tisch gereinigter  Form  einen  Brief  des  Paulus 
Diaconus  über  seine  Bearbeitung  des  Eutropius 
S.  69 — 71.  Paulus  leitete  von  763  an  mehrere 
Jahre  hindurch  die  Studien  der  Herzogin,  einer 
Tochter  des  Desiderius,  und  gab  ihr  die  Ge- 
schichte Eutrops  zu  lesen,  die  sie  aber  wegen 
ihrer  Kürze  und,  weil  sie  als  zu  specified*  rö- 
misch-heidnisch ihrem  christlichen  Sinne  misfiel, 
unbefriedigt  zurücklegte.  Paulus  suchte  durch 
eine  neue  Bearbeitung  diesen  Mängeln  abzuhel- 
fen und  überreichte  diese  seiner  Gönnerin  mit 
dem  eben  erwähnten  Briefe.  Für  das  Verhält- 
nis des  Paulus  zu  seinem  Original  ist  die  Zu- 
sammenstellung einiger  Puncte  in  der  Abhand- 
lung H S.  50.  51  instructiv.  Spätlateinisches 
wie  desperare  mit  blossem  Infinitiv,  ad  Siciliam 
fugit,  ad  Africam  profecti  sunt,  postquam  mit 
Plusquamperf.  wird  von  Paulus  in  das  gewöhn- 
liche classische  Latein  umgesetzt;  das  inschrift- 
lich durch  einen  Scipionensarkophag  bezeugte 
Asiagenus  wird  in  Asiagenis  (oder  Asiagenes) 
verwandelt,  statt  des  im  Glassischen  weniger  ge- 
bräuchlichen, bei  Eutropius  aber  stehenden  ad- 
versum  regelmässig  adversus  vorgezogen  u.  s.  w. 

10 


146  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 

Hartei  hat  mit  richtigem  Takt  in  allen  solchen 
Fällen  die  paulinischen  Lesarten  verworfen. 
Dennoch  wollte  er  — und  auch  dies  ist  sicher 
nur  zu  billigen  — der  paulinischen  Recension 
bei  der  Herstellung  seines  Textes  im  allgemein 
nen  nicht  entrathen.  Ist  doch  bei  manchen 
corrupten  Stellen  der  Ffamilia  eben  der  paulini- 
sche  Text  die  natürlichste  und  beste  Ressource. 
Ein  hübsches  Beispiel,  in  welcher  Weise  oft  das 
Richtige  zwischen  beiden  Classen  getheilt  ist, 
bieten  die  Varianten  für  das  Wort  Pantica- 
paeum  (dies  würde  ich  aufgenommen  haben  statt 
der  gräcisierenden  Form  Pan tica paeon  bei  H.) 
VII  9.  Hier  hat  F antecapeum,  also  eine  sinn- 
lose Verschreibung,  P dagegen  pdnti  cappadocem 
also  einen  mehr  als  kühnen  Versuch,  die  über- 
lieferte unsinnige  oder  für  Paulus  unverständ- 
liche Lesart  zu  emendiren:  aus  beiden  Varian- 
ten zusammen  erhalten  wir  den  richtigen  Na- 
men, wie  er  im  Archetyp  stand.  ' Am  meisten 
in  Acht  zu  nehmen  hat  man  sich  also  vor  den 
speciosen  LA.  der  paulinischen  Recension , da 
Paulus  gerade  in  dieser  Weise  sein  Original 
geändert  hat.  Als  Repräsentanten  der  paulini- 
schen Klasse  (bezeichnet  mit  P = A -f-  B)  hat 
H.  die  Hss.  A = cod.  Mopac.  8516  saec.  X und 
B *=  Bamberg.  G.  E.  III  4 Nr.  6 saec.  VIIII 
gewählt.  Mit  der  ihm  eigenen  höchst  aner- 
kennenswerthen  Offenheit  gibt  er  übrigens  selbt 
zu  (S.  75 — 77),  dass  der  sehr  alte  Ambrosianus, 
wenn  einmal  eine  genaue  Collation  vorliege,  den 
Vorzug  vor  dem  Monacensis  verdienen  dürfte; 
und  so  bleibt  uns  denn  eben  in  diesem  Stück 
noch  ein  Wunsch  übrig,  dessen  Erfüllung  der 
gelehrte  Herausgeber  gewiss  bei  der  2.  Auflage 
des  Buches  nicht  versäumen  wird.  Und  eine 
solche  wird  ja  schwerlich  lange  auf  sich  warten 


Hartei,  Eutropius  und  Panins  Diaconus.  147 

lassen.  Für  diesen  Fall  möchte  ich  noch  anf 
eine  Handschrift  aufmerksam  machen,  von  der 
ich  nicht  weiss,  ob  ihre  Existenz  den  bisherigen 
Herausgebern  überhaupt  bekannt  ist.  Sie  be- 
findet sich  auf  der  Bibliothek  des  Arsenals  zu 
Paris.  Ein  anderer  Codex  ist  zü  Strassburg 
verbrannt.  Ob  wohl  auch  in  den  künftigen 
Kriegen  wissenschaftliche  Sammlungen  so  der 
Zerstörung  ausgesetzt  sein  werden?  oder  ob 
bis  dahin  das  internationale  Hechts-  und  Sitt- 
lichkeitsgefühl soweit  gekommen  ist,  dass  man 
auch  solche  Schatzkammern  des  menschlichen 
Geistes  mit  ihrem  oft  unersetzlichen  Inhalt 
durch  ein  weisses  Fähnlein  schützen  kann?  Es 
ist  fast  unglaublich,  dass  Manuscripten-  und 
Kunstsammlungen  nicht  längst  durch  derartige 
völkerrechtliche  Abmachungen  geschützt  sind! 
Möge  mir  der  Leser  diese  Abschweifung  ver- 
zeihen, aber  die  Sache  ist  auch  heut  noch 
ausserordentlich  wichtig,  da  eine  bedeutende 
Zahl  der  reichsten  Sammlungen  gerade  in  den 
Festungsstädten  sich  befindet,  ich  erinnere  nur 
an  die  Kunstsammlungen  von  Paris  und  Cöln, 
an  die  Bibliotheken  von  Metz,  Strassburg,  Pa- 
ris, an  das  römisch-germanische  Centralmuseum 
in  Mainz,  an  die  naturhistorischen  Sammlungen 
des  Jardin  des  Plantes.  — Ausser  den  Hand- 
schriften des  Eutrop  haben  wir  noch  weiteres 
sehr  schätzbares  kritisches  Material  zur  Her- 
stellung des  Textes  und  auch  dieses  sehen  wir 
vom  Herausgeber  in  umfassender  Weise  ausge- 
beutet und  doch  wieder  so,  dass  die  Durchsich- 
tigkeit seines  Apparats  nicht  nothleidet.  Wie 
wir  nemlich  bei  Vergilius,  Horaz  u.  a.  an  den 
alten  Scholien  höchst  wichtige  Zeugen  für  die 
wahre  Gestalt  des  Textes  besitzen,  so  existiren 

10* 


148  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 


für  Eutrop  zwei  griechische  Uebersetzungen,  die 
eine  ganz,  die  andere  fragmentarisch.  Die  Bruch- 
stücke der  letzteren,  die  aus  dem  VI.  Jahrhun- 
dert stammen  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
auf  einen  gewissen  Gapito  aus  Lycien  (zwischen 
491  und  580)  zurückgehen,  hat  Hartei  S.  14  ff. 
zuerst  aus  Johannes  von  Antiochien,  Suidas  und 
Planudes  zusammengelesen  und  für  die  Kritik 
des  Eutrop  nutzbar  gemacht.  Ein  Beispiel  der 
Wichtigkeit  dieser  Quelle  ist  in  der  Abhandlung 
S.  25  ausgeführt.  — Hinsichtlich  der  erste- 
ren,  noch  vollständig  erhaltenen  Uebersetzung 
des  Paeanius  fehlt  es  leider  bis  heute  an  einer 
erträglichen  Ausgabe,  so  dass  H.  nicht  den  Ge- 
brauch von  ihr  machen  konnte,  den  er  vielleicht 
später  noch  davon  machen  wird,  wenn  einmal 
eine  ordentliche  Edition  des  Paeanius  vorliegt. 
Der  grosse  Werth  dieses  Zeugen  springt  an 
einer  Menge  von  Stellen  in  die  Augen,  wo  er 
bessere  Lesarten  bietet,  als  der  Archetyp  von 
FP  noch  be6ass.  So  z.  B.  hat  Paeanius  V 1,  wie 
mir  scheint,  ganz  richtig  das  B im  Eigennamen 
Teutobod  erhalten,  während  FP  ein  M statt  des 
B setzen;  ebenso  hat  V 4 Paeanius  allein  den 
nothwendigen  Vornamen  Lucius  gerettet  gegen 
FP,  die  ihn  weglassen.  Paeanius  ist  schon  we- 
gen seines  hohen  Alterthums  von  ganz  beson- 
derem Werth  (Abhandl.  S.  9).  Nur  wenige 
Jahre  nach  der  a.  369  erfolgten  Ausgabe  des 
Breviarium8  durch  Eutrop  selbst  hat  Paeanius 
seine  Uebersetzung  angefertigt,  und  es  lag  ihm 
somit  ohne  Zweifel  ein  unverfälschter  lateini- 
scher Text  vor.  Eine  baldige  kritisch  brauch- 
bare Ausgabe  dieses  Schriftstellers,  wie  sie  von 
Schulze  in  Aussicht  gestellt  ist,  wäre  daher  im 
Interesse  der  Eutropiuskritik  dringend  zu 
wünschen. 


Hartei,  Eutropius  und  Paulus  Diaconus.  149 

Wir  wollen  nun  die  einzelnen  Bücher  mit 
Rücksicht  auf  einige  Stellen  durchgehen,  wo  es 
sich  um  Aenderungen  des  überlieferten  Textes 
handelt.  I 5 verbessert  H.  das  überlieferte: 
»Aventinum  montem  civitati  adiecit  et  Janicu- 
lum,  apud  Hostiam  civitatem  supra  mare  sexto 
decimo  miliario  ab  urbe  Roma  condidit«  durch 
Einfügung  der  Worte  ostium  Tiberis  vor  Ostiam 
(wie  statt  des  allseitig,  auch  vom  Burdegalensis 
Abhandl.  S.  66  und  vom  Leydensis  S.  85  über- 
lieferten hostiam  von  H.  geschrieben  wird). 
Diese  einfache  Zurückführung  des  handschrift- 
lichen Fehlers  auf  das  bekannte  Ueberspringen 
des  Abschreibenden  von  einem  Wort  zum  näch- 
sten ähnlichen  wird  jedem  als  gelungen  ein- 
leuchten. 

H 9 scheint  mir  einen  noch  nicht  berück- 
sichtigten Beweis  zu  liefern,  dass  auch  die  pau- 
linische  Glasse  in  manchem  Detail  das  richtige 
hat,  wo  F einen  Fehler  zeigt.  Schon  c.  8 und 
9 init.  wird  nemlich  von  Eutrop  der  Nominativ 
Samnites  vom  Accusativ  Samnitas  äusserlich 
auseinandergehalten.  Wir  haben  apud  Samnitas, 
Samnitas  delevit,  Samnites  Romanos  vicerunt, 
de  Samnitibus  triumfavit , Samnites  vicerunt. 
Nun  hat  zwei  Zeilen  nach  diesem  letzten  Nomi- 
nativ Samnites  P folgendermassen : et  Samnitas 
vicit,  F dagegen:  et  Samnites  vicit.  Hier  halte 
ich  die  paulinische  Recension  für  unbedingt 
richtiger.  Ebenso  unterscheidet  Eutropius  auch 
den  Accusativ  Arabas  vom  Nominativ  Arabes. 
— Im  gleichen  Gapitel  haben  wir  allerdings 
eine  ganz  deutlich  erweisbare  Interpolation  des 
Paulus.  In  dem  Satz:  Postea  Samnites  Roma- 
nos Tito  Veturio  et  Spurio  Postumio  consulibus 
[apud  Caudinas  Furculas  angustiis  locorum  cod- 


150  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5« 

clusos]  ingeuti  dedecore  vicerunt  et  sub  iugum 
miserunt  stehen  die  eingeklammerten  Worte 
bloss  bei  Paulus,  sie  fehlen  in  F und  schon  bei 
Paeanius.  Hier  begegnen  wir  also  einem  jener 
Zusätze,  wie  sie  Paulus,  der  eben  ein  Compen- 
dium der  Geschichte  hersteilen  wollte,  in  gar 
nicht  unpraktischer  Weise  da  und  dort  ange- 
bracht hat.  Es  ist  das  Verdienst  des  neuesten 
Herausgebers,  diese  fremden  Zusätze,  die  wie 
Kletten  Jahrhunderte  lang  am  Eutroptexte  haf- 
teten , principiell  erkannt  und  losgelöst  zu 
haben. 

II  23  hat  der  Herausgeber  sehr  mit  Recht 
die  handschriftlich  verbürgte  LA.  geschützt: 
decrevit  senatus  ut  a maritimiß  proeliis  recede- 
retur  et  tantum  sexaginta  naves  ad  praesidium 
Ifcaliae  salvae  essent.  Er  erklärt  die  letzten 
Worte:  »nur  60  Schifie  sollten  im  Stand  erhal- 
ten werden,  während  man  die  übrigen  zu  Grund 
gehen  liess«  (Abhandl.  S.  86).  Ein  Recensent 
des  Hartelschen  Eutropius  wollte  salvae  als  un- 
passend streichen.  Abgesehen  von  der  Stelle 
IX  9,  wo  vielleicht  doch  mit  Päanius  und  jenem 
Recensenten  iam  zu  lesen  ist,  sind  wir  über- 
haupt ganz  einverstanden  mit  den  Ausführungen 
Harteis  Abhandl.  S.  89,  wo  er  die  einzelnen 
Ausstellungen  jenes  Recensenten  und  die  Emen- 
dationen  Eussners  bespricht. 

IV  3 haben  die  Hss.  einen,  unleugbaren 
grammatischen  Fehler.  Sie  lesen : ipse  .postea 
Antiochus  circa  Sipylum  Magnesiam  (so  auch 
der  Burdegalensis,  Abhandl.  S.  66)  Asiae  civi- 
tatem  a consule  Cornelio  Scipione  ingenti  proe- 
lio  fusus  est.  Es  handelt  sich  hier  bloss  um 
Aufnahme  einer  reinen  Conjectur  oder  um  An- 
schluss an  einen  alten  Uebersatzer.  Nun  liest 


Härtel,  Eutropius  und  Paulos  Diaconos.  151 

Paeanios:  iv  Mayvtjöiqc  tfj  tiqö$  JStvtfAqt 
*A<tiaq,  woraus  schon  Geliarius  machte : circa 
Magnesiam  ad  Sipylum,  und  dies  scheint  mir 
auch  bei  Vergleichung  von  dem  ohne  Zweifel 
der  Darstellung  Eutrops  zu  Grunde  liegenden 
Livius  das  nichtigste.  Livius  spricht  nemlich 
36,  43  von  Magnesia  quae  ad  Sipylum  est;  für 
die  knappe  Ausdrucksweise  des  Epitomators 
schrumpft  diese  Phrase  von  selbst  zusammen  zu 
Magnesia  ad  Sipylum,  und  ad  ist  demnach  bei 
Sipylum  einzufiigen.  Hartei  hat  die  Gonjectur 
des  Glareanus  in  den  Text  gesetzt:  circa  Sipylum, 
ad  Magnesiam,  was  freilich  den  Handschriften 
nach  noch  näher  liegt. 

Viele  überflüssige  ‘est*  z.  B.  IV  12:  iuvenis 
adhuc  consul  est  factus  et  contra  Carthaginem 
est  missus  hat  der  Herausgeber  vielleicht  mit 
Recht  vertilgt;  z.  B.  ebenso  c.  20  Anmerkung: 
est  expunxi,  c.  26  missus  est  F missus  Text. 
Uebrigen8  haben  auch  Horazscholiasten,  die  von 
Eutrops  Zeit  nur  wenig  abliegen  mögen,  einen 
auffallenden  Ueberfluss  an  solchen  ‘est’.  An 
manchen  Stellen,  wie  Text  S.  61  Z.  27  ist  auch 
ein  solches  anstossiges  est  ruhig  im  Texte  be* 
lassen  worden,  und  nur  im  kritischen  Apparat 
steht  ein  bescheidenes  frest  fort,  de  1.’.  Dies 
kommt  mir  in  den  meisten  Fällen  als  das  rich- 
tigste vor.  Man  vgl.  die  höchst  auffallende 
Wiederholung  der  Worte  Syllae  dictatoria  filius, 
worüber  S.  24  und  25  der  Abhandlung  vom 
Herausgeber  selbst  in  seiner  lobenswerth  offe- 
nen, so  recht  objectiv  wissenschaftlichen  Weise 
gehandelt  wird.  Er  steht  nicht  an,  eine  eigene 
ähnliche  Conjectur  (wornach  an  einer  Stelle 
die  Worte  getilgt  werden)  wieder  zurückzu- 
nehmen;  und  gewiss  mancher  Leser  hätte  diese 


152  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 

Conjectur  sehr  gebilligt,  schwerlich  sie  einer 
ernstlich  angefochten. 

V 1 ist  wieder  für  das  Verhältniss  von  Pau- 
lus zu  Eutropius  interessant.  Hier  liest  F : ne 
iterum  Galli  Romam  redirent ; Paulus  hat  dafür 
venirent  corrigiert.  Die  ganz  gleiche  Variante 
findet  sich  bei  Hör.  epist.  II  2,  22 : beidemal  ist 
sicher  redire  vorzuziehen.  — 

V 8 kommt  mir  die  in  den  Text  gesetzte 
Form  Praenestem  zu  unsicher  vor.  Die  Hss. 
haben  an  dieser  Stelle  einstimmig  praeneste  und 
an  der  Stelle,  um  welcher  willen  geändert  wurde 
(II  2),  bietet  der  Burdegalensis  ebenfalls  das 
richtige  praeneste.  An  solchen  Stellen  wäre  es 
nicht  unwichtig,  auch  die  LA.  des  Leydensis 
kennen  zu  fernen. 

VI  16  hat  sich  ein  offenbarer  Druckfehler 
eingeschlichen.  Die  Hss.,  auch  der  Burdegalen- 
sis (S.  67),  haben  sämmtlich  ganz  richtig  De* 
cimo  Junio  Silano:  im  Text  steht  Decio. 

VIII  21  treffen  wir  bei  Eutrop,  wie  nach 
Eyssenhardt  praef.  ad  Ammian.  p.  VIIII  sq.  bei 
Ammianus,  Apulejus , den  scriptores  historiae 
Augustae,  der  historia  miscella  und  Isidor,  die 
vulgäre  oder  spätlateinische  Genetivform  men- 
suum  von  mensis.  Sie  ist  in  F und  P bezeugt 
und  ohne  Zweifel  in  den  Text  zu  setzen. 

IX  2 wird  man  zweifelhaft  bleiben,  ob  nicht 
die  LA.  von  F an  einer  Stelle  gegen  Paulus  zu  be- 
vorzugen war.  Es  heisst  nemlich : Gordianus 
...  ad  Orientem  profectus  Parthis  bellum  intu- 
lit,  qui  iam  moliebantur  erumpere  . quod  qui- 
dem  feliciter  gessit  proeliisque  ingentibus  Par- 
thos  (so  F,  persas  P und  Hartei)  adflixit.  re- 
diens  haud  longe  a Romanis  finibus  interfectus 
68t  fraude  Philippi,  qui  post  eum  imperavit . mi- 


Hartei,  Eutropius  und  Paulus  Diaconus.  153 

les  ei  tumulum  vicensimo  miliario  a Gircesso, 
quod  Castrum  nunc  Romanorum  est,  Eufrati 
imminens  aedificavit.  Wenn  zwei  Zeilen  vorher 
Parthis  bellum  intulit  unangefochten  bleibt,  so 
ist  bei  proeliis  ingentibus  Parthos  adflixit  nicht 
wohl  einzusehen,  warum  Parthos  in  Persas  sollte 
verwandelt  werden. 

IX  13  stos8en  wir  wieder  auf  eine  vortreff- 
liche Verbesserung  Harteis:  Aurelianus  suscepit 
imperium  ...  vir  in  bello  potens,  animi  tarnen 
immodici  et  ad  crudelitatem  propensioris.  is 
quoque  Gothos  strenuissime  vicit.  Diese  Ein- 
fügung von  is,  was  nach  dem  vorhergehenden 
propensioris  aufs  leichteste  ausfallen  konnte,  ist 
gewiss  wieder  eine  ebenso  einfache  als  über- 
zeugende Emendation.  Und  so  können  wir  über- 
haupt das  ganze  System  des  Herausgebers  nur 
billigen,  dass  er  von  allzu  kühnen  und  geist- 
reich glitzernden  Emendationen  bei  dem  verhält- 
nismässig gut  überlieferten  Autor  sich  fern 
hielt,  dass  er  so  viel  wie  möglich  an  den  in 
F überlieferten  Text  sich  anschloss , dabei 
auch  P nicht  geringschätzig  verachtete , und  wo 
es  durchaus  nöthig  war  zu  emendieren , auf 
die  leichteste  und  einfachste  Operation  sich  be- 
schränkte. 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  einiges  Ortho- 
graphische berühren.  Im  Allgemeinen  schliesst 
sich  auch  in  diesem  Stück  H.  mit  Recht  an  F 
an,  aber  durchaus  nicht  sklavisch.  Die  Ortho- 
graphie des  Fuldensis  ist  »ein  Gemisch  von 
hoher  Alterthümlichkeit  und  junger  Barbarei« 
und  H.  verbreitet  sich  darüber  ausführlich  in 
der  Abhandl.  S.  52 — 58.  Wir  bemerken  viel 
Aehnlichkeit  mit  der  Orthographie  des  Avianus, 
vgl.  die  Ausgabe  von  Fröhner.  Bei  Eutrop 


154  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 


treffen  wir:  adqne,  capud,  reliquid,  haut,  trieiens, 
Marcomanicum,  Brittania,  Bosphorus,  apellare, 
mille  und  milia  (aber  nie  caussa),  Sylla,  inclytus, 
tyro,  adulescens,  epistula,  Vulsci,  Ptolomeus. 
»Sylla«  wird  S.  57  als  Barbarismus  bezeichnet, 
was  mir  nicht  ganz  richtig  erscheint,  da  in- 
schriftlich nachweisbar  schon  zu  Sullas  Zeit  und 
wahrscheinlich  vom  Dictator  selbst  diese  gräci- 
sierende  Form  gebraucht  wurde.  Auch  Vulsci 
— wie  F und  P und  der  Burdegal.  und  der 
Leyd.,  also  die  gesammte  beigezogene  Tradition, 
schreiben  — würde  ich  im  Texte  belassen  ha- 
ben, so  unbeanstandet  als  Vulso,  welche  Form 
mit  vollem  Recht  II  21  Aufnahme  gefunden  hat. 
Sollte  nicht  auch  überall  mit  F septuagensimus, 
quinquagensimus  u.  dgl.  zu  schreiben  sein  ? 
II  21  würde  ich  mit  FP  das  H in  Amilcarem 
weggelassen  haben.  Es  hat  doch  unzweifelhaft 
Zeiten  und  Schriftsteller  gegeben,  von  denen 
diese  Eigennamen  Annibal  und  Amilcar  ohne 
H geschrieben  wurden.  Ebenso  wird  das  über- 
lieferte Eliogabalus  VIII  22  seine  Vertheidiger 
gegen  die  Aspiration  finden.  Bedenklicher  steht 
es  III  6 mit  dem  Namen  des  gallischen  Königs. 
Der  Burdegalensis  hat  den  Accusativ  Viriodo- 
marum  (Abhandl.  S.  66),  F hat  Virodomarum; 
damit  stimmen  ziemlich  A und  B,  welche  vitro- 
domarum  und  vitro  dominarum  bieten.  Danach 
wäre  es  vielleicht  am  gerathensten  gewesen,  den 
von  sämmtlichen  Hss.  beglaubigten  O-laut  zu 
lassen  und  etwa  Virodomarum  in  den  Text  zu 
setzen.  Hartei  hat  sich  auch  sonst  bei  kelti- 
schen Wörtern  sehr  enge  an  die  handschriftliche 
Ueberlieferung  angeschlossen,  z.  B.  IX  20  bei 
dem  Namen  Bacaudae.  Hier  aber  hat  er  die 
Form  •Viridomaruß  vorgezogen.  Möglicherweise 


Der  Staat  trad  das  allgemeine  Concil.  155 

ist  dies  freilich  auch  das  echte  und  richtige, 
vgl.  Glück,  die  bei  Cäsar  vorkommenden  kelti- 
schen Namen  S.  77  und  Bacmeister,  keltische 
Briefe  S.  2,  wo  beidemal  nur  von  gallischen 
Compositen  mit  Virido-,  Virdo-  gehandelt  wird: 
Viridomärus  wird  aus  Cäsar,  Florus  II  4 u.  a. 
angeführt,  Virdomärus  aus  Orellis  Inschriften- 
sammlung nr.  3582  und  aus  Propertius  IV 
10,  41  mit  Verkürzung  des  a durch  poetische 
Licenz. 

Freiburg  i.  B.  0.  Keller. 


Der  Staat  und  das  allgemeine  Concil. 
Leipzig , Verlag  von  Duncker  und  Bumblot, 
1873.  52  Seiten  gr.  8.  Preis  15  Sgr. 

Der  Verf.  will  mit  seiner  Arbeit  sich  aus- 
drücklich »nicht  an  das  gelehrte  Publicum  wen- 
den«, er  hat  sich  im  Gegentheile  bemüht,  »in 
gemeinverständlichem  Sinne  zu  schreiben«,  über- 
zeugt, dass  der  Gegenstand,  den  er  behandelt, 
nicht  bloss  die  Gelehrten,  sondern  das  ganze 
deutsche  Volk  angeht.  Doch  lässt  sieb  nun 
auch  nicht  verkennen,  dass  überall  die  »wissen- 
schaftliche Grundlage«  vorhanden  ist,  dass  der 
Verf.  keinen  Satz  geschrieben  hat,  zu  dem  er 
nicht  durch  urkundlichen  Nachweis  berechtigt 
gewesen  wäre,  und  wenn  es  auch  nur  eine  ge- 
schieh tliphe  Uebersicht  ist,  was  er  hinsichtlich 
des  von  ihm  dargestellten  Verhältnisses  giebt, 
so  doch  eine  solche,  wie  sie  nur  dem  möglich 
ist,  der  sich  im  Besitze  des  vollen  gelehrten 


156  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  5. 

Apparates  befindet.  Wir  müssen  diese  Arbeit, 
was  Form  und  Inhalt  angeht,  als  eine  ganz 
vortreffliche  Arbeit  bezeichnen,  wo  nicht  mehr 
gegeben  worden  ist,  als  der  Zweck  erforderte, 
aber  dies  auch  in  voller  Anschaulichkeit  und 
in  der  rein  objectiven  Haltung,  wie  sie  dem 
Historiker  geziemt,  und  — dass  es  verdienst- 
lich gewesen  ist,  gerade  diesen  Gegenstand  in 
dieser  Form  zu  behandeln , das  braucht  wohl 
kaum  erst  noch  gesagt  zu  werden. 

Wirklich  6ind  ja  die  Verhältnisse,  deren  Ge- 
schichte der  Verf.  darstellt,  in  der  neuesten 
Zeit  in  eine  Verwirrung  gekommen,  die  mehr 
als  bedenklich  genannt  zu  werden  verdient. 
Ohne  jede  Betheiligung  oder  auch  nur  Ver- 
ständigung der  europäischen  Staatsregierungen, 
ja  ohne  dass  dieselben  über  die  conciliarischen 
Vorgänge  auch  nur  Mittheilungen  erhielten, 
hat  der  Papst  allein  von  sich  aus  ein  »allge- 
meines Goncil«  berufen,  und  zwar  ein  Concil, 
auf  welchem  es  sich  nicht  bloss  um  Regelung 
dogmatischer  Fragen  handelte , sondern  auch 
geradezu  um  die  Fixirung  kirchenpolitischer 
Grundsätze,  welche  die  Staaten  nicht  minder 
angehen,  als  die  Kirche,  ja,  welche  auf  das 
Tiefste  in  das  Leben  des  Staates  eingreifen 
müssen:  wie  aber  wäre  man  nun  da  nicht  be- 
rechtigt, ein  solches  Verfahren  zum  Mindesten 
bedenklich  zu  finden?  Auf  diese  Weise  wird 
nicht  bloss  eine  völlige  Trennung  zwischen 
Kirche  und  Staat  vollzogen,  sondern  es  erhebt 
sich  dadurch  die  Kirche  und  ihr  Haupt , der 
Papst,  zum  höchsten  Souverän  über  alle  Staa- 
ten auf  Erden  und  die  letzteren  werden  da- 
durch wirklich  in  eine  Lage  versetzt,  »voll- 
kommen passiv  hinnehmen  zu  müssen« , was 


Der  Staat  und  das  allgemeine  Concil.  157 

die  Kirche  auch  in  allen,  das  staatliche  Leben 
auf  das  Tiefste  berührenden  kirchenpolitischen 
Fragen  beschliesst:  ein  Zustand,  der  denn  doch 
in  Wahrheit  sehr  wenig  erträglich  sein  würde. 
Aber  — eben  das  zeigt  nun  der  Verf.  an  der 
Hand  der  Geschichte,  dass  der  Staat,  wenn  er 
sich  dies  Verfahren  auf  die  Dauer  gefallen 
lassen  wollte , sehr  werthvolle  und  von  ihm  bis- 
her stets  auch  behauptete  und  ausgeübte 

Hechte  preisgeben  würde,  und  zwar  in  einer 
Weise  zeigt  er  dies,  die  an  Bündigkeit,  Deut- 
lichkeit und  Ueberzeugungskraft  Nichts  zu  wün- 
schen übrig  lässt. 

Die  Behauptung  der  Clericalen,  als  sei  der 
Papst  die  allein  competente  Instanz  und  als 
habe  mit  der  Berufung  und  Leitung  eines  all- 
gemeinen Concils  der  Staat  ganz  und  gar 
Nichts  zu  thun,  erscheint  hier  als  eine  völlige 
Neuerung,  wenn  auch  als  eine  solche,  deren 
Durchführung  schon  Jahrhunderte  Tang  in  der 
Tendenz  des  »heil.  Stuhles«  gelegen  hat,  und 
überhaupt  wird  kein  Zweifel  darüber  gelassen, 
dass  die  angeblichen  geschichtlichen  Stützen, 
auf  welche  die  Oberherrlichkeit  des  Papst- 
thums hat  basirt  werden  sollen,  nichts  Ande- 
res, als  die  ärgsten  Fälschungen  sind,  die  nur 
jemals  sind  begangen  worden.  Der  Verf.  führt 
uns  zunächst  in  die  Zeit  der  ersten  grossen 
Concilien  ein,  aber  da  leidet  es  denn  gar  kei- 
nen Zweifel,  dass  es  damals  nicht  die  Päpste, 
sondern  die  Kaiser  gewesen  sind,  welche  die 
Concilien  berufen  und  ihren  Beschlüssen  Ge- 
setzeskraft gegeben  haben,  eben  so  wie  es  kei- 
i ' nem  Zweifel  unterliegt , dass  von  Seiten  der 
Kirchenhäupter  dies  Verhältnis  auch  als  das 
richtige  anerkannt  und  von  ihnen  keine»  An- 


* 


158  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  5. 

Spruche  dagegen  erhoben  worden  sind.  Erst 
zur  Zeit  der  pseudoisidorischen  Dekretalen  und 
in  Folge  derselben  wurde  das  Verhältniss  ein 
anderes , aber  wenn  es  dann  auch  für  einige 
Jahrhunderte  dahin  kam,  dass  der  Papst  sich  , 
als  den  Universalmonarchen  über  alle  anderen 
Autoritäten  hinausstellen  konnte,  so  war  dies 
doch  nur  für  eine  Zeit  lang  und  ohne  dass 
diese  Umkehr  der  Verhältnisse  zu  wirklich 
dauernder  und  rechtlicher  Geltung  gekommen 
wäre.  Die  Berechtigungen  des  Staates  auch  in 
Beziehung  auf  die  kirchlichen  Dinge  und  na- 
mentlich auf  die  Goncilien  wurden  doch  bald 
genug  wieder  geltend  gemacht,  und  wenn  dies 
auch  nicht  in  dem  Umfange  geschah,  wie  zur 
Zeit  Constantins  des  Grossen  und  seiner  Nach- 
folger, so  war  der  Einfluss,  den  die  »welt- 
lichen Mächte«  zur  Zeit  der  grossen  Concilien 
am  Ausgange  des  Mittelalters  und  zwar  kraft 
anerkannten  Rechtes  übten,  doch  keineswegs 
ein  geringer:  von  dieser  völligen  Unabhängig- 
keit des  Papstes  in  Beziehung  auf  Berufung 
und  Leitung  der  Concilien,  wie  sie  jetzt  in 
Anspruch  genommen  ist , war  auch  da  ganz 
und  gar  nicht  die  Rede,  und  auch  zur  Zeit  der 
Reformation  zweifelten  die  deutschen  Stände 
und  auch  Karl  V.  selbst  nicht,  dass  der  Kai- 
ser wohl  berechtigt  sei,  ein  Concil  zu  berufen, 
sogar  gegen  den  Willen  des  Papstes.  Und  da- 
bei ist  es  bisher,  wenn  auch  nicht  praktisch, 
doch  theoretisch  geblieben.  Die  Jesuiten 
(Bellarmin)  vertraten  freilich  »den  Satz,  dass 
das  Concil  lediglich  unter  dem  Papste  stehe 
und  der  Staat  gar  keine  Gewalt  über  das  Con- 
cil habe«,  aber  es  waren  eben  auch  nur  die 
Jesuiten,  welche  diesen  Satz  vertraten,  während 


Der  Staat  und  das  allgemeine  Concil.  159 

ifan  weder  die  Vertreter  der  Staatsgewalt  selbst, 
noch  auch  die  unabhängigen  Kirchenrechts- 
lehrer anerkannt , ' sondern  stets  die  Rechte 
des  Staates  in  Beziehung  auf  die  Concilien  be- 
hauptet und  vertheidigt  haben.  Der  Verf. 
führt  dies  Alles  kurz,  aber  doch  in  genügender 
Weise  in  das  Einzelne  gehend,  aus,  und  — 
aus  Allem  wird  zur  Genüge  klar,  dass  der  Zu- 
stand, den  das  Verhalten  des  Papstes  bei  Be- 
rufung und  Leitung  des  letzten  Goncils  hat 
schaffen  wollen , eine  unberechtigte  Neuerung 
ist,  die  abzuwehren  dem  Staate  völlig  zusteht, 
sowohl  aus  historischem  Rechte,  wie  auch  um 
der  Natur  der  Verhältnisse  selbst  willen. 

Möge  das  gute  Wort,  das  der  Verf.  hier 
gesprochen,  denn  die  Wirkung  thun,  die  da- 
mit beabsichtigt  ist,  und  möge  es  namentlich 
von  den  Mitgliedern  der  römisch-katholischen 
Kirche  recht  beachtet  und  bedacht  werden,  da- 
mit sie  nicht  immer  von  Neuem  eine  Beute 
jener  Geschichtsentstellungen  werden,  die  mit 
Pseudoisidor  begonnen  haben  und  leider  in 
ihren  Kreisen  noch  immer  ein  sehr  unheimliches 
Wesen  treiben. 

Es  ist  ganz  und  gar  nicht  zu  leugnen,  dass 
die  jetzigen  Wirren,  welche  so  tief  den  Frie- 
den in  Deutschland  gestört  haben,  den  Frie- 
den zwischen  Staat  und  Kirche  nicht  bloss, 
sondern  auch  den  im  Inneren  des  Volkes,  den 
Frieden  zwischen  den  Confessionen  und  den  in 
der  »katholischen«  Kirche  selbst  bis  in  den 
Schooss  der  Familien  hinein,  dass  diese  Wir- 
ren ihren  Grund  nur  darin  haben,  dass  von 
Seiten  der  römischen  Kirchenoberen  die  alt- 
hergebrachten und  im  Wesen  der  Sache  be- 
gründeten Rechte  des  Staates  in  Beziehung  auf 


160  Gott.  gel.  Ans.  1874.  Stück  5. 

die  kirchlichen  Angelegenheiten  ganz  und  völlig 
missachtet  worden.  Nicht  etwa,  wie  eine  mo- 
derne Devise  lautet,  um  »eine  freie  Kirche  im 
freien  Staate«  ist  es  ihnen  zu  thun,  nicht  die 
natürlichen  Freiheitsrechte  der  Kirche , die 
etwa  vom  Staate  bedroht  würden,  suchen  sie 
zu  vertheidigen , sondern  was  sie  erstreben,  das 
ist  eine  Kirche,  die  vom  Staate  frei  wäre,  ja 
die  über  dem  Staate  stände  als  die  höhere 
und  höchste  Autorität , befugt,  schliesslich  auch 
die  Angelegenheiten  des  Staates  kraft  göttlichen 
Rechtes  zu  richten  und  zu  ordnen.  Aber  dass 
diese  Ansprüche  von  dem  heutigen  Staate,  der 
ein  so  ausgeprägtes  Bewusstsein  seiner  eigenen 
Souveränität  hat  und  haben  darf,  in  keiner 
Weise  geduldet  und  zugestanden  werden  dür- 
fen, ist  wohl  jedem  Unbefangenen  deutlich  ge- 
nug. So  lange  die  römischen  Kirchenoberen 
ihre  Ansprüche  nicht  aufgeben,  wird  und  kann 
der  Frieden,  den  sie  gestört  haben,  nicht  zu- 
rückkehren , aber  eben  deshalb  wäre  es  wün- 
schenswerth , dass  die  vorliegende  Schrift  ge- 
rade unter  den  Mitgliedern  der  »katholischen« 
Kirche  Verbreitung  und  Beachtung  fände. 

F.  Brandes. 


T 


iei 


G $ t f i n g 1 s c h e 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsiebt 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  /.  11*  Februar  1874. 


Segesta  pontificum  Romanorum  inde  ab  anno 
post  Christum  natum  MCXCVI1I.  ad  annum 
MCCCIV.  edidit  Augustus  Potthast.  Fasci- 
culus IV.  V.  Berolini  (Decker)  1873.  Fasci- 
culus VI.  1874.  p.  481 — 942.  4°. 

Nachdem  Anlage  und  Ausführung  des  um- 
fangreichen Regestenwerkes  schon  wiederholt  in 
diesen  Blättern  (s.  G.  G.A.  1873  Stüde  28.43) 
einer  eingehenden  Beurtheilung  unterworfen  wor- 
den sind,  kann  ich  mich  bei  der  Anzeige-  der  spä- 
teren Lieferungen  kürzer  fassen.  Mit  der  sechsten 
Lieferung  schliesst  der  erste  Band,  welcher  inll075 
Nummern  die  Regesten  der  Päpste  InnocenzIII. 
(mit  5316  Nr.),  Hdnorius  III.  (2545  Nr.)  und 
Gregor  IX.  (3212  Nr.)  bringt.  Von  Coelestin  ULI. 
sind  niemals  Urkunden  bekannt  geworden,  we- 
nigstens nicht  solche,  welche  mit  Sicherheit  ihm 
zugeschrieben  werden  können;  aus  der  langen 
Vakanz  nach  seinem  Tode  hat  endlich  Herr  P. 
noch  zwei  Urkunden  des  Kardinalkollegiums 
beizubringen  gewusst,  so  dass  der  erste  Band 

11 


t 


1«2  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  6. 

der  Reg.  pout,  nns  gleich  bis  ins  Jahr  1243 
fuhrt.  Die  erste  Lieferung  des  zweiten  Bandes 
wird  also  mit  der  Wahl  lnnocenz  IV.  anheben, 
dieser  selbst  aber  an  Umfang  kaum  hinter  dem 
vorliegenden  Zurückbleiben,  besonders  da  die 
sehr  nothwendigen  Nachträge  einen  ziemlichen 
Raum  beanspruchen  dürften.  Herr  P.  weist 
nämlich  in  nr.  11062  zum  ersten  Male  auf 
»Addenda«  hin  und  in  der  Hoffnung,  dass  für 
diese,  resp.  für  die  ebenso  nothwendigbn  ‘»Cor* 
rigenda«,  dem  Verf.  auch  die  Bemerkuiqjen  will- 
kommen sein  werden,  welche  in  diesen  Blät- 
tern ausgesprochen  wurden  und  zu  welchen 
auch  jetzt  wohl  Veranlassung  gegeben  ist,  be- 
ginne ich  zunächst  mit  den  Addenda,  d.  h.  mit 
den  Hinweise  atif  solche  in  Abdrucke  oder  im 
Auszuge  mir  bekannt  gewordene  Urkunden, 
welche  ich  in  den  Reg.  pont.  vermisse  oder 
vielleicht  nur  nicht  habe  auffinden  können. 

flonoriss  lil. 

1217  April  14  P.  nr.  5520  auch  bei  Peruzzi, 

Storia  d’Ancona  I,  365. 

— » 21  P.  nr.  5528  bei  Shirley,  Royal 

letters  I,  529. 

— * 25  für  den  Propst  von  Salzburg. 

Wiener  Sitzuugsber.  1858.  Bd. 

XXVH,  31. 

— Juli  8 an  den  Kardinallegaten  Gualo. 

Shirley  I,  532. 

S.ept.  7 an  Cremona.  Ficker,  Forsch. 

z.  Reichsgesch.  Italiens  IV,  307. 

1218  März  15  wegen  Ungebührlichkeiteu  izh 

Kapitel  von  Lausanne.  Notioes 

et  extraits  XXI  b,  166. 

— April  4 für  die  Domherren  von  Faemuu 

Mittarelli,  Access,  p.  471. 


/ 


Potthast , Regesta  pontificum  Romanorum.  168 

1219  Jan.  30  belobt  Cremona.  Acta  impern 

nr.  1140. 

— März  20  Mon.  hist  patr.  Chart.  II,  1292 

falsch  zu  1218. 

— Mai  14  an  Cremona.  Ficker,  Forschun- 

gen IV,  310. 

— > 18  an  die  deutschen  Kreuzfahrer. 

Raumer,  Hohenstaufen  (2.  Ausg.) 

III,  175. 

1220  Jan.  3 Ficker,  Forschungen  IV,  311. 

— März  16  nimmt  Friedrich  II.  u.  8.  w.  in 

seinen  Schutz.  Huill.-Bieholles 

I,  747. 

— April  28  Privileg  für  Morimund.  Ughelli 

IV,  253. 

— (Mai)  an  Friedrich  II.  (entsprechend 

P.  or.  6244).  H.  B.  I,  783. 

1221  Jan.  26  wegen  Bischof  Sifrid  von  Hil- 

desheim.  Leibniz,  Script.  II,  154. 

— Mai  14  an  Friedrich  II.  wegen  Benevent. 

Aus  Hon.  Regist.  lib.  V nr.  639 : 
.H.  B.  I,  882  not.,  extr. 

— Juni  26  an  die  Justitiare  T.  de  Amiterno 

und  11.  de  Ofenis.  Thein  er,  Cod. 
dipi.  dom.  temp.  I,  67  (ent- 
sprechend P.  nr.  6695). 

1222  Juli  13  Privileg.  Ughelli  i,  379. 

1223  Fehr.  13  Pirrus,  Sicilia  sacra  p.  805. 

— März  22  (Laterani)  ibid. 

— April  4 Mittarelli,  Access,  p.  476.  (Ob 

diesem  Honorius  angehörig?) 

— * 7 an  den  Bischof  von  Carlisle. 

Shirley  I,  537. 

— »17  für  die  Halberstädter  Kirche. 

Archiv  f.  Kiedersachsen  1656. 

II,  194. 

— >18  P.nr.  6997  auch  bei  Shirley  1,538. 

11* 


164  Gött.  gel.  hm.  1874.  Stock  6. 


1223  Mai  29 
- Juli  26 

— Dec.  13 

1224  Mai  18 


— » 24 


— Aug.  3 
— Not.  12 
— » 22 
1225  Febr.  12 


— Mai  28 

— Sept  3 

— * 10 
— Oct.  19 


— Nov.  19 


— * 28 

1226  Oct.  11. 

1227  Jan.  28 


P.  nr.  7032,  auch  bei  Siena, 
Storia  di  Sinigaglia  p.  334. 

Mon.  hist.  patr.  Chart  II,  1321 
falsch  zu  1224. 

P.  nr.  7 1 1 8,  auch  bei  Shirley 1, 539. 
befielt  allen  in  der  Mark  Ancona 
die  Besitzungen  der  Ravennater 
Kirche  zu  restituiren.  Fantuzzi 
VI,  69. 

erlaubt  dem  Erzbischöfe  von  Ra- 
venna den  Verkauf  eines  Kastels. 
ibid.  I,  350. 

P.nr.  7294,  auch  bei  Sbirley  1, 541. 
Notices  et  extraits.  XXI  b,  195. 
ibid. 

bestätigt  einen  Vertrag  zwischen 
dem  Erzbischöfe  von  Ravenna 
und  dem  Stifte  in  Porto.  Fan- 
tuzzi II,  198. 

Notices  et  extraits  XXI  b,  199. 
an  den  Erzbischof  von  Neapel 
Ughelli  VI,  302. 

Notices  XXI  b,  195. 
an  den  Erzbischof  von  Ravenna 
wegen  des  Kreuzzugs.  Fantuzzi 
VI,  45. 

an  den  Bischof  von  Modena  we- 
gen des  livländischen  Erzbis- 
thums.  Rayn.  Ann.  eccl.  1225 
§.  16. 

an  den  Bischof  von  Fossombrone. 
Peruzzi,  Storia  d’Ancona  I,  373. 
an  den  Erzbischof  von  Mainz. 
Würdtwein,  Nova  subs.  IV,  131. 
an  Orvieto,  Vetralla  u.  s.  w. 
wegen  der  Einsetzung  des  Kö- 
nigs Johann  zum  Rektor  des 


Fotthast , Regesta  pontificum  Romanorum.  165 

tuscischen  Patrimoniums.  Thei- 
ner  I,  82. 

flregor  IX.: 

1227  April  28  für  den  Patriarchen  Gerold  von 

Jerusalem.  Huill.-Brdh.  IIP,  69 
not.  1. 

— Mai  27  Privileg  für  S.  Maria  de  Ferraria. 

Ugbelli  VI,  719. 

— Juni  12  Meibom  III,  435. 

1228  März  22  Notices  XXI  b 215. 

— Nov.  5 im  Streite  des  Erzbischofs  von 

Ravenna  mit  den  Söhnen  Gui- 
dos von  Polenta.  Fantuzzi  UI,  78. 

1229  Nov.  9 Notices  XXI  b,  218. 

— Dec.  21  Privileg  für  S.  Maria  de  Monti- 

cello.  Sbaralea,  Bull.  Francisc. 
I,  56. 

1230  Jan.  18  Priv.  für  das  Bisthum  Gubbio. 

Ugbelli  I,  687. 

1234  Febr.  1 Notices  XXI  b,  225  extr. 

— > 15  P.  nr.  9408,  gedruckt:  Livl. 

Urkbch.  I nr.  99  falsch  zu  1228 
und  ebenso  schon  P.  nr.  8130). 

— Dec.  15  Notices  XXI  b,  p.  235. 

1235  Sept.  28  an  den  Kaiser.  Huill.-Bröh.  IV, 

776  not.  1,  extr. 

— — an  Hermann  von  Salza,  ibid. 

— » 26  an  die  Rektoren  des  Lombar- 

denbundes.  H.-B.  IV,  780  extr. 

1236  Febr.  11  Verhandlung  am  päpstlichen  Hofe 

/ zwischen  Modena  und  Bologna 
vor  namentlich  aufgefiihrten  Kar- 
dinälen.  Savioli  III,  2 p.  161; 
Murat.  Antiq.  Ital.  IV,  389. 

— » 19  an  den  Präceptor  des  Deutsch- 

ordens in  Accon.  H.-B.  IV,  808. 
not.  l.;  extr. 


166  Gott.  gel.  Anz.  1874.  8tü<&  6. 

1236  März  18  P.  nr.  10121 , gedruckt:  Neu- 

gart, Epüc.  Const.  I,  2 p.  533. 

— * 27  an  Hermann  von  Salza.  H.-B. 

IV,  826  not.  1.,  extr. 

— April  2 an  Podesta  und  Gemeinden  der 

Lombardei,  ibid.  IV,  827  not., 
extr. 

— » 5 an  Bitter  und  Volk  von  Pia- 

cenza. ibid. 

— Juni  10  an  den  Klerus  der  Lombardei 

(entsprechend  nt.  10184).  H.-B. 
IV,  871  extr. 

— — ebenso  an  Edle  und  Kommunen 

der  Lombardei,  ibid. 

— Aug.  17  an  den  Legaten  Bischof  von 

Praeneste.  H.-B.  IV,  904  not., 
extr. 

— » 19  an  den  Erzbischof  von  Mailand 

(entsprechend  nr.  10228).  H.-B. 

IV,  904. 

1237  Okt.  18  merkwürdiger  Brief  eines  Kar- 

dinals über  die  Verhältnisse  am 
päpstlichen  Hofe.  Matth.  Paris; 

H. -B.  V,  124. 

1238  Marz  30  Privileg  für  Eberbach.  Rossel, 

Urkbch.  der  Abtei  Eberbach 

I,  318. 

— April  30  an  Agnes  Herrin  von  Torre. 

H.-B.  V,  1221. 

— - Mai  4 an  einen  sardiniscben  Abt  we- 
gen der  Vermählung  der  Agnes. 

V,  1222. 

— »13  an  den  Bischof  von  Praeneste. 

H.-B.  V,  270  Dot.,  extr. 

— »26  Notices  XXI  b,  212  extr. 

— Jani  17  ibid.  p.  245. 

— »25  ibicL  p.  245  extr. 

— Aug.  6 zeigt  den  Lombarden  u.  s.  w. 


Potthast,  Begesta  pontifical»  Bomanorum.  167 

an,  dass  er  Gregor  von  Monte» 
longo  za  seinem  Nuntius  ernannt 
habe.  Cacciaeenti,  Summ.  mon. 
Vercell.  p.  190. 

123§  Not.  80  Vertrag  im  Lateran  zwischen 

Venedig  and  Genna  gegen  Frie- 
rich  IL 

1289  Mära  . . Notices  XXIb,  212  extr. 

— Juli  26  an  Ravenna.  H.-B.  V,  374  not. 

extr. 

— ...  zu  Gunsten  Bolognas.  Forsch. 

a.  deutsch.  Gesch.  XII,  291. 
1240  (o.  Febr.)  an  Albert , Archidiacon  von 

Passau.  ibid.  292. 

1241/3  ..  Das  Kardinalkollegium  während 

der  Vakanz  an  den  König  von 
Ungarn,  ibid.  642.  Ob  echt? 
An  nngedrnckten  Urkunden  and  Briefen, 
aas  deren  Nicbtaafnahme  selbstverständlich  Herrn 
P.  kein  Tadel  erwachsen  kann,  mag  gleich 
bei  dieser  Gelegenheit  notirt  werden , was  mir 
gerade  vorliegt: 

1218  Sept.  28  Honoring  HI.  an  den  Prior  von 

Colnmberia  eto.  in  Sachen  des 
Abtes  von  S.  Sisto  in  Plaoenza 
gegen  Cremona. 

1219  Mai  18  —-an  Friedrich  IL,  ähnlich 

wie  an  die  deutschen  Kreuz- 
fahrer von  diesem  Tage. 

— (c.  Oct.  1)  — maebt  bekannt , dass  zur 

Ueberfabrt  der  Kreuzfahrer  der 
Tag  des  h.  Benedikt  bestimmt  sei/ 

1220  Mai  1 — beauftragt  genannte  Achte 

den  Streit  zwischen  S.  Sisto  und 
Cremona  za  entscheiden. 

1222  Febr.  28  •—  an  den  Bischof  von  Piacenza 

etc.  in  derselben  Sache,  mit  aas- 


r r 


168  . G6tt.  gel.  Anz.  1874.  Stück  6.  - 

führlicher  Erzählung  des  ganzen 
Streites. 

1222  Mni  8 — in  seinem  Aufträge  verhan- 

delt Cardinal  Johann  von  Co- 
lonna  mit  den  am  päpstlichen 
Hofe  erschienenen  Parteien. 
Not.-Instr. 

' 1224  Mal  30  1 — befielt  dem  Dogen  von  Ve* 

, : ’ nedig  den  Verkehr  taitCremona 

abzubrechen.  .. 

. — — t — ebenso  an  Genua. . . 

— . Nov.  26  — befielt  den  Bann  gegen  Cre- 

mona zu  erneuern  -and  nun  auch 
Bologna,  Parma  und  Reggio  zu 
bannen. 

1227  Sept.  27  Gregor  IX.  befielt  Cremona,  ihm 

Guastalla  und  Luzzara  zu  über- 
geben. 

— — — > befielt  dem  Bischöfe  von 

Modena  diese  Güter  zu  über- 
nehmen, dann  sie  aber  für  3000 
Mark  an  Cremona  zurückzugebes 
und  dieses  vom  Banne  zu  he* 
freien. 

1230  April  2 — straft  Cremona  wegen  der 

Schädigung  des  Abtes  von  S. 

< Michael  de  Brembio.' 

— erbittet  vom  Kaiser  die 
Freilassung  des  Jacobus  de 
Castello.  i 

Von  den  »Addenda«  will  ich  auch  dies  Mal 
wieder  zu  den  »Corrigenda«  übergehen,  muss 
aber  vorher  bemerken,  dass  ich  mich  ans  einem 
Grunde,  der  weiterhin  deutlich  werden  wird,  da- 
bei vorläufig  auf  Fase.  IV  und  V beschränke.  In 
diesen  scheint  mir  Folgendes  einer  Verbesserung 
oder  nochmaligen  Erwägung  .zu  bedürfen: 


Potthast,  Regesta  piontificmn  Romanorum.  189 

-■  nr.  5496  vom  14.  März  1217  ist  die  Bestä- 
tigung einer  Schenkung  Friedrichs  II.  an  den 
Propst  von  Selbold.  Diese  Schenkung  ist  aber 
erst  am  15.  August  gemacht  worden  (Huill.- 
Breh.  I,  522),  so  dass  jenes  Jahr  der  päpstli- 
chen Bestätigung  (pont.  anno  1)  unmöglich  rich- 
tig sein  kann.  In  der  That  registrirt  P.  nr. 
6007  dieselbe  Bestätigung  aus  derselben  Quelle 
nochmals  zum  Jahre  1219  ein,  dies  Mal  aber 
mit  pont.  a°  3.  Was  ist  nun  das  Richtige? 

nr.  5508,  die  Belehnung  Aszo’s  v.  Este  mit 
der  Mark  Ancona,  ist  angesetzt  1217  »ante 
aprilem«.  Dieselbe  Urkunde  kehrt  aber  auf  der 
nächsten  Seite  wieder  nr.  5520  nach  einem  an- 
deren Drucke  und  dieses  Mal  mit  der  Note: 
(14.  apr.),  und  dies  Letztere  ist  richtig. 

nr.  5653,  undatirt,  würde  ich  unbedenklich 
zu  nr.  5503  vom  21.  März  1217  setzen.  Denn 
hier  bestätigt  Honorius  den  Schiedsspruch  von 
1206  zwischen  den  Grafen  von  Looz  und  Hol- 
land, um  dort  Fürsorge  zu  treffen  für  die  Be- 
seitigung der  Streitigkeiten,  welche  aus  jenem 
Schiedssprüche  entstanden  sind. 

nr.  5694,  aus  Lugdunum  datirt,  ist  natür- 
lich keine  Urkunde  des  Papstes  Honorius  III., 
sondern  gehört  dem  5.  Febr.  1245  und  Inno- 
eenz  IV.  an. 

nr.  5734;  S.  Stephani  de  Vosco,  wohl  nur 
Druckfehler  statt  Bosco. 

hr.  5771  für  B.  Christian  von  Preussen,  soll 
unecht  sein , ist  aber  in  dieser  Eigenschaft  nicht 
durch  das  sonst  gebrauchte  Kreuz  gekennzeich- 
net. Die  Zahl  der  so  gekennzeichneten  Stücke 
ist  nach  wie  vor  auffallend  klein;  in  den  drei 
vorliegenden  Heften  finden  sich  derer  nur  drei, 
auf  8;  549.  607.  715,  während  — um  das  gleich 
hier  abzumachen  — nr.  10806  sicherlich  ge- 


170  Giitfc.  gel.  Aas.  1874.  Stick  I. 
fälscht  ist,  aber  in  dieser  Eigenschaft  nicht  her- 

vorgehotben  wurde. 

nr.  5807  nach  Wilhins  Concilia  I,  580  ist 
nichts  anderes  als  nr.  6067  nach  Dugdale,  Mob. 
Anglic.  II,  269.  Dasselbe  Privileg  steht  dort 
unter  1218,  hier  unter.  1219:  welches  Jahr  ist 
nun  richtig? 

er.  6118  ist  bei  Sohiavina,  Arm.  Alexandr. 
p.  178  vom  22.  August. 

nr.  6137  für  den  Seloniensfa  epise.,  statt 
Seloviensis,  wie  wiederholt  bei  P.  steht. 

er.  6162  für  deu  Bischof  von  Tusculum  vom 
13.  Kal.  Dec.  &•  4 nach  Ughelli  und  TomassettL 
Aber  unter  nr.  6185  lesen  wir  ganz  dieselbe 
Verleihung  nach  denselben  Quellen,  doch  au-> 
geblich  mit  13.  Kal.  Jan.  Welches  Datum  ist 
nun  richtig?  Ich  hatte  diese  Urkunde  zum 
19.  Nov.  notirt. 

nr.  6174:  es  ist  statt  apost.  sedis  eleeto  Mr 
türllch  »legato«  zu  lesen. 

nr.  6196  ist  vom  21.  Febr.  1220. 
nr.  6214  universo  populo  Maiorici  erklärt 
P.  mit  »Madrid«;  sollte  nicht  vielmehr  Mallorca 
zu  verstehen  sein? 

nr,  6272  steht  auch  Leibn.  Sor.  rer.  Bnmsvio. 
II,  279. 

nr.  6352:  Alatrino  (?)  capellano.  Das  Frage* 
Zeichen  steht  sehr  überflüssig.  Alatrin  ist  ein 
ganz  bekannter  Mann  s.  Forsch,  z.  deutsch« 
Oescb.  X,  253  und  wurde  wirklich  zu  den  betr. 
Verhandlungen  mit  Friedrich  II.  gebraucht  s. 
Geseh.  Friedr.  II.,  Bd.  I.  S.  141  u.  ö. 

nr.  6358  ein  uudatirtes  Schreiben  an  Fri*» 
rich  II.,  musste,  da  et  der  Anweisnng  an  Alatrin 
vom  4.  Sept.  entspricht,  unmittelbar  auf  6S&2 
folget*.  Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  um  es 
mit  P.  etwa  zum  20.  Sept.  zu  setsen. 

nr.  6528  gehört,  wie  P.  selbst  p.  569  ver- 


Potihast , Regesta  pontificnm  Romanoruin.  171 

bessert  hat,  zum  Jahre  1120  (vgl.  p.  541) ; ebenso 
aber  auch  nr.  6529,  wo  die  Corrector  verges* 
sen  worden  ist. 

nr.  6591  Privileg  für  den  Bischof  von  Fertno, 
nach  P.  vom  15.  Mars  1221.  Da  non  P.  selbst 
p.  679  die  Kanzlei  Honorias  zusaromenstelH  und 
ganz  richtig  angiebt,  dass  schon  am  10.  Dec. 
1219  ein  Privileg  gegeben  ist  per  mannm  Ray« 
nerii  patriarchs©  Antioch,  cancellarii  vicem 
agentis,  hätte  er  wohl  darüber  stutzig  werden 
können,  dass  nr.  6591  die  Bezeichnung  trägt: 
per  roan.  Raynerii  s.  B.  E.  vicecancellarii,  die 
auf  1219  hinweist.  — Ferner  kommt  unter  den 
Subskribenten  Aldebrandinus  diac.  s.  Eustachii 
vor  und  P.  verzeichnet  demgemäss  denselben  p. 
679,  seinem  Irrthum  getreu,  zum  15.  März  1221. 
Und  doch  weiss  er  p.  678,  dass  dieser  Aide* 
brandin  schon  am  3.  März  1221  presbyter  tit. 
s.  Susannae  war!  Es  kann  keinem  Zweifel  un- 
terliegen, dass  das  Privileg  für  den  Bischof  von 
Fermo  von  dieser  Stelle  der  päpstlichen  Rege« 
sten  gestrichen  und  vielmehr  zum  15.  März 
1219  gesetzt  werden  muss. 

nr.  6609:  Engelberto  electo  Coloniensi,  an- 
geblich mit  pont.  a.  5.  Herrn  P.,  der  ja  die 
deutschen  Bischofsreihen  selbst  herausgegebea 
hat,  sollte  es  nicht  unbekannt  sein,  dass  En- 
gelbert 1221  längst  nicht  mehr  eleotus  war. 
Er  hat  dieses  Regest  nach  Fickers  Engelbert« 
S.  330  gearbeitet,  aber  übersehen,  dass  Ficker 
schon  bemerkte:  »Vielleicht  ist  das  Pontificats* 
j&hr  verkehrt  angegeben«.  Ganz  gewiss;  es 
muss  pont.  a.  1.  gelesen  und  die  Urkunde  zum 
8*  April  1217  statt  1221  gesetzt  werden. 

nr.  6675:  (Romano)  Portuensi  episoepo. 
Einen  solchen  hat  es  1221  nicht  gegeben.  In 
der  folgenden  Ar.  6676  strikt  denn  auch  richtig: 


i 


172  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  6. 

Conradus  Port,  episc.,  aber  unter  nr.  6698  wie« 
der  falsch:  'R(omano)  episcopo  und  unter  nr. 
7432  zur  Abwechslung : (Cinthio)  Port,  episcopo. 

nr.  6681  zum  4 13.  Juni  1221:  Ostiensi 
epißcopo.  Dieselbe  Urkunde  ist  nochmals  un- 
ter nr.  6857  a zum  13.  Juni  1222  verzeichnet 
und  zwar  wieder  aus  denselben  Quellen.  Wie 
ist  das  Räthsel  zu  lösen? 

nr.  6700  ist  nichts  als  die  undatirte  Ab- 
schrift einer  der  vielen  Ausfertigungen  von  nr. 
6599,  brauchte  also  nicht  besonders  verzeichnet 
zu  werden. 

p.  596  zu  der  chronikalischen  Notiz  über 
die  Krankheit  des  Papstes  wäre  auch  Chron. 
Montis  Sereni  p.  ISO  anzuziehen  gewesen. 

nr.  6896:  einen  G.  presb.  s.  Anastasiae  hat 
es  nicht  gegeben,  es  ist  G(regorius)  zu  lesen, 
s.  Pottb.  p.  678. 

nr.  6969  regi  Francorum  angeblich  c.  März 
1226.  Derselbe  Brief  aus  derselben  Quelle  steht 
nochmals  nr.  7035  angeblich  vom  Ende  des 
Mai.  Uebrigen8  sind  auch  nr.  7131  und  7132 
nur  andere  Ausfertigungen  desselben  Briefes  an 
andere  Adressaten  und  es  hätte  genügt,  diese 
unter'  nr.  6969  kurz  anzumerken,  wo  schon 
einige  der  Art  stehen. 

nr.  7038  hat  in  der  anderen  Ausgabe  des 
Ughelli  VII,  453  die  Ortsangabe:  Rome  apud 
P.  Petrum. 

nr.  7244.  Es  wäre  der  Mühe  werth  gewe- 
sen, dass  das  namentlich  aufgezäblte  Kardinals- 
collegium am  27.  April  1224  diese  Bitte  unter- 
stützte. Recueil  XIX,  752  note. 

nr.  7289.  Ebenso  an  Podesta  und  Volk  von 
Fermo.  ♦ 

nr.  7562:  Fridericum  imp.  increpat,  angeb- 
lich April  1226,  nach  HuilL-BrehoUes  II,  552 


Potthast , Begesta  pontificnm  Romanorom.  179 

\ 

und  mit  der  dieser  Aasgabe  entnommenen  Note : 
Licet  haec  epistola  in  impresso  tribuatur  papae 
Innocentio,  non  dubium  est,  quin  hoc  nomen  in 
codice  perperam  pro  »Honorius«  irrepserit. 
Genau  dasselbe  Stück  findet  sich  jedoch  schon 
einmal  nr.  4133  zum  November  1210:  Ottoni 
imp.  opprobrat  etc.  und  da  hat  P.  bemerkt: 
ubi  inscribitur  mirabile  dictu  Friderico  Rom. 
imp.,  quod  iam  monuit  v.  Raumer  Hohenstau- 
fen Ul,  162.  Diese  von  Herrn  P.  geflegte  Zwei- 
Seelentheorie  dürfte  ein  mirabile  dictu  in  noch 
höherem  Masse  verdienen.  Aber  sie  erklärt  sich 
aus  der  Unbefangenheit,  mit  welcher  er  seinen 
Quellen  nachschreibt.  In  nr.  4133  ist  er  näm- 
lich Böhmer,  Reg.  imp.  p.  55  gefolgt,  dem  wie 
in  den  meisten  Fällen,  so  auch  hier  bewährten 
Führer;  in  nr.  75G2  aber  bat  er  sich  in  glei- 
cher Unfreiheit  des  Unheils  Huillard-Breholles 
hingegeben,  ohne  zu  bemerken,  dass  er  durch 
die  Annahme  der  falschen  Bemerkung  desselben 
in  einen  schreienden  Widerspruch  mit  sich  selbst 
gerieth.  Vgl.  übrigens  Gött.  gel.  Anz.  1873 
Stück  43  S.  1692. 

nr.  7788  ist  vor  August  1220  abgefasst,  da 
Pandulfus  Norwicensis  electus  seitdem  den  Titel 
eines  päpstlichen  Kämmerers  nicht  mehr  führt, 
nr.  7794:  episcopo  Calmensi,  lies  Calinensi. 
nr.  7813  aus  der  Zeit  vor  Dec.  1219,  denn 
in  diesem  Monate  wurde  der  electus  Mediola- 
nensis  geweiht. 

nr.  7876:  iusticiarium  imperii  supremum  ro- 
gat  — unmöglich,  da  ein  solcher  nicht  vorhan- 
den war.  Es  ist  vielmehr  der  Grosshofjustitiar 
des  Königreichs  Sicilien  gemeint. 

nr.  7894  für  die  conversi  (in  . partibus  Li- 
voniae?).  Bunge  hat  in  seinem  Livländischen 
Urkundenbuch  diesen  Schutzbrief  auf  Livland 


174  Oött.  ge L Anz.  1874.  Stück  6. 

bezogen,  und  P.  ist  ihm  gefolgt,  aber  wohl  mit 
Unrecht.  Denn  die  Vergleichung  mit  den  an- 
deren Briefen  von  demselben  Tage  nr.  7891  ff. 
zeigt  ganz  deutlich,  dass  Bekehrte  in  Preussea 
gemeint  sind. 

nr»  7913:  Der  französische  König,  an  dea 
dieser  Brief  gerichtet  ist,  ist  nicht  Ludwig  VUL, 
sondern  Ludwig  IX.,  der  Vater  des  Königs  also 
nicht  Philipp  August,  wie  P.  angiebt,  sondern 
Ludwig  VUL,  der  im  November  1226  gestor- 
ben war. 

nr.  7966:  Doarinis  deSompnino.  Sollte  nicht 
de  Supino  gelesen  werden  müssen? 

nr.  8044.  Hier  und  an  anderen  Stellen  d- 
tirt  P.  erst  Matth.  Paris.  Hist,  maior  und  dann 
Rogen  de  Wendover  Flores.  Die  Reihenfolge 
muss  jedoch  die  umgekehrte  sein,  da  Matth,  die 
betr.  Urkunden  aus  und  mit  Roger  in  sein  eige- 
nes Werk  übernommen  hat,  vgl.  Potthast,  BibL 
hist.  p.  438. 

nr.  8222  ist  dasselbe  Privileg  wie  nr.  8241, 
so  dass  in  einem  der  beiden  benutzten  Ab- 
drücke das  Datum  falsch  wiedergegebeu  sein 
muss.  Das  in  8222  angenommene  Datum:  IV. 
Kal.  Julii  findet  sich  auch  bei  Lami,  Delic.  II, 
248;  das  aber  in  8241  stehende:  XIV  Kai.  Julii 
würde  die  Urkunde  jedenfalls  nicht  an  den 
Platz  verweisen,  wohin  P.  sie  gesetzt  hat,  näm- 
lich zum  19.  Juli. 

nr.  8254  ist  auch  an  Andere  gerichtet  ge* 
wesen,  s.  Archiv  d.  Gesellsch.  X,  549. 

nr.  8376  kehrt  wieder  nr.  8528.  Welches 
Datum  ist  nun  richtig:  16.  April  1229  oder  15. 
April  1230? 

nr.  8444.  Der  hier  genannte  C.  «ubdiac.  et 
cap.  rector  Carfannani,  dessen  Namen  P.  als 
Cencius  ergänzt,  dürfte  eher  der  1228  bei  Huill.» 


Potthttt,  Rfegeuta  pontificum  Rmatarim.  I7t 

Brih.  UI,  81  verkommende  Cinthias  «eia.  Ein 
Ssbdmkon  Cencius  ist  mir  ans  den  Zeiten  Gre- 
gors IX.  nicht  bekannt 

nr.  8566  ist  die  Anzeige  von  der  Ernennung 
des  Ardinghns  zum  Bischöfe  von  Florenz,  aus 
UghelK  entnommen  und  wegen  des  Datums:  Non. 
Junii  pont.  a.  4.,  richtig  zum  6.  Juni  1231  em* 
gereiht.  Sie  findet  eich  aber  auch  bei  Lami, 
jedoch  mit  Nonis  Mart.  a.  4«  und  demgemäss 
hat  P.  sie  nochmals  unter  dem  7.  März  1281 
nr.  8676  verzeichnet.  Wieder  wird  man  fern- 
gen,  welches  Datum  denn  das  richtige  sei,  und 
wünschen  dürfen,  dass  P.  sich  nach  einer  Enrt» 
Scheidung  um  gesehen  hätte,  welche  hier  doch 
wie  in  vielen  anderen  Fällen  ganz  gewiss  in 
den  Bereich  »seiner  Aufgabe  fieL 

p.  737,  iuli  23  apud  S.  Germanum  —könnte 
leicht  zu  der  Meinung  veranlassen,  als  ob  Gne» 
ger  selbst  auch  in  S.  Germano  gewesen  wäre. 
Gregor  blieb  aber  in  Anagni , während  die  Ycr* 
handlangen  mit  dem  Kaiser  1230  in  S.  Germane 
gelahrt  wurden. 

nr.  8666  ist  identisch  mit  nr.  8675 ; es  hätte 
aber,  da  P.  selbst  die  Identität  andeutet,  -zwi- 
schen ihren  abweichenden  Datirungen  eine  Ent- 
scheidung getroffen,  die  Urkunde  nur  au  einer 
8telle  verzeichnet  werden  müssen. 

nr.  8764:  Frid.  imp.  monet,  nt  ausus  teme- 
rarios  Raynaldi  in  ecclesiam  Rom&nam  ulmoa- 
tur.  Der  Inhalt  ist  aber  der  entgegengesetzte, 
wie  der  Verf.  schon  aus  nr.  8749  hätte  wissen 
müssen:  Gregor  bittet  den  Kaiser  vielmehr  um 
Gnade  für  Rainald. 

'nr.  8834  vom  *26.  Nov.  1231  enthält  Auf- 
träge angeblich  gegen  Herzog  Ludwig  von 
Saiern.  Dieser  war  jedoch  schon  am  16.  Sept. 
ermordet  worden  und  dass  man  am  päpstlichen 


i 


176  Gott  gel  Asz.  1874.  Stock  6,  - 

Hofe  wenigstens  am  29.  Not.  schon  davon 
Eenntniss  hatte,  zeigt  nr.  8835.  Ebensowenig 
durfte  in  nr.  8866  vom  4.  Febr.  1232  der  Na- 
men des  Herzogs  von  Baiem  mit  Ludwig  er- 
gänzt werden. 

nr.  9114  ist  an  den  Erzbischof  von  Magde- 
burg gerichtet. 

nr.  9271.  Hier  war  zu  erwähnen,  dass  in 
der  gleichen  Angelegenheit  auch  der  Erwählte 
Bainald  von  Ostia  dem  Kaiser  schrieb.  Huill.- 
Rröh.  IV,  450. 

nr.  9333  bezieht  sich,  wenn  ich  nicht  irre* 
auf  die  Aebtissin  von  Quedlinburg. 

Das  vorstehende  Verzeichniss  der  bedeutend- 
sten Errata  hat  schon  verschiedene  Male  Anlass 
zu  der  Bemerkung  gegeben,  dass  der  Verf.  aus 
einer  Urkunde  zwei  gemacht  hat,  indem  er  ent- 
weder versäumte,  abweichende  Daten  zu  unter? 
suchen  oder  zu  berichtigen,  oder  Ausfertigungen 
an  verschiedene  Adressaten,  die  er  in  den  frühe- 
ren Heften  unter  einer  Nummer  zusammenzu- 
fassen pflegte,  jetzt  unter  verschiedenen  Num- 
mern eintrug.  Ich  glaube  nicht,  dass  er  sich 
dabei  von  dem  Ehrgeize  hat  leiten  lassen,  die 
Zahl  seiner  Nummern  recht  hoch  zu  bringen; 
vielmehr  suche  ich  den  Grund  dieses  nicht  zu 
billigenden  Verfahrens,  das  der  Uebersichtlich- 
keit  stark  Eintrag  thut,  einfach  in:  seiner  etwas 
flüchtigen  Arbeitsweise,  in  welche  besonders  die 
oben  besprochene  nr.  7562  einen  eigentümli- 
chen Einblick  eröffnet.  Er  findet  ein  Stück  in 
einem  beliebigen  Drucke  und  verzeichnet  es  ge- 
wissenhaft auf  einem  loseh  Zettel.  Später  fin- 
det er,  ohne  sich  des  ersten  Fundes  zu  erinnern, 
nochmals  dasselbe  Stück  in  e'inem  zweiten 
Drucke  und  schreibt  es  wieder  auf  einen  Zettel 
u.  a.  w.f  und  ist  dann  zur  chronologischen  Ord- 


Potthast,  Regest»  pontificum  Romanorum.  177 

nung  dieser  vielen  Zettel  geschritten.  Ich 
wüsste  nicht,  wie  es  anders  zu  machen  gewesen 
wäre.  Aber  nnn  hätte  nachträglich  eine  syste- 
mati8cbe  Sichtung  des  Materials  vorgenommen 
werden  müssen  und  diese  scheint  der  Verf.  sich 
leider  etwas  zu  leicht  gemacht  zu  haben.  Es 
fehlt  seiner  Arbeit,  und  ich  kann,  um  Missver- 
ständnisse zu  vermeiden,  es  nicht  oft  genug  be- 
tonen, nicht  sowohl  an  Fieiss,  als  an  der  gleich- 
massigen  Durcharbeitung,  durch  welche  die  Re- 
gestenarbeit sich  erst  aus  dem  Bereiche  des 
Randwerkspässigen  in  die  Sphäre  des  Wissen- 
schaftlichen emporhebt.  Denn  dieses  ist  nicht 
möglich  ohne  eigenes  Urtheil.  Ob  der  Verf. 
dieses  Urtheil  besitzt  oder  nicht,  das  kann  aller- 
dings hier  nicht  ausgemacht  werden  und  ich 
will  auch  nicht  anderes,  als  eben  nur  consta- 
tiren,  dass  er  es  wenigstens  nicht  in  allen  Fäl- 
len, wo  es  nötbig  gewesen  wäre , wirksam  ge- 
macht bat.  Mit  einiger  Aufmerksamkeit  hätte 
ihm  gewiss  nicht  die  Identität  entgehen  können, 
abgesehen  von  den  schon  berührten  Urkunden- 
pgaren,  auch  noch  bei  nr.  5475  und  5477,  nr.  5478 
und  5479,  nr.  5562  und  5579,  nr.  5688  und  5691, 
nr.  5860  und  5861, 6090  und  6092, 6633  und  6635, 
7139  und  7150,  7212  und  7214,  8292  und  8295 
u.  s.  w.  und  dass  z.  B.  nr.  8430.  8431.  8432. 
8433  sämmtlich  Ausfertigungen  eines  und  des- 
selben Stückes  an  verschiedene  Adressen  sind. 
Wenn  der  Verf.,  wie  es  sich  gehörte,  bei  der 
Durcharbeitung  des  gesammelten  Materials  sich 
ein  Register  derjenigen  angelegt  hätte,  für 
welche' die  einzelnen  päpstlichen  Urkunden  und 
Briefe  bestimmt  waren  oder  von  welchen  sie 
handeln,  und  ebenso  ein  Register  der  Eingangs- 
worte, dann  wären  jene  Nachlässigkeiten  nicht 
leicht  möglich  geworden. 


12 


178  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  6. 

Jedes  Heft  der  Beg.  pont.  bestätigt  das 
früher  ausgesprochene  Ortbeil  über  die  Arbeits- 
weise des  Verfassers  und  die  Fase.  IV.  und  V. 
sind  nur  geeignet,  es  zu  verschärfen,  da  die  ge- 
rügten Mängel,  weit  davon  entfernt,  allmählich 
zu  verschwinden,  sich  hier  in  erhöhtem  Maasse 
breit  machen.  Ich  hatte  in  der  Besprechung 
des  zweiten  und  dritten  Heftes  (1873  Stück  43 
S.  1687),  es  getadelt  und,  wie  ich  meine,  es 
ziemlich  mild  als  eine  Unregelmässigkeit  be- 
zeichnet, dass  der  Verf.  von  Zeit  zu  Zeit  Rege- 
sten, die  er  in  fremden  Sprachen  vorgefunden 
haben  mag,  in  diesen  Sprachen  seinem  Werke 
einverleibte,  für  welches  er  doch  selbst  die  la- 
teinische Sprache  gewählt  hat.  Aber  was  ich 
dort  tadelte,  war  zusammengehalten  mit  dem, 
was  die  folgenden  Hefte  in  dieser  Beziehung 
sich  erlauben,  nur  ein  schwacher  Anfang,  eine 
Ankündigung  des  babylonischen  Sprachengewirrs, 
wie  es  sich  besonders  im  vierten,  etwas  weniger 
allerdings  im  fünften  Hefte  findet.  Diese  ent- 
halten, wenn  ich  recht  gezählt  habe,  72  Rege- 
sten in  französischer  Sprache  (fase.  I nur  1, 
fase.  II  und  III  schon  14)  und  in  buntem  Wech- 
sel mit  dem  lateinischen  Grundstock  und  der 
französischen  Verbrämung  noch  3 deutsche 
(8819a,  8907,  9110),  1 niederländisches  (8310), 
1 englisches  (5925),  1 dänisches  (5656),  6 ita- 
lienische (6131.  6172.  6714.  6886.  8309.  8570) 
und  2 spanische  Regesten  (5493  und  6859). 
Wie  soll  man  nun  diese  Regellosigkeit  erklä- 
ren? Es  mag  sein,  dass  Herr  P.  in  guter  Ab- 
sicht gerade  so  verfuhr  und  in  der  Meinung, 
eine  gewisse  Abwechslung  der  Sprache  würde 
1 den  Benutzer  seines  unvermeidlich  trockenen 
Werkes  wohlthuend  berühren.  Vielleicht  war 
auch  ein  bischen  Eitelkeit  mit  im  Spiele:  wer 


Potthast,  Begesta  pontificum  Romanorum.  179 

will  das  ausmachen?  Wenn  ich  aber  den  gan- 
zen Charakter  der  Arbeit  ins  Auge  fasse,  dann 
wird  es  mir  am  Wahrscheinlichsten,  dass  der 
Verf.  bei  der  Ordnung  seiner  Zettel  einfach  ver- 
gessen hat,  dasjenige  ins  Lateinische  zu  über- 
tragen, was  er  sich  vorher  aus  französischen, 
italienischen  und  anderen  Büchern  ausgeschrie- 
ben batte. 

Wir  können  uns  nicht  recht  auf  ihn  und  er  sich 
nicht  auf  sich  selbst  verlassen;  heute  macht  er 
es  so  und  morgen  anders.  Das  im  3.  Hefte 
gebotene  Verzeichniss  der  Eardinäle  und  der 
Kanzleibeamten  aus  der  Zeit  Innocenz  III.  taugte 
zwar  nicht  viel,  aber  es  zeigte  wenigstens  den 
guten  Willen,  indem  P.  sich  bemühte,  das  jedes- 
malige Vorkommen  eines  Kardinals  oder  eines 
Kanzlers  mit  der  Nummer  und  den  Daten  der 
betr.  ‘Urkunden  zu  belegen.  Das  erleichterte 
die  Controlle  ungemein.  Nun  wird  Niemand  an- 
nehmen, dass  der  Verf.  gerade  deshalb,  um  sie 
zu  erschweren,  sich  bei  dem  Verzeichnisse  der 
Kardinäle  aus  der  Zeit  des  HonoriusIII.  p.  678. 
679  bloss  auf  die  Angabe  der  Nummern  be- 
schränkt hat,  — aber  das  Ergebniss  aus  dieser 
Abkürzung  seiner  Mühe  ist  in  der  That  eine  so 
grosse  Erschwerung  der  Gontrolle  und  der  Be- 
nutzung , dass  man  es  mir  verzeihen  wird,  wenn 
ich  nicht  mit  derselben  Ausführlichkeit  dieses 
zweite^  Verzeichniss  prüfen  mag,  welche  mir  je- 
nes erste  Mal  nothwendig  erschien.  Ich  will 
nur  Weniges  bemerken,  was  mir  gerade  aufge- 
stossen  ist.  Es  ist  P.  entgangen  z.  B.,  dass 
sein  Guido  episc.  Praenestinus  aus  zwei  ver- 
schiedenen Persönlichkeiten  zusammengesetzt  ist, 
nämlich  aus  Guido  U.  (de  Papa),  der  nach  einem 
Menologium  Gasinense  bei  Ughelli  I,  236  am 
16.  August  1221  gestorben  sein  soll,  und  aus 

12* 


180  Gott.  gel.  Adz.  1873.  Stück  6. 

Guido  III.  (Petri  Leonis),  der  vorher  Diakon 
von  S.  Nicolaus  in  carcere  Tulliano  war  und 
dessen  Weibe  P.  selbst  p.  582  erwähnt.  Er 
hat  übersehen,  dass  Aldebrandin,  welcher  am 
3.  März  1221  als  presbyter  S.  Susannae  vor- 
kommt, unmöglich  am  15.  März  noch  diaconus 
s.  Eustachii  gewesen  sein  kann  (vgL  oben  zu 
nr.  6591).  Ebenso  unmöglich  ist  es,  dass  am 
10.  Okt.  1217  Petrus  noch  presb.  s.  Laurentii 
in  Damaso  und  Cinthius  noch  presb.  8.  Laurentii 
in  Lucina  waren,  wenn  jener  schon  im  Aprjl  den 
Titel  eines  Bischofs  der  Sabina,  dieser  schon 
vor  dem  April  den  des  Bischofs  von  Porto  ge- 
führt haben  soll.  Aldebrandin  war  noch  1222 
Juli  13.  Sabinensis  episcopus  und  ein  Aegidius 
schon  1217  April  13.  diaconus  ss.  Cosmae  et 
Damiani.  Als  presb.  ss.  Johannis  et  Pauli 
weiss  P.  einen  Johannes  zu  nennen,  aber  aus 
der  einzigen  Urkunde,  in  der  er  Vorkommen 
soll,  vom  18.  Jan.  1217  Ughelli  (1.  edit.)  I. 
Append,  p.  204  habe  ich  mir  einen  Robertas 
notirt,  was  ohne  Zweifel  für  Bertrandus  verle- 
sen ist.  Bei  dem  Verzeichnisse  der  Kanzlei- 
beamten  des  Papstes  p.  679  ist  P.  auf  die  nahe 
liegende  Annahme  gar  nicht  verfallen,  dass  der 
Raynerius  prior  s.  Fridiani  von  1216  bis  an- 
geblich 1217  Nov.  16.  und  der  Raynerius  s.  R. 
E.  vicecancellarius  von  1217  März  4.  bis  an- 
geblich 1221  März  15.  (s.  o.  zu  nr.  6591)  und 
endlich  Raynerius  patr.  Antioch,  von  1219  Dec. 
20.  eine  und  dieselbe  Persönlichkeit  darstellen. 
Zu  seiner  Entschuldigung  mag  das  angeführt 
werden,  dass  er  die  Titel,  deren  Rainer  sich 
nach  der  Reihe  bedient  hat,  nicht  zeitlich  aus- 
einander zu  halten  vermocht  hat.  Ebenso  selbst- 
verständlich ist  die  Identität  von  Wilhelmu* 
vicecanc.  1220 — 1222  Apr.  3,  Wilhelmus  cancel!. 


Potthast,  Regesta  pontificum  Romanornm.  181 

1221 — 1222  Febr.  27  und  Wilhelmus  notarius 
1216,  der  sonderbarer  Weise  hier  nachhinkt. 
Wäre  es  nicht,  belehrender  gewesen,  einfach  sich 
an  die  chronologische  Reihenfolge  der  Personen 
und  ihrer  Titel  anzuschliessen,  welche  ein  vor- 
treffliches Hilfsmittel  für  die  Kritik  der  Dati- 
mngen  gewährt  ? Es  hätten  also  nach  der  Reihe 
terzeichnet  werden  müssen: 

Wilhelmus  notarius  1216. 

Raynerius  prior  s.  Fridiani  Luc.  vicecanc. 

1216;  ohne  den  Titel  als  prior  1217;  patr. 

Antioch,  cancellarii  vicem  agens  1219. 
Wilhelmus  vicecanc.  1220;  cancellarins  1221, 
und  auf  diesen  wären  dann  die  späteren  Leiter 
der  Kanzlei  Mag.  Guido  1222—1226  und  Mag. 
Sinibaldus  1226  gefolgt.  Ein  Blick  genügt  bei 
dieser  Anordnung,  um  die  sämmtlichen  Wand- 
lungen der  päpstlichen  Kanzlei  zu  übersehen, 
die  in  der  Anordnung  des  Verf.  ganz  versteckt 
sind  und  erst  mühsam  herausgesucht  werden 
müssen. 

Der  Verf.  scheint  das  allmählich  erkannt  zu 
haben;  wenigstens  hat  er  sich  in  Fase.  VI  p* 
939  bei  den  Kanzleibeamten  Gregors  IX.  von 
seiner  bisherigen  Anordnung  losgesagt,  um  der 
von  mir  empfohlenen  Weise  zu  folgen.  Und 
das  ist  nicht  das  Einzige,  wodurch  sich  diese 
letzte  Lieferung  des  Bandes  vortheilhaft  von  den 
früheren  unterscheidet.  Die  Schwächen  derseL 
ben,  welche  mich  hie  und  da  zu  scharfem  Ta- 
del berechtigten,  sind  noch  nicht  ganz  abge- 
streift, aber  man  erkennt  doch,  dass  der  Verf. 
bemüht  und  auf  dem  besten  Wege  ist,  sie  zu 
überwinden,  sei  es  dass  er  selbst  auf  sie  auf- 
merksam wurde,  sei  es,  dass  die  in  diesen  Blät- 
tern gebotenen  Besprechungen,  die,  Einzigen, 
welche  meines  Wissens  bis  dahin  erschienen 


182  Gott«  gel«  Anz.  1874.  Stück  6. 


waren,  ihn  zu  erneuerter  Prüfung  seiner  müh- 
seligen Arbeit  veranlassten.  Das  Verzeichniss 
der  Kanzler  und  der  Kardinale,  welche  den  Pri- 
vilegien Gregors  IX.  als  Zeugen  dienen,  ist,  so- 
weit ich  vorläufig  zu  urtheilen  vermag,  voll- 
ständig und  genau.  Die  Ausfüllung  der  Adres- 
sen ist  seltener  vorgenommen,  aber  meist  rich- 
tig getroffen  worden*).  Die  Sprachverwirrung 
in  den  Regesten  nimmt  allmählich  wieder  ab, 
obwohl  leider  noch  immer  19  französische  und 
2 deutsche  Regesten  untergelaufen  sind.  An 
sachlichen  Irrthümern  fehlt  es  nicht  ganz  — ' 
aber  wo  wären  diese  bei  solchem  Werke  ganz 
zu  vermeiden?  Mit  einem  Worte,  die  Arbeit 
nähert  sich  in  diesem  Schlusshefte  demjenigen 
Grade  der  Sorgsamkeit  und  Genauigkeit,  den 
man  billiger  Weise  beansprnchen  darf  und  den 
der  Verf.  ihr  auch  ganz  wohl  durchgehends 
hätte  verleihen  können,  wenn  er  nicht  anfangs 
die  Drucklegung  zu  eilig  betrieben  hätte.  Möge 
er  mir  gestatten,  seinem  jetzt  deutlich  hervor- 
tretenden Streben  nach  Vollendung  im  Einzel- 
nen meinen  Glückwunsch  mit  derselben  Offen- 
heit auszusprechen,  mit  welcher  ich  aus  wah- 
rem Interesse  an  der  Sache  über  ihre  bedenk- 
liche Seite  mich  glaubte  äqssern  zu  müssen. 
Vielleicht  findet  er  in  den  wenigen  Bemerkun- 
gen, zu  welchen  Fase.  VI  mir  Anlass  giebt,  den 
Beweis  dafür,  dass  dieses  Interesse  an  seiner 
Arbeit  eben  es  ist,  welches  mich  bestimmt,  un- 
gefragt gewisser  Massen  sein  Mitarbeiter  zu  wer- 
den, so  weit  ich  es  ohne  seine  reichen  Hülfs- 
mittel  vermag. 

*)  Fraglich  sind  mir  die  Ergänzungen  in  9488. 
9842.  9884.  9969.  10111.  10176.  10443.  10504.  10646. 
10647.  10764.  Das  Fragezeichen  ist  überflüssig  in 
10245. 


Potthast , Regesta  pontificom  Romanorum.  183 

nr.  9400:  der  Bischof  yon  Merseburg  heisst 
Eckhard,  s.  nr.  9410. 

nr.  9408  ist  = .8130,  welches  aber  unrich- 
tig zu  1228  gesetzt  worden  ist. 

nr.  9500:  der  B.  von  Castello  hiess  Marcus, 
nr.  10268:  der  Patriarch  von  Grado  heisst 
Angelus  (cf.  nr.  10483),  der  Erzbischof  von  Ra- 
venna Theodericus. 

nr.  10336:  der  Bischof  von  Lucca  heisst 
nicht  Lucas,  sondern  Guercio  (cf.  nr.  10275). 
nr.  10536:  (Ludero)  epo-  Yerdensi. 
nr.  10778:  es  ist  hier  nicht  Heinrich  Haspe 
gemeint,  sondern  sein  Bruder  Konrad,  der  nach- 
malige Hochmeister  des  deutschen  Ordens. 

nr.  10808  ist  identisch  mit  nr.  10830,  gehört 
in  der  That  zum  19.  Dec.  1239  und  ist  gedruckt 
bei  Ughelli  (1.  edit.)  V,  89. 

nr.  10889  an  electus  Gradensis,  also  kann 
in  nr.  10882  zwölf  Tage  vorher  derselbe  noch 
nicht  patriarcha  sein. 

nr.  10898  und  10901  sind  identisch,  zu  zwei 
Urkunden  geworden  durch  Verwechslung  von 
XH.  und  VH.  I£al.  Julii  bei  den  Abdrücken. 

nr.  10929  an  den  Erzbischof  von  Mainz,  je- 
doch mit  dem  von  P.  übersehenen  bezeichnenden 
Zusatze:  >consilium  Spiritus  sanioris«  als  Gruss. 

nr.  11038:  die  Ausfertigung  Priori  provin- 
ciali  fratr.  pred.  Teutoniae  ist  nach  Archiv  X, 
633  vom  22.  Juni. 

Wiederholt  sind  auch  hier,  was  ich,  wie  ge- 
sagt, durchaus  nicht  billigen  kann,  verschiedene 
Ausfertigungen  eines  und  desselben  Stückes  und 
unter  dem  gleichen  Datum  als  mehrfache  Ur- 
kunden aufgefiihrt  und  gezählt  worden,  z.  B. 
10927.  928.  929.  930,  dann  10945.  946.  947, 
ebenso  10949.  950.  951  und  11015,  welches 
nichts  anders  ist  als  11017.  Endlich:  wie  die 


I 


184  Gott.  gel.  Anz.  1874.  ßtüd t 6. 

den  Urkunden  der  einzelnen  Päpste  vorausge- 
schickten  Biographien  derselben  durch  gehende 
sehr  mangelhaft  sind,  so  gilt  das  besonders  von 
der  Coelestins  IV,  die  nach  sehr  spaten  Hülfe* 
mittein  gearbeitet  scheint  und  ganz  ungenügend 
ist.  Ebenso  aber  auch,  was  über  seine  Wahl, 
die  angebliche  Weihe  und  seinen  Tod  gesagt 
wird.  Es  hätte  einer  solchen  Unmasse  ton  Be* 
legstellen  gar  nicht  bedurft,  wenn  nur  die  wirk- 
lich entscheidenden  recht  hervorgehoben  Wäret!» 
Aber  was  hilft  es,  dass  p*  940  das  schwer  wie- 
gende Zeugniss  des  Nicolaus  deCurbio:  »munus 
consecrationis  non  habuit  neque  bnllam«  fett  ge«* 
druckt  wird,  wenn  unmittelbar  vorher  aus  einer 
abgeleiteten  Quelle  der  28.  Oct.  1241  als  Tag 
der  Weihe  Coelestin’s  verzeichnet  ist.  Es  hätte 
auch  wohl  angeführt  werden  können,  dass  nach 
Archiv  XII,  207  die  päpstlichen  Registerbücher 
gar  nichts  von  Coelestin  IV.  enthalten.  Indessen 
sollen  diese  Ausstellungen  der  Anerken&ubg,  zu 
welcher  ich  dem  Fase.  VI  gegenüber  mich  ver- 
pflichtet glaube,  keinen  Abbruch  thun.  Bleibt 
der  Verf.  hinter  dem  in  der  letzten  Lieferung 
geleisteten  nicht  zurück,  so  kann  man  wohl  mit 
einiger  Zuversicht  dem  noch  ausstehenden  zwei- 
ten Bande  allgemeinen  Dank  von  Seiten  deref 
in  Aussicht  stellen,  welche  sich  eingehend  mit 
dem  13.  Jahrhunderte  beschäftigen  müssen. 

Heidelberg.  W inkelmann. 


/ 


f 


Henszlmann,  1).  Grabungen  d.  Erzbischofs  etc.  186 

Die  Grabungen  dee  Erzbischofs  von  Kalocsa 
Dr.  Ludwig  Haynold.  Geleitet,  gezeichnet  und 
erklärt  von  Dr.  Emrich  Henszlmann,  Re- 
ferent der  Landescominission  der  Ungarischen 
Denkmäler  und  Professor  der  Kunstgeschichte 
an  der  Landesuniversität.  Leipzig,  in  Commis- 
sion bei  C.  A.  Händel.  1873.  IV  und  222  Sei- 
ten mit  2 Tafeln  und  114  Fig.  in  Holzschnitt. 
Iü  4°. 

Die  mittelalterliche  Architectur  Ungarns  ist 
ZWar  im  Ganzen  der  des  abendländischen  Europa 
verwandt  und  zum  grössten  Theil  von  ihr  ab- 
hängig, aber  sie  bietet  doch  manches  Beisondere 
dar,  und  ist  daher  immer  unsrer  Aufmerksamkeit 
Werth.  Die  Beachtung  derselben  datirt  erst  von 
dem  J.  1846,  und  Henszlmann  ist  es  hauptsäch- 
lich gewesen,  der  ihre  Erforschung  und  Bearbei- 
tung angeregt  und  gefordert  hat.  Manches  ist 
seitdem  auch  bei  uns  bekannt  geworden  und 
keineswegs  unbeachtet  geblieben,  aber  leider  ist 
ein  grosser  Theil  der  Arbeiten,  die  sich  mit  die- 
sem Gegenstände  beschäftigt  haben,  durch  die 
ungarische  Sprache,  in  der  sie  geschrieben  sind, 
für  uns  so  gut  wie  unzugänglich.  Um  'so  er- 
wünschter ist  die  vorliegende  deutsche  Publica- 
tion, in  der  einleitungsweise  auch  die  Resultate 
del*  ältern  Untersuchungen  mitgetheilt  sind.  Wir 
gewinnen  dort  einige  neue  Ansichten,  durch 
welche  das,  was  sonst,  namentlich  durch  Eitel- 
befger  in  Deutschland  bekannt  geworden  ist,  er- 
gänzt und  zum  Theil  modrficirt  wird.  Ich  will 
hier  nur  einige  Hauptpunkte  hervorheben. 

Der  erste  grosse  Monumentalbau  Ungarns  ist 
König  Stephan’s  Basilica  in  Alba  oder  Stuhl- 
treissenburg,  vön  der  1862  bei  einem  Hausbau 
Kapitelle  und  Mosaikstifte  zu  Tage  kamen  und 
dann  durch  systematische  Nachgrabungen  von 


186  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  6. 

Henszlmann  Theile  des  Hauptschiffs  und  der  süd- 
lichen Nebenscbiffe  blossgelegt  wurden.  Diese 
Kirche,  die  lange  Zeit  einzig  in  ihrer  Art  blieb, 
da  die  übrigen  Bauten  jener  älteren  Zeit  unbe- 
deutend waren,  ist  dann  das  Vorbild  für  die  Ka- 
thedralen noch  in  einer  Zeit  gewesen,  als  andre 
Kirchenbauten  schon  ganz  andern  Vorbildern 
folgten.  Das  eigentümliche  dieser  Bauten  be- 
steht darin,  dass  sie  kein  Querschiff,  dagegen  an 
den  vier  Ecken  Thürme  enthalten,  welche  sich 
unverkennbar  als  Befestigungen  darstellen.  Ueber 
den  Zweck  der  Kirchthürme  ist  bekanntlich  ge- 
stritten und  es  leidet  wohl  keine  Frage,  dass 
die  verschiedenen  an  den  Kirchen  vor  kommenden 
Thürme  nicht  aus  derselben  Idee  hervorgegangen 
sind.  Die  älteste  Nachricht  von  Thürmen  an 
christlichen  Kirchen  findet  sich  beiChoricius  im 
6.  Jahrhundert.  In  dem  ersten  Briefe  an  Bi- 
schof Marcion  heisst  es  von  der  Apostelkircbe  zu 
Gaza : Sanfte  Lüfte  durchwehen  die  in  Sicherheit 
befestigte  Wache,  indem  zwei  Thürme  sicher 
den  Eingang  begränzen,  der  durch  die  Schönheit 
des  Vorhofes  geziert  ist  u.  s.  w.  Hier  war  also 
der  Eingang  in  den  Vorhof  befestigt.  Anders  er- 
scheinen jedoch  die  vierthürmigen  Kirchen  in 
Ungarn.  Sie  bilden  wirkliche  Kastelle  mit  Eck- 
thürmen und  ihre  Form  schliesst  sich  damit  der 
Anlage  alter  Römischer  Standlager  an,  von  de- 
nen sich  in  Ungarn  Ueberreste  nachweisen  lassen. 

Bei  den  Klosterkirchen  wird  nun  aber  diese 
Bauart  verlassen.  Im  13.  Jahrhundert  erheben 
sich  diese  in  den  romanischen  Formen  des  We- 
stens. Man  hat  früher  geglaubt,  dass  bei  den 
romanischen  Bauten  Ungarns  allein  deutscher 
Einfluss  massgebend  gewesen  sei,  und  Henszlmann 
selbst  hat  dies  noch  1865  in  der  österreichischen 
Revue  ausgesprochen.  Allein  nach  neuern  Beob- 


Henszlmann,  D.  Grabungen  d.  Erzbischofs  etc.  187 

achtungen  behauptet  er,  dass  sich  die  französi- 
schen und  deutschen  Bauschulen  ziemlich  gleich- 
mässig  in  den  Einfluss  auf  die  Bauten  in  Ungarn 
theilen.  Ohne  Zweifel  war  dafür  die  Filiation 
der  Orden  von  hauptsächlicher  Bedeutung,  und 
es  erklärt  sich  so,  dass  die  älteste  datirte  Kirche, 
die  von  Leiden  (Ledeny)  von  1207  schon  Spitz- 
bogengewölbe mit  vollkommenen  Uebergangs- 
Eippen  aufzuweisen  hat,  während  in  der  1256 
erst  eingeweihten  Kirche  von  Jäk  noch  aus- 
schliesslich Rundbogen  Vorkommen. 

Vor  dem  Einbrüche  der  Tartaren 1 waren  die 
Kathedralen  und  die  meisten  Klöster  der  be- 
güterten geistlichen  Orden  monumental  neugebaut. 
Nach  diesem  Einbrüche  aber  herrscht  der  gothi- 
sche  Styl,  der  sich  daher  auf  die  Klosterkirchen 
der  Bettelmönche  und  die  Pfarrkirchen  der  neuer- 
dings durch  Einwanderer  bevölkerten  königlichen 
Freistädte  beschränkt.  Auch  hierbei  machte 
sich  meist  der  Einfluss  der  Gegenden  geltend, 
aus  welchen  einerseits  die  Ordensgeistlichen, 
andrerseits  die  neuen  Colonisten  in  den  Frei- 
Städten  eingewandert  waren. 

Diese  Bemerkungen  mögen  genügen,  um  auf 
die  Bedeutung  des  vorliegenden  Buches  aufmerk- 
sam zu  machen.  Auf  die  Ergebnisse  der  einzel- 
nen Grabungen,  die  sich  auf  die  Metropole  von 
Kalocsa,  die  Abtei  zu  Batbmonostor  und  die 
Burg  von  Bäcs  beziehen,  einzugehen,  würde  hier 
zu  weit  führen.  Doch  kann  ich  nicht  unterlas- 
sen, noch  eine  Theorie  zu  berühren,  welche  der 
Verf.  bei  dieser  Gelegenheit  ausführlich  darlegt, 
nachdem  er  sie  früher  schon  für  die  antike  Ar- 
chitectur  in  einer  französischen  und  für  die  mit- 
telalterliche in  einer  ungarischen  Schrift  aus- 
einandergesetzt hat.  Es-  betrifft  dies  die  Ver* 
hältnissbestimmung  für  die  architektonischen  For- 


» 


188  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  6. 


men.  Es  ist  ein  vollkommen  richtiger  Gedanke, 
dass  die  Formenschönheit  auf  Proportionen  be- 
ruhe, welche  sich  durch  Zahlen  ausdrücken  las- 
sen, und  die  Versuche,  welche  man  verschiedent- 
lich gemacht  bat,  ein  Gesetz  und  einen  einfa- 
chen Ausdruck  für  die  als  sehön  und  anwendbar 
anzuerkennenden  Proportionen  aufzufinden,  wer- 
den immer  einen  Anspruch  auf  Beachtung  be- 
halten. Der  Verf.  hat  aber  von  einer  solchen 
Theorie  eine  Vorstellung,  der  Ref.  auf  das  ent- 
schiedenste entgegentreten  muss.  Er  sagt  dar- 
über S.  79:  »Es  ist  diese  Theorie  ein  Erbtheil, 
welches  die  antike  Welt  von  den  alten  Aegyptern 
überkommen  und  einerseits  durch  die  Byzantiner, 
anderseits  durch  die  altchristlichen  Bauten  den 
Meistern  des  Mittelalters  überliefert  hat,  jedoch 
nicht  in  ihrer  ursprünglichen  Reinheit  und  Folge- 
richtigkeit, sondern  mit  einer  Modification,  wel- 
che, so  gering  sie  auch  erscheint,  doch  eine 
scharfe  Scheidegrenze  zwischen  beiderlei  An- 
wendungen zieht«.  Diese  Meinung  von  der  Ver- 
erbung einer  Theorie,  die  von  den  Aegyptern 
oder  irgend  einem  andern  Volke  erfunden  und 
überliefert  sei,  ist  jedoch  ein  Traum.  Wenn  ir- 
gend eine  solche  Theorie  Wahrheit  enthält,  so 
beruht  sie  in  der  Natur  des  menschlichen  Gei- 
stes und  muss  in  den  Kunstwerken  aller  Volke* 
ihre  Bestätigung  finden.  Nur  in  der  Anwendung 
derselben  können  Eigenthümlichkeiten  Vorkom- 
men, die  durch  eine  gewisse  Tradition  und  Schu- 
lung von  einer  Nation  zur  andern  verpflanzt 
werden.  Wenn  aber  vollends  der  Verf.  meint, 
dass  die  Baumeister  mit  Bewusstsein  nach  seine* 
Theorie  gearbeitet  hätten,  so  beruht  das  auf 
einem  gänzlichen  Verkennen  der  Art  und  Weise 
des  künstlerischen  Schaffens.  Auch  der  Musiker 
componirt  nicht  nach  dem  Generalbass,  obgleich 


Henszlmann,  D.  Grabungen  d.  Erzbischof  etc.  189 

ihm  dieser  als  ein  Hülfsmittel  dienen  kann,  seinq 
Ideen  in  der  Ausführung  zu  berichtigen.  Er  ist 
ihm  gleichsam  die  Grammatik,  die  doch  niemand 
als  das  Mittel  ansehen  wird,  um  einem  Gedichte 
oder  einer  Bede  ihre  künstlerische  Form  zu  geT 
ben.  Ref.  hat  schon  in  seinem  Buche,  »die  bil- 
dende Kunst«  g.  244  u.  275  vor  dieser  verkehr- 
ten Auffassung  der  Proportionslehre  gewarnt. 
Eben  dort  hat  er  sich  auch  gegen  .solche  Künste* 
leien  erklärt,  wie  die,  welche  die  Theorie  des 
Verf.  enthält.  Derselbe  geht  nämlich  von  einer 
einzigen  Proportion  aus,  welche  er  als  die  Grund- 
lage aller  anwendbaren  Proportionen  betrachtet, 
ein  ähnlicher  Fehler,  wie  der,  in  welchen  auch 
Zeising  mit  seiner  Lehre  von  dem  sog.  goldnen 
Schnitt  verfallen  ist.  Jene  Proportion  ist  aber 
die  der  Kathete  eines  Quadrats  zur  Hypothenuse, 
eine  Proportion,  die  einmal  Vitruv  in  einem  ein- 
zelnen Falle  für  das  Verhältnis  der  Länge  und 
Breite  eines  Zimmers  empfiehlt.  Stieglitz  hatte 
ein  rechtwinklichtes  Dreieck  gebildet,  dessen 
beide  Katheten  in  diesem  Verhältnis  stehen,  und 
dessen  drei  Seiten  also  das  Verhältnis  von 
1 : j/~2  : J/"3  haben,  was  Henszlmann  gleicht  setzt 
dem  Verhältnis  1 ; 1,41421  : 1,73205,  und  in  die- 
sen Verhäl  tniszahlen  glaubte  jener  die  Grundlage 
für  den  Aufbau  der  gotbischen  Kirchen  zu  finden. 
An  dieses  Würfeldreieck  — so  genannt,  weil  die 
dritte  Seite  die  Hypothenuse  des  Würfels  ist  — 
knüpft  der  Verf.  eine  weitere  Construction,  wel- 
che ihm  eine  ins  unendliche  fortzusetzende  Reihe 
von  Verhältnisszahlen  liefert,  die  er  an  antiken 
und  mittelalterlichen  Bauten  innegehalten  zu 
sehen  glaubt.  Doch  soll  das  Mittelalter  von  einer 
Construction  ausgegangen  sein,  die  von  der  dar 
antiken  Architectur  in  einem  Punkte  abweicht. 
Das  Einzelne  lässt  sich  hier  nicht  weiter  in  der 


190  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  6. 

Kürze  darstellen.  Die  Zahlen,  welche  seine  Rei- 
hen bilden,  liegen  aber  so  nahe  bei  einander, 
dass  es  in  der  That  leicht  ist,  von  jedem  mög- 
lichen Verhältnisse  zu  behaupten,  dass  es  an- 
nähernd mit  irgend  einer  Zahl  seiner  Reihe  zu- 
sammentreffe. 

Ref.  hat  in  der  vorhin  erwähnten  Schrift  da- 
gegen geglaubt,  das  Gesetz  der  musikalischen 
Harmonie  zu  einem  Gesetze  aller  künstlerischen 
Harmonie  erheben  zu  müssen,  indem  er  jedes 
Verhältniss  für  harmonisch  erklärte,  welches  sich 
durch  kleine  Zahlen  ausdrücken  lässt,  jedes  andre 
dagegen  für  unharmonisch  oder  dissonirend.  Da- 
bei hat  er  aber  auch  nicht  ausser  Acht  gelassen, 
dass  dissonirende  Verhältnisse  daneben  als  be- 
lebende Contraste,  Uebergänge  u.  dgl.  m.  Vor- 
kommen können,  und  dass  es  Umstände  giebt, 
welche  den  Künstler  veranlassen  können,  auf  ir- 
gend etwas  anderes  grösseres  Gewicht  zu  legen, 
als  auf  die  Harmonie  der  Form.  Mit  dieser 
Grundlage  wird  man  jedenfalls  leichter  operiren 
und  ohne  Zweifel  weiter  kommen  als  mit  Henszl- 
manns  Reihen,  die  meist  Zahlen  mit  mindestens 
4 Decimal  stellen  enthalten.  In  einzelnen  Anwen- 
dungen kommt  er  aber  auch  selbst  schon  auf  die 
musikalischen  Verhältnisse.  Er  findet  z.  B.  am 
Parthenon,  dass  »das  Verhältniss  der  Haupt- 
höhen im  Sinne  des  einfachen  grossen  Accordes 
bestimmt  wurde« ; indem  sich  nämlich  die  Breite 
des  Säulenstandes  zur  Länge  desselben  verhalte, 
wie  die  Einheit  zur  Doppelquinte,  nämlich  genau 
wie  4 : 9,  und  die  ganze  Höhe  des  Gebäudes  zur 
Breite  des  Säulenstandes  annähernd,  wie  die  Ein- 
heit zur  Doppelterz,  nämlich  wie  5 : 8.  Daraus 
sei  »ersichtlich,  dass  das  Verhältniss  der  Haupt- 
maasse  des  Parthenon  im  Sinne  des  doppelten 
grossen  Accordes  bestimmt  wurde«.  Ueberdies 


Spach,  Moderne  Gnlturzustände  im  Eisass.  191 

findet  der  Verf.  selbst  das  Ergebniss  seiner 
Construction  aus  dem  Würfeldreieck  nicht  ge- 
nügend, sondern  sieht  sich  genöthigt,  dasselbe 
dnrch  Halbirung  und  Verdoppelung  einzelner  Po- 
sitionen zu  ergänzen.  F.  W.  Unger. 


Moderne  Culturzustände  im  Eisass  von  Lud- 
wig Spach.  Strassburg.  Verlag  von  Karl  J. 
Trübner  1873.  2 Bände. 

Ein  trefflicher  Elsässer,  Hr.  L.  Spach,  früher 
Archivar  in  Strassburg  (>Archiviste  du  Bas- 
Rhin«),  ein  gründlicher  Kenner  seiner  Heimath 
und  deren  Geschichte,  die  er  schon  in  mehreren 
andern  soliden  Werken4')  behandelt  hat,  giebt 
in  dem  vorliegenden  Buche  eine  Uebersicht  der 
Culturgeschichte  unseres  alten  Reicbslandes  wäh- 
rend der  letzten  siebenzig  Jahre.  Dasselbe  be- 
steht aus  einer  Reihe  von  lose  an  einander  ge- 
fügten »Essays«,  von  denen  jeder  einen  besonderen 
cnlturgeschichtlichen  Gegenstand  behandelt  und 
durchführt.  ' 

Einige  dieser  Skizzen  beschäftigen  sich  mit 
umfangreichen  Themas:  mit  den  modernen  alsa- 
tischen  Historikern,  mit  der  Geschichte  der  fran- 
zösischen und  der  deutschen  Dichter  im  Eisass, 
mit  den  katholischen  Zuständen,  und  mit  der 
protestantischen  Kirche  im  Eisasse  während  der 
ersten  Hällte  dieses  Jahrhunderts. 

Andere  behandeln  speciellere  Dinge:  dieAca- 
demie  von  Strassburg,  einzelne  wissenschaftliche 
Gesellschaften,  die  naturwissenschaftliche  Gesell- 
schaft von  Strassburg,  die  Ackerbaugesellschaft 
des  Niederrheins,  die  literarische  Gesellschaft  von 
Strassburg,  die  »bisherige  Akademie  von  Strass- 
burg«. 

*)  z.  B.  „Histoire  de  la  Basse-Alsace“  und  „Intro- 
duction historique  ä la  description  du  departement  du 

Bas-Rhin“. 


J02  Gott.  gel.  Anz.  1874.  JStiick  6. 

Noch  andere  endlich  sind  sogar  nur^erKri* 
tik  einzelner  Bücher  oder  Personen  gewidmet, 
z.  B.  dem  Statistiker  Schnitzler,  dem  elsässischen 
Philosophen  Alfred  Weber,  dem  Buche  von  Franz 
von  Löher  »aus  Natur  und  Geschichte  von  Eisass- 
Lothringen«,  oder  dem  Werke  von  Charles  Ge- 
rand  »über  die  Fauna  des  Elsasses«,  oder  dem 
Aufenthalte  Goethe’s  in  Strassburg. 

Da  der  jetzt  in  hohem  Alter  stehende  Verfas- 
ser, den  man  »den  Veteran  der  deutsch-elsässi- 
schen  Schriftsteller«  genannt  hat,  fast  die  ganze 
von  ihm  geschilderte  Periode  der  elsässischen 
Geschichte  mit  erlebt  hat,  da  er  bei  den  auf- 
tretenden Erscheinungen  vielfach  als  Augenzeuge 
redet,  die  von  ihm  characterisirten  Männer  sel- 
ber kannte  und  an  den  wissenschaftlichen  Ver- 
einen persönlichen  Antheil  nahm,  zum  Theil  ih- 
nen präsidirte  und  ihre  Unternehmungen  leitete, 
so  kann  man«  der  Entwickelung  seiner  Ansichten 
wohl  ein  ganz  besonderes  Gewicht  beilegen. 
Uebrigens  giebt  er  uns  mehr  Fakta  und  Data, 
als  Ansichten  und  Meinungen  über  die  elsässi- 
schen Lebensfragen.  Er  zeigt,  was  dort  bisher 
auf  den  verschiedenen  Feldern  des  Strebens  ge- 
schah, damit  man  ersehe,  auf  welchem  Grunde 
und  in  welcher  Weise  in  der  jetzt  eingetretenen 
Uebergangsperiode  weiter  gebaut  werden  solle. 

Der  Verf.  befleissigt  sich  einer  gerechten  Unpartei- 
lichkeit in  Bezug  auf  beide  beim  intellectuellen  Leben 
des  Elsasses  betheiligte  Nationalitäten.  Er  ist  uns  Deut- 
' sehen  zqgeneigt,  aber  auch  den  Franzosen  nicht  abhold 
und  erkennt  das  Gute  auf  beiden  Seiten  willig  an.  Er 
will  ausgleichend  und  versöhnend  wirken.  Auch  ist 
Beine  Sprache  eine  einfache,  schlichte  und  würdevolle. 
Seine  Schrift  wird  jedem  Deutschen  eine  angenehme  und 
interessante  Lektüre  sein  und  die,  welche  im  Elsasse 
reisen  oder  sich  daselbst  etabliren  und  orientiren  wollen» 
werden  dieselbe  gar  nicht  entbehren  können. 

Bremen.  J.  G.  Kohl« 


193 


Gffttingisclte 

gelehrte  Anzeigen 

/ 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Btlick  7.  18.  Februar  1874. 


La  Cour  litteraire  de  Don  Juan  II  roi  de 
Castille,  par  le  C*0  de  Puymaigre.  Paris  1873. 
Zwei  Bände.  '234  und  223  Seiten  Octav. 

Der  Verf.  der  vorliegenden  Arbeit  ist,  abge- 
sehen von  andern  sehr  schätzbaren  Publicatio- 
nen,  besonders  auf  dem  Felde  der  spanischen 
Literatur  durch  seine  Vieux  Auteurs  Castilians 
(Paris  1862)  und  die  zusammen  mit  dem  Gra- 
fen von  Circourt  unternommene  Uebersetzung 
von  Gutierre  Diaz  de  Gamez5  Victorial  (s.  GGA. 
1867  S.  2021  ff.)  auf  das  vorteilhafteste  be- 
kannt, so  wie  er  auch  durch  mehrfache  in  ver- 
schiedenen Zeitschriften  erschienene  und  hier 
theil weise  eingefügte  Einzelabhandlungen  seine 
Forschungen  in  genannter  Richtung  bethätigt 
hat.  Das  neu  erschienene  Werk  soll  eben  eine 
Fortsetzung  jenes  erstangeführten  bilden,  ist 
aber  in  seiner  Darstellung  der  übergrossen  Fülle 
des  Stoffes  wegen  gedrungener  und  nur  die  be- 
deutendsten Schriftsteller  der  betreffenden  Pe- 
riode sind  eingehender  behandelt,  obwol  stets 
so  weit  wie  möglich  der  Inhalt  der  literarischen 

13 


IW  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  7. 

Erzeugnisse  mitgetbeilt  und  durch  Proben  in 
Original  und  Ueberse&ung  veranschaulicht  ist. 
Der  Verf.  hofft  so  seine  Arbeit  selbst ' für  ein 
grösseres  Publicum  anziehend  gemacht  zu  haben, 
wenngleich  dieselbe  unläugbar  auch  Fachmännern 
nicht  minder  willkommen  sein  dürfte,  um  so 
mehr,  als  sie  aus  früherer  Erfahrung  wissen, 
dass  der  gelehrte  Graf  stets  nach  den  Quellen 
arbeitet,  und  daher  seiner  jetzigen  dahin  bezüg- 
lichen Versicherung  leicht  Glauben  schenken 
werden.  Was  die  Anlage  und  den  Gang  des 
möglichst  chronologisch  geordneten  Werkes  be- 
trifft , so  werden  sie  aus  der  hier  folgenden 
kurzgefassten  Uebersicht  erhellen,  die  auch  des- 
halb nicht  unwillkommen  sein  wird,  weil  der 
^Verf.  unterlassen  hat  demselben  ein  Inhalts* 
verzeichniss  beizufügen. 

Er  beginnt  mit  einem  Rückblick  auf  die  äl- 
testen Erzeugnisse  der  castilischen  Literatur  bis 
aiif  Juan  II.  und  giebt  dann  von  dessen  Regie- 
rung (1418 — 1454)  folgende  lebendige  Schilde- 
rung. »Es  war  dies  eine  absonderliche  Regie- 
rung voller  Kriege,  Feste,  Empörungen,  Tur- 
niere, die  aber  zugleich  eine  wahrhafte  Renaissance- 
epocbe  bildete,  wo  das  gleichzeitige  Bekannt- 
werden mit  den  Werken  der  Alten,  der  Nord- 
und  Südiranzosen,  sowie  der  Italiener  eine  Art 
Rausch  erzeugte,  der  sich  der  ganzen  Nation  be- 
mächtigte. Alle  Welt  machte  Verse;  Bischöfe, 
hochgeborene  Herren,  Ritter,  Kaufleute,  Hand- 
werker und  wer  nicht?  Wen  hierbei  der  Er- 
folg begünstigte,  der  trat  den  höchsten  Classen 
näher,  und  Prinzen  von  Geblüt  entzogen  sich 
nicht  t den  literarischen  Berührungen  mit  Juan 
dem  Kummetmacher,  Juan  dem  Possenreisser 
und  Älontoro  dem  getauften  Juden  und  Trödler.; 
es  herrschte  eine  wahrhalte  poetische  Epidemie. 


de  Puymäigre,  La  Coer  litt  6raire  de  D.  Juan  II.  196 

Siebt  man  diese  zahllosen  Lieder,  diese  friedli^ 
oben  Dichterkämpfe,  diese  kleinen  Liebesgedichte, 
diese  mit  grösster  Gednld  zurechtgefeiiten  Tän- 
deleien, sieht  man  wie  ein  ganzes  Volk  an  der- 
gleichen Geistesspielen  Theil  nimmt,  so  sollte 
man  glauben,  dass  Spanien  damals  eine  lang- 
andauernde  glückliche  Mussezeit,  eine  Aera  des 
tiefsten  Friedens  und  gedeihlichsten  Wohlergehens 
genoss.  Wie  sehr  aber  würde  man  sich  täu- 
schen I Denn  you  der  Wiege  bis  zum  Grabe 
lebte  Juan  II.  mitten  unter  stets  sich  erneuern- 
den Aufständen  und  Empörungen,  und  wenn 
wirklich  der  innere  Krieg  einen  Augenblick  nach« 
Hess,  so  wurde  alsbald  der  Kampf  gegen  die 
Maaren  aufgenommen,  der  nur  neuen  Aufstän- 
den Platz  machte.  Und  während  dieser  unheil- 
vollen, länger  als  dreissig  Jahre  sich  hinziehen- 
den Periode  fand  gleichwohl  der  unruhige  hän- 
delsüchtige Adel  die  Zeit,  um  Verslein  aller 
Art  zu  dichten  und  bei  Turnieren  seine  Cour« 
tornie  zu  zeigen  I«  Demnächst  spricht  der  Verf. 
von  der  durch  die  Ritterbücher  bewirkten  Um- 
gestaltung in  den  Sitten  des  spanischen  Adels 
und  in  der  Stellung  der  Frauen,  so  wie  von  dem 
Einfluss  der  galicischen,  provenzalischen,  nord- 
französischen und  italienischen  Dichtung  nebst 
dem  der  klassischen  Literatur  auf  die  castili- 
sche.  Bei  dieser  Gelegenheit  geht  er  auch 

näher  auf  den  Oancionero  de  Baena  ein,  der 
einen  so  tiefen  Einblick  nicht  nur  in  die  Poesie, 
sondern  auch  in  das  Leben  des  damaligen  Spa1 
niens  gewährt,  und  spricht  auch  von  den  ältern 
darin  enthaltenen  Poesien,  namentlich  hält  et 
sich  länger  bei  Macias  el  Enamorado  auf,  ob- 
woL  derselbe  mehr  durch  seinen  Tod  als  durch 
seine  Gedichte  berühmt  ist,  und  stellt  alles  zu- 
sammen, was  man  über  ihn  weiss,  so  wie  er 

13* 


196  Gott.  gel.  Anfc.  1874.  Stock  7. 

auch  die  Uebersetzung  einiger  der  letztem  mit- 
theilt. Eine  ausführlichere  Darstellung  wird 
auch  dem  Freunde,  Landsmann  und  grössten 
Bewunderer  des  Macias  zuTheil,  dem  Juan  iZo- 
driguez  de  la  Camara , gebürtig  aus  Padron  in 
Galicien,  deshalb  auch  gewöhnlich  del  Padron 
beigenannt,  der  ausser  verschiedenen  mehr  oder 
minder  grossen  Dichtungen  auch  zwei  Werke  in 
Prosa  verfasste,  nämlich  El  siervo  libre  de  Amor 
(auch  unter  dem  Titel  Ardanlier  y Liessa  be- 
kannt) und  den  Triunfo  de  las  mugeres , in  wel- 
chen beiden  wie  bei  vielen  andern  Productionen 
seiner  und  der  spätem  Zeit  die  Allegorie  eine 
Hauptrolle  spielt.  Wir  können  unter  den  vom 
Verf.  besprochenen  Dichtern  und  Prosaisten  aus 
der  Zeit  Juan’s  II.  natürlich  nur  die  wichtig- 
sten namhaft  machen;  so  Puy  Paez , der  mit 
ergreifender  Wahrheit  die  Leiden  der  Armuth 
schildert;  Ferran  Sanchez  de  Calavera , einer 
der  ausgezeichnetsten  Dichter  seiner  Zeit,  der 
mit  vielen  religiösen  Zweifeln  zu  kämpfen  hatte ; 
Alfonso  Älvares  de  Villasandino , ein  sehr  ge- 
schickter sprachgewandter  und  fruchtbarer  Poet, 
dessen  Feder  jedoch  jedermann  gegen  Lohn  zur 
Verfügung  stand,  und  deren  sich  vielleicht  auch 

Pero  Niüo  Graf  von  Buelna  zum  Behuf  verschie- 

* 

dener  Liebesgedichte  bediente,  jener  Graf  näm- 
lich, der  seine  Berühmtheit  hauptsächlich  der 
Chronik  verdankt,  die  sein  treuer  Diener  und 
Fahnenträger,  Gutierre  Diaz  de  Gamez,  überdas 
Leben  und  die  Thaten  seines  Herrn  schrieb 
und  welche  er  Victorial  nannte,  wie’  bereits 
oben  angeführt.  Wir  kommen  nun  zu  dem  be- 
rühmten Connetable  von  Castilien  unter  Juan  II., 
berühmt  durch  seine  hohe  Stellung,  mit  der  er 
staatliche  Allgewalt  verband,  durch  sein  un- 
ruhiges wechselvolles  Leben,  das  er  auf  dem 


de  Pnymaigre,  La  Cour  litteraire  de  D.  Juan  II.  197 

Scbaffot  beschloss,  und  endlich  auch  durch  die 
trefilich  geschriebene  anonyme  Chronik,  deren 
Gegenstand  er  bildet,  weniger  dagegen  durch 
die  Erzeugnisse  seiner  eigenen  Feder;  denn  er 
verfasste  einige  Liebeslieder  und  ein  Werk  in 
Prosa  »De  las  claras  y virtuosos  mageres«, 
wozu  ihn  wahrscheinlich  Boccaccio's  De  Claris 
muiieribus  veranlasste,  obwohl  er  dabei  einen 
andern  Gang  befolgte.  Gleiches  lässt  sich  in 
Bezug  auf  Boccaccio’s  Gorbaccio  sagen,  der  ge- 
gen die  Frauen  gerichtet  war,  zugleich  aber 
einen  moralischen  * Zweck  haben  sollte  und  in 
beiden  Beziehungen  dem  Martinez  de  Toledo 
bei  seinem  gleichbetitelten  Buche  El  Corbacho 
(welches  Wort  aber  im  Span,  eine  andere  Be- 
deutung hat)  vielleicht  vor  den  Augen  schwebte, 
wenngleich  der  spanische  Schriftsteller  seinen 
Zweck  auf  ganz  verschiedene  Weise  zu  erreichen 
suchte.  Hierauf  bespricht  der  Verf.  den  Genton 
Epistolario , der  von  einigen  dem  Leibarzt 
Juan’s  II.,  Feman  Gomez  de  Cibdareal , zuge- 
schrieben, von  Andern  aber  für  untergeschoben 
erklärt  wird,  welcher  letztem  Ansicht  sich  auch 
Pnymaigre  anscbliesst,  wobei  er  bemerkt:  »Je 
n*y  retrouve  pas  du  tont  l’esprit  de  l’epoque. 
Gontre  les  habitudes  du  temps,  il  n’y  a nulle 
pedanterie  dans  le  Centon , je  ne  me  rappelle 
pas  y avoir  vu  invoquer  Seneque,  Boece,  Cice- 
ron;  c’est  ä peine,  si  les  livres  saints  'y  sont 
nommes;  pas  de  dissertations  subtiles,  pas  de 
citations  erudites,  rien  enfin  de  ce  qui  se  trou- 
vait  cbez  les  ecrivains  du  XV®  siede  et  qui,  il 
le  8emble,  aurait  du  surtout  remplir  des  pages 
ecrites  par  un  savant  medecint  Cibdareal  ne 
me  parait  pas  avoir  pense  comme  on  le  faisait 
ä Pepoque  oü  Pon  place  son  existence  etc  «. 
Ist  dies  richtig,  so  müsste,  wie  mir  scheint,  die 


£98  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stftek  7. 

Abfassung  dieser  apokryphen  Briefe  bis  splt  ins 
XVII.  Jahrh.  hinabgerückt  werden;  denn  noch 
an  Cervantes9  Zeit  stimmte  die  in  der  Literatur, 
wenigstens  der  prosaischen,  herrschende  Manier 
ganz  genau  mit  der  so  eben  geschilderten  über* 
ein,  wie  man  aus  der  Vorrede  zum  Don  Quijote 
ersieht.  — Wir  gelangen  nun  zu  einem  der  er- 
lauchtesten Schriftsteller  dieser  Periode,  der 
von  väterlicher  Seite  dem  aragonischen,  von 
mütterlicher  dem  castilischen  Königshause  ent- 
stammte, nämlich  Don  Enrique  de  ViUena  (ge- 
wöhnlich, obwohl  mit  Unrecht;  Mevrqme  de  Vil- 
len a genannt),  »welcher  in  der  politischen  Welt 
eine  grosse  Rolle  zu  spielen  bestimmt  schien; 
allein  er  glich  nicht  dem  gleich  zu  erwähnen- 
den Marquez  de  Santillana,  und  erwies  sich  nur 
als  ein  Mann  des  Denkens,  nicht  des  Handelns, 
so  dass  in  ihm  der  Gelehrte  den  hochgeborenen 
Herrn  vollständig  verschwinden  liess  und  sein 
Leben  lediglich  den  Studien  geweiht  bliebe. 
Kein  Wunder  also,  wenn  er  gleich  so  vielen  an- 
dern Gelehrten  der  frühem  Jahrhunderte  in  der 
Meinung  seiner  Zeitgenossen  sich  mit  den  Ge- 
heimwissenschaften beschäftigt  haben  sollte  und 
für  einen  Zauberer  gehalten  wurde,  weshalb 
auch  König  Juan  n.  nach  dem  Tode  Enrique’s 
die  Bibliothek  desselben  nind  seine  Schriften  ver- 
brennen liess,  so  dass  nur  der  kleinste  Theil 
der  letztem  auf  uns  gekommen  ist.  Jedoch 
sind  unter  diesen  nur  die  Uebersetzungen  aus- 
zuzeichnen, da  sie  zur  Ausbildung  der  castiliani- 
schen  Sprache  ein  Bedeutendes  beitrngen;  er 
übersetzte  nämlich  die  Aeneide,  einige  Werke 
Cicero’s,  Dante’s  Divina  Commedia  und  noch 
Anderes.  Von  seinen  eigenen  Arbeiten  ist  bloss 
das  Prosawerk*  Las  Fasanas  de  Hercules  von 
einigem  Wer  the.  Ein  anderer  erlauchter  Schrift* 


i 


de  Paymaigre,  LaConrlfttärairedeD.JnanlL  198 

steiler  ist  Fernem  Perea  de  Gtumann,  dessen 
frühere  Dichtungen  der  provenzaliaohea  Schate 
angehören,  während  die  spätem  aui  philosophi- 
sche Tendenzen  hraweieen,  indem  er  auch  die 
Briefe  des  Seneca  übersetzte  und  aas  der  ahea 
Philosophie  eine  Blumenlese  unter  dem  Titel 
Flores  de  los  philosophos  znsammenstellte.  Um 
sich  über  den  Sitten verfall  seiner  Zeit  za  trö- 
sten, schrieb  er  >Los  daros  Varones  en  Espe&a* 
in  409  Octaven,  unter  denen  sich  eine  grosse 
Zahl  ganz  vortrefflicher  befinden,  sowie  er  denn 
überhaupt  als  Dichter  in  der  spanischen.  Lite» 
ratur  eine  angesehene  Stelle  einnimmt,  eine 
noch  angesehenere  jedoch  als  Geschichtschreiber* 
Zwar  ist  er  nicht  der  Verfasser  der  ihm  bisher 
zugesebriebenen  »Chronik  Don  Joans  II.«,  wohl 
aber  des  Mar  de  histories  und  der  noob  viel 
vortrefflicheren  Fortsetzung  desselben,  nämlich 
der  Generadones  y Semblamas,  »welche  sich 
nicht  mehr,  wie  das  erstere,  auf  alte  leichte 
gläubige  Chronikenschreiber  stützt,  sondern  sieh 
auf  seine  Zeitgenossen  bezieht,  auf  Männer,  die 
er  gesehen,  gekannt,  geliebt,  gehasst  hat  und 
die  er  so  zeigt,  wie  sie  leibten  und  lebten*  Er 
bietet  keine  eigentlichen  Biographien,  keine  zu-? 
sammenhängenden  Lebensbeschreibungen  der  be* 
rühmte8ten  Männer  seiner  Zeit,  sondern  schil- 
dert ihr  Aeusseres  und  ihre  Charaktere,  nicht 
aber  ihre  Handlungen;  er  zeichnet  ihre  Bilder 
und  zeichnet  sie  vortrefflich«.  Beispiele  aus 
dem  in  Bede  stehenden  Werke,  die  der  VerL, 
wie  überall,  so  auch  hier  zur  Bestätigung  sei* 
ner  Ansichten  giebt,  zeigen  das  Treffende  sei* 
nes  eben  mitgetheilten  Ausspruchs.  In  den 
letzten.  Seiten  des  ersten  Bandes  beschäftigt 
sieh  Graf  Puymaigre  mit  dem  Erzbischof  von 
Borgos  Dom  Alfonse  de  Santa  Maria,  dem  Sohne 


200  . Gott.  gel.  Abz.  1874.  Stück  7. 

des  Don  Pablo,  den  diesem  seine  Frau  gebar, 
ehe  er  in  den  geistlichen  Stand  trat,  in  welchem 
er,  der  früher  der  jüdischen  Religion  angehört, 
gleichfalls  bis  zum  Bischof  von  Burgos  empor- 
gestiegen war.  Don  Alfonso  war  der  Freund 
des  Fernan  Perez  de  Guzman  und  ein  tüchtiger 
Gelehrter;  er  verfasste  ausser  andern  Schriften 
auch  einige  moralphilosophische  und  theologische 
Abhandlungen,  aber  auch,  in  Folge  der  tyranni- 
schen Mode  seiner  Zeit,  Liebesgedichte,  frei- 
lich höchst  platonische,  bei  denen  ihm  Petrarca 
als  Muster  vörschwebte. 

Der  zweite  Band  beginnt  mit  einer  eingehen- 
deren Schilderung  der  wissenschaftlichen  und 
poetischen  Wirksamkeit  jenes  Don  Inigo  Lopes 
de  Mendoza,  Marques  de  Santälana , welcher  in 
der  spanischen  Literaturgeschichte  der  in  Rede 
stehenden  Periode  eine  sehr  hervorragende  Stelle 
einnahm,  trotzdem  er  zugleich  ein  sehr  beweg- 
tes- politisches  Leben  voller  Kämpfe,  bald  für, 
bald  wider  seinen  König  führte.  Er  war  ein 
grosser  Bewunderer  des  Alterthums  und  liess, 
da  er  selbst  sich  nicht  des  Lateinischen  hin- 
länglich mächtig  fühlte,  mehrere  Werke  der 
Glassiker,  wie  die  Aeneide,  Ovid’s  Metamor- 
phosen und  verschiedene  Schriften  Seneca’s 
übersetzen,  erfuhr  aber  auch  zugleich  den  Ein- 
fluss der  nord-und  südfranzösischen  so  wie  der 
italienischen  Dichter,  namentlich  Dante’s  und 
Petrarca’s,  und  all’  diese  verschiedenen  Einwir- 
kungen lassen  sich  in  seinen  zahlreichen  poeti- 
schen und  prosaischen  Werken  deutlich  erken- 
nen. Aber  auch  nur  die  wichtigsten  derselben 
hier  anzuführen  und  zu  charakterisiren  gestat- 
tet der  Raum  nicht,  und  müssen  wir  deshalb 
auf  die  eingehende  Darstellung  Puymaigre’s  ver- 
weisen , ebenso  wie  in  Betreff  Juan  de  Mena's, 


de  Puymaigre,  La  Cour  iitteraire  de  D.  Juan  II.  201 

welcher  der  gelehrteste  seiner  Zeitgenossen  war 
und  durch  das  Studium  der  klassischen  Dichter 
auch  der  spanischen  Poesie  einen  höhern  Schwung 
verleihen  wollte  (er  verfasste  nach  einer  lat. 
Uebersetzung  Homer’s  einen  Omero  romanzado), 
obwohl  er  allerdings , auch  wie  Santillana  und 
die  meisten  seiner  Zeitgenossen  sich  der  Ein« 
Wirkung  der  Provenzalen  so  wie  Dante's  nicht 
entziehen  konnte  und  in  seiner  bedeutendsten 
Dichtung,  dem  Ldbemito , worin  er,  in  der 
Weise  seiner  Zeit  allegorisirend,  die  Unbestän- 
digkeit Fortuna’s  zu  schildern  unternahm,  eben- 
sowohl letztem  wie  Lucan  (gleich  ihm  selbst 
aus  Corduba  gebürtig)  zum  Vorbild  genommen 
hat.  Er  war  neben  Santillana  die  wichtigste 
Erscheinung  seiner  Zeit  auf  literarischem  Ge- 
biet, daher  auch  genau  befreundet  mit  ihm ; der 
Infant  von  Portugal,  Don  Pedro,  sandte  ihm  eine 
von  ihm  im  Stil  des  Laberinto  verfasste  grössere 
Dichtung  und  sogar  König  Juan  erwies  ihm  die 
Ehre  mit  ihm  zusammen  den  Frieden  von  Ma- 
drigal (1446)  in  einem  Gedichte  zu  feiern,  worin 
auf  jede  Stanze  Mena’s  eine  andere  des  Königs 
mit  denselben  Reimen  wie  die  vorhergehende 
folgt.  Da  Mena  in  Spanien  sich  als  den  eigent- 
lichen Vorläufer,  der  Renaissance  und  als  Grün- 
der einer  neuen  Dichterschule  erweist,  wobei  er 
bei  nicht  gewöhnlicher  Gelehrsamkeit  eine  eben- 
solche poetische  Unabhängigkeit  an  den  Tag 
legt,  so  hat  Graf  Puymaigre  ihm  eine  sorgfäl- 
tige Untersuchung  gewidmet,  wie  sie  ihm  bisher 
noch  nicht  zuTheil  geworden  ist.  Der  folgende 
Abschnitt  handelt  eigentlich  von  keinem  litera- 
rischen Gegenstände,  indem  er  sich  mit  dem 
berühmten  Waffengang  ( paeo , franz.  pas  d armes) 
beschäftigt,  welchen  Don  Suero  de  Quinones  im 
J.  1434  mit  seinen  Gefährten  bei  der  Brücke 


202  Gött.  gel.  Am.  1874.  Stflck  7. 

von  Qrbigo  (auf  dem  Wege  von  Astorga  nach  Leon) 
gegen  jeden  eich  meldenden  oder  sonst  vorüber* 
ziehenden  Bitter  hielt  und  wobei  in  wenigen 
Wochen  in  727  Rennen  gegen  68  Gegner  160 
Lanzen  gebrochen  wurden.  Da  dieses  Ereigniss 
jedoch  im  Aufträge  Don  Suero’s  von  dem  Schrei« 
ber  des  Königs  Juan  und  Notarius  publicus  an 
dessen  Hof,  Rodriguez  de  Lena,  in  dem  Paso 
honroso  ausführlich  beschrieben  worden  ist  und 
im  Verein  mit  den  dabei  gelegentlich  angefiihr- 
ten  Nebenum8tänden  einen  wichtigen  Beitrag 
zur  Sittengeschichte  jener  Zeit  gewährt,  auch 
mehrere  der  dort  tumiereuden  Ritter  so  wie 
Don  Suero  selbst  als  Dichter  bekannt  sind,  so 
hat  Graf  Puymaigre  diesem  Ereigniss  eine  sehr 
anziehende  Schilderung  gewidmet,  einem  Ereig^ 
niss,  welches  auch  Cervantes  im  Don  Quijote 
erwähnt  (P.  I c.  149:  »digan  que  fueron  barks 
las  justas  de  Suero  de  Quiftoues  del  pasoU). 

Die  bei  Gelegenheit  des  eben  besprochenen  Waf- 
fenganges erwähnten  Sinnsprüche  der  dabei 
kämpfenden  Ritter  geben  dem  Verf.  Veranlag* 
sung  auch  noch  einige  andere  der  Art  so  wie 
überhaupt  verschiedene  kleinere  Gedichte,  wie 
Motes,  Villancicos  u.  s.  w.  aus  dem  Cancianera 
general  anzufübreu  und  diese  Gattungen  zu  be- 
sprechen; denn  diese  flüchtigen  Poesien  de  arte 
menor  bilden  eigentlich  die  am  meisten  charak- 
teristische Schöpfung  aus  der  Periode  Juan’s  IL, 
und  obwol  sie  ursprünglich  von  den  galicischen, 
nord-  und  südfranzösischen  so  wie  den  italieni- 
schen Dichtern  hergeleitet  sein  mögen,  so  ha- 
ben sie  doch  diesen  fremden  Originalen  eine 
neue  und  wahrhaft  nationale  Gestalt  verlieben 
und  ihren  Einfluss  sogar  noch  nach  der  Zeit  des 
Garcilaso  de  Vega  und  über  die  spanischen 
Grenzen  hinaus  geltend  gemacht,  ja  selbst  ihn 


de  Pnymaigre,  La  Cour  litteraire  de  D.  Joan  II.  203 

vielleicht  jetzt  noch  nicht  ganz  verloren.  Dem» 
nächst  und  zuletzt  spricht  Pnymaigre  von  jenen 
Volksdichtern  aus  den  untersten  Ständen,  die 
wir  bereits  erwähnt,  wie  Juan  der  Possenreisser, 
Montoro  der  Trödler,  Martin  der  Marktschreier 
b.  s.  w.,  charakterisirt  ihre  Productionen  und 
zeigt,  in  welch’  naher  Verbindung  dieselben  mit 
den  Dichtern  aus  den  erlauchtesten  Häusern 
standen,  so  dass  Montoro  gegenüber  dem  Gra- 
fen von  Cabra,  dem  Don  Buy  Diaz  de  Mendoza, 
dem  Don  Alvaro  de  Velasco  frei  von  der  Leber 
weg  spricht  und  sie  auf  dem  Gebiet  der  litera- 
rischen Republik  ganz  wje  seines  Gleichen  be- 
trachtet. Juan  der  Possenreisser,  der  Sohn  eines 
Scharfrichters,  wechselte  Epigramme  mit  den 
vornehmsten  Edelleuten,  und  Don  Juan  Alvarez, 
den  man  wegen  seiner  poetischen  Beziehungen 
zu  Leuten  so  niedern  Schlages  durchhechelte, 
antwortete  mit  einigen  Versen,  in  deren  Prosa- 
einleitung er  erklärt,  man  müsse  die  Menschen 
nach  ihrem  Verdienst  beurtheilen,  nicht  nach 
ihrem  Range;  ein  Ansspruch,  den  man  von 
einem  stolzen  spanischen  Edelmann  und  zumal 
zu  jener  Zeit  kaum  erwartet  haben  sollte!  An- 
deres übergehend,  kommen  wir  nun  zu  den 
Schlnssbemerkungen  des  Verfassers,  welcher  mit 
Rücksicht  auf  die  als  Dichter  oft  unbedeuten- 
den Schriftsteller,  die  er  besprochen,  einen  Ge- 
danken des  Marquez  von  Pidal  wiederholt,  wo- 
nach man  bei  der  Beschäftigung  mit  der  Lit*» 
ratur  des  Mittelalters  mehr  Befriedigung  von 
dem  erwarten  muss,  was  sie  in  sittengeschicht- 
licher und  physiologischer  Beziehung  bietet,  als 
von  den  poetischen  Schönheiten , denen  man 
darin  begegnet.  Aber  auch  in  letzterer  Hin- 
sicht wird  der  Forscher  bei  dem  spanischen 
Schriftthum  des  XV.  Jahrh.  nicht  leer  au*. 


204  Gott,  gel  A nz.  1874.  Stück  7. 


gehen ; es  steht,  vielleicht  höher  als  das  gleich- 
zeitige in  Italien,  geht  aber  ganz  gewiss  dem 
französischen  um  ein  Jahrhundert  voraus.  Je- 
doch war  es  freilich  erst  eine  Zeit  des  Rin- 
gens und  der  Vorbereitung,  in  welcher  Mittel- 
alter  und  Renaissance  ohne  Uebergang  nahe 
nebeneinander  standen : auch  unter  Enrique  und 
Isabella  zeigte  sich  nur  die  Fortsetzung  dessen, 
was  man  unter  Juan  II.  gesehen,  und  erst  im 
XVI.  Jahrh.  trat  das  goldene  Zeitalter  der  spa- 
nischen Literatur  ein,  welches  die  allbekannten 
grossen  Geister  hervorbrachte. 

Das  im  Vorhergehenden  nur  kurz  Zusammen- 
gefasste wird  den  materiellen  Inhalt  der  For- 
schungen Puymaigre’s  annähernd  erkennen  las- 
sen, während  allerdings  die  fliessende  und  fes- 
selnde Darstellung  nicht  wiedergegeben  werden 
konnte,  die  von  der  in  Rede  stehenden  Litera- 
turperiode um  so  mehr  ein  lebendiges,  anschau- 
liches Bild  gewährt,  als  dasselbe,  wie  bereits 
angeführt,  trotz  dem  knappen  Rahmen  möglichst 
viele  der  betreffenden  Züge  in  Original  und 
Uebersetznng  enthält,  welche  letztere  GrafPuy- 
maigre  sich  'eifrig  bestrebt  hat  mit  grösster 
Treue  in  Worten  und  Versmassen,  so  weit  dies 
irgend  erreichbar  war,  wiederzugeben,  weil  dies 
bei  lyrischen  Dichtungen  unerlässlich  schien, 
und  man  wird  bei  der  sehr  bequem  gemachten 
Vergleichung  leicht  wahrnehmen,  dass  er  den 
Zweck,  die  Schönheit  oder  die  Eigenthümlich- 
keit  der  Originale  nachempfinden  zu  lassen,  fast 
stets  erreicht  hat. 

Noch  muss  ich  bemerken,  dass  der  Verf.  sich 
nicht,  wie  fast  alle  andern  französischen  Gelehr- 
ten, für  zu  geistreich  gehalten  hat,  jedem  der 
beiden  Bände  seines  Werkes  ein  sehr  sorgfälti- 
ges Wort-  und  Sachregister  beizugeben  und  so 


Whitney,  Oriental  and  Linguistic  Studies.  205 

den  Werth  und  handlichen  Gebrauch  desselben 
bedeutend  zu  erhöhen  und  zu  erleichtern. 
Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


W.  D.  Whitney:  Oriental  and  Linguistic 
Studies.  New-York  1873.  (8°,  VII,  416  S.). 

Als  ich  im  yorigen  Jahrgang  dieser  Blätter 
(G.  G.  A.  vom  12.  März  1873)  auf  »Ayuso’s 
Estudio  de  la  filologia  en  su  relacion  con  el 
Sanskrit«,  das  interessante  Erstlingswerk  der 
spanischen  Sprachwissenschaft,  hinwies,  machte 
ich  zugleich  auf  das  rasche  Emporblühen  dieser 
Disciplin  in  Nordamerika  aufmerksam.  Als  Be- 
leg hiefür  führte  ich  die  trefflichen,  in  Deutsch- 
land bis  jetzt  zu  wenig  gekannten  »Lectures  on 
Language  and  the  Study  of  Language«  von  Pro- 
fessor Whitney  in  Newhaven  an,  der  wohl  ohne 
Frage  der  bedeutendste  amerikanische  Vertreter 
der  Sanskrit-  und  linguistischen  Studien  ist. 
Zwar  fehlt  es  ihm  auch  in  seinem  Vaterlande 
nicht  an  einer  Reihe  tüchtiger  Mitforscher,  wie 
deutlich  erhellt,  wenn  man  die  Proceedings  der 
American  Philological  Association  und  diejeni-  . 
gen  der  American^  Oriental  Society  vom  letzten 
Jahre  mustert.  Bei  den  ersteren  fällt  schon  in 
quantitativer  Beziehung  auf,  ein  wie  ansehnli- 
cher Theil  von  den  Vorträgen  dieser  »philolo- 
gischen« Gesellschaft  auf  die  linguistische  Sparte 
entfällt;  unter  denen  der  letzteren  erwähne  ich 
folgende:  »on  the  so-called  Vowel-Increment, 

with  special  reference  to  the  views  of  Mr.  J. 
Peile«,  by  Prof.  W.  D.  Whitney,  of  New  Haven 
(gegen  die  von  dem  englischen  Sprachforscher 


206  Gatt.  geL  Adz.  1874.  Stück  7. 

vertheidigte  Schleicher’scbe  Annahme  einer  or* 
ganiscben,  doppelten  Vocalsteigerung  im  Indo* 
germanischen  gerichtet);  Statistics  of  Sanskrit 
Verbal  Forms  in  the  Mala  and  Bhagavad-Gitä«, 
by  Prof.  John  Avery,  of  Grinnell,  Jowa;  »On 
the  Vedic  Style«,  by  Dr.  Easton  of  Hartford ; 
»On  the  Assyrian  Inscription  at  Andover«,  by 
Bev.  Selah  Merrill;  »on  the  Han-lin  Yuan,  or 
Chinese  Imperial  Academy«,  by  Martin,  D.  D. 
of  Peking;  »On  the  work  of  the  American  Pa- 
lestine Exploration  Society«  by  Bev.  Ward  of 
New-York;  »On  some  of  the  relations  of  Isla- 
mi8m  to  Christianity«,  by  Prof.  Salisbury  of 
New  Haven.  Der  letzte  Vortrag  ist  wieder  von 
Whitney,  er  führt  den  Titel  »On  Johannes 
Schmidt’s  new  Theory  of  the  Belationship  of 
Indo-European  Languages«  undx  dürfte,  da 
Schmidt's  bekanntlich  zuerst  in  derindogerman. 
Section  der  Leipziger  Philologenversammlung 
von  1872  mitgetheilte  geographische  Theorie 
einiges  Aufsehen  gemacht  hat,  das  Interesse  der 
deutschen  Sprachforscher  in  besonderem  Masse 
> erregen.  Jetzt  ist  diese  die  Ausbreitung  der 
indogermanischen  Sprachen  analog  den  concen* 
trischen  Wasserringen  um  einen  Mittelpunkt  der 
Bewegung  herum  erklärende  Hypothese,  diese 
, »Auflösung  des  Schleicher 'sehen  Stammbaums  in 
Wellen«  in  Deutschland  wohl  allgemein  als  auf- 
gegeben zu  betrachten ; es  genügt  in  dieser  Be- 
ziehung auf  Fick'8  »Spracheinheit«,  auf  die  bez. 
Aeusserungen  von  G.  Curtius  in  der  eben  er- 
schienenen zweiten  Auflage  seiner  Chronologie 
und  auf  die  im  vorigen  Jahrgang  der  »Gott. 
Gel.  Anz.«  enthaltene  Kritik  des  Schmidt'schen 
Schriftchens  von  L.  Meyer  zu  verweisen  (vgl. 
auch  meinen  Aufsatz  über  den  Stammbaum  der 
indogermanischen  Sprachen  in  der  Zeitschr.  f. 


Whitney,  Oriental  tafrd  linguistic  Studies.  307 

Völkerpsych.  und  Sprachw.  VIII,  1B  ff.).  Auch 
ein  hervorragender  französischer  Linguist,  Havet, 
batte  sich  schon  in  der  Revue  critique  vom  22. 
November  1872  dagegen  erklärt,  nun  sehen  wir 
auch  Whitney  in  dieses  Verwerfungsurtbeil  sehr 
entschieden  einstimmen.  Nachdem  er  vermit- 
telst einer  graphischen  Darstellung  gezeigt  hat, 
dass  »the  family  arrangement  of  languages  a 
necessary  result  of  the  like  derivation  of  com- 
munities« ist,  bemerkt  er,  dass  specielle  Ueber- 
einstimmnngen,  wie  sie  zuweilen  zwischen  zwei 
verwandten  Sprachen  stattfinden,  sich  stets  ent- 
weder aus  reinem  Zufall  oder  aber  aus  Ent- 
lehnung erklären  Hessen.  Tertium  non  datar, 
nur  gewisse  seltene  Fälle  ausgenommen,  in  de- 
nen eine  schon  in  der  Grundsprache  im  Keime 
vorhandene  Entwicklung  von  zwei  oder  mehre- 
ren unter  sich  nicht  näher  verwandten  Einzel- 
sprachen  zur  volleren  Entfaltung  kommt,  wäh- 
rend sie  in  den  übrigen  Schwestersprachen 
spurlos  verschwindet.  Dagegen  hätten  die  geo- 
graphischen V erhäitni886  d er  Sprachen  * mit  - ih- 
ren linguistischen  nicht  das  allergeringste  zu 
thun,  ausser  insofern  sie  den  Eintritt  von  Ent- 
lehnungen beförderten.  Die  Annahme,  dass 
die  Idiome  zweier  verschiedensprachiger  und 
gar  nicht  oder  nur  gelegentlich  mit  einander 
verkehrender  Völker  sich  einander  annähern 
werden,  sobald  sie  in  räumliche  Berührung  mit 
einander  gebracht  werden,  erklärt  Whitney  für 
»little  short  of  absurd«.  Dies  wird  näher  an 
dem  Hauptargument  ausgeführt,  welches  Schmidt 
aus  der  ähnlichen  Behandlung  des  ursprachlichen 
K't&utes  in  gewissen  Wörtern  der  arischen 
Sprachen  einerseits,  der  slavolettischen  andrer- 
seits entnehmen  zu  dürfen  glaubte.  Ascoli’g 
and  Fick’s  Erklärungen  dieser  Erscheinung 


208  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  6. 

(ganz  wie  letzterer  habe  ich  dieselbe  in  meinem 
angeführten,  gleichzeitig  mit  Fick’s  Buche  er- 
schienenen Aufsatze  aufgefasst,  a.  a.  0. 29,  wo  nur 
bei  Besprechung  der  Spaltung  des  K in  Europa 
sich  der  Druckfehler  ho  statt  hv  eingeschlichen 
hat)  werden  besprochen:  sie  gehöre  zu  den1  ver- 
einzelten Fällen,  wo  eine  schon  in  der  idg.  Ur- 
sprache vorhandene  Lautneigung  zufällig  nur  in 
zwei  sonst  sich  ganz  entlegenen  Sprachen  wei- 
ter ausgebildet,  von  den  übrigen  dagegen  wie- 
der aufgegeben  wurde.  Schmidt  hatte  diese 
Erklärung  als  »unwissenschaftlich«  verdammt, 
weil  sie  mit  der  Annahme  eines  zufälligen  Zu- 
sammentreffens operirt;  Whitney  bemerkt  ihm, 
diesen  Vorwurf  gegen  Schmidt  selbst  wendend, 
sarkastisch,  er  verfahre  damit  ebenso  wie  Einer, 
der  um  das  zweimal  wiederholte  Auffallen  der 
Sech8e  beim  Würfeln  nicht  dem  Zufall  beimes- 
sen zu  müssen,  es  dem  Einflüsse  der  Sterne  zu- 
schreibe. Und  wie  das  erwähnte  Argument 
Schmidt’s  und  viele  der  übrigen  von  Fick  wider- 
legt, andere  Schwierigkeiten  von  mir  in  meiner 
Geschichte  des  Infinitivs  beseitigt  seien,  so  wür- 
den sich  mit  gesunder  Methode  auch  alle  noch 
restirenden  Fälle  dieser  Art  erklären  lassen, 
und  die  vergleichende  Sprachwissenschaft  sei 
dadurch  noch  lange  nicht  so  sehr  in  die  Enge 
getrieben,  um  sich  nur  so  durch  gewaltsame 
Annahmen  wie  die  Schmidt’sche  einen  Ausweg 
daraus  bahnen  zu  können.  Auch  gegen  die  von 
Max  Müller  in  seiner  Strassburger  Antrittsvor- 
lesung gegen  die  Stammbaumtheorie  erhobenen 
Einwendungen  wendet  sich  Whitney  in  diesem 
Vortrag,  doch  ich  darf  bei  demselben  nicht 
länger  verweilen,  da  es  vielmehr  eine  neue  und 
viel  umfassendere  Arbeit  des  fruchtbaren  ameri- 


Whitney,  Oriental  and  Linguistic  Studies.  209 

ksnischen  Gelehrten  ist,  auf  die  ich  hier  auf» 
merksam  machen  will. 

Auch  diese  »Studies«  sind  grossentheils  aus 
dem  lebhaften  Antheil  hervorgegangen,  welchen 
der  Verfasser  seit  Jahren  an  den  Verbandlun- 
gen  der  philologischen  und  der  morgenländi- 
schen Gesellschaft  seines  Vaterlandes  und'  an 
dem  Journal,  welches  die  letztere  herausgibt, 
genommen  hat;  anderntheils  waren  sie  zuerst 
in  geachteten  Zeitschriften  Nordamerikas  er- 
schienen. Sie  machen  zusammen  einen  statt» 
liehen  Band  aus,  der  dreizehn  Essays  sehr  man- 
nigfaltigen Inhalts  und  von  sehr  verschiedener 
Tendenz  enthält.  Whitney  selbst  führt  sie  uns 
unter  dem  Titel  »orientalische  und  linguistische 
Studien«  vor,  wobei  die  erstere  Bezeichnung  in 
dem  beschränkteren  Sinne  zu  verstehen  ist,  dass 
sie  sich  nur  auf  solche  Stoffe  bezieht,  die  in  das 
Gebiet  der  Sanskrit-,  noch  genauer  vedischen 
und  Zendphilologie  fallen.  Man  könnte  sie  auch, 
je  nach  dem  grösseren  oder  geringeren  Vor- 
herrschen einer  kritischen  Tendenz  — die  nur 
in  dem  letzten  Essay  über  »Sprache  und  Unter- 
richt« ganz  znrücktritt  — in  Studien  und  Kri- 
tiken eintheilen.  Auch  qualitativ  sind  Whitney’s 
kritische  Leistungen  in  diesem  Buche  am  be- 
deutendsten ; die  »nüchterne  Strenge«,  die  man  • 
seinen  »Lectures«  unter  ihren  sonstigen  Vor- 
zügen besonders  nachgerübmt  hat,  ich  möchte 
lieber  sagen  die  Uebersicht  und  Beherrschung 
Wh.’s  finden  gerade  nach  dieser  Seite  hin  Ge- 
legenheit, sich  im  günstigsten  Lichte  zu  zeigen. 
Zwar  ist  auch  der  orientalische  Tbeil  des  Essays, 
in  dem  das  kritische  Element  mehr  zurück  und 
die  Absicht,  das  grosse  Publicum  auf  die  er- 
staunlich raschen  Fortschritte  hinzuweisen,  web 
che  die  indische  und  iranische  Alterthumskunde 


U 


210  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  7. 


in  den  letzten  Jahrzehnten  gemacht  haben,  in 
den  Vordergrund  tritt,  von  hohem  Interesse, 
besonders  durch  den  inhaltreichen  Aufsatz  über 
den  Zendavesta,  indem  die  geschickte  und  tref- 
fende Darlegung  der  Bedeutung  und  Stellung 
der  zoroastrischen  Literatur  in  der  Literatur-, 
politischen  und  Religionsgeschichte  überhaupt 
gut  darauf  berechnet  ist,  das  Interesse  des  ge- 
sammten  gebildeten  Publicums  an  den  For- 
schungen der  Zendphilologen  anzufrischen,  wäh- 
rend die  Besprechung  von  Max  Müller’s  History 
of  Ancient  Sanskrit  Literature,  die  den  Verdien- 
sten dieses  Werks  ihr  volles  Recht  widerfahren 
lässt,  durch  die  interessanten  Ausführungen,  die 
Wh.  daran  knüpft,  für  den  Fachmann  unter  den 
über  ein  sehr  mannigfaches  Gebiet  sich  verbrei- 
teten Essays  vedistischen  Inhalts  das  meiste 
Interesse  darbieten  dürfte,  ln  dem  Aufsatz 
über  den  Avesta  hätte  übrigens  nicht  gesagt 
werden  sollen,  dass  die  Etymologie  des  Namens 
Vispered  zweifelhaft  und  unklar  sei;  jeder 
Kenner  der  Zendsprache  sieht  leicht,  dass  der- 
selbe, wie  auch  längst  allgemein  anerkannt  ist, 
auf  vl$pe  ratovö  «alle  Herrn«  d.  h.  zoroastrische 
Gottheiten  zurückgeht  — eine  Bezeichnung,  die 
für  eine  liturgische  Sammlung  wie  der  Vispered 
sehr  geeignet  war.  Auch  die  Erklärung  der  Be- 
nennungen, welche  die  verschiedenen  Entwick- 
lungsstufen ihrer  .alten  Sprache  bei  den  Parsen 
zu  führen  pflegen  (p.  171):  Zend,Pä-Zend  u.  s.  w. 
lässt  an  Schärfe  Manches  zu  wünschen  übrig 
und  wäre  nach  der  klaren  und  wie  mir  scheint 
abschliessenden  Auseinandersetzung,  welche  jetzt 
hierüber  in  Dr.  West’s  Ausgabe  des  Mainyö-i* 
Khard  (Stuttgart  1871)  vorliegt,  anders  zu  fas* 
sen  gewesen.  Für  den  Fachmann  bieten  aber 
die  linguistischen  Essays  das  grösste  Interesse 


Whitney,  Oriental  and  Linguistic  Studies.  211 

dar,  und  unter  diesen  ragen  wieder  — da  der 
Essay  über  Language  and  ' Education  ein  spe- 
cielleres  Eingehen  auf  die  Leistungen  der  mo* 
dernen  Sprachwissenschaft,  insbesondere  Cur* 
tins’,  auf  dem  Gebiete  des  sprachlichen  Ele- 
mentarunterrichts vermissen  lässt  und  der  Essay 
über  das  Yerhältniss  der  indogermanischen 
Sprachwissenschaft  zur  Ethnologie  seinem  we- 
sentlichen Inhalte  nach  den  Kennern  der 
»Lectures«  bereite  aus  dem  mittleren  Theil  der 
sechsten  Vorlesung  bekannt  ist  — jene  am  mei- 
sten hervor,  in  denen  der  Verfasser  seinen  wis- 
senschaftlichen Standpunkt,  wie  er  ihn  schon  in 
dem  öfter  erwähnten  älteren  Werke  dargelegt 
hat,  gegen  entgegenstehende  Ansichten  verthei- 
digt  und  die  principiellen  Grundanschauungen 
der  namhaftesten  deutschen  Sprachforscher,  ins- 
besondere Max  Müllers,  Schleichers  und  Stein- 
thals ausführlich  kritisirt.  Sie  sollen,  soweit 
der  Raum  es  noch  gestattet,  im  Folgenden  et- 
was näher  besprochen,  zuvor  aber  Whitney’s 
allgemeiner  Standpunkt  in  Kürze  mitgetheilt 
werden,  wie  er  ihn  selbst  in  dem  Essay  » on 
the  present  state  of  the  question  as  to  the 
origin  of  language«  dargelegt  hat. 

Von  vorne  herein  verwahrt  sich  Whitney  ge- 
gen das  Missverständniss,  als  könne  es  seine 
Absicht  sein,  eine  neue  Auffassung  betreffs  des 
Ursprungs  der  Sprache,  dieser  Haupt-  und 
Grundfrage  der  Sprachwissenschaft,  zu  begrün- 
den, die  aber  nach  so  vielem  leeren  Gerede 
darüber  nun  unter  nüchternen  Forschern  fast 
verrufen  sei;  bei  der  Gründung  der  französi- 
schen Society  de  Linguistique  ist  es  daher  als 
ein  Grundgesetz  der  Gesellschaft  ausgesprochen 
worden,  dass  in  den  Verhandlungen  und  Vorträ- 
gen derselben  niemals  die  Frage  nach  dem  Ur- 

14* 


212  Gott.  gel.  A&z.  1874.  Stuck  7. 


sprung  der  Sprache  berührt  werden  dürfe. 
Durch  ein  solches  Verbot  wird  nun  freilich  diese 
Frage  nicht  leicht  aus  der  Welt  zu  schäften 
sein,  und  im  vorliegenden  Falle  hat  man  sich 
schon  jetzt  mehr  als  einmal  einfach  über  das- 
selbe hinweggesetzt;  auch  kann  es  bei  einem 
Problem,  das  von  den  Zeiten  der  ältesten  grie- 
chischen Philosophie  an  nicht  aufgehört  hat, 
alle  denkenden  Köpfe  zu  beschäftigen , sich 
offenbar  nicht  darum  bandeln,  ihm  vorsichtig 
ganz  aus  dem  Wege  zu  gehen,  sondern  vielmehr 
nur  darum,  die  Fragstellung  darüber  dem  un- 
aufhörlich wechselnden  wissenschaftlichen  Ge- 
sammtbewusstsein-  stets  aufs  Neue  anzupassen. 
Dies  ^cheiDt  denn  auch  die  Absicht  zu  sein, 
welche  Whitney  zur  Aufstellung  folgender  Sätze 
veranlasst , die  den  Beifall  aller  besonnenen 
Sprachforscher  verdienen:  erstens,  die  Frage 
nach  .dem  Ursprung  der  Sprache  ist  eine  rein 
wissenschaftliche.  Hieraus  folgt  nicht  nur,  dass 
weder  die  biblischen  noch  irgend  welche  andere 
traditionelle  Vorstellungen  das  Geringste  damit 
au  schaffen  haben , sondern  es  wird  dadurch 
auch  jede  solche  Lösung  unstatthaft,  welche  den 
ersten  Sprachbildtiern  andere  Kräfte  und  Ta- 
lente zuschreibt,  als  wie  sie  jeder  beliebige 
Mensch  des  löten  Jahrhunderts  besitzt;  m.  a. 
Worten  Max  Müller ’s  »Kling*klang-theorie«,  wo- 
nach die  ältesten  Wörter  vermöge  eines 
später,  nach  Erfüllung  seiner  Function,  wie- 
der erloschenen  Instinctes  aus  der 
Menschenbrust  hervorgeströmt  wären,  wird  hie- 
durch als  unwissenschaftlich  entschieden  abge- 
wiesen. Zweitens  ist  auf  das  Strengste  die 
Grenze  zwischen  den  Tbatsachen  der  Sprach- 
geschichte und  den  . Hypothesen  der  Sprach- 
philosophie festzuhalten;  darin  tritt,  wie  übrigens 


Whitney,  -Oriental  end  Linguistic  Studies.  213 

schon  II.  Mittler  betont  hat,  am  deutlichsten 
der  Fortschritt  der  Linguistik  zu  Tage,  dass 
jede  Untersuchung  über  die  Entstehung  der 
Sprache  jetzt  nicht  mehr  nach  der  Genesis  der 
Wörter,  sondern  der  durch  die  historische  For- 
schung sicher  ermittelten  Wurzeln  zu  fragen 
hat.  Darüber  hinaus  bat  man  sich  zwar  noch 
nicht  geeinigt  und  wird  vielleicht  auch  nie  zu 
einer  Einigung  gelangen,  doch  ist  es  süchtig 
sich  wenigstens  klar  zu  machen,  worin  die 
Haupt8treitpunkte  bestehen.  Whitney  stellt  da- 
her drittens  als  ersten  Streitpunkt  die  Frage 
nach  dem  Verhältnis  des  Denkens  zum  Spre- 
chen, des  Begriffs  znm  Wort,  und  viertens 
als  einen  kaum  minder  wichtigen,  wenn  schon 
oft  übersehenen  Differenzpunkt  die  Frage  hin, 
ob  der  Impuls  zum  Sprechen  von  innen  oder 
von  aussen  kommt,  d.  h.  ob  das  Sprechen  eine 
nothwendige,  organische  Verrichtung  des  Men- 
schen, oder  oh  es  nur  das  Bedürfnis  nach  Mit- 
theilung ist,  was  ihn  dazu  antreibt.  Und  so  er- 
geben sich  als  die  Hauptkriterien  Air  jede  Un- 
tersuchung, die  sich  heutzutage  auf  das  mehr* 
erwähnte  Problem  einlässt,  folgende:  werden 
einerseits  religiöse  Vorstellungen  dabei  herein* 
gezogen  oder  Annahmen,  die  den  Erfahrungs- 
tatsachen widersprechen,  zu  Hülfe  genommen; 
werden  andrerseits  die  Wörter,  wie  sie  jetzt 
sind,  nicht  wie  sie  in  der  geschichtlich  vorlie- 
genden Wurzel periode  beschaffen  waren,  zur 
Basis  der  Untersuchung  gemacht,  so  stellt  sich 
damit  dieselbe  auf  eineu  von  der  heutigen 
Sprachwissenschaft  überwundenen  Stand  punkt. 
Aber  auch  dann,  wenn  man  es  unterlässt,  sich 
über  das  Verhältnis  des  Sprechens  zum  Den- 
ken und  über  die  Natur  des  Triebs,  welcher 
zur  Sprachbttdung  den  Anstoss  gibt,  eine  be* 


214  G6tt.  gel.  Anz.  1874.  StBck  7. 

✓ 

stimmte  und  mit  Gründen  der  Philosophie  oder 
Psychologie  zu  verteidigende  Ansicht  za  bil- 
den, wird  man  zn  einem  irgend  gedeihlichen 
Resultat  nicht  gelangen. 

Legt  man  diesen  Massstab  an  die  von  Whitney 
selbst  in  seinem  früheren  Werk  über  das  frag- 
liche Problem  entwickelten  Ansichten  an,  so 
wird  man  anerkennen  müssen,  dass  dieselben 
— Hypothesen,  wie  sie  sind  und  der  Natur  der 
Sache  nach  sein  müssen  — ihn  vollkommen  aus- 
halten.  Eine  andere  Frage  ist  es,  inwieweit  es 
ihm  gelungen  ist,  das  Nichtvorhandensein  die- 
ser Kriterien  in  den  theoretischen  Grundansich- 
ten der  erwähnten  anderen  Forscher  nachzu- 
weisen. Nur  eine  ins  Detail  gehende  Nach- 
prüfung seiner  Essays  über  »Bleek  and  the 
Simious  Theory  of  Language,  Schleicher  and 
the  Physical  Theory  of  Language,  Steinthal  and 
the  Psychological  Theorie  of  Language«  würde 
dies  zu  zeigen  im  Stande  sein.  Da  jedoch  ein 
solcher  Versuch  die  Grenzen  eines  Referats  weit 
überschreiten  würde,  ziehe  ich  es  vor,  zum 
Schluss  noch  einige  Proben  aus  den  kritischen 
Bemerkungen  mitzutheilen , mit  denen  Whitney 
in  seinen  beiden  Beurtheilungen  der  zweiten 
Serie  von  Max  Müller's  »Vorlesungen«  dieselbe  be- 
gleitet; abgesehen  von  dem  sachlichen  Interesse 
sind  sie  auch,  da  \ sie  ein  so  viel  gelesenes  und 
gepriesenes  Buch  betreffen,  besonders  geeignet  um 
erkennen  zu  lassen,  wie  geschickt  Wh.  zu  po- 
lemisiren  versteht. 

Im  Allgemeinen  urtheilt  Whitney  über  die 
zweite  Serie  der  Müller’schen  Vorlesungen,  sie 
hätten  mit  denen  der  ersten  Serie,  die  bei  ihrem 
ersten  Erscheinen  allgemein  ein  so  grosses  Auf- 
sehen gemacht  haben,  die  gleichen  glänzenden 
Vorzüge  sowohl  als  auffallenden  Mängel  gemein 


Whitney,  Oriental  and  Linguistic  Studies.  215 

bei  einer  glänzenden  Darstellungs-  und  Popula- 
risirungsgabe,  die  namentlich  in  seinen  reichen 
und  ebenso  geschickt  gewählten  als  anziehend 
und  treffend  ausgeführten  Beispielen  aus  der 
Geschichte  selbst  der  entlegensten  Sprachen 
hervortrete,  lasse  er  es  doch  überall  an  syste- 
matischer Anordnung,  an  logischer  Entwicklung 
und  Durchführung  seiner  Gedanken  fehlen.  Da- 
her kommt  es,  und  diese  Bemerkung  Wh.’s 
scheint  mir  besonders  zutreffend,  dass  der  An« 
langer,  der  aus  der  Lectüre  dieser  »Vorlesungen 
über  Sprachwissenschaft«  ein  Bild  von  dem  Um- 
fang und  Inhalt,  von  dem  Stoff,  den  Zielen  und 
der  Methode  dieser  Wissenschaft  mit  fortzuneh- 
men hofft,  zwar  durch  das  mancherlei  Wissens- 
wertste, das  er  darin  mitgetheilt  erhält,  unter- 
halten und  durch  die  anmuthige  Form,  in  der 
es  ihm  entgegengebracht  wird,  sogar  hingerissen 
wird,  schliesslich  aber  doch  ein  Gefühl  der  Un- 
befriedigung nicht  unterdrücken  kann.  Zwar 
wird  im  Beginn  des  Buches  eine  Art  von  Pro- 
gramm aufgestellt,  wonach  es  in  seinem  ersten 
Theil  von  dem  Aeusseren  oder  der  Lautform  der 
Sprache,  im  zweiten  von  der  Innenseite  oder 
Seele  der  Sprache,  d.  h.  von  dem  Entstehen 
und  Vergehen  der  Begriffe  handeln  soll.  Allein 
. schon  in  der  ersten  oder  »einleitenden«  Vorle- 
sung »über  neues  Material  und  neue  Theorien« 
begegnet  zunächst  eine  nicht  unverdiente,  doch 
gar  zu  weitschweifige  Lobpreisung  der  Ent- 
deckungen, welche  die  Sprachwissenschaft  in  un- 
serem Jahrhundert  auf  dem  Gebiete  der  Keil- 
schriftentzifferung gemacht  hat,  sodann  eine  zu- 
treffende und  witzige  Abfertigung  der  übertrie- 
benen Resultate,  welche  einige  Kenner  der  afri- 
kanischen und  polyne8ischen  Sprachen  von  dem 
fortgesetzte!!  Studium  dieser  Sprachen  für  das 


216  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  7. 


gesummte  Sprachstudium  überhaupt  sich  ver- 
sprechen wollten  — und  endlich,  nachdem  ihm 
der  Leser  in  diesen  durch  viele  Seiten  sich 
beziehenden  Ausführungen  mit  Aufmerksamkeit 
zwar,  aber  doch  mit  einer  Empfindung  von  ge- 
täuschter Erwartung  gefolgt  ist,  wirft  der  Ver- 
fasser die  Behauptung  hin : »dass  das  Vor- 
stehende als  Beleg  für  die  Hauptgrundsätze  der 
Sprachforschung  genügen  müsse,  dahin  gehend, 
dass  das,  was  in  späteren  Formationen  that- 
sächlich  vorliege,  für  die  älteren  Sprachnieder- 
setzungen  als  möglich  zugegeben  werden  müsse, 
und  was  im  Kleinen  richtig  sei,  sich  auch  im 
Grossen  bewähren  könne«.  Das  ist  also  das 
ganze  Resultat,  bemerkt  Whitney  mit  Emphase, 
das  bei  all  diesen  Erörterungen  herauskommt: 
»was  hier  Hauptgrundsätze  der  Sprachforschung 
heisst,  würden  wir  vielmehr  als  naheliegende, 
kaum  einer  weiteren  Ausführung  Bemerkungen 
bezeichnet  haben«.  Wenn  dann  in  der  nämlichen 
Vorlesung  ferner  noch  eine  Schutzrede  zu  Gun- 
sten des  »turanischen  Sprachstamms«  folgt  (in 
seinen  eben  ihrer  ersten  Hälfte  nach  erschiene- 
nen Vorlesungen  über  vergleichende  Religions- 
wissenschaft hat  jetzt  übrigens  Max  Müller  diese 
ungeheuerliche  Hypothese  von  einem  Complex 
von  Sprachen,  der  sich  über  alle  Welttheile  hin- 
gezogen und  alle  bekannten  Sprachen,  mit  Aus- 
nahme der  indogermanischen  und  semitischen 
umfasst  haben  sollte,  so  gut  wie  zurückgenom- 
men), die  in  der  Frage  gipfelt,  ob  man  denn 
das  Bestehen  einer  Verwandtschaft  zwischen  den 
»turanischen«  Sprachen  blos  daraufhin  in  Abrede 
stellen  solle,  dass  sie  nicht  eben  solche  Kenn- 
zeichen dafür  aufzuweisen  haben,  wie  Französich 
und  Englisch,  Latein  und  Griechisch,  Celtisch  und 
Sanskrit«  — so  verdient  diese  Frage  Muller's 


Whitney,  Oriental  and  Linguistic  Studies.  91? 

In  der  That  keine  andere  Antwort,  als  die,  wel- 
che ihm  hier  sein  Kritiker  darauf  ertheilt,  der 
mit  einem  unbedenklichen  »Ja«  erwidert:  man 
soll  and  muss  sie  so  lange  für  unverwandt  er- 
klären, bis  andere  gleichwertige  Merkmale  der 
Verwandtschaft  an  ihnen  nachgewiesen  sind.  Aus 
dem  Umstande,  dass  diese  Sprachen  veränder- 
licher, unstäter  in  ihrem  Character  sind  als  an- 
dere, folgt  natürlich  noch  lange  nicht,  dass  sie 
deshalb  von  ein  und  derselben  Ursprache  her- 
kommen  müssen,  sondern  nur  soviel,  dass  es 
gewagt  wäre,  allzu  apodiktisch  die  gegenteilige 
Annahme  anszusprechen.  In  ähnlicher  Weise 
wie  die  erste  durchgeht  Wh.  auch  die  folgenden 
Vorlesungen:  er  nimmt  sich  Locke’s  gegen  die 
in  der  zweiten  enthaltenen  Angriffe  Max  Mül- 
lers  an,  indem  er  zeigt,  dass  dieser  hier 
eigentlich  gegen  ein  Trugbild  streitet  und  seine 
Identification  der  Sprache  nnd  Vernunft  in  ein- 
gehender, übrigens  dem  Wesen  nach  später  in 
seinen  Lectures  on  Language  wiederholter  Ar- 
gumentation widerlegt;  er  macht  an  der  Dar- 
stellung des  natürlichen  Lantsystems  in  der  drit- 
ten  mehrere  einzelne  Verstösse  namhaft , die 
ihm  zu  seinem  verwerfenden  Urtheil  über  das 
' Ganze  jedoch  kaum  das  Recht  geben;  er  wen- 
det sich  endlich  mit  Recht  gegen  den  Erklä- 
rungsversuch der  Lautverschiebung  und  den  die 
Kritik  gar  zu  sehr  provocirenden  Versuch,  die 
drei  von  den  Anthropologen  ermittelten  Perio- 
den der  Stein-,  Bronze-  und  Eisenzeit  an ' ein 
ganz  vereinzeltes  Factum  aus  der  Sprachge- 
schichte der  indogermanischen  Sprachen  Euro- 
pe's anzuknüfen,  wie  sie  in  der  fünften  Vor- 
lesung vorliegen  — während  dagegen  an  der 
vierten,  die  vom  Lautwechsel  handelt , der 
reiche  Inhalt  gerühmt  und  die  späteren  mytho- 


218  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  7. 

logischen  Vorlesungen  als  die  originellsten  und 
wertvollsten  der  zweiten  Serie,  wenn  nicht 
beider  Serien  bezeichnet  werden.  Schliesslich 
verwahrt  sich  Whitney  gegen  die  Angriffe,  die 
ihm  der  allerdings  herbe  Ton  dieser  Kritik  ein- 
getragen hat,  mit  einem  Hinweis  auf  das 
»noblesse  oblige«:  die  grosse  Gunst,  deren  sich 
Max  Müller  beim  grossen  Publicum  erfreut, 
hätte  ihn  zu  recht  sorgfältigem  und  wiederhol- 
ten Durchdenken  der  wichtigen  Fragen,  in  die 
er  es  einzuführen  gedachte,  auffordern  sollen; 
statt  dessen  habe  er  durch  Vertretung  irriger 
Auffassungen  der  Anbahnung  eines  allgemeine- 
ren richtigen  Verständnisses  für  die  Probleme 
der  Sprachwissenschaft  ebenso  sehr  geschadet, 
als  seine  Gabe  populärer  Darstellung  der  Ver- 
breitung eines  gewissen  Interesses  dafür  dienlich 
gewesen  sei. 

Dieses  Urtheil  lässt  an  Deutlichkeit  nichts 
zu  wünschen  übrig,  und  es  wird  überhaupt  nicht 
an  Lesern  fehlen,  denen  der  Ton  von  Whitney’s 
Kritiken  allzu  polemisch  und  absprechend  er- 
scheinen  wird.  Es  ist  aber  dabei  zu  bedenken, 
dass  wenn  irgend  ein  Vertreter  der  allgemeinen 
Sprachwissenschaft  ein  Recht  zur  Anlegung  eines 
strengen  Massstabs  an  die  Leistungen  Anderer 
auf  diesem  Gebiete  hat,  es  der  amerikanische 
Linguist  ist,  der  uns  in  seinen  »Lectures«  ein 
Werk  geliefert  hat,  wie  es  noch  keine  andere 
Literatur  aufzuweisen  hat:  eine  gemeinfassliche 
und  höchst  anziehend  geschriebene,  zugleich  aber 
ebenso  gründliche  als  durchdachte  Darstellung 
aller  Hauptlehren  dieser  Wissenschaft. 

Würzburg.  Julius  Jolly. 


Kradolfer,  Die  altchristliche  Moral  etc.  219 

Kradolfer,  J.,  Prediger  in  Bremen:  Die 
ftltchri8tliche  Moral  und  der  moderne  Zeit- 
geist. Berlin,  1873.  Lüderitz’sche  Verlagsbuch- 
handlung. 

Die  vorliegende  Abhandlung  ist,  wie  sie  selbst 
deutlich  zu  verstehen  giebt,  auf  Veranlassung  des 
neuesten  Strauss’schen  Buches  »der  neue  Glaube« 
entstanden.  War  in  diesem  gesagt,  dass  »wie  es 
einen  neuen  Glauben  gebe,  dessen  Inhalt  ein 
wesentlich  anderer  sei,  als  derjenige  des  Christen« 
thums,  dass  es  eben  so  gut  auch  eine  neue  Mo- 
ral gebe,  welche  mit  der  altchristlichen  so  wenig 
verwandt  sei,  wie  der  neue  Glaube  mit  dem  al- 
ten«, und  war  Strauss  dort  zu  dem  Resultate 
gekommen,  dass  »die  moderne  Cultnr,  auch  ganz 
abgesehen  von  dem  religiösen  Gehalte  derselben, 
weder  als  eine  christliche  zu  bezeichnen  sei, 
noch  die  Hoffnung  gewähre,  dies  jemals  wieder  zu 
werden«,  dass  es  mit  einem  Worte  »keine  Ver- 
söhnung zwischen  Cultur  und  Christenthum  gebe«, 
so  ist  derVerf.  keineswegs  geneigt,  diese  »noth« 
wendige  Consequenz  des  neuen  Glaubens«  ohne 
weiteres  zuzugeben.  Er  meint  »unsere  Cultur 
doch  immer  noch  als  eine  christliche  bezeichnen« 
und  »eine  allmälig  fortschreitende  Versöhnung, 
eine  immer  innigere  Durchdringung  von  Cultur 
und  Christenthum«  nicht  bloss  wünschen,  son- 
dern auch  in  bestimmte  Aussicht  stellen  zu  dür- 
fen, und  um  dies  darzuthun,  ist  seine  Abhand- 
lung geschrieben.  Er  »prüft  hier  die  Frage 
näher,  wie  sich  moderner  Zeitgeist  und  alt- 
christliche Moral  zu  einander  verhalten«,  aber 
was  er,  Strauss  gegenüber,  da  mit  aller  Zuver- 
sicht aufrecht  erhält,  ist  die  Ueberzeugung,  dass 
»die  urchri8tliche  Moral  die  Lebensessenz  ist  und 


220  Gott.  gel.  Anz.  1878.  Stück  7. 

bleibt,  trotz  des  entschiedenen  Uebergewichtes, 
welches  andere  Bestandteile  des  modernen  Zeit« 
geistes  besitzen«,  dass  dieselbe  *in  der  geisti- 
gen Atmosphäre  der  modernen  Welt  ungefähr 
die  Bedeutung  babe,  wie  der  Sauerstoff  oder 
das  Ozon  in  der  atmosphärischen  Luft«,  und 
überhaupt  sind  es  tröstliche  Aussichten  in  Be- 
ziehung auf  die  Zukunft,  die  der  Verf.  am 
Schluss  seiner  Abhandlung  eröffnet,  wenn  auch 
ganz  und  gar  nicht  auf  einen  neuen  Sieg  des 
kirchlichen  Christenthums  oder  gar  der  altkirch- 
lichen Moral,  so  doch  darauf,  dass  »der  Mittel- 
punkt der  Lehre  und  des  Lebens  Jesu,  die. 
Liebe,  vermöge  der  Expansivkraft  und  der  Weite 
des  Herzens  und  Horizonts,  welche  sie  dem 
christlichen  Princip  giebt,  sich  immer  fähig  er- 
weisen werde,  neue  Züge  in  sich  aufzunehmen 
und  neue  Culturperioden  sich  dienstbar  zu 
machen«. 

Auch  darf  nun  gesagt  werden,  dass  der  Verf. 
im  Ganzen  recht  überzeugend  seine  Anschauung 
von  der  noch  fortdauernden  Berechtigung  des 
christlichen  Princips  dargethan  hat.  JEr  beginnt 
damit,  den  modernen  Zeitgeist  zn  analysiren, 
und  weist  eine  ganze  Anzahl  von  überaus  mäch- 
tigen Bestandtheilen  desselben  nach,  welche  nicht 
ans  dem  Christenthum  stammen,  sondern  theils 
aus  dem  vorchristlichen  und  zwar  heidnischen 
Alterthum  in  unsere  Zeit  übertragen  sind,  theils 
aber  recht  eigentlich  als  die  Producte  und  trei- 
benden Mächte  des  gegenwärtigen  Zeitalters  an- 
gesehen werden  müssen.  Der  ersteren  Art  sind 
nach  dem  Verf  drei:  »die  Kunst,  worin  die 
' Griechen,  das  Rechtsgebiet,  worin  die  Römer, 
und  die  humane  Wissenschaft,  worin  Beide  un* 
sere  Lehrmeister  gewesen  sind«,  während  zu  der 


Kradolffer,  Die  altcbristUche  Moral  etc. 

letzteren  Art  hauptsächlich  unsre  moderne  clas- 
gische  Literatur  und  namentlich  auch  die  Natur« 
Wissenschaften  und  auf  ihrem  Grunde  der  In- 
dustrialismus, das  mechanische  Könnet),  die 
Macht  über  die  Naturkräfte  gehören,  und  es  ist 
nun  nicht  zu  bezweifeln,  dass  das  Christenthum 
zunächst  mit  allen  diesen  in  unserer  Zeit  so 
mächtigen  Factoren  Nichts  zu  thun  hat.  »Es 
ist«,  sagt  der  Verf.,  »eine  durchaus  ablehnende 
Stellung,  welche  das  Christenthum  in  seiner  ur- 
sprünglichen Gestalt  zu  den  Culturmächten  der 
alten  Welt  eingenommen  hat«,  und  wenn  das- 
selbe auch  Berührungspunkte  mit  der  vorchrist- 
lichen Weltweisheit,  namentlich  mit  der  Ethik 
und  zwar  sowohl  der  Stoiker,  wie  der  Epicu- 
räer  zeigt,  so  »dürfen  uns  diese  Berührungs- 
punkte doch  über  die  prindpielle  Verschieden- 
heit zwischen  altchristlicher  und  antiker  Moral 
nicht  täuschen«.  »Die  Kardinaltugenden  des 
Cbristenthums  sind  doch  andre  als  die  bekann- 
ten antiken,  nicht  Tapferkeit  und  Gerechtigkeit, 
Beharrlichkeit  und  Besonnenheit,  sondern  Glaube, 
Liebe,  Hoffnung«,  nnd  wie  sehr  dieser  Unter- 
schied durchgreifend  ist,  wird  in  sehr  bezeich- 
nender Weise  ans  Licht  gestellt. 

Vollends  aber  »die  sittlichen  Factoren,  wel- 
che, der  modernen  Cultur  eigentümlich,  zu 
cons tituiren den  Elementen  des  modernen  Zeit- 
geistes geworden  sind«,  so  lässt  sichern  Wider- 
spruch, in  welchem  sie  mit  dem  Ghristenthume 
stehen,  nicht  verkennen.  Wohl  giebt  es  bei 
den  grossen  Vertretern  der  modernen  Welt- 
literatur auch  Berührungspunkte  mit  dem  Chri- 
stenthum und  seiner  Moral  — der  Verf.  weist 
dies  bei  Lessing,  Goethe  und  Schiller  besonders 
nach  — aber  »doch  macht  Keiner  von  den 


£22  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StÖck  7. 

Dreien  den  Eindruck,  als  ob  es  gerade  die  alt- 
christliche Moral  gewesen,  welche  die  Form 
oder  gar  den  inneren  Gehalt  ihrer  Sittlichkeit 
wesentlich  bestimmt  hätte,  und  Goethe’s  Wider- 
wille gegen  das  Kreuz  war  nicht  bloss  ein 
ästhetischer,  sondern  eine  principielle  Opposi- 
tion des  Naturalismus,  der  gesunden  Sinnlich- 
keit, gegen  eine  Heilsordnung , welche  vom 
Standpunkte  der  Natur  aus  wie  eine  Tortur, 
wie  eine  Verrenkung  der  natürlichen  Glieder, 
wie  eine  Knickung  der  dem  Menschen  eigenen 
Kraft  und  seines  Selbstgefühls  erschien«.  Und 
dies  Beruhen  auf  der  eigenen  Kraft  ist  dann 
namentlich  die  Seele  der  weiteren  sittlichen 
Factoren  des  neuen  Zeitgeistes:  der  Naturwis- 
senschaften und  der  Industrie,  und  es  ist  ge- 
wiss sehr  leseDS-  und  beachtens werth,  was  der 
Verf.  gerade  hier  in  eingehender  Weise  übe? 
den  Riss  ins  Licht  stellt,  der  auf  diesem  Ge- 
' biete  zwischen  dem  heutigen  und  dem  altchrist- 
lichen Bewusstsein  entstanden  ist.  Kaum  kann 
die  Kluft  noch  grösser  gedacht  werden,  und 
»wenn  es  noch  Solche  giebt,  welche  hier  die 
Differenz  unsrer  Anschauung  von  der  altchrist- 
lichen nicht  zugeben  oder  an  der  absoluten 
Giltigkeit  dieser  um  jeden  Preis  festhalten  wol- 
len, so  thun  sie  es  nur  in  der  Theorie,  nicht 
aber  in  der  Praxis:  sie  denken  wie  Niemand 
und  handeln  wie  Alle«.  Besonders  die  Stellung, 
welche  unsere  Zeit  zu  dem  irdischen  Besitz  und 
Erwerb  einnimmt,  ist  nach  dem  Verf.  eine  we- 
sentlich andere  geworden,  als  in  der  altchrist- 
lichen Zeit,  ui\d  wenn  wir  auch  den  Auffassun- 
gen des  Verf.  hinsichtlich  neutestamentlicher 
Stellen  hier  nicht  in  allen  Stücken  beistimmen 
können,  so  ist  doch  im  Ganzen  das  Charakter- 


Kradolfer , Die  altchriatliche  Moral  etc.  223 

bild  richtig,  das  er  nach  dieser  Seite  hin  von 
dem  Geiste  unserer  Zeit  entwirft:  bei  dem  Ur- 
christenthumf  auf  »das  Trachten  nach  dem 
Reiche  Gottes«  alles  Gewicht  gelegt  und  des- 
halb dort  auch  eine  heroische  Sorglosigkeit  in 
Beziehung  auf  den  irdischen  Besitz  und  Erwerb, 
in  unsrer  Zeit  dagegen  der  Erwerbstrieb  vor 
allem  lebendig  und  sich  oft  auch  mit  einer 
Rücksichtslosigkeit  und  Einseitigkeit  geltend 
machend,  die  keine  Schranke  mehr  kennt  und 
gleichgiltig  ist,  wie  gegen  die  höheren  Lebens- 
güter, so  auch  gegen  das  Geschick  und  geistige 
Gedeihen  des  einzelnen  Menschen«.  Anch  diese 
letztere,  nicht  eben  erfreuliche  Seite  unseres 
modernen  Lebens  wird  von  dem  Verf.  gebührend 
hervorgeboben. 

So  ist  denn  aber  nicht  zu  leugnen,  dass  der 
moderne  Zeitgeist  und  das  alte  Christenthum 
auch  auf  dem  Gebiete  des  sittlichen  Lebens  in 
Gegensatz  gerathen  sind,  wenigstens  ein  har- 
monisches Verhältnis  zu  einander  noch  nicht 
gefunden  haben,  und  nun  ist  es  dann  weiter 
des  Verf.  Aufgabe,  zu  zeigen,  dass  hier  gleich- 
wohl eine  höhere  Einheit  vorhanden  ist,  dass 
namentlich  die  moderne  Zeit  auch  das  christ- 
liche Grundprincip  der  Moral  noch  keineswegs 
entbehren  kann.  Dies  geschieht  denn  in  den 
noch  folgenden  Abschnitten,  indem  zunächst, 
und  zwar  in  Berufung  auf  den  neuerdings  von 
Strauss  aufgestellten  Kanon  der  Moral,  nach- 
gewiesen wird,  dass  bei  aller  Divergenz  im  Ein- 
zelnen doch  das  Princip  der  Moral  im  Chri- 
stenthum  und  in  dem  modernen  Zeitgeiste  das- 
selbe sei,  dass  die  wesentlichsten  Grundsätze, 
welche  aus  dem  altchristlichen  Moralprincip  ab- 
fliessen,  z.  B.  Feindesliebe  etc.  etc.,  durchaus 


224  GStt.  gel.  Anz.  1874.  Stück  7. 

in  den  Geist  der  Neuzeit  eingedrungen  sind, 
und  dass  der  Trieb  in  unserer  Zeit  doch  eigent- 
lich darauf  hinausgeht,  nicht  das  christliche 
Moralprincip  abzuwerfen,  sondern  es  zu  säcula- 
risiren,  es  zu  entkirchlichen,  aber  damit  in  das 
Leben  des  Volkes  erst  recht  einzuführen,  und 
indem  dann  weiter  nachgewiesen  wird , wie 
wirklich  der  moderne  Zeitgeist  des  christlichen 
Lebensprincips  auch  auf  dem  Gebiete  der  Mo- 
ral bedarf,  wenn  er  selbst  nicht  den  schlimm- 
sten Verirrungen  verfallen  soll.  Was  der  Verf. 
nach  dieser  Seite  hin  herauszustellen  sich  be- 
müht hat,  nämlich  die  Insutficienz  der  moder- 
nen Weltcultur  ohne  Christenthum,  ist  so  durch- 
aus begründet  und  trifft  so  sehr  die  tiefsten 
Bedürfnisse  unserer  Zeit/ dass  es  ein  Schaden 
ernstester  Art  sein  würde,  wenn  es  nicht  be- 
achtet werden  sollte. 

Möge  die  Abhandlung  denn  nicht  nutzlos 
publicirt  worden  sein:  sie  hält  uns  in  nüchtern 
Klarer  Weise  die  nöthigen  Zielpunkte  unseres 
Strebens  vor  Augen. 


F.  Brandes. 


225 


CSSttingische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  8.  25.  Februar  1874. 


Die  preus8ische  Expedition  nach  Ost-Asien. 
Nach  amtlichen  Quellen.  III.  Band.  Mit  einer 
Karte.  Berlin  1873.  Verlag  der  königl.  ge*, 
heimen  Ober-Hofbuchdruckerei.  (ß.  v.  Decker). 

Der  zweite  Theil  des  officiellen  Werkes  über 
die  preussische  Expedition  nach  Ost- Asien  er- 
schien im  Jahre  1866  und  wurde  im  30.  Stück 
der  G.  G.  A.  vom  4.  Juli  1867  Seite  1161 — 
1173  aDgezeigt.  Erst  im  Jahre  1873  trat  in 
dem  oben  genannten  Buche  der  dritte  Band  des 
genannten  Werkes  an’s  Licht.  Diese  bedeutende 
Verzögerung  wird  in  der  Vorrede  durch  den 
Umstand  erklärt,  dass  nicht  nur  die  künstle- 
rische, sondern,  auch  die  schriftstellerische  Ar- 
beit bei  dem  ganzen  Unternehmen , welches 
ausser  dem  hier  vorliegenden  Oktav-Bande  von 
454  Seiten  auch  noch  ein»  grosses  Folio-Pracht-' 
werk:  »Ansichten  aus  Japan,  China  und  Siam« 
umfasst,  einer  und  derselben  Person,  Herrn  A. 
Berg,  übertragen  wurde.  Für  das  grosse  Pracht- 
werk hatte  derselbe  60  grosse  Blätter  und  für. 
das  vorliegende  Oktav- Werk  48  kleinere  Blätter 

15 


/ 


226»  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  8. 

herzustellen.  Auch  diese  letzteren  48  sind  die- 
sem dritten  Bande,  zu  welchem  sie  gehören, 
noch  nicht  beigefügt.  Sie  sollen  erst  mit  dem 
vierten  Bande,  der  das  ganze  Werk  abschliessen 
wird,  nachfolgen. 

Der  frühere  zweite  Band  des  Werks  schloss 
mit  allgemeinen  Betrachtungen  über  Japan  und 
mit  der  Schilderung  der  Ankunft  der  preussi- 
schen  Schiffe  Arkona  und  Thetis  in  der  Mün- 
dung des  Yaotsekiang. , Der  vorliegende  Band 
beschäftigt  sich  bloss  mit  China.  Er  besteht 
in  der  Hauptsache  aus  einer  umständlichen  hi- 
storischen Abhandlung  ȟber  die  Beziehungen 
China’s  zum  Westen  bis  1860«  (S.  1 — 375)  und 
dann . aus  einem  kurzen  »Reiseberichte«  über 
den  Aufenthalt  der  Preussen  in  Shang-hae  und 
ihre  Abfahrt  vom  Yantsekiang  nach  dem 
Süden. 

Die  grosse  historische  Schilderung  des  Ver- 
kehrs der  Europäer  in  China  behandelt  zuerst, 
die  älteren  Berührungen  und  Handelsbeziehun- 
gen der  Europäer  mit  China  bis  zum  Erlöschen 
des  Monopols  der  Englisch-Ostindischen  Com- 
pagnie (1834),  dann  die  Geschichte  des  Opium- 
handelsund des  Opium-Krieges  (bis  1842),  ferner 
den  Lorcha-Krieg  (bis  1858)  und  endlich  den 
englisch -französischen  Feldzug  gegen  Peking 
(1860).  Auch  sind  zwischendurch  der  Geschichte 
der  chinesischen  Rebellion  oder  »der  Tae-ping- 
Bewegung«  zwei  umständliche  Capitel  gewidmet. 

Das  Material  zu  diesen  Darstellungen  ist 
durchweg  »aus  zuverlässigen  Quellen  geschöpft«. 
Für  die  letzten  ereignisreichen  20  Jahre  boten 
die  in  den  Archiven  von  Kanton,  Peking  etc. 
erbeuteten  chinesischen  Dokumente,  die  der 
Verfasser  in  den  von  den  Engländern  entworfe- 
nen Uebersetzungen  benutzte,  ein  reiches  Ma- 


D.  preussische  Expedition  n.  Ost- Asien.  3.Bd.  227 

terial  dar.  Für  die  chinesische  Bebellion  »hielt' 
sich  der  Verfasser  an  die  zuverlässigen  engli-. 
sehen  Berichte  und  Werke  von  Meadows, 
Lindesay-Brine  und  Andrew  Wilson«,  nament- 
lich an  die  von  Herrn  Meadows,  den  er  wieder- 
holt als  den  besten  Kenner  Chinas  bezeichnet. 

Der  Verf.  widmet  dem  chinesischen  Verkehr 
jedes  europäischen  Volks  einen  kleinen  Ab- 
schnitt und  führt  sie  der  Reihe  nach  so  auf, 
wie  sie  in  der  Zeitfolge  in  China  auftraten,  zu- 
erst die  Italiener,  dann  die  Portugiesen  und 
Spanier,  die  Engländer  und  zuletzt  die  Russen 
und  Deutschen,  welche  letzteren  dort  erst  in 
diesem  19.  Jahrhundert  wichtig  wurden.  Er 
schildert  die  Art  und  Weise  des  Handelsbetriebs 
in  verschiedenen  Zeiten,  die  von  den  Chinesen 
beliebten  Beschränkungen,  welche  aus  den  eigen- 
tümlichen politischen  Anschauungen  der  Chinesen 
von  der  Bedeutung  und  Stellung  ihres  Landes, 
»des  Reichs  der  Mitte  der  ganzen  Welt«  hervor- 
gingen, — die  verschiedenen  berühmt  geworde- 
nen europäischen  Gesandtschaften  und  Unter- 
handlungen zur  Beseitigung  oder  Erweiterung 
dieser  Beschränkungen , das  Institut  der  privi- 
legirten  sogenannten  Hong-Kaufleute,  den  durch 
die  Beschränkungen  hervorgerufenen  Schleich- 
handel, namentlich  den  mit  Opium.  Den  Opium- 
handel und  den  durch  ihü  yeranlassten  berüch- 
tigten Opium-Krieg  behandelt  der  Verf.  auf  bei- 
nahe 100  Seiten  besonders  umständlich  bis  zum 
Friedensschluss  von  Nan-king  im  Jahre  1849. 
Dieser  Opium-Krieg  und  die  dem  Kaiser  von 
China  durch  ihn  aufgedrungenen  Friedensbe- 
dingungen erschütterten  die  Autorität  der 
Mandschu-Regierung  in  ihren  Grundfesten.  Der 
Verfasser  weist  aus  chinesischen  Dokumenten 
nach,  wie  die  »Reichs-Censoren«,  (Staatsdiener 

lb* 


228  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

vom  höchsten  Bange,  die  durch  ihr  Amt  dazu 
verpflichtet  sind,  die  öflentlichen  Handlungen 
der  Regierung  zu  kritisiren),  den  Kaiser  heftig, 
tadelten,  wie  auch  im  Innern  des  grossen  stol- 
zen Reichs  Niemand  begreifen  konnte,  dass 
ohne  Verrätherei  der  Regierungsbeamten  ein 
Häuflein  fremder  Barbaren  (der  Engländer)  den 
strahlenden  Himmelssohn  habe  bezwingen  kön- 
nen, wie  damals  ein  Schrei  der  Entrüstung 
hierüber  durch  alle  Provinzen  Chinas  ertönte, 
wie  das  chinesische  Volk  zugleich  in  Folge  des 
Opium-Krieges  die  Schwäche  der  Herrschaft 
der  Mandschu- Tataren  erkannte,  und  wie  so 
durch  diesen  Krieg  mittelbar  die  sogenannte 
Tae  ping-Bewegung  herbeigeführt  wurde,  welche 
fünfzehn  Jahre  lang  den  Kaiserthron  bedrohte 
und  über  den  grössten  Theil  des  Reichs  unsäg- 
liches Elend  und  wilde  Zerstörung  brachte. 

Die  Geschichte  dieser  furchtbaren  Rebellion 
verfolgt  der  Verfasser  immer  an  der  Hand  jener 
chinesischen  Dokumente  und  englischen  Bericht- 
erstatter von  ihren  ersten  Quellen  und  Anläs- 
sen und  steigt  dabei  in  die  Zeiten  der  Erobe- 
rung China’s  durch  die  Mandschu  hinauf,  indem 
er  die  Eigenthümlichkeiten  des  von  diesen  Ta- 
taren tbeils  überkommenen,  theils  reformirten 
Regiments  schildert,  Eigenthümlichkeiten , die 
ganz  mit  den  Anschauungen  und  Gewohnheiten 
des  chinesischen  ' Volks  verwachsen  waren,  und 
die  ohne  das  Volk  zu  empören  nicht  so  rauh 
aDgetastet  werden  durften,  wie  dies  durch  einige 
verkehrte  Massregeln  der  letzten  chinesischen 
Kaiser,  namentlich  des  vorletzten  Kaisers  Tau- 
kwang  (1820—1850)  geschah. 

Als  eine  der  verkehrtesten  und  unheilvoll-  * 
sten  Verordnungen  dieses  Kaisers  Taukwang 
hebt  der  Verfasser  die  hervor,  durch  welche  er 


D.  preussische  Expedition  n.  Ost- Asien.  3.Bd.  229 

den  Stellenverkauf  sanctionirte.  Seit  den  ältesten 
Zeiten  waren  die  Beamtenstellen  in  China  nur 
den  gebildeten  nnd  gelehrten  Unterthanen  durch 
Bestehung  eines  rigorosen  Examens  erreichbar 
gewesen.  Da  nun  aber  der  kostspielige  Opium- 
Krieg  die  Finanzen  zerrüttete  — 27  Millionen 
Dollars  mussten  den  Engländern  bezahlt  wer- 
den und  noch  viel  grössere  Summen  verschlan- 
gen die  Rüstungen  und  Unterschleife  — so  ver- 
fiel der  besagte  Kaiser,  um  sieh  Geld  zu  ver- 
schaffen, auf  jenes  revolutionäre  Mittel  des 
Stellenverkaufs.  Neben  der  tiefen  Wunde,  wel- 
che diese  Neuerung  der  gesammten  Classe  der 
Studierten  schlug,  erzeugte  sie  als  nächste  Folge 
auch  eine  schwere  Bedrückung  des  Volks,  an 
welchem  der  durch  Geld  zu  Amt  und  Würden 
gelangte  Mandarin  sich  durch  Erpressungen 
schadlos  hielt.  — Für  die  gesitteten  Chinesen 
verlor  das  käufliche  Amt  jeden  Nimbus  der 
Autorität.  Die  besseren  Volkskiaasen  verachte- 
ten den  neuen  Beamtenstand.  Die  Regierung 
musste  an  Ansehen  einbüssen,  was  sie  an  Geld 
gewann.  Verdiente  Männer,  welche  ihre  Aemter 
d$r  eigenen  Arbeit,  Wissenchschaft  und  Redlich- 
keit verdankten,  wurden  ungerecht  daraus  ver- 
stossen.  Als  die  Käuflichkeit  der  Stellen  auf- 
kam, drängte  sich  eine  Ueberzahl  von  Candi- 
daten  herzu.  Die  Regierung  nahm  das  Geld 
derselben,  konnte  aber  doch  auch  diese  Drän- 
ger nicht  befriedigen.  Denn  die  Anwartschaft 
auf  ein  Amt,  die  sie  ihnen  dafür  gegeben  hatte, 
konnte  sie  kaum  in  zehn  Jahren  realisiren,  und 
musste,  um  dies  zu  thun,  um  Platz  für  die  Un- 
geduldigen zu  schaffen,  hochverdiente  Beamte 
% unter  nichtigen  Vorwänden  entlassen. 

Eben  so  tief  wie  durch  den  Stellenhandel 
wurde  das  chinesische  Volksgefühl  durch  die 


230  Gott.  ge!.  Anz.  1874.  Stück  8. 


von  demselben  Kaiser  Taü-kwang  eingeführten 
Geldstrafen  verletzt.  Der  alte  dem  Volke  allge- 
mein  bekannte  und  gewohnte  chinesische  Criminal- 
Codex  war  zwar  hart,  drohte  mit  grausamen 
Leibeä-,  Freiheits-  und  Todesstrafen.  Aber  er 
wurde  doch  vom  Volke  verehrt,  weil  er  unparteiisch 
war  und  Alle,  Reiche  wie  Arme,  vor  dem  Ge- 
setz gleich  machte.  Einige  frühere  Mandschu- 
Kaiser  hatten  schon  hie  und  da  etwas  an  die« 
sem  2000  Jahre  alten  Codex  geändert.  Aber 
Tau-kwang’s  Geldnoth  war  so  gross,  dass  er 
gebot,  fortan  sollten  alle  Strafen  abgekauft  wer- 
den können.  Durch  diese  Neuerung  regte  er 
die  Armen,  die  Masse  der  Nation,  gewaltig  auf, 
und  da  dem  Volke  nun  noch,  wie  gesagt,  durch 
die  Siege  der  Engländer  im  Opiumkriege  die 
Hinfälligkeit  der  militärischen  Einrichtungen 
ihrer  Kaiser  offenbar  wurde,  so  war  eine  allge- 
meine Empörung  des  Volkes  gegen  die  revolu- 
tionäre und  doch  schwache  Mandschu-Regierung 
im  Namen  ihrer  alten  chinesischen  Institutionen 
eine  sehr  natürliche  Folge. 

Der  Ausbruch  des  Aufstandes  wurde  jedoch 
zunächst  noch  durch  andere  Impulse,  durch  re- 
ligiösen Gährungsstoff  veranlasst  und  gefördert. 
Ein  chinesischer  Schulmeister  Hung-siu-tsuen 
war  mit  christlichen  Missionären  in  Berührung 
gekommen,  hatte  von  diesen  eine  Sammlung  von 
Aufsätzen  mit  dem  Titel:  »Gute  Worte  zur  Er- 
mahnung des  Zeitalters«  erhalten,  welches  einige 
Capital  aus  den  heiligen  Büchern  der  Christen 
und  Betrachtungen  über  dieselben  enthielt.  Er 
war  dadurch  mit  Eifer  für  die  christliche  Reli- 
gion oder  doch  für  einige  Grundsätze  derselben 
entzündet  worden,  die  er  als  wahrhaft  volks-  * 
freundliche  Ansichten  proklamirte,  und  die  bei 
der  bedrängten  und  aufgeregten  Mehrheit  der 


D.preussischeExpöditionn.  Ost-Asien.  3.Bd.  231 

chinesischen  Bevölkerung  bald  populär  werden 
mussten. 

Der  Verfasser  giebt  uns  die  Geschichte  die- 
ses merkwürdigen  Schulmeisters  von  seiner  Ge- 
burt an,  seine  Erziehung,  sein  Missgeschick  mit 
der  chinesischen  Regierung,  bei  der  er  verge- 
bens eine  Anstellung  nachsuchte,  seinen  Verkehr 
mit  den  Christen,  sein  Zusammentreffen  mit  den 
Bauern  und  Hirten  seines  Dorfes,  denen  er  auf 
ihren  Weideplätzen  Abschnitte  aus  dem  Alten 
und  Neuen  Testamente  der  Christen  vorlas, 
und  die  seinen  Lehren  mit  Spannung  horchten. 
Die  Gemeinde  von  »Gottesverehrern«,  welche 
Hung-siu-tsuen  und  sein  Jünger  Fung-yun-san, 
auch  ein  Dorfschulmeister,  in  der  Provinz 
Kuang-si  stifteten,  wurde  einer  der  vornehmsten 
Kerne  der  grossen  politischen  Bewegung,  welche 
über  ganz  China  wie  ein  gewaltiger  Orkan  da- 
hin wirbelte. 

Der  Verfasser  hat  sein  Mögliches  gethan, 
uns  ein  übersichtliches  Bild  von  den  Wirren  und 
Verwüstungen,  die  dieser  Orkan  während  seiner 
langen  Dauer  anrichtete,  von  den  verschiedenen 
andern  Unruhen  und  Revolten,  welche  ihn  be- 
gleiteten und  verstärkten,  von  den  verschiede- 
nen Mittelpunkten,  in  denen  er  sich  festsetzte, 
und  um  die  er  wirbelte,  namentlich  von  dem 
längere  Zeit  dauernden  Regimente  der  Rebellen 
in  Nan-king,  so  wie  von  ihren  von  diesem  ihrem 
Centrallager  aus  unternommenen  Kriegsopera- 
tionen und  ihren  Kämpfen  mit  den  kaiserlichen 
Feldherren  zu  geben.  Er  schildert  die  anfäng- 
lich nicht  sehr  tadelnswerthen  Absichten  und 
den  mehr  oder  weniger  gerechtfertigten  that- 
kräftigen  Widerstand  der  Aufständischen  und 
darnach  ihre  allmähliche  Ausartung.  Er  zeigt, 
wie  nach  und  nach  ihre  dem  Christenthum  zum 


232  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

Theil  entlehnten  Lehren  in  dem  Gehirn  der 
Schwärmer  sich  zu  grobem  und  sinnlichem  Aber- 
glauben verzerrten,  die  von  Vielen  gehofite  Be- 
kehrung des  chinesischen  Volkes  zum  Christen- 
thum gänzlich  vereitelt  wurde,  wie  die  Führer 
der  Rebellen  in  Nan-king,  ähnlich  wie  einst  in 
Deutschland  in  Münster  die  Anführer  der  Wie- 
dertäufer, in  wahnwitzige  Selbstvergötterung  ver- 
sanken und  ihre  Heere  sich  zu  wilden  Räuber- 
banden auflösten,  wie  alsdann  ihre  endliche  Be- 
siegung im  Jahre  1864  mit  Hülfe  der  Englän- 
der und  Franzosen  erfolgte  und  hinterdrein 
furchtbare  Blutgerichte  über  sie  ergingen. 

Eine  eben  so  umständliche  Darstellung  und 
Beleuchtung,  wie  der  Taeping-Bewegung  giebt 
der  Verfasser  (auf  S.  285—375)  dem  diese  be- 
gleitenden englisch-jfranzösischen  Feldzuge  gegen 
Peking  im  Jahre  1860,  der  in  vieler  Beziehung 
interessant  war,  für  die  Freunde  der  Wissen- 
schaft und  Kunst  aber  in  keiner  Hinsicht  denk- 
würdiger und  zugleich  beklagenswerter  gewor- 
den ist,  als  durch  die  von  den  Befehlshabern 
der  Truppen  der  beiden  gebildetsten  Völker 
Europa’s  angeordnete  und  ausgeführte  barbari- 
sche Zerstörung  und  Plünderung  des  grossen 
kaiserlichen  Sommerpalastes  Yuang-ming-yuang 
unweit  Peking,  seiner  grossartigen  Kunstschätze 
und  reichen  Bibliothek,  welche  unheilvolle  Hand- 
lung in  einem  Blatte  wie  die  G.  G.  A.  noch 
ein  Mal  wieder  besonders  hervorgehoben  zu 
werden  verdient.  »Diese  Bibliothek«,  sagt  un- 
ser Verfasser  (S.  366 — 367),  »war  die  reichste 
und  berühmteste  Büchersammlung  von  ganz 
Asien.  Sie  soll  den  grössten  Schatz,  ungedruck- 
ter Manuscripte  und  viele  Unica  enthalten  ha- 
ben, welche  nicht  bloss  für  die  Geschichte  von 
China,  sondern  auch  für  die  des  ganzen  Welt- 


D.  preossiflche  Expedition  n.  Ost- Aaien.  S.Bd.  288 

theili  wichtig  sind  und  deren  Verlust  für  die 
Wissenschaften  unersetzlich  ist«.  — »Der  Chi- 
nese redet  von  dem  Verluste  dieser  Schätze, 
etwa  wie  bei  uns  von  der  Zerstörung  des  Vati- 
cans  geredet  werden  würde.  Die  Verbrennung 
dieser  Bibliothek  hat  die  Europäer  in  den  Au- 
gen jedes  gebildeten  Chinesen  zu  rohen  Barba« 
ren  gestempelt«.  Zwei  Tage  lang  wütheten  die 
Flammen  in  den  Büchern  und  Kunstschäteen 
tou  Yuang-ming  yuang  und  ein  leichter  Wind 
blies  den  Rauch  und  die  glimmenden  Funken 
ober  die  Hauptstadt,  deren  Häuser  und  Strassen 
sich  mit  der  feinen  Asche  der  Schriften  be- 
deckte. Dies  traurige  Capitel  schliesst  der  Verf. 
mit  einer  Angabe  über  die  Bedingungen  des 
den  grausamen  Krieg  beendigenden  Friedens 
von  Peking  und  über  die  Räumung  dieser 
Stadt  von  Seiten  der  Engländer  und  Franzosen 
(Oct.  1 860). 

Das  Schluss-Capitel  des  ganzes  Bandes,  der 
»Reisebericht  über  Shang-hae«  enthält  dann 
noch  manche  interessante  und  mehr  oder  weni- 
ger neue  Bemerkungen  über  die  grossartigen 
reichen  und  luxuriösen  europäischen  Colonien 
in  dieser  Stadt,  die  Art  ihres  Handels  und  ihre 
Sitten  und  Zustände,  so  wie  auch  noch  einige 
recapituürende  Bemerkungen  über  die  Chinesen 
selbst,  von  denen  der  Verfasser  wiederholt  die 
Ansicht  äussert,  dass  »ihre  Gesittung  alters- 
schwach, verknöchert  und  ohne  treibende  Kraft 
sei«,  indem  er  aber  dabei  doch,  wie  er  sagt, 
»weit  entfernt  ist,  solchen  Kennern  der  Chine- 
sen, wie  es  der  Engländer  Meadows  ist,  welche 
mit  Bewunderung  von  den  sittlichen  Eigenschaf- 
ten dieses  Volkes  reden,  geradezu  widersprechen 
zu  wollen«.  »Allerdings«,  sagt  er,  »muss  eine 
Cnltur,  die  ein  so  ungeheures  Volk  zusammen- 


234  ' Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

kittet,  m solcher  Höbe  der  Bildung  und  des 
bürgerlichen  Lebens  erhoben  hat,  in  welcher 
zum  grössten  Theile  das  Bewusstsein  des  sitt- 
lichen Gesetzes,  Recht  und  Ordnung,  den  Staat 
und  die  Familie  erhält  und  sichert,  auf  be- 
wundernswürdig fester  Grundlage  ruhen.  Aber 
dem  Eindruck  kann  sich  doch  kein  Unbefange- 
ner entziehen , dass  der  heutige  Chinese  etwas 
Fertiges,  Selbstgeniigsames,  ja  Abgelebtes  und 
Würdeloses  hat  und  dass  seine  Gesittung  jetzt 
nicht  mehr  schöpferisch  wirkt«  (S.  385 — 386). 
— »Nichts  desto  weniger  kann,  seitdem  die 
Tae-ping  vom  Erdboden  verschwunden  sind  und 
die  Auflösung  China’s  nicht  eingetreten  ist,  doch 
der  abgelebte  Stamm  an  Asiens  äusserstem  Ende, 
eben  so  wie  »der  kranke  Mann«  an  Europa’s 
Gränze  auch  ohne  Blüthen  zu  treiben,  aber 
auch  ohne  zu  verdorren  immer  noch  weiter  ve- 
getiren.  Ein  * siecher  Körper  lebt  oft  eben  so 
lange  wie  ein  gesunder«  (S.  400 — 401). 

Bremen.  J.  G.  Kohl. 


Hirsche,  Karl:  Prologomena  zu  einer 

neuen  Ausgabe  der  .Imitatio  Christi  nach  dem 
Autograph  des  Thomas  von  Kempen.  Zugleich 
eine  Einführung  in  sämmtliche  Schriften  des 
Thomas,  sowie  ein  Versuch  zu  endgültiger  Fest- 
stellung der  Thatsache,  dass  Thomas  und  kein 
Anderer  der  Verfasser  der  Imitatio  ist.  Erster 
Band.  Berlin,  1873.  C.  G.  Lüderitz’sche  Ver- 
lagsbuchhandlung, Carl  Habel.  XL1II  und  522 
Seiten  gr.  8. 

Der  Verf.  will  eine  neue  Ausgabe  der  Imi- 


Hirsche,  Prolog,  z.  e.  n.  Ausg.  d.  Imitatio  Ghr.  238 

tstio  Christi  veranstalten  und  die  vorliegende 
Arbeit  soll  ein  Vorläufer  dieses  Unternehmens 
sein.  Daher  ist  es  denn  auch  zunächst  das  Be« 
muhen,  das  Erforderniss  einer  neuen  Ausgabe 
nachzuweisen,  und  zwar  aus  den  Mängeln  der 
bisherigen,  wie  sie  seit  der  von  dem  Jesuiten 
Sommalius  (1600)  veranstalteten  Gesammtaus* 
gäbe  der  Werke  des  Thomas  von  Kempen  er* 
schienen  sind.  Der  Verf.  ist  ein  grosser  Ver- 
ehrer dieses  nächst  der  Bibel  am  weitesten  ver- 
breiteten und  am  meisten  gelesenen  Erbauungs* 
buchs  und  hat  dasselbe  seit  langen  Jahren  zum 
Gegenstände  eines  eingehenden  Studiums  ge- 
macht, after  da  denn  auch  bald  entdeckt  und 
immer  mehr  bestätigt  gefunden,  dass  der  von 
Sommalius  eingeführte  Text  der  Imitatio  im 
höchsten  Grade  verderbt  sei.  Schon  die  herge- 
brachte Eintheilung  in  Kapitel  und  Verse  hat 
sich  dem  Verf.  als  eine  durchaus  verfehlte  mehr 
und  mehr  herausgestelit,  und  was  er  ganz  be- 
sonders zu  entdecken  meinte,  das  war,  dass  wir 
es  in  der  Imitatio  mit  einem  poetischen,  sich  in 
Rhythmen  und  Reimen  bewegenden  Werke  zu 
thun  hätten,  eine  Entdeckung,  die  ihm  dann  zur 
Gewissheit  wurde,  als  er  das  von  der  Hand  des 
Thomas  geschriebene  Exemplar  des  Buches,  wel- 
ches  die  Bibliothek  zu  Brüssel  aufbewahrt, 
näher  einsah  und  untersuchte.  Hier  fand  er 
nämlich  eine  eigene,  auch  in  anderen  Hand- 
schriften des  Thomas  vorkommende  Interpunc- 
tion  mit  grosser  Sorgfalt  und  Genauigkeit  chirch- 
gefübrt,  die  freilich  von  Sommalius  und  dessen 
Nachfolgern  ganz  und  gar  nicht  beachtet  wor- 
den war,  die  aber,  genau  in  Betracht  gezogen, 
ganz  und  gar  nur  eine  Bestätigung  der  Vermu- 
thung  des  Verf.  gab,  dass  hier  ein  Rhythmus  und 
ein  Wechsel  von  Reimen  vorliege,  wie  derselbe 


236  Gott»  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 


auch  sonst  bei  Thomas  nicht  ungewöhnlich  ist. 
Der  Verf.  hatte  die  Freude,  zu  sehen,  wie  die 
Interpunction  von  der  Hand  des  Thomas  mit 
der  Art , wie  er  selbst  bereits  die  Sätze  und  Ab- 
schnitte des  Buches  sich  neu  construirt  hatte, 
ziemlich  genau  zusammenstimmte  und  wie  das 
Buch,  nach  der  Anweisung  gelesen,  wie  die 
Interpunction  des  Thoraas-Autographs  sie  an 
die  Hand  gab,  ein  eigenthüraliches,  bisher  nicht 
erkanntes  Leben  gewann,  eine  harmonische  Be- 
wegung, welche  die  Schönheit  des  Werkes  erst 
recht  und  in  ungeahnter  Weise*  hervortreten 
liess.  Aber  eben  diese  Entdeckung  schien  ihm 
nun  auch  Aufschluss  über  den  eigentlichen  Ver- 
fasser der  Imitatio  zu  geben,  nämlich  den,  dass 
es  wirklich  kein  Anderer,  als  Thomas  von  Kem- 
pen, der  Schreiber  jenes  brüsseler  Exemplars 
selbst  sei,  nicht  aber,  wie  namentlich  französi- 
scher Seits  behauptet  worden  ist,  der  Kanzler 
% Gereon;  eben  der  Umstand,  dass  die  in  dem 
Thomas- Autograph  angewandte  Interpunction  der 
Schrift  erst  ihr  eigentliches  Leben  gebe  und 
dass  diese  Interpunction  sonst  nirgends,  als  in 
diesem  Exemplar  und  in  anderen  von  Thomas 
oder  doch  aus  seinem  Kreise  stammenden 
Schriften  sich  vorfände,  schien  diese  Annahme 
durchaus  zu  bestätigen;  und  um  die  hier  ob* 
waltenden  Verhältnisse  vollends  klar  zu  stellen, 
hat  der  Verf.  die  ganze  Thomasliteratur  einem 
Studium  in  so  eingehender  Art  unterworfen,  dasf 
der  Fleiss  des  Verf.  in  der  That  unsere  Bewun- 
derung erregt  und  wir  jetzt  erst  von  einer  ge- 
sicherten literarischen  Grundlage  reden  können, 
wie  dieselbe  nöthig  ist,  um  die  die  Imitatio  be* 
treffenden  Streitfragen  zu  entscheiden,  ja,  dass 
überhaupt  auf  das  Schriftthum  aus  dem  16. 
Jahrhundert,  besonders  wie  es  im  Kreise  des 


Hirsche,  Prolog,  z.  e.  n.  Ausg.  i.  Imitatio  Chr.  237 

Thomas,  im  Kreise  der  Bruder  des  gemeinsamen 
Lebens  gepflegt  wurde,  ein  neues  Licht  fällt 
und  dass  namentlich  auch  die  übrigen  Schriften 
des  Thomas  in  der  eingehendsten  und  aufheilend- 
sten Weise  beleuchtet  werden. 

Zuvörderst  theilt  uns  der  Verf.  eine  Reihe 
von  Proben  mit,  wie  nach  der  Interpunction  des 
Thomas-Autographs  die  ursprüngliche  Gestalt 
des  Textes  sich  ergiebt  und  zwar  Proben  aus 
vier  Büchern  der  Imitatio  in  aller  wünschens- 
werten Ausführlichkeit.  Aber  was  sich  aus 
ihnen  allen  ergiebt,  das  ist  denn  in  der  That 
die  Ueberzeugung,  nicht  nur  dass  wir  es  seit 
Sommalius  wirklich  mit  einem  in  Verwirrung  ge- 
ratenen Texte  zu  thun  gehabt  haben  und  der 
eben  deshalb  in  diese  Verwirrung  geraten  ist, 
weil  Sommalius  auf  die  Interpunction  der  Tho- 
mas-Handschrift ganz  und  gar  nicht  geachtet 
bat,  sondern  in  dieser  Beziehung  lediglich  nach 
seinem  eigenen  oft  sehr  unbegründeten  Ermes- 
sen verfahren  ist,  sondern  auch,  dass  der  von 
dem  Verf.  vermutete  Rhythmus  und  Reim  in 
Wahrheit  rorliegt.  Allerdings  bekennt  Ref., 
dass  ihm  der  Verf.,  was  den  Reim  betrifft,  hier 
und  da  zu  weit  zu  gehen  scheint.  Die  blosse 
Gleichheit  des  Endconsonanten,  z.  B.  eines  »s« 
am  Ende  der  Silbe,  bildet  noch  keinen  Reim, 
dazu  dürfte  unter  allen  Umständen  doch  der 
Gleichklang  des  Vokals  und  zwar  auch  nicht 
des  Vokals  in  einer  tonlosen  Endsilbe,  sondern 
in*  derjenigen  Silbe  des  Endwortes  gehören,  auf 
welche  der  letzte  Ton  fällt.  Aber  wenn  denn 
auch  eine  Anzahl  von  den  vom  Verf.  als  solche 
angegebenen  Reimen  abgesetzfc  werden  muss, 
als  zum  wenigsten  unsicher  und  zweifelhaft,  so 
bleibt  doch  eine  so  grosse  Anzahl  übrig,  dass 
an  der  Absicht  des  Verfassers  der  Imitatio,  in 


238  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8, 

Reimen  zn  reden,  nicht  gezweifelt  werden  kann/ 
zumal  auch  der  sonstige  Bau  der  Rede  darauf 
führt  und  es  an  manchen  Stellen  sogar  ersicht- 
lich ist,  wie  eine  sonst  ungewöhnliche  Wortstel- 
lung zu  Gunsten  des  Reimes  gewählt  worden 
ist.  Und  eben  so  verhält  es  sich  mit  dem 
Rhythmus.  Nicht  zwar  hat  sich  der  Autor  lin- 
gers Erbauungsbuches  jener  strengen  Gebunden- 
heit befleissigt,  wie  sie  genau  nach  metrischen 
Gesetzen  gebaute  Verse  uns  zeigen:  der  Rhyth- 
mus, der  hier  vorliegt,  ist  ein  sich  freier  er- 
gehender, wie  auch  sonst  die  Schriften  des  Tho- 
mas ihn  zeigen,  aber  doch  auch  kein  bloss  ora- 
torischer,  sondern  ein  poetischer,  und  bei  dem 
doch  immer  auch  ein  Metrum,  nämlich  das  tro- 
chäische,  durchklingt;  und  wenn  es  auch  ganze 
Stellen  in  dem  Buche  giebt,  wo  es  wenigstens 
schwer  fällt , den  beabsichtigten  Rhythmus 
heraus  zu  finden,  so  doch  auch  wieder  genug 
andre,  wo  er  ganz  augenscheinlich  und  zwar  als 
in  der  Absicht  des  Autors  liegend  sich  geltend 
macht.  Aber  dies  Alles  führt  nun  doch  wenig- 
stens auf  einen  Autor  in  dem  Kreise  des  Tho- 
mas, und  kaum  auf  einen  anderen,  als  ihn 
selbst,  da  die  eigenthümliche  Behandlung  des 
Reinis  und  Rhythmus,  wie  sie  hier  vorliegt, 
wohl  auch  in  anderen  anerkannt  ächten  «Schrif- 
ten des  Thomas  sich  findet,  sonst  aber  doch 
eigentlich  in  der  ganzen  lateinischen  Literatur 
des  Mittelalters  ohne  Beispiel  ist.  Es  findet 
sich,  so  zeigt  es  der  Verf.  in  eingehendster 
Weise,  mit  Ausnahme  des  Thomas  von  Kempen 
kein  Schriftsteller  in  der  lateinischen  Literatur 
des  Mittelalters,  der  »durch  poetisch-rhythmische 
Gestaltung  der  Darstellung,  durch  immer  wie- 
der sich  erneuernde  Durchbrechung  des  gewöhn- 
lichen und  oratorischen  Prosa-Stils  mit  den 


Hirsche,  Prolog«  z.  e.  n.  Ausg«  d.  Imitatio  Ohr.  239: 

schwingenden  Rhythmen  der  Poesie  dem  Ver- 
fasser der  Imitatio  sich  näher  verwandt  zeigte, 
und  namentlich  von  dem  Kanzler  Gereon  muss 
gesagt  werden,  dass  seine  zahlreichen  Werke* 
ein  von  der  Imitatio  und  ihrem  poetischen  An- 
hauch durchaus  verschiedenes  Gepräge  zeigen, 
so  dass  denn  bei  der  Frage,  welchem  von  bei- 
den die  Autorschaft  unsers  Buches  zuzoschreiben 
sei,  die  Entscheidung  sich  jedenfalls  auf  die 
Seite  des  Thomas  neigen  muss.  Wenn  unter 
den  uns  bekannten  Schriftstellern  des  15.  Jahr- 
hunderts einer  die  Imitatio  geschrieben  hat,  so 
ist  es  Thomas,  der  die  meiste  Anwartschaft 
darauf  hat,  als  Verfasser  anerkannt  zu  werden, 
und  dem  widerspricht  auch  nicht,  dass  er  sich 
in  dem  von  ihm  geschriebenen  Exemplar  nicht 
geradezu  als  Verfasser  nennt.  Thomas  bat  sich 
nur  mit  einem  »scripsit«,  nicht  aber  mit  einem 
»compilavit«  unterzeichnet,  und  das  erste  be- 
deutet denn  freilich  nur  den  Abschreiber;  aber 
auch  in  anerkannt  ächten  Werken  des  Thomas 
unterzeichnet  er  sein  Autograph  nur  mit  der 
zuerst  genannten  Formel,  und  unser  Verf.  zeigt 
uns  auch,  mit  welchem  Grundsätze  des  Thomas 
und  seines  Ordens  dies  zusammenhängt,  nämlich 
mit  dem,  überhaupt  die  eigene  PersoiT  im  Ver- 
borgenen zu  lassen  und  keinen  persönlichen 
Ruhm  zu  suchen,  und  so  würde  denn  das  Feh- 
len des  »compilavit«  unter  dem  brüsseler  Auto- 
graph ohne  alle  Bedeutung  sein  und  keineswegs 
gegen  die  Autorschaft  des  Thomas  angewandt 
werden  können.  — 

So  hängt  die  Entscheidung  über  die  Autor- 
schaft des  Thomas  denn  nun  zum  grossen  Theile 
an  der  Uebereinstimmung  der  Imitatio  hinsicht- 
lich der  erwähnten  inneren  Merkmale  mit  den 
sonst  lür  äclit  gehaltenen  Werken  des  Thomas, . 


240  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  8. 

aber  eben  deshalb  ist  es  nun  nöthig,  diese 
Ueberein8timmung  näher  festzustellen  und  des* 
halb  vor  allen  Dingen  nun  weiter  die  Frage  zu 
erledigen,  welche  unter  den  dem  Thomas  zuge- 
schriebenen Werken  denn  wirklich  als  ächte  Er- 
zeugnisse seines  Geistes  zu  betrachten  seien. 
Es  ist  dies  ganz  besonders  deshalb  nöthig,  weil 
auch  gegen  manche  der  übrigen  hierhergehöri- 
gen Schriften  und  zwar  gegen  solche,  auf  die 
es  bei  der  gesuchten  Entscheidung  hauptsächlich 
ankommt,  da  sie  die  oben  genannten  Merk- 
male zeigen,  von  verschiedenen  Seiten  Beden- 
ken hinsichtlich  der  Autorschaft  des  Thomas 
erhoben  worden  sind.  Und  eben  deshalb  geht 
der  Verf.  denn  nun  zunächst  weiter  dazu  fort, 
diese  Bedenken  zu  würdigen  und  zu  zeigen, 
Was  sie  werth  sind,  nämlich  dass  sie  in  Be- 
ziehung auf  die  Mehrzahl  gerade  der  für  den 
vorliegenden  Zweck  wichtigsten  Schriften  ganz 
und  gar  ohne  Bedeutung  sind  und  die  Verfasser- 
schaft des  Thomas  nicht  zu  erschüttern  vermö- 
gen. Nachdem  er  zuvörderst  die  bisher  als  von 
Thomas  herrührend  bezeichneten  Schriften,  na- 
mentlich die  der  Sommal’schen  Ausgabe  aufge- 
zählt und  auch  eine  Reihe  anderer  zeitgenössi- 
scher Zeugnisse  für  die  schriftstellerische  Thä- 
tigkeit  des  Thomas  aufgeführt  und  ausführlich 
besprochen  hat,  geht  er  zu  den  Zweifeln  über, 
wie  sie  von  dem  Franzosen  Vert  in  seinen 
»&tude8€  ( 1 856)  und  von  dem  Deutschen  Mooren 
in  seinen  »Nachrichten  über  Thomas  von  Kempis 
(1855)  vorgebracht  sind,  aber  es  wird  da  allerdings 
nicht  schwer,  die  Oberflächlichkeit  und  den  Mangel 
an  aller  Kritik,  womit  die  beiden  Gegner  zu 
Werke  gegangen  sind,  an  das  Licht  zu  bringen. 
Namentlich  auch  von  Mooren  wird*  gezeigt,  dass 
er  eigentlich  ganz  und  gar  nur  grundlose  Ver- 


Hirsche,  Prolog,  z.e.n.  Au  sg.d. ImitatioChr.  241 

mnthungen  aufstellt  und  Dinge  behauptet,  von 
denen  bei  näherer  Betrachtung  geradezu  das 
Gegentheil  wahr  ist  oder  doch  keine  Spur  in 
den  in  Rede  stehenden  Schriften  sich  findet,  so 
dass  man  denn  allerdings  zweifeln  muss,  ob 
Mooren  sich  überhaupt  auch  nur  einigermassen 
eingehend  mit  den  Werken  beschäftigt  habe, 
über  die  er  redet,  und  dass  denn  allerdings 
seine  Einwendungen  eine  Bedeutung  durchaus 
nicht  haben  können.  # Und  in  demselben  Lichte 
des  alleroberflachlichsten  und  eine  völlige  Un- 
kenntniss  verrathenden  Geredes  zeigt  uns  der 
Yerf.  dann  weiterhin  noch  eine  Anzahl  anderer 
Franzosen,  welche  den  Ruhm,  der  Verfasser  der 
Imitatio  zu  sein,  ihrem  Landsmanne  Gerson  und 
damit  ihrer  Nation  vindiciren  möchten.  Diese 
Partie  der  vorliegenden  Arbeit  ist  voll  der 
schärfsten  literarischen  Polemik,  aber  sie  zeigt 
uns  den  Verf.  auch  als  einen  Mann,  der  die 
einscblagende  Literatur,  namentlich  auch  die  er* 
bauliche  Literatur  des  15.  Jahrhunderts  genau 
und  bis  auf  das  Titelchen  studiert  hat,  und 
wenn  auch  einzelne  Partieen  Vorkommen,  die 
wegen  des  nothwendigen  Eingehens  in  die  man* 
nigfaltigsten  Einzelheiten  ermüdend  sind,  so  ist 
es  doch  auch  eine  Freude,  zu  sehen,  wie  auch 
auf  diesem  Gebiete  deutsche  Tüchtigkeit  der 
grundlosen  Eitelkeit  der  Franzosen  gewachsen 
ist.  Besonders  die  Schrift  de  Larroque’s  »Preu- 
ves,  que  Thomas  a Kempis  n’a  pas  compose 
rimitation  (Paris  1862)«  darf  der  Verf.  nicht 
bloss  der  grössten  Unkunde  zeihen,  sondern  er 
zeigt  auch,  wie  sie  in  Wahrheit  »ein  Inbegriff 
der  verwegensten  Leichtfertigkeiten  und  boden- 
losesten Unwahrheiten«  ist,  »die  unter  dem  Vor- 
geben, das  Resultat  der  gewissenhaftesten  und 
unparteiischen  Forschung  darzubieten,  im  Tone 

16 


242  Gott,  gel«  Anz.  1874«  Stück  8; 

hochmüthiger  Verhöhnung  gegen  diejenigen, 
welche  Thomas  für  den  Verfasser  der  lmitatio 
halten,  vorgetragen  werden«,  und  das  Resultat 
der  ganzen  Untersuchung  unseres  Verf.  ist,  dass 
die  Behauptungen  des  Franzosen  geradezu  in 
ihr  Gegentheil  Umschlägen : die  »trennende 

Kluft«,  welche  angeblich  zwischen  den  ächten 
'Werken  des  Thomas  und  der  lmitatio  bestehen 
soll,  wird  zur  »verbindenden  Brücke«,  und  es 
ist  weder  ein  Grund  vorhanden,  dem  Thomas 
die  lmitatio,  noch  die  ittr  ähnlichen  übrigen 
Werke  abzusprechen , jedenfalls  aber  ist  es 
nicht  mehr  möglich,  dem  Kanzler  Gerson  ein 
Werk  zuzuschreiben,  das  in  einen  wesentlich 
anderen  Gedankenkreis  gehört,  als  in  welchem 
sich  dieser  bewegte,  und  das  von  der  bekann- 
ten Geistesart  des  Kanzlers  durchaus  sich  unter- 
scheidet. 

Den  Beweis,  dass  an  der  Aechtheit  der  übri- 
gen Hauptwerke  des  Thomas  nicht  zu  zweifeln 
ist,  sowie  den  anderen,  dass  die  bisherigen  Be- 
denken, eine  Uebereinstimmung  zwischen  diesen 
und  der  lmitatio  ihren  characteristischen  Merk- 
malen nach  anzunehmen , unbegründet  seien, 
hat  der  Verf.  in  schlagender  Weise  erbracht; 
aber  eben  so  dagegen  dann  auch  weiter  noch 
den,  dass  eine  Anzahl  von  Schriften , angeblich 
aus  dem  15.  Jahrhundert,  welche  man  neuer- 
dings dem  Thomas  hat  zuschreiben  wollen  und 
die  ein  wesentlich  anderes  schriftstellerisches 
Gepräge  zeigen,  als  die  lmitatio,  dem  Thomas 
nicht  vindicirt  werden  dürfen.  Es  sind  dies 
drei  Schriften,  weiche  in  der  zweiten  Hälfte  un- 
sere Jahrhunderts  publicirt  worden  sind,  näm- 
lich 1)  Alphabetum  Fidelium  auctore  pioThoma 
Malleoli  etc. , herausgegeben  von  d’Angl&rs 
(Paris  1837),  2)  Thomae  a Kempis  Capita  quin- 


Hirsche,  Prolog,  z.  e.  n.  Ausg.  d.  Imitatio  Chr.  243 

decim  inedita  etc.,  herausgegeben  von  J.  F.  E« 
Meyer  (Lübeck  1845)  and  3)  Liber  qaidam  se* 
cundus  tractatus  de  imitatione  Christi,  heraus- 
gegeben von  Th.  A.  Liebner  (Göttingen  1842), 
aber  keine  von  diesen  drei  Schriften  kann  die 
Probe  bestehen.  Die  erste  ist  wohl  kaum  für 
etwas  Anderes,  als  für  eine  Fälschung  gröbster 
Art  zu  halten,  mit  der  vielleicht  der  Heraus* 
geber  selbst  betrogen  ist,  die  aber  eben  wieder 
die  Leichtfertigkeit  characterisirt,  welche  unser 
Verf.  auch  sonst  bei  französischen  Schriftstellern 
hat  aufdecken  müssen.  Aber  auch  die  beiden 
anderen  sind  nur  sehr  irrthümlicher  Weise  dem 
Thomas  zugeschrieben  worden,  wenn  dieser  Irr- 
thum auch  bei  den  Herausgebern  wegen  allge- 
mein vorhandenen  Mangels  an  kritischem  Appa- 
rat entschuldigt  werden  darf.  In  Betreff  der 
Schrift  Nr.  2,  nach  einem  Manuscripte  der  Gym- 
nasial-Bibliothek  zu  Eutin  pnblicirt,  zeigt  der 
Verf.,  dass  wir  es  da  nicht  etwa,  wie  der 
Herausgeber  gemeint,  mit  einem  ersten  Entwürfe 
der  Imitatio  zu  thun  haben,  sondern  mit  einer 
späteren  »aus  subjectiven  Gesichtspuncten  her- 
vorgegangenen Bearbeitung  des  gewöhnlichen 
Textesc  von  fremder  Hand;  und  was  Nr.  3 an- 
geht, so  ist  es  eine  Freude,  zu  sehen,  wie  der 
Verf.  durch  eine  Vergleichung  der  von  Liebner 
edirteü  Quedlinburger  Handschrift  mit  vier  an-* 
deren  Handschriften  desselben  Werkes  nicht  nur 
nachweist,  dass  Thomas  nicht  der  Autor  sein 
kann,  sondern  es  auch  wenigstens  wahrschein- 
lich macht,  dass  diese  Schrift  ein  Werk  des 
Harthäusers  Galcar  sei,  des  Mannes,  dem  »vor 
allen  Anderen  das  Verdienst  gebührt,  durch 
Beine  Mahnungen  und  Unterweisungen  die  Wen- 
dung in  dem  Leben  Gerhard  Groot’s  her- 
beigeführt zu  haben,  welche  ihn  zu  seiner  spä- 

16* 


244  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  8. 

teren  grossartigen  reformatorischen  Thätigkeit 
vorbereitete«  und  zur  Stiftung  der  Genossen- 
schaft führte,  der  Thomas  a Kempis  als  eins 
ihrer  bedeutendsten  Glieder  angehörte.  Wäre 
dies  wirklich  so,  wie  unser  Verf.  vermuthet, 
und  Ref.  sieht  nicht,  was  dagegen  spräche, 
dann  hätten  wir  in  der  von  Liebner  edirten 
Schrift  denn  freilich  ein  Werk  von  grossem 
geschichtliche^  Interesse,  und  dann  würde  viel« 
leicht  eine  neue  Ausgabe  mit  den  Verbesserun- 
gen erwünscht  sein , welche  der  Liebner’sche 
Text  augenscheinlich  bedarf. 

Mit  diesen  kritischen  Auseinandersetzungen 
schlie88t  der  vorliegende  Band,  und  der  nächste 
soll  zunächst  eine  eingehende  Vergleichung  der 
Imit&tio  mit  den  übrigen  Schriften  des  Thomas 
bringen,  die  der  ersteren  verwandt  sind,  um  zu 
zeigen , dass  wir  es  hier  mit  durchaus  congenia- 
len  Werken  zu  thun  haben  und  um  die  Frage 
nach  dem  Verfasser  der  Imitatio  zur  Spruch- 
reife zu  führen.  Ref.  bekennt,  auf  diese  weite- 
ren Mittbeilungen  in  hohem  Grade  gespannt  zu 
sein,  und  fasst  sein  Urthfeil  zum  Schlüsse  dahin 
zusammen,  dass  wir  es  hier  mit  einer  reichen 
Ausbeute  wissenschaftlichen  Fleisses  zu  thun  ha- 
ben und  dass  diese  Schrift  wie  auf  die  Werke 
des  Thomas,  so  auch  auf  die  Literatur  des  15. 
Jahrhunderts  und  selbst  des  ganzen  Mittelalters 
ein  in  vieler  Beziehung  neues  Licht  wirft. 

> F.  Brandes. 


_ ♦ 

de  Tassy,  La  Langue  et  la  Litterat.  Hindoust.  245 

La  Langue  et  la  Litterature  Hindoustanies 
en  1873.  Revue  annuelle  par  M.  Ga  rein 
de  Tassy,  Membre  de  l’Institut  etc.  Paris. 
Librairie  Orientale  de  Maisonneuve  et  C1#-  1874. 
86  Seiten  Grossoctav. 

Auf  meine  voijährige  Anzeige  (GGA.  1873 
S.  261  ff.)  fiber  die  rubricirte  Publication  mich 
beziehend,  fahre  ich  fort,  einige  der  wichtigsten 
und  anziehendsten  Angaben  aus  dem  heurigen 
Berichte  mitzutheilen,  dem  zweiundzwanzigsten! 
den  der  berühmte  Orientalist  erscheinen  lässt. 
Wie  immer,  ersehen  wir  auch  jetzt  wieder,  dass 
in  Indien  der  Kampf  zwischen  Hindustani 
(Urdu)  und  Hindi,  zwischen  persischer  Schrift 
und  Devanagari  noch  immer  lebhaft  fortgeführt 
wird,  obwohl  Tassy  an  seiner  Ueberzeugung 
von  dem  endlichen  Siege  des  ersteren  uner- 
schütterlich festbält,  welche  auch  von  Beames, 
dem  Verfasser  der  vortrefflichen  Comparative 
Grammar  of  the  modern  Aryan  Languages  ge- 
theilt  wird,  der  unter  anderm  sagt:  »Das  so 
klare,  einfache,  liebliche,  geschmeidige  Urdu, 
worin  man  alles  mit  Leichtigkeit  ausdrücken 
kann  und  das  schon  jetzt  die  lingua  franca 
eines  grossen  Theils  von  Vorderindien  abgiebt, 
auch  bei  den  europäischen  Gebietern  des  Lan- 
des in  besonderer  Gunst  steht,  dürfte  wohl 
dazu  bestimmt  sein,  früher  oder  später  die  mei- 
sten, wenn  nicht  alle  Provinzialdialekte  zu  be- 
seitigen und  dem  ganzen  arischen  Indien 
eine  homogene  und  gebildete  Sprache  zu  ver- 
leihen. Der  englischen  Regierung  scheint  frei- 
lich an  dieser  dereinstigen  Spracheinheit  ihrer 
indischen  Besitzungen  nicht  viel  zu  liegen;  denn 
sie  legt  der  Entwickelung  einer  solchen , wie 
man  aus  verschiedenen,  Massnahmen  ersieht, 


246  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

mancherlei  Schwierigkeiten  in  den  Weg,  wenn 
sie  auch  sonst  die  Ausbildung  des  einheimischen 
Schriftenthums  sich  angelegen  sein  lässt  und  in 
dem  Schuljahre  1872 — 3 neunundzwanzig  der 
besten  hindustanischen  Werke  durch  öffentliche 
Belohnung  ausgezeichnet  hat.  Von  diesen  sind 
acht  der  Sittenlehre  gewidmet,  zwei  dem  Unter- 
richt im  allgemeinen,  zwei  dem  der  Frauen, 
zwei  der  Mathematik,  zwei  der  Sternkunde, 
zwei  der  Physik,  zwei  der  schönen  Literatur, 
vier  der  Geographie  und  Geschichte,  eines  der 
Gesundheitslehre  und  eines  der  Naturgeschichte; 
drei  dieser  Werke  sind  aus  dem  Englischen, 
zwei  aus  dem  Sanscrit  und  eins  aus  dem  Persi- 
schen übersetzt , die  übrigen  sind  Original- 
arbeiten. Im  nächsten  Jahre  sollen  fünf  Preise, 
jeder  von  tausend  Rupien  (ä  20  Groschen)  ver- 
theilt werden.  Auch  die  eigentliche  National- 
literatür erfreut  sich  fortgesetzter  Pflege  und 
die  zahlreich  erscheinenden  Diwans  (Gedicht- 
sammlungen) gemessen  andauernder  Gunst.  Von 
sonstigen  Werken  sind  noch  bemerkenswerth  der 
in  Lahore  zu  drucken  begonnene  Tafsir-i  Curän 
von  dem  Molläh  Seid  Imad-Ali,  der  erste  eigent- 
liche Commentar  des  Korans  auf  Urdu,  so  wie 
ein  Bericht  der  bekannten  Begum  von  Bhopal 
über  ihre  Rundreise  in  ihren  Staaten  zum 
Zweck  der  Verbesserung  der  Verwaltung  dersel- 
ben gleichfalls  auf  Urdu,  in  welcher  Sprache 
sie  auch  bereits  früher  ihre  Pilgerfahrt  nach 
Mekka  beschrieben  hatte.  Unter  den  Hindi- 
werken nennt  man  mit  besonderm  Lobe  eine 
»Vollständige  Abhandlung  über  alle  in  Indien 
gebrauchten  Arzneimittel« , so  wie  den  dritten 
und  letzten  Theil  der  Geschichte  von  Indien 
Itihäs.  tinir  nagak  (Geschichte , welche  die  Un- 
wissenheit vernichtet),  von  dem  Babu  Siva- 


de  Tassy,  La  Langue  et  la  Litterat.  Hindoust.  247 

pra$ad  zu  Benares  nach  indischen  Quellen  und 
mit  Benutzung  der  europäischen  Kritik.  Auf 
Urdu  wieder^erschien  ubter  den  Auspicien  der 
Abtheilung  für  den  öffentlichen  Unterricht  im 
Pendschab  der  zweite  Band  der  Geschichte  In- 
diens von  dem  Mollah  Muhammad  Hassein. 
Auch  eine  im  Juni  v.  J.  verstorbene  berühmte 
Dichterin  aus  Madras  wird  angeführt;  sie  war 
die  Tochter  einer  eingeborenen  Christin  und 
übertrug  mehrere  Stellen  des  neuen  Testaments 
in  Urduverse,  in  welcher  Sprache  sie  auch  an- 
dere Dichtungen  verfasste.  Der  Curiosität  we- 
gen erwähne  ich,  dass  unter  dem  Titel  »Die 
Moral  Gottes«  (Aschla^-i  Bari)  der  Mollah 
Schivah  Dayal  Singh  eine  arabische  Grammatik 
hat  erscheinen  lassen,  die  sehr  ausführlich  und 
nicht  minder  schätzbar  sein  soll.  Eine  der 
wichtigsten  Unternehmungen  jedoch  ist  die  be- 
gonnene Herausgabe  der  berühmten  Reimchro- 
nik, welche  im  eilften  Jahrh.  n.  Chr.  noch  vor 
der  muselmännischen  Eroberung  von  dem  Bar- 
den (bardai)  Tschand  in  der  alten  Hindisprache 
verfasst  wurde  und  den  Titel  führt  PritM-rajä 
Ragau  »Geschichte  des  Prithi-Raja«  (Königs 
von  Ajmir  und  Delhi,  geb.  1050  n.  Chr.).  Mit 
dieser  wichtigen  Arbeit  ist  der  oben  genannte 
Indianist  Beames  betraut  worden,  der  bereits 
den  ersten  Gesang  hat  erscheinen  lassen;  er 
umfasst  66  Seiten  und  das  ganze  Werk  enthält 
69  Gesänge,  von  denen  einige  stärker  sind  als 
der  erste.  Auch  bei  Tschand  wie  bei  vielen  an- 
dern der  berühmtesten  Hindudicbter  finden  sich 
bereits  persische  und  arabische  Ausdrücke  in 
stehendem  Gebrauch,  und  man  kann  also,  wie 
Beames  bemerkt,  unmöglich  einräumen,  dass  es 
je  ein  Hindi  ohne  Beimischung  von  Wörtern  je- 
ner Sprachen  gegeben  habe.  Ein  gleich  gross- 


248  Gott»  gel.  Anz.  1874.  Stack  8. 


artiges  Unternehmen,  wie  das  berührte,  ist  die 
von  der  Gelehrtengesellschaft  zu  Lahore  be- 
schlossene Herausgabe  des  vollständigen  Granth 
der  Sikhs  durch  Dr.  Trumpp.  — Was  das  in- 
dische Theater  betrifft,  so  hat  Tassv  die  ge- 
legentliche Aufführung  alter  Sanscritaramen  in 
der  Originalspracbe  oder  in  Uebersetzung  be- 
reits mehrmals  erwähnt;  jetzt  jedoch  existirt 
sogar  ein  stehendes  Nationaltheater  zu  Calcutta 
mit  einem  regelrechten  Orchester  einheimischer 
Instrumente,  wobei  jedoch  die  Frauenrollen 
durch  Jünglinge  gespielt  werden.  In  einem  der 
Stücke  will  ein  alter  Brahmane , der  Vater 
zweier  jungen  Wittwen,  sich  wieder  verheirathen, 
und  zwar  mit  einer  Frau  aus  einer  niedrigen 
Kaste;  auch  haben  seine  Töchter  gegen  dieses 
liberale  Projekt  trotz  der  Missheirat  nichts  wei- 
ter einzuwenden,  als  dass  sie  eben  vor  einer 
Stiefmutter  Furcht  habep;  schliesslich  jedoch 
nach  mancherlei  Zwischenfällen  giebt  der  Brah- 
mane seine  Absicht  auf.  Seine  Töchter  haben 
inzwischen  (was  man  kaum  erwarten  sollte)  die 
von  den  Engländern  erwirkte  Aufhebung  der 
Sutti  schwer  beklagt,  da  diese  ihrer  Ansicht 
nach  viel  besser  ist  als  der  Wittwenstand,  eine 
Ansicht,  die  sich  übrigens  unter  den  Hindu- 
wittwen  vielfach  wiederfindet.  So  z.  B.  wollten 
sich  unlängst  beim  Tode  des  Baja  von  Judhpur 
ein  Dutzend  seiner  Wittwen  und  viele  Concu- 
binen  desselben  durchaus  mitverbrennen  lassen; 
allein  zu  ihrem  grössten  Missvergnügen  (wie  die 
Zeitungen  meldeten)  gestattete  der  durch  die 
europäischen  Ideen  »verdorbene«  neue  Baja  ih- 
nen dies  nicht  und  die  Schönen  mussten  wider 
ihren  Willen  leben  bleiben.  Ausserordentlicher 
noch  ist  der  folgende  Fall.  Vor  kurzem  starb 
nämlich  zu  Tamara  in  Tonk  ein  Brahmane  und 


de  Tasay,  La  Langne  et  la  Litterai  Hindoust.  349 

die  durchaus  auf  der  Sutti  beharrende  Frau 
wurde  auf  Veranstaltung  der  Regierung  streng 
bewacht.  Trotzdem  aber  fand  sie  Mittel  zu 
entkommen,  und  schon  war  sie  nahe  daran,  sich  . 
auf  den  Scheiterhaufen  ihres  verstorbenen  Ehe- 
genossen zu  stürzen,  als  ein  gegenwärtiger 
Muselmann  sie  bei  der  Hand  ergriff  und  fest- 
hielt. Da  geri^th  sie  in  den  grössten  Zorn, 
hob  den  andern  Arm  zum  Himmel  empor  und 
rief  aus:  »0  Bhagavat,  dieser  Bösewicht  will 
mich  ungerechterweise  meiner  Tugend  berauben 
und  mich  hindern,  meinem  Gatten  zu  folgen! 
Vergilt  ihm  seine  Missethat,  und  da  du  mein 
Opfer  billigst,  so  gestatte  auch  meine  Wieder- 
vereinigung mit  meinem  Manne!«  Bei  diesen 
Worten  sank  sie  leblos  zu  Boden  und  erlangte 
so  was  sie  wünschte  (Panjabi  vom  14.  Juni 
1873).  — Was  die  Journale  betrifft,  so  be- 
stehen nicht  bloss  viele  von  Eingeborenen  heraus- 
gegebene englische  Blätter,  welche  von  Tausen- 
den der  dieser  Sprache  kundigen  Landesbewoh- 
ner  der  obern  und  mittlern  Klassen  gelesen  wer- 
den, sondern  fast  jede  irgend  bedeutende  Stadt 
hat  ihr  Localblatt  in  der  Landessprache.  In 
den  nordwestlichen  Provinzen  erscheinen  achtzig 
Blätter  ein-  oder  zweimal  wöchentlich ; in  Oude 
allein  25  auf  Urdu  mit  5709  Abonnenten  und 
es  tauchen  dort  und  anderwärts  immer  neue 
auf.  Von  den  bereits  vorhandenen  sind  Tassv 
34  bekannt  geworden,  die  er  sämmtlich  namhaft 
macht  und  charakterisirt  und  unter  denen  ich 
besonders  den  Tahäb  ulahläc  (Die  Sittenreform) 
mit  dem  englischen  Nebentitel  »Mohammedan 
social  Reformer«  hervorhebe,  den  der  Moliah 
Seid  Ahmad  Khan  seit  seiner  Rückkehr  aus 
Europa  (1870)  auf  Urdu  zu  Aligarh  herausgiebt 
und  worin  die  Grundsätze  einer  sich  mit  dem 


250  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

Namen  ihrer  Zeitschrift  nennenden  Reformge- 
sellschaft verfochten  werden,  zu  der  die  ange- 
sehensten Mitglieder  der  liberalen  Schule  des 
hindostanischen  Islams  gehören.  — Was  den 
öffentlichen  Unterricht  in  den  Staatsschulen  be- 
trifft, so  gewinnt  er  von  Jahr  zu  Jahr  an  Aus- 
dehnung, sogar  auch  unter  dem  weiblichen  Ge- 
schlecht, obwol  die  höhern  Klassen  desselben 
den  Privatunterricht  in  den  Zanänas  (Harems) 
vorziehen.  In  Bengalen  empfingen  denselben  in 
dem  Schuljahre  1871 — 72  fünfzehnhundert  weib- 
liche Zöglinge,  meist  Frauen  und  Töchter  der 
in  den  Regierungs-  oder  Missionsschulen  unter- 
richteten Eingeborenen.  Besonders  sind  es  die 
Muselmänner,  welche  sich  zu  unterrichten  stre- 
ben, so  dass  z.  B.  in  Oude  deren  13,918  auf 
40,355  Hinduschüler  kamen,  obwohl  jene  kaum 
ein  Zehntheil  der  Bevölkerung  bilden.  In  die- 
ser Provinz  hatte  die  Regierung  in  dem  ge- 
nannten Jahre  233,343  Rupien  auf  die  Schüler 
aller  Grade  verwandt,  in  denen  man,  was  die 
Sprachen  belangt , Urdu,*  Hindi , Persisch  und 
Englisch  lehrt.  In  der  Residentschaft  Bombay 
war  in  derselben  Zeit  die  Zahl  der  Schulen  um 
640,  die  der  Zöglinge  um  28,187  gewachsen; 
auf  eine  Bevölkerung  von  vierzehn  Millionen  ka- 
men 3676  Unterrichtsanstalten  mit  198,970  Zög- 
lingen. Ueberhaupt  wurden  seit  dem  J.  1870 
die  Regierungsschulen  in  ganz  Indien  jährlich 
von  einer  Million  Zöglingen  besucht,  was  aller- 
dings eine  bedeutende  Zahl  ist,  wenn  man  be- 
denkt, dass  dreiviertel  der  eingeborenen  Bevöl- 
kerung zu  arm  ist,  um  ihre  Kinder  entbehren 
und  in  die  Schule  schicken  zu  können.  Noch 
ist  zu  erwähnen,  dass  der  Bahradja  von  Bal- 
rampur  beschlossen  hat,  zur  Errichtung  einer 
xnedicinischen  Schule  bei  dem  Balrampur-Hospi- 


de  Tassy,  La  Langue  et  la  Litterat.  Hindoust.  25  t 

tal  zu  Luknow  einen  jährlichen  Zuschuss  von 
12,000  Rupien  beizusteuern , und  dass  zwei 
junge  Muselmänner  aus  den  angesehensten  Fa- 
milien an  der  medicinischen  Schule  zu  Hydera- 
bad glänzend  promovirt  haben,  woselbst  der  Mi- 
nister des  Nizara  ihnen  in  feierlicher  Sitzung 
am  14.  Februar  1873  das  Doctordiplom  über- 
reichte. In  Bareilly  hat  sogar  ein  eingeborener 
muhamedanischer  Bankier  eine  medicinische 
Schule  für  Frauen  gegründet,  an  der  ein  Eng- 
länder, Dr.  Corbyn,  die  Chirurgie  lehrt.  Ander- 
wärts sind  von  den  Muhamedanern  auch  ohne 
Zuthun  der  Regierung  sogar  Seminare  zur  Aus- 
bildung von  Lehrerinnen  gestiftet  worden.  — 
Die  öffentlichen  Bibliotheken  sind  gleichfalls  in 
steter  Zunahme  begriffen;  in  der  Präsidentschaft 
Bombay  giebt  es  deren  jetzt  116;  zu  Benares 
haben  einige  vornehme  Eingeborene  eine  solche 
errichtet,  und  der  Maharadja  von  Vizianagram 
6000  Rupien  (15.000  Franken)  dazu  beigetragen. 
— Auch  die  Zahl  der  gelehrten  Gesellschaften 
nimmt  unter  den  Muhamedanern  wie  unter 
den  Hindus  fortwährend  zu.  Gleiches  ist  in 
Betreff  der  hinduischen  Reformpartei  Brama 
Samaj  der  Fall,  von  der  schon  im  vorigen  Jah- 
resbericht die  Rede  war  und  die  bereits  in  Ben- 
galen, Bombay,  im  Penjab,  Oude  und  Madras 
Tempel  und  Tausende  von  Anhängern  zählt. 
Dass  die  orthodoxen  Hindus  gegen  diese  Re- 
formbewegung mit  aller  Macht  ankämpfen,  ver- 
steht sich  von  selbst;  sie  behaupten,  dass  ein 
guter  Hindu  ein  wahrer  Christ  sei,  wenn  er 
auch  nicht  an  die  Persönlichkeit  Christi  glaube, 
und  in  einer  ihrer  Controversschriften  steht  so- 
gar zu  lesen,  dass  Christus  die  Hindus  vor 
Augen  hatte,  als  er  sprach:  »Viele  werden 
kommen  vom  Morgen  und  mit  Abraham  und 


252  G8tt.  gel.  Abz.  1874.  Stück  8. 

Isaak  und  Jakob  im  Himmelreich  sitzen«. 
(Matth.  8,  11).  Hatte  nun  wohl  Werenfels  Un- 
recht, als  er  sein  berühmtes  Distichon  auf  die 
Bibel  verfasste:  »Hic  liber  est  in  quo  quaerit 
sua  dogmata  quisque  — Invenit  et  pariter  dog- 
mata quisque  sua«?  — Gelegentlich  der  christ- 
lichen Missionsgesellschaften  erfahren  wir,  dass 
sich  unter  den  Eingeborenen  Vorderindiens  un- 
gefähr eine  Million  Katholiken  finden  und  im 
J.  1872  die  Bekenner  anderer  christlicher  Con- 
fessionen  sich  auf  318,363  beliefen  (darunter 
8000  zur  Berliner  Mission  gehörige).  Auch  die 
Bekehrungen  von  Hindus  zum  Islam  sind  fort- 
während sehr  zahlreich , und  ganz  besonders 
bemerkenswerth  ist  die  des  Raja  von  Radjgarh, 
der  mit  allen  seinen  Unterthanen  zu  demselben 
übergetreten  ist.  In  Bangalore  hat  sich  sogar 
eine  muhamedanische  Gesellschaft  gebildet,  nicht 
nur  zur  Vertheidigung  ihrer  Religion  gegen  die 
Missionare,  sondern  auch  zu  ihrer  Verbreitung 
unter  den  Christen.  Controversschriften  von  aller- 
lei Art  werden  gewechselt,  und  die  muhamedani- 
schen  Vorkämpfer  suchen  die  von  ihren  Geg- 
nern gelehrten  Doctrinen  aus  den  christlichen 
Schriften  selbst  zu  widerlegen.  Der  Panjabi 
vom  14.  Juni  v.  J.  bemerkt  in  der  Besprechung 
einer  Schrift  des  grossen  Controversisten  Moliah 
Seid  Muhammad  Abu’lmansur , welche  gegen 
das  Werk  zweier  christlicher  Missionare  gerich- 
tet ist:  »Dieselben  behaupten  mit  Unrecht,  dass 
unter  den  muhamedanischen  Secten  deren  acht 
Gott , vierzehn  den  Propheten , fünfzehn  den 
Koran  läugnen  und  also  ganz  ausserhalb  der 
muhamedanischen  Religion  stehen.  Dagegen  hat 
der  Mollah  nachgewiesen,  dass  es  achtundaoh- 
zig  christliche  Secten  giebt  und  von  diesen 
sechs  den  heiligen  Geist,  fünfundzwanzig  die 


de  Tassy,  La  Langue  et  Ja  Litterat.  Hindoust.  253 

Gottheit  Christi,  acht  dessen  Krenzignng  und 
sechszebn  die  Inspiration  des  alten  so  wie  des 
neuen  Testamentes  läugnen,  diese  fünfundsechzig 
Secten  auch  unter  einander  verschieden  sind. 
Der  Verfasser  beweist  seine  Behauptungen  durch 
zahlreiche,  in  verschiedenen  Sprachen  abgefasste 
Werke  von  anerkannter  Autorität,  die  er  unter 
genauer  Angabe  des  Titels,  des  Jahres  und  des 
Druckortes  nach  Seite  und  Zeile  anführt,  was 
seine  Gegner  unterlassen  haben«.  So  weit  der 
hindustanische  Referent ; und  ein  berühmter 
muhamedani8cher  Prediger,  der  Mollah  Hadschi 
Muhammad  Siradscbuddin  hat  neulich  in  Bom- 
bay sich  mit  solchem  Erfolg  hören  lassen,  dass 
in  Folge  dessen  drei  Europäer  zum  Islam  über- 
getreten sind,  so  wie  auch  ein  anderer  vorneh- 
mer Engländer,  der  stellvertretende  Commissar 
von  Sirsah,  den  gleichen  Schritt  gethan,  wozu 
ihn  freilich  eine  Heirath  veranlasst  haben  soll. 
Heirathen  wirken  allerdings  Wunder  und  so 
haben  im  vorigen  Jahre  sechs  englische  Damen, 
und  unter  diesen  zwei  Töchter  eines  Obersten, 
sich  mit  Parsis  vermählt.  — Der  Jahresbericht 
schliesst  wie  gewöhnlich  mit  einer  Nekrologie, 
aus  der  ich  nur  den  Tod  eines  deutschen  Ge- 
lehrten, Heinrich  Kurtz's  in  Aarau,  hervorhebe, 
und  zwar  deswegen,  weil  letzterer  in  Deutsch- 
land wohl  nur  sehr  Wenigen  als  Orientalist,  da- 
gegen in  viel  weitern  Kreisen  als  tüchtiger  Li- 
terarhistoriker bekannt  war. 

Hiermit  verlassen  wir  dankbar  die  Mitthei- 
lungen des  ausgezeichneten  Veteranen,  der  in 
diesem  Jahre,  irre  ich  nicht,  seinen  achtzigsten 
Geburtstag  feiern  wird,  und  drücken  zugleich 
den  Wunsch  aus,  dass  es  ihm  vergönnt  sein 
möge,  dieselben  noch  manches  Jahr  zu  wiederholen. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


254  Göti  gel.  Anz.  1874.  Stack  8. 

Charitas  Pirckheimer,  Aebtissin  von 
St.  Clara  zu  Nürnberg.  Von  Franz  Binder. 
Freiburg  i.  Br.  Herdersche  Verlagsbuchhand- 
lung 1873.  196  SS.  in  8°. 

% 

Es  würde  ungerecht  sein  zu  glauben,  dass 
diese  Schrift,  die  einem  in  einzelnen  Bändchen 
erscheinenden  Sammelwerke:  Sammlung  histori- 
scher Bildnisse,  Zweite  Serie,  II,  angehört,  das 
nur  der  Schilderung  katholischer  Männer  und 
Frauen  gewidmet  ist  und  in  seiner  Darstellung 
sich  an  das  grosse  Publikum  wendet,  keine  Er- 
wähnung in  einem  gelehrten  Blatte  verdiene. 
Vielmehr  ist  in  vorliegendem  Buche  die  Schreib- 
weise eine  solche,  die  sich  von  confessioneller 
Einseitigkeit  möglichst  fern  zu  halten  sucht*  die 
Darstellung  einfach  und  geschmackvoll,  die  Be- 
arbeitung mit  umsichtigster  Benutzung  der  vor- 
handenen älteren  und  neueren  Literatur  und  mit 
gründlichster  Berücksichtigung  der  Quellen,  ja 
selbst  Benutzung  bisher  noch  ungedruckter,  in 
der  Nürnberger  Stadtbibliothek  aut  bewahrter 
Briefe  ausgeführt,  so  dass  das  Buch  sich  sehr  zu 
seinem  Vortheil  von  den  zahlreichen  Publika- 
tionen ähnlicher  Art  unterscheidet. 

Auf  die  würdige  Frau,  welcher  diese  Schrift 
gewidmet  ist,  ist  schon  einmal  in  diesen  Bll. 
(1871  St.  51  S.  1039  fl.),  bei  Besprechung  einer 
Dissertation  Loose’s,  hingewiesen  und  auch  ge- 
zeigt worden,  dass  trotz  mancher  Vorarbeiten 
und  Einzelleistungen  eine  angemessene  Biographie 
der  Aebtissin  des  Claraklosters  noch  vermisst 
wird.  Diese  Lücke  ist  nun  in  ausreichendster 
Weise  ausgefüllt.  Denn  die  vorliegende  Schrift 
wird  der  zu  Schildernden  nach  allen  Beziehungen 
gerecht. 

In  einer  Einleitung  werden  einige  Bemerkun- 


Binder,  Charitas  Pirckheimer.  255 

gen  über  Charitas  Pirckheimer  und  ihr  Geschlecht, 
ihre  Vaterstadt  und  ihre  Zeit  gegeben,  dann  in 
einzelnen  Capiteln  (unter  den  Ueberschriften: 
Bei  St.  Clara ; die  neue  Aebtissin,  die  Geschwi- 
ster; die  Freunde  in  der  Stadt  und  im  Reich; 
die  Tage  des  Kampfes;  die  Märztage  1Ö25;  Ver- 
handlungen mit  dem  Pfleger;  die  Passionszeit 
der  Clarh'Sinnen ; Rückblick;  das  Jubiläum  der 
Aebtissin ; letzte  Lebensjahre)  alle  Lebensverhält- 
nisse eingehend  und  anschaulich  geschildert. 
Angehängt  sind  dann  Anmerkungen  und  Beleg- 
stellen, die  in  durchaus  genügender  Weise  für 
jeden  Punkt  der  Darstellung  die  Quellen  angeben« 

Besonders  rühmend  hervorzuheben  ist  noch 
die  geschmackvolle  Uebertragung  der  vielfach 
mitgetheilten  Briefe,  vor  Allem  einer  von  Celtis 
an  Charitas  gerichteten  schönen  Ode  (S.  74  fg.); 
vermisst  wird  ein  Capitel,  in  welchem  der  Verf. 
in  zusammenhängender  Weise  über  Charitas  als 
Schriftstellerin  spräche,  wie  sie  nicht  nur  in  den 
Briefen,  an  ihren  Bruder  Willibald,'  den  berühm- 
testen Träger  des  Pirckheimerschen  Namens, 
an  Dürer,  Scheurl,  Celtis,  Hieronymus  Focher, 
ein  Brief,  der  bekanntlich  zu  vielfachen  unge- 
rechtfertigten Schmähungen  der  Aebtissin  An- 
lass gegeben  hat,  u.  A.,  sondern  namentlich  in 
den  von  Höfler  herausgegebenen  Denkwürdig- 
keiten der  hochberühmten  Cb.  P.  (Bamberg 
1852)  sich  zeigt. 

Das  eigentlich  Neue,  das  in  der  Darstellung 
geboten  wird,  liegt  in  der  Schilderung  des  Con- 
flicts, welchen  Charitas  als  Vorsteherin  ihres 
Klosters  in  dem  ersten  Jahrzehnt  der  Reforma- 
tion mit  den  Stadtbehörden  Nürnbergs  hatte, 
welche,  eifrig  der  neuen  Lehre  ergeben,  in  einer 
selbst  von  eifrig  protestantischen  Geschichts- 
schreibern nicht  gebilligten  Weise  von  den 


256  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stück  8. 

Klosterfrauen  sofortigen  Austritt  oder  Annahme 
des  evangelischen  Bekenntnisses  verlangten,  ein- 
zelne Töchter  angesehener  Bürger  sogar  gewalt- 
sam dem  Kloster  entrissen.  Als  Quelle  dieses 
Abschnittes,  in  welchem  besonders  das  Auftreten 
Melanchthons,  dem,  z.  Th.  nach  ungedruckten 
Berichten,  eine  eingehende  Schilderung  zu  Theii 
wird,  höchst  merkwürdig  ist,  haben  die  eben 
erwähnten  Denkwürdigkeiten,  welche  den  frühe- 
ren Biographen  unzugänglich  gewesen  waren, 
und  die  Briefe  der  Clara  P.,  einer  jüngeren 
Schwester  der  Charitas,  welche  einen  regen  Brief- 
wechsel mit  ihrem  Bruder  Wilibald  unterhielt, 
Vorgelegen. 

Auch  die  beiden  letzten  Abschnitte,  welche 
die  Feier  des  seltenen  Festes,  der  fünfundzwan- 
zigjährigen Amtsdauer  der  Aebtissin,  und  ihre 
letzten  Lebenstage  schildern,  sind  nach  Briefen, 
die  entweder  vor  wenigen  Jahren  gedruckt  und 
daher  noch  für  keine  Schilderung  benutzt  wor- 
den waren  oder  noch  unbenutzt  in  Bibliotheken 
lagen,  gearbeitet  und  darum  doppelt  werthvoll. 

Für  die  Beurtheilung  des  Nürnberger  Predi- 
gers Andreas  Osiander  hätte  die  Biographie  von 
Möller  (Elberfeld  1870)  benutzt  und  dadurch 
das  Urtheil  über  denselben,  das  mir  etwas  zu 
hart  erscheint,  modificirt  werden  können.  Diese 
Beurtheilung  und  einzelne  wenige  andere  Stellen  S. 
133,  193, 44  sind  Zeichen  der  streng  katholischen 
Gesinnung  des  Verfassers,  die,  im  Allgemeinen 
dem  wissenschaftlichen  Werth  der  Schrift  kei- 
nen Eintrag  thuend,  einzelne  zu  starke  Aus- 
drücke hervorgerufen  hat. 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


857 


GStt in  gische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  9.  4.  März  1874. 


Der  Mönch  von  Montaudon,  ein  pro* 
venzalischer  Troubadour.  Sein  Leben  und  seine 
Gedichte,  bearbeitet  und  erläutert  mit  Benutzung 
uuedirter  Texte  aus  den  vaticanischen  Hand* 
Schriften  Nr.  3206,  3207,  3208  und  5232,  so 
wie  der  Estensischen  Handschrift  in  Modena* 
von  Emil  Philippson.  Halle  a.  8.  1873. 

Lippert’sche  Buchhandlung  (M.  Niemeyer).  99 
SS.  8. 

Es  hat  in  den  letzten  Jahren  eine  erfreu- 
liche Regsamkeit  auf  dem  Felde  der  provenza- 
lischen  Lyrik  sich  kund  gegeben;  eine  Anzahl 
Ton  Troubadours  sind  mit  mehr  oder  weniger 
günstigem  Erfolge  zum  Gegenstände  besonde- 
rer Behandlung  gemacht  worden;  so  Folquet 
de  Lunel  von  Eichelkraut,  Jaufre  Rudel  von 
Stimming,  Bernart  de  Ventadorn  von  Bischoff. 
In  diese  Reihe  gehört  auch  die  vorliegende  Be- 
arbeitung des  Mönchs  von  Montaudon.  Die*  Aus- 
gabe beginnt  mit  einer  Darstellung  des  Lebeds 
des  originellen  Mannes  (S.  1 — 3),  dessen  Klo*- 
ster  Montaudon  S.  3 als  (Berg  des  Aldufci’ 

17 


258  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  9. 


gedeutet  wird.  I n “der  Tb  at  weist  die  Form 

Montaldon,  die  in  einer  Reihe  yon  Hss.  vor- 
^onynt,  darauf  hin,  dass  u aus  l aufgelöst  ist; 
aber  nicht  Aldus  ist  als  Namensform  anzu* 
setzen,  sondern  Aldo,  gen.  Aldonis;  es  ist  der 
deutsche  Name  Aldo  (Förstemann,  altd.  Namen- 
buch I,  45),  zu  dem  als  Femin.  Aida  (Förste- 
manp  I,  45  f.)  gehört,  der  Name,  den  Rolands 
Braut  Aide , Aude  trägt.  Befremden  kann  es, 
dass  die  provengalische  Biographie,  auf -der  doch 
zunächst  unsre  Kenntniss  des  Lebens  des  Mön- 
ches beruht , in  die  im  übrigen  vollständige 
Ausgabe  nicht  aufgenommen  ist. 

Für  die  Lieder  stand  dem  Herausgeber  ein 
ziemlich  umfassender  kritischer  Apparat  zu  .Ge- 
bote, wenngleich  derselbe,  wie  ein  Blick  auf 
meinen  Grundriss  S.  163  L zeigt,  keineswegs 
vollständig  ist.  Eine  Ausbeutung  der  noch  na* 
benutzten  Pariser  Handschriften  (so.  weit  sie 
nicht  durch  Publication  anderer  zugänglich  wa- 
ren),; ist  auf  einen  späteren  Nachtrag  versobo* 
ben.  Man  kann  bedauern,  dass  dieselben  nicht 
schon  jetzt  herangezogen  worden  sind,  zumal 
da  sich  ergibt,  dass  der  kritische  Gewinn  doch 
nicht  so  ganz  unbedeutendest  In  der  Bezeich- 
nung der  Handschriften  hat  der  Herausgeber 
eich  mir  angeschlossen,  in  den  Lesarten  folgt 
er  hauptsächlich  der  Classe,  die  durch  AB  DIR 
vertreten  ist,  und  stellt  als  kritischen  Grundsatz 
auf:  die  Lesart  der  genannten  Hss.  ist  aufge- 
nommen, und  nur  wo  sie  unter  rinander  variL 
reu  oder  einige  mit  den  Lesarten  der  anderen 
Classe  (hauptsächlich  GR}  stimmen,  ist  von 
ihnen  ahgewioiven.  Gelegentlich  wird  .him:  auf 
die  Nothwendigkeit  und  das  W ünBchenswerthe 
einer  Classificirung  der  Hsa  : bfogewiesem  Ohne 
Zweifel  ist  diese  Arbeit  eine  grundlegende  Vor* 
arbeit  für  alle  derartigen  kritischen  Versuche; 


i 


Philipp«©!*,  Der  Mooch  von  Montaudon.  259 

sie  kann  aber  rinr  gemacht  werden  von  dem, 
dear  sämmtliche  Handschriften  . verglichen  bati 
and  nicht  bloss  für  einen  oder  ein  paar  Dich«* 
ter.  Denn  es  stellt  sich  heraus,  dass  nicht  im- 
mer dieselben  Handschriften  bei  dem  einen 
Dichter  stimmen,  die  bei  dem  andern  zoaem* 
mentreften,  ja  selbst  bei  den  Liedern  eines  und 
desselben  Dichters  ist  die  Harmonie  der  glei-> 
chen  Hs 8«  nicht  durchgängig.  Der  Grund  da- 
von liegt  in  der  Entstehung  der  Liederhand- 
schriften aus  einzelnen  kleinen  Liederbüchern; 
eine  Entstehungsart,  die  bei  manchen  Hss.  wie 
B noch  ganz  besonders  deutlich  ist.  Die  Unter* 
Buchung  muss  also  vom  einzelnen  Dichter  be* 
ginnen,  für  jeden  einzelnen  besonders  gemacht 
werden,  und  dazu  eignen  sich  Specialausgaben 
ganz  besonders.  Im  Allgemeinen  wird  man  die 
Richtigkeit  jenes  kritischen  Grundsatzes  zugeben, 
und  es  wird  darauf  ankommen,  inwieweit  der 
Herausgeber  ihm  treu  geblieben  ist.  Auch  dass 
er  sich  das  Recht  der  Conjecturalkritik  wahrt, 
ist  ganz  in  der  Ordnung. 

ln  der  Schreibung  der  Texte  schliesst  sich 
Ph.  der  Orthographie  von  AB  DI  an,  und  setzt 
demgemäss  durchgängig  ill  für  Ih , ign  für  nh; 
auch  in  Liedern,  welche  nur  in  G sich  finden,  - 
hat  er  diese  Schreibung  durchgeführt.  Allein 
dann  hätte  dies  auch  auf  andere  Punkte  aus- 
gedehnt werden  müssen.  Es  war  dann  II,  7. 
XX,  3 nicht  cfcma,  sondern  dotnna  zu  schreiben ; 
die  Schreibungen  mit  y,  rey7  vey  (XV,  17 — 19. 
XVI,  32)  waren  in  i zu  verwandeln ; auch  das 
spätere  y für  inlautendes  (croyas  XVI,  18; 
guayeea  XX,  1)  in  j zu  ändern.  Ferner  musste 
XV,  10  so  das  bs.  erquelh  nicht  in  ergoitt,  son- 
dern in  orgoill  verwandelt  werden, , wie  II,  54 
ergülhos  nicht  in  erguiUos , sondern  in  org&iUo & 

17* 


260  Gött.  gel.  Anz.  1874.  'Stück  9« 

Da  cä,  wo  es  aus  et  entstanden,  durchaus  in 
it  verwandelt  worden  ist,  so  durfte  coichos  XII, 
84  nicht  bleiben,  sondern  musste  coitos  ge* 
schrieben  werden.  Auch  war,  der  Zeit  des 
Mönches  entsprechend,  nicht  uo  mpuosc,  luoc , 
nicht  ieu  in  sieu,  tnieu , nicht  iei  etc«  zu  setzen. 
In  XIX,  wo  ihm  der  Text  meiner  Chrestomathie 
vorlag,  steht  auch  überall  das  richtige;  auch 
durchgängig  enoja , während  in  XVI — XVIII 
enueja  gesetzt  ist.  In  der  Behandlung  des  in-* 
lautenden  j zeigt  sich  keine  Consequenz;  meist 
schreibt  er  richtig,  so  enoja,  enueja , enojar 
XIII,  21,  majer  I,  60,  ajatz  XV,  *55;  cuja  XVI, 
11,  j oelej*  XH,  20  (==  Chrestom.,  aber  daneben 
soräeiate  statt  sordejatz  X;  28.  Unrichtig  ist 
die  theil  weise  Behandlung  des  v,  deslivrar  VIII, 
8.  10  muss  desliurar  geschrieben  werden,  der 
bekannte  Dichter  heisst  nicht  Arnaut  de  Mer- 
voill  X,  49,  sondern  Maroill,  die  Schreibung 
MeruoiU  in  A.  meint  kein  v , sondern  hier  steht 
ebenso  wie  in  den  andern  Beimworten  uo  für 
o,  was  DL  auch  wirklich,  und  richtig,  haben. 

Die  Anmerkungen  sind  theils  erklärender, 
theils  die  gewählte  Lesart  rechtfertigender  Art; 
ausserdem  enthalten  sie,  was  sehr  zu  loben, 
eine  Darlegung  des  Gedankenganges  der  einzel* 
nen  Lieder,  und  Bemerkungen  über  den  strophi« 
sehen  Bau.  Aus  den  'letzteren  allerdings  ist 
nicht  viel  zu  lernen,  sie  haben  auch  in  solcher 
Vereinzelung  keinen  Werth , sondern  können 
ihn  nur  durch  zusammenhängende  Forschung 
auf  dem  ganzen  Gebiete  erhalten.  So  hätte  bei 
L.  XIV  darauf  hingewiesen  werden  müssen,  dass 
die  Strophenform  desselben  eine  uralte  volks- 
inässige  sei,  die  in  verschiedenen  Variationen 
bei  den  Troubadours  wie  in  der  altfranzösischen 
Lyrik  vorkommt:  vgl.  Jahrbuch  XII,  8— 6.  Es 


Philippsön,  Der  Mönch  von  Montaudon.  261 

würde  aas  solcher  Betrachung  sich  auch  ergeben 
haben,  dass  der  Wechsel  des  Refränreims  im 
zweiten  Theile  des  Gedichtes  (welcher  Refrän- 
reim  übrigens  nicht,  wie  S.  88  angegeben  ist, 
bis  Str.  8,  sondern  bis  Str.  9 inclus.  durch* 
geht)  sicherlich  nicht  das  ursprüngliche  ist.  Ich 
glaube  daher,  dass  die  Strophen  von  V.  46  an 
(S.  44)  bis  zum  Schlüsse  nicht  vom  Mönch  von 
Montaudon  herrühren , sondern  Zusatz  eines 
Andern  sind,  wenigstens  diejenigen,  die  im  Re- 
* fränreim  abweichen.  Dazu  kommt,  dass  in 
diesen  Schlussstrophen  auch  sprachlich  einiges 
auffallende  begegnet ; die  Participialformen 
anei , charzi  V.  81,  82,  an  denen  der  Heraus- 
geber gar  keinen  Anstoss  genommen  zu  haben 
scheint,  und  die  unrichtige  Betonung  compressun 
(:  an)  V.  88  haben  nichts  analoges  in  den  ech- 
ten Liedern.  In  gleicher  Weise  hätte  die  sel- 
tene Versform  des  XV.  Liedes  (8.  46)  ein- 
gehender als  S.  93  geschieht,  besprochen  zu 
werden  verdient.  Ich  habe  davon  ebenfalls 
Jahrbuch  XII,  12  ff.  gehandelt.  Wenn  übrigens 
S.  93  meine  Vergleichung  des  Versmasses  die- 
ses Gedichtes  mit  dem  einer  Balade  in  meinen 
Denkmälern  gerügt  wird,  so  ist  das  völlig  un- 
begründet. Habe  ich  denn  von  gleicher  Stro- 
phenform gesprochen  ? Ich  behauptete  die 
Gleichheit  des  Versmasses  und  das  behaupte 
ich  auch  jetzt.  Schreibt  man  mit  der,  wie  ich 

Slaube,  richtigeren  Versabtheilung  die  Strophe 
er  Balade  so: 

Ailas!  que  farai?  e voletz  m’aucire? 
c’ab  un  dous  esgar  m’avetz  dat  consire, 
e faitz  gran  peoat  quar  tan  greu  martire 
mi  faitz  esparar,  sius  tenetz  tan.cara, 
so  frage  ich,  worin  der  Unterschied  dieses  Vers- 
massea  von  dem  des  Mönchs  in  den  Versen 


262  Gott«  gel.  Anz.  1874.  Stück  9. 

Manen 8 escomes  lo  frairi  premiers, 

. per  ergoill  d’aver  quar  si  sent  sobriers. 

- fräiris,  dis  manens,  trop  vob  faitz  parliera 

besteht.  Denn  dass  die  Reime  beim  Mönche 
nur  männlich  sind,  die  Cäsuren  zwischen  männ- 
lichem  und  weiblichem  Ausgange  wechseln, 
macht  doch  so  wenig  einen  Unterschied  der 
Versgattung  aus,  wie  dieselben  Eigenschaften  in 
dem  zehnsilbigen  epischen  Verse.  Auf  welcher 
Seite  also  das  ‘Irren’  ist,  wird  Hr.  Pb.  jetzt 
wohl  einsehen.  Ich  f&ge  den  im  Jahrb.  gege-  ’ 
benen  Belegen  noch  eine  zweite  Balade  hinzu, 
die  in  meiner  Gbrestom.  237  gedruckt  ist.  Hier 
sind  ebenfalls  vier  solcher  Zeilen  zu  einer 
Strophe  verbunden: 

Qu’eu  non  trob  conseil  s’eu  de  li  non  l’ai; 
per  qu’eu  joinchas  mas  denant  li  venrai, 
prejant  humilment,  quant  far  o poirai, 
quem  ‘facha  socors  sevalsd’un  dolz  bai. 

■,  In  Bezug  auf  die  Anordnung  der  Verse  ist 
als  auflällig  noch  zu  bemerken,  dass  die  Zehn~ 
silbler  mit  einem  Spatium  nach  der  Casur  ge* 
druckt  sind.  Ich  kann  das  nicht  billigen;  denn 
rückt  man  bei  reimloser  Gäsur  ab , welches 
Mittel  der  Bezeichnung  bleibt  dann,  um  innere 
Reime  kenntlich  zu  machen?  Hier  ist  das  Ab- 
rucken am  Platze;  beim  gewöhnlichen  Zehn  silb- 
ler um  so  weniger,  als  ja  in  der  Lyrik  keines- 
wegs wie  im  Epos  die  Gäsur  eine  ganz  fest- 
stehende ist,  sondern,  wenn  auch  selten,  ihre 
Stelle  wechselt.  Ein  paarmal  ist  übrigens,  wohl 
durch  Versehen,  die  Cäsur  falsch  gesetzt:  so 
I,  38.  II,  27.  VH,  49. 

In  Bezug  auf  Echtheit  und  Unechtheit  der 
Lieder  hätte  es  sich  empfohlen,  die  zweifelhaf- 
ten in  einen  Anhang  zu  stellen.  Es  handelt 
sich  hier  um  die  Echtheit  der  Lieder  VII— -IX 


Philippscm , Der  Mönch  von  JCentaudon.  283 

und  des  SirventeS  XI,  die  in  verschiedenem  Grade 
angefochien  werden  kann.  Ich  babe  VII  (Ades 
m plus  viu  tnais  apren)  in  meinem  Grundriss 
S.  138  Gui  von  Uisel  zugetheilt*  dem  CH  PB 
das  Lied  beilegen,  während  AIKd  es  dem 
Mönch . yon  zuschreiben.  Zunächst  ist . zu 
beachten,  dass  AIKd  nur  Handschriften  einer 
Klasse  sind,  die  Zeugen  für  Gtti  dagegen  ver- 
schiedenen KUssen  angehören;  die  Ueberein** 
Stimmung  verschiedener  Klassen  aber  ist  in  sol- 
chem Falle  ebenso  wie  bei  der  einzelnen  Les- 
art von  grosser  Bedeutung*  Auch  ist  der 
ganze  8til  nichts* weniger  als  der  des' Mönchs; 
ein  Gedanke  wie  in  V*  15  • dass  Gesang 

nichts  taugt,  wenn  .er  nicht  von  Liebe  eingege* 
ben  ist,  liegt  gar  nicht  in  seinem  Charakter« 
Auch  der  Stropbenbau,  achtsilbige  Verse,  denen 
am  Schlüsse  ein  Beixnpaar  von  Zehnsilblern  hei-r 
gefugt  ist,  bat  nichts  analoges  bei  iheou 

Bei  VIII  iBt : die  Autorschaft  des  Mönchs 
ebensowenig  gesichert«  D*IK  nennen  $eren* 
guier  von  Palazol,  - 0;  Guillem  von  Berguedan, 
E Guillem.  Magret,  f Aimeric  de  Belenoi,  das 
Register  von  C und  R endlich;  den  Mönch  als 
Verfasser.  DaIK  haben  hier  allerdings  nur  den 
Werth  einer  Hs.,  aber  ebenso  R und  Register 
von  C,  denn  R ist  eine  der  Quellen,  die  selbst 
oder  deren  Vorlage  von  C benutzt,  wurde.  Es 
kommt  also  auf  andere  Gründe  an:  Pb.  macht 
den  Vergleich»  im  Eingänge  geltend  ; allein  Lie- 
der, die  .mit  Vergleichen  und  den  Worten 
jiissi  com  beginnen,  sind  auch  sonst  sehr  häu- 
fig, ich  kenne  mehr  als  20  Lieder,  die  diesen 
Anfang  haben.  Es  lag  nahe  gerade  dem  Mönche» 
bei  dem  die  Vergleiche  im  Eingang  verhältniss- 
mässig  am  häufigsten  sipd,  ein  solches  Lied, 
das  namenlos  überliefert  sich  fand,  beizulegen« 


264  Gött.  gd.  Anz.  1874.  Stück  9. 

Stil  und  Strophenbau  (Zehnsilbler,  am  Schlüsse 
der  Strophe  zwei  achtsilbige  Verse)  sind  hier 
ebenso  wie  bei  VII  gegen  den  Mönch.  Bei  Nr. 
IX  erkennt  der  Herausgeber  selbst  an,  dass  die 
Autorschaft  des  Mönchs  auf  schwachen  Füssen 
steht  (Da  gegen  HIKd);  warum  also,  muss 
man  fragen,  ist  das  Lied  überhaupt  aufgenom* 
men,  und  wie  kommt  Ph.  dann  dazu,  unter  den 
Maria  von  Ventadom  gewidmeten  Liebescanzonen 
auch  Nr.  IX  anzufuhren  (S.  5),  wenn  dies  Lied 
eben  nicht  von  ihm  ist?  Auch  bei  XI  gibt  der 
Herausgeber  zu,  dass  die  Zeugenschaft  von  CR 
gegen  A DIE,  die  es  Gausbert  von  Poidbot 
beilegen,  nicht  viel  wiegt;  und  doch  steht 
dies  Sirventes  mitten  unter  den  unzweifelhaft 
echten  I 

In  Bezug  auf  Autorschaft  hatte  auch  bei  den 
entschieden  echten  Liedern  erwähnt  werden 
müssen,  wo  etwa  einzelne  Hss.  einen  andern 
Verfasser  nennen;  so  war  bei  I zu  erwähnen, 
dass  P dies  Lied  Raimon  Jordan  beilegt,  um 
so  mehr,  als  diese  Hs*  mit  benutzt  ist;  II  steht 
in  N unter  dem  Namen  von  Arnaut  deMaroill; 
IV  in  ü unter  Cadenet. 

Gehen  wir  nun  zu  der  Kritik  der  einzelnen 
Lieder  über.  I,  3 ist  bei  den  Varianten  über- 
sehen, dass  E statt  ni  mes  liest  ni  fes ; 12,  dass 
E ebenfalls  gran  paar  hat;  54,  dass  auch  D 
las  follas  liest.  Wichtiger  ist,  dass  V.  70 — 72 
keineswegs  in  E fehlen,  wie  in  dem  Abdruck 
bei  Mahn  der  Fall  ist,  sondern  in  ES 
(ausserdem  in  C)  sich  finden.  — V.  58  ist  die 
aufgenommene  Lesart  quar  genser  eie  e plus 
fresca  color  (aus  E),  sicherlich  nicht  die  echte; 
sie  hätte  wenigstens  die  Nachbesserung  de  plus 
f.  c.  verlangt.  Die  Lesart  von  S e de  major 
honor,  und  U maior  honors  wird  aber1  gestützt 


Philippsön,  Der  Mönch  tod  Montaudon.  285 

durch  CDEM,  welche  e de  major  honor  (valor 
M)  haben.  — V.  60  ist  zunächst  unrichtig  als 
Lesart  yon  E angegeben  d m.  prez,  während  E 
bat  d mager  bes;  prez  ist  Lesart  Yon  S.  Die 
Nominative  sind  hier  ebenso  anstössig  wie  in 
V.  58  M hat  hier  wie  V.  58  das  richtige,  den 
Genetiv;  die  richtige  Lesart  wird  die  Ton  0 
sein:  dds  mayors  bes , de  las  majors  beutatz.  — 
V.  65  ist,  wie  der  Herausgeber  S.  57  bemerkt, 
die  Reimbindung  gestört , 65  muss  auf  . . en 
reimen.  Der  Fehler  ist  übrigens  alt,  denn  er 
steht  gemeinsam  in  EIKMU;  ihn  vermeiden  C 
und  S auf  verschiedene  Weise,  was  freilich 
nicht  beweist,  dass  ihre  Lesart  die  echte  ist. 
Diese  kann  verloren  sein,  und  CS  enthalten 
zwei  Besserungsversuche  des  wahrgenommenen 
Fehlers.  Für  die  Echtheit  der  Strophe  spricht 
übrigens  ihr  Vorkommen  in  verschiedenen  Hand*« 
Schriftenklassen.  — V.  70 — 72  ist  der  Lesart 
von  S gefolgt,  da  der  Text  von  E,  bei  Mahn 
fehlend,  demnach  auch  Ph.  unbekannt  war;  V. 
70  und  72  erfahren  durch  CE  eine  Verände- 
rung: 70  qfu’om  ms  n’aperceubes,  und  72  ses  cor 
que  ja  re  no  vos  en  (no  von  E)  dieses.  Aber 
auch  wer  nur  S vor  sich  hatte,  durfte  die  un- 
provenzalische  Form  nus  für  nuls  nicht  stehen 
lassen.  Das  zweite  Geleit,  welches  nur  S hat, 
ist  wegen  der  persönlichen  Beziehungen  doch 
wohl  nicht  anzuzweifeln;  auch  hier  war  die 
Schreibung  von  S mehrfach  zu  ändern : 73 
VAvergnatz  in  VÄlvergnatz,  Ih  Petaus  in  Peitaus, 

76  Vans  für  Van  zu  schreiben;  denn  wenn  in 

77  das  hs.  nesci  in  nesds  verändert  wurde, 
musste  das  nomin.  Zeichen  auch  hier  gesetzt 
werden. 

Das  zweite  Lied  ist  uns  nur  in  C erhalten: 
hier  hat  der  Herausgeber  von  der  Conjectural* 


366.  Gott.  geh  Abe.  1874.  Stückifl. 

Kritik  einen  zu  freien  Gebrauch  gwnRCht.  So 
igt  V.  6 o plait  in  ab  plait  geändert  Es  ist 
aber  zu ' verbinden  per  far  bm  acofdier  o plait 
d’atnor,  et  ieu  fauc  atretal.  plait  d’amor  bedeu- 
tet ‘gütliche  Beilegung’  und  ist  synonym:  mit 
hon  aeordier,  im  Gegensatz  zu  plait  mal  e soo* 
brier,  in  V.  1;  et  steht  am  Anfänge  des  Nach- 
satzes wie  oft.  — V.  8 ist  pregui  in  preguei  ver- 
ändert; auch  das  ist  unnöthig,  Und  die  Bemer- 
kung auf  S.  60»  die  diese  Aenderung  rechtferti- 
gen soll,  dass  die  an  sich  schon  ‘ungewöhnliche’ 
Form  pregui  vor  dem  vokalisch  anlautenden  et 
kaum  zu  dulden  sei,  ganz  irrig;  denn  wir  wer- 
den sehen,  dass  der  Mönch  den  Hiatns  unbe- 
denklich duldet,  und  auch  Ph’s  Text  hat  ihn 
mehrfach  sonst.  — V.  11  de  lai  in  de  lei  zu 
ändern  ist  gar  kein  Grund  vorhanden;  de  lai  on 
bedeutet  ‘von  der  Seite  her  wo’  d.  h,  von  Sei- 
ten derjenigen , bei  welcher.  Ebenso  steht  en 
tal  be  don  VI,  2.  3,  gleichfalls  mit  Bezug  auf 
die  Geliebte,  de  tod  loc  don  X,  40,  wie  bei  Ber- 
nart  de  Yentadorn  (Chrestom.  50,  9)  quant  eu 
parti  de  lai,  von  dort,  wo  die  Geliebte,  ist  d.  h. 
von  ihr.  — V.  12  ist  die  Aenderung  noch  stär- 
ker. Die  Hs.  überliefert  mos  pua  de  re  ng  la 
prec  ni  l’enguier , quem  en  val  drege,  ni  que 
vatic  plus  languen,  pus  etc. . Ph.  schreibt  tnas 
per  que  ges  no  li  prec*  Die  hs.  Lesart  gibt 
gang  guten  Sinn : was  nützt  mir  mein  Recht, 
da  ich  sie  um  nichts  bitte?  und  warum 
also  schmachte  ich  noch  länger,  da  sie  mir  doch 
kein  Unrecht  thut  etc.  Eine  unnöthige  ortho- 
sranbische  Aen  ierung  ist  tont  für  tan  der  Hs, 
in  Vi . 16.  während  quatt  V.  26  unangetastet 

blieb.  V.  17  muss  geschrieben  werden  qu’ill 

not  honre,  dass  sie  ihn  .nicht  ehre.  — Eine  un- 
nötige Aenderung  findet  sich  ferner  in  V.  25, 


Philippaon,  Der  Mönch  von  Montaudon.  26t 

wo  die  Hs.  liest  per  dim,  sim  feme , que  guess 
im  n/i<m  dizen,  que  re  nom  fcdU ; Pb.  schreibt 
stn  fauc,  quez  ieu  eis  vau  dizen  que  re  nom  faül, 
und  übersetzt  ‘so  verfahre  ich  in  Bezug  darauf, 
dass  ich  Belbst  (mir)  immer  wieder  und  wieder 
sage’.  Allein  fmc  vertritt  hier  wie  so  häufig 
das  vorausgehende  Verbum;  vorausgeht  e co* 
nose  be  que  fdl  sen  e Imgier  cd  sfcib  aitan  nom 
m tenc  per  manen , ‘ich  bin  ein  Thor,  wenn  ich 
damit  mich  nicht  für  reich  haltet  Nun  fährt 
er  fort:  ‘Bei  Gott,  so  thue  (=  halte)  ich  mich, 
was  immer  ich  auch  sagen  möge,  denn  nichts 
fehlt  mir’  etc.  — Wieder  überflüssig  ist  die 
Aenderung  von  non  Vms  in  noül  aus  V.  27, 
da  derDat.  des  Femin.  des  pron.  conjoint  auch 
li,  angelehnt  l,  lautet.  — Falsch  ist  V.  32  ge« 
schrieben  s’ill  camge  mas  razos  statt  sil  (*=  si 
U ),  ‘wenn  ich  ihr  meine  Bede  ändere’.  — > Eine 
ebenso  starke  wie  verkehrte  Aenderung  findet 
sich  V.  46.  Die  Hs.  liest  V.  45  f.  e tenra  vos 
per  son  mortal  guerrier:  e non  (wen  mais  de 
guna  gen.  Die  erste  Zeile  schliesst  sich  an  die 
vorige  Strophe  an,  in  der  gesagt  war,  dass 
herzliche  Liebe  von  den  Frauen  mit  Schlechtem 
vergolten  wird.  ‘Sie  (die  von  euch  geliebtb 
Frau)  wird  euch  für  ihren  Todfeind  halten. 
Und  das  kommt  doch  sonst  nirgend  auf  der 
Welt  vor9.  Denn  nehmt,  fährt  er  fort,  einen 
Juden  oder  Sarrazenen  oder  Wucherer,  wenn 
ihr  ihn  liebt,  er  wird  euch  wieder  lieben9.  Was 
ist  da  zu  ändern?  Aber  Herr  Ph.  schreibt' 
statt  e non  aven  — et  omJauzcm  (!}.  Auch  in 
den  folgenden  Zeilen  ebenso  unberechtigte  Ver- 
änderungen ; V.  50  qu'el  mens  nous  am  die  Hs., 
‘dass  er  (der  Jude,  Sarrazene,  Wucherer)  euch 
nicht  lieben  sollte  (Ph.  schreibt  qu'itt  mais  ncl 
am ),  com  que  sia  de  Val , ‘wie  es  auch  im  übr** 


268  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  9. 


gen  stehen  möge'  (PI*,  com  que  sia  de  mal),  e 
nous  n’aja  solatz  plus  cominal  ‘und  dass  er 
euch  nicht  deswegen  freundlicher  sei’  (Ph.  e 
noü  n’aja).  Aenderungen,  die  sich  durch  eine 
Reihe  von  Versen  hinziehen,  sind  immer  bedenk- 
lich, hier  aber  gänzlich  verkehrt.  V.  52  steht 
in  der  Hs.  nous  o tenra  a be,  ‘wird  es  (dass 
ihr  sie  liebt)  euch  nicht  als  Gutes  anrechnen'; 
Ph.  ändert  ohne  jeden  Grund  o in  lo.  Ob  dig- 
rams V.  5?  (2silbig  gelesen)  provenzalisch 
möglich  i6t,  bezweifle  ich  sehr;  es  wird  zu  le- 
sen sein,  wenn  man  dir  aus  nicht  beibehalten 
will,  e dirai  vos  per  que.  In  der  Schlusszeile 
(V.  55)  ist  überliefert  que  Vamassetz  mais  d?  autre 
qu’mc  fos , um  eine  Silbe  zu  kurz.  Ph.  schreibt 
ePautra  que  anc  fos;  ich  glaube,  einfacher  als 
die  doppelte  Aenderung  ist  d’autra^  re  qu’anc 
fos ; in  der  Vorlage  stand  dauere  quanc  fos , der 
Schreiber  übersah  das  Abkürzungszeichen  für  ro. 

In  Nr.  III  ist  bei  den  Lesarten  ubersehen, 
dass  V.  8 in  D fehlt,  und  dass  diese  Hs.  V. 
34  statt  e liest  o.  Die  grösste  kritische  Schwie- 
rigkeit machen  hier  die  Verse  43 — 45.  Hier 
folgt  der  Herausgeber  der  Lesart  von  U,  also 
der  schlechteste^  Hs.,  gegen  ABD,  und,  will 
ich  hinzufügen,  auch  gegen  C G I K R , also  ge- 
gen Handschriften  ganz  verschiedener  Klassen. 
Sehen  wir  uns  die  aufgenommene  Lesart  an, 
so  bietet  sie  zu  grossen  Bedenken  Anlass. 
Dass  es  V.  43.  44  tods  nescies  ni  tods  voters 
heissen  müsste,  versteht  sich  von  selbst,  ist 
aber  hier  unerheblich;  aber  sehr  anstössig  ist 
ai  omat  de  fes  (=  de  fe),  das  durch  den  Ver- 
weis auf  merces  (IV/  36)  kaum  gerechtfertigt 
wird  und  wo  sicherlich  nicht,  wie  S.  69  ge- 
schieht, das  s als  Rest  des  d (»  s)  in  fidem 
betrachtet  werden  darf,  Noch  anstössiger  ist 


Philippson,  Der  Mönch  tob  Mantaudon.  989 

tes  cor  felos  im  Heime  der  letzten  Zeile;  denn 
die  Verweisung  auf  Honnorat  hilft  nichts,  da 
wahrscheinlich  Honnorat  die  oblique  Form  def 
plor.  felos  irrig  für  rin  adj.  auf  oa  (ostu)  ge- 
nommen hat;  es  musste  also  erst  ein  besserer 
Beweis  beigebracht  werden  als  die  Stelle  hier 
in  U.  Die  erwähnten  Verse  (43 — 45)  stehen  in 
unverkennbarem  kritischem  Zusammenhänge  mit 
V.  52 — 54;  auch  hier  schlisset,  sich  Pb.  der 
Lesart  von  U,  daneben  S an.  Vergleicht  man 
abpr  die  andern  Hss.,  so  sieht  man  leicht,  dass 
zunächst  V.  53  ein  Fabrikat  des  Schreibers  von 
S ist,  denn  diese  Zeile  fehlt  in  ABDGIK,  C 
hat  leeren  Baum  dafür  gelassen',  B wiederholt 
aus  Strophe  5,  U endlich  setzt  wie  S einen 
Vers  eigner  Erfindung  hinein.  Daraus  geht 
hervor , dass  schon  die  Originalhandschrift 
lückenhaft  war,  und  dass  wir  durch  nichts  be- 
rechtigt 6ind,  den  Ergänzungsrersnoh  junger 
und  schlechter  Handschriften  in  den  Text  auf-» 
zunehmen.  Das  . Geleit,  welches  sicher  ebenso 
echt  «ist,  wie,  das  von  S in  Nr.  I,  und  .ebenfalls 
auf  den  Grafen  von  Angouleme  sich  bezieht,  steht 
nnr . in  C,  Pb.  bat  es  aus.  Rayn.  entnommen; 
aber  er  durfte  nicht  dl  pros  comte  schreiben, 
sondern  musste  pro  setzen.  LuneiUs  in  den 
Schlusszeile  ist  falsche  Schreibung;  allerdings 
setzt  C Lunelhs,  aber  C schreibt  auch  elh  (ille), 
belh,  belha  (bellum,  bella),  wo  die  alten  Hss. 
nur  l kennen ; so  ist  auch  hier  Lwnels  zu  setzen. 

ln  Nr.  IV  ist  als  kritischer  Grundsatz  zu 
betrachten,  dass  die  Uebereinstimmung  von  IB, 
welche  verschiedenen  Klassen  angehören,  ent- 
scheidet. V.  4 gehen  die  Lesarten  auseinander: 
I hat  quela  sap,  RU  quela  sap  be,  S gar  il  sap 
be,  C qucar  elä  sap;  he  fehlt  also  in  CI.  Es  ist 
aus  der  Zusammenstellung  ersichtlich,  dass  die 


270  . Gott.  get.  Auk.  1674.  Stack  9. 

originale  Lesart  war  que  da  sap;  der  Hiatus 
veranlasst«  tbeils  die  Verwandlung  von  que  in 
quar  (G  S),  theils  die  Hinznfugnng  von  be  (RSU). 
— Den  gleichen  Hiatus  zeigt  V.  8 per  que  ten 
chant,  wo  CSD  daher  andern:  C per  qtter* 
chant,  S per  que  m’esforts,  U e per  so  chant.  — 
Auch  V.  15  können  wir  das  gleiche  beobachten : 
die  echte  Lesart  war  hier  que  en  un  loc,  welche 
RO  hier  bewahrt  haben;  CS  setzen  e qu’en  un 
loc , I quxen  un  sei  loc:  e und  sol  sind;  interpo- 
liert. — Noch  an  einer  vierten  Stelle  scheint 
mir  der  Hiatus  beseitigt:  hier  haben  IS  penri’eu 
eissamen ; dagegen  EU,  was  in  den  Lesarten 
nicht  angegeben  ist,  penria  eissamen,  auch  G 
liest  so,  und  mir  ist  nicht  zweifelhaft,  dass  die 
Einschiebung  des  Pronomens  durch  den  Hiat 
veranlasst  wurde.  — Endlich  erklären  sich  auch 
V,  49  die  abweichenden  Lesarten  durch  das 
Streben,  den  Hiatus  zu  beseitigen.  ABR  ha- 
ben richtig:  mas  quant  de  vos,  que  en  cor  vos 
meets,  dagegen  DFI  mos  de  vos  domna,  qu’en 
cor  v.  m • 

Auch  in  Nr.  V muss  die  Uebereinstimmung 
von  Hss.  verschiedener  Klassen  entscheiden.  V. 
16  ließt  nicht  bloss  I que  für  qu’ieu,  sondern 
auch,  was  nicht  angegeben  ist,  DR,  und,  will 
ich  hinzufügen,  auch  G;  es  stehen  also  AB 
gegenüber  DI  CR;  die  Entscheidung  muss 
daher  für  letztere  ausf&llen.  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  dem  folgenden  Worte  hi  (es  ihr),  wo- 
für nur  AB  loü;  i steht  in  diesem  Falle  für 
den  Dativ  des  Pronomens.  — In  V.  19  f.  eine 
Anspielung  auf  eine  uns  unbekannte  Thatsache 
zu  erblicken  ist  ganz  unbegründet.  Der  Dich- 
ter sagt:  4ch  fürchte,  wenn  ich  mich  erkläre^ 
ihre  Huld  zu  verlieren;  geschieht  das,  dann 
braucht  sich  kein  Priester  um  mich  zu  be- 


Philipp&n,  Der  Mooch  von  Montau&n.  47 1' 

mühen  (um  wir  die  letzte  Oelurig  *zu  geben)  f 
denn  er  würde  mich  nicht  mehr  am  Leben  tref* 
fen\  ich  würde  auf  der  Stelle  sterben. 

Nr.  IV*  13  ist  von  der  Lesart  aller  Hss.  ab«' 
gewichen,  wieder  ohne  Noth.  Die  Hss,  haben 
li  la  sua  gram  ricors  va&-  tni  noil  äessovonta  o 
fne  letn  forses  amors  (Ph.  equdl  ntfn  f.  ö.), 

4 wenn  sie  ihren  hohen  Adel  mir  gegenüber  nicht 
vergäsee,  und  zwar  dass  die  Liebe  sie  dazu 
zwänge’.  — Zn  V.  32  f.  führen  die  Anmerkun- 
gen Sl  86  die  Uebersetzung  von  Raynonard  ‘par 
amour  da  paiefroi,  dbnfc  ainsi  eile  me  iaissft 
descendre”  an  and  halten  sie,  wie  es  scheint; 
für  richtig.  Sie  ist  es  aber  nicht,  man  muss 
übersetzen  ‘von  welchem  sie  sich  mir  (in  meine 
Arme)  herabgleiten  liess’.  Die  uns  ‘unbekannte 
Thatsaebe’  besteht  also  darin,  dass  sie  beim 
Absteigen  sieb  von  dem  Mönche  helfen  liess 
und  er  dabei  das  * Glück  hatte,  sie  vorüber« 
gehend  im  Arme  7zu  halten.  — Wie  diese  Stelle, 
so  sind  die  folgenden  Verse  vom  Herausgeber 
gänzlich  missverstanden  und  falsch  interpretiert 
worden.  Er  schreibt 

doncs  noi  ac  pro  al  mieu  par* 
non.  qu’amors  fai  l’uzurier, 
qu’ades  on  mais  a,  plus  quier ; 
für  non  que  schlägt  er  S.  66  f.  vor  mos  que  nnd 
erklärt:  ‘da  gab  es  kein  dem  meinen  gleiches 
Glück,  nur  dass  die  Liebe  den  Wucherer  spielt, 
welcher,  je  mehr  er  hat,  desto  mehr  verlangt’. 
Es  ist  aber  zu  schreiben: 

doncs  noi  ac  pro?  ai  mieu  par 
non,  qu’amors  fai  l’uzurier  etc. 

‘War  es  damit  (mit  dieser  Ounst)  nicht  genug? 
Noch  meinem. Bedünken  nein,  denn  Liebe- spielt 
den  Wucherer’*  etc.  — . V.  42  ist  wieder  ohne 
Grund  von  der  Hs»  abgewichen ; dieselbe  bat 


272  Qött.  gfll.  Anz.  1874.  Stück  9. 

allerdings  nicht,  wie  Mahn  angibt,  mcdegret, 
sondern  nudegrd;  es  ist  also  zu  lesen  m’ale- 
gr’d  sieu  voter  ‘ich  erfreue  mich  in  ihrem  An- 
blick’. Das  von  Ph.  gesetzte  m’aiegrcd  sieu  vo- 
ter legt  die  unrichtige  Form  statt  eiern  veters 
hier  dem  Dichter  unnöthig  zur  Last,  wenn 
wir  auch  sehen  werden , dass  Verletzungen 
der  Grammatik  bei  ihm  Vorkommen.  Statt  len 
in  der  folgenden  Zeile  würde  ich  nicht  leu,  son- 
dern ben  schreiben.  — V.  52 , wiederum  ganz 
überflüssige  Aenderung:  ‘es  gibt  auf  Erden  kei- 
nen Herzog  und  König,  um . dessen  sämmtliche 
Lehen  ich  nicht  ihr  (der  Geliebten)  Haus  ver- 
tauschen würde,  wenn  • es  mein  wäre’  ( lo  sieu 
ostaL,  s’ era  miens) : Ph.  setzt  eü  sieus  ostals  fora 
tmeus. 

Zu  VU  bemerke  ich  nur,  dass  nach  dan 
(V.  18)  natürlich  ein  Semikolon  stehen  muss  und 
dass  V.  63  statt  vos  zu  lesen  ist  fos. 

In  dem  Sirventes  auf  die  gleichzeitigen  Trou- 
badours (Nr.  X)  ist  V.  7 die  Lesart  aller  Hand- 
schriften, ausser  AL,  lo  primiers  es,  also  CMB 
4-  D1K,  sie  wird  also  wohl  die  echte  sein.  Die 
drei  letzten  Zeilen  dieser  Strophe  erkläre  ich 
anders  als  S.  74  geschieht:  ‘aber  weil  er  den 
Gegenstand  seiner  Sehnsucht  nicht  verlangt,  so 
will  ich  sein  Geschäft  nicht  haben,  .denn  er 
wird  (oder:  man  wird  dabei)  sohlecht  aufgenom- 
men’. Auch  V.  40  |f.  erkläre  ich  anders:  ‘er 
dichtet  seine  Lieder  über  eine  solohe  Stelle,  wo 
er  nicht  allein,  sondern  mit  80  Genossen  ist’, 
wobei  de  teil  loc  auf  die  von  ihm  besungene 
Dame  (die  sich  also  wahrscheinlich  nicht  des 
besten  Bufes  erfreute)  ebenso  geht  wie  in  VI, 
2 (vgl.  oben  zu  H,  11).  — In  V.  46  f.  weicht 
der  Herausgeber  von  A ab,  ebenso  von  AL  V. 
76  f.),  und  rechtfertigt  dies  in  den  Anmerkungen. 


I 


Philippsüll , Der  Mönch  von  Montaudon.  273 

Aber  wenn  die  beiden  Hss.  (mp.  A allein)  hier 
so  offenbare  .Fehler  haben,  dann  verdienen  ne 
überhaupt  nicht  den  Vorzug,  der  A hier  gege~ 
ben  ist,  wenigstens  nicht  gegenüber  der  Har- 
monie vonD  mit  Raynouards  Texte,  der  haupt-» 
sächlich  G folgt.  — V.  54  ist  mcüles  nicht  ‘bes- 
8er’,  sondern  (mehr’,  wie  das  altdeutsche  baz 
auch  beides  bedeutet.  — V.  80  fehlt  En  in  A 
([auch  GR)  ganz  mit  Recht,  denn  Moyses  wird 
immer  dreisilbig  gebraucht.  Wenn  übrigens 
Raynouard  diesen  Guillem  als  ‘Marquis’  bezeich- 
net, so  beruht  das  auf  der  Lesart  von  G.  — 
V.  84  haben  wir  wieder  einen  Fall  von  besei- 
tigtem Hiatus:  die  echte  Lesart  war  donzels 
vteäls  barba  ab  lonc  gren , wo  barba  in  absolu- 
ter Construction  steht  ‘einen  Bart  habend’,  we- 
gen des  Hiatus  und  vielleicht  auch  wegen  der 
Construction  schreibt  A barbutz  für  barba;  D 
I barbag  lonc  gren,  und  fügen  vorn  con  hinzu; 
R lässt  ab  aus;  M entfernt  sich  am  meisten 
und  schreibt  (=k  Rayn.)  ez  es  veils  ab  barb 9 ez 
ab  gren . — V.  103 — 106  müssen,  wie  die  Reime 
beweisen,  in  zwei  Geleite  von  je  zwei  Zeilen 
zerlegt  werden. 

XI,  6 haben  CI  übereinstimmend  si  tu  ver 
dir  en  (direm  G)  sofers;  da  sie  verschiedenen 
Classen  angehören,  werden  wir  dieser  Lesart 
den  Vorzug  geben  müssen,  auch  R hat  dieselbe. 
Der  gleiche  Fall  kehrt  V.  26  wieder,  wo  GDIR 
haben  pois  tan  gram  paubr  eirat  sec;  paubreitatz, 
wie  A hat,  (sollte  nicht  paubreiratz  stehen?),  ist 
nicht  einmal  eine  richtige  Form. 

XU,  4 halte  ich  die  Lesart  tot  auch  jetzt 
noch  für  die  richtige,  denn  es  ist.  Neutrum, 
näher  erläutert  in  der  folgenden  Zeile. 

In  XIII  fehlt  bei  den  Lesarten  die  Angabe^ 
dass  nach  V.  15  in  A sich  Raum  für  eine  Zeile 


18 


2T4  G m.  geK  Anz.  1874:  Stück  ft. 

findet;  V.  34  hat  A nicht  sin  lets,  sondern* 
sintetz.  V.  47  ist  statt  qu’el  wähl  za  keen 
quel;  V.  68  statt  mais  1. mas. 

XIV,  23  hat  nicht  nur  D,  sondern  alle  Hs». 
cPiütraSj  und  ganz  richtig;  es  ist  terras  zu  er* 
ganzen»  — V.  48  muss  statt  ae  gelesen  werden  - 
am.  Bemerkt  hätte  werden  sollen , das»  diese' 
zehnte  Strophe,  die  nur  in  D (IK)  steht,  nn-> 
vollständig  abbricht,  so  dass  wenigstens  zwei 
Zeilen  fehlen.  Offenbar  wurde  sie  von  den 
Schreibern  als  Geleit  aufgefasst  und  daher  mit 
der  nächsten  Strophe  ein  neues  Gedicht  be- 
gonnen. 

Im  zweiten  TheiJe  V 13  f.  hat  der  Heraus* 
gober  sich  von  den  Hss.  mehrfach  entfernt;  ich 
glaube  nicht,  dass  etwas  zu  ändern  ist  ‘e  vos 
smblatz  majestcA  Ae  pont . de  faissos,  cant  röbe- 
gatZy  4hr  scheint  am  Anssehen  gleich  einer 
Brückeninajestät  (d.  h.  einem  auf  der  Bräche 
stehenden  Heiligenbilde),  wenn  ihr  euch  roth 
schminkt9.  V.  22  sehe  ich  auch  keinen  Grund 
esfachatz  auf  rua  zu  beziehen,  und  deshalb  la 
rua  in  lo  ron  zu  vor  ändern-»  -*•  Y.  28  halte  ich 
für  besser  statt  so  zu  schreiben  r'o.  — V.  59 
las  ich  in  I tirant  carton  (D  ctrton) ; freilich 
ist  auch  damit  noch  nichts  anzufangen.  Viel- 
leicht ist  die  fehlende  Silbe  durch  plus  vor  ti- 
rant  zu  ergänzen*  — Y.  68  lese  ich  statt  c&n- 
vers  ~~  oonques  ( : es)  und  erkläre  es  als  Ab- 
leitung von  conca  (es  ense),  lo  irieül  conques, 
‘das  alte  Gehäuse9. 

XY,  3 ist  unnöthig  geändert;  mesdos  de 
temo , gerathen  mit  einander  in  Streit,  ist  ganz 
unanstössig.  — Auch  Y.  7 ist  nichts  zu  ändern, 
nur  muss  man  in  der  folgenden  Zeile  -die  weg« 
geschnittene  Silbe*  nicht  durch  as  sondern 
durch  la  ergänzen : ‘nicht  wird  ihre  Gesellschaft; 


Philippsbn,  Der  Mönch  tob  Sföntaudon.  275 

eine  Zeit?  grosser  Liebe  haben",  d.  ft.  sie  wer- 
den sich  bald  veruneinigen.  Warum  steht  statt 
lor  in  Z.  8 die  jüngere  Form  lur,  die  doch  G 
hier  gar  nicht  hat?  — V.  10  zieht  man  per 
ergoitt  <Faver  besser  zur  vorigen  Zeile  und  inter- 
pangiert  vor  quar . — V.  38  ist  avers  in  (wer 
za  verändern,  denn  dass  es  singul.  ist,  beweist 
das  lo  der  folgenden  Zeile.  — V.  63  schreibt  der 
Heniusg.  cuidatz  statt  des  hs.  atjatr,  während 
er  XVI,  1 1 ctt/tt  beibehält.  — V.  55  trifft  die 
Ergänzung  non  nicht  das  Richtige:  pensarias 
hm  que  vos  sen  ajatz,  qui  nous  conoissia  wird 
za  lesen  sein : ‘man  könnte  denken,  dass  ihr 
Verstand  habt,  wenn  man  euch  nicht  kennte’, 
j — Die  letzte  (8.)  Strophe  ist  vielmehr  in  zwei 
j Geleite  zu  zerlegen , von  denen  jedem  der 
Sprechenden  eins  zufällt.  Daraus  erklärt  sich 
auch,  dass  nur  zwei  Langzeilen  statt  drei 
stehen;  daher  ist  nach  V.  58  und  62  keine 
Lücke  anzunebmen.  — V.  61  muss  ebenso  wie 
in  andern  Fällen  die  Form  frairis  gesetzt  wer- 
den; V.  62  würde  ich  nicht  tot  streichen,  son- 
dern schreiben  en  dreit  d’amor. 

XVI,  28  ist  die*  var.  leet.  falsch  angegeben ; 
die  in  den  Text  gesetzte  Lesart  ist  die  von  C, 
E aber  liest  m’encja  e tirop  cobeitos.  Letzterer 
Lesart  ist  unbedingt  der  Vorzug  zu  geben;  die 
Einschiebnng  von  hom  in  G ist  wieder  durch 
den  Hiatus  veranlasst.  — V.  27  statt  enuegos 
ist  mvejos  zu  lesen;  denn  abgesehen  davon,  dass 
die  Zusammenstellung  von  cel  qui  es  trop  en - 
ugos  m’enucja  ziemlich  abgeschmackt  wäre,  wei- 
sen auch  die  Worte  hom  trqp  retenens  (V.  28) 
auf  invidiosus,  neidisch,  hin.  Auch  ist  zu  be- 
merken, das»  in  der  unbetonten  mittleren  Silbe- 
nicht  Diphthongierung'  eintreten  kann,  sondern 

18* 


/ 


276  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stttck  9. 

das  Wort  nur  enojos  oder  (jiinger)  emyos  lau- 
ten kann. 

XVII,  2.  Die . Aenderung  von  enuqja  in 
enuejan  ist  überflüssig;  es  kann  recht  gut  bei 
nachfolgendem  Plural  das  Verbum  im  Singular 
Stehen.  Auch  in  V.  6 ist'  so  der  Hs.  unnöthig 
in  cd  verwandelt.  — V.  12  hat  allerdings  der 
Mahn’8che  Abdruck  estar,  allein  schon  der  Sinn 
musste  diese  Lesart  anstössig  erscheinen  lassen ; 
die  Anmerkungen  gehen  über  die  Stelle  still- 
schweigend hinweg.  Die  Hs.  hat  aber  das  rich- 
tige escas  für  estar.  — V.  15  hat  die  Aende- 
rung der  Schreibung  tracher  in  traire  den 
Herausgeber  zu  einem  metrischen  Fehler  veran- 
lasst; denn  traire  ist  immer  dreisilbig,  wie  die 
Stellen  im  Lex.  Rom.  5,  397  beweisen.  Es  ist 
also  tradier  nicht  zu  verändern.  — V.  19  ist 
die  Ausdrucksweise  vai  fen  en  ta  via , wobei  die 
Präposition  en  Ergänzung  ist,  nicht  gut  proven- 
zalisch;  die  fehlende  Silbe  ist  besser  zu  ergän- 
zen, indem  man  schreibt  messatgier,  vai  t’en , 
\ten]  ta  via,  wodurch  sich  auch  der  Ausfall  auf 
die  natürlichste  Weise  erklärt. 

In  XVIII  geben  die  Hss.  allerdings  die  Stro- 
pheneintheilung  in  der  vom  Herausgeber  befolg- 
ten Weise;  allein  es  ist  zu  beachten,  dass  von 
den  sechs*  Strophen  drei  weiblichen,  drei  männ- 
lichen Reim  haben,  und  dass  die  mit  männli- 
chem Reime  alle  drei  anfangen  mit  et  enuejam , 
die  mit  weiblichem  mit  Be  (Molt  3)  m’enueja. 
Daraus  ergiebt  sich  mit  grosser  Wahrschein- 
lichkeit, dass  die  sechs  Strophen  sich  in  drei 
gliedern,  deren  zweiter  Theil  immer  mit  et  e - 
nuejam  anfängt  und  männlichen  Reim  hat.  Den 
ganz  gleichen  Fall  haben  wir  in  XIX,  wo  jeder 
zweite  Theil  der  Strophe  gleichfalls  männlichen 
Reim  bat  (während  der  erste  weiblichen)  und 


Philippson , Der  Mönch  von  Montaudon.  277 

regelmässig  mit  et  enojam  beginnt.  Man  braucht 
daher  nur  Str.  4 und  5 umzustellen,  dann  ist 
alle6  in  Ordnung.  — V.  11  ist  raubaire  nicht 
gegen  die  Hss.  (auch  E liest  so)  in  ranbador  zu 
verwandeln;  manen  steht  des  Keimes  wegen  für 
rnnens,  wie  XIX,  61  dezacort  für  dezacortz  im 
Reime  steht,,  und  umgekehrt  XVIII,  1 u.  3,  XIX, 
46  die  Nominativformen  salvaire,  predicaire  für 
die  obliquen  Formen  Salvador , predicador . — V. 
20  ist  peills  wiederum  eine  falsche  Bezeichnung 
für  pelhs  in  C,  die  jüngere  Form  für  pels.  — 
V.  28  ist  statt  o'  ten  zu  lesen  aten  (von  alendre. 
Denn  wenn  auch  der  Beim  ten  (tenet)  auf: 
-men  nicht  ganz  unerhört  ist,  so  hat  er  doch 
beim  Mönch  v.  M.  nichts  analoges.  — Nach 
V.  33  muss  eine  Lücke  von  einem  Verse  ange- 
nommen werden,  nicht  nur  wegen  der  gleichen 
Yerszahl  der  übrigen  Strophen,  sondern  auch 
weil  niemals  et  enuejam  in  zwei  unmittelbar  auf 
einanderfolgenden  Versen  vorkomm t. 

XIX,  3 8tösst  die  von  Tobler  vorgeschlagene 
und  von  Pb.  aufgenommene  Aenderung  auf  zu 
grosse  kritische  Bedenken,  um  bestehen  zu  kön- 
nen. C hat  emtr 9 assire,  die  übrigen,  DIK  -f-  R 
autr*  andre , also  Hss.  verschiedener  Klassen, 
die  Lesart  von  C (aus  welcher  T.  aut  assire 
macht)  kann  daher  nur  als  eine  Conjectur  be- 
trachtet werden.  — V.  39  ist  gegen  meine  Er- 
klärung von  cazerna  eingewendet,  dass  die  ‘alte 
Hure’  schon  V.  31  dagewesen  sei;  allein  auch 
V.  65  kehrt  vdlla  gazals  wieder.  Das  wäre 
also  kein  Beweis;  mir  ist  die  Erklärung  ‘Sol- 
datenhütte’  deswegen  anstössig  gewesen,  weil 
dann  schwerlich  ab,  sondern  en  stehen  würde; 
denn  ab  kann  kaum  bedeuten  ‘in  der  Nähe  von*. 
Auch  ist  bedenklich , dass  bei  der  Toblerschen 
Erklärung  in  der  folgenden  Zeile  gegen  alle  Hss. 


278  Öött,  gel.  Anz.  1874.  Stick  9. 


me  in  m’en  geändert  werden  soll.  Dazu  kommt, 
dass  die  Lesart  cum  für  ab  in  DI  gleichfalls  auf 
eine  Person,  nicht  auf  eine  Oertlichkeit  weist. 
Mag  man  daher  dem  unerklärten  gaierna  in  DI 
oder  der  Lesart  caserna  den  Vorzug  geben,  im- 
mer wird  man  in  dem  Worte  eine  Person  su- 
chen müssen.  Auch  in  V.  42  kann  ich  die 
künstliche  Aenderung  Toblers  nicht  billigen;  ee 
wird  hier  vielmehr  besser  der  Lesart  von  DIK 
zu  folgen  sein,  und  man  lese  daher: 
et  enojam,  quar  m’es  de  fer, 
avols  horn  qu’a  bella  m oilier 
e per  gelosia  la  fer, 
e fai  o ben  qui  la  enquer, 
e no  lo  lais  per  marit  fer. 

In  XX  hat  man  nicht  nöthig,  am  Schlüsse 
eine  Lücke  anzunehmen;  diese  letzte  Strophe  ist 
als  Geleit  aufzufassen,  das  in  diesem  Falle,  da 
jede  Strophe  neue  Reime  hat,  sich  nicht  an  die 
Reime  der  letzten  Strophe  anschliesst;  derselbe 
Fall  wie  in  XV  (s.  S.  275).  * 

In  XXI  fehlt  offenbar  der  1.  und  5.  Zeile 
eine  Silbe;  denn  es  ist  ganz  unglaublich,  dass 
zwischen  die  Achtsilbler  ganz  willkürlich  zwei 
siebensilbige  Verse  eingerückt  sein  sollten.  Man 
wird  daher  zu  lesen  haben  si  aguessets  und  ni 
nous  auria  tant  honrat . 

Nicht  zu  loben  ist  die  grosse  Zahl  von  Druck- 
fehlern auf  den  46  Seiten  Text:  ich  habe  mir 
folgende  angemerkt.  I,  61  1.  ab  statt  ob;  66  I. 
enques  st.  enquer;  I,  70  s’ieu;  II,  19  E für  Et; 
II,  73  Punkt  hinter  vos  ist  zu  tilgen;  III,  19  1. 
qu’el  für  qu’al;  26  nach  el  ein  Komma;  IV,  6 1. 
chaueimen;  VI,  24  1.  nien  für  men;  40  aquesf 
f.  aquest;  VII,  59  1.  chausitz;  63  L fos  f.  vos; 
VIII,  2 1.  ses  f.  s' es;  IX,  36  L dons'  f.  dous; 
X,  9 1.  chantat  f.  ckantar  (?) ; 4Q  1.  sos  für  ses; 


Necrdißkt  Medicinskt  Arkir.  279 

52  1 not  f.  nel;  68  L d’mtrm  t d’a/utriu ; 71 
IN  f.  JP;  XII,  24  ein  Punkt;  42  fehlt  ein 
Komma;  XIII,  T 1.  fant  L font ; 27  1.  la  f,  ja; 
33  fehlt  Komma  nach  seigner;  XXI,  4 1.  tanf 
f.  tmt. 

Wenn  wir  von  den  juvenil  raschen  Urtheilen 
in  manchen  Punkten  absehen  wollen,  so  hätten 
wir  namentlich  die  Neigung,  der  Conjecturallust 
die  Zügel  acbiessen  zu  lassen , und  die  Nicht- 
beachtung der  aufgestellten  kritischen  Grund- 
sätze auszusetzen.  Uebrigens  zweifeln  wir  nicht, 
dass  Hr.  Pb.  bei  fortgesetztem  Studium  und 
grösserer  Reife  recht  trefiliohea  auf  dem  pro* 
renzalischen  Gebiete  leisten  wird. 

Heidelberg  K.  Bartsch» 


0 


Nordiskt  Medicinkt  Arkiv  under  medverican 
af  Dr.  G.  Asp,  Prof.  Dr.  J.  A.  Estländer,  Prof. 
Dr.  0.  Hjelfc,  i Helsingfors.  — - Prof.  Dr.  H.  Hei- 
berg, Prof.  Dr.  J.  Nicolaysen,  Prof.  Dr»  E.  Winge, 
i Kristiania.  — Prof.  Dr.  P.  L Paüum,  Prof. 
Dr.  C.  Rehz,  pir.  F.  Trier,  i Köbenhavn.  — 
Prof.  Dr.  G.  Ask,  Prof.  Dr.  G.  Naumann,  Adj. 
Dr.  V.  Odenius,  i Lund.  - — Adj.  Dr.  B.  Bruze- 
lius,  E.  o.  Prof.  Dr.  C.  RoBsamder,  E.  o.  Prof. 
Dr.  E.  Oedmansson,  i Stockholm.  — Adj.  Dft 
J.  Björken,  Prof.  Dr.  P.  Hedeniue,  Prof.  Dr.  Fr. 
Helmgren,  i Upsäla.  Redigerat  af  Dr.  Axel 
Key,  Prof,  i Patolog.  Anat.  i Stockholm.  Femte 
Bandet.  Med  10  Tailor  och  10  Träsnitt.  1878. 
Stockholm.  Samson  & Wallin. 

Die  hervorragende  Bedeutung  des  Nord.  Med. 
Ark*  ergiebt  fcich  auch  aus  deui  eben  abgeschlos1* 


* 


280  Gott,  gel*  Adz.  1874.  Stick  9. 

senen  fünften  Bande,  welcher  sich  wie  die  frühe- 
ren Jahrgänge  durch  Reichhaltigkeit,  Mannig- 
faltigkeit und  Gediegenheit  des  Inhalts  auszeich- 
net. Ueber  die  hauptsächlichsten  Aufsätze, 
welche  sich  darin  finden,  möge  uns  eine  kurze 
Notiz  an  dieser  Stelle  verstattet  sein. 

Das  erste  Heft  wird  mit  einem  Aufsätze  von 
Prof.  A.  Drachm  an  n in  Kopenhagen  über 
Arthritis  deformans  eingeleitet,  worin  die  Be- 
deutung und  das  Wesen  dieser  Affection,  ihre 
Beziehungen  zu  Rheumatismus  und  Gicht,  ihre 
Ursachen  und  ihre  Therapie  erörtert  werden. 
Dracbmann  bezeichnet  die  Arthritis  defor- 
mans als  eine  fast  ausschliesslich  heim  weibli- 
chem Geschlechte  vorkommende  fieberlose  Af- 
fection, bei  welcher  die  Anschwellung  der  Ge- 
lenke sich  stets  mit  Knochenauftreibung  verbin- 
det, ohne  dass  eine  Inflammation  den  äussern 
Tegumente  und  ein  Ergriffensein  der  Muskeln 
vorhanden  ist.  Drachm a nns  Darstellung  be- 
ruht auf  28  Fällen  eigener  Beobachtung,  von 
denen  nur  9 höheren  Altersdassen  angehörten 
und  in  welchen  die  Affection  meist  an  den  klei- 
nen Gelenken  begann.  Mit  Charcot  im  Ein- 
klang steht  die  Beobachtung  Drachmanns 
über  die  Verminderung  der  Phosphate  im  Urin ; 
ausserdem  fand  er,  dass  die  chemische  Zusam- 
mensetzung der  Concremente  an  <Jen  afficirten 
Gelenken  identisch  mit  denjenigen  der  Knochen 
ist,  nur  dass  die  Menge  des  Kalks  bei  ersteren 
bich  etwas  grösser  berausstellt,  womit  ein  cha- 
racteristischer  Unterschied  von  den  barnsauren 
Ablagerungen  hei  Gicht  sich  ergiebt.  Die  Be- 
handlung mit  den  verschiedensten  Mitteln  ergab 
im  Allgemeinen  mittelmässige  Resultate,  insofern 
in  der  Regel  die  Deformität  der  Gelenke  da- 
durch nicht  verhütet  wurde;  relativ  aut  besten 


Nordiskt  Medicinskt  Arkiv.  281 

whiten  römische  Bäder,  Teplitz,  Kalibäder  trad 
Flectricität , bei  gleichzeitig  vorgenommfcnen 
Frictiouen  und  leichten  passiven  Bewegungen. 
An  diese  Arbeit  schliessen  sich  zunächst  Mit- 
teilungen von  M.  V.  Odenius  aus  dempatho- 
logischen  Institut  von  Lund.  Dieselben  betref- 
/ fen  Geschwülste,  besonders  mit  Rücksicht  auf 
deren  Metastase  und  sind  mit  5 Abbildungen 
begleitet.  Es  folgt  dann  ein  von  Franklin 
Nyrop  mitgetheilter  interessanter  Fall  von  In- 
! versio  utere  bei  einer  Jungfrau  in  Folge  eines 
Sarcom8 , welcher  sich  von  den  bisherigen  Beob- 
achtungen analoger  Art  von  Spiegelberg, 
Rheineck  und  Langenbeck  durch  ihr  ra- 
| aches  Auftreten  unterscheidet.  Hierauf  folgt 
eine  Arbeit  von  Ghr.  F enger  in  Kopenhagen 
über  Stenose  des  Ostium  pulmonale  und  der 
Arteria  pulmonalis,  verursacht  durch  Vegetatio- 
nen auf  den  Pulmonalklappen  und  im  Innern 
der  Arterie , im  Anschluss  an  eine  eigene  Beob- 
achtung. Diese  Abhandlung  enthält  eine  aus- 
führliche pathologisch-anatomische  Darstellung 
i der  Krankheiten  des  Ostium  pulmonale  nna 
der  diesem  zunächst  gelegenen  Partien,  unter 
besonderer  Berücksichtigung  der  hei  Lebzeiten 
I Yorkommenden  Entzündung  des  Ostium  pulmo- 
! nale,  worüber  Fenger  die  einschlägige  Litera- 
tur gesammelt  und  um  einen  neuen  Fall  be- 
reichert hat,  in  welchem  die  Diagnose  der  Ste- 
nose auscultatorisch  nicht  mit  Sicherheit  ge- 
stellt werden  konnte.  Weiter  bringt  dies  Heft 
eine  im  Ludwigschen  Laboratorium  gemachte 
Arbeit  von  Georg  Asp  über  die  Endigung  der 
Nerven  in  den  Speicheldrüsen,  woran  sich  ein 
weiterer  histologischer  Aufsatz  über  den  Bau 
des  Sehnengewebes  nach  den  Ergebnissen  der 
Behandlung  mit  Goldchlorid  von  J.  G.  Dit- 


282  Gott.  gel.  Ans.  1374.  Stück  9. 


levsen  ftähliesst.  Den  Schluss  des  ersten  Hef- 
tes bildet  eine  Arbeit  von  G.  Berghm&n  und 
D.  Helleday  über  die  Mezger’scbe  Methode 
der  Massage  nach  Beobachtungen,  welche  sie 
nach  einem  mehrmonatlichen  Aufenthalte  in 
Amsterdam  Gelegenheit  zu  machen  hatten. 

Das  zweite  Heft  beginnt  mit  einem  Aufsatze 
von  Prof.  J.  Rossander  in  Stockholm  über 
Cataracta  infantilis,  welche  Bezeichnung  von 
dem  Verf.  statt  des  gebräuchlicheren  Cataracta 
congenita  angewendet  wird,  weil  die  in  den  er- 
sten Lebenswochen  entwickelten  Staare  in  vie- 
len Beziehungen  und  besonders  in  Bezug  auf 
ihren  Effect  auf  die  Sehschärfe  mit  den  ange- 
borenen völlig  identisch  sind.  Auf  Grundlage 
zahlreicher  Beobachtungen  bei  Operirten  fand 
Rossand pr,  dass  kurz  nach  der  Operation 
dais  Sehvermögen  keineswegs  glänzend  sich 
herausstellt,  vielmehr  als  Folge  der  parpetuirli- 
chen  Entziehung  der  Retinabilder  und  der  Uebung 
das  Gesichtsfeld  sehr  beschränkt  ist  und  Distan- 
ces u.  8.  w.  nicht  erkannt  werden,  was  sich 
freilich  im  Laufe  der  Zeit  bessert,  jedoch  nur 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  und  in  sehr  lan- 
ger Zeit.  Der  hauptsächlichste  Theil  dieser 
Arbeit  ist  den  Operationsmethoden  gewidmet, 
welche  bei  der  verschiedenen  Form  der  Cataracta 
x infttntilis  indidrt  erscheinen.  In  dem  folgenden 
Aufsätze  bespricht  Prof.  J.  A.  Estländer  den 
gerichtsärztlichen  Begriff  der  lebensgefährlichen 
Verletzungen  unter  Berücksichtigung  der  Gesetz- 
gebung der  neuesten  Zeit  in  den  verschiedenen 
Ländern  und  sucht  die  in  der  schwedischen  Ge- 
setzgebung unterschiedenen  3 Classen  deg  Ver- 
letzungen nach  der  Dauer  der  Affection,  nach 
der  Intensität  der  Gefahr  und  nach  ihren  Fol- 
gen zu  definiren.  Besonders  ausführlich  wird 


283 


Nordfekt  Medicinfct  Arkiv. 

dabei  der  Einfluss  der  chirurgischen  Operationen 
nach  Verletzungen  auf  die  Gefahr  derselben  be* 
sprechen.  Hierauf  folgt  eine  Arbeit  von  C.  R. 
Fenger  über  partielle  Hydronephrose  mit  Rüde* 
sicht  auf  eine  eigene  Beobachtung  eines  Falles, 
welcher  eich  von  den  übrigen  bisher  bekannten 
Fällen  durch  die  Ursache  deB  Leidens  unter* 
schied.  Dieselbe  war  nämlich  eine  in  der  Mitte 
des  Nierenbeckens  bestehende  Klappe,  welche 
offenbar  durch  Compression  des  Ureter  durch 
einen  perityphlitischen  Abscess  entstanden  war, 
wahrend  sonst  das  Leiden  aus  dem  Bestehen 
ron  doppelten  Ureteren,  von  denen  einer  in  sei- 
ner Entwicklung  gehemmt,  durch  Narben  obli- 
terirt,  oder  durch  einen  Stein  verstopft  wurde, 
oder  durch  Verstopffing  eines  der  Nierenkelche 
bedingt  wird.  Weiter  findet  sich  in  diesem 
Hefte  eine  Abhandlung  von  Curt  Wallis  über 
die  Winterstationen  auf  Sicilian,  welche  auch 
noch  im  4 ten  Hefte  des  vorliegenden  Jahrgangs 
fortgesetzt  wird  und  worin  namentlich  die  kü- 
mati8chen  Verhältnisse  von  Catanea,  Syracus 
und  Palermo  zum  Theil  auf  Grundlage  noch 
nicht  publicirter  meteorologischer  Beobachtungen 
genauer  geschildert  werden.  Nach  Wallis 
können  Catanea  und  die  Ostküste  von  Sicilian 
ebenso  wie  der  Süden  des  Aetna  hinsichtlich  ihrer 
klimatischen  Verhältnisse  und  ihrer  Indicatiouen 
bei  bestimmten  Krankheiten  mit  der  Riviera 
gleichgestellt  werden,  unterscheiden  sich  aber 
ron  letzteren  durch  eine  unr  mehrere  Grade 
höhere  Temperatur,  wodurch  namentlich  Nord- 
länder, welche  in  Folge  der  Winterstrenge  in 
ihrer  Heimat  an  besser  geschlossene  Wohnungs- 
räume  gewöhnt  sind , das  siciüanische  Klima 
besser  ertragen  als  das  der  Riviera,  wo  die 
häufig  eintretenden  Perioden  des  Frostes  den. 


264  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  9. 


Comfort  sehr  beeinträchtigen.  Die  grossere 
Stabilität  der  Temperatur  und  die  Abwesenheit 
der  Ostwinde  im  Frühling  gestatten  dem  Arzte 
nach  Sicilien  auch  erethische  Kranke  zu  senden, 
welche  das  Klima  der  Riviera  nicht  ertragen. 
Die  für  Palermo  allgemein  in  Anspruch  ge- 
nommene grosse  Feuchtigkeit  beruht  nach  Wal- 
lis auf  einen  Irrthum  und  glaubt  er,  dass  Ca- 
tanea  durch  den  helleren  Sonnenschein  und 
durch  die  geringere  Zahl  von  Regentagen  prak- 
tische Vorzüge  von  Palermo  besitze,  das  seiner- 
seits wieder  vor  den  Riviera  durch  grössere 
Wärme  ausgezeichnet  sei.  Nach  Wallis  ist 
der  Aufschwung  der  Krankenstationen  Siciliens 
vorwaltend  bedingt  durch  die  Errichtung  einer 
Sommerstation,  um  die  lästigen  und  angreifen- 
den Reisen  nach  Norden  im  Beginn  des  Früh- 
lings zu  vermeiden  und  eignen  sich  hierzu  be- 
sonders die  Abhänge  des  Aetna  nach  Nordo6t 
oder  Ost  in  einer  Höhe  von  3000 — 4000  Fuss 
über  dem  Meeresspiegel,  wo  eine  angemessene 
Temperatur  im  Sommer  existirt,  die  Nähe  des 
Meeres  Kühlung  verschafft,  die  höheren  Berg- 
partien frühzeitig  des  Abends  Schatten  bedin- 
gen und  die  reiche  und  gut  cultivirte  Land- 
schaft die  Niederlassung  gestatten. 

Das  zweite  Heft  wird  durch  eine  Arbeit  von 
J.  Heiberg  über  die  Krankheiten  der  Cornea 
beschlossen.  Im  dritten  Hefte  treffen  wir  zu- 
nächst auf  eine  statistische  Arbeit  von  C.  An- 
d er s 8 on  in  Stockholm  über  die  puerperalen 
Entzündungen  des  Uterus  und  seiner  Adnexa 
nach  Beobachtungen  im  Stockholmer  Entbin- 
dungshause  während  der  Jahre  1866—70,  welche 
ausserdem  den  Zweck  hat,  die  periuterinen  Ent- 
zündungen in  Hinsicht  auf  ihre  Symptomatologie 
und  Diagnostik  ausführlicher  zu  betrachten,  als 


Nordiskt  Medidnskt  ArkiV.  285' 

dies  in  den  pynakologischen  Handbüchern  ge-l 
schieht  Die  Zahl  der  Fälle  betrag  303,  van 
denen  79  tödtlich  endeten.  An  diese  sehr  le- 
senswerthe  Abhandlung  schliesst  sich  ein  von 
Chr.  F enger  gearbeiteter  Bericht  übex*  422 
Sectionen  im  Commiinehospital  in  Kopenhagen, 
welche  in  dem  Jahre  vom  1.  Sept.  1871  ausge- 
führt  warden.  Die  darauf  folgende  Arbeit  von 
i Adam  Oe  wie  in  Christiania  behandelt  die 
hereditäre  Syphilis  in  Bezug  auf  ihre  Abstammung 
von  Vater  und  Mutter.  Daran  schliesst  sich  ein 
Aufsatz  von  E.  J.  Bonsdorff  in  Helsingfors  über 
die  Behandlung  des  Croups,  wobei  der  Verf.  zur 
Herabsetzung  der  Plasticität  des  Blutes  kleine,  aber 
häufig  wiederholte  Dosen  von  Brechweinstein 
mit  oder  ohne  Jodkalium  und  zur  Entfernung 
der  Croupmembranen  Brechweinstein  in  emeti- 
scher Dosis  anwendet.  Im  Falle  Erbrechen 
nicht  eintritt,  ätzt  Bonsdorff  mittbist  eines 
in  trockenes  Pulver  von  Argentrum  nitricum 
getauchten  Pinsels  die  hintere  Pharynxwand, 
die  Epiglpttis  und  die  benachbarten  Theile,  so« 
wie  das  Gaumensegel,  welches  Verfahren  unter 
Umständen  wiederholt  werden  muss  und  stets 
i die  Tracheotomie  überflüssig  macht,  wie  er  auf 
Grundlage  von  70  Fällen  zu  behaupten  sich  ge- 
traut. Auch  bei  Diphtheritis  hält  er  die  energi- 
sche Cauterisation  mit  einer  concentrirten  Höl- 
lensteinlösung für  ein  sicheres  Mittel. 

Im  vierten  Hefte  finden  wir  einen  Aufsatz  von 
Axellversenin  Kopenhagen  über  die  operative 
Behandlung  der  Gelenkmäuse,  worin  der  Verf.  sich 
für  die  Excision  derselben  unteor  Anwendung  der1 
Lister  ’sehen  antiseptischen  Methode  ausspricht. 
Von  grossem  Interesse  ist  eine  Arbeit  von  Chr. 
Lov.en  in  Stockholm  über  die  Lymphb&hnen 
der  Magenschleimhaut,  deren  Existenz  durch 


28Ö  GotL  gel.  Aim.  1874.  Stück  9. 

Love  n »Untersuchungen  sowohl  bei  Menschen 
als  auch  bei  verschiedenen  Säugethieren  zum 
ersten  Male  sicher  gestellt  wird.  Die  Abhand* 
lang  ist  durch  3 vorzüglich  ausgeführte  Tafeln 
begleitet  und  bildet  einen  würdigen  Anschluss 
an  die  in  früheren  Jahrgängen  enthaltenen  Ar- 
beiten  von  Key  und  Ketzins.  Hiernächst 
bringt  das  4te  Heft  einen  Aufsatz  von  Chr. 
F enger  über  die  Behandlung  chronischer  Go- 
norrhoe und  des  Rheumatismus  gonorrhoicus 
mit  Hülfe  des  Endoskops,  worin  der  Verl  drei 
Formen  der  Urethritis  chronica  unterscheide! 
nnd  die  Behauptung  aufstellt,  dass  der  gonorrhoi- 
sche Rheumatismus  am  häufigsten  die  Folge- 
einer  Urethritis  chronica  localis  sei  und  erst 
durch  die  Heilung  des  örtlichen  Leidens  der 
Harnröhre  beseitigt  werden  kann.  Auf  eine  Ai> 
beit  von  J.  A.  Florin  in  Helsingfors  über  die 
Lebensgefährlichkeit  der  Verletzungen  vom  ge* 
richtlich-medicinischem  Standpunkte  folgt  eine 
Arbeit  von  Estländer  über  spontane  Septi- 
cämie,  worin  er  seine  zu  verschiedenen  Zeiten 
gemachten  Beobachtungen  über  das  Auftreten 
von  Septicämie  in  Krankensälen  bei  nicht  ver- 
wundeten Patienten  mittbeilt,  wodurch  analoge 
frühere  Angaben  von  Roser  ihre*  Bestätigung 
finden. 

Auch  der  vorliegende  Jahrgang  bringt,  wie 
die  früheren,  vortrefflich  gearbeitete  Referate 
über  die  in  andern  scandin  arischen  Zeitungen 
erschienenen  medicinischen  Arbeiten , 60  dass 
wir  dadurch  eine  vollständige  und  allen  Anfor- 
derungen genügende  U eher  sicht  über  die  medici- 
nkcheo  Leistungen  der  drei  nordischen  König- 
reiche und  Finnlands  erhalten.  Wer  dieselben 
durchmustert,  wird  nicht  umhin  können,  dem 


Holm,  Om  koloxidförgiftaiing.  287 

Heisse  und  dem  Wissen  der  Aerate  dieser  Län- 
der die  verdiente  Anerkennung  zu  sollen. 

Die  in  diesem  Bande  begonnene!  Neuerung, 
darin  bestehend,  dass  über  die  im  Archiv  er- 
schienenen Originalaufsätze  am  Schlüsse  jedes 
Heftes  ein  von  dem  Verfasser  oder  der  Redaction 
verfasster  kürzerer  Auszug  in  Französischer 
Sprache  erscheint,  wird  den  Romaniseben  Völ- 
keratämme»  nicht  eben  unwillkommen  sein.  Für 
die  sehr  witoechenswerthe  Verbreitung  der  Kennt- 
nis der  Sprache  der  in  wissenschaftlicher  Be- 
ziehung so  hochstrebenden  SeandinaTischen  Volks- 
stämme ist  dadurch  allerdings  ein  Hinderniss 
geschaffen.  Theod.  Husemann. 


Om  boloxidförgiftning.  Akad.  AfhandL  I 
Emil  Holm.  Helsingfors  1872.  68  Seiften  in 

Octav.  * 

i 

Diese  kleine  Schrift  bandelt  in  gediegener 
Weise  das  Kohlenoxyd  in  chemischer  und  toxi- 
kologischer Beziehung  ab  und  bespricht  nament- 
I lieh  die  Symptomatologie  und  den  Leichenbe- 
fund bei  den  durch  bohlenoxydhaltige  Gasge- 
menge hervorgerufenen  Intoxicationen.  Die 
Veranlassung  zu  denselben  scheint  namentlich 
das  Vorkommen  mehrerer  Leuchtgas  Vergiftun- 
gen in  Helsingfora  gewesen  zu  sein,  welche, 
wie  dies  ja  auch  an  andern  Orten  häufig  beob- 
achtet wurde,  in  der  Weise  entstanden,  dass, 
das  aua  beschädigten« Gasleitungsröhren  gedrun- 
gene Gas  sich  durch  den  Erdboden  hindurch 
einen  Weg  in  bewohnte  Häuser  bahnte.  Nach 
den  von  1808—1871  vorliegenden  Aufzeichnun- 
gen der  Geistlichkeit  über  die  Mortalität  Finn- 


288  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  9. 


lands  sollen  daselbst  jährlich  im  Durchschnitt 
12  Personen  der  Vergiftung  durch  Kohlenoxyd 
zum  Opfer  gefallen  sein,  doch  scheint  diese  Art 
der  Intoxikation  in  den  letzten  Jahren  verhält-^ 
nissmässig  häufiger  den  Tod  veranlasst  zu  .ha- 
ben. So  kamen  in  den  Jahren  1867  und  68 
nicht  weniger  als  34  und  25  Todesfälle  ans 
dieser  Ursache  vor.  Was  Holm  zur  Erklärung 
dieses  Zuwachses  anführt,  dass  die  betreffenden 
Jahre  Hungerjahre  waren  und  die  von  der  Ver- 
giftung betroffenen  Personen  in  Folge  ihrer  ge- 
schwächten Constitution  dem  giftigen  Gase  eher 
erlagen,  als  in  normalen  Jahrgängen,  ist  eine 
Hypothese,  die  sich  zwar  wohl  hören  lässt, 
welche  aber  doch  nur  dann  Vertrauen  ver- 
diente, wenn  die  Zahlen  selbst  grössere  wären, 
aus  denen  die  Ableitung  statistischer  Schlüsse 
statthaft  erschiene  und  wenn  auch  in  andern 
Hungerjahren  ein  constantes  Plus'  der  Todes- 
fälle aus  dieser  Ursache  sich  nachweisen  liesse. 

In  Hinsicht  auf  Casuistik  theilt  die  kleine 
Schrift  zwei  neue  Beobachtungen  nebst  dem 
Befunde  bei  der  Obduction  auf  dem  Helsinfor- 
ser  pathologischem  Institute  mit. 

Schliesslich  findet  auch  die  Theorie  der 
Vergiftung  mit  Kohlenoxyd,  welche  bekanntlich 
in  neuerer  Zeit  wiederholt  den  Gegenstand  ein- 
gehender Discussion  gewesen  ist,  ihre  Bespre- 
chung in  der  vorliegenden  Arbeit,  die  wir  als 
eine  finnländische  Beisteuer  zur  toxikologischen 
Literatur  nicht  ganz  mit  Stillschweigen  über- 
gehen mochten. 

Theod.  Husemann. 


289 


Gffttingische 

gele  hrte  Anzeigen 

j 

unter  der  Aufsicht 

I 

der  König!.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  10.  11.  März  1874. 

i— ^ mm mmm m 

| 

Dr.  Ed.  Kammer,  die  Einheit  der  Odyssee, 
nach  Widerlegung  der  Ansichten  von  Ltfch- 
mann-Steinthal,  Koechly,  Hennings  und  Kirch- 
hoff  dargestellt.  Anhang:  Homerische  Blätter 
von  Prof.  Dr.  Lehrs.  Leipzig.  B.  G.  Teubner*) 
1873.  VI  und  806  S.  8. 

Wenn  der  Verfasser  dieses  Buchs  in  der 
) Vorrede  über  die  Gleichgiltigkeit  klagt,  die  in 
! der  homerischen  Frage  eingetreten  sei,  so  hat 
\ er,  wie  uns  scheint,  doppelt  Unrecht:  einmal 
weil  die  zahlreichen  Erscheinungen,  die  jedes 
| Jahr  zu  Tage  fordert,  düs  Gegentheil  beweisen, 
i dann  aber,  weil  es  in  der  That  nur  wünschens- 
werth  wäre,  dass  die  allgemeinen  Untersuchungen 
eine  Zeitlang  ruhiger,  bescheidner  Einzelforschung 
Platz  machten,  um  dann  frisch  und  mit  geläu- 

*)  Die  Ausstattung  ist  von  bekannter  Gediegenheit, 
| auch  Druckfehler  sind  im  Ganzen  selten  und,  soweit  sie 
den  Sinn  stören,  meist  p.  805  f.  berichtigt:  aber  S.  376 
Z.  3 y.  o.  soll  es  wohl  heissen  ‘natürlich  die  mit  ge- 
I rechnet*  st.  . ‘nicht  ger.\ 

! 19 

i 


290  Gott,  gel  Anz.  1874.  Stück  10. 

terter  Einsicht  wieder  anfgenommen  zu  werden. 
Aber  auch  wer  nicht  gleicbgiltig  dem  Kampf 
der  Meinungen  gegenübersteht,  wird  nicht  ohne 
einige  Ueberwindung  an  das  Studium  eines  Wer- 
kes gehn,  welches  das  vielfach  besprochene  Thema 
über  die  Einheit  der  Odyssee  in  solchem  Um- 
fang behandelt,  wie  das  vorliegende.  Der  Verf.  hat 
dies  selbst  gefühlt  und  schliesst  seine  Vorrede 
p.  VI  mit  dem  Bedauern,  dass  dem  Buche  lei- 
der nicht  die  Empfehlung  habe  mitgegeben  wer- 
den können,  dass  es  — ein  kurzes  sei.  Wir 
müssen  es  aber  scharf  und  geradezu  ausspre- 
chen, dass  dieses  ‘leider  nicht  können9  seinen 
Grund  lediglich  in  dem  Unvermögen  des  Ver- 
fassers hat,  den  Stoff  zu  beherrschen  und  za 
bewältigen,  nicht  in  der  Natur  der  Sache. 

Dies  beweist  zunächst  die  unglaubliche  Wie- 
derbolungsseligkeit,  die  sich  in  dem  Werk  breit 
macht.  So  wird  gleich  nach  den  ersten  50  Sei- 
ten, in  denen  Lachmanns  und  Steinthals,  oder, 
wie  die  Ueberschrift  sagt,  ‘Lachmann-Steinthals* 
Ansichten  über  das  Epos  besprochen  werden, 
ein  ausführliches  Resume  gegeben  mit  vollstän- 
diger Wiederholung  der  Gitate  und  der  Ein- 
wände; ähnliches  findet  sich  bei  ‘Köchly*  p.  96 
= 130,  bei  ‘Hennings*  p.  190  = 219  und,  um 
noch  einige  Proben  zu  geben,  p.  16  = 346, 
180  = 361,  255  = 292,  257  und  262  = 281, 
269  = 404  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Wie  weit  dies 
selbst  im  Kleinsten  geht,  dafür  nur  ein  Bei- 
spiel. p.  301:  ‘Wol  wissend,  dass  es  hier  nicht 
der  Ort  und  die  Gelegenheit  sei,  die  kummer- 
volle Frau  mit  erdichteten  Abenteuern  zu  unter- 
halten,  sie  mit  einem  Mährchen  zu  belustigen, 
wie  er  es  dem  guten  Alten,  dem  gut  erzählten 
Geschichten  gern  lauschenden  Hirten  aufgebun- 
den hatte,  beginnt  er  etc.*,  p.  644:  ‘Hier 


Kammer,  Die  Einheit  der  Odyssee.  291 

konnte  es  sich  nicht  darum  handeln,  durch  ein 
gnt  erfundenes  Geschichtchen  die  trauernde 
Frau  zu  unterhalten,  wie  das  in  des  Eumäus 
Hatte  dem  Geschichten  und  Abenteuern  gern 
zuhörenden  Alten  gegenüber  so  wohl  angebracht 
war  etc.’. 

Eine  unnöthige  Breite  zeigt  sich  ferner  darin, 
dass  häufig  wörtlich  angeführte  Stellen  noch 
paraphrasirt  werden,  ohne  dass  dies  die  Auffas- 
sung förderte,  oder  dass,  wie  p.  206,  eine  Aus- 
führung des  Gedankenzusammenhangs  steht,  die 
mit  der  speciellen  Frage  gar  nichts  zu  thun 
hat,  oder  endlich,  dass  Citate  aus  lateinischen 
Abhandlungen  zugleich  übersetzt  werden,  wie 
p.  128  gar  jedenfalls  lässt  sich  mit  Wahr- 
scheinlichkeit vermuthen  (satis  probabiliter  coni- 
cere  licet)’.  Vollends  die  ewig  wiederkehrende 
Leier,  mit  welcher  der  Verf.  Kirchhoff  und  den 
Anhängern,  der  Liedertheorie  überhaupt  vor- 
wirft, dass  sie  für  ‘das  Gemüthvolle  so  gar  kei- 
nen Sinn  hätten’,  dass  sie  die  Gedichte  ‘geist- 
und seelenlos’  behandelten,  dass  ihnen  ‘der 
Quell  der  Poesie  vergebens  rausche’  und  wie 
sonst  dies  Thema  fast  bei  jeder  Einzelheit  va- 
riirt  oder  auch  nur  repetirt  wird,  ist  auf  die 
Dauer  kaum  erträglich.  Sachlich  sind  seine 
Vorwürfe  häufig  nicht  unbegründet,  aber  die 
Art,  wie  er  sie  ausführt  und  auch  dadurch  sein 
Buch  anschwellt,  ist  ermüdend  und  geschmack- 
los. Noch  mehr  ermüdet  aber  den  Leser  die 
kritiklose  Gleichmässigkeit,  mit  der  E.  die  ver- 
schiedensten Meinungen  vorführt  und  durch- 
nimmt: Steinthals  unklares  Gerede  und  Kirch- 
hoffs  durchdachte  Arbeit,  Lachmanns  scharf- 
sinnige Betrachtungen  und  Rhodes  oder  Jacobs 
u.  A.  philiströse  Anmerkungen,  Köchlys  ein- 
seitige, aber  entschiedene  Aufstellungen  und 

19* 


292  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

Düntzers  Salbaderei,  Alles  wird  in  gleichet* 
Weise  herangezogen,  in  gleichem  Stile  behan- 
delt; ja  einmal  (p.  351)  stellt  K.  sogar  die 
arge  Zumuthung  an  — Benicken  zu  denken; 
und  über  ‘Düntzers  Stellung  zur  homerischen 
Frage’  hat  er  sich  vorgenommen  (p.  95)  beson- 
ders zu  schreiben,  obwohl  er  ihn  schon  hier 
eingehend  berücksichtigt.  So  wird  auch  die 
schülerhaften  Versuche  Brausewetters  (p.  483  ff.) 
und  die  dilettantischen  Paradoxieen  des  Rhap- 
soden W.  Jordan  (p.  227  ff.  486  ff.)  so  ausführ- 
lich nur  besprechen,  wer  sich  eben  gar  so  gerne 
reden  hört*).  Mit  dieser  sehr  hervortretenden 
Eigenschaft  hängt  zusammen,  dass  E.  fast  im- 
mer seine  Person,  nicht  die  Sache  reden  lässt; 
daher  alle  Augenblicke  Wendungen,  wie  ‘ich 
wenigstens  muss  gestehn’,  ‘ich  meinestheils 
glaube  zuversichtlich’,  ‘meiner  Empfindung  nach’ 
(p.  83  sogar:  ‘meiner  Empfindung  nach 

— ich  bin  jedoch  weit  entfernt  damit  auf 
Steinthal  irgend  welche  Pression  ausüben  zu 
wollen5).  Ferner  gehören  hieher  die  ge- 
dehnten Ankündigungen  und  Uebergänge,  wie 
‘wir  können  damit  durchaus  nicht  übereinstim- 
men, sondern  haben  eine  ganz  andere  Ansicht', 
p.  510:  Um  gleich  meine  Ansicht  gegenüber  zu 
stellen,  die  ich  aus  der  Lektüre  gewon- 
nen habe1,  p.  640 : ‘Das  Folgende  aber  hängt 
mit  dem  voran  gegangenen  in  gar  keiner  Weise 
mehr  zusammen,  hier  eine  Verbindung  finden 
zu  wollen,  scheint  mir  ganz  unmöglich  zu  sein; 
ein  ganz  anderer  Gedankenkreis,  der  mit  den 
von  Telemachos  vorher  aufgezählten  Gründen  in 
Widerspruch  steht,  ist  angefügt  worden.  Diese 
Schwierigkeit  zu  lösen , spreche  ich  folgende 

*)  Beiläufig:  den  Namen  des  mit  Recht  gerühmten 
Recensenten  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  konnte  K.  ans  Dis- 
sens Kleinen  Schriften  S.  267  ff.  erfahren. 


Kammer , Die  Einheit  der  Odyssee.  293 

Vermuthung  ans9,  p.  685  ‘Ich  verstehe,  die 
bier  gemeinte  Situation  nicht,  bin  aber  so  an* 
massend  den  Grund  darin  zu  finden,  dass  der 
Dichter  dieser  Partie  selbst  sich  die  Sache  nicht 
klar  gedacht  hat;  denn  das  muss  ich  im  Voraus 
sagen,  dass  wir  es  hier  mit  einem  ganz  ausser* 
ordentlich  confusen  Dichter  zu  thun  haben9. 
Auch  die  Versicherungen,  dass  es  K.  persön- 
lich unangenehm  sei  sich  mit  den  Ansichten 
seiner  Gegner  zu  befassen,  dass  er  es  aber  um 
der  Sache  willen  thun  müsse,  werden  zum  Ueber- 
druss  wiederholt. 

Wir  sagten  oben,  K.  behandle  Alles  in  ‘glei- 
chem Stile9:  und  zwar  besteht  dieser  Stil  we- 
sentlich in  endlos  gehäuften  rhetorischen  Fra- 
gen und  Ausrufungen.  Ein  Buch  von  achthalb- 
hundert  Seiten,  das  — man  überblicke  nur 
durchblätternd  die  Interpunktionen  — zum  bei 
Weitem  grössten  Theil  sich  in  diesen  beiden 
Satzformen  bewegt,  dürfte  zu  den  kaum  erhör- 
ten Geschmacklosigkeiten  gehören.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  wie  sehr  auch  dadurch  die  Breite 
der  Darstellung  vermehrt  werden,  und  wie  tödt- 
lich  in  derselben  solch  unwissenschaftlicher  Ton 
auf  die  Geduld  wirken  muss.  K.’s  Vorliebe  für 
Frage-  und  Ausrufungszeichen  geht  aber  so 
weit,  dass  er  auch  die  Gitate  aus  Köchly,  Kirch- 
hoff  u.  a.  nach  Art  der  Zeitungsschreiber  mit 
denselben  spickt,  was  um  so  massiger  ist,  da 
er  kaum  je  verfehlt,  diese  Zeichensprache  noch 
in  einen  Schwall  von  Worten  zu  übersetzen. 
Diese  Manier  hat  aber  noch  eine  ernstere 
Seite;  sie  legt  den  Verdacht  nahe,  K.  möge 
bisweilen  die  Gedanken  seiner  Gegner  nicht  mit 
der  gehörigen  Ueberlegung  verfolgt  und  geprüft 
haben.  Und  dieser  Verdacht  bestätigt  sich. 
Kan  traut  seinen  Augen  kaum,  wenn  manp.  361 


294  Gött.  gel.  Anz.  1873.  Stück  10. 

liest:  ‘Spohn  macht  zu  diesen  Versen  folgende 
Bemerkung:  quamobrem  quo  pado  ....  Pene- 
lopes recensio  eorum,  quae  proci  fecersnt,  et 
haec  Ulixis  tarn  ingens  et  praegrandis  narratio, 
ut  apud  Phaeaces  magnam  noctis  partem  poster d, 
quantumvis  hie  contrada,  congruae  et  tempori 
aptae  videri  possint  sane  non  video.  Es  ist  dies 
hier  wieder  bezeichnend,  dass  Odysseus  in  den 
ersten  Stunden  des  Beisammenseins  mit  Pene- 
lope ganz  in  derselben  Weise,  wie  er 
vor  den  Phäaken  gethan,  auch  seiner  Frau  von 
seinen  Reiseerlebnissen  erzählt  haben  soll!’ 
p.  276  sagt  Kirchhoff  von  den  Versen  a 374 — 
80,  nachdem  er  ausdrücklich  hervorgehoben, 
wie  in  denselben  Telemachos  vorschnell  seinen 
Zweck  enthülle  u.  s.  w.:  ‘die  Auffassung 
des  ersten  Buches  ist  demnach  berechnet 
u.  8.  w.’,  K.  polemmirt  dagegen  ‘der  Tele- 
machos hat  gar  nichts  berechnet  u.  s.  w.’ 
p.  584  Kirchhoff:  ‘eine  Ungehörigkeit,  die  dem 
unbefangenen  Gefühl,  wie  schon  dem  Auge  des 
Lesers,  sich  aufdrängen  muss’.  Hier  sieht  Je- 
der, dass  die  Worte  ‘wie  schon  dem  Auge  des 
Lesers’  eben  nur  als  eine  Parallele  für  uns  ge- 
sagt sind;  K.  jedoch  sieht  sich  zu  der  ebenso 
wohlfeilen  als  unpassenden  Polemik  veranlasst: 
‘Ich  hatte  geglaubt,  dass  die  Sänger  für  ein 
hörendes  Publicum,  nicht  für  ein  lesendes  schu- 
fen, «fa««  sie  darum  auch  nicht  darauf  kommen 
konnten,  nach  einer  Gleichmässigkeit  der  Be- 
handlung aller  Theile  an  sich  und  im  Verhält- 
niss  zu  einander  zu  streben,  damit  das  Auge 
des  Lesenden  nicht  verletzt  werde’.  Dass  sich 
aber  viel  tiefgreifendere  Missverständnisse  finden, 
dafür  sei  auf  die  Partie  599 — 602  hingewiesen, 
deren  irrthümliche  Auffassung  K.  seihst  p.  806 
sammt  den  Folgerungen,  die  er  nicht  ohne  Gewicht 


Kammer,  Die  Einheit  der  Odyssee.  295 

auf  sie  gebaut,  zurücknehmen  muss.  Wer  aber 
einen  Forscher  von  so  musterhaft  einfacher 
Klarheit  wie  Kirchhofi  so  missverstehen  kann, 
der  zeigt,  dass  es  ihm  an  Ernst  und  Ruhe  ge- 
bricht, Anderer  Ansichten  zu  würdigen.  Noch 
| einige  Proben,  wie  K.  seine  Gegner  interpretirt! 
p.  21  citirt  er  aus  Lachmanns  Briefen  4 In  den 
Nibelungen  sind  einzelne  Lieder  verschiedener 
Dichter,  gewiss  meistens  aus  einer  Gegend  und 
selten  mehr  als  20  Jahre  in  der  Zeit  auseinan- 
der, zusammengefügt,  die  Fabel  in  einem  Sinn 
auffassend,  sich  beziehend  aufeinander 
oder  auf  Lieder  ähnlichen  Inhalts,  interpolirt 
im  Volksgesang  und  bei  der  Aufzeichnung,  die 
ohne  sonderliche  Kritik  geschah,  zwei  vorn  ver- 
kürzt etc.\  Während  hier  die  Stellung  im 
Satze  sowie  die  nachher  folgende  ausdrückliche 
Hervorhebung  der  Interpolationen  bei  der  Auf- 
zeichnung, endlich  der  Zusatz  ‘oder  auf  Lieder 
ähnlichen  Inhalts’  gar  keinen  Zweifel  lassen, 

! dass  die  Worte  ‘sich  beziehend  aufeinander’, 
auf  die  Thätigkeit  der  Dichter  gehn,  will  sie  K. 

[ auf  den  Aufzeichner  und  Zusammenfüger  deu- 

! ten  und  kommt  auf  diese  Missdeutung  p.  61, 

136,  384  als  auf  einen  unzweifelhaften  Nach- 
weis zurück  mit  Tadel  gegen  Steinthal  und 
Köchly,  welche  den  Worten  den  einzig  mögli- 
chen Sinn  geben,  p.  60  handelt  es  sich  um 
Lachmanns  Worte:  ‘Wer  vor  der  attischen 
Sammlung  derselben  Meinung  war,  schrieb  die 
Stücke,  die  er  kannte  und  sich  selbst  in  seinen 
Gedanken  in  Zusammenhang  brachte,  dem  Ho- 
mer zu,  gewiss  nicht  mit  der  schärfsten  Kritik’. 
‘Wir  sehen’,  sagt  K.,  ‘die  Stelle  ist  Steinthal 
nicht  klar  gewesen,  wir  müssen  sie  ihm  inter- 
pretireni’  Und  was  folgt  auf  diese  anmassliche 
Ankündigung?  ‘Vor  Pisistratus  konnten  nur 


296  Gott»  gel.  Anz.  1874.  Stuck  10. 

Kritik*  und  Gedankenlose  in  den  einzelnen  Lie* 
dern  einen  Zusammenhang  sehen  und  finden 
und  ohne  jedes  Nachdenken  für  den  Verfasser 
derselben  Homer  halten’.  In  all  solchen  Fällen 
kann,  da  K.  seine  Gegner  wörtlich  citirt,  von 
einer  absichtlichen  Verdrehung  und  Entstellung 
nicht  die  Rede  sein,  wohl  aber  zeugen  sie  von 
einer  bedauerlichen  Unfähigkeit  oder  Leichtfer- 
tigkeit der  Auffassung  gegnerischer  Ansich- 
ten. Zu  der  Meinung  aber,  der  Verf.  möchte 
seine  Aufsätze,  wie  er  sie  eben  hingeworfen, 
veröffentlicht  haben,  fuhren  nicht  bloss  die 
Wiederholungen,  die  rhetorische  Breite  und  die 
mannigfachen  Missverständnisse , nicht  bloss 
Aussprüche,  wie  p.  322  ‘dem  wir  ein  neues 
hoffentlich  viel  kürzeres  Kapitel  noch  wid- 
men müssen’,  sondern  vor  Allem  spricht  dafür 
die  unverzeihlich  saloppe  Behandlung  des  Stils. 
Die  folgenden  Bemerkungen  machen  wir  nicht 
aus  Kleinmeisterei,  sondern  weil  sie  in  der 
That  den  Charakter  des  Buches  kennzeichnen 
und  um  so  mehr  zu  rügen  sind,  da  der  Verf. 
sich  fortwährend  auf  Geschmack  und  poetisches 
Gefühl  beruft  und  wiederholt  seinen  Gegnern 
vorwirft,  dass  Goethe  und  unsre  classische 
Litteratur  ohne  Wirkung  an  ihnen  vorüberge- 
gangen sei. 

p.  90:  ‘Wir  können  nicht  schliessen,  ohne 
den  unerquicklichen  Eindruck  zu  verschweigen9 
p*  310  ‘auch  Kirchhof!  kann  nicht  umhin,  die- 
ser Scene  sein  Lob  vorzuenthalten9,  p.  254 
‘A.  Kirchhoff  spricht  in  der  Vorrede  p.  VII  sei- 
nes Werkes  ‘die  Composition  der  Odyssee’  die 
Ueberzeugung  aus,  ‘dass  ein  Jeder,  der  den 
Thatbestand,  welchen  ich  in  demselben  zu  er- 
mitteln mich  bemüht  habe’  u,  s.  w«,  wo  ‘in  denv* 
selben9  bei  Kirchhoff  auf  den  ersten  Au&at^ 


Kammer,  Die  Einheit  der  Odyssee.  297 

geht.  p.  121  Tragt  man  nun,  ob  die  beiden 
Stellen,  da  wo  wir  sie  lesen,  passender  sind, 
man  wird,  ist  man  vorurtheilsfrei,  dies  bejahen 
müssen’,  p.  424:  ‘Was  berechtigt  den  Nestor, 
wenn  er  aus  der  Frage  merkte  »Telemachos 
‘ möchte  gern  den  ganzen  Hergang  wissen«,  dies 
zu  verschweigen ? Etwa  die  Erwägung:  »Seit-» 
Bamer  Mensch,  dieser  Telemachos!  er  weiss  die 
Art  des  Todes  und  will  trotzdem  das  auf  die 
Ermordung  bezügliche  noch  einmal  hören?  Nun 
da  werde  ich  ihm  doch  lieber  nur  auf  die  eine 
Frage  antworten,  das,  was  er  noch  nicht  wissen 
kann,  wo  Menelaos  vor  seiner  Heimkehr  umher 
geirrt?«  Oder  überliess  er  dem  Meergreise  das 
Nähere  zu  erzählen?  Was  wusste  Nestor  aber 
vom  Meergreiße?  und  wenn  er  etwas  wusste, 
wie  konnte  er  in  diesem  Stadium  der  Handlung 
i auf  den  Meergreis  verfallen  als  denjenigen,  der 

[ das  gut  machen  würde,  was  er  selbst  aus  die* 

sen  oder  jenen  Gründen  in  der  Beantwortung 
übergangen  hatte?’  Hieher  gehört  auch  die 
übermässige  Anwendung  der  banalsten  Phrasen 
und  Vergleiche;  p.  122  f.  wird  sogar  der  ge- 
schmackloseste aller  Feuilletonvergleiche,  ästhe* 
tische  Genüsse  mit  einem  ‘Diner’  zusammenzu- 
stellen, auf  Homer  angewandt.  Noch  mehr  aber 
zeigt  sich  dasselbe  in  der  unablässigen  Wieder- 
kehr derselben  Ausdrücke,  wie  ‘gemüthvoU’, 
‘stimmungsvoll’  u.  dgl..  m.  K.  macht  es  seinen 
Gegnern  wiederholt  zum  Vorwurf,  dass  man  bei 
ihnen  so  wenig  Begeisterung  für  den  Dichter 
fände.  Aber  diese  mochten  sich  sagen,  dass 
mit  Ausdrücken  wie:  ‘ich  finde  diese  Partie 
durch  und  durch  poetisch’,  wie  sie  bei  K.  alle 
paar  Seiten  Vorkommen,  wenig  gewonnen  sei. 
Selten  kommt  K.  über  die  allgemeinsten  Prän 
dic&te  hinaus.  Nur  einige  Beispiele  mögen  zei- 


298  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 


gen,  dass  er  Ausdrücke,  wie  die  obigen,  oft 
ganz  verkehrt  anbringt,  p.  101  ‘Dieses  so 
schöne  Lob,  das  von  der  Königin  des  Landes 
der  Fremde  auf  der  Strasse  vernahm,  für  ihn 
gewiss  so  trostreich  und  zugleich  stimmungs- 
voll*. p.  580:  ‘Dass  Athene  bei  dieser  Arbeit 
ihrer  Schützlinge  gegenwärtig  ist,  war  das  nicht 
für  die  beiden  Männer,  die  unter  dem  Ernst 
der  hereinbrechenden  Katastrophe  stehen,  stim- 
mungsvoll ?’  p.  303  ‘das  ist  ausserordentlich 
meisterhaft  und  für  die  Frau  sehr  psycholo- 
gisch9. p.  272  von  der  zornigen  Rede  des 
Telemachos  ß 139 — 145  im  (Asydgiov  ‘Das 

gemüthvoll  aus  dem  Herzen  dringende  poC9. 
p.  215  bei  der  Erwähnung,  dass  die  homeri- 
schen Gesänge  einzeln  vorgetragen  seien,  was 
doch  einfache  Thatsache  ist,  ereifert  sich  K.,  dass 
man  ‘diese  Geistlosigkeit  der  Sänger9  annehme. 
Bekkers  allerdings  recht  überflüssige  Bemerkung, 
wie  Dolio8  einen  so  schlechten  Sohn  haben  könne, 
findet  K.  ‘höchst  sentimental9  p.  399.  Auch 
‘Scenerie9  gehört  zu  diesem  ‘Apparat9  in  Wen- 
dungen, wie  p.  329 : ‘Diese  grossartige  Scenerie, 
da  der  Dichter  seinem  Helden  das  Wort  abtritt 
zur  Selbsterzählung9.  Für  all  diese  stereotypen 
Ausdrücke,  wie  überhaupt  für  die,  wir  möchten 
sagen,  individuellsten  Züge  liesse  sich  mit  leich- 
ter Mühe  nachweisen,  dass  sie  Lehrs  entlehnt 
und  nachgeahmt  sind;  während  K.  den  Lach- 
mannianern  das  Breittreten  von  Lachmanns  An- 
sichten vorwirft  (p.  351  u.  ö.),  wissen  wir  unter 
diesen  keinen  nennenswerthen  Vertreter,  der 
seines  Meisters  Spuren  so  im  eigentlichsten 
Sinne  des  Worts  ‘breit9  träte,  wie  K.  Was 
aber  bei  Lehrs  individuell  ist,  das  ist  hier  scha- 
blonenhaft geworden ; und  schablonenhaft  — ge- 


Rummer,  Die  Einheit  der  Odyssee.  299 

rade  das,  was  E.  der  Liedertheorie  vorrückt  — 
ist  die  ganze  Art  der  Behandlung. 

Es  gilt  K.  für  unumstösslich,  dass  der  Plan 
der  homerischen  Gedichte  ans  einem  Kopf  ent- 
sprungen sei.  Dieser  hervorragende  Geist  ent- 
warf gewissermas8en  ein  ‘Programm’,  das  er 
auch  in  den  Hauptpartieen  selbst  ausführte,  das 
aber  ‘durch  das  Mithineinsingen  auch  anderer 
poetischer  Genies  und  Talente’  theils  vollendet, 
tbeils  auch  gestört  wurde.  Für  die  Weiterbil- 
dung aber  legt  E.  einen  besonderen  Nachdruck 
auf  die  Improvisationen  der  epischen  Zeit;  eine 
solche  frische  Improvisation  ist  ihm  — die 
Dolonie,  p.  38:  ‘Keinen  weiteren  Zweck  hat 
dies  Lied  für  die  Handlung  des  Gedichts,  es  ist 
nichts  weiter  als  eine  prachtvolle  Einlage 
in  die  Stimmung  im  Allgemeinen,  die  aber 
ohne  weitere  Folgen  bleibt  für  die  weitere 
Entwicklung  der  Handlung,  sie  ist  ein  Stim- 
mungsbild, das  mit  dem  Gang  der  Begeben- 
heiten nichts  weiter  zu  thun  hat,  eine  frische 
Improvisation,  zu  der  sich  der  Sänger  begeistert 
fohlte,  der  nicht  ängstlich  auf  Folge 
und  engen  Zusammenhang  bedacht  ist, 
nur  angeregt  durch  die  obwaltende  Situation 
seinen  Gesang,  der  zwar  lose  für  ein  kri- 
tisches Auge  sich  einfügt,  aber  nur 
für  diese  Stelle  passend  ist,  einlegt, 
einen  Gesang,  den  wir  um  keinen  Preis  ver- 
missen möchten,  bei  dem  für  uns  die  Frage,  ob 
acht  oder  unächt,  eine  völlig  überflüssige  ist, 
genug,  dass  er  da  ist  und  uns  ausserdem  noch 
über  den  lebendigen,  mit  frischer  Improvisations- 
kraft hier  und  da  einsetzenden  epischen  Sang 
jener  Zeit  belehrt’.  Wir  haben  diese  längere 
Stelle  heraü8gehoben , weil  sie  in  jeder  Be- 
ziehung, nach  Form  und  Inhalt  für  den  Geist 


300  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

des  Bqches  charakteristisch  ist.  Wie  K.  solche 
Ansichten  mit  der  festen  Tradition  der  homeri- 

r 

sehen  Gedichte  vereinigt , das  sagt  er  nirgends, 
sondern  er  ergeht  sich  wieder  und  wieder  in 
begeisterten  Tiraden  über  diese  herrliche  Kraft, 
und  wie  diese  erst  uns  das  Verständnis  Homers 
erschlösse.  Eine  ernste  Widerlegung  verdienen 
diese  Trogramm’-  und  Improvisationsansichten 
(NB.  in  solcher  Uebertreibung)  ebensowenig,  als 
sie  eine  ernste  Begründung  erfahren.  Auch  die 
Folgerungen,  die  K.  aus  dem  Wesen  der  Poesie 
iür  die  Einheit  des  Dichters  macht  u.  ä.  sind 
durchaus  oberflächlich  und  namentlich  ist  das 
wiederholte  Verweisen  auf  Goethe  als  den,  an 
welchem  wir  uns  die  Entstehung  der  homeri- 
schen Gedichte  klar  machen  sollten,  ganz  ver- 
kehrt (übrigens  stammt  auch  dies  von  Lehrs). 
Dass  die  Uebung  der  Dichtkunst  in  homerischer 
Zeit  — ganz  abgesehn . von  den  verschiedenen 
Culturbedingungen  — gar  nicht  mit  der  eines 
modernen  Dichters  zu  vergleichen  ist,  dafür  lie- 
fert den  Beweis  die  homerische  Sprache,  und 
was  wir  aus  dieser  erkennen,  findet  seine  hi* 
storische  Begründung  in  der  unschätzbaren  No- 
tiz über  die  Homeridenzunft  auf  Chios.  Von 
diesen  für  die  Geschichte  der  homerischen  Ge- 
dichte wichtigsten  Momenten  nimmt  E.  gar 
keine  Notiz;  seine  moderne  Betrachtungsweise 
zeigt  sich  aber  nicht  nur  darin,  dass  er  Homer 
wiederholt  für  den  Goethe  seiner  Zeit  erklärt, 
sondern  auch  darin,  dass  er  p.  374  gegen  die 
Liedertheorie  allen  Ernstes  geltend  macht,  dass 
Uhlands  und  Schillers  Balladen  doch  einen  ganz 
änderen  Ton  hätten , als  Odysseus  bei  den  Phäa- 
ken  u.  ä. 

Von  solchen  Grundanschauungen  aus  hält  E. 
nicht  an  der  absoluten  Einheit  der  homerischen 


Eatnmer , Die  Einheit  der  Odjssee.  801 

Gedichte  fest,  sondern  — um  einen  köstlichen 
I Ausdruck  von  Lehrs  zu  gebrauchen  p.  783  — 
au  ‘der  dennoch  Einheit9.  Viele  Wider- 
sprüche und  Unebenheiten  erkennt  er  an,  aber 
er  hofft  — und  darin  spricht  er  seine  Scha- 
blone offenaus  — mit  Athetesen  und  dgl. 
auszukommen.  (p.  209,  255  u.  ö.).  Bei 
anderen,  besonders  chronologischen  Widersprü- 
chen fragt  er  auch,  ‘ob  das  Publicum,  das  die- 
ses Lied  hörte,  auch  die  Entdeckung  machte9 
(p.  181  u.  ö.)  und  meint,  dass  sie  ‘aus  dem 
ganzen  Charakter  jener  epischen  Poesie,  die  nur 
für  Zuhörende  berechnet  war9  fliessen  (p.  234 
u.  ö.).  Das  sind  Redensarten,  wie  sie  auf  ver- 
schiedenen Gebieten  immer  wieder  einmal  auf- 
treten  und  keiner  Antwort  bedürfen.  Ich  kann 
nun  unmöglich  K * in  den  hundert  einzelnen 
; Fragen  begleiten,  in  welche  sich  die  Unter- 

suchung auflöst,  und  in  denen  er  durch  Um- 
stellung, Athete8e,  Annahme  von  Conjekturen 
und  Lücken,  bisweilen  Alles  auf  einem  Fleck, 
zu  helfen  sucht;  ich  kann  weder  auf  die  man- 
, cherlei  richtigen  und  feinen  Bemerkungen  im 

Besonderen  binweisen,  noch  das  vielfach  Boden- 
lose und  Widersprechende  eines  Verfahrens  zei- 
gen, das  es  dem  Gegner  leicht  macht  ihn  oft 
| mit  seinen  eigenen,  oft  mit  anderen  Waffen  zu 
schlagen.  Dies  könnte  nur  in  ausführlicher  Dar- 
legung geschehen,  die  den  Rahmen  einer  Recen- 
sion überschreitet;  so  will  ich  hier  nur  Weni- 
ges herausheben,  das  sich  kurz  erledigen  lässt 
und  doch  für  das  Buch  charakteristisch  ist. 

Wie  K.  die  einfachsten  Motive  verkennt, 
weil  er  überall  Plan  und  Einheit  sehen  will* 
zeige  das  Urtheil  über  Odysseus9  Gang^  durch 
die  Phäakenstadt.  (p.  105).  Dass  ihn  Athene 
in  Nebel  hüllt  py  ttg  . . i&Qeoi&  Sng  hin  (q,  17) 


302  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 


zeigt,  dass  in  des  Dichters  Phantasie  ‘bereits 
der  ganze  Gang  bis  Schluss  # und  von  da  bis 
in  v hinein  in  unmittelbarer  Folge  gegenwärtig 
sein  musste.  Denn  so  war  ja  des  einen  Dichters 
Plan  angelegt,  Odysseus  ungekannt  und  ungefragt 
eine  Zeit  lang  bei  den  Phäaken  weilen  und  erst, 
nachdem  in  der  nöthigen  Weise  das  Interesse 
für  seine  Persönlichkeit  wachgerufen  war,  ihn 
vortreten  zu  lassen  mit  Nennung  von  Namen 
und  Schicksalen.  Wie  schön,  ich  möchte  sagen, 
wie  feierlich  oft  ist  dies  nun  vorbereitet  von 
dem  Augenblick,  da  er  das  Land  betritt,  bis 
zu  dem  Moment,  der  ihn  den  Phäaken  sichtbar 
zeigt.  Wenn  Athene  auf  dem  Wege  des  Odysseus 
zu  ihm  nun  die  Worte  spricht  v.  30 — 33,  so 
lasse  ich  mir  durch  einen  etwaigen  Widerspruch 

— den  ich  freilich  überhaupt  nicht  finden  kann 

— das  Verständniss  der  ganzen  Scene  nicht 
trüben,  sondern  ich  glaube,  dass  diese  Worte 
hier  nur  die  nöthige  Stimmung  in  uns  erwecken 
sollen,  dass  sie  ein  nothwendiger  Zug  in  der  so 
feierlich  gehaltenen  Scene  und  sie  so  wol  auch 
von  den  Zuhörern  des  Sängers  aufgenommen 
und  genossen  worden  sind*.  Aber  jenes  Um- 
hüllen des  Odysseus  entspringt  unmittelbar  aus 
der  Situation : nach  der  wirren  Fahrt,  im  frem- 
den Gewand  durch  die  Strasse  schreitend, 
mochte  er  natürlich  nicht  angeredet  sein;  man 
beachte  auch  die  Worte  x€QTop£ot  inieccw  xai 
i&QtoifP  etc. ; jener  Einheitsgedanke  mag  einem 
das  Ganze  überschauenden  Aesthetiker  kommen, 
dem  Hörer  jener  Verse  könnte  er  es  nicht 
und  er  ist  nicht  homerisch;  übrigens,  was  den 
vermeintlichen  tieferen  Zweck  betrifft,  was  hin- 
dert denn  den  Odysseus,  wenn  er  noch  unbe- 
kannt bleiben  sollte,  ‘den  vom  Verkehr  mit  den 
Menschen  abgeschlossenen,  aufmerksam  lauschen- 


Kfuümer , Die  Einheit  der  Odyssee.  303 

k 

den  Phäaken’  — so  charakterisirt  E.  p.  194 
d&s  schifffahrende  Volk  — ein  Mährchen  aufzu- 
binden,  wie  er  es  — u.  8.  w.  (s.  o.)* 

p.  394  fuhrt  E.  als  Beweis  für  den  ‘eminen- 
ten Knnstinstinkt’  Homers  an,  dass  Telemachos 
auf  die  Heise  grosse  Vorräthe  mitnehme,  ohne 
dass  man  nachher  höre,  wie  sie  gebraucht  oder 
verbraucht  worden  seien.  Das  ist  eine  Bemer- 
kung ganz  von  der  philiströsen  Art,  wie  sie  E. 
vielfach  bei  seinen  Gegnern  gefunden  und,  mit 
Recht,  lächerlich  gemacht  hat. 

p.  441  wirft  E.  Köchly  vor,  er  nehme  eine 
Allwissenheit  der  Götter  an,  wie  sie  Homer 
nicht  durchführe  u.  s.  w.  Aber  Eöchly  hatte 
gar  nicht  von  Allwissenheit  gesprochen,  sondern 
nur  gesagt  ‘Calypsonem  deam  Mercurio  deo 
äddu  xai  avTtS  de  sua  conditione  exposituram’ 
etc.  Wohl  aber  hätte  E.  die  Belehrung  an 
seine  eigne  Adresse  richten  können,  da  er  p. 
261  (vgl.  267)  sagt:  ‘Man  wird  doch  anzuneh- 
men haben,  dass  die  die  Zukunft  kennenden 
Götter,  die  also  auch  wussten,  wie  speciell  die 
Ereignisse  auflthaka  sich  gestalten  würden,  die 
Intention  der  Athene  verstanden’. 

p.  107  tadelt  E.  Eöchly«  dass  er  u.  a.  die 
Worte  der  Nausikaa  £ 257  fallen  lasse  (ßv&a  . 
(fi  ffniu  navTtov  Oanjxcov  eidfjcdfbsv  öaaoi 
ÜQHfTot)  und  p.  108  motivirt  er  die  Reden  in 
der  Volksversammlung  damit , bei  Alkinoos  seien 
nicht  alle  Fürsten  zugegen  gewesen,  p.  207  f. 

! erklärt  er  die  Worte  Ttjli^axov  d’otfy  invog 
0%*  ylvxvg  d,  7 ‘Telemachos  aber  wachte  auf 
. ..  Was  ist  hiebei  auffallend  oder  unsinnig 
ausgedrückt  ?’  Aber  diese  prägnante  ßedeu- 
i tung  ist  — worauf  noch  kürzlich  Herzog  in 
Fleckeisens  Ibb.  aufmerksam  gemacht  hat  — 
unter-,  nicht  ausgelegt.  Ebenso  wird  p.  226 


304  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  10. 

(vgl.  230  u.  232)  mit  grossem  Gewicht  ein* 
Erklärung  von  im$ta  <*,  84  vorgetragen,  ohne 
dass  diese  weiter  gerechtfertigt  würde,  p.  446 
soll  ein  Bhapsode  y,  417  etwas  ‘ausgeplaudert’ 
haben  vom  Plane  des  Gedichtes,  was  K.  streicht; 
nur  schade,  dass  dadurch  statt  der  vom  Rhap- 
soden mit  ‘ausgeplauderten’  einzig  möglichen 
Beziehung  nopnijy  d'ig  %66'  iyw  TsypatyofLct*  — 
avQtov  eg,  die  unmögliche  von  ig  tod1  auf  ä<fQJ 
Sv  txfjcu  etc»  eintritt.  p.  693  f.  übersetzt  K. 
(mit  Düntzer  u.  a.)  (pd'SYyop&VQV  däqa  toß  ye 
xctqt]  xovlrfihv  ‘ihn,  als  er  noch  redet’ 

und  da  Leiodes  vorher  nicht  redet  % 310  ff., 
so  ist  ihm  dies  ein  Argument,  das  einzige,  der 
Nachdichtung.  tpxMyyst r£a*  heisst  bei  Homer 

nur  an  einer,  offenbar  unechten  Stelle  ‘reden’, 
sonst  kann  es  nicht  nur,  sondern  muss  von 
(unartikulirten)  Lauten,  hier  also  vom  letzten 
Todesschrei  verstanden  werden. 

Wie  gesagt,  müssen  wir  durchgreifendere 
Einwendungen  übergehen ; um  so  freudiger  wol- 
len  wir  aber  nach  so  vielen  Ausstellungen  das 
Gute  anerkennen,  das  XL’s  Buch  unzweifelhaft 
enthält,  wenn  es  auch  zu  dem  Umfang  und 
Anspruch,  mit  welchem  dasselbe  auftritt,  in 
* keinem  Verhältniss  steht.  Wir  haben  schon 
wiederholt  anerkannt,  dass  seine  Polemik  viel* 
fach  durchaus  berechtigt  ist;  aber  auch  in  sei- 
nen positiven  Aufstellungen  findet  sich  neben 
vielem  Yagen  und  Subjektiven,  vielem,  was  nur 
Zugeben  kann,  wer  auf  seinen  Voraussetzungen 
? steht,  auch  nicht  Weniges,  was  beachtenswerth, 
ja  schlagend  ist.  So  gehören  seine  Untersuchun- 
gen über  das  elfte  Buch  der  Odyssee  zum  Be- 
sten, was  darüber,  ja  über  Homer  überhaupt 
geschrieben  ist.  Freilich  steht  diese  Unter* 
suchung  auf  einer  Höhe,  wie  sie  kaum  in  einem 


Kammer,  Die  Einheit  der  Odyssee.  305 

anderen  Abschnitt  des  Buches  wieder  erreicht 
wird:  hier  herrscht  nicht,  wie  so  häufig,  sub- 
jektive Verschwommenheit,  sondern  wir  haben 
mit  feinem  Sinn  und  methodischer  Kritik  be- 
gründete Beobachtungen. 

Ueberhaupt,  hätte  K.  sein  Buch  besser  ge- 
sichtet, geordnet  und  durcbgearbeitet,  so  würde 
er  zwar  schwerlich  Andersdenkende  für  seinen 
nnitarischen  Standpunkt  gewonnen  haben,  aber 
er  würde  durch  Widerlegung  ungegründeter  Auf- 
stellungen der  Kritik  — die  sich  freilich  in 
ihrer  ebenso  grossen  Subjektivität  als  Ent- 
schiedenheit oft  selbst  richten  — sowie  durch 
manche  treffende  Bemerkungen  und  richtig  em- 
pfundene Auffassung  sich  um  Homer  noch  weit 
mehr  verdient  gemacht  haben.  Denn  dass  unsere 
oft  allzu  nüchterne  Homerkritik  einer  Ergän- 
zung namentlich  von  Seiten  eines  unbefange- 
nen poetischen  Gefühls  bedarf,  steht  ausser 
Frage.  Aber  auch  hier  lässt  sich  anwenden,  was 
Goethe  als  allgemeine  Lebensmaxime  aufstellt, 
und  was  wir  K.  zum  Schluss  noch  ans  Herz 
legen:  ‘Viel  denken,  mehr  empfinden 
und  wenig  redenl’  — -ch— % 


Etude  hi8torique  et  therapeutique  sur  le 
bromure  de  potassium  par  A.  Voi  sin.  etc.  Paris. 
ABselin  1873.  38  Seiten  in  Octav. 

Die  Behandlung  der  verschiedenen  Nerven* 
krankheiten  mit  Bromkalium  ist  in  der  neueren 
Zeit  eine  so  ausgedehnte  geworden  und  ist  in 
vielen  Fällen  eine  so  fruchtbringende,  dass  eine 
Schrift  über  die  Anwendung  des  in  Bede  stehen* 

20 


306  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

den  Mittels  Anspruch  auf  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit machen  kann.  Es  ist  dies  um  so  mehr 
der  Fall,  wenn  diese  Schrift  (wie  die  vor- 
liegende) eine  von  der  Pariser  Academie  de 
medecine  mit  einem  Preise  bedachte  ist  und 
wenn  ihr  Verfasser,  wie  dies  A.  Voisjn  ge- 
than,  sich  durch  frühere  Arbeiten  über  "den  in 
der  Schrift  behandelten  Gegenstand  einen  Na* 
men  gemacht  hat.  In  der  That  ist  es  Voisin 
gewesen , welcher  die  von  dem  Engländer  L o- 
cock  eingeführte  Behandlung  der  Epilepsie  mit 
Bromkalium  in  Frankreich  zuerst  in  grossem 
Massstabe  versucht  hat  und  er  ist  es,  dem  wir 
die  ersten  ausführlichen  Mittheilungen  über  die 
Einwirkung  des  Medicaments  in  grösseren  Do* 
sen  auf  den  menschlichen  Organismus  verdan- 
ken. Er  hat  uns  zuerst  eine  genaue  Beschrei- 
bung der  bei  fortgesetzter  Anwendung  grösserer 
Dosen  Bromkalium  resultirenden  chronischen 
Vergiftung  gegeben.  Er  hat  uns  die  Effecte 
des  Mittels  zuerst  genau  geschildert,  obschon 
bei  den  früheren  Versuchen  von  Huette  schon 
manche  physiologische  Wirkungen  des  Mittels 
zu  Tage  getreten  waren.  Er  hat  uns  zuerst 
genauer  das  Bromexanthem  oder  richtiger  ge- 
sagt die  Bromexantheme  beschrieben,  die  durch 
ihre  Eigenartigkeit  neuerdings  auch  die  Auf- 
merksamkeit der  Dermatologen  auf  sich  gelenkt 
haben. 

Die  vorliegende  Arbeit  giebt  nach  einem 
historischen  Abschnitte  über  die  Entdeckung 
des  Broms  und  Bromkaliums  und  über  die  An- 
wendung desselben  in  der  Therapie  in  gedräng- 
ter Kürze  die  Resultate  der  eigenen  Erfahrung 
über  das  Mittel  und  ist  im  Wesentlichen  eine 
Ausführung  und  Vervollständigung  der  bereits 
im  Jahre  1866  von  Voison  pubßcirten  Arbei- 


Voisiu,  £tude  historique  et  therapeutique  etc.  307 

ten  fiber  Bromkaliumtherapie.  Der  historische 
Abschnitt  kann  zwar  keineswegs  den  Anspruch 
auf  vollständige  Erschöpfung  des  Gegenstandes 
erheben;  nicht  einmal  alle  französischen  Arbei- 
ten sind  genannt,  geschweige  denn  Alles,  was  in 
Deutschland  über  das  Mittel  erforscht  und  ge- 
schrieben wurde.  Indessen  ist  etwas  durchaus 
Wesentliches  nicht  vergessen  und  als  einen  kur- 
zen historischen  Abriss  der  Bromtherapie  können 
wir  diesen  Abschnitt  der  Voi  sin ’sehen  Schrift 
immerhin  mit  Dank  annehmen. 

Was  den  Gebrauch  des  Bromkaliums  anlangt, 
so  besteht  der  Verf.  auf  der  Darreichung  eines 
reinen  Präparates,  weil  chemisch-reines  Brom- 
kalium die  Heileffecte  viel  rascher  und  sicherer 
bedinge  als  jod-  und  chlorhaltiges.  Es  ist  dies 
eine  Anschauung,  welche  freilich  im  Gegensätze 
zu  der  neuerdings  in  Deutschland  viellach  ver- 
fochtenen Ansicht  steht,  dass  das  Bromkalium 
nur  als  Kalisalz  wirke  und  das  Chlorkalium  ge- 
rade so  gut  wie  Bromkalium  Epilepsie  zu  curi- 
ren  im  Stande  sei.  Ob  letzteres  wahr  ist,  muss 
freilich  so  lange  dahin  gestellt  bleiben,  ehe  nicht 
mehrjährige  Erfahrungen  über  die  Wirksamkeit 
des  Chlorkaliums  vorliegen  und  die  wirkliche 
Heilung  der  damit  behandelten  Fälle  verbürgen, 
wie  solches  ja  in  Bezug  auf  das  Bromkalium 
in  Wirklichkeit  der  Fall  ist.  Voisin  wird  den 
bis  jetzt  vorliegenden  Notizen  (so  dürfen  wir  ja 
sagen)  über  den  Nutzen  des  Chlorkaliums  gegen 
Epilepsie  absolut  keine  Bedeutung  beimessen, 
denn  er  fordert  eine  zehnjährige  Beobachtung 
als  Minimum,  um  wirkliche  Heilung  zu  consta- 
tiren  und  er  spricht  sich  dahin  aus,  dass  die- 
ser Zeitraum  es  sei,  innerhalb  dessen  die  Kran- 
ken constant  unter  dem  Einflüsse  des  Mittels 
j gehalten  werden  müssten.  Ist  letzteres  in  der 

i 20* 


308  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

That  die  conditio  sine  qua  non,  so  wird  man 
freilich  wenige  Kranken  dahin  bringen  können, 
sich  dieser  Behandlung  zu  unterwerfen,  zumal 
wenn  sie  dabei  von  dem  drohenden  Gespenste 
des  Bromismus  chronicus  und  der  Bromkachexie 
etwas  in  Erfahrung  gebracht  haben. 

Eigenthümlich  ist  Voisin  ein  Moment,  wel- 
ches er  für  die  Prognose  bei  der  Behandlung 
der  Epilepsie  mit  Bromkalium  verwendet. 

Da  nach  Voisins  Theorie  das  Wesen  der 
Wirkung  des  Bromkaliums  bei  Epilepsie  in  einer 
Herabsetzung  der  Reflexerregbarkeit  des  ver- 
längerten Markes  und  des  Rückenmarks  besteht, 
glaubt  erv  dass  dem  Organismus  so  lange  Brom- 
kalium zugeführt  werden  müsse,  bis  hochgradige 
Herabsetzung  erreicht  sei  und  er  constatirt  dies 
in  der  Weise,  dass  er  einen  Löffel  bis  an  die 
Basis  der  Zunge  und  an  die  Epiglottis  einführt, 
um  zu  consta tiren,  ob  dadurch’  reflectorisch 
Brechbewegungen  und  Hustenreiz  ausgelöst  wer- 
den. Lässt  sich  das  Fehlen  dieser  Reflex- 
erscheinungen durch  Anwendung  des  Brom- 
kaliums in  steigender  Gabe  nicht  erreichen,  so 
ist  dies  nach  Voisin  ein  ungünstiges  Zeichen 
in  Bezug  auf  diese  Prognose,  während  der  Ein- 
tritt der  Aufhebung  der  Sensibilität  im  Pha- 
rynx, wenn  wir  uns  so  ausdrücken  dürfen,  eine 
günstige  Prognose  involvirt.  Von  40  Epilepti- 
schen, welche  Voisin  in  der  angedeuteten  Ma- 
nier prüfte,  waren  nur  drei,  darunter  ein  Ge- 
besserter , bei  welchen  diese  Wirkung  des  Brom- 
kaliums nicht  erreicht  wurde;  von  den  übrigen 
37,  bei  welchen  die  Reflexnausea  nicht  mehr 
hervortrat,  wurden  15  geheilt  (bei  denselben 
sind  seit  4 Jahren  keine  Anfälle  mehr  hervorge- 
treten), 17  gebessert  und  nur  2 blieben  ohne  Besse- 
rung. Diese  Prüfungsmethode  von  Voisin  ist, 


Voison,  lÜtude  historique  et  therapeatique  etc.  309 

wie  er  mittheilt,  von  dem  berühmten  Physiolo- 
gen Claude  Bernard  gebilligt  und  auch  von 
See  und  dessen  Schüler  Besson  adoptirt. 

In  Bezug  auf  die  chronische  Bromvergiftung 
unterscheidet  Voisin  zwei  Formen,  eine  acut 
auftretende  und  eine  langsam  auftretende,  von 
denen  er  die  letztere  wiederum  in  gewöhnliche 
und  cerebrospinale  abtheilt.  Alle  diese  Formen 
dürfen  nicht  mit  der  Bromkachexie  verwechselt 
werden,  bei  welcher  die  Patienten  nach  zuvori- 
gem Eintreten  von  Blässe  und  gelblicher  Fär- 
bung der  Haut,  Abmagerung  und  Abnahme  der 
Körperkräfte  plötzlich  einem  acuten  Leiden  zum 
Opfer  fallen.  In  den  von  Voisin  beobachte- 
ten Fällen  war  die  Todesursache  entweder  ein 
Carbunkel  im  Nacken  oder  Erysipelas  migrans 
oder  Pleuropneumonie  oder  eboleriforme  Darm- 
entzündung, die  sämmtlich  unter  typhösen  Er- 
scheinungen dem  Leben  ein  Ende  machten. 

Nach  Voisin 8 Erfahrungen  tritt  der  Bro- 
mismus chronicus  oft  erst  mehrere  Monate  nach 
täglich  dargereichten  4 — 10  Gm.  auf,  kann  aber 
auch  schon  hei  schlecht  genährten  Patienten  bei 
Gebrauch  von  1,5—2  Gm.  im  Tage  sich  zeigen. 
Jahrszeit  und  Temperatur  scheinen  ohne  Ein- 
fluss auf  die  Entstehung  zu  sein.  Die  rapide, 
ohne  Vorläufer  auftretende  Form  beobachtete 
Voisin  bei  Individuen,  welche  schon  3 — 4 
Jahre  lang  täglich  6 — 10  Gin.  des  Medicaments 
nahmen;  die  Erscheinungen  bestanden  in  einem 
schwankenden  Gange,  Ptosis,  Schläfrigkeit,  Kopf- 
weh und  Durchfällen,  dabei  zeigte  sich  beson- 
ders grosse  Schwierigkeit  sich  auszudrücken, 
zugleich  wurde  die  Schrift  schlecht,  die  Hand 
zitternd,  der  Sinn  der  geschriebenen  Sätze  un- 
verständlich, es  fehlten  darin  entweder  Theile 
von  ganzen  Wörtern,  oder  es  waren  darin  auch 


310  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  10. 

ganz  anrichtige  Wörter  and  Bachstaben  ange- 
bracht. Voisin  hat  hierfür  einen  interessan- 
ten Brief  als  Beleg  mitgetheilt,  der  von  einem 
ausserordentlich  unterrichteten  Kranken  her- 
rührt and  die  betreffenden  Symptome  beschreibt : 
»Je  suis  alle  damir  par  cette  grante  chalenr 
rue  ru  faubg  Poiss.  et  de  la  rue  Basse  du  Rem- 
part.  En  revenant  il  m’a  pris  an  tel  mal  tete 
que  j’allais  tont  branlant  et  qu’arrive  au  tunle- 
ries  j’ai  dte  tres  fontint  de  m’arrenr  sur  an  in- 
stant snr  an  totoir.  Apres  pis  tons  mes  effons 
pour  arw  chez  Gaiffer  ä laquelle  je  racontai 
tont  et  qui  ne  m’aurut  pas  fait  donner  nn 
verrebeau ; j’allai  en  treibuchant  jusqu’ä  la  mais 
ou  je  me  nus  au  bot,  lä  on  me  mit  des  sis  nas- 
pimes  de  soldes  d’eau  sedative  dar  le  front, 
pais  ä mesur  que  cela  n’au  n’arrue,  je  buvais, 
j’allais  ä la  seile  jusqu’ä  ce  matin«.  In  allen 
diesen  Fällen  schwanden  die  Erscheinungen  un- 
ter der  Anwendung  von  Dampfbädern,  schwar- 
zem Kaffee,  Abführmitteln,  harntreibenden  Ge- 
tränken und  nahrhaften  Flüssigkeiten  innerhalb 
einiger  Tage. 

Von  der  langsam  eintretenden  Form  des 
Bromismus  trägt  die  gewöhnliche  den  Character 
der  Adynamie  und  zeigt  als  Hauptsymptome 
schmutziggelbe  Gesichtsfarbe,  Abmagerung,  stu- 
piden Gesichtsausdruck,  Schwäche  des  Gesichts 
und  Gehörs,  stockende  Sprache,  heisere  Stimme, 
schwierige  Perception,  Abnahme  des  Gedächt- 
nisses, Schmerzhaftigkeit  und  zuweilen  Röthang 
und  Schwellung  des  Zahnfleisches,  fadenziehende 
Beschaffenheit  des  Mundschleimes,  Verstopfung 
der  Nasenlöcher  durch  dicken  Schleim  und  gelb- 
liche Krusten,  Zittern  der  Zunge  und  der  Hände 
bei  willkürlichen  Bewegungen,  wankenden  Gang 
und  Diarrhoe.  Auffallend  ist  es,  dass  sich  in 


Voisin,  Etude  historique  et  therapeutique  etc.  311 

diesem  Zustand  eine  Verminderung  der  Sensibi- 
lität der  Haut  nicht  findet.  Die  Behandlung  ist 
im  Wesentlichen  die  nämliche,  wird  aber  durch 
Störungen  im  Schlucken  sehr  erschwert.  Ge- 
nesung tritt  nach  mehrtägiger  Schlafsucht  und 
Stumpfsinnigkeit  in  den  meisten  Fällen  ein;  bei 
I Verschlimmerung  kommt  es  zu  Coma  von  massi- 
ger Intensität,  Fieber  und  Lungenkatarrh,  manch- 
mal mit  tödtlichem  Ausgange. 

Die  Symptome  der  cerebrospinalen  Form 
des  Bromismus  chronicus  bilden  allgemeine  Deli- 
rien  mit  Hallucinationen,  Verfolgungswahn  und 
Gewaltthätigkeitsausbrüchen , gleichzeitig  mit 
Storungen  der  Sprache  und  Ataxie  der  Ex- 
tremitäten und  der  Zunge.  Was  diese  letztere 
Form  anlangt,  so  bin  ich  freilich  der  Ansicht, 
dass  sie  schwerlich  als  chronische  Bromvergif- 
tung aufzufassen  ist,  sondern  dass  es  sich  um 
einen  vorübergehenden  maniakalischen  Anfall 
handelt,  wie  solche  ja  bei  Epileptikern  nicht 
gerade  selten  Vorkommen,  der  das  Bild  des  ge- 
wöhnlichen Bromismus  chronicus  complicirt.  In 
dieser  Anschauung  werden  wir  durch  den  von 
Voisin  mitgetheilten  Fall  geradezu  bestärkt. 

Mit  der  sogenannten  chronischen  Bromver- 
giftung und  der  Bromkachexie  ist  aber  die  Reihe 
der  Nebenerscheinungen  bei  Anwendung  grösse- 
\ rer  Dosen  des  Bromkaliums  noch  keineswegs 

! geschlossen,  Voisin  hat  ausserdem  keuch- 

hustenähnliche Hustenparoxysmen , namentlich 
bei  Frauen,  Kindern  und  Jünglingen  beobachtet, 
alle  zwei  Stunden  etwa  auftretend  und  beson- 
| ders  Abends  beim  Liegen  sich  manifestirend, 

| meist  auch  mit  Erbrechen  sich  verbindend, 

i Endlich'  ist  auch  noch  das  Bromexanthem  da, 

welches  nach  Voisin  sich  unter  4 verschiede- 
nen Formen  darstellt,  von  welchen  indess  die 


312  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  10. 


ekzematöse  und  einfach  erythematöse  selten  vor- 
zukommen scheinen,  während  am  häufigsten 
Akne,  die  sich  vorzugsweise  an  den  Schultern 
und  im  Gesicht,  hier  besonders  an  Nase,  Nasen- 
flügeln und  Stirn  sich  entwickelt,  offenbar  die 
häufigste  ist,  während  die  Akne  e bromio  kaum 
etwas  Characteristisches,  welches  sie  von  Akne 
simplex  unterscheidet,  hat,  es  'sei  denn  das  in  ein- 
zelnen Fällen  vorkommende  lange  Stehenbleiben 
der  Pusteln.  Dagegen  ist  die  vierte  Form  des 
Bromexanthems,  welche  namentlich  an  den  Wa- 
den, aber  auch  am  Vorderarm  vorkommt  ganz 
eigenartig.  Was  Voisin  als  im  Allgemeinen 
rothe,  aber  an  einzelnen  Stellen  gelblich  durch- 
scheinende Plaques  mit  warzigen  Protuberanzen 
am  Rande  und  im  Centrum  beschreibt,  ist  offen- 
bar derselbe  Ausschlag,  welchen  in  neuester 
Zeit  Isidor  Neumann  (Wien.  med.  Wochen- 
schrift 1873,  Nr.  6 und  49)  gesehen  und  anato- 
misch untersucht  hat.  Es  handelt  sich  auch 
hier,  wie  bei  der  Akne,  um  eine  entzündliche 
Affection  der  Drüsen,  in  denen  eine  Vermehrung 
der  zelligen  Elemente  und  theilweise  Eiterbil- 
dung stattfindet,  gefolgt  von  einer  Irritation  der 
Cutis  und  namentlich  einer  Wucherung  der  Pa- 
pillen. Man  sollte  unseres  Erachtens  diese  Tu- 
meurs,  wie  sie  Voisin  nennt,  als  das  eigent- 
liche Bromexanthem  bezeichnen,  das  freilich  sel- 
ten isolirt  auftritt,  sondern  meist  gleichzeitig  mit 
Akne  vorkommt,  wie  dies  Voisin  und  Neu- 
mann in  gleicher  Weise  hervorheben. 

Was  uns  Voisin  im  weiteren  Verlaufe  sei- 
ner Schrift  über  die  Heilwirkung  des  Brom- 
kaliums in  verschiedenen  Krankheiten  mittheilt, 
ist  zwar  zum  Theil  schon  aus  früheren  Publica- 
tionen  des  Verf.  bekannt,  immerhin  aber  beach- 
tungswerth  und  lesenswerth.  Seine  Theorie  der 


f 

Voisin,  fifcude  historique  et  thfirapeutique  etc.  313 

Wirkung  des  Mittels  ist  höchst  einfach ; es  unter- 
drückt einerseits  die  Reflexfunction  im  Rücken« 
mark  und  in  der  Medulla  oblongata  und  ande- 
i rerseits  bedingt  es  eine  Verengung  der  Capilla- 
ren  und  in  Folge  davon  Verminderung  des  Blut- 
mchthums  innerer  Organe.  Das  sind  die  bei- 
den Factoren,  aus  denen  Voisin  die  therapeu- 
| tischen  Effecte  des  Salzes  hervorgehen  lässt. 
Aus  der  erstgenannten  Wirkungsweise  leiten  sich 
die  Erfolge  bei  Epilepsie,  Chorea,  verschiedenen 
vom  Rückenmarke  abhängigen  peripherischen 
Nervenleiden  und  beim  Tetanus  ab.  Aus  der 
zweiten  die  günstigen  Effecte  bei  Hyperämien 
verschiedener  Organe,  z.  B.  der  Meningen,  wäh- 
! rend  es  bei  wirklicher  Meningitis  mit  plastischem 
Exsudate  nichts  leisten  soll,  ferner  bei  Sperma- 
torhoe  und  Leukorrhoe,  bei  welcher  letzteren 
Affection  nach  Voisin  schon  die  mehrmalige 
Darreichung  von  1 Gm.  Bromkalium  vollkommen 
curativ  wirken  soll,  wogegen  wir  allerdings  einen 
gelinden  Zweifel  auszusprechen  uns  unterfangen. 
Ueberraschend  sind  Vöisins  Erfolge  beim  Te- 
tanus traumaticu8,  wovon  er  drei  Fälle  wäh- 
rend der  Belagerung  von  Paris  in  der  Salpetriere 
durch  combinirte  Anwendung  grosser  Dosen  von 
Bromkalium  und  subcutaner  Morphininjectionen 
heilte,  nachdem  vorher  Chloral  ohne  Erfolg  an- 
gewendet war.  In  der  That  sind  vom  physio- 
logischen Standpunkte  aus  Bromkalium  und  Ca- 
labarbohne  die  einzigen  rationellen  Mittel  hei 
Steigerung  der  Reflexaction  des  Rückenmarks, 
nicht  aber  Chloral,  Nicotin,  Curare  und  was  die 
moderne  Therapeutik  sonst  noch  auf  den  Schild 
gehoben  hat. 

j Am  ausführlichsten  verweilt  Voisin  natür- 
lich bei  der  Behandlung  der  Epilepsie,  wo  er 
»ich  zu  dem  Ausspruche  berechtigt  hält.,  dass 


S14  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 


fast  ein  jeder  Fall  von  idiopathischer  Epilepsie 
durch  Bromkalium  heilbar  sei,  in  welchem  noch 
nicht  mehr  als  50  epileptische  Anfälle  vorge- 
kommen seien  und  dass  weder  die  Erblichkeit 
noch  eine  ausserordentlich  lange  Dauer  des  Lei- 
dens selbst  von  15  Jahren  und  darüber  die 
Möglichkeit  einer  Heilung  durch  Bromkalium 
aus8chlie8se.  Ohne  uns  auf  die  völlig  beweis- 
kräftige Statistik  V o i s i n s näher  einzulassen, 
die  in  Wirklichkeit  von  Heilungen  Kunde  giebt, 
welche  5 — 8 Jahre  lang  anhielten,  ohne  dass 
weder  ein  epileptischer  Anfall  noch  Schwindel 
oder  Aura  sich  zeigten,  wollen  wir  lieber  zum 
Schluss  uns  noch  gestatten,  auf  die  bestätigen- 
den Erfolge  hinzuweisen,  welche  in  hiesiger  Po- 
liklinik mit  dem  Bromkalium  bei  Epileptikern 
erhalten  sind.  Die  darüber  in  der  im  vorigen 
Jahre  erschienenen  hiesigen  Inaugural-Dissertation 
von  A.  Michaeli  8 veröffentlichten  Mittheilun- 
gen bestätigen  viele  von  Voi sin’s  Angaben 
vollkommen,  namentlich  die  ausserordentlich 
rasche  Heilung  in  einzelnen  Fällen  und  lassen 
die.  Bromkaliumtherapie  im  günstigsten  Lichte 
erscheinen,  wenn  man  sich  nicht  vor  grossen 
Dosen  und  hinreichend  langer  Gebrauchszeit 
scheut.  Theod.  Husemann. 


Der  schwäbische  Humanist  Jakob  Locher 
Philomusus  (1471 — 1528)  eine  cultur-  und  lite- 
rarhistorische Skizze.  Erster  Theil.  Von  Pro- 
fessor Dr.  Hehle.  Tübingen.  Fues  1873.  42 
SS.  in  4°. 

Jakob  Locher  gehörte  bisher  zu  den  wenigst 
bekannten  Humanisten  des  15.  und  16.  Jahr- 


Hehle,  D.  schw.  Human.  J.  Locher  Philomusus.  315 

hunderte.  Der  Grund  dieser  unverdienten  Ver- 
nachlässigung liegt  vielleicht  in  der  ungemeinen 
Seltenheit  der  Locherschen  Schriften;  vielleicht 
in  dem  Umstande,  dass  er  in  den  beiden  Bewe- 
gungen, welche  faßt  alle  geistig  begabten  Zeitge- 
nossen zu  aktiver  Betheiligung  aufriefen,  dem 
Reuchlinschen  Streit  und  der  Reformation,  durch- 
aus keine  nennenswerthe Rolle  spielte;  vielleicht 
aber  auch  in  einer  von  den  Zeitgenossen  ver- 
schuldeten, von  den  Späteren  zu  leicht  gebillig- 
ten Verdrängung  seines  Namens. 

Auf  Letzteres  hat  zuerst  Zarncke  in  der 
Einleitung  zu  Sebastian  Brants  Narrenschiff 
(Leipzig  1854)  hingewiesen,  indem  er  den  sonst 
wenig  bekannten  Streit  zwischen  Locher  und 
Wimpheling  als  ein  Vorspiel  des  Kampfes  zwi- 
schen Reuchlin  und  den  Dunkelmännern  hin- 
stellte und  L.  als  den  von  den  conservativ-or- 
thodoxen  oberrheinischen  Humanisten  verfolgten 
und  dadurch  einigermassen  der  Vergessenheit 
überlieferten  Vertreter  neuer  Ideen  pries;  wäh- 
rend Wiskowatoff,  der  Biograph  Wimphe- 
ling8  (Berlin  1867),  dem  ganzen  Streite  seine 
Wichtigkeit  und  dem  hochgepriesenen  Locher 
seinen  Ruhm  zu  nehmen  versuchte.  Es  wäre 
nun  von  höchstem  Interesse  gewesen,  wenn  der 
Verf.  einer  Specialschrift  über  Locher  über  die- 
sen Streit  das  entscheidende  Wort  gesprochen 
hätte.  Statt  dessen  zieht  es  der  Verf.  unsrer 
Schrift  vor,  streng  nach  den  Quellen  das  Leben 
Lochers  zu  erzählen  und  seine  schriftstelleri- 
schen Leistungen  zu  würdigen,  und  wird,  dem 
chronologischen  Gang  folgend,  erst  in  der  zwei- 
ten Abtheilung  seiner  Schrift  zur  Besprechung 
dieses  Streites  kommen. 

Während  so  durch  unsere  Schrift  die  Er- 
füllung des  Hauptwunsches,  den  Forscher  über 


316  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 


die  Humanistenzeit  in  Betreff  derselben  vielleicht 
gehegt  hatten,  nicht  gewährt  wird,  ist  die  Schrift 
in  alle  dem,  was  sie  gibt,  eine  lohenswerthe  Lei- 
stung. Freilich  ist  sie  durchaus  eine  Specialstudie ; 
sie  will  keine  umfassende  Biographie,  kein  gross- 
angelegtes  Zeitgemälde  sein  und  deshalb  dürfen 
an  sie  keinerlei  Ansprüche  gemacht  werden,  de- 
ren Befriedigung  von  jenen  verlangt  werden 
könnte.  Nur  das  erste  Capitel  scheint  einen 
Anlauf  dazu  zu  nehmen,  aber  diese  Bemerkun- 
gen reichen  doch  wol  nicht  aus  zur  Erkenntniss 
der  Zeit  und  genügen  nicht  zur  Würdigung  Lo- 
chers, setzen  überdies  heim  Leser  Kenntnisse 
voraus,  die  er  doch  erst  aus  der  Lektüre  der 
Schrift  erwerben  soll,  und  nehmen  sein  Urtheil 
im  Voraus  gefangen. 

Die  übrigen  neun  Capitel  zeigen  in  vortreff- 
licher Weise  die  gründliche  Vertrautheit  des 
Verfassers  mit  seinem  Gegenstände,  sein  ge- 
sundes unbestechliches  Urtheil  über  seinen  Hel- 
den, und  gewähren  werthvolle  Aufschlüsse  über 
bisher  wenig  bekannte  Thatsachen  und  Schriften. 

J[akob  Locher  (mit  dem  Beinamen  Philomu- 
sus,  den  er  erst  später  bei  seinem  Aufenthalt  in 
Italien  annahm)  wurde  Juli  1471  in  Ehingen 
geboren,  besuchte  die  Schule  in  Ulm,  dann  in 
noch  jugendlichem  Alter  die  Universität  Basel, 
wo  Sebastian  Brant  der  hauptsächliche  Leiter 
seiner  Studien  wird,  später  Freiburg,  Ingolstadt, 
wo  er,  Jahrelang  ohne  rechten  Führer,  1492  in 
Conrad  Celtis  ein  herrliches  Vorbild  seiner  eig- 
nen literarischen  Bestrebungen  erlangt,  und  lebt 
zum  Abschlüsse  seiner  Studien  mehrere  Jahre 
in  Italien,  dessen  Hauptstädte  er  theils  allein, 
theils  im  Gefolge  des  Markgrafen  Jakob  von 
Baden  betritt.  In  die  Heimath  gelangt,  folgt 
er  1495  einem  Rufe  nach  Freiburg,  wo  er  vom 


Heble,  D.  schw.  Homan.  J.  Locher Philomusns.  317 

Kaiser  Maximilian  I.  den  poetischen  Lorbeer  er- 
hält, 1497  nach  Ingolstadt  und  wirkt  an  beiden 
Orten,  die  selbst  seine  Lernstätten  gewesen,  in 
segensreichster  Weise.  Seine  Wirksamkeit  aber 
beschränkt  sich  nicht  auf  das  lebendige  Wort, 
sondern  zeigt  sich  ausserdem  in  einer  Anzahl 
grösserer  und  kleinerer  Schriften.  Von  diesen 
werden  von  unserm  Verf.  streng  nach  chronolo- 
gischer Ordnung  die  erotischen  Gedichte,  die 
Lobgesänge  auf  Kaiser  Maximilian,  dann  einzelne 
kirchliche  Hymnen  besprochen;  ferner  vier  Dramen, 
▼on  denen  das  eine,  Comödie,  das  Misslingen  des 
Znges  des  Königs  von  Frankreich  nach  Italien  ver- 
spottet, zwei  andere,  Tragödien,  die  deutschen 
Fürsten  zum  Türkenkriege  ermuntern  sollen,  die 
vierte  die  Fabel  vom  Apfel  des  Paris  behandelt 
(eine  fünfte,  ganz  kurze  und  unbedeutende  Nach- 
ahmung des  Plautus,  mag  unbeachtet  bleiben). 

Neben  den  eigenen  dichterischen  Werken 
werden  dann  die  lateinischen  Uebersetzungen 
z.  B.  die  des  Lehrgedichts  des  Pseudophokylides, 
namentlich  aber  die  des  Narrenschiffs  von  Se- 
bastian Brant  besprochen,  in  Betreff  deren  der 
Yerf.  trotz  der  vorzüglichen  Leistung  Zarncke’s 
selbstständig  zu  Werke  geht  und  manches  Neue 
über  Werth  und  Wesen  der  L’schen  Uebersetzung 
vorbringt,  die  Ausgaben  der  Glassiker,  besonders 
die  des  Horaz  — die  erste  in  Deutschland  — 
ausführlich  betrachtet,  kürzer  über  seine  ande- 
; ren  prosaischen  Schriften,  theils  humanistischen, 
j theils  patriotischen  oder  theologischen  Inhalts 
gehandelt,  andre  nicht  erhaltene  Schriften  L’s, 
wie  seine  Grammatik,  wenigstens  angedeutet. 

Gerade  die  hierher  gehörigen  Bemerkungen 
des  Yerf.,  die  den  Haupttheil  unsrer  Schrift 
ausmachen , sind  natürlich  das  Werthvollste 


318  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

an  derselben:  der  Inhalt  jedes  einzelnen  Wer* 
kes  wird  in  knapper,  aber  genauer  Fassung  an- 
gegeben, und  die  kritischen  mit  ruhiger  Ob- 
jektivität gegebenen  Urtheile  werden  gern  überall 
Zustimmung  finden. 

Es  würde  zu  weit  fuhren,  wenn  ich  Alles 
anführen  wollte,  worin  der  Verf.  Licht  über  un- 
bekannte Dinge  verbreitet  oder  frühere  An- 
nahmen verbessert;  ich  will  vielmehr  nur  einige 
Punkte  hervorheben,  bei  denen  die  Behauptun- 
gen des  Verf.  mir  einer  Ergänzung  oder  Be- 
richtigung bedürftig  erscheinen. 

S.  5.  Agrikola  und  Rudolf  von  Langen  sind 
wol  schwerlich  auf  Antrieb  des  Thomas  a Kempis 
nach  Italien  gegangen;  das.:  die  Bezeichnung: 
»feine  Hof-  und  Weltmänner«  für  Agrikola  und 
Reuchlin  passt  durchaus  nicht.  S.  10.  zum  drit- 
ten Mal  Agrikola.  A.  ist,  soweit  bekannt,  nie 
in  Basel  gewesen,  ebensowenig  Johann  Wesel; 
bei  letzterem  liegt  wol  eine  leicht  erklärliche 
Verwechselung  mit  dem  berühmteren  Johann 
Wessel  vor,  der  allerdings  A.’s  Lehrer,  aber 
nicht  in  Basel,  sondern  in  Paris  war.  Zu  S.  11 
hätte  bemerkt  werden  können,  dass  der  Zusatz 
bei  Locher’s  Namen  in  den  Annales  Ingoist.  von 
Mederer  z.  J.  1489:  notum  Musis  nomen  ent- 
weder vom  Herausgeber  herrührt,  oder  in  die 
Akten  später  eingetragen  ist,  denn  auf  den 
18jährigen  passt  er  nicht;  dass  Mederer  will- 
kürliche Zusätze  macht,  zeigt  S.  11  A.  8. 

S.  14  A.  19  liegt  ein  komischer  Irrthum  vor, 
der  allerdings  nicht  allein  Schuld  unseres  Verf., 
sondern  der  von  ihm  citirten  Gewährsmänner  j 
Günthner  und  Fabricius  zu  sein  scheint.  Hehle  j 
führt  nämlich  aus  diesem  das  Distichon : 

Tale  tuum,  Philomuse,  decus,  tua  barbita  fertur 
Bembus,  ut  audiret,  deposuisse  lyram.  < 


Hehle,  D.  schw.  Human.  J.  Löcher Philomusus.  319 

und  die  folgenden  Worte  an : Philomusum  Pisau- 
rensem  (Ehingensem)  nobilem  poetam  Beinbas 
suspexit,  autor  est  Iovius,  bezieht  sie  auf  Jakob 
Locher  and  schliesst  daraus,  »dass  der  berühmte 
Dichter  und  nachmalige  Cardinal  Petrus  Bern- 
bus,  der  vielleicht  zu  Padua  oder  in  seiner  Hei- 
mat Venedig  mit  Locher  bekannt  wurde,  den 
Dichtungen  desselben  Bewunderung  gezollt  habe«. 
Nun  ist  allerdings  bekannt  gewesen,  dass  Pisau- 
rum:  Pesaro,  nach  Grässe  (Orbis  latinus,  Dres- 
den 1S61  S.  158)  auch  Foglia  bedeute,  nicht 
aber,  dass  es  die  Latinisirung  von  Ehingen  sei, 
und  das  wird  wol  auch  schwerlich  erwiesen  wer- 
den können.  Daher  ist  mir  ganz  klar,  dass 
diese  Verse  sich  gar  nicht  auf  Locher  beziehen, 
der  sich  gewiss  einer  solchen  Bekanntschaft 
auch  wohl  einmal  gerühmt  haben  würde,  son- 
dern auf  Johannes  Franciscus  Philo- 
musus Pisaurensis,  der  1490  eine  Horazaus- 
gabe dem  Joh.  Sforza  widmet  (s.  Hain,  Reper- 
torium bibliographicum  III,  S.  90  Nr.  8887; 
die  Horazausgabe  Lochers  das.  S.  91  Nr.  8898). 
Damit  fällt  denn  auch  die  Annahme  einer  Be- 
kanntschaft zwischen  Locher  und  Bembus. 

Die  S.  17  ausgesprochene  Meinung,  dass  der 
Massstab  der  antiken  fabula  an  Reuchlins  Sce- 
nica  progymnasmata  nicht  angelegt  werden 
dürfe,  kann  ich  nicht  billigen.  Der  S.  31  er- 
wähnte Italiener  heisst  wohl  Nicolaus  Perottus. 
S.  33  A.  2:  »Da  ich  die  Briefsammlung  des 
Celtis  nirgends  aufzutreiben  vermochte« ; sie  be- 
findet sich  bekanntlich  handschriftlich  in 
der  k.  k.  Hofbibliothek  in  Wien.  Zu  S.  37 
batte  eine  eventuelle  Benutzung  des  griechischen 
Textes  an  Beispielen  erwiesen  werden  sollen; 
übrigens  passt  der  Vergleich  mit  Celtis,  der 
auch  nicht  viel  griechisch  verstanden  habe, 


320  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  10. 

nicht  ganz:  C.  unterrichtete  z.  B.  den  Trithe- 
mius  in  dieser  Sprache.  Zu  S.  39:  Die  Exi- 
stenz einer  sodalitas  Philomusea  als  eines  ge- 
schlossenen Kreises  neben  der  Donaugesellschaft 
ist  mir  trotz  der  Ausführungen  H’s  zweifelhaft; 
zu  den  nachweisbaren  Mitgliedern  der  späteren 
sodal.  liter.  Angilost.  gehört  L.  sicherlich  nicht 
(.Vgl.,  das  Verzeichniss  bei  Dittmar,  Aventiny 
S.  146).  Zu  S.  40:  Für  die  Feststellung  des 
Todesjahrs  der  Hedwig,  Gemahlin  Georgs  des 
Reichen  von  Baiern,  1502,  bedarf  es  woi  eines 
andern  Beweises,  als  einer  Combination  aus 
einem  Locher’schen  Gedicht;  Aventin  (Bairische 
Chronik  20.  Geschlechtstafel)  sagt:  Hedwig  auss 
Polen,  sein  Gemahel  + 1504. 

Bei  der  Schrift:  Rosarium  caelestis  curiae 
(S.  34)  ist  eine  Ausgabe  Nürnberg  1517  (Berl. 
Bibi.  Xc  6972)  nachzutragen. 

Die  Schrift  Hehles  ist  eine  hübsche  Berei- 
cherung unsrer  Literatur  über  Geschichte  des 
deutschen  Humanismus  und  es  ist  sehr  zu  wün- 
schen, dass  dem  Verfasser  bald  die  erforderliche 
Müsse  gegönnt  sei,  um  dem  wohlgelungenen  An- 
fang den  würdigen  Abschluss  folgen  zu  lassen« 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


321 


Gffttingische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stuck  11.  18.  März  1874. 


Unedirte  antike  Bildwerke,  beschrieben  und 
erklärt  von  Rudolph  Gaedechens.  Heft  I,  Jena 
1873  (0.  Deistung’s  Buchhandlung),  mit  4 Kupfer- 
tafeln und  22  S.  Text  in  Folio. 

Wir  begrüssen  mit  lebhafter  Freude  und 
Anerkennung  den  vorstehenden  Anfang  eines 
Werkes,  in  welchem  Professor  Gaedechens  inter- 
essante Griechische  und  Römische  Denkmäler, 
die  bisher  noch  nicht  durch  den  Stich  veröffent- 
licht oder  nur  ungenügend  abgebildet  waren, 
und  die  er  in  Zeichnungen,  Durchpausungen 
und  Original  - Photographien  während  seines 
Aufenthalts  in  Italien  und  Griechenland  in  den 
Jahren  1870 — 72  gesammelt  hat,  zu  publiciren 
unternimmt.  Das  ganze  Werk  ist  auf  sechs 
Hefte  mit  25  Tafeln  berechnet,  von  denen  das 
etwa  zu  Ostern  des  laufenden  Jahres  zu  er- 
wartende zweite  Sculpt uren  aus  dem  Mu- 
seum des  Peiraieus  (einen  Amazonenkopf, 
eine  Statue  des  Kaisers  Balbinus,  eine  archai- 
stische Mädchenstatue  und  drei  Grabreliefs),  das 
dritte  Stuccor eliefs  aus  den  vom  Vesuv 


21 


822  Gott*  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 


verschütteten  Städten  Gampaniens 
(ygl.  einstweilen  Gotting.  Nachrichten  1871,  S. 
370fg.),  das  vierte  Bildwerke  aus  Atheni- 
schen öffentlichen  und  privaten  Samm- 
lungen, das  fünfte  Pompejan ische  Fres- 
ken, das  sechste  Bronzen  und  Terraco tten 
enthält.  Möge  dem  aufopfernden  Streben  des 
Herausgebers,  dessen  Werk,  so  viel  wir  wissen, 
ohne  besondere  pecuniäre  Unterstützung  er- 
scheint, eine  Theilnahme  zugewandt  werden,  wie 
sie  wünschenswerth  ist,  damit  dasselbe  nicht  in 
Stocken  gerathe ! Es  ist  aber  einer  solchen 
Theilnahme  durchaus  ‘werth. 

Das  erste  Heft  bringt  auf  Taf.  I ein  auf 
Europa  bezügliches  Pompejan.  Wandgemälde, 
auf  den  folgenden  dreien  Bildwerke  dreifach 
verschiedener  Art , welche  der  Herausgeber 
sämmtlich  auf  Theophane  deutet  mit  Ausnahme 
des  letzten,  und  zwar  auf  Taf.  II  und  III  je  ein 
Pompejan.  Waldgemälde,  auf  Taf.  IV  ein  von 
dem  Herausgeber  aus  Athen  mitgebrachtes  Ter- 
racottarelief,  zwei  kleine  Bronzen,  zwei  Pasten 
und  einen  Cameo.  Die  Darstellung  auf  dem 
letzten,  ein  Weib  auf  einem  Bock,  der  durch 
das  Meer  schwimmt,  wird  von  dem  Verfasser 
nicht  nur  nicht  auf  Theophane  bezogen,  sondern 
auch  für  modern  erklärt.  Das  Erstere  ist  — 
wie  auch  schon  Andere  erkannt  haben  — ohne 
Zweifel  mit  Recht  geschehen.  Hinsichtlich  des 
Anderen  hat  Hr.  Gaedecbens  übersehen,  dass 
ein  Kenner  wie  Stephani  im  Compte  rendu  de 
la  commiss.  imp.  arch,  de  St.-Petersbourg  pour 
1869  p.  85  jenen  Cameo  als  »augenscheinlich 
antik«  bezeichnet  und  in  Anm.  5 eine  sehr 
ähnliche  Darstellung  auf  einem  anderen  »eben- 
falls wohl  antiken  Cameo « anführt.  Schade, 
dass  Hr.  Gaedechens  die  von  ihm  S.  21,  n.  14 


i 


Gaedechens , Unedirte  antike  Bildwerke.  323 

zuerst  signalisirte  Münze  von  Alos  nicht  hat  ab- 
bilden lassen  können,  weil  ein  ihm  von  Hrn. 
Possalacqua  (soll  heissen:  Postolaka)  vermittel- 
ter Staniolabdruck  auf  der  Reise  zu  undeutlich 
geworden  ist.  Auch  ich  habe  die  betreffende 
Münze  in  der  Sammlung  der  Universitätsbiblio- 
thek zu  Athen  kennen  gelernt  und  von  dem 
freundlichen  und  zu  jeder  wissenschaftlichen 
Unterstützung  bereiten  Conservator  derselben 
zwei  Abdrücke  erhalten.  Auch  mir  scheint  die 
von  dem  Widder  getragene  Figur  nach  Weiber- 
art zu  reiten.  Sämmtüche  Stiche  sind  genau 
und  wohlgelungen;  von  den  Wandgemälden  und 
den  (im  Neapolitan.  Mus.  aufbewahrten)  Bron- 
zen hat  der  tüchtige  disegnatore  di  Pompei  Ge- 
remia  Discanno  die  Zeichnungen  geliefert.  Der 
Text,  »Europa  und  Theophane«  überschrieben, 
zeichnet  sich  durch  Gründlichkeit  und  Belesen- 
heit, methodische  Forschung  und  warme  Em- 
pfänglichkeit für  Kunst  aus.  Das  Material  für 
die  Untersuchung  über  Theophanedarstellungen, 
welche  den  hauptsächlichsten  Vorwurf  der  Schrift 
büdet,  ist  so  vollständig  zusammengebracht, 
dass  auch  Ref.,  der  doch  seit  beiläufig  einem 
Menschenalter  den  Widderreiterinnen  auf  Bild- 
werken seine  besondere  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt hat,  nur  sehr  Weniges  nachzutragen 
wüsste,  wie  z.  B.  die  von  Ch.  Newton  A Guide 
to  the  Bronze  Room  (of  the  Brit.  Mus.)  London 
■ 1871,  p.  53  angeführte  Bronze  »Helle  on  a ram. 

Height  2s/s  in.  Chiusi«  und  die  (sehr  missliche) 
von  J.  de  Witte  in  der  Gaz.  des  Beaux- Arts 
1866,  XXI  p.  107  erwähnte  von  Fr.  Lenormant 
aus  Griechenland  mitgebrachte  Terracotta. 

An  die  Beziehung  bildlicher  Darstellungen 
eines  auf  dem  Widder  reitenden  Weibes  auf 
Theophane  haben  in  neueren  Zeiten  zuerst  ge- 

21* 


324  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  11. 

dacht  Panofka  in  der  Arch.  Ztg.  1845,  S.  37, 
und,  unabhängig  von  ihm,  derRef.  ebda.  1846, 
S.  212  fg.,  wo  S.  214  die  Deutung  des  von  Hm. 
Gaedechens  S.  19,  n.  10  behandelten  Vasenbil- 
des auf  Theophane  als  die  wahrscheinlichste 
bezeichnet  ist  (was  Hrn.  G.  entgangen  zu  sein 
scheint),  und  zwar  ohne  Kunde  des  Umstandes, 
dass  schon  Italinsky  diese  vermuthet  hatte.  Seit 
der  Zeit  ist  die  Kunde  einschlägiger  Denk- 
mäler bedeutend  gewachsen.  Unter  den  neu 
hinzugekommenen  befinden  sich  grade  diejeni- 
gen, welche  die  Frage,  ob  Theophane  überall 
dargestellt  sei  oder  nicht,  möglicherweise  zur 
Entscheidung  bringen  können.  Eines  derselben 
hat  zuerst  Welcker  signalisirt  und  dabei  sehr 
passend  für  die  Deutung  auf  Theophane  den 
Umstand  veranschlagt,  dass  es  sich  um  ein 
Gegenbild  zu  einer  Europadarstellung  handele, 
vgl.  jetzt  A.  Denkm.  IV,  S.  108  fg.  Herr  Gae- 
dechens hat  noch  mehrere  von  solchen  Bildern 
und  von  diesen  einige  genauer  zur  Kunde  ge- 
bracht und  dazu  auf  die  Stelle  Ovid's  Metam. 
VI,  103  fg.  als  eine  solche  aufmerksam  gemacht, 
aus  welcher  sowohl  hervorgehe,  dass  die  Sage 
von  der  Theophane  zu  des  Dichters  Zeit  genauer 
bekannt  war  und  öfters  bildlich  dargestellt 
wurde,  als  auch,  dass  Poseidon  sich,  um  die 
Theophane  zu  berücken,  in  einen  Widder  ver- 
wandelte, »dem  sich  die  Jungfrau,  wie  Europa 
dem  Zeusstier,  von  seiner  Schönheit  betrogen, 
anvertraute«.  Hr.  G.  glaubt  also,  dass  Ovid 
auf  die  Entführung  der  Theophane  durch  den  in 
einen  Widder  verwandelten  Poseidon  hindeute. 

. Aber  das  können  wir  ihm  nicht  zugeben.  Der 
Zusammenhang  führt  mit  Entschiedenheit  zu  der 
Annahme,  dass  Ovid  nur  daran  dachte,  Posei- 
don habe  in  Widdergestalt  der  Theophane  bei- 


I Gaedechens,  Unedirte  antike  Bildwerke.  325 

gewohnt,  so  dass  man  nicht  nöthig  hat  voraus- 
zusetzen,  er  kenne  eine  Version  der  Sage,  welche 
von  der  bei  den  anderen  betreffenden  Schrift- 
stellern vorkommenden  abweiche.  Indessen 
halten  wir  es  keineswegs  für  zu  grosse  Kühn- 
heit, anzunehmen,  dass  bildende  Künstler,  zu- 
nächst solche,  welche  die  Sage  von  der  Theo- 
phane  als  Pendant  zu  der  Sage  von  der  Europa 
darstellen  wollten,  jene  nach  Analogie  dieser 
auffassten.  So  wird  es  wesentlich  darauf  an- 
kommen, zu  untersuchen,  ob  die  betreffenden 
bildlichen  Darstellungen  nur  unter  der  Voraüs- 
setzung  der  Theophanesage  erklärt  werden 
können. 

Zu  den  in  Frage  kommenden  Pendants  von 
Wandgemälden  gehören  zwei  Bilder  aus  den 
Thermen  des  Titus  zu  Rom,  welche  nach  Zeich-  . 
nungen  von  Beilori  durch  Turnbull  A curious 
collection  of  ant.  paintings,  London  1744,  pi. 
11  und  13  publicirt  sind.  Die  Darstellung  der 
Europa  ist  in  neueren  Zeiten  wiederholt  als 
nicht  antik  betrachtet  worden,  frageweise  von 
0.  Jahn  »Europa«  S.  46,  Anm.  1,  mit  aller 
Entschiedenheit  von  Overbeck  Griech.  Kunst- 
mythol.  I,  1,  S.  590  fg.,  Anm.  175.  Gaedechens 
bemerkt  gegen  Jahn  — denn  Overbecks  hat  er 
sich  nicht  erinnert  — mit  Recht,  dass  die  Echt- 
heit doch  wohl  durch  die  genaue  Angabe  der 
i Provenienz  verbürgt  werde.  Der  Umstand,  dass 
Europa  nach  Männerweise  reitet,  hängt  sicher- 
lich damit  zusammen,  dass  sie  so  sicherer  sitzt, 
zumal  da  ihr  offenbar  besonders  daran  liegt 
nicht  vom  Wasser  benetzt  zu  werden.  Die 
Haltung  der  Beine  entspricht  durchaus  der  auf 
dem  eingewirkten  Bilde  der  Arachne  bei  Ovid 
Metam.  VI,  107  fg.,  auf  welchem  Europa  so 
dargestellt  sein  sollte,  dass  sie  tactum  vereri 


i) 

i 

> 


326  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

assilientis  aquae  timidasque  reducere  plantas 
schien,  wie  ich  mir  schon  vor  Jahren,  als  das 
Bild  bei  Turnbull  zuerst  meine  Aufmerksamkeit 
erregte,  notirt  habe.  Das  Bild  auf  TurnbulPs 
pl.  13,  welches  Hr.  Gaedechens  auf  Theophane 
bezieht,  stellt  eine  weibliche  Figur  dar,  die 
ruhig,  die  Hechte  in  den  Schooss  gelegt,  auf 
einem  galoppirenden  Widder  sitzt,  indem  sie 
auf  eine  Amphora,  die  auf  dem  Hintertheile  des 
Thieres  steht,  ihre  linke  Hand  legt.  Die  Am- 
phora bezieht  Hr.  G.  auf  eine  Version  der 
Sage,  nach  welcher  Theophane  etwa  beim  Ba- 
den oder  Wasserschöpfen  entführt  sein  sollte. 
Das  Zweite  scheint  in  der  That  sehr  plausibel. 
Man  könnte  annehmen,  dass  die  Wendung  etwa 
aus  der  Amymonesage  entlehnt  sei.  Doch  han- 
delt es  sich  immer  nur  um  eine  weiterer  Be- 
stätigung bedürftige  Vermuthung.  Wir  wollen 
ausdrücklich  bemerken,  dass  Beroe,  die  in 
Münztypen  von  Berytos  auch  beim  Wasser- 
schöpfen von  Poseidon  geraubt  vorkommt,  kei- 
nen neuen  Pendant  bietet,  da  dieselbe  mit  der 
Amymone  identificirt  wurde  (Nonnus  Dion.  XLI, 
453).  Beachtet  man  nur  den  von  Hm.  Gaede- 
chens selbst  bemerkten  Umstand,  dass  eins  von 
den  Bildern,  welches  bei  Erklärung  des  jetzt  in 
Rede  stehenden  ebensowohl  in  Betracht  gezogen 
werden  muss  als  das  mit  der  Darstellung  der 
Europa,  das  von  Turnbull  auf  pl.  12  mitge- 
theilte,  eine  auf  einem  Seepferde  sitzende  Ne- 
reide mit  einem  Krug  in  der  Rechten  zeigt,  und 
erwägt  man,  dass  das  Attribut  des  Wasserge- 
fasses  auch  sonst  bei  Nereiden  vorkommt  (0. 
Jahn  Ber.  d.  K.  S.  Ges.  d.  Wissensch.  1854, 
S.  181),  so  wird  man  sich  vielleicht  gedrungen 
fühlen,  hier  nicht  sowohl  eine  Nereide  voraus- 
zusetzen, da  es  schwerlich  erlaubt  ist,  derselben 
anstatt  eines  Seewidders  einen  Landwidder  als 


I 

‘ Gaedechens , Unedirte  antike  Bildwerke.  327 

Beitthier  zuzuschreiben,  als  eine  Gottheit,  die  so- 
wohl auf  dem  Lande  als  auch  in  dem  Wasser 
verkehrte,  wie  Aphrodite  Pontia,  wenn  es  auch 
I anderweitig  nachweisbar  ist,  dass  diese  zu  Widder 
über  das  Meer  hinreitend  gedacht  wurde,  woran, 
i nach  unserem  Dafürhalten,  nicht  gezweifelt  wer- 
| den  kann.  Mehr  wollen  wir  an  dieser  Stelle 
i über  den  betreffenden  Gegenstand  nicht  bemerken. 

; Viel  grössere  Wahrscheinlichkeit  hat  Theo- 
phane  auf  dem  Wandgemälde  in  der  Casa  di 
I Saliustio,  welches  Hr.  Gaedechens  auf  Taf.  II 
j in  Abbildung  bringt.  Ob  aber  die  bisher  für 
I Helle  gehaltene  Figur  eine  Gespielin  der  Theo- 
phane  darstellen  soll,  »welche  den  Raub  zu 
hindern  suchend,  kühn  sich  ihr  nach  ins  Meer 
gestürzt  hat,  von  zwei  in  seinem  Liebeswerk 
den  Gott  fordernden  Eroten  aber  zurückgehalten 
wird«,  wie  Hr.  G.  will,  das  bezweifeln  wir  sehr. 
Wir  wollen  nicht  sagen,  dass  die  Eroten  ihre 
Mühe  sparen  konnten,  da  das  Weib,  wäre  es 
eine  Sterbliche,  doch  nichts  ausrichten,  sondern 
bei  weiterem  Fortschreiten  unfehlbar  ertrinken 
würde.  Die  Hauptsache  ist,  dass  man  vom  Ufer 
nichts  sieht  und  deshalb  zunächst  auf  die  An- 
sicht geführt  wird,  die  Handlung  gehe  mitten 
im  Meere  vor  sich.  Dazu  kommt  eine  von  dem 
Herausgeber  wohl  angedeutete,  aber  gar  nicht 
weiter  erklärte  Eigentümlichkeit  in  der  Tracht 
; des  Weibes.  Sein  Kopf  »ist  mit  einer  gelben 
halbeiformigen  Mütze  bedeckt«.  Man  wird 
schwerlich  sagen  können,  dass  es  sich  um  eine 
Thrakisch-Makedonische  Nationaltracht  handele. 
Aber  auch  unter  den  weiblichen  Meergottheiten 
wird  man,  soweit  meine  Kunde  der  Bildwerke 
I reicht,  vergebens  nach  einer  mit  gleicher  Kopf- 
bedeckung versehenen  suchen.  Ich  schweige  von 
ähnlichen  Kopfbedeckungen  der  Aphrodite,  da 


328  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 


die  betreffenden  Bildwerke  diese  keinesweges  als 
Pontia  angehen.  Auch  liegt  es  zu  klar  zu 
Tage,  dass  Aphrodite  Pontia  nicht  gemeint  Bein 
könne.  Es  giebt  unter  den  Meeresgottheiten 
weiblichen  Geschlechts  nur  eine,  welcher  man 
die  Kopfbedeckung , wenn  sie  überall  bedeutsam 
sein  soll  — und  das  ist  doch  wohl  anzunehmen 
— zuschreiben  kann : Amphitrite,  den  weiblichen 
Poseidon,  die  Gemahlin  des  Meergottes,  dem 
grade  auf  Pompejanischen  Bildern  wiederholt  die 
Schiffermütze  gegeben  ist.  Man  vergleiche  zu- 
nächst den  geschnittenen  Stein  in  den  Denkm. 
f.  a.  Kunst  II,  57,  125,  auf  welchem  unter  den 
drei  Chariten  Aglaia  als  Gemahlin  des  Hephä- 
stos  durch  die  halbeiförmige  Mütze  dieses  Got- 
tes gekennzeichnet  ist.  Dann  die  bisher  nicht 
beachtete  Darstellung  der  Venus  auf  dem  Wie- 
ner Silbergefässe  in  dem  bekannten  Arneth’- 
schen  Werke,  Taf.  S VII,  n.  90,  welche  mit  der 
sogenannten  Phrygischen  Mütze  versehen  ist,  wie 
ich  meine  als  mater  Aeneadum,  genetrix  Aeneia. 
Auch  in  anderer  Hinsicht  passt  Amphitrite  bes- 
ser als  jede  andere  Meeresgöttin.  Ihre  Eifer- 
sucht auf  den  Gemahl  ist  auch  sonst  aus  spä- 
terer Sage  bekannt.  Aus  dem  Meere  auf- 
tauchend, wie  Wassergottheiten  mehrfach  bei 
Schriftstellern  und  auf  Bildwerken  Vorkommen, 
sei  es  zufällig,  sei  es,  weil  sie  von  dem  Atten- 
tat auch  aus  der  Ferne  her  Kunde  hatte 
(xXvsi  xai  jiQoöm&sv  c Sv  #srfg),  bemüht  sie 
sich  in  höchster  Betrübniss  die  Schmälerung 
ihrer  Rechte  zu  verhindern.  Trifft  diese  Deu- 
tung der  betreffenden  Figur  das  Richtige,  so 
steht  die  Beziehung  des  Bildes  auf  die  Theo- 
phanesage  wohl  so  gut  wie  sicher. 

Auch  für  das  auf  Taf;  IH  abbildlich  mitge- 
theilte Wandgemälde  dürfte,  soweit  sich  überall 


Gaedechens,  Unedirte  antike  Bildwerke.  329 

fiber  dasselbe  urtheilen  lässt,  keine  der  mögli- 
chen Erklärnngsweisen  so  gut  passen  wie  die 
ans  der  Theophanesage. 

Unter  den  Bildwerken  aus  anderen  Gattun- 
gen der  Kunstübung,  welche  Hr.  Gaedechens 
auf  diese  Sage  zurückgefiibrt  hat,  sind  aber 
einige,  die  sicher  nicht  die  Theophane  angehen. 

Wer  wird  nicht  annehmen  wollen,  dass  das 
anf  dem  Widder  sitzende  Weib  der  Münze  oder 
der  Münzen  von  Alos  Helle  sei,  zumal  wenn  er 
die  gewöhnliche  Ansicht  theilt,  dass  die  auf  dem 
Widder  sitzende  männliche  Figur  der  Münzen 
dieser  Stadt  Phrixos  ist,  wie  doch  Hr.  Gaede- 
chens thut?  Wie  wohl  diese  Deutung  zu  den 
Sagen  und  Religionsgebräuchen  der  Stadt  passe, 
hat  auch  0.  Jahn  Annali  d.  Inst.  arch.  T. 
XXXIX,  p.  89  bemerkt,  dabei  freilich  — um 
das  gelegentlich  hier  zu  erwähnen  — in  Betreff 
der  Stelle  Hygin.  astron.  I,  20 : »hunc  (arietem) 
antem  nonnulli  dixerunt  in  oppido  Orchomenio, 
qnod  est  in  Boeotia,  natum;  alii  dicunt  in  Sa- 
lonum  Thessaliae  finibus  procreatum«,  sich  ge- 
irrt, indem  er  behauptete,  die  letzten  Worte 
beziehen  sich  auf  Halos.  Dagegen  spricht  schon 
die  geographische  Lage  dieser  Stadt.  Ohne 
Zweifel  ist  an  die  später  Minya,  früher  Hal- 
monia,  Halmon  und  Salmon  genannte  Stadt  zu 
denken,  die  bekanntlich  im  äussersten  Norden 
Thessaliens  an  der  Makedonischen  Gränze  lag 
und  auch  in  anderer  Beziehung  durchaus  passt, 
vgl.  K.  0.  Müller  Orchom.  u.  d.  Min.  S.  244 
und  Bursian  Geogr.  von  Griechenland  I,  S.  51. 
Hygin  schrieb  entweder:  Salmone  in  Thes- 
saliae finibus,  oder:  in  Salmonio  (sc.  oppido) 
in  The8s.  fin. 

Ferner  streitet  Hr.  Gaedechens , wie  ich 
meine,  sehr  mit  Unrecht  hinsichtlich  des  Cypri- 


330  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

sehen  Münztypus  der  an  einem  Widder  über 
das  Meer  hinschwimmenden  Frau  zu  Gunsten 
der  Theophane  gegen  die  allgemein  angenom- 
mene Deutung  auf  Aphrodite.  Er  erinnerte  sich 
dabei,  wie  ich  sehe,  weder  der  schon  in  der 
Arch.  Ztg.  1862',  Taf.  CLXVI  herausgegebenen 
Bronzeplatte  noch  der  im  Bullett.  d.  Inst.  arch. 
1869,  p.  131  von  Helbig  erwähnten  Spiegel- 
kapsel, auf  welchen  beiden  jüngst  von  Stephani 
im  Compte  r.  p.  1869,  p.  87  fg.  besprochenen 
Monumenten  die  auf  dem  Widder  reitende 
Aphrodite  mit  Sicherheit  zu  erkennen  ist.  Frei- 
lich handelt  es  sich  hier  nicht  um  einen  Ritt 
durchs  Meer.  Aber  wer  wird  in  Abrede  stellen 
wollen,  dass,  wenn  der  Landwidder  als  heiliges 
Thier  der  Göttin  galt  und  sie  darauf  reitend 
gedacht  wurde,  derselbe  auch  der  Aphrodite 
Pontia  bei  ihrem  Schweifen  durchs  Meer  gege- 
ben werden  konnte  (ganz  abgesehen  von  den 
oben  erwähnten  Cameen  mit  der  Aphrodite 
Epitragia)  ? 

Weiter  kann  ich  mich  schwer  dazu  ent- 
schliessen,  anzunehmen , dass  die  Bronzestatuet- 
ten, welche  ein  auf  einem  kauernden  Widder 
bequem  lagerndes  Weib  darstellen,  die  Theo- 
phane im  Moment  vor  der  Meerfahrt  angehen, 
in  welchem  die  Geliebte  Poseidons,  »der  Europa 
gleich,  von  Zuneigung  zu  dem  schönen  Widder 
bewogen,  sich  auf  den  Rücken  desselben,  der 
sich  niedergelassen,  gelagert  hat«  (Gaedechens 
S.  19),  obgleich  es  auf  der  Iland  liegt,  dass 
diese  Auffassungsweise  ungleich  passender  ist, 
als  die  Annahme,  in  diesen  Fällen  »sei  Helle 
gebildet,  in  welchem  sie  das  Thier,  welches  sie 
retten  soll,  besteigt«  (Stephani  S.  111).  Die 
betreffenden  Bronzen  stellen,  meine  ich,  ent- 


Gaedechens,  Unedirte  antike  Bildwerke.  331 

weder  die  Jahreszeitengöttin  des  Frühlings  oder 
Aphrodite  dar. 

Ueberall  dürfte  von  den  beiden  Erklärungs- 
weisen des  auf  dem  Widder  reitenden  Weibes, 
welche  als  zunächst  zulässig  betrachtet  werden 
können,  der  auf  Helle  und  der  auf  Aphrodite, 
die  letztere  in  den  meisten  Fällen  den  Vorzug 
vor  der  ersteren  verdienen.  Diesen  Gedanken 
an  Aphrodite  sprach  ich  schon  vor  dem  Er- 
scheinen der  »Angebl.  Argonautenbilder«  von 
Flasch  in  dem  Text  zu  den  Denkm.  d.  a.  Kunst 
II,  n.  85, b aus.  Flasch  hat  grade  die  von  mir 
zur  Begründung  angeführten  Cyprischen  Münzen 
znr  Grundlage  seiner  Beziehung  aller  betreffen- 
den Bildwerke  auf  Aphrodite  gemacht.  An 
Helle  darf  meines  Erachtens  nur  da  gedacht 
werden,  wo,  bei  sonstiger  Zulässigkeit  dieser 
Beziehung,  die  Möglichkeit  der  Annahme  eines 
Pendants  zu  einer  Darstellung  des  Phrixos  vor- 
handen ist.  Man  vergleiche  die  bekannte  Roma- 
büste,  die  an  beiden  Seiten  des  Helmes  je  einen 
der  Zwillinge  unter  der  Wölfin  zeigt.  Dass  da- 
hin die  Münztypen  der  allein  auf  dem  Widder 
sitzenden  Helle  gehören,  ist  von  mir  schon  in 
der  Arch.  Ztg.  1845,  S.  213  angedeutet.  Ueber- 
all kann  ich  mich,  was  Helle  betrifft,  auf  die 
an  diesem  Orte  mitgetheilte  Auseinandersetzung 
noch  jetzt  beziehen.  Seitdem  ist  ein  Vasenbild 
bekannt  geworden,  welches  vielleicht  zeigt, 
dass  Phrixos  auch  bei  dem  Anfang  der  Farth 
allein  auf  dem  Widder  dargestellt  werden 
konnte  (Ann.  d.  Inst.  arch.  XXXIX,  tav.  d’agg. 
C,  vgl.  0.  Jahn  p.  91  fg.),  ohne  dass  dadurch 
die  Wahrscheinlichkeit  der  Annahme  einer  be- 
liebig allein  auf  dem  Widder  sitzenden  Helle 
vergrössert  würde*  Durch  die  Bekanntmachung 
eines  zweiten  Melischen  Reliefs  von  Seiten  Hrn. 


332  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

Gaedechens’  kann  die  Deutung  auch  des  schon 
früher  bekannten  auf  Helle  an  Wahrscheinlich- 
keit zu  gewinnen  scheinen , da  das  neu  bekannt 
gewordene  Wasser  unter  dem  Widder  andeutet 
und  »Darstellungen  des  Phrixos  auf  ähnlichen 
Melischen  Reliefs  Vorkommen,  so  dass  man  sich 
veranlasst  fühlen  könnte,  an  Pendants  zu  den- 
ken. Aber  wer  bürgt  dafür,  dass  die  allerdings 
gewöhnlich  angenommene  Erklärung  des  männli- 
chen Widderreiters  als  Phrixos  das  Richtige 
trifft?  Neben  diesem  kann  ja  auch  an  Hermes 
gedacht  werden,  vgl.  einstweilen  die  von  Jahn 
a.  a.  0.  p.  90  behandelten  Bildwerke.  In  die- 
sem Falle  wird  aber  die  Widderreiterin,  auch 
bei  Voraussetzung  der  gegenseitigen  Bezüglich- 
keit  der  beiden  Darstellungen,  die  erst  genauer 
nachzuweisen  sein  wird,  am  Wahrscheinlichsten 
auf  Aphrodite  bezogen  werden. 

Hienach  müssen  wir  wohl  unser  Endurtheü 
dahin  abgeben,  dass,  auch  wenn  das  Wandge- 
mälde in  der  Casa  di  Sallustio,  rücksichtlich 
dessen  wir  unsere  Auseinandersetzungen  gern 
weiterer  Prüfung  anheimstellen,  und  vielleicht 
auch  das  andere,  auf  Taf.  III  herausgegebene, 
auf  Theophane  zu  beziehen  ist,  es  doch  gerathen 
sein  dürfte,  diese  Deutungsweise  auf  die  Pom- 
pejanische  Wandmalerei  zu  beschränken,  da  in 
Betreff  der  anderen  von  Hrn.  Gaedechens  be- 
handelten Bildwerke  für  ein  paar  die,  Deutung 
auf  Helle,  für  die  Mehrzahl  aber  die  auf  Aphro- 
dite grössere  Wahrscheinlichkeit  hat. 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  uns  Hrn. 

* » 

Gaedechens’  Erklärung  S.  7 fg.  des  auf  den 
Wandgemälden  der  Städte  Campaniens-  wieder- 
holt vorkommenden , aber  bisher  räthselhaft  ge- 
bliebenen Geräthes.,  welches  Eros  auf  dem 
Europabilde  Taf.  I auf  seiner  linken  Schulter 


Gaedecbens , Unedirte  antike  Bildwerke.  333 

I ' 

tragt,  als  kurzes  Scepter,  entschieden  gelungen 
erscheint.  Allein  wir  können  nicht  glauben, 
dass  die  in  den  Pitt.  d’Ercolano  III,  p.  279  und 
an  der  Candelaberbasis  des  Vatican  bei  Gerhard 
Ant.  Bildw.  Taf.  LXXXIII  vorkommenden  Ar- 
temissymbole in  dieselbe  Kategorie  gehören.  Hr. 
6.  bemerkt  selbst,  dass  dieselben  dem  als  Agyi- 
| eus  erkannten  Typus  Thrakischer  und  Illyri- 
scher Münzen  gleichen.  Artemis  galt  aber  ja 
| auch  als  äyvtaTg  inioxonog  (Callimach.  Hymn. 
I in  Dian.  38). 

I Friedrich  Wieseler. 

i 

i 


Baron  Carl  Claus  von  der  Deekens  Reisen 
in  Ost- Afrika  in  den  Jahren  1859  — 1865. 
Herausgegeben  im  Aufträge  der  Mutter  des 
Reisenden,  Fürstin  Adelheid  von  Pless.  — Er- 
zählender Theil.  Mit  zahlreichen  Abbildungen, 
gezeichnet  von  C.  Heyn,  E.  Heyn,  G.  Sundblad 
und  Anderen  und  Karten  von  B.  Hassenstein. 
Zweiter  Band.  Leipzig  und  Heidelberg.  C.  F. 
Winter’sche  Verlagshandlung  1871, 
mit  dem  besonderen  Titel: 

Baron  Carl  Claus  von  der  Deekens  Reisen  in 
Ost-Afrika  in  den  Jahren  1862  bis  1865.  Nebst 
Darstellung  von  R.  Brenners  und  Th.  Kingel- 
bachs Reisen  zur  Feststellung  des  Schicksals 
der  Verschollenen,  1866—1867.  Bearbeitet  von 
Otto  Kersten,  früherem  Mitgliede  der  von  der 
Decken’schen  Expedition.  — Neue  Reisen  im 
Innern  und  an  der  Küste.  Die  ostafrikanische 
Inselwelt  (Madagaskar , Seschellen , Reunion, 
Nossibe  und  Komoren.  Reisen  in  den  Ländern 
der  Galla  und  Somali.  — Erläutert  durch  15 


334  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  11. 

Tafeln,  16  eingedruckte  Holzschnitte  und  8 
Karten.  Leipzig  und  Heidelberg.  C.  F.  Winter- 
sche  Verlagshandlung.  1871. 

Die  Geschichte  der  Entstehung  und  Redak- 
tion, der  Zweck  und  Umfang  des  Deckenschen 
Reisewerks,  so  wie  auch  der  I.  Band  des  »Er- 
zählenden Theils«  sind  in  einer  früheren  An- 
zeige dieses  Blattes  (1869,  Stück  50  S.  1987  ff.) 
kurz  besprochen  worden.  Der  1.  Band  endigte 
mit  der  Schilderung  eines  nicht  geglückten 
Unternehmens  zur  Besteigung  des  Berges  Kili- 
mandscharo, bei  dem  Decken  und  sein  Beglei- 
ter Thornton  damals  nur  eine  Höhe  von  8000 
Fuss  erreichten,  und  mit  der  Rückkehr  des  Rei- 
senden zu  seinem  Hauptquartier  Sansibar  am 
Ende  des  Jahres  1861. 

Der  vorliegende  II.  Band  enthält  die  Be- 
schreibung der  ferner  von  Sansibar  aus  unter- 
nommenen Reisen  Deekens  1)  an  der  Küste  und 
im  Innern  Ost-Afrikas,  2)  in  der  Ostafrikani- 
schen Inselwelt,  3)  im  Lande  der  Galla  und 
Somali  bis  zu  seinem  im  Jahre  1865  erfolgten 
Tode,  nebst  den  angehängten  Berichten  einiger 
anderer  Reisenden,  die  ausgegangen  waren,  um 
die  nähern  Umstände  von  Deekens  letzten 
Schicksalen  an  Ort  und  Stelle  festzustellen. 

Zunächst  im  Sommer  des  Jahres  1862 
wandte  sich  Decken  wieder  denselben  Gegenden 
Ost-Afrika’s  zu,  aus  denen  er  1861  in  Folge 
von  Krankheiten  und  andern  unangenehmen 
Verhältnissen  hatte  weichen  müssen.  Seine  Ab- 
sicht war,  abermals  über  den  Hafenplatz  Mom- 
bas  (etwas  nördlich  von  Sansibar)  ins  Innere 
einzudringen,  womöglich  den  grossen  Ukerewe- 
See  zu  erreichen  und  von  da  über  den  durch 


y.  d.  Deekens  Reisen  in  Ost-Afrika.  II.  Bel.  335 

den  deutschen  Missionar  Erapf  bekannt  gewor- 
denen hohen  Kenia-Berg  zurückzukehren. 

Aber  auch  dies  Mal  trat  ihm  ein  feindliches 
Geschick  entgegen.  Er  und  sein  Begleiter  Dr. 
Kersten  gelangten  westwärts  nur  bis  an  die 
Grenzen  des  wilden  Nomadenyolks  der  Masai, 
die  ihnen  die  Weiterreise  wehrten.  Um  nicht 
ohne  alle  Resultate  zurückzukehren,  entschloss 
Decken  sich  zu  einem  abermaligen  Besuche  und 
Besteigung  des  Kilimandscharo,  der  20  d.  Mei- 
len südwärts  vom  Kenia  sich  erhebt.  Die 
I Schneeregion  des  genannten  Berges  wurde  auch 
dies  Mal  nicht  erreicht.  Doch  kam  man  6000 
Fnss  höher  als  im  Jahre  1861  bis  zu  einer 
Höhe  von  14,043  Fuss.  Hier,  wo  sich  die  Rei- 
senden schon  oberhalb  der  Vegetationsgränze 
befanden,  konnten  sie  wenigstens  so  viel  deut- 
, lieh  erkennen  und  festsetzen,  dass  der  Rest  des 
, Berggipfels,  dessen  Höhe  sie  auf  18,800  Fuss 
bestimmten,  in  der  That  ganz  mit  Schnee  be- 
deckt sei,  was  zwar  schon  von  Anderen  behaup- 
tet, aber  von  englischen  Geographen  auch  wie- 
! der  bezweifelt  worden  war.  Die  Leiden  ihrer 
schwarzen  Diener  und  Begleiter  von  der  Kälte, 
der  dünnen  Luft  und  Mangel  an  Lebensmitteln 
waren  auf  der  angedeuteten  Höhe  sogross,  dass 
! sie  ihren  Plan,  die  Schneeregion  selbst  zu  be- 
i treten  aufgeben  mussten  (S.  51  ff.).  — Während 
! der  Kilimandscharo  und  seine  Nachbarberge 
von  den  friedfertigen  Dschaggas  und  anderen 
ihnen  ähnlichen  in  gewissem  Grade  fortgeschrit- 
tenen, industriösen  und  friedlichen  Völkern  be- 
wohnt werden,  streifen  in  den  weiten  gestreck- 
ten Ebenen,  aus  denen  jene  Gebirge  sich  er- 
heben, jene  äusserst  wilden  und  kriegerischen 
Masais,  die  weit  und  breit  die  Sicherheit  und 
den  Handelsverkehr  bedrohen  und  ihre  räube- 


/ 


336  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stüde  11. 

rischen  und  zerstörenden  Ausflüge  aus  dem  In- 
nern oft  bis  an  die  Küsten  und  die  Hafenstädte 
ausdehnen.  Diesen  Masai  ist  in  unserm  Buche 
ein  eigenes  Gapitel  gewidmet  (S.  22 — 37). 

Obgleich  die  Hauptzwecke  dieser  Expedition 
nicht  erreicht  wurden,  so  hat  sie  doch  vielfach 
unsere  geographischen  Kenntnisse  der  besuchten 
Gegenden  vermehrt  und  berichtigt.  Das  Kili- 
mandscharo-Gebirge und  seine  Nachbarschaft 
wurde  noch  nie  zuvor  von  so  tüchtigen  Beob- 
achtern und  mit  so  zahlreichen  wissenschaftli- 
chen Instrumenten  untersucht.  »Die  Gegend 
gehört  jetzt  zu  den  am  besten  astronomisch 
und  geodätisch  festgesetzten  Ost- Afrikas«.  Ba- 
ron Decken  erhielt  daher  auch  für  diese  Unter- 
nehmung die  goldene  Medaille  der  geögraphi- 
schen  Gesellschaft  von  London.  Mit  Recht  mag 
man  aber  wohl  mehrere  Beobachtungen  anderer 
Art,  die  unsere  Reisenden  auf  diesen  Ausflügen 
machten  und  über  die  sie  nur  gelegentlich  ein 
Wort  fallen  lassen,  eben  so  hoch,  wo  nicht 
höher  anschlagen,  als  jene  geographischen  Re- 
sultate. Mehrfach  fand  der  Berichterstatter  (Dr. 
Kersten)  Veranlassung,  die  guten  moralischen 
Eigenschaften  der  oft  sehr  verschrieenen  Einge- 
bornen  zu  loben.  »Immer  mehr«,  sagt  er,  »er- 
kenne ich  mit  wahrem  Vergnügen,  dass  auch 
die  Dunkelfarbigen  Afrikas,  so  wenig  Manche 
dies  zugeben  wollen,  den  meisten  guten  Re- 
gungen des  Herzens  zugänglich  sind«.  Auf  dem 
Wege  zum  Kilimandscharo  fand  er  auch  einen 
Volksstamm  von  nicht  geringer  technischer  oder 
industrieller  Begabung,  bei  dem  das  Schmiede- 
handwerk bedeutend  entwickelt  war,  und  bei 
dem  dien  Eisenschmiede  mit  den  rohesten  Hülfs- 
mitteln  ganz  bewundernswürdige  Kunstprodukte 
zu  Stande  brachten. 


d.  Deekens  Eeisen  in  Ost- Afrika.  IT.  Bd. 


337 


Auch  die  Schönheit  des  Menschenschlags  bei 
manchen  dieser  ostafrikanischen  Völker  ist  sehr 
bemerkenswerth'  So  zeichnen  sich  die  Mädchen 
und  Frauen  der  Dschaggas,  der  Umwohner  des 
Kilimandscharo,  »durch  vortheilhafte  Körperbil- 
dung, Ebenmas8  des  Wuchses,  anmuthige  und 
= stolze  Haltung  der  Art  aus,  dass  es  ein  wahrer 
Kunstgenuss  ist,  ihre  glänzendbraunen  Gestalten, 
ihren  leichten  schwebenden  Gang  zu  betrachten. 
£in  Dschagga- Mädchen,  in  einer  ihrer  anmuthi- 
| gen  Stellungen  modellirt,  würde  in  den  Museen 
| Europas  sicherlich  die  Bewunderung  aller  Ken- 
| ner  auf  sich  ziehen«  (S.  42). 

Am  Ende  1862  kam  Decken  mit  Kersten 
von  dieser  seiner  zweiten  Kilimandscharo-Reise 
wieder  mach  Sansibar  zurück.  Da  seine  Märsche 
zu  Fuss  ins  Innere  von  Afrika  zwei  Mal  auf 
dieselbe  Weise  vereitelt  waren,  so  dachte  er  nun 
darauf,  eine  fernere  Expedition  anders  zu  or- 
ganisiren.  Er  beschloss,  die  Küstenflüssä  Ost- 
Afrikas  zu  erforschen,  auf  einem  derselben  mit 

j 7 

einem  wohl  armirten  Dampfer  so  weit  als  mög- 
lich vorzudringen,  und  dann  erst  vom  äussersten 
| Punkte  der  Schifffahrt  aus  die  weiteren  Fuss- 
märsche  ins  Innere  zu  beginnen.  Er  beorderte 
! daher  in  Europa  den  Bau  eines  geeigneten  Fluss- 
dampfers. Die  Zeit  bis  zur  Ausführung  dieses 
Auftrags  und  bis  zur  Ankunft  des  bestellten 
s Dampfers  wurden  von  ihm  und  Dr.  Kersten  mit 
einigen  Zwischen-  und  Erholungsreisen  übers 
Meer  zu  den  afrikanischen  Inseln,  den  Seschellen, 
den  Maskarenen,  den  Komoren  und  Madagaskar 
ausgefüllt.  — Zum  Besuche  dieser  Inseln  wur- 
den verschiedene  Reisegelegenheiten  benutzt: 
englische  Regierungsschiffe,  die  zwischen  den 
verschiedenen  Inseln  Aufträge  zu  besorgen  hat- 
ten, auch  englische  und  französische  Postdampfer, 


22 


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338  Gott.  gel.  An z.  1874.  Stuck  11. 

die  auf  ihren  Reisen  zwischen  Indien,  Aden, 
Sansibar  etc.  in  den  Häfen  dieser  Inseln  vor- 
sprechen, und  endlich  auch  arabische  Handels- 
schiffe, die  von  dem  ostafrikanischen  Handels- 
centrum Sansibar  aus  ihre  Unternehmungen  bis 
zu  den  Komoren  und  Madagaskar  ausdehnen. 

Madagaskar  und  die  Seschellen  wurden  nur 
flüchtig  besucht,  eben  so  auch  die  Insel  Mauri- 
tius (oder  Isle  de  France),  die  »Heimath  von 
Paul  und  Virginie«,  obwohl  wir  in  unserem 
Buche  en  passant  auch  über  sie  manche  will- 
kommene Belehrung  erhalten. 

Desto  länger  und  ergiebiger  war  der  Auf- 
enthalt auf  der  reizenden  französischen  Insel 
Bourbon  (oder  »Reunion«)  vom  Mai  bis  August 
1863.  Und  so  wie  diese  Insel  die  Perle  aller 
französischen  Colonien  in  der  Tropenwelt  ist, 
so  ist  ihre  umständliche  Schilderung  (von  Seite 
125  bis  197) 'das  hübscheste  Gapitel  in  unseren 
Buche.  — Baron  Decken  und  sein  Begleiter 
Dr.  Kersten  umfuhren  und  durchwanderten  die 
Insel  in  allen  Richtungen,  besuchten  ihr  vulka- 
nisches Innere,  bestiegen  ihre  höchsten  Berge, 
beobachteten  ihren  schönen  Anbau  und  kamen 
mit  allen  Classen  ihrer  liebenswürdigen  Bewoh- 
ner in  so  vielfache  Berührung,.,  dass  ihr  er- 
schöpfender Bericht  über  dieses  nicht  ganz  40 
Quadratmeilen  grosse  Land  mit  nicht  ganz 
200,000  Einwohnern  jedenfalls  eine  äusserst  be- 
friedigende und  interessante  Lektüre  gewährt. 
— Nach  diesem  Berichte  scheint  es,  dass  die 
in  ihrem  Mutterlande  jetzt  so  wenig  gut  geord- 
neten Franzosen  dort  in  jenem  Tochterlande 
das  Muster  eines  kleinen  blühenden  Staatswesens 
geschaffen  haben.  Man  ist  in  der  That  erstaunt 
über  alle  die  heilbringenden  Einrichtungen  und 
Institute,  welche  den  uns  vorliegenden  Berichten 


r 

i 

y.  d.  Deekens  Reisen  in  Ost-Afrika.  II.  Bd.  339 

zufolge  die  französischen  Golonisten  auf  jener 
entlegenen  einsam  im  grossen  Ocean  schwimmen- 
den Insel  gestiftet  haben. 

Rings  um  das  Eirund  yon  Reunion  herum 
ist  eine  vortreffliche  Küstenchaussee  ausge- 
fnhrt,  mit  der  weiter  binnenwärts  ein  zweiter 
Bahnkreis  parallel  läuft  (erste  und  zweite 
»Route  de  Ceinture«).  Auch  ist  das  gebirgige 
Innere  überall  von  vortrefflichen  Wegen  für 
Fuhrwerk  und  Reiter  durchzogen«  »Seit  man 
die  Nothwendigkeit  guter  Verkehrswege  er- 
kannte, hat  man  die  für  die  kleine  Insel  gewiss 
ungeheure  Summe  von  mehr  als  25  Millionen 
Franken  auf  Strassen-  und  Brückenbau  verwen- 
det, ohne  das  Land  mit  Schulden  zu  belasten 
und  ohne  die  Hülfe  der  Regierung  in  Anspruch 
zu  nehmen«  (S.  146). 

Die  ganze  Insel  ist  bis  i p das  Innerste  ihrer 
Bergthäler  und  vulkanischen  Schluchten  gut  an- 
gebaut und  mit  Zucker-  und  Kaffeeplantagen 
und  anderen  Anpflanzungen  versehen,  und  der 
Bodenbau  macht  noch  immer  Fortschritte.  Auch 
hat  man  prächtige  Heilquellen  in  den  vulkani- 
schen Thälern  entdeckt,  deren  Bade-  und  Trink- 
Anstalten  sich  jährlich  bessern  und  deren  Ruf 
bei  dem  trefflichen  Klima  der  Insel  sich  schon 
so  verbreitet  hat,  dass  gewiss  bald  Genesung 
Suchende  aus  entlegenen  Regionen,  namentlich 
auch  aus  Indien  herbeiströmen  werden  (S.  168). 

Die  zahlreichen  kleinen  Küstenstädte  sind 
freundlich  gebaut,  mit  guten  Hafenanstalten, 
Hotels  etc.  versehen.  Die  Hauptstadt  St.  Denis 
bietet  so  viele  Ressourcen  dar,  wie  sie  sich 
selbst  in  kleineren  Residenzen  und  Mittelstädten 
in  Europa  kaum  finden,  eine  Bank,  einen  Bazar, 
ein  Theater,  einen  botanischen  Garten,  Kam- 
mern für  Ackerbau  und  Handel,  ein  vortreff- 

22* 


340  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

liches  Museum  mit  ansehnlichen  naturhistori- 
schen Sammlungen,  Ausstellungen,  Bibliotheken, 
wissenschaftliche  Gesellschaften , in  denen  fast 
jeder  Zweig  der  Naturwissenschaften  seine  be- 
deutenden Vertreter  (Kreolen,  Eingebome  der 
Insel)  bat.  Einer  derselben,  der  Ingenieur  Mail- 
lard,  hat  »diese  reichste  und  schönste  aller 
französischen  Colonien«  in  einem  ausführlichen 
Werke  meisterhaft  geschildert. 

Auch  für  den  Unterricht  der  Jugend  sorgt 
man  in  Reunion  auf  vorzügliche  Weise,  und  in 
diesem  Punkte  kann  manche  Behörde  einer 
europäischen  Stadt  und  Landschaft  an  dem,  was 
auf  dieser  Insel  geschieht,  sich  ein  Beispiel  nehmen 
(S.  131).  — In  der  Hauptstadt  bestehen  mehrere 
höhere  Lehranstalten,  ein  Lyceum,  ein  Kolleg 
der  Jesuiten  mit  ausgezeichneten  Hülfsmitteln 
und  Sammlungen  aller  Art  ausgestattet,  eine 
Ackerbau-  und  Gewerbschule  mit  Eisengiesserei 
und  anderen  Werkstätten  für  die  Schüler,  und 
im  ganzen  Lande  sind  zahlreiche  Volksschulen 
vorhanden,  in  denen  unentgeltlicher  Unterricht 
ertheilt  wird.  »Weit  mehr  noch  wurden  wir 
durch  die  Wohlthätigkeitsanstalten  gefesselt,  die 
Hospitäler,  Waisen-  und  Rettungshäuser,  in  de- 
nen .wir  die  Aufopferung  und  Hingebung  der 
katholischen  Gesellschaften  in  ihrer  ganzen 
Grösse  kennen  lernten«  (S.  133).  Namentlich 
preist  der  Verf.  »die  viel  geschmähten  Jesuiten, 
denen  entgegen  zu  treten  in  Europa  gerathen 
sein  mag,  die  aber  in  den  Kolonien  und  Län- 
dern der  Barbaren  sich  als  Culturbringer  und 
Missionäre  ersten  Ranges  erweisen«. 

Leider  ist  es  mir  hier  nicht  möglich,  den 
Reisenden  zu  allen  den  Thälern  und  hohen  Vul- 
kanen, die  sie  erklommen  und  in  ihrem  Berichte 


v.  d.  Deekens  Beisen  in  Ost* Afrika.  XI.  Bd.  341 

% 

so  gut  beschreiben,  zn  folgen.  Aber  in  Summa 
ist  dieser  Bericht  wohl  die  eingehendste  und 
lehrreichste  Beschreibung  dieser  interessanten 
Insel  und  Colonie,  welche  unsere  deutsche 
geographische  Literatur  darbietet. 

Einen  grossen  Contrast  zu  dieser  hübschen 
Episode  von  Reunion  bildet  der  Besuch,  den 
Dr.  Kersten  der  Insel  Nossibe  und  dem  Archi- 
pel der  Comoro-Inseln  zwischen  Madagaskar 
und  Afrika  abstattete,  und  wo  er  sich  von  In- 
sel zu  Insel,  von  einem  kleinen  einheimischen 
Insel-Despoten  (Sultan)  zum  andern  auf  kleinen 
arabischen  Fahrzeugen  und  mit  unzuverlässigen 
arabischen  Schiffscapitänen  hindurcharbeitete, 
wo  ihm  aber  doch  die  Empfehlungen  des  weit- 
hin respectirten  Sultans  von  Sansibar  und  die 
Creditive  des  grossen  und  berühmten  Sansibar- 
Handelshauses  O’swald  und  Co.  stets  hülfreich 
zur  Seite  waren.  Die  Abenteuer  und  Zu* 
stände,  die  er  schildert,  sind  besonders  deswe- 
gen so  interessant,  weil  es  wahrscheinlich  in 
das  höchste  Alterthum  hinaufreichende  Verhält- 
nisse sind.  Er  durchpilgerte  und  erforschte 
auch  das  Innere  der  meisten  dieser  von  Deut- 
schen so  selten  besuchten  Eilande  und  unter- 
suchte namentlich  auch  ihre  vielen  Vulkane, 
weil  die  Eenntnissnahme  von  allen  ostafrikani- 
schen Feuerbergen  ein  Hauptzweck  seiner  Reise 
war.  Er  fand  bei  seinen  Ausflügen  zu  diesen 
Gegenden  unsere  kartographischen  Bilder  der- 
[ selben,  die  grösstentheils  auf  englischen  Auf- 

I nahmen  beruhen,  vielfach  unzuverlässig  undem- 
pfielt  der  jungen  deutschen  Kriegsmarine  eine 
Berichtigung  dieser  Karten  anzustreben.  »Da 
wir  Deutschen«,  sagt  er  (S.  248),  »in  entlegenen 
Meeren  und  Ländern  bisher  fast  nur  die  Karten 
\ anderer  Nationen  benutzt  haben,  so  wäre  es 


342  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

wohl  Zeit,  dass  auch  wir  in  dieser  Hinsicht  et- 
was für  das  allgemeine  Beste  thäten,  um  so 
mehr,  da  unser  Handel  jetzt  in  Ost- Afrika  so 
stark  vertreten  ist.  Sicherlich  können  Kriegs- 
schiffe, abgesehen  von  ihrer  Aufgabe,  den  Han- 
del zu  schützen,  im  Frieden  nichts  Besseres 
thun,  als  Karten  viel  besuchter  Küsten  aufzu- 
nehmen und  die  Gefahren  zu  erforschen,  welche 
den  Kauffahrteischiffen  durch  mangelhafte  Kennt- 
niss  des  Fahrwassers  drohen«. 

Nach  den  verschiedenen  Fahrten  zum  Kili- 
mandscharo, zu  den  kleinen  ostafrikanischen  In- 
seln und  Madagaskar  (in  den  Jahren  1861 — 63) 
ging  Decken  nach  Europa,  um  den  Bau  seines 
Flussdampfers  zu  betreiben  und  sich  neue  Hülfs- 
mittel  und  noch  einige  Beißegefährten  und  Mit- 
arbeiter zu  verschaffen.  Mit  diesen  kehrte  er 
Ende  1864  nach  Sansibar  zurück,  wo  der  Ex- 
plorationsdampfer, zu  Ehren  des  Königs  von 
Hannover  (Deekens  Landesfürsten)  »Welf«  ge- 
nannt, zusammengesetzt  wurde.  Mit  ihm  fingen 
unsere  Beisenden  nun  ihre  speciellen  Unter- 
suchungen der  Küsten  im  Norden  von  Sansibar, 
der  Länder  der  Galla  und  der  Somali  und  meh- 
rerer ihrer  kleinen  Flüsse  und  Inselgruppen  an. 
Zuerst  wurden  die  Formosa-Bai  und  die  Flüsse 
Osi  und  Dana  und  der  in  der  Nähe  ihrer  Mün- 
dungen liegende  von  alten  Zeiten  her  im  ara- 
bischen Handel  berühmte  Archipel  der  Witu- 
Inseln  untersucht  und  beschrieben. 

Dann  kam  weiter  nordwärts  der  Juba-Fluss 
im  Lande  der  Somali,  der  grossen  langgestreck- 
ten nordöstlichen  Halbinsel  Afrikas,  an  die  Beihe. 
Aber  an  diesem  unheilvollen  Flusse  sollten  die 
ganze  Unternehmung  und  ihre  Leiter  plötzlich 
ein  tragisches  Ende  finden.  Die  Somali,  wie 
es  scheint,  ein  Mischlingsvolk  von  Negern  und 


y.  d.  Deekens  Reisen  in  Ost-Afrika.  II.  Bd.  343 

Arabern  oder  doch  ein  Typus,  der  zwischen 
beiden  in  der  Mitte  steht,  sind  grösstentheils 
Nomaden  und  sind  bei  den  Europäern  als  krie- 
gerisch, räuberisch  und  von  unbändigem  Cha- 
rakter in  bösem  Rufe.  Schon  am  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  begingen  sie  Mord  und 
andere  Unthaten  an  der  Mannschaft  englischer 
Schiffe.  In  den  fünfziger  Jahren  dieses  Jahr- 
hunderts wurden  die  Nilquellen-Entdecker  Speke 
und  seine  Begleiter  bei  ihnen  überfallen  und 
ansgeplündert,  wobei  Speke  selbst  nur  mit  ge- 
nauer Noth  aus  eilf  Wunden  blutend  entkam. 
»Nichtsdestoweniger«,  sagt  Dr.  Eersten,  >giebt 
es  unter  den  Somalis  zwar  wie  überall  Schelme, 
doch  auch  viele  äusserst  höfliche,  feingesittete, 
gutmüthige,  ja  gebildete  und  gelehrte  Leute« 
(8.  321). 

Noch  schlimmer  als  dem  Engländer  Speke 
erging  es  bei  den  Somali  oder  vielmehr  bei 
einer  Schelmenbande  von  Somali  unsern  deut- 
schen Reisenden.  Sie  brachten  zwar  die  Auf- 
fahrt und  Erforschung  des  Juba-Flusses  in  ih- 
rem kleinen  Dampfer  Welf  innerhalb  18  Tage- 
reisen glücklich  zu  Stande  aufwärts  bis  zu  ge- 
wissen Stromschnellen , welche  einige  Meilen 
nordwärts  von  einer  kleinen  Ortschaft,  Namens 
Bardera  (unter  2°  30'  N,B.),  der  Schifffahrt  ein 
Ziel  setzen.  Bei  einem  Versuche,  diese  Strom- 
schnellen zu  überwinden,  blieb  der  kleine  Dam- 
pfer Welf  Anfangs  October  1865  auf  den  Fel- 
sen sitzen  und  wurde  der  Art  beschädigt,  dass 
man  alle  Waaren,  Gerätschaften,  Instrumente, 
Waffen  ans  Ufer  schaffen  musste.  Weil  sie  bis- 
her ohne  Anfeindung  durchgekommen  waren,  wur- 
den unsere  Reisenden  auch  bei  dieser  Gelegen- 
heit nicht  ängstlich,  liessen  ihre  Waaren  und 
ihre  neben  diesen  aufgeschlagenen  Zelte  ohne 


344  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stüek  11. 

Verschanzung  und  Befestigung  und  Baron  Decken 
ging  sogar  mit  seinem  Begleiter  Dr.  Link  nach 
Bardera  zurück,  um  sich  dort  neue  Hülfs-  und 
Lebensmittel  zu  verschaffen.  Aber  jene  am  Ufer 
ausgepackten  Schätze  der  Europäer  waren  für 
die  in  der  Nachbarschaft  hausenden  Kablallah, 
einen  Somali-Stamm,  eine  zu  grosse  Verlockung. 
Sie  fielen  plötzlich  über  die  kleine  beim  Wrack 
des  Schiffes  und  seiner  Ladung  Wache  haltende 
Mannschaft  der  Deutschen  und  ihrer  sehwarzen 
Diener  her,  um  sie  zu  plündern.  Die  ersteren 
vertheidigten  sich  tapfer,  tödteten  einige  der 
zahlreichen  Plünderer  und*  schlugen  den  Rest 
freilich  nicht  ohne  den  Verlust  einiger  der  Ihri- 
gen in  die  Flucht,  ergriffen  aber  in  der  berech- 
tigten Erwartung,  dass  die  Somalis  mit  noch 
grösseren  Haufen  zurückkehren  würden,  auch 
selbst  die  Flucht  und  eilten  in  einem  übrig  ge- 
bliebenen Boote  den  Fluss  Juba  zur  Küste 
hinab.  Die  Räuber  und  Mörder,  die  durch  den 
Tod  der  Ihrigen  nun  auch  zur  Blutrache  aufge- 
regt waren,  kehrten  allerdings  zurück,  nahmen 
Alles,  was  die  Europäer  zurückgelassen  hatten, 
zu  sich,  und  wandten  sich  dann  wutschnaubend 
nach  dem  benachbarten  Bardera,  wo  sie  den 
Rest  der  Deutschen,  den  Baron  Decken  und 
seinen  Freund  Dr.  Link,  trafen  und  ebenfalls 
ums  Leben  brachten,  indem  sie  ihre  Leichname 
in  den  Fluss  warfen. 

Da  bei  der  Eile,  mit  welcher  die  überleben- 
den Begleiter  Deekens  den  Fluss  Juba  hinab 
bei  Bardera  vorbei  und  dann  nach  Sansibar 
hatten  flüchten  müssen,  noch  viele  Punkte  über 
das  letzte  Schicksal  des  Reisenden  zweifelhaft 
blieben,  — Manche  stellten  sogar  die  Vermu- 
tung auf,  dass  Decken  und  sein  Begleiter  Dr. 
Link  noch  lebten  und  vielleicht  nur  in  Sklaverei 


y.  d.  Deekens  Reisen  in  Ost-Afrika.  II.  Bd.  345 

abgeführt  seien,  — so  unternahmen  im  Aufträge 
der  Decken’schen  Familie  zwei  mit  dem  Orient 
und  Afrika  vertraute  Deutsche,  die  Herren  Ein- 
zelbach und  Brenner,  ersterer  ein  früherer  Be- 
gleiter Heuglins  und  dieser  ein  Gefährte 
Deekens  auf  seinen  letzten  Reisen,  im  Jahre 
1866  eine  Forschreise  zur  völligen  Aufklärung 
des  Endschicksals  der  deutschen  Expedition. 
Beide  besuchten  von  Sansibar  aus  die  Mündungs- 
gegenden des  Juba-Flusses,  verhörten  mehrfach 
die  dortigen  Häuptlinge  und  mehrere  mit 
Decken  in  Berührung  gekommene  Eingeborne. 
Keiner  von  beiden  aber  erreichte  den  Schauplatz 
des  Trauerspiels,  Bardera  am  oberen  Juba. 
Kinzelbach  erkrankte  an  der  Küste  und  wurde 
ebenfalls  ein  mit  Recht  beklagtes  Opfer  seines 
Forscheifers.  Brenner  unternahm  von  Sansibar 
aus  mehrere  Ausflüge  zu  den  Küstenflüssen 
Dana  und  Osi  im  Süden  des  Juba,  erreichte 
aber  auch  die  obere  Partie  dieses  Flusses  nicht 
gleich  wieder.  Man  hätte  in  das  durch  den 
Raubmord  Decken’s  in  grosse  Aufregung  ver- 
setzte Somali-Land,  das  nun  die  Rache  der 
Europäer  fürchtete,  nur  mit  Hülfe  eines  Kriegs- 
zuges eindringen  können.  — Wir  erhalten  in 
unserm  Buche  detaillirte  Berichte  über  alle  die 
von  Kinzelbach  und  Brenner  hervorgelockten 
Aussagen  der  Eingebornen,  zum  Theil  Augen- 
zeugen der  Ermordung  (S.  346 — 367),  und  wenn 
auch  manche  Incidenzpunkte  derselben  dadurch 
noch  nicht  ganz  sicher  gemacht  wurden,  so 
leuchtet  doch  so  viel  mit  Bestimmtheit  ein,  dass 
die  oben  gegebene  kurze  Schilderung  der  Vor- 
gänge in  der  Hauptsache  richtig  ist. 

Mit  dem  Tode  des  Anführers  Decken,  der  in 
so  vieler  Beziehung,  — durch  seinen  männli- 


346  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  11. 

chen  Charakter,  seine  Erfahrung,  seine  bedeu- 
tenden und  gros8müthig  gespendeten  Geldmittel 
etc.  — die  Seele  des  ganzen  so  grossartig  an- 
gelegten Unternehmens  war,  erreichte  dieses 
sein  Ende.  Doch  sind  die  Handelsexpeditionen, 
die  sein  Gefährte  Richard  Brenner  im  Jahre 
1870  im  Aufträge  mehrerer  Schweizer  Häuser 
zum  Galla- Lande  im  Süden  desJuba  unternahm 
und  über  die  bereits  in  andern  Schriften  be- 
richtet ist,  als  eine  weitere  Folge  des  Decken- 
Schen  Unternehmens  anzusehen. 

Eben  so  wie  der  erste  Theil  des  Werkes  ist 
auch  wieder  der  vorliegende  zweite  von  einer 
Reihe  ganz  vortrefflich  und  sauber  ausgefuhrter 
General-  und  Specialkarten  begleitet,  die  wie 
die  früheren  gleichfalls  von  der  bewährten  Hand 
des  Herrn  Bruno  Hassenstein  auf  Grund  des 
werthvollen  vom  Baron  Decken  und  seinen  Mit- 
arbeitern gesammelten  Materials  ausgeführt  sind. 
Sie  geben  uns  ein  kartographisches  Bild  vom 
Kilimandscharo  und  Nachbarschaft,  eine  sehr 
schöne  und  detaillirte  Darstellung  der  Insel 
Reunion,  ferner  Aufnahmen  der  kleinen  Inseln 
Nossibe,  Angasija,  Moali  und  anderer  Komoren, 
verschiedene  Punkte,  Flussläufe  und  Abschnitte 
der  Ostküste  Afrikas  und  endlich  eine  General- 
karte des  mittleren  Ost- Afrika  vom  Somali- 
Lande  bis  Madagaskar  und  landeinwärts  bis  zu 
dem  Quellengebiet  des  Nil,  die  zugleich  eine 
Uebersichtskarte  aller  von  Decken  und  seinen 
Begleitern  unternommenen  Ausflüge  und  verfolg- 
ten Reiserouten  ist.  — Ich  brauche  es  kaum 
zu  erwähnen,  dass  auch  die  dem  Bande  einge- 
fugten  Tafeln  und  Holzschnitte,  welche  land- 
schaftliche Scenen,  afrikanische  Thiere  und  Por- 
traits von  Eingebomen,  so  wie  der  unglückli- 


San  Marte,  Wilhelm  von  Orange.  347 

i chen  Reisenden  darstellen,  schön  ausgeftihrt  and 
I werthvoll  Bind. 

Bremen.  Dr.  J.  6.  Kohl. 


i 


I Wilhelm  von  Orange.  Heldengedicht 
I von  Wolfram  von  Eschenbach.  Zum  ersten  Male 
ans  dem  Mittelhochdeutschen  übersetzt  von  San 
Marte.  (A.  Schulz.)  Halle,  Verlag  der  Buch- 
! handlung  des  Waisenhauses.  1873.  — 398 
SS.  gr.  8. 

Herr  San  Marte'  der  früher  den  Artus-  und 
Galgedichten  sein  hauptsächlich  auf  Inhalt 
; und  Composition  gerichtetes  Interesse  zugewandt 
hatte,  unternahm  vor  wenigen  Jahren  das  Ver- 
hältniss  von  Wolframs  Willehalm  zu  den  alt- 
franz.  Gedichten  gleichen  Inhalts  zu  erörtern*), 
Mid  an  diese  mehr  für  gelehrte  Kreise  be- 
stimmte Arbeit  schliesst  sich  eine  Uebersetzung 
des  Wolframschen  Werkes  nun  in  der  Weise 
an,  dass  durch  eine  kurze  Einleitung,  einige  er- 
läuternde Anmerkungen  und  namentlich  durch 
die  üeberführung  in  die  heutige  Schriftsprache 
dem  gebildeten  Publicum  das  Verständniss  die- 
ses in  mancher  Hinsicht  bedeutenden  Gedichts 
erleichtert  wird.  Bei  der  Uebersetzung  ist  — 
. und  dies  völlig  mit  Recht  in  diesem  Falle  — 

I . 

*)  Vgl.  San  Marte : Ueber  Wolframs  von  Eschenbach 
Rittergedicht  Wühelm  von  Orange  (Qaedl.  1871),  und 
darüber  Germ.  XVII,  248.  — Ueber  das  Verhältniss  von 
Ulrichs  von  dem  Türlin  Einleitungswerke  (zu  Wolframs 
Willehalm)  zu  den  franz.  Quellen  hat  neuerdings  H.  Su- 
chier  eine  eingehende  Untersuchung  geliefert  (Ueber 
die  Quelle  Ulrichs  u.  s.  w.  Paderborn,  Schöningh.  1873.). 


348  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  11. 


mehr  auf  Treue  gegen  das  Original  als  auf  die 
Eleganz  der  Form  Rücksicht  genommen.  Ge- 
rade Uebersetzungen  aus  dem  Altdeutschen  in 
das  neuere  Deutsch  sind,  wenn  sie  getreu  sein 
wollen,  nicht  allzuleicht,  und  unbillig  wäre  es, 
hier  jene  Reinheit  des  Reims,  wie  sie  damals 
im  dreizehnten  Jahrhundert  herrschend  war  und 
seit  Platen  und  Rückert  mit  Recht  auch  yon 
den  Neueren  wieder  erstrebt  wird,  oder  gar 
eine  durchgängige  schwungvolle  Behandlung  des 
Styk  erwarten  zu  wollen.  Genug,  wenn  ein 
Buch  wie  das  vorliegende  dem  Publicum  ein 
correctes  Verständniss  eines  bis  dahin  wol  mehr 
genannten  als  gekannten,  und  auch  von  Fach- 
männern kaum  nach  Gebühr  gewürdigten,  poe- 
tischen Meisterwerks,  das  dem  Parziväl  Wolframs 
keineswegs  so  unbedingt  nachsteht,  wie  bisher 
wol  gemeint  wurde*),  in  .lesbarer  Form  ermög- 
licht, wobei  einzelne  Härten  oder  bedenkliche 
Formen  nicht  sehr  in  Betracht  kommen.  Auch 
scheint  uns  die  Uebersetzung  im  weiteren  Ver- 
lauf noch  etwas  fliessender  und  gewandter  ge- 
worden zu  sein;  zu  Anfang  sind  Wendungen, 
wie  1,  28: 

Du  bist  Christ,  so  bin  ich  christen  — 
dem  Gebildeten  unverständlich**),  dem  Fach- 
Gelehrten  aber  peinlich,  und  wer  kann  (3,  8): 

Landgraf  Hermann  von  Thüringen  machte  / 
ohne  Anstoss***)  als  Vers  lesen?  — Die  An- 

*)  Zu  den  im  Vorbericht  S.  IV.  berührten  Puncten 
kommt  noch  die  einfachere  und  darum  ansprechendere 
Stylgattung,  die  im  Willehalm  herrscht,  vgl.  Zeitschr.  für 
deutsche  Philol.  V,  33,  34  fg. 

**)  Die  alte  Sprache  unterscheidet  Krist  = Christus, 
kristen  = Christianus. 

***)  „Von  Thüringen  Landgraf  Hermann  machte“  Hesse 
sich  schon  eher  hören. 


Schellenberg,  Ueb.  d.  Einführung  d.  Civilehe.  349 

merkungen  hätten  hier  und  da  ohne  Mähe 
mehr  geben  können:  dass  Agley  (247,  1)  = 
Aquileja  ist,  weiss  wol  nicht  Jeder. 

E.  Wilken. 


Schellenberg,  Dr.,  E.  0.,  Dekan:  Ueber 
die  Einführung  der  Civilehe.  Vortrag  gehalten 
auf  dem  siebenten  deutschen  Protestantentage 
zu  Leipzig.  Leipzig,  1873,  Verlag  von  Joh. 
Ambr.  Barth. 

Der  Gegenstand,  den  diese  Gelegenheitsrede 
behandelt,  ist  eine  Frage,  die  in  dem  gegenwär- 
tigen Augenblicke  eine  unmittelbar  practische 
Bedeutung  gewonnen  hat  und  von  der  man,  je 
mehr  nun  eben  dies  der  Fall  ist,  um  so  mehr 
auch  wünschen  muss,  dass  diejenigen,  die  darüber 
öffentlich  reden,  sich  auch  den  unbefangenen 
Blick  für  diese  noch  immer  so  viel  umstrittene 
Frage  bewahrt  haben  und  die  verschiedenen 
Momente,  auf  die  es  dabei  ankommt  und  um 
die  die  Parteien  sich  streiten,  in  ihrer  richtigen 
Bedeutung  zu  würdigen  wissen.  Denn  so  ver- 
halt es  sich  auch  hier,  wie  bei  den  das  practi- 
sche Leben  überhaupt  betreffenden  Fragen,  dass 
die  volle  Wahrheit  in  der  Regel  nicht  bloss  auf  • 
einer  Seite  ist,  dass  im  Gegentheil  die  sich  ent- 
gegenstehenden Parteien  eine  jede  für  sich  ein- 
zelne Momente  betonen,  die  denn  freilich  nicht 
ausser  Acht  zu  lassen,  aber  auch  nicht  einseitig 
und  isolirt  zur  Geltung  zu  bringen  sind,  und 
der  Fehler  ist  da  so  oft  der,  dass  eben  dies 
letztere  geschieht  und  dass  die  Parteien,  von 


S50  Gott.  gel.  Am.  1874.  Stück  11. 


ihren  einseitigen  Interessen  geleitet,  die  richtige 
Stellung  der  von  ihnen  geltend  gemachten  Mo- 
mente nicht  zu  finden  wissen.  So  wird,  um  gleich 
bei  der  vorliegenden  Frage  zu  bleiben,  von  den 
Einen  leicht  die  bürgerliche,  von  den  Andern 
die  religiöse  Seite  der  Ehe  mit  grosser  Ein- 
seitigkeit geltend  gemacht,  und  was  daher  vor 
allen  Dingen  nothwendig  ist,  wenn  das  Wort, 
das  Jemand  über  den  Gegenstand  redet,  ein 
Wort  zum  Frieden  sein  soll,  das  ist  hier,  dass 
der  Redende  beiden  Seiten  gerecht  zu  werden 
weiss  und  es  versteht,  das  Eine  wie  das  Andre 
an  seinen  richtigen  Ort  zu  stellen. 

Aber  eben  das  darf  nun  auch  von  dem 
Verf.  gesagt  werden.  Zunächst  verkennt  er, 
jeden  einseitig  kirchlichen  Standpunkt  ver- 
schmähend, keineswegs  die  Berechtigung  des 
Staates,  die  Eheschliessung  seinerseits  in  die 
Hand  zu  nehmen  und  durch  seine  Beamten 
eine  vor  seinem  Forum  durchaus  gütige  Ehe 
schliessen  zu  lassen,  und  zwar  so,  dass  er  auch 
der  Kirche  die  Pflicht  zuerkennt,  dies  Recht  des 
Staates  anzuerkennen  und  eine  vor  dem  Forum 
desselben  geschlossene  Ehe  als  eine  völlig  legi- 
time gelten  zu  lassen.  Die  Einführung  der 
»Civilehe«  erkennt  er  nicht  bloss  als  durch  die 
augenblicklichen  Verhältnisse  geboten,  er  er- 
kennt sie  auch  als  principiell  gerechtfertigt  an 
und  weist  namentlich  auf  guten  geschichtlichen 
Grundlagen  nach,  dass  die  bürgerliche  Ehe- 
schliessung keineswegs  etwas  Neues  und  bisher 
Unerhörtes,  dass  sie  vielmehr  das  Altherge- 
brachte und  eigentlich  erst  seit  dem  Tridenti- 
num  Alterirte  ist  und  dass  auch  die  Ehe- 
schliessung vor  dem  Geistlichen  doch  in  der 
That  nur  im  Namen  und  Aufträge  des  Staates, 
wenigstens  was  die  Knüpfung  des  Bandes  selbst 


Schellenberg,  Ueb.  d.  Einführung  d.  Civilehe.  35 1 

nnd  dessen  bürgerliche  Bedeutung  angeht,  bis 
diesen  Tag  geschehen  ist.  Doch  wie  sehr  nun 
auch  der  Verf.  der  Einführung  der  Civilehe 
und  zwar  der  obligatorischen  das  Wort  redet, 
so  verkennt  er  auf  der  anderen  Seite  auch  nicht 
die  hohe  Wichtigkeit,  wie  der  sittlichen,  so 
auch  der  religiösen  Seite  der  Ehe,  und  hier 
nun  ist  es,  wo  er  der  Kirche  auch  ihre  be- 
rechtigte Stellung,  d.  h.  ihre  Verpflichtung  vin- 
dicirt,  wie  einesteils  für  das  rechte  christliche 
Verständniss  der  Ehe  zu  wirken,  so  anderen- 
teils bei  ihren  Gliedern  darauf  hinzuwirken, 
dass  sie  die  Ehe  nicht  anders  schliessen,  als 
mit  dem  Segen  der  Kirche,  der  aber  willig  ge- 
währt werden  soll  und  nicht  zu  willkürlichen 
Eingriffen  in  die  persönliche  Freiheit  der  Ehe- 
gatten missbraucht  werden  darf.  Mit  grossem 
Emst  hebt  der  Verf.  hier  Recht  und  Pflicht  der 
Kirche  hervor,  und  was  er  auch  in  dieser  Be- 
ziehung beibringt,  trifft  so  durchaus  den  Kern 
der  Sache,  dass  man  nur  wünschen  kann,  es 
möge  von  den  verschiedenen  Parteien  beachtet 
werden,  sowohl  von  der  »kirchlichen«,  die  doch 
einsehen  dürfte,  dass  durch  die  bürgerliche  Ehe- 
schliessung der  Kirche  ihre  berechtigte  Wirk- 
samkeit nicht  verkümmert  werden  wird,  als 
auch  von  Seiten  der  »Politiker«,  die  erkennen 
mögen,  wie  sehr  wünschenswerth  es  ist,  dass 
das  eheliche  Leben  im  religiösen  Grunde  wur- 
zeln bleibe  und  dass  die  Kirche  das  rechte 
Maass  für  ihre  Wirksamkeit  finde. 

Ueberhaupt  dürfte  dieser  Vortrag  geeignet 
sein,  Verständigung  wenigstens  bei  Allen,  die 
derselben  überhaupt  noch  fähig  sind,  zu  schaf- 
fen und  namentlich  auch  in  einem  grösseren 
Leserkreise  die  mancherlei  Vorurtheile  zu  zer- 
streuen, welche  da  in  der  einen  oder  anderen 


352  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  11. 

Weise  gegenüber  der  behandelten  Frage  noch 
herrschen.  Für  die  Wissenschaft  dagegen  ist 
noch  von  besonderem  Interesse,  was  der  Verf. 
über  Erfahrungen  aus  solchen  Kirchengebieten 
beibringt,  in  welchen  die  Civilehe  bereits  einge- 
führt ist,  namentlich  aus  seiner  eigenen  baden’- 
schen  Heimath.  Durch  die  hier  mitgetbeilten 
Daten,  wie  sie  auf  den  Berichten  von  Mitglie- 
dern der  verschiedensten  Parteien  beruhen,  dürf- 
ten die  Vorurtheile  gegen  eine  Einrichtung,  die 
unerlässlich  geworden  zu  sein  scheint,  vollends 
zerstreut  werden.  Durcbgehends  lauten  die  Be- 
richte aus  dem  Baden’schen  über  die  Folgen, 
welche  die  Einführung  der  Civilehe  dort  gehabt 
habe,  günstig.  »Anfänglich«,  heisst  es  da, 
»nahm  unser  Volk  die  neue  Einrichtung  mit 
Befremden  und  Misstrauen  auf,  es  war  dies  aber 
vorübergehend : die  christliche  Sitte  bricht  je 
länger  je  mehr  durch,  und  der  sittlich  religiöse 
Begriff  der  Ehe  steht  im  Volke  so  fest,  dass  er 
durch  die  Civilehe  nicht  alterirt  worden  ist«. 
Wir  lesen  da,  wie  Geistliche,  die  Anfangs  Be- 
denken gehabt  und  wenigstens  die  obligatorische 
Civilehe  nicht  haben  billigen  mögen,  bekennen, 
»durch  die  Erfahrung«  zu  der  letzteren  »be- 
kehrt« worden  zu  sein,  wie  sie  es  »entschieden 
verneinen«,  dass  »das  Ansehen  und  die  Würde 
der  Kirche  durch  die  neue  Einrichtung  geschä- 
digt, leichtsinnige  Eheschliessung,  Ehebruch  und 
Ehescheidung  befördert  worden  sei,  wie  sie  es 
anerkennen,  dass  die  Kirche  sogar  durch  die 
Einführung  der  Civilehe  »gewonnen«  habe. 

F.  Brandes. 


353 


l 


Cottiiigische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  12.  25.  März  1874. 


A Grammar  of  the  Hindustani  or  Urdu  Lan- 
guage by  John  T.  Platts.  London,  Wm.  H. 
Allen  & Co.,  Waterloo  Place.  1874.  X und 
399,  octavo. 

Je  mehr  das  Hindustani  oder  das  soge- 
nannte Urdu*)  (die  Lagersprache),  sich  in  In- 
dien verbreitet  und  nicht  nnr  in  den  Regierungs- 
bureaux  und  in  den  Gerichtshöfen,  sondern  auch 
in  den  Schulen  als  medium  des  öffentlichen 
Unterrichts  gebraucht  wird,  desto  mehr  ist  auch 
diese  Misch-Sprache  Gegenstand  der  Unter- 
suchung nicht  nur  unter  indischen , sondern 
auch  unter  europäischen,  besonders  englischen 
Gelehrten  geworden. 

Das  Urdü  ist  eine  verhältnissmässig  junge 
I Sprache.  Sie  hat  sich  erst,  im  Gegensatz  gegen 
das  Hindi  (oder  richtiger  Hindu!)  durch  die 

*)  Der  frühere  Name,  mit  dem  das  Urdü  ebenfalls 
bezeichnet  wurde,  rejftah  (zerstreut),  wird  jetzt 

leiten  oder  fast  gar  nicht  mehr  gebraucht. 

23 


L 


354  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 


bleibenden  Eroberungen  der  Muhammedaner  in 

Indien  gebildet  und  ist,  wie  ihr  Name  (o C) 
urdu  zabän)  besagt , im  Lager  der  Eroberer 
entstanden. 

Abgesehen  von  den  Eroberungen,  welche  die 
Araber  schon  im  Jahre  A.  D.  711  unter  Qäsim 
in  Sindh  machten,  war  es  zuerst  Mahmüd  (997 
— 1186),  welcher  von  Ghazni  in  Afghanistan  aus 
nicht  nur  Indien  wiederholt  angnff  und  ausi- 
plünderte,  sondern  dort  auch  bleibend  festen 
Fuss  fasste.  Nachdem  die  Dynastie  der  Ghazni- 
viden  durch  das  (afghanische)  Haus  Ghör  ge- 
stürzt worden  war  (A.  D.  1186),  eroberte  Sahäb 
ud-din  Indien  und  brachte  fast  das  ganze  eigent- 
liche Hindustan  (mit  Ausnahme  von  Mälva)  un- 
ter * seine  Botmässigkeit.  Nach  seinem  Tode 
(A.  D:  1206)  herrschten  die  sogenannten  (Tür- 
kischen) Sclaven-Könige  in  Indien  (1206— 1288), 
die  wieder  durch  das  afghanische  Haus  Ghilzi 
(1288 — 1321)  verdrängt  wurden.  Das  Haus 
Töghlak,  das  nach  der  Vertilgung  der  Dynastie 
der  Ghilzis  ans  Kuder  kam  (1321 — 1421),  kann 
schon  als  eine  halb  indische  Familie  betrachtet 
werden,  da  Töghlak  der  Sohn  eines  türkischen 
Sclaven  von  einer  indischen  Mutter  war.  Mit 
dem  Hause  Lödi  kam  die  Herrschaft  in  Hin- 
dustan wieder  an  die  Afghanen  (1450),  bis  die- 
selbe nach  dem  Siege  Bäbars  über  den  letzten 
König  Ibrahim  dauernd  auf  das  Haus  Timür 
übergieng  (1526). 

Alle  diese  fremden  Eroberer  brachten  mit 
ihren  Heeren  ein  Gemisch  von  allerlei  Nationa- 
litäten und  Sprachen  nach  Indien.  Die  Heer- 
führer und . obersten  Beamten  waren  meistens 
Türken,  die  Soldaten  und  der  Tross  Türken, 
Perser  und  Afghanen.  Durch  den  Verkehr  die? 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  355 

ser  bunt  durch  einander  gewürfelten  Heere  mit 
der  sesshaften  Hindu-Bevölkerung  entstand  nach 
und  nach  die  Lagersprache,  die,  wenn  auch 
anfänglich  nur  ein  in  engen  Grenzen  verständ- 
liches Patois,  nach  und  nach  festere  und  be- 
stimmtere Formen  annahm  und  durch  die  sich 
immer  mehr  ausbreitende  Herrschaft  des  Islam 
einen  festen  Boden  auch  im  Volke  gewann,  bis 
sie  endlich  unter  Akbar  (1556—1586)  zur  Hof- 
Sprache  erhoben  wurde. 

Merkwürdig  bleibt  dabei,  dass  von  den  ver- 
schiedenen Sprachen,  die  in  den  Lagern  der 
Eroberer  gesprochen  wurden,  eigentlich  nur  das 
Persische,  als  die  gebildetste  Sprache,  einen 
bleibenden  Einfluss  auf  die  neue  Sprachentwick- 
lung ausgeübt  hat;  das  Türkische  ist  nur  noch 
durch  wenige  Worte  vertreten  und  das  Afgha- 
nische ist  spurlos  1 verschwunden,  obschon  die 
Afghanen  so  lange  Indien  beherrscht  haben  und 
unmittelbare  Nachbarn  der  Inder  bis  auf  den 
heutigen  Tag  geblieben  sind. 

Im  übrigen  sehen  wir  in  Indien  dieselben 
Gesetze  walten,  wie  bei  der  Verschmelzung  des 
Normannisch-Französischen  mit  dem  Sächsischen 
auf  den  britischen  Inseln.  In  der  Grammatik 
hat  das  alte  Hindul  den  Sieg  davon  getragen 
und  die  wilden  Eroberer  mussten  sich  seinen 
Flexionsregeln  unterwerfen;  es  ist  eigentlich  nur 
das  Vocabular,  das  sich  durch  das  Eindrängen 
des  Arabisch-Persischen,  vermittelt  durch  die 
neue  Religion,  gründlich  umgestaltet  hat  und 
worauf  das  Urdu  seinen  Anspruch,  als  neue 
Sprache  zu  gelten,  stützen  kann. 

Obgleich  das  Urdü  nunmehr  als  eine  vom 
Hindi  abgesonderte  Sprache  betrachtet  und  be- 
handelt werden  muss*  so  ist  es  noch  keineswegs 

23* 


356  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

in  sich  abgeschlossen,  sondern  mehr  oder  min- 
der noch  im  Fluss  begriffen. 

Wie  viel  aus  dem  Arabisch-Persischen  Voca- 
bular  (nebst  ganzen  Phrasen)  geborgt  werden 
darf,  hängt  fast  noch  ganz  von  den  Kenntnissen 
des  jeweiligen  Autors  ab,  denn  die  Literatur 
ist  noch  jung  und  der  Geschmack  sehr  ver- 
schieden. Wer  als  gelehrt  gelten  will,  darf  es 
an  zahlreichen  Arabisch-Persischen  Worten  (und 
theilweise  ganzen  Phrasen)  nicht  fehlen  lassen. 
Anders  freilich  verhält  es  sich  mit  der  Volks- 
sprache der  Muhammedaner  in  Indien ; sie 
variirt  nach  den  Localitäten  und  unterscheidet 
sich  oft  kaum  von  den  Landessprachen  der  übri- 
gen Hindü-Bevölkerung;  nur  diejenigen,  die  im 
eigentlichen  Hindustan  (in  den  nord-westlichen 
Provinzen)  wohnen,  sprechen  das  Urdü  mit  einer 
gewissen  Gleichmässigkeit  und  ihre  Sprache 
wird  jetzt  als  Muster  betrachtet , besonders 
das  Idiom  der  Bewohner  von  Dill!  und 
Lakhnau. 

Ziemlich  verschieden,  auch  in  grammatischer 
Hinsicht,  von  der  Sprache  der  nördlichen  Pro- 
vinzen ist  das  Idiom,  das  die  Muhammedaner 
in  den  südlichen  Provinzen  Indiens  reden 

und  das  darum  die  Benennung  o dakhni  (seil. 

,W  boll,  Sprache)  südliche  Sprache,  erhal- 

ten  hat.  Dieser  Dialect  hat  bis  jetzt  wenig 
Beachtung  gefunden  und  wird  von  seiner  glück- 
licheren nördlichen  Schwester  immer  mehr  in 
den  Hintergrund  gedrängt  und  zum  Patois  ge- 
stempelt; nur  Shakespear  hat  einen  kleinen 
Abriss  des  Dakhni-Idioms  gegeben , aus  dem 
man  zur  Genüge  sehen  kann,  dass  es  wohl  einer 
gründlichen  philologischen  Bearbeitung  werth  wäre. 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  357 

Ueber  die  frühere  Entwicklung  des  Urdu 
wissen  wir  nur  wenig.  Garcin  de  Tassy-  sagt 
zwar  in  seiner  Histoire  de  la  literature  Hindoui 
et  Hindustani,  dass  sich  schon  gegen  das  Ende 
des  13ten  oder  den  Anfang  des  14ten  Jahrhun- 
derts' Gedichte  von  musalmanischen  Autoren 
vorfinden,  ohne  sie  jedoch  näher  zu  bezeichnen. 
Es  wäre  von  ihm  überhaupt  recht  verdienstlich 
gewesen,  wenn  er  die  Autoren  in  seiner  er- 
wähnten Literatur-Geschichte  nach  der  Z e i t- 
folge  (soweit  sie  sich  noch  ermitteln  lässt),* 
statt  nach  dem  Alphabete,  geordnet  hätte;  da- 
durch könnte  man  sich  leicht  einen  Ueberblick 
über  die  Entwicklung  der  Sprache  verschaffen. 

Mit  Sicherheit  lassen  sich  Urdü-Schriftstücke 
erst  aus  dem  18ten  Jahrhundert  nachweisen. 
Denn  obschon  das  Urdu  wohl  schon  vom  12ten 
Jahrhundert  an,  wenn  auch  noch  auf  besondere 
Localitäten  beschränkt,  gesprochen  wurde,  so 
wurde  doch  von  den  Muhammedanern  zu  allen 
Regierungsgeschäften  und  Literaturzwecken  die 
persische  Sprache  verwendet,  da  das  Urdü 
kaum  anders  denn  als  ein  Patois  betrachtet 
wurde. 

Erst  mit  dem  Beginn  der  englischen  Herr- 
schaft in  Indien  wurde  das  Urdü,  abgesehen 
vou  einer  Anzahl  älterer  Volksgesänge  und 
Balladen,  zu  einer  Literatur- Sprache  erhoben 
und  die  Werke,  die  jetzt  als  Muster  eines  gu- 
ten Urdü-Styles  gelten,  sind  alle  neueren  Da- 
tums. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  nun  mit  Noth- 
wendigkeit,  dass  wenn  das  Urdü  gründlich  in 
seinen  grammatischen  Formen  und  Flexionen 
erforscht  werden  soll,  man  auf  das  alte  Hindul 
zurückgehen  muss,  das  uns  allein  bis  ins  13te 
Jahrhundert  hinauf  in  ziemlich  zahlreichen 


358  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

Schriftstücken  erhalten  ist.  Bis  jetzt  ist  die 
Grammatik  des  Urdu  nur  empirisch  behandelt 
worden,  da  fast  alle  englischen  Grammatiker 
einen  practischen  Zweck  dabei  im  Auge  hatten, 
die  aber  ohne  Ausnahme  des  älteren  Hindu! 
gang  unkundig  waren,  somit  auch  gar  nicht  in 
der  Lage  waren,  den  grammatischen  Bau  des 
Urdü  durch  das  Hindu!  auf  das  Präkrit,  resp. 
Sanskrit  zurückzuführen  und  zu  begründen. 

Ich  habe  in  einer  dem  Urdu  verwandten 
Sprache,  dem  Sind  hi,  den  ersten  Versuch  ge- 
macht, durch  Zurückführung  aller  grammatischen 
Formen  auf  das  Präkrit  Licht  in  die  Entwick- 
lung der  neueren  Sprachen  Nordindiens  zu 
bringen*). 

Die  Hindüstän!  Grammatik  von  Herrn  Platts 
hat  den  grossen  Vorzug  vor  den  früheren,  dass 
sie  theilweise  die  von  mir  bezeichnete  Richtung 
eingeschlagen  und  so  weit  das  Urdü  davon  be- 
troffen ist,  die  von  mir  gewonnenen  Resultate 
verwendet  hat,  wodurch  viel  alter  Schutt  weg- 
geräumt und  Klarheit  und  Deutlichkeit  über 
manche  Puncte  verbreitet  worden  ist,  die  noch 
in  Grammatiken  neuesten  Datums  ganz  falsch 
aufgefasst  worden  waren.  Seine  Arbeit  bietet 
daher  einen  entschiedenen  Fortschritt  auf  die- 
sem Gebiete  dar. 

Gehen  wir  auf  den  Inhalt  der  Urdu  Gramma- 
tik von  Platts  etwas  näher  ein. 

Das  Alphabet  nebst  den  übrigen  orthogra- 
phischen Zeichen  ist  klar  dargestellt,  nur  ver- 
misst man  eine  wissenschaftliche  Beschreibung 
der  dem  Urdü  eigenen  Laute;  nicht  einmal  eine 

*)  VergL  meine  SindhI  Grammar,  compared  with 
the  Sanskrit  Präkrit  and  the  cognate  Indian  Veraacn- 


Platts , A Grammar  of  the  Hindustani.  359 

übersichtliche  Zusammenstellung  nach  Laut- 
gruppen ist  gegeben,  was  doch  für  den  ganzen 
phonetischen  Character  einer  Sprache  Von 
grosser  Bedeutung  ist.  Das  Urdü  selbst  ist 
zwar  dem  Lautwechsel  nicht  viel  unterworfen, 
aber  für  die  Zurückführung  der  einzelnen  Bil- 
dungen und  Formen  auf  die  vorhergehenden 
Sprachstufen  (das  alte  Hindu!  und  Prakrit)  ist 
eine  eingehendere  Entwicklung  des  Lautsystems 
und  gleichzeitige  Ausscheidung  der  fremden,  in 
die  Sprache  erst  von  aussen  eingedrungenen  Ele- 
mente von  Wichtigkeit,  zumal  bei  einer  so  ge- 
mischten Sprache,  wie  das  Urdu  ist. 

Die  Geschlechtsverhältnisse,  die  im  Urdü 
ziemlich  verwickelter  Natur  sind,  sind  eingehend 
erörtert,  auch  die  Ausnahmen  mit  Fleiss  ge- 
sammelt. Etwas  unbegreiflich  ist  es  freilich, 
wenn  man  p.  23,  in  der  Anmerkung  die  Worte: 

nicht  nur  als  Urdü-Text,  sondern 

auch  noch  mit  »ghar  ke  ädmiyäri«  umschrie- 
ben findet.  Die  Worte  sind  falsch  und  ver- 
stossen  durchaus  gegen  die  Grammatik,  da  es 

unter  allen  Umständen:  heissen 

muss. 

Die  Bildung  der  Zahl  und  des  Casus  hat 
mit  der  bisherigen  empirischen  Darstellung  ge- 
brochen, wodurch  die  ganze  Sache  an  Einfach- 
heit und  Klarheit  gewonnen  hat.  Dass  die 
ganze  Urdü  Declination  durch  den  sogenannten 
Normativ  und  die  Hilfe  von  Postpositionen  her- 
gestellt wird,  wie  ich  diess  schon  in  meiner 
SindhI  Grammatik  dargestellt  hatte,  ist  aner- 
kannt. Wenn  er  jedoch  p.  43,  Anm.  d.  sagt, 

dass  von  eine  Rupee,  der  Formativ  ent- 


360  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 


weder  ^ rüpa-e  oder  rüpai  laute,  so 

möchte  ich  letzteres  beanstanden.  Dem  Ohr 
kommt  wohl  die  Aussprache  wie  rupai  vor,  allein 
es  handelt  sich  hier  nicht  um  einen  Diphthong 
ai,  sondern  um  einen  getrennten  Laut  a-i,  da 
am  Ende  eines  Wortes  i und  e kaum  in  der 
Aussprache  unterschieden  werden.  Ein  eigent- 
licher Diphthong  ist  der  ganzen  Bildung  dieser 
Formen  widersprechend. 

Wenn  er  bei  Darstellung  des  Comparativ 
und  Superlativ-Verhältnisses  (p.  48,  Anm.  a.) 
bemerkt,  dass  diese  Methode  aus  den  semi- 
tischen Sprachen  geborgt  worden  sei,  so 
möchte  ich  jetzt  diess  doch  bezweifeln,  obschon 
ich  selbst  früher  derselben  Ansicht  war,  wie 
der  Herr  Verfasser,  und  diess  auch  in  meiner 
Sindhl  Grammatik  ausgesprochen  habe.  Meine 
Alt-Hindu!  Studien  haben  mich  inzwischen  über- 
zeugt, dass  die  Art  und  Weise,  wie  der  Com- 
parativ (und  Superlativ)  im  Hindu!  ausgedrückt 
wird,  nicht  aus  den  semitischen  Sprachen  her- 
zuleiten ist,  sondern  aus  dem  Sanskrit,  wie  ich 
diess  in  meiner  demnächst  erscheinenden  Gram- 
matik des  alten  Hindu!  darzuthun  hoffe. 

Neben  der  Declination s-Methode  des  Urdü 
hat  nun  der  Verfasser  auch  eingehend  die  per- 
sische Declination  abgehandelt;  und  nicht  nur 
diese,  sondern  auch  die  persische  Comparation, 
die  Bildung  der  Participien,  der  Adjective  und 
theilweise  der  Substantive  und  der  Nomina 
composita  beigefügt,  so  dass  man  sich  auf  ein- 
mal in  eine  Persische  Grammatik  versetzt  fin- 
det. Ob  er  hier  des  guten  nicht  zu  viel  ge- 
th$n  hat,  ist  sehr  fraglich.  Allerdings  ist  es 
zum  richtigen  Verständniss  des  Urdü  unum- 
gänglich nothwendig,  eine  Kenntniss  der  persi- 


Platts , A Grammar  of  the  Hindustani.  361 

sehen  Sprache  und  Grammatik  zn  haben,  aber 
es  ist  dabei  doch  nicht  zu  übersehen,  dass  per- 
sische Worte  und  theilweise  Phrasen  dem  Urdu 
nnr  äusserlich  einverleibt  sind  und  streng  ge- 
nommen mit  seiner  Grammatik  nichts  zu  schaf- 
; fen  haben.  Aber  wenn  auch,  um  des  practi- 
ßchen  Nutzens  willen,  die  persische  Grammatik 
so  in  die  Urdü  Grammatik  hineingezogen  wird, 
so  ist  es  immer  wieder  fraglich,  wie  weit  diess 
gehen  soll  und  ob  diess  wirklich  allen  Anfor- 
derungen entspricht  ? Ich  kann  mich  nicht  über- 
zeugen, dass  dadurch  das  Studium  der  persi- 
schen Grammatik  für  den  überflüssig  gemacht 
wird,  der  jedes  persische  Wort  oder  Phrase, 
die  er  in  Urdü  Schriften  finden  mag,  ver- 
stehen will. 

Wir  können  jedoch  nicht  umhin,  einzelne 
seiner  Aufstellungen  zu  beanstanden.  Wenn  er 
z.  B.  p.  65  (82)  sagt,  dass  die  Wurzel  des  per- 
sischen Verbums  (welche  auch  die  Form  des 
Singulars  des  Imperativs  sei)  gewöhnlich  als 
ein  Nomen  actionis  oder  als  ein  abstractes 
Substantiv  gebraucht  werde,  so  ist  das  letz- 
tere entschieden  unrichtig.  Der  Imperativ  für 
sich  kommt  nie  als  ein  abstractes  Substantiv 
im  Persischen  vor,  sondern  nur  in  gewissen 

Zusammensetzungen,  wie:  die  Unter- 

suchung, dieünterredung, 
das  Hin-  und  Herzerren  etc.  Wenn  er  aber  p. 
66,  Anm.  bemerkt,  dass  ^^«3,  Freund  (in 

Khoräsän  immer  noch  döst  gesprochen), 

Glück,  «££**»*,  trunken,  ursprünglich  wohl  Par- 
ticipia  praet.  gewesen  seien,  so  können  wir 


L 


362  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stock  12. 


diese  Etymologie  nur  bestätigen,  denn 

„ 9 

ist  wirklich  gleich  ursprünglichem  Zend 

zushta  und  Sansk.  gw  (beliebt) ; ebenso  ist 
= Zend  bakhta,  Sanek.  ^ (das  zuge- 

theilte);  ov«.*  ist  das  Sansk.  (Altpersisch 

mastük,  mit  angefugtem  Adjectiv-Affix). 

Hie  und  da  begegnen  wir  einzelnen  Unrich- 
tigkeiten; so  z.  B.  p.  67  (unten)  ist  ^ 

nicht  als  Ablativ  - Verbindung  zu . erklären ; 
denn  man  sagt  im  Persischen  (in  der  Äccusativ- 

Unterordnung)  ;***+£;  das  Schwert  schla- 
gen, wie  aSj  {jßt,  einen  Ball  schlagen,  etc.  — 

0 

Die  Ableitung  von  0U*T,  Himmel,  #von 

Mühlstein  und  0L*  gleichwie  (wie  ein  Mühlstein) 

wird  bei  uns,  trotz  der  Auctorität  der  einge- 
bornen  Gelehrten  (die  auch  Shakespear  in  sei- 
nem Hindustani  Wörterbuch  anfuhrt)  nur  wenige 
Gläubige  finden;  Vullers  hat  in  seinem  Pers. 
Wörterbuche  schon’  längst  das  richtige  darüber 
angegeben.  (Vergl.  auch  Justi,  Alt-Baktr.  Wörtb. 
S.  38).  . - 

Ueber  die  Aussprache  des  Persischen 
müssen  wir  noch  hier  bemerken,  dass  der  Ver- 
fasser der  Gewohnheit  der  indischen  Maulavis 
gefolgt  ist,  die  Endsilben  än  (wie  im  Plural  und 
den  Affixen  än,  gin,  gän,  man  etc.)  als  Nasal- 
Laute  (durch  Anusvära  nasalirt)  zu  bezeichnen. 
Dies  ist  durchaus  unrichtig;  das  Persische  kennt 
den  indischen  Nasal-Laut  gar  nicht,  werde  er 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani. 


363 


mm  im  eigentlichen  Iran  oder  in  Khoräsän  ge- 
sprochen. Die  Aussprache  e und  o (statt  des 
Iranischen  i und  ü)  hat  in  gewissen  Worten 
i seine  Berechtigung,  auch  die  persische  Bevöl- 
kerung von  Khoräsän  und  Afghanistan  unter- 
scheidet noch  streng  zwischen  diesen  Lauten, 
aber  eine  Nasalisation  im  angegebenen  Sinne  ist 
ihr  durchaus  fremd.  Der  Europäer,  der  in  In- 
dien von  den  eingeborenen  Gelehrten  Persisch 
lernt,  hat  sich  davor  zu  hüten,  damit  er  sich 
nicht  in  den  Augen  der  Perser  und  Afghanen 
lächerlich  macht. 

Nachdem  er  auf  diese  Weise  die  persische 
Grammatik  hereingezogen  hatte,  so  musste  er 
nothwendigerweise  dasselbe  mit  der  arabi- 
schen thun.  Die  Bildung  der  Nomina  (Sub- 
stantiva  sowohl  als  Adjectiva),  ihre  Flexion  etc. 
ist  eingehend  erörtert.  Die  eigentliche  Urdü 
Grammatik  ist  durch  diese  zwei  Excurse  auf 
53  Seiten^  unterbrochen,  was  für  den  Zusammen- 
hang störend  ist.  Nach  unserer  Ansicht  hätte 
der  Verfasser  besser  gethan.,  wenn  er  diese 
zwei  Abhandlungen  in  den  Anhang  verwiesen 
hätte;  die  Grammatik  hätte  dadurch  an  Ueber- 
sichtlichkeit  gewonnen. 

Neu  ist,  was  der  Hr.  Verfasser  unter  den 
Demonstrativa  über  den  Instrumentalis  Sing, 
dieser  Pronomina  anführt  (p.  117,  sqq.)  und 
was  bis  jetzt  in  keiner  Hindustani  Grammatik 
(Forbes,  Shakespear,  Arnot)  berührt  war.  Bis 

jetzt  galt  als  Instrum.  Sing.  £ der 

Verfasser  dagegen  fahrt  daneben  auch  die  For- 
men j,  0\  und  j,  0I  an,  die  nicht  zu  bezweifeln 

sind.  Seine  Erklärung  dieser  Formen  jedoch, 
dass  dae  s von  is  und  us  durch  Assimilation 


364  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

mit  dem  n der  Postposition  ne  in  n verwandelt 
worden  sei,  müssen  wir  ab  weisen.  Es  sind  viel-' 
mehr  die  alten  Hindu!  Instrumentale  dieser  Pro-j 
nomina,  die  in  alten  Hindu!  Schriften  ganz  ge-^ 
wohnlich  sind,  z.  B.  im  Sikh  Granth,  wo  und* 

als  Instrum.  Sing,  ohne  ^ (das  erst  später 

aufkam)  gebraucht  werden.  Ich  verweise  ferner " 
ganz  einfach  auf  das  Panjäb!  und  Sindh!,j 
in  denen  der  Instrum.  Sing,  dieser  Pronomina  * 
bis  auf  den  heutigen  Tag  in  (ina)  und  un' 
(una)  lautet  (ohne  die  Postposition  ne);  vonj 
einer  Assimilation  kann  also  keine  Rede  sein.'j 
Die  Instrumentale  Sing,  dieser  beiden  Demon- j 
strativa  werden  in  der  Form  in  und  un  (ne) 
auch  hauptsächlich  im  nördlichen  Urdü  gebraucht, 
von  wo  aus  sie  in  die  Sprache  eingedrungen 
sind.  Es  wäre  überhaupt  sehr  wünschenswerth 
gewesen,  wenn  der  Hr.  Verfasser  sich  die  Mühe 
genommen  hätte,  solche  und  andere  Angaben 
durch  Citate  aus  Schriftstellern  (mit  Angabe 
des  Ortes)  zu  belegen  und  zu  begründen,  was  er 
zum  grossen  Nachtheil  seines  Werkes  überall 
unterlassen  hat. 

Unklar  ist  ferner,  wie  (p.  120,  Anm.  b)  £ 
der  Accusativ  des  Sansk.  firnr  sein  soll?  (Es 
soll  doch  wohl  heissen  gre  und  wir  hätten  das 

ohne  weiteres  angenommen,  wenn  nicht  die  la- 
teinische Transcription  Kim  dabei  stände). 

Ebenso  unklar  ist  seine  Bemerkung  (ibid.), 
dass  die  Formative  etc.  die  Prakrit 

m * 

' Genitive  mit  der  feminin  Basis  sein  sollen, 

also  = Präk.  aw,  = mni-  Das  Fe- 
* * 

mininum  kommt  hier  gar  nicht  in  Betracht  und 
würde  im  Prakrit  §rcsrT  Singular  sein , wäh- 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  365 


rend  der  Genitiv  Plur.  mui  generis  communis 

ist)  und  erklärt  keineswegs  den  Uebergang  von 
a in  i,  sondern  im  alten  Hindu!  wird  das  kurze 
S&nsk.  a (besonders  vor  einem  Doppel-Conso- 
nanten)  schon  häufig  in  i verflüchtigt. 

Dass  das  Wort  ferner  (p.  123,  Anm.) 

zugleich  eine  negative  Partikel  und  ein  negatives 
verbum  substantivum  sei,  müssen  wir  ebenfalls 
in  Abrede  stellen.  ist  nur  ein  negatives 

Adverb  und  bedeutet  nicht,  aber  nie  ist  es 

gleich  g *i,  es  ist  nicht.  Das  Sindhi,  das  er  da- 
für anfiihrt,  hat  er  missverstanden ; denn  dort 

ist  ^6  eine  Contraction  aus  *3,  das  verbum 
substant.  ist  also  ähe,  wie  soll  aber  das  in 

nah!  stecken?  Die  alten  Formen  von 

indessen,  die  das  Hindu!  uns  erhalten  hat,  zei- 
gen  deutlich  genug,  dass  in  nah!  keine  Con- 
traction des  verbum  substant.  enthalten  ist : 
wir  finden  dort  na  (q),  nab  und  nahi  Gtffj), 

auch  näbi  geschrieben;  die  Form  nahi  (qfif)  ist 

späteren  Ursprungs.  » 

Hie  und  da  ist  der  Verfasser  etwas  zu  präg- 
nant, was  leicht  zu  Missverständnissen  führen 
muss.  So  sagt  er  z.  B.  p.  125  (oben),  dass 

in  persischen  Phrasen  im  Sinne  von 
»eigen«  gebraucht  werde  und  führt  an: 

waser:  »mit  meinen  eigenen  Augen« 

*)  Ueber  die  Aassprache  von  mochte  ich  be- 
merken, dass  die  Perser  es  jetzt  nur  £Üd  (kurz)  aus- 
sprechen , wie  Ofüsh). 


366  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

übersetzt.  Das  ist  jedoch  zu  viel  gesagt;  wie 
übersetzt  werden  muss,  hängt  ganz  von 

dem  Subject  ab,  auf  das  es  sich  bezieht;  es 
kann  also  ebenso  gut  dein,  sein  etc.  bedeuten. 

Das  Verbum  und  seine  Flexion  ist  gut  dar- 
gestellt und  mancher  Irrthum,  der  bisher  in 
den  Hindustani  Grammatiken  noch  mitgeschleppt 
wurde,  ist  glücklich  beseitigt.  Nur  hätten  wir 
gewünscht,  dass  er  die  hergebrachte  Termino- 
logie beibehalten  hätte,  da  er  in  der  Wahl  neuer 
Ausdrücke  nicht  sehr  glücklich  gewesen  ist.  So 
kann  man  z.  B.  nicht  einsehen,  warum  das  Par- 
ticip des  Praesens  nun  Imperfect  Particip  heissen 
soll?  Diess  bringt  nur  Verwirrung  in  die  Sache, 
da  nun  auch  das  Praesens,  das  mit  dem  Parti-, 
cip  des  Praesens  gebildet  wird,  Praesens  Im- 
perfect genannt  wird. 

Dass  der  Subjunctiv  oder  Potentialis  von 
ihm  Aorist  genannt  wird,  ist  ebenfalls  ein 
übel  gewählter  Ausdruck. 

Ebenso  ist  es  zu  missbilligen,  wenn  er  yon 
einem  Particip  des  Perfects  redet;  das  Hin- 
dustani, wie  seine  Schwestersprachen,  kennt  nur 
ein  Particip  des  Praeteritums  oder  des  Aorists. 

Hr.  Platts  gibt  uns  eine  nähere  Beschreibung 
des  sogenannten  Precativs  im  Urdu,  der  bis- 
her ein  crux,  für  alle  Hindustani  Grammatiker 
gewesen  ist.  So  lucid  auch  der  Gebrauch  des- 
selben entwickelt  wird,  so  müssen  wir  doch 
den  Schlussfolgerungen,  die  er  zieht,  ein  Be- 
denken entgegenstellen.  Man  sieht  auch  wieder 
hier,  wie  man  eben  ohne  Eenntniss  des  alten 
Hindui  nimmermehr  auf  die  rechte  Fährte 
kommt.  Hr.  Platts  behauptet,  dass  die  Endung 
iyö  (wie  gehet)  ursprünglich  der  Plural 

sei  und  beruft  sich  dafür  auf  das  Panjäbi  und 


j 


Platts , A Grammar  of  the  Hindustani.  367 

Sindh!.  Wir  können  aber  diese  Berufung  nicht 
ganz  zugeben.  Der  Sindhi  Precativ  auf  ijö  *) 
stimmt  wohl  mit  der  Prakrit  Endung  ija  oder 
! ijja,  die  zwischen  die  Wurzel  und  die  Personal- 
Endungen  im  Praesens  und  Imperativ  einge- 
schaltet wird,  da  wir  auch  für  den  Singular  die 
Endung  ije  (iju)  haben,  was  sich  auch  vom 
Gujarati  sagen  lässt  (Sing,  aje,  PI.  ajö).  Mit 
dem  Panjäbi  jedoch  und  dem  Urdü  verhält  sich 
die  Sache  anders,  wie  ich  mich  durch  meine 
Studien  über  das  alte  Hindu!  überzeugt  habe. 

Im  alten  Hindu!  finden  wir  die  Endungen  iai 
und  iahu  (=  !a-u),  wie  z.  B.  wftur  oder 

im  jetzigen  Urdü  karie  und  kariö. 

Es  kann  nun  nicht  der  geringste  Zweifel  obwal- 
ten (wie  das  meine  Grammatik  des  alten  Hindu! 
darthun  wird),  dass  kariai  das  Praesens  des 
Passivs  ist,  das  im  alten  Hindu!  auch  schon  als 
‘ Potentialis  oder  Sub  junctiv**)  gebraucht 
wird,  ja  nach  und  nach  ganz  in  diesen  Modus 
übergegangen  ist.  Eine  andere  Form  ist  gprftuy 

(oder  die  sich  schon  im  Präkrit  als  III. 

Sing.  Imper.  Pass,  findet.  Dass  diese  beiden 
Endungen  dem  Passiv  Praesens  (resp.  Imperativ 
Pass.)  angehören,  kann  durch  zahlreiche  Bei- 
spiele aus  dem  Granth  erwiesen  werden.  Zur 
weiteren  Bestätigung  aber  will  ich  die  zwei  an- 
dern Formen  anführen,  die  im  Urdü  jetzt  statt 
karie  und  kariö  im  Gebrauche  sind , nämlich 
kijiye  und  kijiyö  (oder  kijiö). 

Man  sagt  nun  zwar  (wie  auch  Herr  Platts 


*)  Vgl.  meine*  Sindbi  Gram.  p.  268. 

**)  Das  zugleich  den  höflichen  Imperativ  vertritt. 


368  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 


thut)  in  den  Urdu  Grammatiken,  dass  wenn  die 
Verbal-Wurzel  auf  i endige,  der  Buchstabe  j 
zwischen  die  Wurzel  und  die  Endungen  des 
Precativs  eingeschoben  werde.  Aber  warum  ge- 
schieht das  und  sogar  bei  der  Wurzel  \*S 

' kar-nä,  aus  der  kijie  oder  kijiö  gebildet  wird? 
Die  Ursache  ist  einfach  die,  dass  in  diesen  For- 
men uns  ein  Ueberrest  des  alten  Passivs  erhal- 
ten worden.  Wie  aus  kar-nä  im  Sindhi  (wel- 
ches die  Präkrit  Passiv-Bildung  erhalten  hat) 
das  Passiv  kijanu  gebildet  werde,  ist  schon  in 
meiner  Sindhi-Grammatik  p.  260  gezeigt  wor- 
den*). Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  den 
andern  erwähnten  Formen,  die  alle  Passiva  sind. 
Das  alte  Hindul  nämlich  hatte  auch  noch  eine 
regelmässige  Passiv-Bildung,  die  aber  im  spä- 
teren Hindi  und  Urdu  in  Abgang  gekommen 
ist.  Hr.  Platts  führt  mit  Recht  an  (p.  137), 
dass  man  statt  pijiye  auch  pije  und  pijö  sagen 
könne.  Wir  möchten  aber  noch  erläuternd  hin- 
zufugen, dass  die  Formen  pije  und  pijö  die 
ursprünglichen  sind  (alt  Hindu!  uro  und 

qfcr s),  ersteres  das  Praesens  (oder  Potential») 

des  Passivs,  letzteres  die  HI  Pers.  Imper.  Pass., 
während  die  Formen  pijiyö  und  pijiyö  eigent- 
lich ein  doppeltes  Passiv-Affix  enthalten, 
weil  die  Sprache  nach  und  nach  das  Bewust- 
sein  verloren  hatte,  dass  das  j schon  das  Passiv- 
Affix  enthält;  im  alten  Hindu!  kommen  daher 

*)  Wir  brauchen  daher  kaum  zu  bemerken,  dass  es 
unrichtig  ist,  wenn  Hr.  Platts,  p.  138,  Anm.a  sagt,  dass 
die  Form  der  Wurzel,  die  im  Preoativ  gebraucht  werde, 
gewöhnlich  die  sei,  die  im  Particip  des  Perfects  vor- 
komme. Diess  ist  nur  ein  Schein  bei  dem  Precativ 
kijiye,  durch  den  man  sich  nicht  tauschen  las- 
sen darf. 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  369 

diese  Formen  noch  nicht  vor,  sondern  wir  fin- 
den constant  und 

Wir  müssen  daher  den  eingebornen  Gelehr- 
ten Hecht  geben  (denen  auch  H.  Etherington  in 
seiner  Hindi  Grammatik  gefolgt  ist),  dass  der 
Bedeutung  nach  die  Endungen  des  Precativs 
iye  und  iyö  im  wesentlichen  nicht  verschieden 
sind,  dass  also  iyö  auch  kein  Plural  ist,  son- 
dern die  HI.  Pers.  des  Imperat.  Pass.,  indem 
a*u  ganz  gewöhnlich  zu  ö contrahirt  wurde. 
Die  Sprache  hat  freilich  nach  und  nach  die  ur- 
sprüngliche Bedeutung  dieser  Formen  aus  den 
Angen  verloren , so  dass  man  jetzt  sagt : 

u> b mögen  Sie  gehen  1 aber  schon  das 

Sanskrit  gebrauchte  in  ähnlichen  Fällen  für 
eine  höfliche  Bitte  den  Imperativ  des  Passivs; 
der  ganze  Unterschied  ist  nur  der,  dass  im 
Urdu  das  Subject  nicht  mehr  im  Instrumen- 
talis, (wie  im  Sanskrit),  sondern  im  Nomina- 
tiv beigefügt  wird. 

Was  noch  die  Fermen  hüjiye  (hujiyö)  und 
müjiye  (müjiyö)  betrifft  (jw  138),  so  ist  zu  be- 
merken, dass  wir  für  erstem  im  alten  Hindul 
sehr  häufig  dem  Passiv  (es  wird)  und  für 

letzteres  dem  Passiv  (es  wird  gestorben) 
begegnen , obschon  die  andere  Form 
auch  im  Gebrauch  ist. 

Wir  können  daher  dem  Hrn.  Verfasser  nicht 
beistimmen,  wenn  er  in  der  Syntax  (p.  345, 
Anm.  2)  versucht,  eine  Differenz  zwischen  dem 
Precativ  und  Aorist  (Subjunctiv)  zu  statuiren, 
unter  Hinweisung  auf  Varar.  Präkrita  Prakäsha, 
VII,  20.  21.  Das  dort  erwähnte  Affix  ija  oder 
jjä  findet  sich  nachweislich  nur  im  SindhI, 
im  alten  Hindu!  aber  kommt  es  gar  nie  vor 

24 


370 


Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  12. 

und  wo  auch  immer  das  Affix  ij  sich  findet,  ist 
es  immer  eine  Passiv-Bildung.  Aber  auch 
im  Prakrit  selbst  ist  das  in  Varar.  VII,  20.  21 
erwähnte  Affix  nur  höchst  selten  im  Gebrauch, 
hauptsächlich  aber  in  Formen,  die  dem  sanskri- 
tischen Potentialis  und  Precativ  entsprechen; 
seine  allgemeine  Anwendung  wäre  erst  noch  zu 
beweisen.  Jedenfalls  lässt  sich  daraus  für  das 
alte  Hindul,  das  für  das  Urdü  und  Hindi  allein 
massgebend  ist,  kein  Schluss  ableiten.  In 
Sätzen,  wie  der  von  H.  Platts  (p.  137)  ange- 
führte: ist  nicht 

die  II.  Person  des  Sing.  Aorist,  sondern  die  III. 
Pers.  Plur.,  was  allerdings,  streng  genommen, 

grammatisch  nicht  richtig  ist,  da  auf  ^£0  nur 

bezogen  werden  könnte  (die  HI.  Pers. 

Sing.).  Aber  wir  haben  schon  bemerkt,  dass 
der  Sprache  das  Bewustsein  der  ursprünglichen 
Bedeutung  dieser  Form  zurückgetreten  ist  und 
dass  diese  ganze  Bildung  jetzt  mehr  activisch 
aufgefasst  und  behandelt  wird.  Die  Ueber- 
setzung  dieses  Satzes  würde  daher  lauten:  möge 
der  Befehl  des  Tödtens  ausgesprochen  werden! 

So  erklären  sich  auch  andere  Bildungen 
(über  die  sich,  so  viel  ich  weiss,  noch  kein 
Urdü  Grammatiker  ausgesprochen  hat)  ganz 

leicht,  z.  B.  öähie,  was  jnan  allgemein 

* 

mit:  »es  ist  nöthig«  übersetzt.  Im  alten  Hindul 
lautet  diese  Form  u*  und  bedeutet  wörtlich: 

es  wird  gewünscht,  es  ist  wünschenswerth  (Pan- 
jabi jetzt  noch  mit  der  Passiv-Bildung:  cähidä 
hai).  Durch  den  Uebergang  des  alten  Praesens 
in  die  Bedeutung  eines  Potentialis  oder  Sub- 


| Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  371 

! juncture  erklärt  es  sich  einfach,  dass  diese  For* 
men  auch  in  Wunsch-Sätzen  gebraucht  werden, 

i vie:  Cb*  J&qfr,  wörtlich : möge  im  Ge- 

strüppe  geblieben  werden!  was  so  viel  ist  als: 
lasset  uns  im  Gestrüppe  bleiben  oder:  bleibet 
ihr  im  Gestrüppe  (je  nach  dem  Zusammenhang 
der  Rede). 

Was  aber  unsere  Erklärung  dieser  Bil- 
dungen über  allen  Zweifel  erheben  muss,  ist  der 
Umstand,  dass  auch  eine  Futur-Form  davon 
sich  vorfindet.  Dieses  Futurum  Passivi  ist  im 
alten  Hindu! noch  etwas  ganz  gewöhnliches 
und  wird  als  Indicativ  gebraucht;  im  Urdu 
dagegen  haben  sich  nur  wenige  Bildungen  er- 
halten und  werden,  ähnlich  wie  im  Praesens, 
mehr  im  Sinne  eines  Potentials  (oder  Optativs, 
der  einen  gelinden  Befehl  impliciren  mag)  an- 
gewendet. 

Ein  sehr  verdienstvoller  Theil  seiner  Gram- 
matik ist  die  Darstellung  der  Bildung  der  Cau- 
sativa,  die  in  den  bisherigen  Urdu  Grammatiken 
viel  zu  wünschen  übrig  liess.  Zur  Bildung  der 
Cansativa  durch  das  Affix  lä  (p.  167),  wollen 
wir  hier  noch  hinzufügen , dass  diese  im  alten 
Hindu!  die  gewöhnliche  ist  (nur  mit  Ueber- 
gang  von  1 in  r (är),  wie  auch  im  Sindhi),  ob- 
schon die  jetzt  mehr  vorherrschende  (mit  dem 
Affix  ä)  sich  auch  vorfindet.  Da  das  Präkrit 
von  einer  solchen  Causal-Bildung  noch  keine 
Spuren  zeigt,  so  ist  es  allerdings  schwer,  dieses 
Affix  zu  erklären.  Ich  dachte  früher  an  das  1, 
das  z.  B.  in  dem  Verb  qj  zur  Causal-Bildung 

verwendet  wird  faföTTurfa)  und  diese  Vermuthung 

habe  ich  in  meiner  Sindh!  Grammatik  (p.  25S) 
ausgesprochen.  Mittlerweile  aber  habe  ich  im 

24* 


372  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stuck  12. 

alten  Hindu!  gefunden,  dass  der  Laut  r seht 
häufig  (der  Euphonie  wegen)  eingeschaltdt  wird, 
wo  weder  das  Sanskrit  noch  das  Präkrit  eine 
Spur  desselben  aufweist;  so  finden  wir  z.  B. 
immer  (=  firer),  (=  etc.  Es  ist 

daher  sehr  wahrscheinlich,  dass  r (oder  1)  nur  eine 

euphonische  Einschaltung  ist.  Ar  (äl)  oder  rä  (lä) 
ist  dasselbe  Affix  und  wird  nach  Willkür  versetzt ; 
so  sagt  man : (dikh-lä-nä)  oder 

(dikh-äl-nä),  zeigen.  Dass  1 eine  Transmutation 
von  y (g)  sei,  wie  Herr  Platts  andeutet  mit  Hin- 
weis auf  das  Präkrit  latthi  (statt  yashti)  ist  wohl 
kaum  anzunehmen,  da  weitere  derartige  Ueber- 
gänge  von  y in  1 nicht  nachzuweisen  sind. 

Auch  die  Art  und  Weise,  wie  er  die  Verba 
composita  dargestellt  hat,  sticht  sehr  vortheil- 
haft  ah  gegen  die  hergebrachte  Methode.  Die 
Regeln  waren  entweder  nur  oberflächlich  und 
unvollkommen,  oder  gar  falsch  angegeben  und 
Hr.  Platts  polemisirt  daher  mit  Recht  gegen 
einzelne  europäische  Grammatiker,  die  sich 
herausnahmen,  die  Sprache  nach  ihrem  Gut- 
dünken darzustellen.  Doch  ist  es  nicht  ganz 
richtig,  wenn  er  mit  Rücksicht  auf  die  Verba 
frequentativa  und  desiderativa  sagt,  die  von  ihm 
aufgestellten  Regeln  seien  den  Lehren  der  euro- 
päischen Grammatiker  entgegengesetzt.  Dass 
die  Verha  desiderativa  im  Urdü  als  intransitiva 
construirt  werden,  hatte  schon  Shakespear  in 
seiner  Hindustani  Grammar  (p.  56)  gelehrt,  ob- 
schon er  nichts  in  Betreff  der  Verba  frequen- 
tativa bemerkt  hatte,  was  allerdings  als  ein 
grosser  Mangel  bezeichnet  werden  muss.  Forbes 
freilich  hüllte  sich  in  Betreff  dieser  beiden 
Verba  composita  in  tiefes  Stillschweigen.  So 
dankbar  es  nun  auch  anzuerkennen  ist,  dass 


Platt 8,  A Grammar  of  the  Hindustani.  373 

die  Construction  der  erwähnten  Verba  compo- 
site durch  den  Hrn.  Verfasser  in  volles  Licht 
gesetzt  worden  ist,  so  wäre  es  doch  auf  der  an- 
dern Seite  auch  sehr  wünschens werth  gewesen, 
wenn  er  uns  eine  Erklärung  dieses  so  seltsamen 
Verfahrens  der  Sprache  gegeben  hätte;  denn  das 
lässt  sich  nicht  läugnen  (und  eben  daran  hat- 
ten sich  die  europäischen  Grammatiker  bis  jetzt 
so  gestossen),  dass  die  intransitive  (resp.  active) 
Construction  eines  transitiven  Verbums  in  den 
vergangenen  Zeiten  dem  ganzen  Genius  der 
Sprache  widerstreitet,  da  das  Particip  des  Prae- 
teritums  eines  transitiven  Zeitwortes  immer  eine 
passive  Bedeutung  hat,  die  Construction  also 
notkwendigerweise  eine  passive  sein  sollte. 

Warum  sagt  man  also  im  Urdu: 

ich  wünschte  zu  gehen,  und  nicht : LplS*  ^ 

Warum:  uL  sie  hörte  zu.  Wenn  er  sagt: 

+ * 

das  Particip  des  Perfects  werde  als  ein  ab- 
stractes  Substantiv  im  Accusativ  den 

Zeitwörtern  li^  (machen)  und  (wünschen) 

vorgesetzt,  so  ist  damit  die  intransitive 
Construction  derselben  im  Praeteritum  nicht 
nur  nicht  erklärt,  sondern  man  würde  dann 
geradezu  die  passive  Construction  erwarten ; 

wenn  also  g lil  im  Praesens  wörtlich 

bedeutet:  »sie  macht  ein  Hören«,  so  sollte  nach 
allen  sonstigen  Kegeln  des  Urdu  das  Praeteri- 

tnm  lauten : ilS'  U«  J sie  hörte  zn  (durch 

0 

sie  wurde  ein  Hören  gemacht),  während  doch 
der  Usus  der  Sprache : -f  ll»!  c>l  verlangt.  Wie 


374  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

ist  also  das  zu  erklären?  Ich  kann  mich  nicht 
überzeugen,  dass  in  diesen  Fällen  eine  wirklich 
active  Construction  vorliege,  wenigstens  nicht 
mit  Bezug  auf  bS,  sondern  Sätze  wie : 

. ) 9 t 

CT  Uw  £>,,  sie  hörte  zu,  müssen  zunächst  wört- 

m 

lieh  übersetzt  werden:  sie  wurde  ein  Hören  ge- 
macht. Dass  die  eigentliche  passive  Construction 

mit  dem  Instrumentalis  (also:  CS  \lL  j,  (jJ, 

durch  sie  wurde  ein  Hören  gemacht)  nicht  an- 
gewendet wurde,  kommt  daher,  dass  das  Ver- 
bum finitum  das  verbal  Nomen  auch  im  P r ae- 
teritum  als  Accusativ  sich  unterordnet, 
folglich  wie  ein  Causativ  construirt  wird, 
zwar  persönlich,  aber  doch  mit  passiver 
Bedeutung.  Hängt  von  dem  verbal  Nomen  ein 
Object  ab,  so  wird  dieses,  wie  bei  dem  Verbum 
finitum,  im  Accusativ  untergeordnet.  Man  sagt 
also:  main  tamäm  din  aur  tamäm  rät  päni  men 
häth  päöh  märä  kiyä  (p.  174,  Anm.),  wörtlich: 
Ich  wurde  den  ganzen  Tag  und  die  ganze  Nacht 
im  Wasser  die  Hände  und  Füsse  (Acc.)  schla- 
gen gemacht  = ich  schlug.  Nachdem  einmal 
für  das  Praesens  (und  Imperfect)  der  Ausdruck 

sich  festgesetzt  hatte : bS  ich  mache 

ein  Schlagen  = ich  schlage  fortwährend , so 
konnte,  wenn  das  Verbum  finitum  mit  dem  un- 
tergeordneten verbal  Nomen  (im  Acc.)  als  Ein 
Begriff  festgehalten  werden  sollte,  im  Praeteri- 
tum  gar  nicht  anders  gesagt  werden  als : 

LS  -JjU  ^a,  ich  wurde  schlagen  (=  schlagend) 

— gemacht.  Ganz  dasselbe  gilt  von  ähnlichen 
verbal  Compositionen,  wie: 


er- 


Platte,  A Grammar  of  the  Hindustani.  375 

scheinen  (wörtlich:  eine  Erscheinung  geben), 

Lu>>  hören  lassen  (ein  Hören  geben),  die 

im  Praeteritum  ebenfalls  wie  Gausativa  con- 

s.  * — y 

struirt  werden  müssen  ;z.B.  ^ 

» » m * 

wörtlich:  zwei  Menschen  wurden  eine  Erschei- 
nung gegeben  = erschienen.  In  allen  diesen 
Fällen  hat  das  Praeteritum  eine  passive  Be- 
deutung. 

Anders  jedoch  verhält  es  sich  mit  den  soge- 
nannten Verba  desider ativa,  die  durch 
das  Particip  des  Praeteritums  und  das  Verb 

UXs>,  wünschen,  gebildet  werden. 

In  diesem  Falle  ist  das  Particip  des  Praeteri- 
tums  auch  als  ein  verbal  Nomen  im  Accusativ 

untergeordnet,  z.  B.  ^ er  wünscht 

zu  sehen  (wörtlich : er  wünscht  ein  Sehen),  aber 

un  Praeteritum  wird  das  Verbum  finitum  UPLa- 
als  ein  intransitives  Verbum  construirt 

und  man  sagt  daher:  er  wünschte 

zu  sehen.  Ebenso  wird  im  Sindhi 

wünschen,  im  Praeteritum  als  intransitiv  (und 
daher  activ)  construirt  (Siehe  meine  Sindhi 
Grammar  p.  322).  Der  Herr  Verfasser  hätte 
übrigens  in  Betreff  der  Verba  desiderativa  noch 
hinzufügen  dürfen,  dass  das  Urdu,  wenn  von 
dem  verbal  Nomen  ein  Object  abhängt,  dasselbe 
auch  als  Particip  passiv  des  Praeteritums  mit 
dem  Object  in  Geschlecht  und  Zahl  übeinstimmen 

lägst;  z.  B.  ^jli  ^ 

er  wünscht  auf  meinen  Grund  ein  Hans  zu 


376  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

bauen  (wörtlich:  er  wünscht  auf  meinem  Boden 
ein  gebautes  Haus),  statt:  i£  ^ 

Diese  Construction  hat  er  in  der  Syntax  nicht 
erwähnt , obschon  sie  in  Nord-Indien  sehr  häufig 
vorkommt. 

Wir  können  jedoch  diesen  Fuüct  nicht  ver- 
lassen, ohne  den  Satz  erwähnt  zu  haben,  den 
er  S.  178  unter  den  Verba  permissiva  anführt. 

Er  gibt  dort  die  Worte : ^ o,  und 

* 

übersetzt:  er  erlaubte  mir  zu  kommen.  Dieser 
Satz  ist  falsch ; es  sollte  heissen : (**>  ^ \ ^ 

denn  Ijü«>  kann  im  Praeterium  nie  als  intransi- 
tiv  construirt  werden. 

Wenn  er  S.  183,  Anm.  1 sagt,  es  sei  höchst 
unwahrscheinlich,  dass  wö  vom  und 

jOf  abstamme,  weil  d nicht  in  b*  übergehe,  so 

ist  dagegen  zu  bemerken,  dass  der  Uebergang 
von  d in  v (b)  im  alten  Hindu!  sehr  häufig  vor- 
kommt; man  sagt  z.  6.  promiscue:  und 

sehen;  sogar  im  Urdu  findet  sich 

abhev  statt  wie  er  das  aus  Shakespear’s 

Hindüst.  Dictionary  hätte  sehen  können. 

S.  194  will  er  j£L*,  mit,  von  dem  Sansk. 
wrou  ableiten,  während  es  nach  dem  alten  Hindu! 
snfir  der  Locativ  von  ist. 

Entschieden  verunglückt  ist  seine  Ableitung 
der  Diminutiv- Affixe  etä  und  ötä  (p.  218)  von 
betä  und  pötä  (Sohn,  junges).  Wir  finden  diese 
Affixe  schon  im  Sindh!  (Sindh!  Gram.  p.  77) 
und  im  Paätö  (Siehe  meine  Pastö  Gram.  p.  52), 


Platte,  A Grammar  of  the  Hindustani.  377 

wo  ich  ihre  wahrscheinliche  Ableitang  bespro- 
chen habe. 

Die  Syntax  ist  recht  übersichtlich  und 
vollständig  behandelt.  Es  ist  jedoch  für  die 
Brauchbarkeit  des  Werkes  sehr  zu  bedauern, 
dass  er  seine  Citate  nicht  genau  belegt  hat. 
Man  weiss  nicht,  ob  er  die  Sätze  selbst  ge- 
| macht  oder  woher  er  sie  genommen  hat.  In 
| einer  Grammatik  aber  sollten  alle  Sätze,  be- 
sonders in  der  Syntax,  so  viel  wie  möglich  aus 
| den  besten  Schriftstellern  gewählt  und  der  Fund- 
ort genau  angegeben  werden,  damit,  wo  Zweifel 
entsteht,  nachgeschlagen  und  verglichen  werden 
kann.  Es  ist  anzuerkennen , dass  er  manche 
i feinere  Wendung  der  Sprache  deutlich  erkannt 
und  gegen  frühere  Missdeutung  in  Schutz  ge- 
; nommen  hat.  Doch  fehlt  es  auch  nicht  an  ein- 
! zelnen  Missverständnissen  und  Unrichtigkeiten. 
Wenn  er  z.  B.  S.  251,  Anm.  sagt,  dass  der  Lo- 

i 

cativ  des  reciproken  Pronomens  (unter  sich) 

i als  regierendes  Nomen  häufig  ausgelassen  wurde, 
so  müssen  wir  uns  über  die  Beispiele  wundern, 
die  er  zum  Beleg  dafür  anfuhrt.  Wie  soll  denn 

in  dem  Satze:  $ Jti  zwischen 

mir  und  dir  ist  eine  Grundfeindschaft, 

ausgefallen  sein  ? hätte  hier  ja  gar  keinen 
Sinn.  Auch  in  dem  weiteren  Beispiel  lässt  sich 

uQ f nicht  suppliren.  Beide  Sätze  müssen  viel- 
mehr nach  seiner  in  § 318  aufgestellten  Regel 
erklärt  werden.  Er  hat  schon  p.  192  (bei  den 
Postpösitionen)  ke  richtig  mit  der  Bedeu- 
tung »zu«  (als  Dativ-Postposition)  aufgeführt, 
vas  bisher  in  allen  Urdü-Grammatiken  über- 


378  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

sehen  oder  falsch  erklärt  worden  war.  Er  ist 
zwar  nach  seiner  Anmerkung  (p.  252)  über 
diese  Bedeutung  von  ^ noch  etwas  schwan- 
kend, und  hält  es  für  wahrscheinlich,  dass  nach 

^ etwa  oder  ol0>  zu  suppliren  wäre.  Al- 
lein die  eingebornen  Grammatiker  haben  Recht, 
die  in  diesen  Fällen  das  ürdü  ^ durch  die 

persische  Praeposition  tu  (als  Dativ)  erklären. 
Dem  kann  ich  noch  beifügen,  dass  dieses  ^ 
im  alten  Hindu!  & kai  lautet  und  dort  sehr 

häufig  als  Dativ-Postposition  verwendet  wird 
(von  dem  Sansk.  ^ abgeleitet,  Präkrit  Rfw 

und  dann  weiter  zu  ke  contrahirt,  das  im  Hin- 
du! kai  gesprochen  wird). 

P.  274,  b hat  er  ausser  Acht  gelassen,  dass 
die  Postposition  ^ se  auch  mit  bedeutet,  in 

gewissen  Fällen  auch  »zu«  (alt  Hindu! 

8iu  und  set!),  dessen  Etymologie  mit  se, 

‘von1,  nicht  zusammenfällt.  Se,  in  der  Bedeu- 
tung »von«  ist  ohne  Zweifel  von  dem  Präkriti- 
schen ^ (der  Genitiv  - Endung  = Sansk.  ^r) 

abzuleiten,  während  se,  in  der  Bedeutung  *m  i t« 
wohl  dem  Sansk.  entspricht  (Sindh!  sttut 

> • 

oder  inn,  s).  In  Sätzen,  wie : ^ ^4^  J, 

er  sagte  zu  mir,  muss  ^ nothwendigerweise  in 

der  Bedeutung  von  »mit«  (»zu«)  gefasst  werden. 

Nur  im  Vorübergehen  sei  bemerkt,  dass  auf 
S.  303  ein  sinnentstellender  Druckfehler  ist;  es 

heisst  dort:  ^ statt:  " 

Die  Construction  der  Participien,  die  im  Urdü 
so  manche  Schwierigkeiten  darbietet,  ist  vom 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  379 

Hrn.  Verfasser  scharf  anfgefasst  und  durch  viele 
Beispiele  klar  erläusert  worden  (p.  335 — 343), 
was  dem  bisherigen  Wirrwarr  gegenüber  einen 
wohlthuenden  Eindruck  macht.  Im  Einzelnen 
jedoch  möchte  ich  bemerken,  dass  das  Particip 
des  Praesens  nicht  als  Substantiv  in  den 
Sätzen  zu  fassen  ist,  die  er  S.  339, 2)  a)  anführt. 

yilLJ  ist  nicht  gleich  ^ ,1^0,  obschon  wir 

es  so  zu  übersetzen  gewohnt  sind,  sondern  die 
Worte  stehen  im  Locativ  (=  dem  Lateinischen 

Ablativus  absolutus)  also  = rerum 

copia  suppeditante.  Wie  eigentlich  construirt 
werden  muss,  zeigt  das  Sindhi  aufs  deutlichste: 
denn  dort  sagt  man : vade  hünde,  wann  er  gross 
ist.  Ebenso  müssen  wir  es  entschieden  in  Ab- 
rede ziehen,  dass  das  (passive)  Particip  des 
Praeteritums,  wenn  es  durch  eine  der  Praeposi- 
tionen  ohne,  etc.  (p.  340)  regiert  wird,  in 

einigen  Fällen  eine  active  Bedeutung  habe. 

l*;**  <3  heisst  nicht:  ohne  dass  ich  ihm 

sage  oder  gesagt  habe,  sondern:  ohne  meinen 
Befehl  (ohne  dass  von  mir  gesagt  worden  ist). 

Ebenso  er’1«*'  jtPi  nicht:  ohne  zu  essen  oder 

gegessen  haben,  sondern : ohne  gegessen  worden 
sein.  Im  Englischen  und  Deutschen  kann  man* 
es  wohl  activ  übersetzen,  aber  es  darf  nicht 
übersehen  werden , dass  man  es  mit  dem  Par- 
ticip passiv  zu  thun  hat. 

Wenn  er  p.  348  sagt,  dass  lg  eine 

Handlung  implicire,  die  hätte  gethan  werden  sol- 
len, so  möchte  man  doch  auch  den  Grund  die- 
ser so  seltsamen  Bildung  einsehen.  Diese  lässt 
sich  jedoch  nur  aus  dem  alten  Hindu!  erklären, 
das  sein  Imperfect  noch  häufig  dadurch  bil- 


380  Gott  gel.  Anz.  1874.  Stock  12. 

det,  dass  es  dem  Praesens  (dem  späteren  Snb- 
junctiv  oder  Potential«)  einfach  trr  oder  ^(decH- 

nirbar)  anhängt.  Lp  ist  also  nichts  wei- 

+ 

ter  als  der  Ueberrest  einer  alten  Hindui-Imper- 
fect-Bildung ; über  die  Bedeutung  und  Ableitung 
von  en  (sn)  babe  ich  mich  schon  in  meiner 

Sindhi  Gram.  p.  294  ausgesprochen. 

Dass  das  Praeteritum  nach  den  Conditional 

Partikeln  etc.  die  Bedeutung  eines  Fu- 

turums  haben  solle,  wie  er  p.  354  statuirt, 
muss  dahin  berichtigt  werden,  dass  das  Praete- 
ritum in  diesen  Fällen  das  Futurum  ex  act  um 
ausdrückt,  wie  diess  durch  die  verwandten  Spra- 
chen hinlänglich  constatirt  ist. 

Dass,  wie  auf  S.  366  gesagt  ist,  die  zweite 
Person  (des  Singular  und  Plural)  des  Subjunc- 
tivs  als  eine  disjunctive  Conjunction  gebraucht 
werde,  ist  in  dieser  Allgemeinheit  in  Frage  zu 
stellen.  Das  Beispiel,  durch  welches  diese  Ke- 
gel erhärtet  werden  soll,  beweist  das  keines- 
wegs ; denn  in  dem  Satze : ^91$?  ^ 

ist  ^ und  die  zweite  Person  Plur. 

des  Imperativs  und  heisst  wörtlich:  Ich  sage 
nicht : bleibet ; wenn  ihr  wollet,  gehet.  Nur 
^$1:^  ist  die  zweite  Person  Plur.  des  Subjunctive, 

vor  welcher  wenn,  zu  suppliren  ist. 

Als  einen  Irrthum  müssen  wir  es  ferner  be- 
zeichnen, wenn  er  von  einem  besonderen  Po- 
tentials (neben  dem  Subjunctiv  oder  Aorist, 
wie  er  diesen  Modus  nennt)  spricht  (p.  366). 
Man  mag  diesen  Modus  bezeichnen,  wie  man 
willT  Subjunctiv  oder  Potentialis,  so  ist 
er  doch  ein  und  dieselbe  grammatische  Form. 


J 


Platts,  A Grammar  of  the  Hindustani.  381 


i 

! 

Es  muss  aber  nothwendig  Verwirrung  anrichten, 

1 wenn  man  das  Futurum  definitum  (oder  wie 
man  es  sonst  heissen  mag),  damit  zusammen- 
| stellt,  denn  obschon  dieses  oft  in  einem  unbe- 
stimmten, dem  Potential»  sich  annähernden 
I Sinne  gebraucht  wird,  ist  es  seiner  ganzen  Bil- 
dung nach  ein  Indicativ  und  kein  Sub- 
junctiv. 

Dasselbe  gilt  vom  Futurum  exactum,  das 
i zwar  meist  in  dubitativem  Sinne  angewendet 
wird,  aber  desswegen  doch  kein  Potential»  der 
Vergangenheit  genannt  werden  darf;  der  Inder 
denkt  eben  in  dieser  Beziehung  etwas  anders, 
als  wir  es  gewohnt  sind.  Er  stellt  sich  mit 
| seinen  Gedanken  mitten  in  die  Ereignisse  hinein, 
während  wir  der  Rede  in  solchen  Fällen  eine 
subjective  Färbung  geben.  Der  Satz  also  (p.  367): 


l>>  t jS  vjli  luX^  heisst  wört- 


lieh:  Gott  weiss,  was  ihr  Zustand  wird  gewesen 
sein,  während  wir  zu  sagen  pflegen:  was  ihrZu- 
| stand  gewesen  sein  mag. 

I Im  Vorübergehen  sei  es  uns  erlaubt,  auf 
i eine  unrichtige  Uebersetzung  hinzuweisen,  die 
| sich  S.  387  findet.  Dort  übersetzt  er  den  Satz 

153*  cfc*  ji**  u*'  k & 

so:  irgend  ein  Reisender,  sei  es  ein  Frommer 
oder  ein  Mann  der  Welt,  der  in  diese  Stadt 


kommt«.  bedeutet  aber  nicht:  Mann  der 

Welt , sondern : ein  vermögender,  reicher  Mann 
und  dadurch  ist  auch  offenbar,  dass  hier 

nicht  durch  »Frommer«  übersetzt  werden  darf, 
sondern  durch  »arm«  wiedergegeben  werden 
muss. 

Hie  und  da  dürfte  bestimmter  die  gramma- 


382  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 


tische  Form  eines  Wortes  hervorgehoben  sein, 
um  Irrthum  zu  vermeiden.  So  z.  B.  wenn  er 

S.  388  (§  499,  Anm.)  yPlz*  ohne  weitere  Be- 
merkung als  disjunctive  Conjunction  auf- 
führt ; jpljg»  ist  aber  ein  Verbum  (II  Pers.  Plur. 

des  Subjunctive  Praes.)  = yft,  wenn  ihr 

wollet,  und  kann  daher  nur  in  gewissen  Fällen 
im  Sinne  einer  disjunctiven  Conjunction  verwen- 
det werden. 

Ein  Irrthum  ist  es  ferner,  wenn  er  S.  390 
(§  508)  die  Adverbien  yi  und  als  Synonyme 

anführt,  von  denen  das  eine  manchmal  statt  des 
andern  gebraucht  werde.  Sie  sind  keine  Syno- 
nyme, sondern  identisch:  denn  im  alten 
Hindul  sagt  man  ganz  promiscue  frsr  oder  ft?, 

indem  b (v)  in  u übergeht.  Ganz  dasselbe  gilt 
von  und  (§  506). 

Was  seine  nähere  Erläuterung  von 
anbelangt,  (p.  391),  so  möchten  wir  bemerken, 

dass  im  ersten  dort  angeführten  Satze 

seine  gewöhnliche  Bedeutung  »wann,  als,  da« 

hat.  Was  den  zweiten  Satz  betrifft,  wo  er  wo* 

• • « 

mit  »dann«  übersetzt,  so  ist  es  sehr  fraglich, 
ob  er  denselben  richtig  verstanden  hat.  Es 
könnte  wohl  richtiger  heissen:  man  muss  hart 
arbeiten,  wann  etwas  zu  Händen  kommt,  statt 
wie  er  übersetzt:  »man  muss  arbeiten,  dann 

wird  etwas  erlangt« ; denn  diese  Bedeutung  von 

0 

»dann«  lässt  sich  sonst  nicht  nachweisen. 

Da  er  übrigens  keinen  Zusammenhang  andeutet 
noch  ein  Nachschlagen  der  Stelle  ermöglicht,  so 
müssen  wir  diejs  für  jetzt  auf  sich  beruhen 


r 

t Platts , A Grammar  of  the  Hindustani.  383 

I lassen.  Im  dritten  Satze  jedoch,  wo  er 
ebenfalls  mit  »dann«  übersetzt,  ist  nicht  zu 

übersehen,  dass  hier  nur  durch  einige 

Worte  von  getrennt  ist  und  eigentlich  zu  *£ 

gehört;  iS  (oder emphatisch : ,*+&•) aber 

bedeutet:  zu  der  Zeit  als.  Von  einem  condi- 
tionalen  Nachsatz  aber  wird  man  wohl  in 
Zeitsätzen  nicht  reden  können,  wie  es  der 
Verfasser  thut. 

Im  übrigen  erkennen  wir  gerne  an,  dass  er 
zum  ersten  Mal  die  Urdu  Syntax  erschöpfend 
behandelt  hat,  wie  überhaupt  seine  ganze  Ar- 
beit den  Eindruck  einer  soliden  Gründlichkeit 
macht,  aus  welchem  Grunde  wir  keinen  Anstand 
nehmen,  sie  allen  denen  zu  empfehlen,  die  sich 
mit  dem  Studium  des  so  wichtigen  Urdü  befas- 
sen wollen.  E.  Trumpp. 


Boece.  De'la  consolation  de  la  Phi- 
losophie. Traduction  grecque  de  Ma- 
ximePlanude  publiee  pour  la  premiere 
fois  dans  son  entier  par  E.-A.  Betant 
Professeur  au  Gymnase  de  Geneve.  Geneve, 
Imprimerie  Carey  freres.  1871.  VIII  und  119 
SS.  in  8. 

Nur  kurz  soll  auf  diese  Arbeit  des  greisen 
genfer  Philologen,  die  dem  ßef.  erst  jetzt  zu  Ge- 
sicht gekommen  ist  und  in  Deutschland  wenig 
bekannt  scheint,  aufmerksam  gemacht  werden. 
Die  Uebersetzung  der  Gedichte  hatte  schon  C. 
Fr.  Weber  (Darmstadt  1882)  herausgegeben, 
aber  die  der  ganzen  Schrift  erscheint  hier  zum 
erstenmal,  nach  einer  Handschrift  des  15.  Jahrh., 


L 


384  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  12. 

die  Betant  selbst  gehört.  Für  dife  Gedichte 
kommt  die  pariser  hinzu,  die  der  Ausgabe  We- 
bers zu  Grunde  liegt,  und  noch  eine  zweite, 
nicht  näher  bezeichnete  pariser,  deren  Lesarten 
Betant  von  Egger  erhalten  hat.  Unter  dem 
Texte  sind  nur  die  Fehler  der  HS.  bemerkt, 
welche  der  Herausgeber  nach  eigenen  oder  We- 
bers Vermuthungen  verbessert  hat.  Für  den 
Text  desBoetius  ist  die  Uebersetzung  desfleissi- 
gen  Mönchs  ohne  allen  Werth,  da  von  den  Bü- 
chern de  consolatione  philosophise  mehrere  HSS. 
erhalten  sind,  die  vier  und  fünf  Jahrhunderte 
vor  Planudes  geschrieben  wurden,  und  in  der, 
welcher  er  folgte,  sich  offenbar  dieselben  Fehler 
fanden,  wie  in  den  noch  vorhandenen.  So  stand 
auch  in  ihr  2,  1 V.  8 das  sinnlose  swis,  denn 
Planudes  sagt  <S(ps%4qotg,  das  ebendeshalb  auch 
Betant  nicht  in  titpivsqov  ändern  durfte.  Auch 
2.  5,  13  ff.  ist  die  Umstellung  des  Satzes  xai 
(pcovri  T°v  Xc°v  noXX&v  inirj  qw- 

üsv  äxoccg,  %ä  6s  ipiTsqa  xq^ata  sl  pr}  stq 
XsTtrd  xataxsqikauG&eiij,  nqdg  nollovg  dövravst 
fisxaßijpcu  (S.  29  b.  Betant)  vor  den  Satz  «AJ lag 

TS  sl  TCC  MXVtaXOV  i&VMP  OVTCt  Xdtfl*0*** 

nq&g  Iva  %wd  ^vXXsyeifi,  wvg  komovg  ivdeslg 
savtüv  xataXsixfJovtoV)  die  dem  Herausgeber  ge- 
fällt, unrichtig,  da  auf  Letzteres  offenbar  nicht, 
wie  es  bei  Planudes  geschieht,  folgen  kann:  aü 
ysvopivov  mcoxovg  ävayxatov  cinoXeHpd'ijvat  <&v 
dmxriqfjGctP,  während  die  Worte  quod  cum  factum 
est  pauperes  necesse  est  faciant  quos  retinquunt 
bei  Boetius  ganz  richtig  sich  an  das  Vorher- 
gehende anschliessen.  Die  Umstellung  ist  also 
nur  eine  willkürliche  Aenderung  des  Planudes, 
der  die  Sätze  des  Boetius  nicht  richtig  verstand, 
wie  sich  solche  Missverständnisse  nicht  eben  sel- 
ten bei  ihm  finden.  H.  S. 


385 


Uff  ttingi  sehe 

gele hrte  Anzeigen 

I 

unter  der  Aufsicht 

der  König].  Gesellschaft  der  Wissenschaften . 

l Stück  13.  1.  April  1874. 


| S.  Isaacsohn,  Geschichte  des Preussischen 
Beamtenthums  vom  Anfänge  des  löten  Jahrhun- 
derts bis  auf  die  Gegenwart.  Erster  Band. 
Das  Beamtenthum  in  der  Mark  Brandenburg 
von  1415 — 1604.  Berlin  1874.  Puttkammer  u. 
i Mühlbrecht.  8°.  VI.  292  S. 

Das  überschriftlich  genannte  Werk,  dessen  er- 
ster Band  vorliegt,  ist  auf  vier  Bände  berechnet; 
während  der  erste  Band  bis  zum  Jahre  1604 
als  dem  Augenblick  der  Begründung  des  »Ge- 
heimen Staatsraths«,  des  »Mittelpunkts  der  ge- 
sammten  Preussischen  Landesverwaltung  der  fol- 
genden Zeit«  . reicht,  soll  der  zweite  Band  mit 
der  Bildung  des  »Generaldirectoriums«  im  Jahre 
1723  abschliessen,  der  dritte  Band  das  Beam- 
tenthum bis  zur  fundamentalen  Umgestaltung 
der  Jahre  1808  fg.  darstellen  und  der  letzte 
Band  das  19.  Jahrhundert  seit  dieser  Umge- 
staltung behandeln. 

Den  Stoff,  welcher  den  Gegenstand  des  er- 
sten Bandes  bildet,  zerlegt  der  Verf.  in  die  6 
Abschnitte : llof  des  Markgrafen  (Hof-,  Kammer-, 

25 

i 


L 


386  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 

Rentmeister,  Marschall,  Kanzler,  Küchenmeister, 
Schenk,  Kurf.  Räthe  und  Hofgesinde),  Beamten 
in  der  Landesverwaltung  (Vogt,  dessen  Unter- 
beamten, Landeshauptmann,  dessen  Unterbeam- 
ten, oberster  Hauptmann  und  Regentschaftsrath, 
neumärkische  Regierung),  ständische  Beamten 
(Stiftsbeamten,  bischöfliche  Kanzlei,  Kammer, 
Amtmann,  Schultheiss,  Stadtrath ; ständische 
Finanzcollegien) , Justizbeamten  (15.  Jahrh.: 
Dorf-,  Stadt-,  Hof-,  Land-,  Hof-  und  Land -Ge- 
richt, Bot-  und  Lodding;  16.  Jahrh.:  Hof-  und 
Kammergericht  zu  Coin,  Quartalgericht),  Kirchen- 
und  Schulverwaltung,  Landesvertheidigung. 

Im  Wesentlichen  stützt  sich  der  Verf.  auf 
gedruckte  Quellen,  besonders  auf  die  Sammlun- 
gen von  Riedel,  Raumer  und  Mylius;  hinsicht- 
lich des  Gerichtswesens  steht  er  fast  durchaus 
auf  den  Schultern  von  Kühns  und  dessen  Ge- 
schichte der  märkischen  Gerichtsverfassung.  Er 
hat  diese  Quellen  mit  Fleiss  und  Umsicht  be- 
nutzt, auch  meist  richtige  Resultate  gezogen. 
Diese  Resultate  haben  für  den  Referenten  inso- 
fern ein  vorzugsweises  Interesse,  als  sie  zur  we- 
sentlichen Bestätigung  der  in  seiner  Geschichte 
der  »Entwicklung  des  gelehrten  Richterthums 
in  deutschen  Territorien«  (Cotta  2 Bde.  1872) 
niedergelegten  Ansichten  dienen  und  den  darin 
mehrfach  vertretenen  Satz  bestätigen,  dass  das 
Beamtenwesen  der  verschiedenen  deutschen  Ter- 
ritorien seinen  Grundzügen  nach  mehr  Einheit 
in  sich  trägt,  als  die  Zersplitterung  des  Reiches 
vermuthen  lässt.  Referent  hat  in  der  Vorrede 
zu  jener  Schrift  hervorgehoben,  wie  sehr  er  bei 
seiner  Arbeit  den  Mangel  einer  Geschichte  des 
deutschen  Beamtenthums  empfunden  habe,  und 
er  heisst  deshalb  das  Werk  des  Verf.,  welches 
dem  gedachten  Mangel  abzuhelfen  anfängt,  mit 


Isaacsohn,  Gesch.  d.  Preuss.  Beamtenthums.  387 

besonderer  Freude  willkommen,  schlägt  es  auch 
ans  persönlichem  Interesse  hoch  an,  dass 
der  Verf.  ohne  Rücksicht  auf  die  ihm  offenbar 
unbekannt  gebliebene , eben  citirte  Schrift  ar- 
beitete, weil  gerade  durch  die  Selbständig- 
keit der  Untersuchungen  des  Verf.  die  Unter- 
suchungen des  Ref.  neue  Stützen  finden.  Ob 
aber  nicht  aus  sachlichen  Gründen  es  wün- 
schenswert gewesen  wäre,  wenn  der  Verf.,  statt 
ausschliesslich  die  Quellen  der  Mark  Branden- 
burg in’s  Auge  zu  fassen,  auch  über  die  Lan- 
desgrenzen hinausgeblickt  und  dort  Aufschluss 
gesucht  hätte  für  eine  Menge  von  Zweifeln,  die 
ihm  nach  seinen  Quellen  bleiben  mussten  und 
geblieben  sind,  das  ist  eine  andre  Frage.  Ref. 
ist  überzeugt,  dass  bei  solchem  Verfahren  Vie- 
les in  dem  vorliegenden  Buche  klarer,  Vieles 
anders  und  Vieles  nicht  gesagt  worden  wäre. 

Was  zunächst  die  Anordnung  des  Ganzen 
betrifft,  so  sei  Folgendes  bemerkt.  Jedem,  der 
sich  mit  der  Geschichte  des  Beamtenthums  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  beschäftigt,  drängen 
sich  unabweislich  eine  ganze  Reihe  von  Gegen- 
sätzen zwischen  der  damaligen  und  der  gegen- 
wärtigen Zeit  auf,  die  sich  allenfalls  dahin  kurz 
zusammenfassen  lassen:  während  der  Beamte 
von  jetzt  regelmässig  für  einen  engen,  festbe- 
grenzten Zweig  von  Arbeiten  innerhalb  entweder 
der  innern  Verwaltung  oder  der  Justiz  oder  des 
Krieges  an  bestimmtem  Orte  für  Lebenszeit  be- 
stellt ist  und  sein  Verhältniss  zu  seinem  Lan- 
desherrn nach  staatsrechtlichen  Grundsätzen 
sich  regelt,  gilt  vom  Beamten  der  altern  Zeit 
überall  das  Gegentheil:  unter  den  Einflüssen  des 
Lehnswesens  entstanden,  nimmt  er  allmählich 
eine  mehr  privatrechtliche  Stellung  ein ; er  wird 
auf  gewisse  Jahre  contractlich  in  Dienst  ge- 

25* 


388  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  13. 

nommen  und  sein  Dienst  spielt  gleichzeitig  hin- 
über in  das  Gebiet  der  Landesverwaltung  (Fi- 
nanzen, Inneres,  Polizei),  der  Justizverwaltung 
jeder  Branche,  wie  auch  des  Kriegswesens; 
heute  vertritt  er  den  Landesherrn  als  Amt- 
mann im  Sprengel  seines  von  der  Residenz 
entfernten  Amtssitzes,  morgen  tagt  er  am  Hofe 
des  Fürsten  als  Rath  in  dessen  Kanzlei,  über- 
morgen als  Beisitzer  (Schöffe)  des  Hof-  oder 
Landgerichts,  oder  er  zieht  als  Hauptmann  an 
der  Spitze  seines  Fähnleins  ins  Feld.  — Es 
hätte  sich  deshalb  unzweifelhaft  empfohlen,  wenn 
der  Verf.  in  einer  Einleitung  die  sehr  inter- 
essante Verschiedenheit  im  Wesen  des  Beamten- 
thums der  früheren  und  der  jetzigen  Zeit  aus- 
führlich dargelegt  hätte.  In  Verbindung  damit 
wäre  zu  entwickeln  gewesen,  wie  das  practische 
Bedürfniss  allmählich  zur  progressiven  Vermeh- 
rung und  Spaltung  des  Beamtenthums  führte. 
Schon  hieraus  würde  sich  ergeben  haben/  dass 
eine  Gegenüberstellung  der  Hof  beam  ten  und 
der  Beamten  der  innern  Landes  Verwal- 
tung, wie  sie  der  Verf.  in  Abschnitt  I und  H 
versucht,  nicht  durchführbar  ist.  Es  kehrt  des- 
halb der  S.  16  und  12  unter  den  Hofbeamten 
abgehandelte  Kanzler  bezw.  Rentmeister  unter 
den  Landesbeamten  S.  165  und  63  wieder; 
die  S.  17  Note  1 aufgeführten  Kanzler  stehen 
auch  dem  S.  165  genannten  Kanzler,  »der  Seele 
der  neumärkiscben  Regierung«,  ebenso  gleich, 
wie  der  S.  12  Note  1 genannte  Rentmeister 
Joachim’s  I.  von  1505  dem  Befehlhaber,  Rent- 
meister oder  Kästner  des  Hauptmanns  der 
Priegnitz  von  1528  (S.  63  Note  1).  Der  Kanz- 
ler ist  der  Chef  der  innern  und  Justizverwaltung ; 
wenn  in  den  Marken  seit  1535  ein  zweiter  Kanz- 
ler auftritt  (S.  163),  so  hängt  das , wie  ander- 


Isaacsoim,  Gesch.  d.  Preuss.  Beamtenthums.  389 

i 

> wärts,  mit  der  damaligen  Landestheiiung  zusam- 
men, und  wenn  nach  der  Wiedervereinigung  des 
Landes  die  beiden  Kanzleibezirke  mit  je  einem 
Kanzler  bestehen  bleiben,  so  ist  der  eine  dieser 

■ Kanzler  ebenso  viel  Hof-  und  Landes- 
beamte als  der  andere.  Wie  nun  gar  der 
Statthalter,  der  Vormundschafts«  oder 
Regentschaftsrath  eine  Behörde  der  Lan- 
desverwaltung im  Gegensatz  zu  dem  Hofe  des 
Markgrafen  genannt  werden  kann,  ist  noch  viel 
weniger  abzusehen.  Der  Statthalter,  wie  der 
Regentschaftsrath  ist  der  Vertreter  des  Mark- 
grafen bei  Abwesenheit,  Minderjährigkeit,  Krank- 
heit und  dergl. ; er  hat  seinen  Sitz  da,  wo  sonst 
der  Markgraf  Hof  hält;  das  Entferntsein  des 
Markgrafen  kann  doch  unmöglich  den  Statthal- 
ter, meist  eine  der  angesehensten  Persönlich- 
keiten der  bisherigen  Hofhaltung,  vom  Hofbe- 
amten zum  Landesbeamten  stempeln.  Und  wenn 
die  »neu märkische  Regierung«  den  Beamten 
der  Landesverwaltung  beigezählt  wird,  so  ge- 
hört sicher  auch  die  »alt märkische  Regierung« 
zur  »innern  Landesverwaltung«,  von  letzterer  Re- 
gierung ist  aber  mit  keiner  Silbe  die  Rede.  Das 
hängt  damit  zusammen,  dass  der  Verf.  die  Identität 
zwischen  Kanzlei  und  Regierung  nicht  erkannt  hat 
(cf.  S.  164)  und  überhaupt  (S.  163)  von  Ein- 
setzung einer  »Regierung«  im  J.  1535  spricht, 
während  nach  der  auf  die  Verhältnisse  anderer 
deutschen  Länder  gegründeten  Ueberzeugung  des 
Ref.  damals  der  Name  Regierung  noch  gar 
nicht  vorkam ; dies  erweisen  auch  die  vom  Verf. 
selbst  S.  164  Note  1 gegebenen  Belege,  nach 
welchen  zuerst  1594  der  Name  »Regierung«  für 
die  bisherige  Bezeichnung  »Kanzler  und  Räthe« 
auftaucht.  Andererseits  ist  dem  Verf.  der 
scharfe,  principielle  Unterschied  zwischen  den 


390  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  13. 


Kanzleien  (überhaupt  zwischen  den  »Beamten«) 
und  den  Gerichten  (Kammer-,  Hof-,  Land-  Dorf- 
gerichten), sowie  der  mit  dem  Eindringen  der 
fremden  Rechte  zusammenhängende,  durch  die  Sitte 
der  schiedsrichterlichen  Austräge  sehr  geförderte 
Zug  der  Zeit  entgangen,  Amt  und  Gericht  zu 
verschmelzen,  d.  h.  die  Beamten  (Käthe)  zu 
Gerichtsmitgliedern  und  die  Gerichtsmitglieder 
(Richter  wie  Schöffen)  zu  Beamten  umzuformen. 

Hinsichtlich  der  Gerichtsverfassung  ist  im 
Verhältnis  zu  Kühns  wesentlich  Neues  nicht 
beigebracht.  Wie  bei  Kühns,  so  vermissen  wir 
auch  beim  Verfasser  die  Erläuterung  der  mit 
Rücksicht  auf  andre  Territorien  auffälligen  Er- 
scheinung, dass  die  Mark  durchweg  in  Vog- 
teien  eingetheilt  ist,  während  sonst  in  der  Re- 
gel die  »Vogtei«  einen  eximirten  grundherrlichen 
Bezirk  unter  geistlicher  Herrschaft  an  zeigt; 
diese  Erscheinung  in  der  Mark  hat  jedenfalls 
ihre  historische  Grundlage,  welcher  nachzufor- 
schen wäre.  Wenn  die  allmähliche  Verwand- 
lung der  Vogteien  in  Aemter  mit  der  Ent- 
stehung landesherrlicher  Domanialgüter  in  Ver- 
bindung gebracht  wird,  so  müssen  wir  die  Rich- 
tigkeit dieser  Anschauung  bezweifeln;  ausserhalb 
der  Mark  Brandenburg  kommen  vielfach  die 
»Aemter«  ganz  in  derselben  Weise  vor,  wie 
innerhalb  der  Mark  die  »Vogteien« ; wahrschein- 
lich ist  es  ein  blosser  Namensumtauch  — der 
aber  seine  geschichtlichen  Motive  haben  muss 
— wenn  die  »Vogteien«  der  Mark  später  zu 
»Aemtern«  werden.  Ebenso  ist  bei  Kühns  und 
beim  Verfasser  unklar,  was  er  sich  unter  einem 
»Dorfgericht«  denkt,  anscheinend  ein  für  das 
einzelne  Dorf  aus  dem  Schulzen  und  wenigen 
Insassen  als  Schöffen  gebildetes  Gericht  (vergl. 
S.  194  fg.).  Gegen  die  Annahme  einer  solchen 


fcaacsohn,  Gosch,  d.  Preass.  Beamtenthams.  391 

Zertheilung  der  Gerichtsbarkeit  auf  dem  platten 
Lande  spricht  die  Erfahrung,  die  uns  das  Ge- 
richtswesen nichtmärkischer  Territorien  an  die 
Hand  gibt.  Danach  bestehen  im  16.  Jahrh. 
zwar  nicht  mehr  die  alten  grossen  Landgerichts- 
bezirke, aber  die  kleineren  Gerichte,  welche  sich 
von  den  Landgerichten  als  selbständige  Gerichte 
losgelöst  haben,  umfassen  doch  regelmässig 
mehrere  Dörfer  mit  6 bis  12  Schöffen  unter 
einem  Richter  (Schultheis).  Das  schliesst  nicht 
i aus,  dass  der  Richter  mit  2 Schöffen,  gewisser- 
massen  als  Commissare  des  Gerichts,  einzelne 
! Gerichtshandlungen  vornimmt,  und  vielleicht  ha- 
; ben  Fälle  solcher  Art  Anlass  gegeben,  die  Exi- 
stenz eines  aus  dem  Richter  und  nur  einem  oder 
zwei  Schöffen  bestehenden  Gerichts  anzunehmen. 
Om  über  diesen  Punkt  ein  entscheidendes  Ur- 
theil  fällen  zu  können,  sind  eingehendere  Unter- 
suchungen erforderlich,  als  sie  bis  jetzt  vorlie- 
gen. Dabei  — wie  überhaupt  bei  den  Unter- 
suchungen über  die  Geschichte  des  Beamten- 
thums — kommt  es  sehr  darauf  an,  die  Namen, 
welche  die  Quellenzeugnisse  einer  bestimmten 
Zeit  einem  Beamten  oder  einer  Behörde  bei- 
legen, genau  festzuhalten.  Dass  dies  der  Verf. 
z.  B.  hinsichtlich  der  »Regierung«  nicht  thut, 
ist  bereits  angeführt;  er  spricht  aber  auch  von 
Mitgliedern  »des  Rathes«  in  der  markgräflichen 
Kammer  (S.  9.  17  etc.),  während  die  Collectiv- 
bezeichnung  »Rath«  für  die  fürstlichen  Räthe 
im  15.  und  16.  Jahrh.  durchaus  nicht  üblich 
ist,  sondern  nur  für  die  städtischen  Rathsherrn, 
j welche  ihrerseits  wiederum  nicht,  wie  die  Dar- 
I Stellung  S.  175  fg.  annehmen  lässt,  »der  Stadt- 
rath«, sondern  constant  der  »Rath«  heissen. 
Ferner  nennt  der  Verf.  den  Beamten,  der  das 
»Schulzenamt«  einer  Stadt  verwaltet,  schlecht- 


392  Gott*  gel.  Anz.  1874  Stack  13. 

weg  »Stadtrichter«  (S.  197)  und  denjenigen, 
welcher  zum  »Richter  über  (6)  Dorfschaften« 
bestellt  wird,  schlechtweg  »Landrichter«  (S.  206), 
Alles  Ungenauigkeiten,  welche  leicht  zu  Miss- 
deutungen führen;  denn  — um  bei  letzteren 
Beispiel  stehen  zu  bleiben  — das  Gericht  jener 
Dorfschaften  ist  im  Sinne  des  Verf.  mit  nichten- 
ein  »Landgericht«,  sondern  ein  »Dorfgericht«, 
es  ist  nämlich  ein  von  einem  ehemaligen  Land- 
gericht abgezweigtes  Patrimonialgericht,  das  sehr 
characteristisch  im  Gegensatz  zum  »Landgericht« 
den  Namen  »Gericht«  führt,  einfach,  weil  es 
keinen  alten  Namen  hat;  später  usurpirt  es 
vielleicht,  gleich  andern  ähnlichen  Gerichten  be- 
nachbarter deutscher  Länder,  den  Namen  »Land- 
gericht«, aber  in  der  fraglichen  Periode  trägt  es 
ihn  sicher  nicht. 

Die  richtige  Erkenntniss  des  Gegensatzes 
zwischen  Kanzlei  und  Gericht,  welche  dem  Verf. 
nach  Obigem  fehlt,  würde  dann  weiter  dahin 
geführt  haben,  das  gehörige  Licht  über  die 
Jurisdictionsgewalt  von  Kanzler  undRäthen,  von 
markgräflichen  Commissaren  (S.  101),  von  Haupt- 
leuten (S.  98)  zu  verbreiten.  Auen  ist  es  dem 
Verf.  nicht  gelungen,  die  Person  des  Kanzlers 
richtig  zu  würdigen  (S.  17.  232);  in  Folge  des- 
sen entgeht  ihm  die  wichtige  Zweitheiligkeit  der 
fürstlichen  Räthe:  adlige  Räthe  unter  Führung 
des  Marschalls  und  gelehrte  Räthe  unter  Füh- 
rung des  Kanzlers.  Schliesslich  wird  aus  dem 
Gapitel:  »die  märkische  Gerichtsverfassung  im 
16.  Jahrh.«,  welches  nur  mit  dem  Kammerge- 
riebt  und  den  Quartalsgerichten  sich  befasst, 
schwerlich  Jemand  ein  klares  Bild  der  Umge- 
staltung des  gesammten  Gerichtswesens  sich 
bilden,  welche  gerade  während  des  gedachten 
Zeitraums  sich  vollzieht. 


r 

Isaacsohn,  Gesch.  d.  Preuss.  Beamtenthums.  393 

I Ebensowenig  befriedigt  der  ganze  dritte  Ab- 
! schnitt:  die  ständischen  Beamten.  Hier  werden 
die  städtischen  Beamten  parallel  neben  den  bi- 
schöflichen Beamten  und  denen  der  Herren  be- 
| handelt,  obgleich  die  städtischen  Beamten  ihrem 
ganzen  Wesen  nach  sowohl  den  landesherrlichen, 
als  den  analogen  patrimonialen  diametral  ent- 
gegenstehen; erst  in  Folge  des  Kampfes  zwi- 
schen Landesherrschaft  und  Städten  nehmen  all- 
mählich bei  wachsendem  Uebergewicht  der  Lan- 
desherm  die  städtischen  Beamten  in  gewisser 
Beziehung  den  Character  landesherrlicher.  Be- 
amten an.  Wenn  sodann  der  dritte  Abschnitt 
unter  H auf  die  ständischen  Finanzbeamten 
eingeht,  so  fehlt  im  Text  und  Inhaltsverzeichniss 
die  correspondirende  I,  sie  lässt  sich  auch  nicht 
etwa  der  yorausgegangenen  Erörterung  über  1) 
die  Stifter,  2)  den  Herrenstand,  3)  die  Städte 
einfach  vorsetzen,  weil  die  Kammer,  d.  h.  das 
Finanzcolleg  der  Stifter,  bereits  unter  1.  (S. 
169)  erörtert  wird.  Was  S.  198  über  eine  de- 
finitive Trennung  des  städtischen  Bathsherrn- 
nnd  Schöffencollegs  seit  dem  15.  Jahrh.  gesagt 
i8t,  dürfte,  wenigstens  in  der  Allgemeinheit,  sehr 
zu  bezweifeln  sein.  Jedenfalls  ist  es  aber  ein 
Missverständnis,  von  der  Existenz  sechs  gleich- 
zeitiger Bürgermeister,  zumal  in  kleinen  Städten, 
und  von  »der  Eigentümlichkeit«  eines  Theiles 
der  Mark  zu  reden,  in  gewissen  Fällen  den  al- 
ten (vorjährigen)  Batb  bei  Beratung  städtischer 
Angelegenheiten  heranzuziehen  (S.  178);  Letz- 
teres ist  in  vielen  deutschen  Städten  üblich,  und 
die  Aufzahlung  von  sechs  Bürgermeistern  an  der 
Spitze  des  Baths  erklärt  sich  dadurch,  dass  die 
(meist  mit  dem  Jahreswechsel)  abgehenden  Bür- 
germeister unter  Beibehalt  ihres  Titels  in  den 


394  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13T 

Bath  hinter  den  regierenden  Bürgermeister  als 
Schöffen  oder  Rathsherrn  wieder  einrücken. 

Eine  Reihe  anderer  Einzelheiten,  welche  Be- 
denken erregen,  mag  unberührt  bleiben;  das 
Gesagte  reicht  vielleicht  schon  hin,  den  Verf. 
bei  Fortsetzung  seiner  Arbeit  zu  weitergreifen- 
den Studien  zu  veranlassen. 

Berlin  im  Febr.  1874. 

A.  Stölzel. 


Helius  Eobanus  Hessus,  ein  Lebensbild  aus 
der  Reformationszeit.  Von  Dr.  Gotthold 
Schwertzell.  Halle  a.  S.  Lippert’sche 
Buchhandlung.  1874.  128  SS.  in  8°. 

Erst  vor  Kurzem  ist  in  diesen  Blättern  (G. 
G.  A.  1873  St.  50  S.  1997  fg.)  auf  den  Anfang 
eines  Versuches  aufmerksam  gemacht  worden, 
das  Leben  des  Dichters  Eoban  Hesse  in  aus- 
führlicher, dem  gegenwärtigen  Stand  der  For- 
schung entsprechender  Weise  zu  beschreiben. 
Noch  bevor  diese  Mittheilung  veröffentlicht  war, 
welche  den  Verf.  zur  baldigen  Fortsetzung  des 
schön  begonnenen  Unternehmens  ermuntern 
sollte,  erschien  von  anderer  Seite  eine  Lebens- 
beschreibung des  berühmten  Humanisten,  der 
die  folgende  Anzeige  gewidmet  ist. 

Diese  dem  Andenken  des  vor  Kurzem  zu 
Marburg  verstorbenen  Kirch enbistorikers  Henke 
gewidmete  Biographie,  offenbar  ein  erster  schrift- 
stellerischer Versuch,  darf  als  wohlgelungen  be- 
zeichnet werden.  Sie  bemüht  sich,  getreu  nach 
den  Quellen,  d.  h.  besonders  nach  den  reichlich 
vorhandenen,  bisher  aber  noch  nicht  chronolo- 


r 

[ Schwertzell , Helius  Eobanus  Hessus.  395 

: gisch-geordneten  Briefen  und  den  vielen  poeti- 

: sehen  Werken  Eobans,  ein  Lebensbild  ihres  Hel- 

! den  zu  zeichnen,  ohne  allzugrosse  Rücksicht- 
nahme auf  Zeitverhältnisse  und  Personen,  die 
nm  deswillen  auch  nicht  erforderlich  war,  weil 
Eobans  Wirken  kein  eingreifendes  und  umge- 
| stattendes  genannt  werden  darf;  mit  verständi- 
I ger,  nicht  voreingenommener  Beurtbeilung  der 
[ Leistungen  und  der  Bedeutung  des  Geschilderten. 

[ Das  Leben  Eoban’s,  ein  von  wenig  Wechsel- 
: fallen  erschüttertes,  meist  ruhig  dabin  fliessen- 

! des  Gelehrtenleben,  wird  von  dem  Verf.  in  6 

Abschnitte  getheilt:  Jugend  und  Lehrjahre  — 
1509;  Vier  Wanderjahre  — 1514;  Zweiter 
Aufenthalt  in  Erfurt — 1526.  Der  Humanisten- 
bund. Die  Reformation  — 1526,  Eoban  in 
Nürnberg  — 1533;  Dritter  Aufenthalt  in  Er- 
furt — 1536;  Aufenthalt  in  Marburg  und  Tod 
— 1540.  In  jedem  dieser  Abschnitte  werden 
die  äusseren  Ereignisse  aus  Eobans  Leben  in 
schmuckloser,  durchaus  ansprechender  Darstel- 
lung mitgetheilt,  mit  der  Erzählung  derselben 
aber  auch  eine  Besprechung  der  literarischen 
Leistungen,  welche  dieser  Periode  angehören, 
verbunden. 

In  letzterer  Beziehung  nun  genügt  Schwertzell’s 
Leistung  wol  nicht  allen  Ansprüchen.  Eoban’s 
Psalmenübersetzung  in  lateinische  Di- 
stichen z.  B.*,  die  allein  in  den  ersten  siebzig 
Jahren  nach  ihrem  Erscheinen  40  Auflagen  er- 
lebte, darf  nicht  mit  einem  kurzen  Räsonnement 
und  der  Wiedergabe  einzelner  Urtheile  seitens 
der  Reformatoren:  Luther,  Melanchthon  u.  s.  w. 
abgefertigt  werden.  Denn  zur  Würdigung  die- 
ses, von  dem  Dichter  als  seine  hauptsächlichste 
Leistung  angesehenen  Werkes,  bedürfte  es  eines 
Eingehens  in  einzelne  Fragen:  ob  Eoban  seine 


396  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 


Uebersetzung  nach  dem  hebräischen  Original- 
text angefertigt  habe,  was  mir,  trotzdem  Came- 
rarius  einmal  Eobans  Eenntniss  der  hebräischen 
Sprache  in  Anspruch  nimmt,  zweifelhaft  er- 
scheint; wie  weit  er  dem  Wortlaut  gefolgt  sei, 
den  Sinn  richtig  angegeben  oder  sich  Freiheiten 
zu  Gunsten  der  poetischen  Schönheit  erlaubt 
habe;  ferner  über  die  Einwirkungen,  welche 
dieser  Versuch  auf  die  Zeitgenossen  geübt,  über 
die  etwaigen  Nachahmungen,  welche  er  hervor- 
gerufen habe  u.  s.  w.  Auch  in  Bezug  auf  das 
eiiie  längere  historische  Gedicht  Eobans, 
das  wir  besitzen,  die  Darstellung  des  Kriegs- 
zugs Philipps  von  Hessen  zur  Wiedereinsetzung 
des  Ulrich  von  Wirtemberg  in  sein  Land,  — 
denn  sonstige  historische  Leistungen  haben  wir, 
trotzdem  Eoban  Professor  der  Geschichte  in 
Marburg  war  und  gelegentlich  auch  einen  war- 
men Eifer  für  diese  Wissenschaft  bekundete, 
nicht  von  ihm,  wir  müssten  denn  kleine  Ge- 
legenheitsgedichte über  Erfurter  Vorkommnisse 
als  solche  betrachten,  wäre  eine  Untersuchung 
am  Platze  gewesen.  Denn  obwol  Eoban,  wie 
Schwertzell  nächweist,  (S.  87),  zu  diesem  Werke 
Aktenstücke  von  den  fürstlichen  Käthen  Ficinus 
und  Walther  zur  Verfügung  erhielt,  so  hat  er, 
soweit  ich  mich  aus  der  Lectüre  des  Gedichts 
erinnere,  dieselbe  keineswegs  zu  einer  wirklich 
historischen  Darstellung  benutzt,  -sondern  nur 
ein  Gelegenheitsgedicht  geliefert,  dessen  Quel- 
lenwerth noch  dadurch  verdächtigt  wird,  dass 
es  offenbar  zu  dem  Zwecke  verfasst  wurde,  des 
Besungenen  Gunst  zu  erringen,  und  von  ihm 
eine  Anstellung  an  der  neubegründeten  Marbur- 
ger  Universität  zu  erhalten.  Jedenfalls  aber 
hätte  das  Gedicht  mit  sonstigen  Darstellungen 
verglichen,  sein  Werth  geprüft  werden  müssen. 


Schwertzell,  Helms  Eobanus  Hessus.  397 

Endlich  hätte  die  Frage,  ob  Eoban  wirklich 
deutsche  Lieder  gedichtet  habe,  eine  ge- 
j saue  Erwägung,  nicht  bloss  eine  gelegentliche 
i Bemerkung  verdient,  wie  sie  bei  Schw.  S.  15 
A.  17,  vgl.  auch  S.  64  A.  63  enthalten  ist.  Es 
wäre  sehr  merkwürdig,  wenn  es  sich  wirklich 
nachweisen  liesse , denn  sonst  gehört  Eoban 
grade  zu  den  Humanisten,  die,  trotzdem  sie 
ihrer  Gesinnung  nach,  die  besten  Deutschen 
sind  und  mit  ganzem  Herzen  an  der  echt  deut- 
schen Bewegung,  der  Reformation,  theilnehmen, 
die  deutsche  Sprache  in  den  Bann  ge^ban  zu 
haben  scheinen  und  sich  ihrer  niemals,  weder 
in  Briefen,  noch  in  Schriften  bedienen. 

Gegenüber  diesem  Mangel  unserer  Schrift 
hebe  ich  gern  das  Verdienst  hervor,  das  in 
einer  übersichtlichen,  klaren  und  genauen  Er- 
zählung von  Eoban’s  Lebensverhältnissen  be- 
steht. In  dieser  sind  wiederum  besonders  die 
Abschnitte  zu  loben,  welche  Eobans  Aufenthalt 
ausserhalb  Erfurt’s  behandeln,  also  der  4.  und 
6.,  denn  Alles,  was  über  Erfurt  berichtet  wird, 
kann  nur  als  immerhin  selbstständige,  aber  doch 
dem  Inhalte  nach  nicht  veränderte  Wiedergabe  der 
betreffenden  Abschnitte  aus  Kampschul tes 
unübertrefflicher  Schilderung  gelten.  Aus  den  bei- 
den genannten  Capiteln,  welche  die  Wirksamkeit  in 
Nürnberg  und  Marburg  zum  Gegenstand  haben, 
sind  besonders  die  Bemerkungen  über  den  Nürn- 
berger Gelehrten-  und  Freundeskreis  hervorzu- 
heben: Joachim  Cammerarius,  dessen 
»Leben  Eoban’s«  von  unserm  Verf.  gebührend 
gewürdigt,  wenn  auch  nicht  im  Einzelnen  kri- 
tisch genug  behandelt  wird;  Roting,  der  mit 
dem  Ebengenannten  und  Eoban  zusammen  die 
glänzend  ausgestattete  Nürnberger  Schule  leitete 
und  zu  einer  Musteranstalt,  besonders  für  Süd- 


L 


398  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 

deutschland,  erhob;  Baumgärtner,  der  für 
das  Wohl  der  Stadt  und  die  Ausbreitung  der 
Reformation  unermüdlich  thätige  Patricier, 
Pirckheimer,  dessen  kühles,  oft  schroffes 
Wesen  den  warmherzigen  Dichter,  dessen  Zu- 
neigung zur  alten  Richtung  den  der  neuen  Lehre 
ergebenen  Jünger  manchmal  abstiess,  endlich 
Albrecht  Dürer,  der  „unsem  Poeten  auch 
gemalt  hat,  ohne  dass  freilich  das  Original  die- 
ses Bildes  sich  erhalten  hat,  ein  Verlust,  der 
durch  die  erhaltenen  schlechten  Gopieen  nur 
fühlbarer  gemacht  wird.  Werthvoll  sind  ferner 
die  Auseinandersetzungen  über  die  Uebersetzun- 
gen  Eobans  aus  dem  Griechischen:  Theokrit, 
Ilias  (s.  u.);  und  die  Mittheilungen  über  zwei 
Schriften , eine  populär-medicinische , welche 
von  der  Erhaltung  der  Gesundheit  handelt, 
und  eine  andere,  ein  düsteres  Zeitgemälde,  das 
im  J.  1528  entstand  und  u.  d.  T.:  »Klage 
über  die  Verwirrung  unserer  Zeit«  veröffentlicht 
wurde. 

In  diesem  Gedicht,  sowie  in  vielen  andern 
Dichtungen  und  Briefen  tritt  Eoban’s  eigen- 
tümliche Auffassung,  die  zwischen  der  in  Eras- 
mus verkörperten  alt-humanistischen,  und  der 
durch  Luther  ausgedrückten  echt  refor matorischen 
gleich  weit  entfernt  ist,  deutlich  hervor,  wird 
von  unserm  Verf.  klar  und  entschieden  erfasst 
und  augenscheinlich  gebilligt.  Auch  dies  möchte 
ich  als  einen  Vorzug  unserer  Schrift  bezeichnen. 
Denn  man  findet  es  sonst  selten,  dass  die  echt 
humanistische  Gesinnung,  die  in  Hutten  ihren 
bedeutendsten  Träger  besass,  nach  seinem  Tode 
aber  nur  von  Wenigen  bekannt  wurde,  als  eine 
gerechtfertigte  anerkannt  wird,  die  Gesinnung, 
dass  die  politische  und  geistige  Befreiung  und 
Bildung  unbehindert  von  religiösen  Verschieden- 


Schwertzell,  Helius  Eobanns  Hessus.  399 

beiten  und  Kämpfen  weiter  ihren  Weg  gehen 
m&886  und  zum  Ziele  führen  würde. 

In  Schwertzell’s  Buch  tritt  der  kritische 
Theil  hinter  dem  darstellenden  zurück,  doch 
werden  auch  auftauchende  kritische  Fragen  ge- 
wissenhaft und  geschickt  erledigt.  In  den  drei 
bei  Gelegenheit  der  Besprechung  der  Krause’- 
schen  Arbeit  erwähnten  Streitfragen  über  Eo- 
bans Geburtsjahr,  -ort,  und  Familiennamen 
kommt  Schw.  zu  demselben  Resultat,  wie  Kr., 
(dessen  Arbeit  ihm  übrigens  unbekannt  geblie- 
ben zn  sein  scheint),  nur  dass  er  als  Geburts- 
ort, wol  mit  Unrecht,  ßockendorf,  nicht  Halge- 
bansen  annimmt;  den  sonstigen  kritischen  Unter- 
suchungen über  Eoban’8  Todestag,  Verheirathung 
etc.  ist  zuzustimmen.  Besondere  Gelegenheit  zu 
kritischen  Bemerkungen  gibt  dem  Verf.  der  An- 
hang, welcher  ein  chronologisches  Verzeichniss 
der  in  der  eobanischen  Briefsammlung  (Marb. 
1543)  abgedruckten  Briefe  an  und  von  E.  ent- 
hält. Doch  wäre  es  wünschens werth  gewesen, 
wenn  der  Verf.  in  dies  Verzeichniss  auch  die 
wenigen,  an  anderen  Orten  gedruckten,  Briefe 
von  und  an  Eoban  aufgenommen  hätte:  den 
Brief  E’s  an  Reuchlin,  6.  Jan.  1515,  die  3 von 
Booking,  Hntt.  Opp.  II,  68 — 75  mitgetheilten 
Briefe  n.  s.  w.  Ferner  wäre  eine  Auflösung  der 
nur  durch  Feste  und  Heiligentage  bestimmten 
Daten  am  Platze  gewesen. 

Auch  sonst  sind  im  Einzelnen  einige  Aus- 
stellungen zu  machen.  S.  6 wird  eine  Schilde- 
rung der  Freunde  Eoban’s  in  der  ersten  erfurter 
Zeit  vermisst , die  nach  dem  Mutianschen  Brief- 
mscr.  in  Frankfurt  a.  M.,  dessen  Benutzung  der 
Biograph  Eobans  nicht  unterlassen  sollte,  leicht 
hätte  entworfen  werden  können;  S.  25  eine 
Mittheilung  darüber,  worin  die  von  E.  durchge- 
setzte Universitätsreform  besteht;  aus  der  S.  24 


400  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stock  13. 

abgedruckten  Stelle  geht  hervor,  dass  E.  1517, 
nicht  1516  Professor  in  Erfurt  wurde.  Strauss9 
Hutten  wird  nach  der  ersten  Auflage  citirt  und 
dadurch  an  manchen  Stellen  Bemerkungen  auf- 
genommen, die  nach  der  neuen  Auflage  nicht 
passen;  aus  Strauss  (S.  132 fg.)  hätte  übrigens 
der  poetische  Briefwechsel  zwischen  Hutten  und 
Eoban,  in  welchem  der  Eine  im  Namen  Italiens, 
der  Andre  im  Namen  des  Kaisers  die  politi- 
schen Zustände  bespricht;  aus  dems.  (S.  529) 
der  Brief  Huttens,  in  welchem  er  den  Eoban 
bittet,  sein  letztes  Werk,  den  Dialog  Arminias, 
zu  veröffentlichen,  an  rechter  Stelle  Aufnahme 
verdient.  Der  Abschnitt  über  die  Dunkelmänner- 
briefe hätte,  da  er  nur  Bekanntes  etwas  breit 
wiederholt,  fortbleiben  können;  sehr  auffallend 
ist  dabei,  dass  der  Brief  eines  Unbekannten  an 
Grotus  noch  dem  Justus  Jonas  zugeschrieben 
wird.  Zu  S.  39.  Der  Brief  Huttens  an  Eoban 
(21.  Juli  1523)  ist  nicht  das  Letzte,  was  H.  ge- 
schrieben hat,  — wir  besitzen  noch  spätere 
Briefe  an  Zwingli  und  Prugner  — ; übrigens  ist 
H.  nicht  am  23.  Aug.,  sondern  am  31.,  oder 
am  1.  Sept.  gestorben.  S.  45  A.  88  ist  der 
an  zweiter  Stelle  mitgetheilte  Brief  früher  als 
der  erste.  S.  110  fg.  hätte  erwähnt  werden 
können,  dass  ein  Theil  der  Predigt  des  Joh. 
Drakonites  auch  in  Lauze’s  Chronik  S.  437  fg. 
steht;  aus  diesem  Bruchstück  ist  auch  der  S. 
114  A.  67  mitgetheilte  Ausdruck,  der  daher 
nicht  Lauze  zugeschrieben  werden  darf;  Lauze’s 
bestimmte  Behauptung  (S.  435),  dass  E.  erst 
1537  nach  Marburg  gekommen  sei,  hätte  eine 
Berichtigung  verdient.  Ebenso  musste  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  E.’s  Selbstlob  (S.  107): 
»das  Unternehmen  einer  Iliasübersetzung  sei  vor- 
her noch  von  keinem  Manne  irgend  einer  Nation 


Schwertzell,  Helios  Eobanus  Hessus.  401 

versucht  worden«,  nicht  gerechtfertigt  ist.  (Vgl. 
Vahlen:  Laurentii  Vallae  opuscula  tria  Wien 
1869  S.  74—100).  S.  Ill  A.  57  ist,  um  den 
Ungrund  der  Behauptung  Strieders  zu  zeigen, 
nach  conjugum  ein  Komma  zu  setzen;  das  Ge- 
dicht mag  immerhin  von  Eoban  sein,  bezieht 
rieh  aber  nicht  auf  seine  Verheirathung. 

Es  wäre  erfreulich,  wenn  der  Verfasser  die- 
ser tüchtigen  Erstlingsleistung  andere  Arbeiten, 
welche  dasselbe  Gebiet  behandeln,  folgen  lassen 
wollte;  der  erste  Biograph  seines  Helden,  Joa- 
chim Gamerarius,  entbehrt  noch  durchaus  einer 
genügenden  Darstellung,  zu  welcher  die  herr- 
liche Camerarische  Sammlung  in  München,  de- 
ren Schätze  in  diesen  Tagen  durch  einen  voll- 
ständigen Catalog  allgemein  bekannt  gemacht 
worden  sind,  den  Stoff  in  reichster  Fülle  bietet. 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


Annalen  der  Physik  und  Chemie.  Jubelband, 
dem  Herausgeber  J.  C.  Poggendorff  zur 
Feier  fünfzigjährigen  Wirkens  gewidmet.  Mit 
6 Figurentafeln.  Leipzig  1874.  Verlag  von  J. 
A.  Barth. 


Es  sind  50  Jahre  verflossen,  seitdem  Prof. 
Poggendorff  die  Herausgabe  der  Annalen 
der  Physik  und  Chemie  übernommen  hat,  und 
in  diesem  Zeitraum  hat  derselbe  in  ununter- 
brochener Reihe  150  Bände  nebst  6 Supple- 
mentbänden von  diesem  wichtigen  Werke  er- 
scheinen lassen.  Eine  so  grosse  Thätigkeit  ist 
®m  so  mehr  anzuerkennen,  als  er  während  des- 
sen noch  Zeit  fand,  auch  durch  eigene  For- 

26 


402  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 

schlingen  die  physikalische  Wissenschaft  zu  for- 
dern. Mit  seinen  wichtigen  Entdeckungen  und 
den  Annalen  wird  sein  Name  für  immer  ruhm- 
voll verknüpft  bleiben.  Durch  die  rein  wissen- 
schaftliche Haltung  und  die  strenge  Kritik,  mit 
denen  er  die  Herausgabe  der  Annalen  leitete, 
hat  er  sie  zu  dem  Hauptorgan  für  die  Physik, 
zu  der  Quelle  für  alle  die  grossen  Leistungen 
gemacht,  durch  die  sich  seit  50  Jahren  das  Ge- 
biet der  Physik  so  ausserordentlich  erweitert 
hat.  Auch  der  Chemie  und  Mineralogie  wid- 
mete er  durch  Aufnahme  einzelner  bedeutende- 
rer Abhandlungen  seine  Aufmerksamkeit,  wie- 
wohl diese  Fächer  nach  und  nach  eine  mehr 
untergeordnete  Stelle  einnahmen,  da  für  sie,  na- 
mentlich durch  die  Liebig1  sehen  »Annalen« 
andere  Organe  vorhanden  waren.  — So  viel- 
jähriger Thätigkeit  und  so  grossen  Verdiensten 
eine  öffentliche  Anerkennung  werden  zu  lassen, 
entsprach  einem  ganz  natürlichen  Gefühl;  es 
war  daher  ein  glücklicher  Gedanke  des  Ver- 
legers der  Annalen,  des  Herrn  j.  A.  Barth 
jun.  in  Leipzig,  und  einiger  der  älteren  Mit- 
arbeiter, ihrerseits  und  ohne  Mitwirkung  des 
Herausgebers,  einen  Jubelband  der  Annalen  zu 
veranstalten,  der  diese  Epoche  in  dem  lang- 
jährigen Bestehen  derselben  bezeichnen  sollte. 
Dieser  Band  ist  nun  als  Ehrengabe  am  28.  Fe- 
bruar d.  J.  im  Namen  der  Mitarbeiter  dem  Ju- 
bilar feierlich  überreicht  worden.  Beiträge  dazu 
waren  in  Fülle  eingelaufen  und  bilden  nun 
diesen , nicht  bloss  durch  seinen  Inhalt  be- 
deutenden, sondern  auch  durch  die  prächtige 
äussere  Ausstattung  und  die  wohl  gelungene 
Photographie  von  Poggendorff  so  ausgezeich- 
neten Jubelband.  Dazu  kamen  hohe  Ehrenbe- 
zeugungen und,  von  Seiten  des  Herrn  Verle- 


Poggendorff,  Azmalen  d.  Physik  u.  Chemie.  403 

| gers,  ein  ebenso  sinniges  als  kostbares  An* 
denken,  und  während  des  Festmahles,  mit  dem 
der  Tag  in  üblicher  Weise  gefeiert  wurde, 
Glückwünsche  aus  fast  allen  Ländern  Europas. 

; — Nur  wenige  von  den  Mitarbeitern  aus  der 

| früheren  Periode,  zu  denen  Berzelius,  v.  Hum- 

boldt, L.  v . Buch,  Mitscherlich,  die  Bosefs,  Liebig, 
Faraday  u.  a.  gehörten,  sind  noch  übrig,  und 
von  den  Beitragenden  zu  dem  ersten  Band  ist 
nur  einer  noch  am  Leben. 

Ausser  XIV  Seiten  Zueignung  und  Rückblick 
machen  die  63  Abhandlungen,  woraus  dieser 
Band  besteht,  682  Seiten  aus.  Diese  Abhand- 
lungen sind  folgende: 

Angstrom,  über  das  Spectrum  des  Nordlichts, 
Barentin , zu  Poggendorffs  Fallmaschine,  Beetz , 

! über  die  Leitungsfähigkeit  des  Glases  fürElectr. 
j u.  Wärme,  v.  Bezold,  über  binocul . Farbenmischung, 

! Blaserna,  über  d.  Entwickl.,  den  Verlauf  u.  die 
: Dauer  der  Extraströme,  Du  Bois-Reymond,  fortges. 

Beschreibung  neuer  Vorrichtungen  für  Zwecke 
der  alldem.  Nerven-  und  Muskelphysik,  Boltz- 
\ mm,  über  den  Zusammenhang  zwischen  der 
i Drehung  der  Polarisationsebene  u.  der  Wellenl. 

| der  verschied.  Farben,  Bosscha,  über  die  spec. 
Wärme  des  Wassers  bei  verschied.  Temperatur, 
Böttger,  über  Aufbewahrung,  u.  Eigensch.  eines 
| electrolytisch  mit  Wasserstoff  übersättigt.  Pal- 
I ladiumbleches,  Böttger , über  das  Verhalt,  der 
Uebermangansäure  zu  verschied.  Stoffen,  Buff, 
über  die  Biegungs-Elasticität,  Clausius,  über 
verschiedene  Formen  des  Virials,  Dove,  über  die 
meteorol.  Unterschiede  der  Nordhälfte  u.  Süd- 
hälfte der  Erde,  Dufour,  Untersuchungen  über 
die  Reflexion  von  Sonnenwärme  auf  dem  Gen- 
fer See,  Edlund,  über  die  Wärmewirkung 
electr.  Disjunctionsströme,  Ehrenberg,  über  einige 

26* 


404  G5tt.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 

physik.  und  kosmische  Erscheinungen  in  Nord- 
afrika und  Westasien,  Fechner , über  d.  Best, 
des  wahrscheinlichen  Fehlers  eines  Beobachtungs- 
mittels durch  d.  Summe  d.  einfachen  Abweich., 
Feddersen,  über  elektrisches  Glimmlicht,  v.  Fei- 
litsch , die  Orte  gleicher  norm.  Intens,  im  Magnet- 
feld eines  galvan.  Kreisstromes,  Galle,  über  eine 
am  l.Febr.  1873  zu  Breslau  über  einer  Feuers- 
brunst beob.  Lichtsäule,  Hagenbach , fernere 
Versuche  über  Fluorescenz,  Hankel , über  ther- 
moelektr.  Eigensch.  des  Topases,  Schwerspathes 
und  Aragonites,  Helmholt# , die  theoret.  Grenze 
f.  d.  Leistungsfähigkeit  d.  Miskroscope,  Hittorf \ 
über  die  Elektricitätsleitung  d.  Gase,  Jolly,  über 
d.  Ausdehnungscoeff.  einiger  Gase  und  über 
Luftthermometer,  Karsten , über  d.  wissensch. 
Untersuchung  der  Ostsee  und  Nordsee,  Kettder , 
das  spec.  Gesetz  d.  sogen,  anomalen  Dispersion, 
Knoblmch , über  die  Reflexion  d.  Wärme-  und 
Lichtstrahlen  v.  geneigten  diatherm.  und  durch- 
sicht.  Platten,  Kohlrausch,  über  d.  Wirkung  d. 
Polarisation  auf  alternir.  Ströme  und  einen  Si- 
nusinduktor, Koosen,  über  einige  Eigenthümlich- 
lichk.  der  galvan.  Polarisation  insbes.  in  d.  Kali- 
Hypermangankette,  Kundt,  über  einige  Beziehun- 
gen zw.  d.  Dispersion  und  Absorption  des  Lich- 
tes, Lommel,  über  d.  Lichtschein  in  d.  Schatten 
des  Kopfes,  Melde,  Beschreibung  eines  Wellen- 
appar.  insbes.  z.  Versinnlichung  des  Zustande- 
kommens Chladnischer  Klangfig.,  Meyer , hydrau- 
lische Untersuchungen,  J.  Müller , Beziehungen  d. 
Brennweite  u.  d.  conjug.  Punkte  einer  Linse  d. 
eine  neue  Formel  dargestellt,  J.J.  Müller,  über  d. 
spec.  Wärme  d.  gesätt.  Dämpfe,  Oettingen , über 
d.  künstl.  herbeigef.  Interruption  d.  oscillator. 
Entlad,  einer  Leydener  Batterie  u.  über  d.  Ge- 
setz d.  elektr.  Schlagweite,  Paaltow,  über  d. 


1 Poggendorff,  Annalen  d.  Physik  n.  Chemie.  405 

i 

| elektromot.  Kraft  v.  Flüssigkeitsketten,  JPfau/ndr 

\ ler , der  »Kampf  ums  Dasein«  unter  d.  Mole- 

! külen  ? ein  weiterer  Beitrag  z.  ehern.  Statik, 
r Quincke , über  d.  Bestimmung  des  Haupteinfalls- 

winkeis  und  Hauptazimuths  f.  d.  verschied.  Fraun- 
hoferschen  Linien,  Rammeisberg , Fortschritte  d. 
Mineralogie,  wie  sie  seit  50  Jahren  aus  Pogg. 
Ann.  sich  ergeben,  vom  Rath,  einige  Studien 
über  Quarz,  Kupferkies  u.  Albit  (siehe  auch 
Reusch),  Reusch  und  vom  Rath , über  farben- 
schillernde Quarze  vom  Weisseiberg  bei  Ober- 
kirchen unweit  St.  Wendel,  Rieche,  zur  Theorie 
d.  dielektr.  Mittel,  Riess,  über  d.  elektr.  Influenz 
eines  Nichtleiters  auf  sich  selbst,  de  la  Rive  u. 
Sarasin , einige  Versuche  über  d.  Wirkungen  d. 
Magnetismus  auf  d.  elektr.  in  d.  Verlängerung 
d.  Axe  d.  Magneten  stattfind.  Entlad,  in  e.  ver- 
dünnten Gase,  Rudorff , über  d.  Bunsensche 
Photometer,  Sarasin  (siehe  Rive),  Scheerer , über 
d.  Bildung  der  erzbegleit.  Mineralien,  Schneider , 
über  neue  Schwefelsalze,  Schröder , Untersuchun- 
gen üb.  d.  Volumtheorie  einiger  Oxyde,  Siemens , 
direkte  Messung  des  Widerst,  galvan.  Ketten, 
Soret,  Spektroskop  mit  flurenscirendem  Ocular, 
Thomsen9  über  d.  Constitution  der  Chlorwasser- 
stoffsäure und  d.  Chlorwasserstoffs.  Salze,  Töpler, 
über  d.  Herstellung  vorausbest,  period.  Luft- 
beweg. mit  d.  Sirene,  TyndaU9  vorläuf.  Mittheil, 
über  e.  Untersuchung  d.  Fortpflanzung  d.  Schal- 
les durch  d.  Atmosphäre,  Waltenhofen,  über  ein 
allgem.  Theorem,  z.  Berechn,  d.  Wirkung  mag- 
netisirender  Spiralen,  Wilhelm  Weber , über  d. 
Aequivalent  leb.  Kräfte,  Wiedemann,  über  d. 
Dissociation  d.  wasserhaltigen  Salze,  Wüd,  Neu- 
manns Methode  z.  Vermeidung  des  v.  Biegungen 
herrühr.  Fehlers  bei  auf  d.  Oberfl.  getheilten 
Strichmaassen , Willigen , über  Interferenzer- 


406  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 


scheinungen  einax.  Krystallplatten  in  polaris. 
Lichte,  WüUner , Studien  über  d.  Entlad,  des 
lnduktionsstr.  in  mit  verd.  Gasen  gefüllten  Räu- 
men, Zöllner , photometr.  Untersuch,  über  d. 
physische  Beschaffenheit  d.  Planeten  Merkur. 


The  Palaeographical  Society.  Facsimiles  of 
Ancient  Manuscripts.  Pätt.  I.  Edited  by  E. 
A.  Bond  and  E.  M.  Thompson.  London: 
Printed  by  Whittingham  and  Wilkins  at  the 
Chiswick  Press.  1873.  (25  Bl.  Gross  Folio). 

Vor  acht  Monaten  etwa  erliessen  in  London 
die  Vorstände  des  Britischen  Museums  und  des 
Public  Record  Office,  der  Bodleyschen  Bibliothek 
in  Oxford  und  der  öffentlichen  Bibliothek  der 
Universität  Cambridge  nebst  einigen  anderen 
Gelehrten  und  Freunden  der  Handschriften- 
kunde einen  Aufruf  zur  Bildung  einer  Paläo- 
graphischen  Gesellschaft.  Er  hat  so  viel  An- 
klang gefunden,  dass  heute  schon  die  erste 
Lieferung  einer  grossartigen  Sammlung  von 
Schriftproben,  bestehend  aus  zwölf  facsimilirten 
Tafeln  mit  eben  so  vielen  Blättern  Text  im 
grössten  Folio  und  prächtigster  Ausstattung, 
herausgegeben  von  E.  A.  Bond  und  E.  M. 
Thompson,  Beamten  des  Manuscript  Department 
im  Britischen  Museum,  vorliegt,  die  sich  neben 
dem  Besten,  was  wir  der  Art  bisher  besitzen, 
wie  Sickels  Monumenta  Graphica,  sehr  wohl 
kann  sehn  lassen.  Die  Mittel,  welche  so  rasch 
flüssig  gemacht  worden,  die  Prachtstücke  alten 
Schriftwesens,  über  die  man  zu  verfügen  hat, 
eine  Officin,  welche  sich  längst  durch  Herstel- 


407 


I The  Palaeographies!  Society.  I. 

lung  herrlicher  Druckwerke  einen  Namen  ge- 
macht hat,  und  die  Energie,  mit  welcher  eine 
solche  Arbeit,  einmal  von  Engländern  in  die 
Hand  genommen,  betrieben  zu  werden  pflegt, 
i lassen  in  der  That  Vorzügliches  erwarten. 

I Ein  kurzes  Vorwort  spricht  sich  über  den 
1 Zweck  des  Unternehmens  so  wie  über  die  Aus- 

! wähl  und  Behandlung  der  Proben  aus.  Es 

gilt  vor  Allem  dem  wissenschaftlichen  Studium 
der  Paläographie  durch  genaue  Wiedergabe  der 
Schrift  und  Verzierung  alter  Manuscripte  eine 
sichere  Grundlage  zu  verschaffen.  Die  beste 
Methode  dauernden  Abdrucks  nach  Photogra- 
phien soll  dazu  angewendet  und  jedem  Stück 
die  nöthige  Erläuterung  seiner  Eigenthümlich- 
keiten  beigegeben  werden.  Die  ersten  zwölf 
| Tafeln  mit  dreizehn  Facsimiles  schöpfen  aller- 
| dings  vorwiegend  aus  englischen  Handschriften, 
greifen  aber  aus  dem  Mittelalter  wie  in  das 
Alterthum  so  auch  in  die  Fremde  hinüber,  um 
neben  den  irischen  und  englischen  die  typisch 
continentalen  Schriftschulen  vorzuführen.  So 
I sind  die  ältesten  und  wichtigsten  Codices  der 

Pariser  Bibliothek  bereits  im  Einverständnis 
| mit  dem  bewährten  Vorstand  M.  Delisle  zur 

Anfertigung  von  Abdrücken  untersucht  und 
auserlesen.  In  der  Regel  soll  jedem  Blatt  ein 
Blatt  Erläuterung  entsprechen,  diese  aber  sich 
auf  das  Wesentlichste,  auf  Zustand,  Alter  und 
Herkunft  des  Manuscripts,  die  charakteristischen 
Merkmale  der  Hand,  Anfertigung  und  Ausfüh- 
' rung,  Angabe  der  bei  der  Ornamentik  ange- 

wendeten Farben  und  Uebertragung  des  Texts 
in  gewöhnlichen  Druck  beschränken.  Der 
schöne  Anfang  ist  durchaus  geeignet,  der  gegen 
einen  Jahresbeitrag  von  7 Thalern  nicht  uner- 


408  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  13« 


schwinglichen  Publication  eine  günstige  Aufnahme 
zu  sichern. 

Auf  der  ersten  Tafel  ist  ein  aus  dem  Se- 
rapeum  zu  Memphis  stammender,  jetzt  dem  Bri- 
tischen Museum  gehörender  Papyrus  mit  unver- 
gleichlicher Deutlichkeit  des  Gewebes,  der  Fal- 
ten und  Brüche  abgebildet,  eine  an  sich  nicht 
seltene  und  oft  genug  beschriebene  Art  von 
Documenten.  Das  vorliegende  Stück  enthält 
eine  Bittschrift  in  griechischer  Sprache  aus  den 
Tagen  des  Ptolemaeus  Philometor  um  das  Jahr 
152  v.  Chr.  in  Uncialen,  ohne  Trennung  der 
Worte,  ohne  Accent  und  Spiritus,  ohne  Inter- 
punction  geschrieben.  Doch  zeigen  mehrere 
Buchstaben  die  Hinneigung  zu  cursiver  Form. 
Hieran  schliesst  sich  gleichfalls  aus  dem  Briti- 
schen Museum  ein  lateinischer  Papyrus,  der 
aber  viel  später,  und  zwar  erst  in  Ravenna  im 
Jahre  572  n.  Chr.  geschrieben  ist,  ein  Verkaufs- 
act aus  dem  siebenten  Jahre  Justins  H.  Von 
der  8 Vs  Fuss  langen  Rolle  ist  nur  der  Schluss, 
etwa  l1/*  Fuss,  photographisch  abgenommen  wor- 
den. Er  genügt  vollkommen,  um  die  interessante 
römische  Cursive,  mit  welcher  in  der  Folge  die 
Diplome  der  Merovingerzeit  ungemeine  Aehn- 
lichkeit  zeigen,  in  der  vielfachen  Combination 
der  Buchstaben,  monogrammatischen  Zusammen- 
ziehungen und  gewohnheitsmässigen  Ligaturen 
nach  allen  Richtungen  zu  erforschen. 

Die  nächsten  vier  Tafeln  sind  sämmtlich 
einer  und  derselben  Handschrift,  dem  berühm- 
ten Evangelienbuche  von  Lindisfarne  (Brit.  Mus. 
Ms.  Cotton.  Nero  D.  IV.),  entnommen,  als 
herrlichstes  Beispiel  früh  englischer  Kunst.  Am 
Ende  des  Codex  hat  in  einer  Hand  des  zehn- 
ten Jahrhunderts  der  Priester  Aldred  die  sehr 
willkommenen  Notizen  hinzufügt,  dass  Bischof 


The  Palaeographical  Society.  I.  409 

Eodfrith  von  Lindisfarne  (698 — 721)  das  Bach 
geschrieben,  Bischof  Ethilwald  (724—740)  es 
üluminirt,  Stillfrith  der  Eremit  den  mit  Juwelen 
besetzten  Einband  hergestellt  und  er  selber,  Al- 
dred,  — in  der  cursiven  Schrift  seiner  Zeit  — 
die  Glosse  hinzugefügt  habe,  jene  linguistisch 
so  wichtige,  unter  dem  Namen  des  Durham 
Book  bekannte  northumbrische  Uebersetzung, 
welche  neuerdings  von  Joseph  Stevenson  heraus- 
gegeben worden  ist.  Eine  bessere  Datirung 
lässt  sich  schlechterdings  nicht  wünschen  für 
ein  Pracbtwerk,  das  in  Baedas  Tagen  und  in 
seiner  Nähe  entstand,  wo  die  emsigen  Northum- 
brier  den  scotischen  Sohreibemeistern  die  Ge- 
heimnisse ihrer  Kunst  ablauschten.  Es  ist  eine 
Freude,  diese  schönen  Uncialen  in  ihren  speci- 
fisch  nationalen  Formen,  in  ihren  doppelten, 
fest  abgesteckten  Columnen  mit  schon  sichtbar 
werdender  Worttrennung  — nur  einsilbige  Wör- 
ter hängen  sich  dem  folgenden  an  — zu  lesen. 
Die  Herausgeber  haben  es  sich  angelegen  sein 
lassen,  über  die  sorgfältige  Behandlung  des 
Pergaments,  die  wenigen  regelmässig  wieder- 
kehrenden Zusammenziehungen  und  Kürzungen 
der  Schrift,  die  ungewöhnlichen  Züge  einzelner 
Buchstaben,  die  reiche,  leider  nicht  durch  Far- 
bendruck wiedergegebene  Verzierung  der  Initia- 
len und  Vorsatzblätter,  über  gelegentliches  Ci- 
tat,  Corrector  und  Einschaltung  die  nöthigste 
Erläuterung  beizufügen.  Die  in  meisterhaft 
photographischer  Nachbildung  hier  und  da  durch- 
schimmernde zweite  Schrift  wird  schwerlich,  wie 
der  Beschauer  zuerst  geneigt  sein  dürfte  anzu- 
nehmen, als  Palimpsest  zu  deuten  sein,  sondern 
rührt  von  den  nicht  minder  kräftigen  farbigen 
oder  dunkelschwarzen  Schriftzügen  der  Gegen- 
seite her.  Man  wird  dies  besonders  auf  Tafel  V 


410  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  13. 

bestätigt  finden,  dem  ganz  unvergleichlichen 
Vorsatzblatt  zum  Evangelium  Johannis,  einer 
grossen  kreuzartigen  Vignette , architektonisch 
und  musivisch  in  unendlich  gewundenen  stets 
wiederkehrenden,  bestimmte  phantastische  Vo- 
gelgestalten umschlingenden  Schnörkeln  aufge- 
baut und  in  einer  Fülle  von  Farben  illuminirt, 
auf  welchem  die  in  Gold  eingebrannten  Worte 
des  nächst  folgenden  Blatts  + Johannis  aquila 
durchschimmern.  Während  Tafel  III  eine  ge- 
wöhnliche Seite  des  Bandes,  die  Endverse  des 
vierten  und  die  Anfangsverse  des  fünften  Capi- 
tels  Matthäi  reproducirt,  ist  auf  Tafel  IV  das 
Anfangsblatt  dieses  Evangelisten  abgebildet,  wo 
die  in  schon  angedeutetem  Prachtstil  verzierte 
und  gemalte  Capitale  L die  ersten  Worte  bis  zu 
CMLII  ABRAHAM  — das  0 erscheint  ganz 
vereinzelt  und  um  so  merkwürdiger  — völlig 
umspannt,  und  desgleichen  auf  Tafel  VI  Titel 
und  Anfang  des  Evangeliums  Johannis,  wo  In 
Principio  in  mächtigen  Initialen  mit  ähnlicher 
Ornamentik  auch  die  nächst  folgenden  Worte 
beherrschen. 

Eine  viel  einfachere,  weiter  gebildete  engli- 
sche Schrift  aus  der  zweiten  Hälfte  des  achten 
Jahrhunderts  wird  auf  der  siebenten  Tafel  an 
einer  Seite  eines  aus  dem  Kloster  St.  Augustin 
zu  Canterbury  stammenden,  jetzt  gleichfalls  im 
Britischen  Museum  bewahrten  Evangeliumbuchs 
vorgeführt.  Die  englische  Halbunciale  zeigt 
kleine  Intervalle  zwischen  den  Wörtern,  wäh- 
rend Präpositionen  und  ähnliche  Einsilben  sich 
mit  dem  nachfolgenden  Worte  verbinden.  Zu- 
sammenziehungen und  Abkürzungen  werden  et- 
was häufiger,  Punct  und  Komma  erscheinen  ver- 
einzelt. Viele  Buchstaben  haben  weiter  ent- 
wickelte, schon  theilweise  cursive  Form  ange- 


411 


The  Palaeographical  Society.  I. 

nommen.  Eine  gleichzeitige  cursive  Hand  hat 
den  Codex  durchcorrigirt.  Wegen  einiger  schon 
illnminirter  Blätter  wird,  wie  bei  den  vorher- 
gehenden Tafeln,  auf  Westwood’s  Miniatures  and 
Ornaments  of  Irish  and  Anglo-Saxon  Manuscripts 
verwiesen. 

Die  achte  und  neunte  Tafel  sind  einer  Pa- 
riser Handschrift  des  achten  Jahrhunderts, 
einer  Kanonsammlung,  entnommen.  Das  ausge- 
wählte Stück  handelt  von  einem  dem  Athana- 
sianischen  nahe  verwandten  Glaubensbekennt- 
nis, welches  der  Schreiber  aus  einem  Trierer 
Manu8script  entlehnt.  Die  Schrift  ist  die  lom- 
bardische Minuskel.  Titel  und  Capitel überschrif - 
ten  werden  durch  Unciale  und  Halbunciale  her- 
vorgehoben. Contractionen  und  Ligaturen,  so 
wie  die  namentlich  in  der  obersten  Zeile  ge- 
rade und  weit  in  die  Höhe  gezogenen  Buchsta- 
ben b d h 1 verrathen  die  continentale  Hand, 
wie  sie  zu  Anfang  der  karolingischen  Periode 
weit  verbreitet  war. 

Nun  folgen  Beispiele  der  frühsten  englischen 
Urkunden.  Das  erste  Stück,  Tafel  X,  eine  Land- 
veracbreibung  der  drei  Brüder  Eanberht,  Uhc- 
tred  und  Aldred,  die  sich  sämmtlich  regulus 
betiteln,  d.  h.  Unterkönig  der  Hwiocas  in  Wor- 
cestershire, ist  vom  Februar  759  Indiction  XII 
datirt  und  durchweg,  auch  die  Zeugen  einge- 
schlossen , unter  denen  Offa  König  der  Mercier 
und  Mildred  Bischof  von  Worcester  erscheinen, 
von  einer  Hand  geschrieben,  deren  feste,  den 
Uebergang  von  der  Unciale  zur  Cursive  veran- 
schaulichenden Formen  vielfach  an  die  ungefähr 
gleichzeitige  Schrift  des  Evangelienbuchs  aus 
Canterbury  auf  Tafel  Vn  erinnern.  In  dem 
zweiten  Stück,  Tafel  XI,  datirt  812  mit  Indiction 
und  königlichem  und  erzbischöflichem  Regie- 


412  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stfick  13. 


rungsjahr,  tauschen  Coenuulf  von  Mercien  und 
Wulfred  von  Canterbury  gewisse  mit  dem  Laufe 
ihrer  Grenzen  angegebene  Ländereien  aus.  Die 
sehr  regelmässige  Schrift  weicht  in  der  ausge- 
bildeten Cursive , durch  bestimmte  Wort- 
trennung und  eine  gewisse  steile  Form  der 
Buchstaben  keineswegs  unvorteilhaft  von  der 
des  vorhergehenden  Jahrhunderts  ab.  Auch 
Capitalen,  Interpunction , Abbreviaturen  be- 
zwecken augenscheinlich  das  Instrument  leicht 
lesbar  zu  machen.  Der  Schluss  mit  den  Zeu- 
gen steht  auf  der  Rückseite  des  viel  mehr  in 
die  Breite  als  in  die  Höhe  gehenden  Originals 
und  ist  deshalb,  was  sehr  zu  bedauern,  in  der 
Nachbildung  nicht  wiedergegeben.  Tafel  XII 
endlich  enthält  zwei  Stücke.  Das  erste,  eine 
Landverscbreibung  Offas,  Königs  der  Mercier, 
ist  nicht  datirt,  fallt  indess  in  die  Zeit  zwischen 
791  und  796.  Gegen  das  Ende  der  Urkunde 
heisst  es:  Scripta  est  autem  .haec  libertatis 
kartula  ab  universo  concilio  synodali  in  loco 
celeberrimo  qui  nuncupatur  clobeshoas.  Daher 
denn  die  vielen  geistlichen  Zeugen,  Bischöfe  und 
Aebte.  Die  letzten  zwölf  Namen,  Priester  oder 
Laien  (?),  stehen  auf  der  Rückseite  des  Origi- 
nals und  sind  abermals  im  Nachdruck  wegge- 
lassen. Die  Schrift  hat  mehr  individuelle  Merk- 
male als  die  vorhergehenden  Beispiele,  erinnert 
aber  hin  und  wieder  mehr  an  Tafel  X als  XI. 
Das  letzte  Stück  weicht  von  allen  vorher- 
gehenden am  Meisten  ab.  Bischof  Wer  frith 
von  Worcester,  derselbe,  welchem  Aelfred  der 
Grosse  das  eine  der  noch  vorhandenen  Exem- 
plare seiner  Uebersetzung  der  Gura  Pastoralis 
Gregors  des  Grossen  zustellt  und  der  im  Te- 
stament desselben  Königs  erscheint*),  verleiht 
*)  Ms.  Hatton  20  in  der  Bodleiana:  vgL  Pauli,  Kö- 


Gans,  Ueb.  Gedankengang,  Gedankenentw.  etc.  413 

seinem  Grafen  Wnlfrige  ein  Stück  Land  zu 
Eastun.  Die  Urkunde  ist  in  altenglischer  Sprache 
aufgesetzt,  in  der  siebenten  Indiction,  seit  der 
Fleischwerdung  Christi  sind  904  Winter  ver- 
gangen, und  die  Zeugen  bekunden  nebst  ihren 
Namen  mid  cristes  rode  taene . Die  Schrift  ist 
durchweg  eine  steile,  fast  spitze  Cursive,  aber 
durch  vollkommene  Worttrennung  und  indem 

ausser  n für  and  und  prs  für  presbyter  alle 
Zeichen  und  Abkürzungen  unterbleiben,  sehr 
klar  und  lesbar. 

R.  Pauli. 


Gans,  Emil  Albert:  Ueber  Gedankengang, 
Gedankenentwicklung  und  Gedankenverbindung 
im  Briefe  des  Jakobus,  Hannover,  Helwing’sche 
Hofbuchhandlung,  1874. 

Was  diese,  dem  Senior  Bödeker  zu  seinem 
im  Januar  d.  J.  stattgehabten  fünfzigjährigen 
Amtsjubiläum  gewidmete  Schrift  uns  darbietet, 
ist  nicht  eine  literarische  Kritik  des  viel  um- 
strittenen Jakobusbriefes,  ln  dieser  Hinsicht 
setzt  der  Verf.  die  Resultate  fremder  Unter- 
suchungen voraus  und  schliesst  sich  namentlich 
an  eine  in  den  Studien  und  Kritiken  1874, 
Heft  1.  S.  105  ff.  veröffentlichte  Abhandlung 
des  Prof.  Beyschlag  in  Halle  an,  welche  »die 
Autorschaft  des  Jakobus,  des  leiblichen  Bru- 
ders des  Herrn,  und  die  Abfassung  des  Briefes 

nig  Aelfred  818  und  822  nnd  die  Ausgabe  von  Henry 
8weet  in  der  Early  English  Text  Society.  2 Vols.  1871. 
1872. 


414  . Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 

in  der  frühesten  Periode  der  christlichen  Kirche 
zur  Evidenz  zn  erheben  versucht«.  Was  der 
Yerf,  uns  giebt  und  allein  geben  will,  ist,  wie 
auch  der  Titel  besagt,  eine  Darstellung  des 
Gedankeninhaltes  des  Briefes,  und  er  meint, 
eine  Wiederaufnahme  der  Untersuchung  nach 
dieser  Seite  hin  dürfte  wohl  »um  so  weniger  als 
überflüssig  erscheinen,  als  sie  selbst  durch  die 
verschiedene  Beantwortung,  die  sie  in  unserm 
Jahrhunderte  gefunden,  sich  gleichsam  anrege 
und  zur  Prüfung  auffordere«.  Auch  muss  man 
ja  nun  zugestehen,  dass,  selbst  wenn  sich  Bey- 
schlag’s  Meinung  nicht  bewähren  sollte,  der  Brief 
eine  unverkennbare,  geschichtliche  Wichtigkeit 
hat  und  dass  denn  allerdings  die  Untersuchung 
nach  dem  Gedankeninhalte  des  Briefes  noch 
keineswegs  als  geschlossen  betrachtet  werden 
kann,  dass  auch  selbst  die  neuesten  Forscher 
noch  keineswegs  zu  völlig  befriedigenden  Re- 
sultaten gekommen  sind.  Es  fragt  sich  daher, 
was  zu  der  Darstellurg  des  Verf.  zu  sagen  sein 
möchte,  und  da  ist  da  wenigstens  soviel  an- 
zuerkennen, dass  derselbe  seine  Befähigung  zu 
einer  objectiven  Auffassung  derartiger  Schrift- 
stücke in  beachtenswerther  Weise  an  den  Tag 
gelegt  hat.  Die  Abhandlung  zeugt  in  der  That 
von  Scharfsinn  und  gutem  Yerständniss  für  die 
innere  Gliederung  dieses  altchristlichen  Denkmals. 

Durchaus  hält  der  Yerf.  an  dem  brieflichen 
Charakter  dieses  Schriftstückes  fest,  der,  wie  er 
sagt,  »es  verstattet,  verschiedenartige  Materien 
hintereinander  zu  behandeln,  ein  Fall,  der  ja 
auch  in  den  Briefen  des  Paulus,  z.  B.  in  denen 
an  die  Korinther,  sich  zeige«,  — namentlich 
gegen  Pfeiffer  (Studien  und  Kritiken,  1850) 
und  Bauch  (Winer’s krit.  Journal  1827),  welche 
aus  dem  Briefe  eigentlich  eine  Abhandlung  ha- 


r 

Gans,  Ueb.  Gedankengang,  Gedankenentw.  etc.  415 

ben  machen  wollen,  wird  dies  festgehalten  — 
und  danach  zerfällt  der  Brief  denn  in  fünf 
Hanpttbeile,  welche  Belehrungen  verschiedener 
Art  in  Beziehung  auf  damals  in  den  Gemein« 

! den  waltende  Verhältnisse  und  vorgekommene 
Störungen  und  Irrungen  enthalten:  1)  1,  2 — 18 
! eine  Belehrung  über  das  den  vorhandenen  Ver- 
| Buchungen  gegenüber  zu  beobachtende  Verhal- 
ten; 2)  I,  -19 — II,  26  eine  Belehrung  über  das 
durch  den  Xoyog  äbi&siag  geforderte  Benehmen; 
3)  IB,  1— IV,  12  die  Darlegung  der  Gefährlich- 
keit der  in  den  Gemeinden  auftretenden  Sucht, 

| die  Brüder  zu  meistern;  4)  IV,  13 — V,  6 eine 
! Digression  auf  die  Hauptgebrechen  der  Nicht- 
! christen  mit  ermahnendem  Seitenblick  auf  die 
Leser;  endlich  5)  V,  7—18  eine  Reihe  von 
durch  die  Gemeindeverhältnisse  der  Leser  ge- 
| botenen  Einzelermahnungen,  welche  durch  den 
! Satz  V,  19  f.  ihren  Abschluss  erhält : eineGrup- 
! pirung,  von  der  dem  Unbefangenen  ohne  Zwei- 
fel klar  sein  muss,  dass  sie  lediglich  an  die 
Aufeinanderfolge  der  in  dem  Text  behandelten 
I Materien  sich  anschliesst,  ohne  in  künstlicher 
Weise  einen  engeren  Zusammenhang  heraus- 
! stellen  zu  wollen,  als  der  Text  selbst  darbietet. 
Auch  zeigt  sich  dies  objective,  nur  den  Text 
zur  Geltung  bringende  Verfahren  überall  bei 
der  Explication  des  Einzelnen,  wie  der  Verf. 

! sie  vorgenommen  hat,  in  recht  erfreulicher  und 
befriedigender  Weise,  und  wenn  man  auch  noch 
immer  über  Dies  und  Jenes  rechten  könnte,  so 
| ist  doch  zu  constatiren,  dass  der  Verf.  dem 
I wirklichen  Gehalte  des  Briefes  auf  den  Grund 
I gekommen  und  manche  gute  Aufhellung  des 
f Einzelnen  dargeboten  hat.  Besonders  hervorzu- 
i heben  dürfte  das  sein,  was  über  die  Stelle  gesagt 
wird,  die  schon  Luther  einen  grossen  Anstoss 

i 


416  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  13. 


an  dem  Jakobusbriefe  nehmen  Hess,  über  2, 13  ff., 
und  eben  so  möchten  wir  auch  des  Verf.  Be- 
merkungen zu  3,  1 ff.  der  Beachtung  empfehlen, 
während  wir  denn  freilich  u.  A.  Bedenken  ha* 
ben,  mit  dem  Verf.  anzuerkennen,  dass  4,  13ff. 
von  Nichtchristen  die  Rede  sei.  Dass  der  Brief 
auch  hier,  wie  in  den  vorigen  Theilen,  Verkehrt- 
heiten zurückweisen  will,  die  unter  den  von  ihm 
angeredeten  Christen  hervorgetreten  sind,  dürfte 
nach  dem  Zusammenhänge  (vgl.  V.  17)  doch 
kaum  zu  bezweifeln  sein  und  wenigstens  Hegt 
kein  Grund  vor,  es  anders  zu  denken,  und  die 
von  dem  Verf.  angeführten  Gründe  sind  keines- 
wegs genügend,  da  sich  die  von  ihm  angeführ- 
ten Erscheinungen  auch  anders  erklären  lassen. 

Erwünscht  würde  noch  gewesen  sein,  wenn 
der  Verf.  die  von  ihm  gewonnenen  exegetischen 
Resultate  am  Schlüsse  seiner  Abhandlung  dazu 
benutzt  hätte,  uns,  wie  ein  Gesammtbüd  von 
den  Gemeinden,  an  die  der  Brief  gerichtet  war, 
so  auch  von  der  specifischen  Richtung  des  Ver- 
fassers des  Briefes  zu  entwerfen,  soweit  dies 
nach  den  gewonnenen  Resultaten  seiner  Exegese 
möglich  gewesen  wäre.  Gerade  dadurch  würde 
seine  Abhandlung  besonders  nutzbringend  ge- 
worden sein,  und  so  überaus  schwer  wäre  eine 
solche  Arbeit  nach  den  hier  vorHegenden  Vor- 
arbeiten doch  am  Ende  auch  nicht  gewesen. 

F.  Brandes. 


»Zu  S.  314  (St.  10)  die  Schrift  Hehle’s 
ist  enthalten  in  dem  Programm  des  KönigUchen 
Gymnasiums  in  Ehingenc. 


417 


G5ttingi  sehe 

gele  hrtc  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  König!.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  14.  8.  April  1874. 


Verhandlungen  der  Kirchenver- 
sammlung  zu  Ephesus  am  22.  August 
449  aus  einer  syrischen  Handschrift 
vom  Jahre  535  übersetzt  von  G.  Hoff- 
mapn,  ord.  Prof,  der  morgenl.  Sprachen.  Kiel 
1873.  4.  88.  107. 

Unter  den  Beitragen  zu  den  Quellen  der  äl- 
teren Kirchengeschichte,  welche  in  den  letzten 
Jahrzehnten  aus  den  syrischen  Schätzen  des 
brittischen  Museums  hervorgeholt  worden  sind, 
nimmt  vorliegende  Schrift,  was  ihren  Inhalt  an- 
langt, nicht  den  letzten,  in  Bezug  auf  Sorgfalt 
der  Bearbeitung  aber  einen  hervorragenden  Platz 
ein.  Der  Absicht  des  Herausgebers,  die  syrische 
Urkunde  möglichst  entbehrlich  zu  machen,  ver- 
danken wir  eine  Uebersetzung,  deren  Genauig- 
keit aus  ihr  selbst  wie  aus  den  hierauf  bezüg- 
lichen Anmerkungen  ersichtlich  ist.  Nur  an 
wenigen  sachlich  bedenklichen  Stellen,  welche 
zum  Theil  hier  berührt  werden  sollen,  vermisst 
nutn  eine  Anmerkung  mit  Angabe  des  syrischen 
Wortlauts,  wodurch  man  vielleicht  in  Stand  ge- 

27 


418  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  14. 

setzt  würde,  wenn  nicht  die  üebersetznng  za 
verbessern,  so  doch  eine  Vermuthang  über  den 
za  Grunde  liegenden  griechischen  Text  zu  wa- 
gen. Die  dem  Vernehmen  nach  von  anderer 
Seite  in  Angriff  genommene  Herausgabe  des 
syrischen  Textes,  dessen  Druck  schon  einmal 
i.  J.  1870  beinah  vollendet  war,  als  eine  in  der 
Druckerei  ausgebrochene  Feuersbrunst  das  Werk 
zerstörte,  ist  um  deswillen  doch  kein  ganz 
überflüssiges  Unternehmen.  Die  schon  bisher 
bekannt  gewesenen,  griechisch  erhaltenen  Stücke, 
welche  nun  auch  aus  syrischer  Quelle  uns  zu- 
fliessen,  nämlich  zwei  kaiserliche  Verfügungen 
an  Dioskorus  (S.  1 f.),  den  Brief  des  Ibas  an 
Maris  (S.  24  f.),  oder  wie  man  jetzt  sagen  lernt, 
des  Hiba  an  Mare  (Maqfjq,  Maq*q\  ein  Send- 
schreiben Tbfeodorets  (S.  46  ff.),  bietet  Hoffmann 
in  einem  nach  der  syrischen  Uebersetzung  mo- 
dificirten  griechischen  Texte  mit  Angabe  der 
Abweichungen  vom  bisher  überlieferten  Texte. 
Es  war  das  auch  bei  dem  ursprünglich  syri- 
schen Briefe  Hiba’s  das  richtige  Verfahren,  denn 
die  Hs.  bietet  hier  nicht  das  Original,  sondern 
eine  Rückübersetzung  aus  dem  Griechischen, 
wie  überhaupt  die  sämmtlichen  hier  gebotenen 
Acten  eine  Uebersetzung  des  vom  alexandrini- 
schen  Protonotar  redigirten  Protokolls  nebst 
Beilagen  sind.  Der  Herausgeber  hat  sich  nun 
nicht  damit  begnügt,  diese  Uebersetzung  genau 
ins  Griechische  zurück-  und  ins  Deutsche  zum 
ersten  Mal  zu  übersetzen  und  seine  Auffassung 
an  dunklen  Stellen  philologisch  zu  rechtfertigen; 
in  reichhaltigen  Anmerkungen  (S.  83 — 101)  bat 
er  auch  einen  gedrängten  sachlichen  Commen- 
tar  mit  beständiger  Hinweisung  auf  die  besten 
Hülfsmittel  geliefert,  welchen  die  Kirchenhisto- 
riker dankbar  benutzen  werden.  Der  Fleiss, 


rw  — m 


Hoffmann’,  Verband!,  d.  Kirchen  versamml . etc.  419 

welchen  der  Nichttheologe  diesen  zwar  zum  ge- 
ringsten Theil  theologischen,  aber  doch  den 
Theologen  zunächst  angehenden  Gegenständen 
gewidmet  hat,  hat  etwas  Rührendes  auf  der 
einen,  aber  auch  etwas  Beschämendes  auf  der 
anderen  Seite,  und  es  würde  dem  Theologen 
übel  anstehn,  diese  oder  jene  Bemerkung  über 
Theologisches,  wie  z.  B.  die  über  den  Begriff 
olxovopia  (Anm.  184  zu  S.  31,  9)  unbefriedi- 
gend zu  nennen. 

Es  ist  ein  dunkles  Blatt  der  Kirchenge- 
schichte, auf  welches  diese  grössten  Theils  neuen 
Actenstücke  ihr  Licht  werfen.  Es  gewinnt  da- 
durch kein  erfreulicheres  Ansehn;  man  begreift 
nur  noch  besser , als  bisher,  woher  die  Synode 
yon  449  den  Namen  der  Räubersynode  be- 
kommen hat.  Zwar  von  den  Fäusten  und 

Knütteln  ägyptischer  Mönche,  wie  sie  sonst  eine 
Rolle  spielten,  auch  von  den  unleugbaren  Ge- 
waltthätigkeiten,  welche  der  ersten  Sitzung  am 
8.  August  das  Gepräge  gaben  (Mansi  VI,  602. 
624.  625.  827 — 832),  erfährt  man  aus  diesem 
weislich  redigirten  Protokoll  der  zweiten  Sitzung 
am  22.  August  nichts.  Die  Versammlung  war 
schon  durch  die  erste  Sitzung  stark  purificirt 
und  im  übrigen  hinreichend  terrorisirt.  Daher 
mag  es  sein,  dass  in  dieser  späteren  Sitzung  die 
Form  mehr  als  sonst  gewahrt  wurde.  Aber  in 
aller  Form  und  unter  dem  oberflächlichen  Schein 
eines  gerichtlichen  Verfahrens  setzte  die  augen- 
blicklich von  Konstantinopel  begünstigte  Partei 
des  Dioskorus  ihre  Absichten  durch.  Theodoret 
war  im  voraus  durch  das  kaiserliche  Synodal- 
ausschreiben  von  der  Versammlung  ausgeschlos- 
sen (S.  2,  10  fl.),  und  trotz  aller  Gegenanstren- 
gungen wurde  dies  aufs  neue  in  einem  zur  Mit- 
teilung an  die  Synode  bestimmten  Rescript, 


L 


422  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stuck  14. 

Antiochien  sein  Ausbleiben  mit  einer  Krankheit 
entschuldigen  liess  (5,  32  ff.),  an  welcher  wahr* 
scheinlich  »die  schlechte  Mischung  der  Luft  in 
Ephesus«,  worüber  Alle  klagten  (83,  18),  in 
mehr  als  einer  Hinsicht  Schuld  war.  Auch  von 
denen,  die  erschienen,  klagten  Viele  zwei  Jahre 
später:  na  vre  g qfjuxQtoptv  (Mansi  VI,  637  C; 
639  A). 

Abgesehn  von  drei  kaiserlichen  Schreiben, 
die  vorangehn,  und  einigen  der  Synode  folgen- 
den kaiserlichen  und  erzbischöflichen  Verfügun- 
gen (S.  77  ff.)  bietet  die  syrische  Hs.  das  Pro- 
tokoll nur  der  einen  Sitzung  vom  22.  August. 
Aus  der  Schrift  des  Timotheus  Aelurus  gegen 
das  chalcedonensische  Concil,  aus  welcher  schon 
Gureton  gelegentlich  Anderes  mitgetheilt  hat, 
gibt  Hoffmann  nachträglich  noch  ein  zur  ersten 
Sitzung  gehöriges  Synodalschreiben  an  Theodo- 
sius [und  Valentinianus]  und  einige  Data  (S. 
81  f.  101).  Man  hat  auch  hier  wieder  Gelegen- 
heit über  die  Ausdauer  jener  Bischöfe  zu 
staunen,  welche  in  einer  einzigen,  ununterbro- 
chenen Sitzung  ein  Material  verhandeln  konn- 
ten , wie  es  S.  3 — 77  in  diesem  stattlichen 
Quartband  füllt.  Nur  diejenigen  Actenstücke, 
welche  wirklich  zur  Verlesung  kamen,  sind  in 
dies  Protokoll  aufgenommen;  dazu  kommt,  dass 
hier  Einiges  zuerst  nur  kurz  zusammengefasst 
und  dann  erst  auf  ausdrücklichen  Wunsch  der 
Synode  [vom  Redner  wiederholt  und]  zu  Proto- 
koll gegeben  wurde  (z.  B.  S.  29,  5 ff.).  Ferner 
hat  die  Hs.  manche  nicht  unerhebliche  Lücken 
(S.  71.  73.  75);  aber  keine  Lücke  findet  sich, 
welche  eine  Unterbrechung  der  Sitzung  ver- 
decken oder  gar  die  Annahme  einer  Wieder- 
aufnahme der  abgebrochenen  Verhandlungen  an 
einem  späteren  Tage  rechtfertigen  könnte.  Alles 


Hoffmann,  Verband!,  d.  Kirchenversamml.  etc.  423 

ist  am  22.  August  erledigt  worden.  Dieses  Da- 
tum findet  der  Herausgeber  in  Widerspruch  mit 
dem  bisher  überlieferten  Datum  der  ersten 
Sitzung,  d.  8.  oder  nach  Timotheus  Aelurus  d. 
10.  August  (Anm.  11  S.  83  f.),  weil  er  die  am 
Anfang  der  Sitzung  vom  22.  August  verkom- 
menden Bezugnahmen  auf  eine  frühere  Sitzung, 
die  am  Sonnabend  vorher,  also  am  20.  August 
stattfand  (S.  5,  16.  30.  34.  36),  auf  die  aller- 
erste Sitzung  der  Synode  glaubt  beziehen  zu 
müssen.  Der  Protonotar  Johannes  beginnt  die 
Verhandlungen  mit  den  Worten:  »Schon  am 
ersten  Tage,  als  sich  eure  grosse  und  hei- 
lige Synode  versammelt  hatte,  und  die,  welche 
die  Stelle  des  heiligen  und  gottliebenden  Erz- 
bischofs der  Kirche  von  Born,  Leon,  vertreten, 
und  der  gottliebende  Domnos,  Bischof  der  Kirche 
von  Antiocheia,  ausblieben  und  nicht  ka- 
men, hat  eure  Heiligkeit,  dem  Kanon  gemäss 
verfahrend,  befohlen,  dass  Einige  von  den  gott- 
liebenden Bischöfen,  auch  von  Klerikern  gefolgt, 
zu  jenen  und  zu  diesem  gehen  und  sie  ermah- 
nen sollten,  heute  zu  kommen  und  sich  mit 
eurer  Heiligkeit  zu  versammeln«.  Dies  kann 
sich  nicht  auf  die  erste  Sitzung  beziehen,  deren 
Acten  wir  fast  vollständig,  in  die  des  chalce- 
donensischen  Concils  eingeschaltet , besitzen. 
Denn  dieser  Sitzung  haben  sowohl  die  römi- 
schen Legaten  als  auch  Domnus  beigewohnt 
(Mansi  VI,  608  A.  612  B.  614  B.  648  D.  836  A. 
869  B.  905  A.  C.  908  D.  909  B),  und  zwar  nicht 
etwa  nur,  was  schon  die  ablehnenden  Worte 
der  Legaten  in  der  neuen  Quelle  voraussetzen 
(S.  5,  25  f.),  während  der  Verhandlung  über 
Eytyches,  sondern  auch  nachher  noch  während 
der  Verhandlungen  über  das  Glaubensbekennt- 
nis und  über  Flavian.  Der  Absetzung  des  Letz- 


424  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  14. 

teren  widersprach  einer  der  römischen  Legaten, 
während  Domnns  zustimmte.  Es  ist  dadurch 
auch  die  Möglichkeit  abgeschnitten,  obige  Worte 
etwa  so  zu  verstehen,  dass  Domnus  und  die 
römischen  Legaten  der  Sonnabendssitzung,  wel- 
che zugleich  die  allererste  Sitzung  gewesen 
wäre,  theil weise  beigewohnt,  dann  aber  durch 
ihr  Fortgehn  die  Vollendung  der  Verhandlungen 
verhindert  hätten.  Sie  haben  die  sämmtlichen 
Verhandlungen  und  Beschlüsse,  welche  die  Sy- 
node am  Schluss  ihrer  ersten  Sitzung  in  einem 
Schreiben  an,  die  Kaiser  zusammenfasste  (S. 
81  f.),  protestirend  oder  zustimmend,  meist  aber 
schweigend  miterlebt.  Auch  müssten  die  Worte: 
»sie  bheben  aus  und  kamen  nicht«  sammt  der 
dazu  gegensätzlichen  Forderung  »heute  zu  kom- 
men« (4,  44;  5,  2.  7.  16.  36)  Gewalt  leiden, 
ehe  sie  von  einer  Sitzung  verstanden  werden 
könnten,  welche  die  Betreffenden  erst  kurz  vor 
Schluss  verliessen.  Von  Domnus  jedenfalls, 
welcher  schon  an  jenem  Sonnabend,  an  welchem 
die  Deputation  der  Synode  ihn  aufsuchte,  bett- 
lägerig war  (5,  32),  ist  es  buchstäblich  zu  ver- 
stehen, dass  er  an  demselben  Tage  ausgeblie- 
ben und  nicht  gekommen  war.  Somit  muss  es 
von  den  römischen  Legaten  ebenso  verstanden 
werden.  Den  Bischof  unter  ihnen  findet  die 
andere  Deputation,  welche  ihm  gleichfalls  un- 
mittelbar nach  der  Sonnabendssitzung  (5,  11) 
den  Bescheid  der  Synode  zu  überbringen  ver- 
sucht, nicht  einmal  mehr  in  der  Stadt  (5,  18). 
Warum  hätte  man  sie  auch,  da  sie  aufbrechen 
wollten,  nicht  in  der  Sitzung  festgehalten? 
Andere  wenigstens  klagten  später,  dass  man  sie 
am  ersten  Sitzungstag  bis  zum  Abend  in  der 
Marienkirche  festgehalten  und  nicht  einmal  einen 
Augenblick  habe  Luft  schöpfen  lassen  (Mansi 


Hoffmann,  VerhandL  d.  Kirchenversamml.  etc.  425 

VI,  625  B),  und  so  ist  es  nach  den  Acten  der 
ersten  Sitzung  den  römischen  Legaten  und  Dom- 
nas ebenfalls  ergangen.  Hier  dagegen  handelt 
es  sich  um  eine  Sitzung,  zu  welcher  sie  sich 
nicht  eingefunden  hatten,  und  in  welcher  des- 
halb »die  Beschlussfassung  verschoben«  (5,  15) 
und  auf  diesen  22.  August  vertagt  wurde.  Es 
sollten  also  in  jener  Sonnabendssitzung  diejeni- 
gen Dinge  verhandelt  werden,  welche  nun  am 
Montag  verhandelt  werden,  und  zwar  so  ver- 
handelt werden,  dass  man  sieht,  es  ist  die  Ver- 
handlung darüber  am  Sonnabend  nicht  etwa 
abgebrochen,  sondern  noch  gar  nicht  in  Angriff 
genommen  worden.  Es  wird  somit  bei  dem  bis- 
herigen Datum  der  ersten  Sitzung  sein  Bewen- 
den haben  müssen.  Nachdem  in  dieser  ersten 
Sitzung,  Montag  d.  8.  August,  im  Beisein  des 
Domnus  und  der  römischen  Legaten  über  Ey- 
tyches  und  Flavian  gerichtet  worden,  sollte  in 
einer  zweiten  Sitzung,  Sonnabend  d.  20.  August, 
die  Sache  des  Hiba  und  anderer  orientalischer 
Bischöfe  verhandelt  werden.  Das  Wegbleiben 
der  Vorgenannten  veranlasste  die  Synode  aber 
die  Sitzung  sofort  wieder  aufzuheben  und  auf 
Montag  d.  22.  zu  verschieben,  um  inzwischen 
die  Ausgebliebenen  nochmals  in  aller  Form  zur 
Theilnahme  aufzufordern.  Da  sie,  die  Einen 
mit  stolzer  Berufung  auf  ihre  Instruction,  der 
Andere  mit  der  weinerlichen  Entschuldigung 
eines  geschlagenen  Gewissens,  wegblieben,  ver- 
handelte man  nun  um  so  bequemer  ohne  sie, 
und,  was  Domnus  betrifft,  gegen  sie.  Wenn 
also  wirklich  der  syrische  Ausdruck  S.  4,  42; 
5,  30  keine  andere  Uebersetzung  gestattet,  als 
»am  ersten  Tage« , so  muss  dies  ungeschickte 
Wiedergabe  eines  anders  gemeinten  griechischen 


426  Gott.  gel.  An z.  1874.  Stück  14. 

Ansdrucks  sein.  Der  Syrer  hat  ein  ngötsQog  für 
ngtStog  genommen. 

Von  besonderem  Interesse  und  bis  auf  den 
bekannten  Brief  Hiba’s  an  den  Perser  Mare 
durchaus  neu  sind  die  Acten  über  sehr  stürmi- 
sche Bewegungen  und  amtliche  Verhandlungen 
zu  Edessa,  welche  dem  Condi  vorangingen,  ih- 
rem Anfang  nach,  wenn  ich  recht  sehe,  sogar 
noch  in  das  Jahr  448  fallen.  Ganz  leicht  fin- 
det man  sich  trotz  der  sehr  dankenswerthen 
Beihülfe  des  Herausgebers  in  denselben  nicht 
zurecht,  besonders  deshalb,  weil  sie  namentlich 
im  Anfang  nichts  weniger  als  vollständig  sind. 
In  das  ephesinische  Protokoll  ist  nur  das  auf- 
genommen worden,  was  am  22.  August  vorge- 
lesen wurde,  eine  für  die  Zwecke  der  augen- 
blicklich herrschenden  Partei  angemessene  Aus- 
wahl. Dreimal  erhebt  sich  in  Edessa  ein  Sturm 
gegen  Hiba,  und  dreimal  muss  der  Präfect  von 
Ozroene,  der  Comes  Chaireas,  an  die  Behörden 
in  Konstantinopel  unter  Beifügung  protokolla- 
rischer Aufzeichnungen  berichten.  Von  der 
erstmaligen  Berichterstattung  nebst  Beilagen  ist 
nichts  weiter  auf  bewahrt  und  als  Gegenstand 
der  Verlesung  in  der  Concilssitzung  bezeichnet 
(S.  7,  38),  als  die  an  zwei  verschiedenen  Tagen 
vor  Chaireas  laut  gewordenen  Stimmungsäusse- 
rungen der  Edessener,  mehr  als  zwei  Quart- 
seiten voller  Exclamationen  des  Volks  mit  Ein- 
schluss der  Weiber,  welche  sogar  vor  den  Män- 
nern genannt  werden  (S.  7,  45),  wie  sie  zuerst 
in  der  Kirche  des  Zakchäus  bei  Gelegenheit  der 
Ankunft  des  Chaireas  in  Edessa  am  12.  April, 
sodann  an  einem  späteren*)  Tage  in  der  Amts- 

*)  Es  scheint  gewagt,  mit  dem  Herausgeber  S.  8,85 
und  Anm.  40  als  Datum  dieses  zweiten  Auftritts  den 


Hoffmann,  Verhandl.  d.  Kirchenversamml . etc.  427 

stabe  des  Präfecten  laut  wurden,  in  welche  das 
Volk  eingedrungen  war,  nachdem  eine  Anzahl 
Geistlicher  und  Mönche  ihre  Klagen  gegen  Hiba 
zu  Protokoll  gegeben  hatten.  Von  diesem  letz- 
teren Protokoll  ist  nichts  aufbewahrt  und,  wie 
"an  aus  der  beiläufigen  Erwähnung  desselben 
(8.  8,  35 — 39)  in  der  übrigens  officiell  gehalte- 
nen Relation  schliessen  muss,  auch  nichts  nach 
Konstantinopel  geschickt  worden.  Offenbar  hat 
Ghaireas  die  Bedeutung  der  Sache  damals  noch 
nicht  erkannt  und  nicht  geahnt,  dass  daraus 
eine  ökumenische  Angelegenheit  werde  gemacht 
werden.  Das  wäre  freilich  nicht  recht  begreif- 
lich, wenn  man  mit  dem  Herausgeber  (Anm.  29) 
anzunehmen  hätte,  dass  die  in  den  drei  Rela- 
tionen des  Ghaireas,  nämlich  auch  die  in  der 
ersten  Relation  dargestellten  Unruhen  zu  Edessa 
durch  den  Ausfall  des  Gerichts  zu  Berytus  ver- 
anlasst gewesen  und  nach  Ostern  449  anzu- 
| setzen  seien.  Aber  in  Bezug  auf  jenen  ersten 
in  zwei  Acte  zerfallenden  Aufruhr,  von  welchem 
der  erste  Bericht  handelt,  spricht  gegen  diese 
Annahme  doch  nicht  nur  der  Mangel  jeder  ge- 
ringsten Andeutung  von  dem  Gericht  zu  Bery- 
tus, sondern  auch  die  bestimmtesten  positiven 
Indicien.  Die  Edessener  fordern  hier  sichtlich 

14.  April  anzunehmen.  Es  muss  zu  dem  Ende  erstens 
angenommen  werden,  das  Ijar  hier  fälschlich  den  April 
statt  des  Mais  bedeute,  ferner,  dass  hier  d.  14  irriger- 
weise als  der  auf  den  12.  unmittelbar  folgende  Tag  be- 
zeichnet sei.  Die  Erklärung  des  letzteren  Fehlers  aus 
Misverstand  von  tjj  v<nsgai<^  M ßy  erscheint  nicht  sehr 
wahrscheinlich,  da  doch  sonst  nicht  Umschreibung  römi- 
scher Daten  in  griechische  und  syrische,  sondern  dop- 
pelte Datirung  angewandt  scheint  (2,  15;  3,  3.  24;  7,1). 
Sollte  dann  nicht  wirklich  der  14.  Mai  gemeint  sein  und 
„an  einem  spateren  späteren  Tage“  übersetzt  werden 
können? 


428  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stiicb  14. 


zum  ersten  Mal,  dass  die  weltlichen  Behörden 
und  die  Kaiser  selbst  ihrer  Sache  gegen  Bischof 
Hiba  sich  annehmen  (S.  8,  27.  31?.;  9,  87). 
Ferner  wird  hier  Domnus  von  Antiochien,  wel- 
cher schon  im  Frühjahr  oder  Sommer  448,  vor 
Beginn  der  Gerichtsverhandlungen  zu  Berytus, 
bei  den  Gegnern  Hiba’s  durch  derbe  Abweisung 
ihrer  Klagen  den  letzten  Best  von  Vertrauen 
eingebüs8t  hatte  (S.  20,  24 ff.;  29,  29  ff.;  44, 
25 ff.),  durch  ein  doppeltes  Vivat!  der  Edesse- 
ner  ausgezeichnet  (8,  10).  Endlich  und  vor 
allem  aber  wird  bei  diesem  Tumult  Absendung 
einer  klageführenden  Gesandtschaft,  insbesondere 
die  des  Presbyters  Eulogius  noch  erst  gefordert 
(8,  30;  9,  37  f.).  Dabei  kann  man  unmöglich 
an  jene  den  Gerichtsverhandlungen  zu  Berytus 
erst  folgende  Heise  des  Eulogius  und  des  Bi- 
schofs Uranius  von  Himeria  denken  (20,  6); 
denn  zu  dieser  wurden  die  Genannten  erst 
durch  den  unbefriedigenden  Ausfall  der  Ver- 
handlungen zu  Berytus,  welchen  Eulogius  als 
Kläger,  Uranius  als  Bichter  angewohnt  hatte, 
veranlasst.  Hier  aber,  bei  dem  ersten  Tumult 
zu  Edessa  wird  zuerst  nur  überhaupt  Entsen- 
dung einer  klageführenden  Gesandtschaft  ver- 
langt, sodann  aber  »der  Eiferer«  Eulogius,  eben 
weil  er  dies  ist,  dazu  vorgeschlagen.  Als  Folge 
und  Erfüllung  dieser  Forderung  ist  also  viel- 
mehr diejenige  Beise  des  Eulogius*)  zu  ver- 

*)  Dieser  allerdings  (vgl.  Anm.  149  und  Register) 
von  dem  später  nach  Berytus  gekommenen  Presbyter 
gleichen  Namens  (21,  19,  43;  27,  34;  ob  auch  14,  32 
und  40?)  wohl  zu  unterscheidende  Presbyter  Eulogius 
(9,  38;  20,  6;  29,  5 ff. ; 31,  6;  35,  5)  ist  doch  wohl 
identisch  mit  dem  Presbyter  und  Archimandriten  Eulo- 
gius (7,  6 f.).  Sonst  hätte  er  gar  nicht  auf  der  Synode 
redend  auftreten  können. 


Hoffmann,  Vorhand!*  d.  Kirchenversamml.  etc.  429 

stehen,  welche  Eulogius  schon  im  Sommer  448 
mit  den  übrigen  Anklägern  Hiba’s,  den  Presby- 
tern Samuel,  Mara,  Eyrus  (S.  19,  41  cf.  Mansi 
VTL,  219)  von  Edessa  nach  Antiochien  und  von 
da  nach  Konstantinopel  machte,  in  Folge  deren 
schliesslich  die  Sache  Hiba’s  vor  das  Gericht 
der  drei  Bischöfe  in  Berytus  und  Tyrus  ver- 
wiesen wurde  (S.  20,  8 ff.;  29,  24 — 31,  6;  35, 
11  f.).  Diese  Reise  sammt  dem  geistlichen  Ge- 
richt zu  Berytus  fällt  zwischen  die  im  ersten 
und  die  im  zweiten  Bericht  des  Ghaireas  dar- 
gestellten Ereignisse  zu  Edessa;  denn  in  der 
dem  zweiten  Bericht  beigefügten  Acte  wird  wie- 
derholt auf  das  Gericht  zu  Berytus  Bezug  ge- 
nommen. Die  ganze  Situation  ist  inzwischen 
eine  andere  geworden.  Die  Edessener  fordern 
nicht  mehr,  wie  nach  dem  ersten  Bericht  Be- 
nachrichtigung der  höheren  Behörden , auch 
nicht  mehr  Schutz  der  Redefreiheit  gegen  das 
noch  ungebrochene  Ansehn  des  Bischofs,  wie  S. 
10,  2 ff.,  sondern  die  Acten  von  Berytus  will 
man  haben  (S.  12,  7 ff.).  Man  ruft:  »die  zu 
Gunsten  Hiba’s  richten,  in  die  Verbrennung« 
(S.  13,  40).  Man  fürchtet,  dass  der  im  wesent- 
lichen freigesprochene  Hiba  militärische  Unter- 
drückung des  Aufstands  bewirken  werde  (12 
10  ff.).  Somit  fällt  der  dies  meldende  zweite 
Bericht  frühstens  in  den  Anfang  des  Jahres 
449;  denn  die  Gerichtsverhandlungen  zu  Bery- 
tus fanden  zwischen  dem  27.  October  448,  dem 
Datum  der  kaiserlichen  Anordnung  des  Gerichts 
(Mansi  VII,  209  D)  und  dem  25.  Februar  449, 
dem  Datum  der  abschliessenden  Acte  zu  Tyrus 
(Mansi  VII,  197  A),  statt.  Den  zweiten  Auf- 
stand zu  Edessa  und  die  zweite  Berichterstat- 
tung des  Ghaireas  noch  unter  letzteres  Datum, 
oder  gar  bis  nach  Ostern  449  herabzudrücken, 


430  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 

besteht  schwerlich  ein  Grund.  Noch  ist,  soviel 
ich  erkenne,  weder  Hiba  noch  einer  seiner  An- 
kläger oder  Zeugen  nach  Edessa  zurückgekehrt, 
welche  erst  bei  dem  dritten  Aufruhr  eine  Bolle 
spielen*).  Tyrus,  wo  doch  das  Gericht  erst  zu 
Ende  gebracht  wurde,  wird  hier  noch  nicht  wie 
im  dritten  Bericht  (21,  41)  neben  Berytus  ge- 
nannt. Es  können  nur  Gerüchte  und  zwar,  wie 
es  nach  12f  11  ff.  scheint,  übertreibende  Ge- 
rüchte über  den  für  Hiba  günstigen  Verlauf  der 
Verhandlungen  zu  Berytus  in  Edessa  eingetrof- 
fen sein,  wie  man  auch  von  einer  kaiserlichen 
Verordnung  mit  dem  Datum  des  17.  Februar 
448  nur  erst  gerüchtweise  und  offenbar  nicht 
durch  die  Ankläger  des  Hiba  gehört  hat,  die 
bei  ihrer  Publication  in  Antiochien  zugegen  ge- 
wesen waren  (12,  18 ff.  cf.  31,  Iff.  und  Anm. 
85).  Selbst  von  dem  gleichfalls  undatirten  drit- 
ten Bericht  wird  man  nicht  zuverlässig  behaup- 
ten können,  dass  er  nach  Ostern  449  anzusetzen 
sei.  Es  scheinen  in  der  That  nur  »sehr  wenige 
Tage«  (17,  10)  zwischen  dem  zweiten  und  dem 
dritten  Bericht  zu  liegen;  bedeutende  Ereignisse 
trennen  sie  nicht.  Allerdings  sind  jetzt  von 
den  Anklägern  des  Hiba  drei  nach  Edessa  zu- 
rückgekehrt (19,  41;  20,  7);  nur  der  Presbyter 
Eulogius  fehlt;  auch  mehrere  in  Berytus  nicht 
zugelassene  Zeugen  aus  Edessa  sind  wieder  da 
(21,  40—22,  16).  Aber  im  übrigen  unterschei- 
den sich  die  diesmaligen  Verhandlungen  von 
den  vorigen  wesentlich  nur  durch  ihre  grössere 
Ausführlichkeit,  sowie  dadurch,  dass  sich  dies- 
mal die  vornehmen  Laien  der  Sache  angenom- 
men haben  und  von  der  Geistlichkeit  vorge- 

*)  Der  Samuel  14, 42  muss  von  dem  20,  1 verschie- 
den sein. 


r 

I Hoffmann,  Verhandl.  d.  Kirchenversamml.  etc.  431 

! 

I schoben  worden  sind.  Es  scheint  aber  auch  in 
1 der  Art,  wie  hier  gewisser  Vorfälle  aus  der 
Osterzeit  448,  die  im  Winter  darauf  zu  Berytus 
zur  Sprache  kamen,  gedacht  wird,  ein  Wahr- 
I scheinlichkeitsgrund  gegen  die  Verlegung  des 
dritten  Berichts  hinter  Ostern  449  zu  liegen. 
Nur  ein  einziges  Mal  wird  gesagt,  dass  sie  um 
Ostern  des  vergangenen  Jahres  stattgefunden 
haben  (22,  42);  an  allen  übrigen  Stellen  (20, 
37  ff.;  23,  1.  4.  43;  24,  3f.  5f.)  wird  einfach 
Yom  Ostertag  und  Gründonnerstag  geredet,  was 
wenigstens  nicht  natürlich  geredet  wäre,  wenn 
diese  Tage  seit  den  dadurch  chronologisch  be- 
stimmten Ereignissen  schon  einmal  wiedergekehrt 
wären.  Es  scheint  darnach  natürlicher  anzu- 
nehmen, dass  die  beiden  Tumulte,  von  welchen 
der  zweite  und  -dritte  Bericht  handeln,  noch  vor 
Ostern  (d.  27.  März)  449  fielen,  der  letzte  offen- 
! bar  veranlasst  durch  die  eben  von  Tyrus  zu- 
i rückgekehrten  Kläger. 

i Wichtiger  wäre  es,  wenn  die  obgenannten 
Gründe  für  die  Annahme  eines  bedeutend  frühe- 
ren Zeitpuncts  des  ersten  Tumults  und  Berichts 
I stichhaltig  erfunden  würden.  Vor  die  Mitte  des 
! Sommers  448  müsste  man  dann  jedenfalls  zu- 
rückgehn; denn  die  jenem  Tumult,  wenn  ich 
recht  sehe,  erst  folgende  Beise  der  Ankläger 
des  Hiba  führte  sie  nach  Antiochien  zur  Zeit 
einer  dort  stattfindenden  Provincialsynode  (29, 
36  ff. ; 30,  45  fi.),  deren  Datum  einigermassen 
bestimmt  werden  kann.  Bei  Gelegenheit  der- 
selben wurde  jene  schon  erwähnte  kaiserliche 
Verordnung  vom  17.  Febr.  448  gegen  die  Ne- 
storianer,  insbesondre  gegen  Bischof  Irenäus 
von  Tyrus  publicirt.  Man  wird  sich  nicht  be- 
eilt haben,  das  den  Antiochenern  verhasste  Ge- 
setz zu  veröffentlichen,  und  unter  den  Klagen 


L 


482  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 

gegen  Domnus  war  die  lange  andauernde  Miß- 
achtung dieser  Verordnung  nicht  die  geringste 
(S.  59,  19—25).  Andrerseits  muss  sie  Domnus 
ziemlich  lange  vor  dem  9.  September  448  an- 
erkannt haben,  an  welchem  Tage  er  sich  end- 
lich zur  Ordination  des  Photius  zum  Nachfolger 
des  Irenäus  bequemte  (S.  62,  37).  In  die  Zeit 
vom  Mai  bis  Juli  448  mag  jene  antiochenische 
Synode  und  der  Aufenthalt  der  edessenischen 
Presbyter  daselbst  fallen,  und  unmittelbar  vor- 
her werden  die  im  ersten  Bericht  des  Chaireas 
erwähnten  Unruhen  zu  Edessa  anzusetzen  sein. 
Es  lägen  demnach  zwischen  dem  ersten  und  dem 
zweiten  Bericht  des  Chaireas  9 — 11  Monate. 
Dem  widerspricht  nun  freilich  der  Wortlaut  der 
syrischen  Uebersetzung  in  mehr  als  einem  Punct. 
Es  soll  nach  S.  14,  6.  13  die  im  ersten  Bericht 
(S.  8,  35  ff.)  erwähnte  Verhandlung  zu  Edessa 
sammt  der  Abfassung  und  Absendung  des  an 
drei  verschiedene  Adressen  zu  richtenden  Be- 
richts darüber  auf  den  der  neuen  Verhandlung 
unmittelbar  vorangehenden  Tag  fallen.  »Am 
gestrigen  Tage«  soll  das  alles  geschehen  sein. 

* Aber  es  fragt  sich  doch,  auch  ganz  abgesehn 
von  obigen  Bemerkungen  über  die  zwischen* 
liegenden  Ereignisse,  ob  das  eine  an  sich  selbst 
mögliche  Angabe  ist.  Mindestens  bis  in  die 
Nacht  hinein  würden  die  Secretäre  des  Präfec- 
ten  an  jenem  in  dreifach  modificirter  Gestalt 
abzufassenden  Bericht  zu  arbeiten  gehabt  haben, 
und  schwerlich  konnte  der  Courier  schon  nach 
Konstantinopel  abgefertigt  sein,  als  bereits  die 
neuen  in  aller  Form  gepflogenen  Verhandlungen 
begannen,  von  welchen  der  zweite  Bericht  han- 
delt. Dass  Chaireas  diese  Dinge  nicht  mit  so 
unglaublicher  Eile  betrieb,  sieht  man  auch  ans 
12,  43—14,  3,  wo  in  das  Protokoll  der  zweiten 


Hoffinan®,  Verhandl.  d.  Kirchenversamml.  etc.  433 

Verhandlung  eine  Erwähnung  von  dem,  was 
während  der  folgenden  3 — 4 Tage  vorfiel,  ein- 
geschaltet ist.  Wenn  aber  wirklich  die  Geist- 
lichen und  sonstigen  Notabein  von  Edessa  ihre 
Bittschrift  (S.  11,  25  ff.)  einige  Stunden  nach 
Abgang  jenes  ersten  dreifachen  Berichts  dem 
Präfecten  überreicht  hätten,  so  müsste  dabei 
doch  von  irgend  einer  Seite  ein  Bedauern  über 
dies  sonderbare  Misgeschick  laut  geworden  sein. 
Die  Bittschrift  selbst  aber,  welche  >die  Unter- 
schriften der  ganzen  Stadt«  (S.  12,  36)  trug, 
muss  doch  einige  Tage  vor  ihrer  feierlichen  Üeber- 
reichung  existirt  und  cursirt  haben;  sie  hätte 
also  auch  schon  vor  Abfassung  und  Absendung 
des  ersten  Berichts  und  vor  den  darin  darge- 
stellten Ereignissen  existirt.  Wie  wäre  es  nun 
denkbar,  dass  die  Kleriker,  Archimandriten 
u.  s.  w.  (8,  37  vgl.  11,  7)  Am  14.  Ijar  in  der 
Amtsstube  noch  von  der  Bittschrift  schwiegen, 
die  sie  dann  am  15.  überreichen  wollten;  oder 
wenn  sie  am  14.  vergeblich  versucht  hätten,  sie 
zu  überreichen,  dass  Ghaireas  trotzdem  noch 
am  Abend  dieses  14.  einen  Bericht  aufgesetzt 
und  schleunigst  expedirt  hätte,  dann  aber  am 
15.  nachträglich  sich  hätte  bereit  finden  lassen, 
die  Bittschrift  anzunehmen  und  mit  einem  neuen 
Bericht  nach  Konstantinopel  zu  befördern!  Aber 
auch  die  in  diesem  zweiten  Bericht  und  seinen 
Beilagen  sonst  noch  vorkommenden  Bezugnahmen 
auf  den  ersten  Bericht  und  den  zwischenliegen- 
den Zeitraum  beweisen,  dass  in  dem  »gestern« 
ein  Fehler  steckt.  Der  Präfect  beruft  sich  auf 
den  Bericht , welchen  er  der  oberen  Behörde 
»früher  unterbreitet«  und  »behauptet,  auch 
jetzt«  ohne  Gefahr  die  Berichterstattung  nicht 
unterlassen  zu  dürfen  (10,  28  f.  vgl.  16,  32). 
Sie  soll  sich  diesmal  auf  [die]  seit  Abgang  des 

28 


434  Gott.  gel.  Anz.  1874.  St&ck  14. 

früheren  Berichts  vorgefallenen  Begebenheiten 
beschränken  (10,  31).  Diese  Ansdrücke  fordern 
einen  Zwischenraum  nicht  nur  weniger  Tage 
oder  gar  Stunden.  Wenn  Chaireas  (14,  5)  ver- 
sichert, die  früheren  Forderungen  der  Edesse- 
ner  »jetzt«  den  Behörden  berichtet  zu  haben, 
so  bemerkt  der  Herausgeber  selbst  (Anm.  116), 
dass  dieses  »jetzt«  häufig  auch  für  »jüngst« 
gebraucht  werde.  Wenn  aber  der  Presbyter 
Miqalla  einräumt,  dass  seit  der  früheren  Ver- 
handlung  und  Berichterstattung  allerdings  »nicht 
viele  Tage«  verstrichen  sind  (14,  12),  so  setzt 
Hoffmann  in  Klammern  berichtigend  hinzu:  »erst 
ein«  Tag.  Aber  eben  diese  Aenderung  ist  nach 
dem  Gesagten  unthunlich.  Es  muss  vielmehr 
das  »gestern«  (14,  6.  13)  ein  vom  syrischen 
Uebersetzer  ungeschickt  gewähltes  Aequivalent 
für  einen  weitschichtigeren  griechischen  Aus- 
druck sein.  Vielleicht  stand  nqoi^v  da.  Aber 
damit  allein  ist  noch  nicht  geholfen.  Es  muss 
ferner  angenommen  werden,  dass  die  das  Jahr 
449  ergebende  Angabe  »nach  der  Hypatie  der 
erlauchten  Flavier  Zenon  und  Postumianus« 
(7,  42)  verderbt  ist,  und  »in  der  Hypatie«  ur- 
sprünglich geschrieben  war.  Das  hat  aber  bei 
der  Häufigkeit  des  umgekehrten  Fehlers  (s.  z.  B. 
Monsi  VI,  503  C;  590  A;  606  C)  keine  Beden- 
ken gegen  sich,  zumal  in  den  umgebenden, 
wirklich  dem  Jahr  449  angehörenden  Acten- 
stücken  wiederholt  das  fi tijv  vnaxsiav  Ztj- 
voDVog  xal  IJoatovfuavov  vorkam  (2,  16;  3,  30; 
11,  7),  sich  also  leicht  hier  einschlich.  Auch 
folgt  aus  dem  Inhalt  des  ersten  Berichts,  soviel 
ich  verstehe,  keineswegs,  dass  Protogenes,  Con- 
sul von  449,  es  damals  schon  war  (8,  8.  45), 
oder  dass  Zenon  es  nicht  mehr  war  (8,  12; 
9,  2.  43)  Letzterer  wird  hier  wenigstens  nie 


I 

I 


Hoffmann,  Verhandl.  d.  Kirchenversamml.  etc.  435 


djtd  vndwv  genannt,  wie  im  zweiten  Bericht 
I (11,  20;  12,  10),  und  (SiQaifjXceTfjg  konnte  er 
doch  auch  als  Consul  heissen ; Theodoret  adres- 
i sirt  seine  epist.  7 1 : Zyvoovi  ov Qatfjyw  xal  inaxco 
I (Opp.  ed.  Schulze  IV,  1121). 

! Erst  durch  diese  aus  dem  Inhalt  der  Acten- 
stücke  sich  ergebenden  und  äusserlich  unerheb- 
lichen Aenderungen  wird  eine  angemessene  Folge 
der  Ereignisse  hergestellt.  Schon  seit  einiger 
Zeit  hatte  Hiba  durch  verfängliche  dogmatische 
Aeu8serungen  in  Predigten  und  bei  anderen  Ge- 
| legenheiten  einem  grossen  Theil  seiner  Geistlich- 
keit Anstoss  gegeben.  Besonders  lebhaften,  bei- 
| nah  in  lauten  Lärm  ausbrechenden  Widerspruch 
erregte  eine  cbristologische  Aeusserung  in  einer 
Ansprache  an  den  Klerus,  die  er  der  Sitte  ge- 
mäss bei  Gelegenheit  der  Einhändigung  der 
i Osterhirtenbriefe  *),  also  vor  der  Osterzeit  (448)* 
j hielt  (20,  37  ff.  21,  43—22,  13;  28,  40).  Es 
folgten  ähnliche  Kundgebungen  am  Gründon- 
nerstag und  Ostersonntag  desselben  Jahres  (22, 
36—24,  10).  Nachdem  inzwischen  allerlei 

disciplinarische  Beschuldigungen  gegen  ihn  und 
i seine  Familie  angesammelt  worden  waren,  welche 
| der  Menge  verständlicher  waren,  als  die  dogma- 
i tischen  Differenzen,  bot  der  Einzug  des  Präfec- 
ten  Chaireas  am  12.  April  448  eine  schickliche 
Gelegenheit  zu  einer  ersten  tumultuarischen 
| Demonstration  gegen  den  Bischof.  Aber  erst, 
i nachdem  Chaireas  am  14.  Mai  ein  amtliches 

| Verhör  angestellt  und  dabei  ähnliche  stürmische 
> Auftritte  vorgekommen  waren,  berichtete  der 

Präfect  darüber  nach  Konstantinopel.  Ziemlich 
gleichzeitig  wird  der  Presbyter  Eulogius  mit 

*)  Diese  imtnoXai  iogratmxai  werden  doch  wohl  ge* 
meint  sein  mit  dem  syrischen  Aasdruck,  welchen  Hoff- 
mann übersetzt  „die  Festgeschenke  (koQmcuxd.)u  S.  20, 38» 

28* 


486  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  14. 

den  übrigen  Anklägern  Hiba’s  die  Reise  nach 
Antiochien  angetreten  haben,  wo  sie  Ende  Mai 
oder  Anfang  Juni  (s.  oben  S.  432)  eingetroffen 
sein  werden  und  den  vergeblichen  Versuch 
machten,  beim  Patriarchen  ihre  Klagen  anzu- 
bringen. Alles  Weitere,  die  Reise  der  Kläger 
nach  Konstantinopel,  die  Einsetzung  und  Ab- 
haltung des  geistlichen  Gerichts  zu  ßerytus  und 
Tyrus  hat  dann  bequemen  Raum  bis  zum  zwei- 
ten und  dritten  Bericht  des  Ghaireas  etwa  im 
Februar  und  März  449;  und  auch  den  erfor- 
derlichen Zeitraum  zwischen  der  Abfassung  die- 
ser Berichte  und  der  Synode  zu  Ephesus  ge- 
winnt man  erst  so.  Hält  man  nämlich  am 
Jahresdatum  des  ersten  Berichts,  aber  auch  an 
dem  zweiten  Monatsdatum  innerhalb  desselben 
(14.  Mai)  fest  und  nimmt  als  unerlässlichen 
Zwischenraum  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
und  dem  zweiten  und  dritten  Bericht  auch  nur 
je  zwei  Wochen  an,  so  wäre  der  dritte  Bericht 
erst  um  die  Mitte  des  Juni  von  Edessa  abge- 
gangen. Dann  wäre  nicht  erklärlich,  wie  die 
sämmtlichen  Acten  von  Edessa,  welche  die  Be- 
hörden in  Konstantinopel  doch  erst  prüfen  und 
auf  sich  wirken  lassen  mussten,  ehe  sie  einen 
bestimmenden  Einfluss  auf  die  dortigen  Ent- 
Bchliessungen  üben  konnten,  schon  unter  dem 
27.  Juni  (3,  24)  durch  kaiserliche  Verordnung 
der  Synode  zu  Ephesus  überwiesen  werden 
konnten.  Th.  Zahn. 


Bauwenhoff,  Nippold,  Strauss’ alt.  u.  n.  Glaube.  437 

Rauwenhoff,  Dr.  L.  W.  E.,  Prof,  an  der 
I Universität  zu  Leiden,  und  Dr.  Fr.  Nippold, 
Prof,  an  der  Universität  zu  Bern:  D.  Fr.  Strauss9 
alter  und  neuer  Glaube  und  seine  literarischen 
Ergebnisse.  Zwei  kritische  Abhandlungen.  Leip- 
zig, Richter  und  Harrassowitz,  und  Leiden,  S. 
C.  van  Doesburgh,  1873.  246  Seiten  gr.  8. 

Um  eine  Anschauung  davon  zu  bekommen, 
wie  sehr  und  in  welcher  Weise  die  im  Titel  ge- 
nannte Schrift  von  Strauss  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gezogen  und  die  mannigfaltigsten  gei- 
stigen Kräfte  und  Richtungen  sowohl  in  Deutsch- 
land, wie  in  ausserdeutschen  Ländern  in  Bewe- 
gung gebracht  hat,  darf  man  nur  die  zweite 
Abhandlung  des  vorliegenden  Buches  lesen:  »Die 
literarischen  Ergebnisse  der  Strauss’schen  Contro- 
verse;  kritische  Studie  von  Friedrich  Nippold. 
Dieselbe  bietet  uns  eine  überaus  sorgfältig  ge- 
arbeitete Zusammenstellung  aller  der  Schriften 
dar,  welche  es  mit  dem  »alten  und  neuen  Glau- 
ben« des  grossen  Würtemberger  Kritikers  zu 
thun  haben,  und  zwar  ist  das,  was  wir  da  em- 
pfangen, nicht  etwa  bloss  eine  trockene  Auf- 
zählung der  betreffenden  Erscheinungen,  son- 
dern eine  je  nach  der  Bedeutung  derselben  mehr 
oder  weniger  ausführliche  Characterisirung  und 
Kritik  einer  jeden  derselben,  so  dass  wir  denn 
dadurch  auf  lebendige  Weise  in  diese  literari- 
sche Bewegung  hineinversetzt  werden,  welche 
»der  alte  Tübinger  Stiftler«  wieder  einmal  ver- 
anlasst hat.  Allerdings  hat  der  Verf.,  wovon 
er  selbst  auch  kein  Hehl  macht,  nicht  jede 
Aeusserung  verzeichnet,  welche  in  unserer  so 
zahlreichen  Zeitschriften-  und  Broschüren-Litera- 
tur  seit  dem  Erscheinen  des  Strauss’schen  Bu- 
ches in  Beziehung  auf  dasselbe  vorgekommen 


i 


438  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 


sein  mag.  Eine  solche  Ausführlichkeit  auch  nur 
zu  verlangen,  würde  ungerecht  sein  und  hiesse 
selbstverständlich  etwas  rein  Unmögliches  for- 
dern. Auch  würde  dadurch  der  Umfang  dieser 
jetzt  in  einem  schönen  Maasse  sich  haltenden 
Abhandlung  wohl  nur  über  die  Gebühr  ange- 
schwellt und  ihre  Brauchbarkeit  und  Wirksam- 
keit eher  vermindert  als  vermehrt  worden  sein. 
Der  Yerf.  hat  sich  begnügt,  die  hervorragenden 
und  für  die  einzelnen  Richtungen  charakteristi- 
scher Erscheinungen  herauszuheben,  und  da  darf 
denn  nicht  nur  gesagt  werden,  dass  ihm  kaum 
ein  Aufsatz  oder  eine  Schrift  entgangen  ist,  die 
es  wirklich  der  Mühe  werth  war,  besprochen  zu 
werden,  sondern  dass  der  Verf.  auch  so  schon 
eine  über  das  gewöhnliche  Maass  hinausgehende 
Belesenheit  in  dieser  Strauss-Literatur  an  den 
Tag  gelegt  hat.  Man  sieht  deutlich,  der  Verf. 
hat  sich  aus  dieser  neusten  Erscheinung  im 
Entwicklungsgänge  unserer  streitenden  Theologie 
ein  eigentliches  und  angelegentliches  Studium 
gemacht,  und  um  so  mehr  verdient  seine  Ab- 
handlung Anerkennung  und  Beachtung,  als  sie 
für  den,  der  solche  Studien  ebenfalls  machen 
will,  nicht  allein  einen  überaus  brauchbaren 
Katalog  der  zu  benutzenden  Literatur  abgiebt, 
sondern  das  besonnene  und  objective  Urtheil 
des  Verf.  auch  geeignet  ist,  Winke  und  Finger- 
zeige zur  fruchtbaren  Benutzung  dieser  Litera- 
tur zu  ertheilen.  Ueberall  sieht  man  den  die 
Sache,  um  die  es  sich  handelt,  beherrschenden 
Gelehrten,  aber  überall  auch  den  gerechten  Kri- 
tiker, der  die  verschiedenartigsten  Aeusserungen 
auch  in  ihrem  wahren  Werthe  in  Beziehung  auf 
die  verhandelte  Sache  zu  würdigen  weiss. 

Den  Reigen  eröffnen  diejenigen  Stimmen, 
welche  das  Strauss’sche  Buch  »mit  Jubel  be- 


r 

I 

Rauwenhoff,  Nippold,  Strauss  alt.  u.  n.  Glaube.  439 

grösst«  haben,  und  zu  diesen  gehören  denn 
nicht  blos  Solche,  die  mit  Strauss  auf  demselben 
Boden  philosophischer,  naturwissenschaftlicher 
und  kritischer  Ueberzeugungen  stehen  und  na- 
mentlich seine  negativen  Resultate  als  Bestäti- 
gung ihrer  eigenen  Meinungen  mit  Freuden  will- 
kommen geheissen  haben,  sondern  auch  eine 
j Klasse  von  Geistern  ganz  entgegengesetzter 
| Richtung:  die  sich  selbst  so  nennenden  »Gläu- 
bigen« namentlich  auch  innerhalb  der  prote- 
stantischen Kirche.  Diese  — der  Verf.  macht 
wenigstens  einige  derselben  namhaft,  — bewill- 
kommneten  deshalb  vor  allen  Dingen  das  Her- 
vortreten Strauss9  mit  seinen  in  Beziehung  auf 
das  Ghristenthum  so  völlig  negativen  Behaup- 
tungen, weil  sie  meinten,  es  sei  nun  »von 
massgebender  Stelle  und  auf  endgiltige  Weise 
die  Situation  geklärt  worden«  und  zwar  der 
Art,  dass  es  jetzt  Jedermann  vor  Augen  liege, 
wie  es  nur  noch  ein  Entweder-Oder  gebe,  ent- 
weder mit  Strauss  dem  Christenthume  ganz  den 
Röcken  kehren  oder  sich  mit  ihnen  ganz  und 
bedingungslos  dem  von  ihnen  empfohlenen  Or- 
thodoxismus in  die  Arme  werfen.  DasStrauss9- 
scheBuch  erschien  diesen  Leuten  — oder  wurde 
doch  wenigstens  von  ihnen  so  benutzt  — als 
ein  Gericht  hauptsächlich  über  diejenige  Rich- 
tung in  unserer  Zeit,  welche  moderne  Bildung 
mit  christlicher  Lebensrichtung  meinte  ver- 
einigen zu  können,  und  vielleicht  hatten  sie 
nicht  ganz  Unrecht,  wenn  sie  hofften,  bei 
schwächlichen  und  unklaren  Gemüthern  werde 
dies  Auftreten  des  Verfassers  des  Lebens  Jesu 
ihnen  jetzt  einen  um  so  leichteren  Zugang  be- 
I reiten  können«  Doch  hat  der  Verf.  wohl  auch 
Recht  gethan,  wenn  er  diese  Acceptanten  des 
Strauss’schen  Bekenntnisses  lediglich  erwähnt 


L 


440  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 

und  nur  gegen  den  Schluss  hin  noch  einmal  auf 
sie  zu  sprechen  kommt,  um  ihnen  ein  Wort 
Spörri’s  zuzurufen,  das  sie  ermahnt,  sich  doch 
ja  recht  selbst  zu  besinnen,  ehe  sie  dieser  Bun- 
desgenossenschaft froh  werden  und  sich  dersel- 
ben getrosten  möchten.  Vor  allen  Dingen  galt 
es,  diejenigen  Erscheinungen  zu  characterisiren 
und  zu  kritisiren,  die  sich  auf  des  neusten  Be- 
kenners Glauben  wirklich  eingelassen  haben, 
nicht  etwa,  um  ihn  bloss  als  die  Keule  zu  hand- 
haben, mit  der  sie  anderweitige  Gegner  zu  Bo- 
den schlagen  könnten,  sondern  um  ihn  selbst  zu 
würdigen,  nach  seinem  Hechte  zu  fragen  und 
ihn,  wo  es  nöthig , zu  berichtigen  und  zu  wider- 
legen, und  — da  hat  der  Verf.  denn  das  eigen- 
liehe  und  characteristische  Ergebniss  constatiren 
dürfen,  dass  das  qu.  Buch  zwar  nirgend  unbe- 
achtet geblieben  ist,  vielmehr  in  den  verschie- 
densten Kreisen  als  ein  Alarmsignal  gewirkt  hat, 
dass  es  aber  nirgends  eine  volle  Zustimmung 
gefunden,  auch  selbst  bei  Solchen  nicht,  die 
sonst  dem  Verf.  congenial  sein  mögen,  dass  im 
Gegentheil  der  ernsteste  Widerspruch  von  den 
mannigfaltigsten  Richtungen  her  ist  erhoben 
worden. 

Der  Verf.  zeigt  uns  da  zunächst,  wie  die 
eigentlichen  Fachmänner  auf  den  mancherlei  Ge- 
bieten, die  Strauss  in  seinem  Buche  berührt, 
keineswegs  sehr  befriedigt  von  seinen  Behaup- 
tungen sind,  sondern  ihm  im  Gegentheil  einen 
Dilettantismus  vorwerfen,  der  im  Grunde  ihm 
kaum  noch  ein  Recht  geben  würde,  wenn  auch 
nicht  geradezu  überhaupt  hier  mit  zu  sprechen, 
so  doch  ein  endgiltiges,  für  Alle  acceptables  Ur- 
theil  abzugeben.  Nicht  bloss  Philosophen  von 
Fach,  z.  B.  Ulrici,  glauben  »zur  Genüge  gezeigt 
zu  haben,  dass  Strauss’  neue  Philosophie  keine 


Bauwenhoff,  Nippold,  Strauss  alt.  u.  n.  Glaube.  44 1 

Philosophie,  weil  die  durchgefuhrte  Verläugnung 
aller  Logik  sei«,  auch  vor  den  Naturforschern, 
wie  Nippold  aus  den  Aeusserungen  anerkannter 
Autoritäten  zeigt,  kann  diese  neue  Weltweisheit 
nicht  bestehen,  und  nicht  mit  Unrecht  wird  hier 
wieder  an  ein  vergessenes  Wort  von  Hum- 
i boldt’s  über  die  StrauBs’sche  Glaubenslehre  vom  ' 
i J.  1839  erinnert,  dass  ihm  »der  naturhistori- 
- sehe  Leichtsinn  gar  nicht  gefalle,  mit  welchem 
I Strauss  in  Entstehung  des  Organischen  aus  dem 
Unorganischen,  ja  in  Bildung  des  Menschen  aus 
chaldäischen  Ürschlamm  keine  Schwierigkeit 
finde«.  Dubois-Raymond,  E.  E.  von  Baer  und 
Dr.  Ludw.  Weiss  dürften  hier  gewiss  keine  Geg- 
ner sein,  an  denen  Strauss  mit  Nichtachtung 
vorüber  gehen  dürfte.  Und  ebenso  hat  nicht 
nur  die  Geschichte,  es  haben  auch  National- 
ökonomie und  Staatsrecht  ihre  Stimmen  gegen 
den  »neuen  Glauben«  erhoben,  wie  denn  auch 
in  der  Mehrzahl  gerade  unserer  am  Unabhän- 
gigsten dastehenden  und  am  Freisinnigsten  ge- 
leiteten Zeitungen,  wissenschaftlichen  und  poli- 
| tischen,  die  ernstesten  Bedenken  und  in  der  an- 
gelegentlichsten Weise  nicht  etwa  bloss  von 
Theologen,  sondern  auch  von  Solchen  geäussert 
worden  sind,  die  der  Theologie  fern  stehen,  ja 
ihr  sogar  sehr  wenig  gewogen  sind.  In  langer 
Reihe  führt  der  Verf.  uns  hier  »die  Urtheile 
der  Presse«  vor  Augen,  voran  »das  anerkannte 
Centralorgan  der  deutschen  Gesammtwissen- 
schaffc«  Zarncke’s  »literarisches  Centralblatt«, 
dann  Alfred  Dove’s  Zeitschrift  »Im  neuen  Reich«, 
die  »preussischen  Jahrbücher«  mit  der  Kritik 
von  W.  Lang,  die  »deutsche  Warte«  — seihst 
die  Blätter  für  »literarische  Unterhaltung«,  selbst 
Otto  Seemann  im  Magazin  für  die  Literatur  des 
Auslandes  haben  den  Ausführungen  Strauss’  in 

i 


442  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 


wesentlichen  Puncten  nicht  beistimmen  können, 
während  die  übrigen  der  genannten  Blätter  der 
Stellung,  die  er  zum  Cbristenthume  einnimmt, 
principiell  widersprechen,  oft  mit  sehr  schnei- 
dendem, sehr  scharf  zurückweisendem  Wider- 
spruch. Weiter  dann  auch  die  Presse  des  Aus- 
landes; die  »Revue  des  deux  mondes«,  wo  Re- 
ville,  der  Verfasser  des  geistvollen  »Essais  de 
critique  religieuse,  die  »Theological  Review«, 
das  Organ  der  englischen  Unitarier,  wo  der  be- 
deutendste unter  den  neutestamentlichen  Kriti- 
kern Hollands,  Schölten,  »De  Gids«,  die  hol- 
ländische Zeitschrift,  wo  l’Ange  Huet,  selbst  ein 
»Moderner«,  der  dem  Standpuncte  Strauss  entr 
gegen  gekommen  ist,  wie  wenige  Andre,  also 
die  Vertreter  der  freien  Kritik  auf  religiösem 
und  theologischem  Gebiete  selbst  dem  deutschen 
Genossen  scharf  und  ohne  Rückhalt  seine 
Schwächen  zeigen.  Unter  den  eigentlichen  Ta- 
gesblättern sodann  werden  herbeigezogen  die 
Kölnische  Zeitung  (Artikel  von  Adolf  Bacmei- 
ster),  die  Weserzeitung  (A.  Lammers),  die 
Deutsche  Allgemeine  Zeitung  (Moritz  (Carriere), 
die  Berliner  Nationalzeitung  (Karl  Frenzei)  etc., 
lauter  Organe  und  Männer,  von  denen  Strauss 
sich  nicht  beklagen  kann,  dass  sie  noch  dem 
Priesterthume  irgend  einer  der  christlichen  Sec- 
ten  und  Kirchen  dienten,  die  aber  alle  erklär- 
ren,  ihm  nicht  folgen  zu  können,  weder  in  sei- 
nen materialistischen  Auslassungen,  noch  auch 
in  dem,  was  er  gegen  das  Christenthum  als 
solches  vorgebracht:  sie  alle  stimmen  indemür- 
theile  überein,  dass  die  Auslassungen  des  Tübin- 
ger Kritikers  gerade  in  dieser  Beziehung  oberfläch- 
lich und  namentlich  durchaus  unhistorisch  seien. 

Schliesslich  kommt  der  Verf.  dann  auf 
die  Urtheile  der  Theologen  von  Fach,  der»Ver- 


I Itouwenhoff,  Nippold,  Strauss  alt.u.n.  Glaube.  443 

| 

I treter  der  religiösen  Ideen«  zu  sprechen,  und 

l hier  hat  er  denn  wohl  mit  Absicht  die  Richtun- 

I gen  hervorgeboben,  welche  im  Allgemeinen  dem 
! officiellen  Kirchenthum  und  seinen  hergebrach- 
ten Formen  entgegen  sind:  vorab  die  Juden, 
besonders  Ludwig  Phiiippson  in  der  »Allgemei- 
een  Zeitschrift  des  Judenthums«,  dann  die  Alt- 
I katholiken  Huber,  Knoodt,  Michelis;  das  Buch 
Frohschammers  gegen  Strauss  hat  wenigstens 
| noch  erwähnt,  wenn  auch  nicht  mehr  besprochen 
werden  können ; die  Vertreter  der  »freien  Ge- 
meinden« (Rupp,  Scholl,  Hieronymi),  dann  die 
freisinnigen  Richtungen  der  protestantischen 
Theologie  (ausser  Lipsius,  Schölten,  Reville,  P. 
W.  Schmidt,  H.  Lang  auch  Schellenberg,  Spörri, 

I Holtzmann,  Hausrath,  die  protestantische  Kir- 
chenzeitung, das  deutsche  Protestantenblatt, 

| etc.) ; aber  überall  auch  dieselbe  Zurückweisung, 
überall  das  eine  Urtheil:  Strauss  wird  dem  re- 
ligiösen Leben,  wird  vor  allen  Dingen  dem  Chri- 
stenthume  nicht  gerecht,  und  er  wird  dies  nicht 
und  kann  es  nicht  werden,  weil  seine  Voraus- 
setzungen falsch , weil  sein  materialistischer 
Standpunct  nicht  im  Stande  ist,  Religion  und 
Christenthum  zu  würdigen.  In  der  That,  die 
Revue,  die  Nippold  hier  angestellt  hat,  ist  eine 
( sehr  instructive  und  für  Jeden,  der  sehen  will,  die 
Situation  klärende:  deutlich  zeigt  sich  hier  nicht 
nur,  dass  Strauss  den  Standpunkt,  den  er  früher, 
! namentlich  in  der  Zeit  seiner  grossen  Erfolge  ein- 
genommen, doch  sehr  verändert  bat,  sondern 
auch,  dass  er  hinter  der  fortschreitenden  Bibel- 
und  Religionswissenschaft  in  ganz  unverkennba- 
rer Weise  zurückgeblieben  ist.  Es  . hat  sich 
wirklich  seit  seiner  Zeit  eine  Theologie  heraus- 
gebildet, die  alle  Resultate  der  Kritik  in  sich 
aufgenommen,  ja  die  Kritik  selbst  auf  allen 

L 


444  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 


Puncten  fordern  za  helfengesacht  hat,  die  aber, 
und  zwar  ohne  irgend  wieder  in  die  Schlingen 
des  alten  Dogmatismus  za  gerathen,  wieder  po- 
sitiv im  christlichen  Leben  steht.  Von  den 
Vertretern  des  alten  Kirchenthums  wird  diese 
Theologie  eben  so  gescholten,  wie  von  denen  der 
materialistisch  gesinnten  Kritik,  wie  das  in  dem 
Buche  von  Strauss  deutlich  hervortritt,  aber  — 
sollte  eben  diese  Theologie  nicht  doch  eine  Hoff- 
nung für  die  Zukunft  sein,  uns  bewahrend  eben 
sowohl  vor  dem  einen,  wie  vor  dem  anderen 
jene  Extreme,  und  helfend,  dass  Religion  und 
Christenthum  erst  recht  unter  uns  zu  Leben 
komme?  Es  ist  gerade  von  den  freisinnigen 
Gegnern  Strauss’  mehrfach  ausgesprochen:  wir 
wollen  jetzt  und  zwar  auf  unserem  freisinnigen 
Standpuncte  erst  recht  und  um  so  mehr  Chri- 
sten sein;  und  dass  Strauss  mit  seiner  Frage: 
»Sind  wir  noch  Christen?«  solchen  Antworten 
und  solchen  Kreisen  hat  begegnen  müssen,  ist 
für  uns  ein  bedeutsames  Zeichen  der  Zeit  und 
sollte  es  auch  für  ihn  sein. 

Jedenfalls  haben  wir  es  dem  Verf.  Dank 
wissen,  dass  er  uns  diese  so  überaus  eingehende 
Uebersicht  über  die  neuste  Strauss-Literatur  ge- 
geben und  uns  damit  ein  Bild  von  diese  Bewe- 
gung auf  theologisch-literarischem  Gebiete  ent- 
worfen hat,  wie  es  nicht  instructiver  sein  könnte 
auch  für  Erkenntniss  des  Geistes  überhaupt, 
der  jetzt  auf  diesem  Lebensgebiete  unter  uns 
nach  Gestaltung  ringt.  Und  eben  so  müssen 
wir  dem  Verf.  dann  auch  Dank  sagen  für  die 
Mittheilung  der  zweiten  Abhandlung,  welche  das 
vorliegende  Buch  enthält  und  der  die  seinige 
offenbar  zur  Begleitung  hat  dienen  sollen : »Der 
alte  und  der  neue  Glaube;  Antwort  an  D.  Fr. 
Strauss  von  L.  W.  E.  Rauwenhoff«,  einem 


Eauwenhöff,  Nippold,  Strauss  alt.  u.  n.  Glaube.  445 

holländischen  Theologen  unabhängiger  Richtung, 
fiber  dessen  Persönlichkeit  und  bisherige  wissen- 
schaftliche Thätigkeit  Nippold  in  der  Einleitung 
zu  seiner  eigenen  Abhandlung  nähere  Notizen 
gegeben  hat.  Aus  Allem,  was  wir  da  verneh- 
men, erfahren  wir,  dass  »in  dem  Leidener  Kir- 
chenhistoriker kein  Unberufener  in  der  Strauss’- 
schen  Streitfrage  das  Wort  ergriffen  hat«,  zu- 
mal derselbe  auch  sonst  schon  um  deutsche  Li- 
teratur sich  bekümmert  und  für  deren  Erzeug- 
nisse in  seiner  Heimath  Verständniss  zu  erwecken 
gesucht,  und  die  mitgetheilte  Schrift  selbst  be- 
kundet dies  vollends  zur  Genüge.  Wir  können 
nicht  anders,  als  sie  als  einen  überaus  werth- 
vollen Beitrag  zur  Klärung  der  von  Strauss  wie- 
der angeregten  Fragen  bezeichnen,  der  um  so 
weniger  übersehen  werden  sollte,  als  sein  Verf. 
mit  keinerlei  Machtsprüchen  sich  behilft,  sondern 
was  er  vorbringt,  auch  darzuthun  sucht  in  dem 
ruhigen  und  leidenschaftslosen  Tone  wissen- 
schaftlicher Beweisführung,  dem  man  es  anfühlt, 
dass  es  ihm  lediglich  um  Aufhellung  der  betref- 
fenden Thatsachen  und  Verhältnisse  zu  thun  ist. 

Die  Schrift  von  Rauwenhoff  ist  zuerst  in  der 
»Theologisch  Tijdschrift,  Leiden  1873«  erschie- 
nen und  veranlasst,  wie  die  Einleitung  sagt, 
durch  den  Beifall,  den  Strauss  hauptsächlich  in 
Holland  und  auch  selbst  bei  Solchen  gefunden, 
die  sich  sonst  um  theologische  Fragen  nicht  be- 
kümmern, und  durch  die  Ueberzeugung,  dass 
»das  Buch  von  Strauss  eine  gewisse  Bedeutung 
in  dem  Bildungsgänge  unsrer  gebildeten  Zeitge- 
nossen erlangen  dürfte«.  Sie  sollte  deshalb  eine 
mehr  ausführliche  Kritik  des  Buches  sein,  und 
eine  solche  ist  sie  denn  auch  geworden,  ein- 
gehend auf  alle  diejenigen  Puncte,  auf  die  es, 
wie  uns  scheinen  will,  bei  der  Beurteilung  des 


446  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 

gen.  Buches  hauptsächlich  ankommt.  Und  ihr 
Resultat?  Es  kann  hier  nicht  der  Ort  sein,  sie 
im  Einzelnen  zu  reproduciren,  dazu  würden  wir 
sie  fast  ganz  ausschreiben  müssen,  da  sie  sich, 
neben  ihren  sonstigen  Vorzügen,  auch  durch 
Knappheit  der  Darstellung  auszeichnet.  Des- 
halb können  wir  nur  auf  sie  selbst  verweisen 
und  empfehlen,  sie  zu  studieren.  Aber  das  darf 
constatirt  werden,  dass  derVerf.  die  völlige  Un- 
zulänglichkeit der  von  Strauss  als  »neuer  Glaube« 
vorgetragenen  W eltanschauung  wissenschaftlich 
und  in  einer  für  jeden  Unbefangenen  überzeu- 
genden Weise  dargethan  hat.  Der  Verf.  geht 
das  Strausb’sche  Buch  Schritt  für  Schritt  durch, 
wenigstens  so  weit  es  sich  um  den  Fortgang  der 
grossen  Hauptgedanken  desselben  handelt,  aber 
wie  sehr  er  auch,  wo  es  sein  kann,  das  einzelne 
mannigfaltige  Schöne,  das  da  vorkommt,  anzu- 
erkennen bereit  ist,  im  Ganzen  erscheint  hier 
Alles  ungenügend,  oberflächlich,  selbst  unlogisch 
und  widerspruchsvoll,  und  ganz  und  gar  nicht 
geeignet  als  eine  Welt-  und  Lebensauffassung  za 
gelten,  bei  der  man  sich  auch  nur  an  irgend 
einem  Puncte  beruhigen  könnte.  Strauss  hat  in 
seinem  »Nachwortec  selbst  angedeutet,  dass  es 
das  Eigenthümliche  seiner  Schrift  sei,  die  Resul- 
tate der  theologischen  Kritik  mit  den  Ergebnis- 
sen der  neueren  Naturforschung  in  Verbindung 
zu  bringen  und  diese  zusammen  zu  einer  syste- 
matischen Welt-  und  Lebensanschauung  zu  ver- 
arbeiten,  der  Verf.  zeigt,  dass  ihm  dies  ganz 
und  gar  nicht  gelungen  ist,  dass  er  lediglich 
die  disjecta  membra  einer  neuen  Weltanschauung, 
aber  in  einer  Weise  zusammen  gewürfelt  hat, 
die  eben  das  vermissen  lässt,  worauf  es  gerade 
ankam,  nämlich  den  befriedigenden  und  wirklich 
ein  haltbares  System  darbietenden  Zusammen- 


% 


Bauwenhoff,  Nippold,  Strauss  alt.  a.  n.  Glaube.  447 

bang,  so  dass  denn  wohl  die  Worte  des  Goethe’- 
schen  Mephistopheles  auf  Strauss’  Buch  anwend- 
bar wären,  die  dieser  von  der  Scheidekunst 
überhaupt  gebraucht:  »er  hat  wohl  die  Theile 
in  seiner  Hand,  fehlt  ihm  leider  nur  das  geistige 
Bandt,  und  zwar  fehlt  dies  in  dem  Grade,  dass 
eine  wirklich  unbefangene  Kritik,  wie  hier  der 
Holländische  Gelehrte  sie  geübt  hat,  das  völlig 
Zusammenhangslose  deutlich  an  das  Licht  brin- 
gen muss. 

Möge  die  Herausgabe  der  BauwenhofFschen 
Schrift,  die  bei  dem  Mangel  an  Verständnis  des 
Holländischen,  wie  er  bei  uns  herrscht,  um  so 
mehr  nothwendig  war,  denn  nicht  eine  vergeb- 
liche Arbeit  gewesen  sein.  Auch  aus  dem  Grunde 
ist  das  zu  wünschen,  weil  der  Verf.,  der  zwar 
»nur  auf  den  Nachweis  sich  hat  beschränken 
wollen,  dass  die  Folgerungen  des  Schriftstellers 
(Strauss’)  nicht  stichhaltig  seien«,  doch  überaU 
auch  zeigt,  wie  über  die  Unzulänlichkeiten  seines 
Gegners  hinaus  und  zu  einer  wirklich  begründe- 
ten Weltauffassung  auf  Grund  unserer  neueren 
wissenschaftlichen  Erkenntnisse  zu  gelangen  wäre, 
wenn  auch  ohne  dem  Strauss’schen  ein  eigenes 
in  sich  geschlossenes  System  entgegen  zu  setzen. 
Gerade  auch  das  in  dieser  Hinsicht  von  dem 
Verf.  Angedeutete  scheint  aus  seiner  Arbeit  einen 
Anspruch  auf  aUseitige  Beachtung  zu  geben,'  und 
wenn  Bef.  auch  bekennt,  in  allen  Stücken  nicht 
mit  dem  Verf.  einstimmig  zu  sein  — namentlich 
der  Person  Jesu  legt  Bef.  doch  eine  andere 
Bedeutung  bei,  als  der  Verf.  zuzugeben  scheint 
— so  muss  er  doch  auch  auf  der  anderen  Seite 
anerkennen,  dass  die  von  dem  Verf.  gewiesenen 
Wege  diejenigen  zu  sein  scheinen,  auf  denen  es 
möglich  ist,  zu  einer  Welt-  und  Lebensanschauung 
zu  gelangen,  die  alle  Ergebnisse  neuerer  For- 


448  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  14. 


schung,  wie  auf  dem  Gebiete  der  Bibel  und  der 
Geschichte,  so  auch  auf  dem  der  Natur  und  der 
Anthropologie,  anerkennt  und  an  dem  richtigen 
Orte  verwerthet,  ohne  doch  diesen  Bruch  mit 
den  Grundlagen  des  »alten  Glaubens«  vollziehen 
zu  müßsen,  wie  Strauss  ihn  als  das  allein  Uebrig- 
bleibende  verkündigt  hat. 

Noch  möchte  besonders  auf  das  über  den 
doch  wirklich  sehr  auffallenden  politischen  Stand- 
punkt des  Tübinger  Kritikers  Gesagte  aufmerk- 
sam zu  machen  sein,  denn  hier  zeigt  sich  die 
völlige  Unzulänglichkeit  seiner  Anschauungen 
wohl  nodh  mit  auf  das  Eclatanteste,  und  dann 
auch  auf  das  Schlusswort,  wo  der  Verf.  auf  die 
Gefahren  hinweist,  die  aus  der  Strauss’schen 
Richtung  für  die  ganze  Culturentwicklung  unse- 
res Volkes  hervorgehen  müssten , wenn  sie  um 
sich  greifen  sollte.  Es  ist  ganz  gewiss  wahr, 
dass  uns  das  Buch  von  Strauss  vor  Augen  stellt, 
wie  wir  auf  der  Hut  sein  müssen , damit  wir 
nicht,  um  nicht  »auf  der  Scylla  des  Unglaubens 
zu  stranden,  auf  der  Gharybdis  der  Reaction 
Schiffbruch  leiden«,  aber  eben  so  wahr  ist  es, 
dass,  wenn  wir  auch  »nicht  mit  Strauss  gehen 
können«,  doch  »vorwärts  gehen  müssen«  und 
dass  wir  »da,  wo  wir  jetzt  mit  unserm  kirchli- 
chen Leben  stehen,  auf  die  Dauer  nicht  stehen 
bleiben  können«.  Möge  denn  auch  das  wohl  er- 
wogen werden,  namentlich  auch  von  den  »Män- 
nern des  Fortschrittes  in  Gesellschaft,  Wissen- 
schaft und  Kunst,  die  ihren  Geistesverwandten 
in  der  Kirche  wohl  wohlwollende  Höflichkeit  er- 
weisen, aber  für  das,  was  diese  zur  Reformation 
des  kirchlichen  Lebens  erstreben,  nur  Apathie 
zeigen«.  F.  Brandes. 


449 


Gfttti  ii  gische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  .15  15.  April  1874. 


Die  Sprachwissenschaft.  W.  D.  Whitney’s 
Vorlesungen  über  die  Principien  der  vergleichen- 
den Sprachforschung  für  das  deutsche  Publikum 
bearbeitet  und  erweitert  von  Dr.  Julius  Jolly, 
Docenten  an  der  Universität  zu  Würzburg. 
Mfinchen  1874. 

Indem  ich  dieses  soeben  von  mir  der  Oeffent- 
lichkeit  übergebene  Werk  hier  selbst  zur  Be- 
sprechung bringe,  leitet  mich  der  Gedanke,  dass 
um  von  diesem  Gewohnheitsrechte  der  Mit- 
arbeiter dieser  Blätter  Gebrauch  zu  machen 
gerade  der  vorliegende  Fall  besonders  geeignet 
erscheint,  wo  es  sich  nicht  um  die  Einführung 
eines  eigenen,  sondern,  zum  grösseren  Theil  we- 
nigstens, nur  eines  bearbeiteten  fremden  Pro- 
duktes handelt.  Zugleich  ist  dieser  Anlass  ge- 
eignet, um  das  Verhältniss  der  Zusätze,  die  ich 
hinzugefügt  habe,  zu  dem  amerikanischen  Ori- 
ginalwerk darzulegen. 

Whitney’s  »Vorlesungen«  sind  weder  das  ein- 
zige, noch  auch  das  erste  Werk,  in  welchem  der 
Versuch  gemacht  ist,  die  Hauptergebnisse  der 

29 


450  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stöck  15« 


im  neunzehnten  Jahrhundert  emporgediehenen 
Sprachwissenschaft  auch  dem  grösseren  gebilde- 
ten Publicum  zugänglich  zu  machen,  sondern  be- 
kanntlich liegen  schon  seit  einer  Reihe  von  Jah- 
ren mehrere  Werke  gleicher  Tendenz  vor,  unter 
denen  Schleicher's  »Deutsche  Sprache«  (in  erster 
Auflage  Stuttgart  1860,  in  dritter  1873)  und 
Max  Müller’s  »Vorlesungen  über  Sprachwissen- 
schaft« (in  deutscher  (Jebertragung  zuerst  1864) 
die  bekanntesten  sind.  Jedes  dieser,  beiden 
Werke  hat  in  seiner  Art  eine  bedeutende  Wir- 
kung geübt  und  eine  grosse  Verbreitung  freilich 
in  sehr  verschiedenen  Kreisen  gefunden,  wie  dies 
erklärlich  genug  wird,  wenn  man  die  Auffassung 
und  Schreibweise  beider  Verfasser  vergleicht. 
Einen  grösseren  Gegensatz  als  den  zwischen  der 
klaren  aber  trockenen  Manier  Schleicher's  und 
dem  eleganten,  bilderreichen  Stile  der  eine  Menge 
interessanter  Fragen  hereinziehenden,  aber  frei- 
lich kaum  eine  erschöpfenden  Art  Max  Müller's 
kann  es  nicht  leicht  geben.  In  der  That  stel- 
len die  beiden  genannten  Werke  zwei  Extreme 
dar.  Das  bat  Schleicher's  Biograph,  der  sonst 
sein  Bild  mit  aller  liebevollen  Sorgfalt  einer 
Lebensbeschreibung  gezeichnet  hat , in  dem 
von  der  »Deutschen  Sprache«  bandelnden  Ab- 
schnitt seiner  Skizze *)  treffend  ausgeführt:  zwi- 
schen der  Absicht  des  Verfassers,  ein  deutsches 
Volksbuch  zu  liefern,  zur  Aufklärung  der  Ge- 
bildeten insgesammt  beizutragen,  ein  Zweck,  der 
ihm  »unvergleichlich  hoch  über  dem  wissen- 
schaftlicher Belehrung«  steht,  und  der  Art,  wie 
diese  Absicht  zu  verwirklichen  gesucht  wird,  be- 
steht ein  seltsamer  Contrast.  Schleicher  hat 
ein  nicht  genug  zu  schätzendes  Hand-  und  Hülfe- 

*)  August  Schleicher,  Skizze  von  S.  LefmannS.46ff. 


451 


Jolly,  Die  Sprachwissenschaft. 

buchlein  für  den  deutschen  Studenten,  fur  den 
Anfänger  in  neu-  und  mittelhochdeutscher  Gram- 
matik geliefert,  der  daneben  die  nach  dem  jetzi- 
gen Stand  der  Wissenschaft  freilich  etwas  an- 
tiquirte,  aber  durch  die  echt  Schleicher’sche 
dogmatische  Bestimmtheit  ihrer  Fassung  des 
Eindrucks  nicht  verfehlende  Uebersicht  über  die 
Sprachstämme  und  die  bedenklicheren,  wenn 
schon  mit  derselben  Zuversichtlichkeit  vorge- 
tragenen Ansichten  Schleicher’s  über  »das  Le- 
ben der  Sprache«  ungeprüft  mit  in  den  Kauf 
nimmt  Aber  welcher  Fehlgriff,  dem  Gebildeten 
soviel  trockene  Grammatik  und  Metrik  zuzu- 
muthen,  diese  »Jugendlustverderber«,  wie  sie 
noch  dazu  Niemand  anders  als  Schleicher  selbst 
in  der  Einleitung  zu  seinem  Werk  bezeichnet 
hat.  — Was  diesem  den  deutschen  Stubenge- 
lehrten nirgends  verleugnenden  Buche  abging, 
besitzt  das  Müller’sche  Werk  in  einem  nur  wie- 
der für  deutsche  Verhältnisse  und  Bedürfnisse 
viel  zu  weitgehenden  Grade.  Es  ist  nirgends 
langweilig  oder  pedantisch,  aber  auch  nirgends 
lehrhaft  Es  enthält  eine  Menge  passend  ange- 
brachter und  geistvoll  durcbgeführter  Belege 
aus  der  Geschichte  der  verschiedensten  Spra- 
chen, aber  diese  gehäuften  Beispiele  nehmen 
einen  viel  zu  breiten  Baum  im  Ganzen  des 
Werks  ein,  sie  zerstreuen  den  Leser  und  füh- 
ren ihn  von  der  Sache  ab,  anstatt  in  dieselbe 
hinein.  Dazu  kommt,  dass  manche  Ausführun- 
gen wie  die  eingehende  Untersuchung  über  das 
Todesjahr  des  Bischofs  Ulfilas  und  die  an- 
ziehende, aber  wenig  Neues  bietende  Schilde- 
rung der  Verpflanzung  der  griechischen  Cultur 
nach  Rom  (im  ersten  Bande  der  Vorles.)  nur  im 
allerlosesten  Zusammenhang  mit  dem  eigent- 
lichen Inhalt  und  Gedankengang  seines  Werks 

29* 


452  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  14. 

stehen  — wenn  von  letzterem  überhaupt  die 
Rede  sein  kann,  denn  eine  unverzeihliche  Plan- 
losigkeit charakterisirt  so  die  erste  wie  die 
zweite  Serie  der  »Vorlesungen«  von  Anfang  bis 
zu  Ende.  Doch  nicht  hier  ist  der  Ort,  auf  die 
bedeutenden  Schwächen  einzugehen,  die  an  dem 
viel  genannten  und  in  England  noch  jetzt  als 
ein  »standard  work«  geltenden  Buche  nicht 
minder  auffällig  hervortreten,  als  seine  glänzen- 
den Vorzüge;  ich  kann  in  dieser  Beziehung  auf 
die  sachgemässe  Würdigung  Whitney’s  in  seinem 
neuesten  Werke,  den  Studies,  verweisen  (vgl. 
meine  Kritik  derselben  in  den  »G.  G.  A.  1874«, 
besonders  S.  63  ff.).  Mag  Max  Müller  den  Ton 
vortrefflich  errathen  haben,  durch  den  englische 
Schriftsteller  auf  ein  mehr  nach  Unterhaltung 
als  nach  Belehrung  verlangendes  Publicum  zu 
wirken  pflegen,  mag  es  ihm  gelungen  sein,  Inter- 
esse für  die  Aufgaben  der  Sprachwissenschaft 
in  der  ganzen  englisch  redenden  Welt  zu  er- 
wecken, und  er  so  für  die  Propaganda  dieser 
Disciplin  mehr  gewirkt  haben,  als  irgend  ein 
Anderer  vor  oder  nach  ihm,  in  Deutschland 
hat  sein  Werk  neben  manchem  Guten  vielleicht 
ebenso  viel  Schaden  gestiftet  durch  die  Verbrei- 
tung einer  oberflächlichen  Auffassung,  durch  die 
Hinderung  besserer  Einsicht.  Kurz  in  einem 
Lande,  wo  die  Elemente  der  Sprachwissenschaft 
denn  doch  schon  so  allgemein  gelehrt  werden, 
wie  bei  uns,  konnte  die  Aufgabe  einer  populä- 
ren, aber  systematischen  Darstellung  dieser 
Wissenschaft  durch  Müller’s  anmuthiges,  aber 
allzu  feuilletonistisch  gehaltenes  sogar  noch  we- 
niger als  durch  Schleicher’s  gut  gemeintes  und 
gründliches,  aber  im  Schulstaub  versiegtes  Werk 
Für  gelöst  gelten. 

Da  erschien  im  Jahre  1867  das  von  mir 


Jolly,  Die  Sprachwissenschaft.  453 

(nach  der  dritten,  bereits  1870  gefolgten  Auf- 
lage) bearbeitete  Werk  von  Whitney,  und  in 
ihm  die  glückliche  Lösnng  der  soeben  bezeich- 
neten  Aufgabe.  Whitney  ist  es  wirklich  gelun- 
gen, fast  möchte  man  sagen  die  ideale  Mitte 
zwischen  einer  allzu  gelehrten  und  einer  allzu 
i spielenden  Darstellung  seines  reichen  Stoffs  zu 
treffen  und  einen  mit  aller  logischen  Strenge 
durcbgeführten  Grundplan  mit  einer  gefälligen 
und  farbenreichen  Darstellung  zu  verbinden. 
Hier  könnte  nun  eine  eingehende  Begründung 
dieser  Behauptung  um  so  eher  von  mir  erwartet 
werden,  als  man  von  vorneherein  wenig  geneigt 
sein  dürfte,  einem  amerikanischen  Gelehrten  die 
Palme  zuzugestehen,  um  die  zwei  namhafte 
deutsche  Linguisten  vergebens  gerungen  haben. 
Diesen  Nachweis  muss  ich  nun  freilich  hier  aus 
Rücksicht  auf  den  Baum  schuldig  bleiben,  was 
kann  es  aber  für  schlagendere  Belege  für  die 
| Vorzüglichkeit  dieses  populären  Werks  geben, 
als  den  Erfolg,  den  es  nicht  nur  bei  dem  grossen 
Publicum  in  der  Heimat  des  Verfassers,  auf 
das  es  zunächst  berechnet  war,  sondern  auch 
unter  den  europäischen  und  namentlich  unter 
den  deutschen  Fachgenossen  erzielt  hat?  Und 
gerade  jene  Eigenschaften,  die  man  an  Max 
Müller  bei  aller  Anerkennung  seiner  schönen 
Darstellungsgabe  schmerzlich  vermisste,  Klar- 
heit und  Geschlossenheit  der  Grundgedanken 
und  consequente  Durchführung  derselben  durch 
alle  Theile  der  Sprachwissenschaft,  hat  die  deut- 
sche Kritik  an  dem  amerikanischen  Autor  am 
lautesten  gerühmt.  Darf  man  also  irgend  nach 
dem  Erfolg  urtheilen,  so  findet  bei  diesem 
Werke  einmal  das  viel  missbrauchte  Wort  seine 
rechte  Stelle,  dass  es  einem  allgemein  empfun- 
denen Bedürfnis  die  richtige  Abhilfe  schaffe: 


y 


454  Gott.  geL  Anz.  1874.  Stack  15. 

wie  gat  es  seine  Aufgabe  nach  der  Seite  der 
Gemeinfasslichkeit  hin  erfüllt,  hat  seine  so 
rasche  Verbreitung  in  dem  Lande  seiner  Ent- 
stehung bewiesen,  wie  gut  darin  andrerseits  die 
wissenschaftliche  Haltung  gewahrt  ist,  darüber 
herrscht  unter  den  deutschen  Sprachforschern 
nur  eine  Stimme. 

Aus  dem  eben  Gesagten  — eingehender 
habe  ich  mich  in  der  Vorrede  ausgesprochen 
— ergibt  sich  zugleich  das  Motiv,  das  mich  | 
veranlasste,  das  Whitney’sche  Werk  durch  eine  ! 
Bearbeitung  auch  in  Deutschland  weiteren  Krei-  j 
sen  zugänglich  zu  machen,  aber  noch  nicht  die 
Rechtfertigung  für  das  Verfahren,  das  ich  dabei 
eingeschlagen,  für  die  Umänderungen  und  Er- 
weiterungen, theilweise  auch  Kürzungen,  die  ich 
an  dem  Original  vorgenommen  habe.  Hierüber 
mögen  daher  nun  die  oben  angekündigten  Be- 
merkungen Platz  finden ; denn  wegen  der  sonst 
in  einem  Referat  üblichen  Inhaltsangabe  kann 
ich  auf  die  eingehende  und  klare  Analyse  des 
Whitney’schen  Werks  verweisen,  die  Clemm  in 
Kuhn’s  Zeitschr.  f.  vgl.  Sprachf.  18,  112  ff.  ge- 
geben hat.  Nur  die  von  Clemm  nicht  erwähn- 
ten beiden  einfachen  Grundgedanken  Whitney’s 
seien  zuvor  noch  angeführt;  sie  sind  für  das 
Verständniss  seines  Werkes  und  die  Vergleichung 
seiner  Auffassung  mit  anderen  von  der  grössten 
Bedeutung,  da  er  sie  mit  echt  englischer,  fast 
an  Darwin  erinnernder  Folgerichtigkeit  und 
auch  wie  dieser  ohne  Scheu  vor  Wiederholun-  , 
gen  durch  alle  von  ihm  behandelten  Probleme  \ 
der  Sprachgeschichte  und  Sprachphilosophie 
durchgeführt  hat  und  eben  hiedurch,  während 
es  an  Anmuth  der  Darstellung  Max  Müller  in 
etwas  nachsteht,  sein  Werk  so  viel  instructiver 
ist  als  Müller’s  Vorlesungen.  Sie  lauten  in  des 


455 


Jolly,  Die  Sprachwissenschaft. 

Verfassers  eigenen  Worten  (Preface  zu  seinen 
Oriental  and  Linguistic  Studies  p.  VI):  »einer- 
seits ist  das  Sprachvermögen  eine  Eigenschaft 
des  Menschenwesens,  jedoch  nicht  seine  einzige 
charakteristische,  auch  keine  einfache  Eigen- 
schaft, sondern  die  Summe  und  der  Gesammt- 
effect  von  Eigenschaften,  die  auch  sonst  und 
zwar  in  kaum  minder  auffälliger  Weise  zu  Tage 
treten;  andrerseits  ist  jede  Sprache  das  con- 
crete Ergebniss  aus  einer  Aeusserung  dieses 
Triebs,  eine  allmälich  im  Verlauf  der  Geschichte 
sich  entwickelnde  Einrichtung,  ein  integrirender 
Bestandteil  in  dem  Culturleben  des  Volkes, 
j das  sie  spricht,  und  wie  alle  Cultur  pflanzt  sie 
sich  durch  Ueberlieferung  fort,  indem  sie  vom 
, Lehrer  auf  den  Schüler  und  yon  einem  Ge- 
schlecht auf  das  andere  übergeht«.  So  einfach 
diese  beiden  Axiome  scheinen,  so  fruchtbar  sind 
sie,  und  mit  eiserner  Gonsequenz  von  dem  Ver- 
fasserfestgehalten, von  seinen  Erörterungen  über 
die  Eingangs  aufgeworfene  Frage:  »Warum 
sprechen  wir  so  wie  wir  sprechen«  bis  zu  der 
billig  an  den  Schluss  gestellten  Besprechung  des 
Hauptproblems  dfer  Sprachphilosophie,  dem  Ur- 
t sprung  der  Sprache,  bilden  sie  den  festen  Rah- 
men, der  die  bequem  sich  ergehenden  allgemei- 
nen Deductionen  und  die  treffenden,  stets  aus 
der  englischen  Sprachgeschichte  gegriffenen  Er- 
läuterungen und  Beispiele  zusammen  hält. 

Mit  der  Erwähnung  der  letzteren  stehe  ich 
bereits  bei  dem  ersten  der  Punkte,  in  Betreff 
deren  eine  Abänderung  des  Originals  unabweis- 
bar geboten  schien.  Bei  Abfassung  seines  Werks 
hatte  Whitney  begreiflich  zunächst  nur  seine 
Landsleute  im  Auge;  von  Anfang  an  machte  er 
es  sich  daher,  wie  er  mir  schrieb,  zum  Grund- 
satz, seine  Beispiele  nur  dem  Wortschatz  und 


456  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 


der  Grammatik  seiner  Muttersprache  zu  entneh- 
men, damit  nicht  durch  Unbekanntschaft  mit 
den  Thatsachen  das  Verständniss  seiner  De- 
ductionen  erschwert  würde.  Er  theilte  mir  dies 
mit,  nachdem  ich  ihn  von  meiner  Absicht  ver- 
ständigt hatte,  in  der  erwähnten  Beziehung  mich 
an  das  Original  nicht  zu  binden,  sondern  wie 
er  von  der  englischen,  ebenso  durchgehende  von 
der  deutschen  Sprachgeschichte  auszugehen. 
Und  wie  er,  um  dies  gleich  hier  zu  erwähnen, 
mich  bei  Abfassung  meiner  Bearbeitung  über- 
haupt in  der  zuvorkommendsten  Weise  unter- 
stützt, mir  zu  Anfang  seine  Autorisation  ertheilt 
und  auch  die  seines  Verlegers  verschafft,  nach- 
her mir  eine  ganze  Reihe  zum  Theil  umfassen- 
der Berichtigungen  und  Zusätze,  namentlich  eine 
völlige  Umarbeitung  des  letzten  Drittels  der  11. 
(im  Original  der  10.)  Vorlesung  zugesandt  hat, 
so  ertheilte  er  auch  meinem  obigen  Vorschlag 
seine  ausdrückliche  Sanction,  da  es  für  ihn  nur 
wün8chenswerth  sein  könne,  einen  Grundsatz, 
den  er  sich  selbst  zur  Richtschnur  gemacht 
habe,  auch  in  dem  deutschen  Werke  befolgt  zn 
sehen.  Allerdings  werde  die  Durchführung  des- 
selben keine  geringe  Mühe  erfordern  und  viele 
Aenderungen  nothwendig  machen ; dadurch  werde 
aber  an  dein  zu  hoffenden  Erfolg  des  Werks, 
aus  dem  ich  ganz  Recht  thue  eine  Bearbeitung 
statt  eine  blosse  Uebersetzung  zu  machen,  mir 
ein  viel  grösserer  Antheil  gebühren,  als  sonst 
bei  Uebertragungen  eines  fremden  Werks  gewöhn- 
lich der  Fall  sei.  Ich  kann  wirklich  versichern, 
dass  mir  die  Aufgabe,  die  glücklich  gewählten 
Illustrationen  Whitney’s  aus  dem  Englischen 
möglichst  durch  ebenso  zutreffende  Thatsachen 
der  deutschen  Sprache  und  Sprachgeschichte  zn 
ersetzen,  in  vielen  Fällen  nicht  eben  leicht  ge- 


Jolly,  Die  Sprachwissenschaft.  45/ 

worden  ist,  am  wenigsten  in  der  Lehre  vom 
Bedeuttmgswechsel,  der,  wie  er  überhaupt  viel 
ungebundener  waltet  als  der  Lautwechsel,  selbst 
in  so  nahe  verwandten  Sprachen  wie  Deutsch 
und  Englisch  oft  die  allerverschiedensten  Rich- 
tungen einschlägt.  Und  durften  schon  hier  auch 
weitgehende  Abweichungen  von  dem  Original 
nicht  gescheut  werden  — so  habe  ich  als  Be- 
leg für  das  Fortdauern  auf  einem  Volksaber- 
glauben beruhender  Ausdrücke,  auch  nachdem 
dieser  Aberglaube  längst  verschwunden  ist,  für 
Whitney’s  lunacy  »Mondsucht«  den  in  Süd- 
deutschland verbreiteten  Ausdruck  »Ratten- 
könig« eingesetzt  und  dessen  Ursprung  erläu- 
tert — so  war  eine  einfache  Wiedergabe  des- 
selben noch  weniger  da  möglich,  wo  er  allge- 
meine Züge  aus  der  Geschichte  der  englischen 
Sprache  anführt,  die  in  dem  Wesen  derselben 
als  Mischsprache  ihren  Grund  haben.  In  sol- 
chen Fällen,  zu  denen  auch  der  Abschnitt  über 
die  ganz  eigenartig  entwickelte  englische  Ortho- 
graphie gehört,  schien  es  dem  Zwecke  der  Be- 
arbeitung besser  zu  entsprechen,  das  Original 
völlig  umzuarbeiten  als  auf  die  etwaige 'Ver- 
trautheit der  Leser  mit  dem  Englischen  zu 
rechnen. 

Aber  auch  noch  in  einer  zweiten  Richtung 
stellte  sich  mir  bald  die  Nothwendigkeit  heraus, 
eine  Reihe  noch  eingreifenderer  Veränderungen 
und  besonders  Zusätze  anzubringen.  Zuerst 
1867  erschienen  ist  das  Whitney’sche  Werk  auch 
in  den  folgenden  Auflagen  fast  unverändert  wie- 
der abgedruckt  worden;  nur  im  Ausdruck  hat 
nach  brieflicher  Mittheilung  der  Verfasser  hie 
und  da  nachgebessert,  die  Möglichkeit  weiter 
gehender  Berichtigungen  war  ihm  dadurch  ab- 
geschnitten, dass  das  Buch  nach  amerikanischer 


458  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 

Sitte  stereotypirt  worden  war.  Nun  hat  sich 
aber  bei  dem  erfreulichen  Aufschwung,  den  der 
Betrieb  der  Sprachwissenschaft  allerorten  in  den 
letzten  Jahren  genommen  hat,  der  Stand  der 
Forschung  in  einer  Reihe  wichtiger  Fragen  — 
ich  erinnere  beispielsweise  an  die  nach  der  Ent- 
stehung des  indogermanischen  Formenbaus,  über 
die  Whitney  Curtius’  »Chronologie«  noch  nicht 
zu  Rathe  ziehen  konnte  — völlig  geändert, 
diese  Fortschritte  durften  aber  am  wenigsten  in 
einem  in  Deutschland,  dem  Mutterlande  der 
Sprachwissenschaft,  erscheinenden  Werke  unbe- 
rücksichtigt bleiben.  Bei  den  Berichtigungen 
und  Zusätzen,  welche  sich  hieraus  als  nöthig 
ergaben,  hat  mich  zwar  der  Verfasser  selbst 
durch  die  schon  erwähnten  Beiträge  in  sehr 
wirksamer  Weise  unterstützt;  so  rühren,  um 
nur  die  umfangreicheren  Aenderungen  namhaft 
zu  machen,  die  Ersetzung  des  englischen  phy- 
siologischen Lautsystems  durch  eine  ent- 
sprechende Uebersicht  über  die  deutschen  Laute, 
dann  die  sehr  eingreifenden  Umänderungen,  welche 
in  der  8.  (7.)  Vorlesung  die  Entstehungsgeschichte 
der  indogerman.  Formen,  in  der  9.  und  10.  (8. 
und  9.)  besonders  die  Abschnitte  über  die  süd- 
und  mittelafrikanischen,  polynesischen  und  ame- 
rikanischen Sprachen  gegenüber  dem  Original 
aufweisen,  von  ihm  her.  Aber  auch  auf  meh- 
reren anderen  Gebieten,  so  namentlich  in  den 
drei  zusammengehörigen  Fragen  nach  der  Ur- 
heimat, den  Verwandtschaftsgraden  und  dem 
Gulturstande  der  Indogermanen,  in  den  Unter- 
suchungen über  die  Wurzelverwandtschaft  zwi- 
schen Semitisch,  Aegyptisch  und  Indogermanisch, 
sowie  in  den  Forschungen  über  die  Geschichte 
der  iranischen  und  griechischen  Sprachfamilie 
und  des  Altnordischen  schienen  mir  die  neuen 


Jolly,  Die  Sprachwissenschaft.  459 

Ergebnisse,  welche  die  gerade  hier  neuerdings 
zu  so  regem  Leben  erwachte  Forscherthätigkeit 
geliefert  hat,  zu  wichtig,  um  nicht  auch  in 
einem  Buche  von  gemeinfasslicher  Haltung  Platz 
zu  finden.  So  habe  ich  in  diesen  und  einigen 
anderen  minder  wichtigen  Fragen  den  jetzigen 
Stand  der  Forschung  in  einer  Reihe  von  An- 
merkungen zu  skizziren  gesucht,  an  einigen 
Stellen,  so  namentlich  in  den  bez.  Abschnitten 
der  7.  Vorlesung  (über  Geschichte  der  indo- 
german.  Sprachen)  auch  den  Text  selbst  abge- 
ändert. Gegen  die  Einwendungen,  die  gegen 
letzteres  Verfahren  gemacht  werden  könnten, 
bemerke  ich,  dass  eine  Verweisung  meiner  hier 
besonders  umfassenden  Zusätze  in  Anmerkungen 
die  Lesbarkeit  des  Buches  allzusehr  beeinträch- 
tigt haben  würde;  auch  musste  die  sonst  für 
Bearbeitungen  geltende  Regel,  die  Zusätze  des 
Bearbeiters  auch  äusserlich  irgendwie  von  dem 
Urtexte  zu  scheiden,  schon  in  den  früheren 
Vorlesungen  überall  durchbrochen  werden,  da 
es  natürlich  nicht  thunlich  war,  jedes  von 
mir  statt  eines  englischen  Beispiels  des  Ver- 
fassers beigebrachte  deutsche  Beispiel  ausdrück* 
lieh  als  von  mir  herrührend  zu  kennzeichnen. 
Dagegen  habe  ich  alle  irgendwie  wichtigen  An- 
merkungen, die  ich  selbst  beigefügt  habe,  mit 
einem  J.  versehen. 

Viel  mehr  als  die  beiden  bis  jetzt  bespro- 
chenen Classen  von  Veränderungen  fällt  nach 
Umfang  und  Inhalt  ein  dritter  Zusatz  ins  Ge- 
wicht, den  ich  in  Form  zweier  eigener  Vorle- 
sungen, der  14.  und  15.,  am  Schluss  des  gan- 
zen Werks  beigegeben  habe.  Da  ich  mich  hier- 
über, besonders  was  die  von  mir  benutzten 
Quellen  angeht,  in  der  Vorrede  ausführlich  habe 
vernehmen  lassen,  so  sei  hier  nur  das  Motiv 


460  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 


erwähnt , das  mich  bestimmte,  das  Whitney’sche 
Werk  mit  diesem  ihm  ganz  fremden  Ingrediens 
zu  versetzen.  Schon  individuelle  Neigungen 
haben  mich  wiederholt  auf  das  Gebiet  der  Ge- 
schichte der  Sprachwissenschaft  geführt  und  es 
mir  hei  allen,  vornemlich  die  vergleichende  Syn- 
tax betreffenden  linguistischen  Einzelunter- 
suchungen, die  ich  bisher  angestellt  habe,  zur 
Gewohnheit  gemacht,  von  möglichst  umfassen- 
den historischen  Studien  über  die  bisher  vor- 
liegenden Auffassungen  des  untersuchten  Pro- 
blems auszugehen.  Dieses  Interesse  für  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  wissenschaftlicher  Leh- 
ren bildet  aber,  irre  ich  nicht,  einen  Grundzug 
in  dem  gegenwärtigen  Betrieb,  vielleicht  der 
Wissenschaften  überhaupt,  jedesfalls  aber  der 
Sprachwissenschaftin  Deutschland ; Zeuge  dafürdie 
zahlreichen  und  zum  Theil  musterhaften  auf  die 
Geschichte  derselben  bezüglichen  Specialschriften, 
die  im  Laufe  der  letzten  Jahre  hervorgetreten 
sind.  Ein  so  tiefes  und  weit  verbreitetes  Inter- 
esse für  die  Geschichte  der  von  ihm  behandel- 
ten Wissenschaft  durfte  natürlich  ein  amerika- 
nischer Darsteller  derselben  bei  seinen  Lands- 
leuten nicht  voraussetzen,  die  erst  seit  kurzem 
angefangen  haben,  sich  überhaupt  damit  zu  be- 
schäftigen; aber  in  einem  deutschen  Werke 
musste,  wie  mir  schien,  dem  unverkennbaren 
Bedürfniss  des  deutschen  Publikums  Rechnung 
getragen  werden.  Uebrigens  habe  ich  mich  auch 
in  dieser  Beziehung  von  Whitney  voller  Zu- 
stimmung zu  erfreuen  gehabt. 

Nachdem  das  Original  so  bedeutende  Er- 
weiterungen erfahren  batte,  stellte  sich  die,  be- 
sonders von  dem  Verleger  betonte,  Nöthigung 
ein,  eine  Reihe  von  Kürzungen  anzubringen,  um 


j 


Pritzel,  Thesauras  Iiteratur&e  botanicae.  461 

das  für  weitere  Kreise  bestimmte  Buch  nicht 
unhandlich  werden  zu  lassen.  Bei  Vornahme 
derselben  richtete  ich  mein  Augenmerk  auf  die- 
jenigen Stellen,  wo  sich  Whitney  in  bequemer,  ja 
zuweilen  ermüdender  Breite  gehen  lässt;  eine 
grössere  zusammenhängende  Partie  seines  Werks 
ist  nur  in  der  siebenten  Vorlesung,  nemlich  der 
Abschnitt  über  die  Principien  der  Sprachverglei- 
chung, ausserdem  der  alphabetische  Index  und 
die  sehr  ausfürliche  »Analysis«  am  Schluss  weg- 
geblieben. Trotz  der  zusammengenommen  sehr 
beträchtlichen  Kürzungen  füllt  aber  die  aller- 
dings splendider  gedruckte  deutsche  Bearbeitung 
nahezu  zweihundert  Seiten  mehr  als  das  Original. 

Würzburg.  Julius  Jolly. 


1.  Thesaurus  literaturae  botanicae 
omnium  gentium  inde  a rerum  botanicarum  ini- 
tiis  ad  nostra  usque  tempora,  quindecim  millia 
operum  recensens.  Editionem  novam  reforma- 
tam  curavit  G.  A.  Pritzel.  Fase.  I — IV.  plag. 
1—40.  Lipsiae,  F.  A.  Brockhaus,  1872.  in  4. 

2.  Nomenclator  botanicus.  Nominum  ad 

finem  anni  1858  publici  juris  factorum,  classes, 
ordines,  tribus , familias , divisiones,  genera, 
subgenera  vel  sectiones  designantium,  enumeratio 
alpbabetica.  Adjectis  Auctoribus,  Temporibus, 
Locis  systematicis  apud  Varios,  Notis  literariis 
atque  etymologicis  et  Synonymis.  Conscripsit 
Ludovicus  Pfeiffer.  Vol.  I.  Fase.  1 — 20. 
Vol.  II.  Fase.  1 — 20.  Cassellis , Sumptibus 

Th.  Fischeri,  1872—1873.  Gr.  8. 

Indem  wir  vorstehende  zwei  Werke  der  bo- 


i 

i. 


462  Gott»  gel.  Anz.  1874.  StSck  15« 


tanischen  Literatur  zusamm erstellen , beschleicht 
uns  ein  Gefühl  patriotischer  Genugtuung. 
Denn  es  gibt  auch  einen  Fleiss,  welchen  man 
einen  classischen  nennen  kann,  und  ein  solcher 
erfordert,  wenn  er  mit  der  notwendigen  Ge« 
wissenhaftigkeit  verbunden  ist,  in  Wissenschaft* 
liehen  Dingen  Geisteseigenschaften,  die,  wie  es 
scheint,  nicht  jedem  Volke  zu  Gebote  stehen. 
Thatsache  wenigstens  ist  es , dass  ähnliche 
Werke,  wie  die  beiden  obigen,  fast  immer  nur 
von  deutschen  Gelehrten  unternommen  und  zu 
Ende  geführt  wurden.  Sie  setzen  eben  einen 
wahren  Bienenfleiss  voraus,  dem  sich  unter  allen 
Umständen  der  Esprit  unterordnen  muss,  wel- 
cher hier  keinerlei  Gelegenheit  hat  sein  Licht 
leuchten  zu  lassen.  Sammelwerke  zwar  nennt 
man  dergleichen  literarische  Erscheinungen ; 
allein,  wenn  auch  darin  sofort  das  mechanische 
Element  seinen  Ausdruck  erhält,  so  würden  wir 
doch  sehr  irren,  wenn  wir  glaubten,  dass  solche 
Bücher  nur  schablonenartig  zu  Stande  gebracht 
würden.  Es  wäre  sehr  leicht  nachzu weisen,  dass 
auch  hier  die  Kritik  eine  grosse  Bolle  zu  spie- 
len hat,  dass  dergleichen  Bücher  durchaus  einen 
wissenschaftlich  angelegten  und  entwickelten 
Menschen  voraussetzen.  Jedesfalls  muss  das 
Erscheinen  zweier  Sammelwerke  von  so  grossem 
Umfange,  wie  ihn  beide  besitzen,  zu  derselben 
Zeit  eine  Art  von  Ereigniss  für  den  deutschen 
Geistesmarkt  sein. 

Von  beiden  Werken  ist  No.  1 das  ältere, 
gewisserma8sen  die  Fortsetzung  dessen,  was 
Albrecht  von  Haller  nun  gerade  vor  102 
Jahren  in  seiner  Bibliotheca  botanica  hinter- 
lassen hatte.  Es  erschien  zuerst  im  Jahre  1847, 
in  welchem  die  ersten  drei  Hefte  vollendet  wur- 
den, und  Bef.  erinnert  sich  noch  sehr  gut  der 


| Pritzel , Thesaurus  literaturae  botanicae.  46S 

i 

f 

| Zeit,  wo  der  Verf.  mit  seinem  grossen  Fächer* 
kästen  durch  die  Welt,  nach  Genf,  Paris  u.s.w. 
zog,  um  in  verstäubten  Bibliotheken  nach  den 
Titeln  und  Ausgaben  botanischer  Werke  zu 
spähen,  sie  alphabetisch  zu  sichten,  und  mit 
kritischen  Bemerkungen  zu  begleiten.  Seine  bi- 
bliographischen Forschungen  ernteten  dafür  aber 
auch  den  Beifall  der  Urtheilsfähigen,  und  wenn 
mau  die  kurze  Anzeige  darüber  liest,  welche 
der  competente8te  Aller,  der  leider  zu  früh  ver- 
storbene, ausgezeichnete  botanische  Geschichts- 
schreiber Ernst  Meyer  in  Königsberg,  in  der 
botanischen  Zeitung  vom  13.  April  1849  darüber 
schrieb , so  bedurfte  es  kaum  noch  eines  andern 
Lobes,  um  dem  Pritzel’schen  Thesaurus  seinen 
Platz  neben  den  hervorragendsten  Erscheinun- 
gen der  bibliographischen  Literatur  anzuweisen. 
Er  auch  war  es,  der  dem  Verf.  später  eine 
seinen  Fähigkeiten  zusagende  und  passende  Stel- 
lung an  der  £.  Bibliothek  zu  Berlin  ver- 
schaffte. In  keiner  andern  Stellung  hätte  der 
Verf.  so  viel.  Gelegenheit  gehabt,  Altes  zu  cor- 
rigiren,  Vergessenes  und  Uebersehenes  nachzu- 
tragen, sowie  das  Neuerschienene  bis  auf  die 
neueste  Zeit  hinzuzufügen.  Trotzdem  beschränkte 
sich  der  Verf.  nicht  allein  auf  die  Berliner 
Bibliotheken,  sondern  ging  auch  nach  England, 
wo  er  besonders  die  reichhaltige  Büchersamm- 
lung  des  K.  Bot.  Museums  in  Kew  durchstöberte, 
nochmals  nach  Paris,  um  namentlich  die  Biblio- 
thek der  Societe  botanique  de  France  zu  be- 
nutzen, nach  Padua,  wo  die  Bibliothek  des  bo- 
tanischen Gartens  als  ein  wahrer  Schatz  für 
die  ältere  Literatur  dasteht,  nach  Venedig,  um 
auch  die  Bibliothek  von  San  Marco  zu  verwer- 
then,  nach  München,  wo  sich  damals  noch  die 
später  verauktionirte  reichhaltige  Bibliothek  des 


464  Gott.  gel.  Anz,  1874.  Stück  15. 

verstorbenen  Professors  Philipp  von  Mar- 
tius  befand,  u.  s.  w. 

Schon  wegen  dieser  grossen  neuen  Ernte 
hätte  sich  eine  neue  Auflage  des  Werkes  noth- 
wendig  gemacht,  wenn  man  nicht  geradezu  be- 
haupten könnte,  dass  eine  solche  schon  nach 
jedem  neuen  Vierteljahrhundert  wünschenswerth 
sei.  In  unserem  Jahrhunderte  wenigstens  hat 
die  Wissenschaft  während  eines  solchen  Zeitraums 
stets  eine  ganz  neue  Gestalt  gewonnen,  und  da 
dieselbe  nicht  ohne  einen  gänzlichen  Wechsel  der 
Literatur  denkbar  ist,  so  liegt  der  Beweis  für 
unsere  Behauptung  auf  der  Hand.  Bef.  z.  B. 
sah  sich  genöthigt,  bevor  der  Verf.  seine  zweite 
Auflage  anzeigte,  sorgfältig  die  Cataloge  aller 
verkäuflichen  botanischen  Bibliotheken,  sowohl 
der  Privaten  als  auch  der  Antiquare,  ja,  selbst 
den  »Vierteljahrs-Catalog  aller  neuen  Erschei- 
nungen im  Felde  der  Literatur  in  Deutschland« 
(Leipzig,  Verlag  der  J.  C.  Hinrichs’schen  Buch- 
handlung) zu  sammeln,  um  sich  in  den  betref- 
fenden Fällen  diejenige  Aufklärung  zu  verschaf- 
fen, welche  uns  nun  der  Pritzel’sche  Thesaurus 
in  nuce  auf  das  bequemste  mittheilt.  Ueber- 
dies  versah  der  Verf.  der  neuen  Auflage  sein 
Werk  diesmal  mit  zahlreichen  biographischen 
Notizen  über  die  einzelnen  Schriftsteller,  so 
dass  nun  aus  dem  alten  Werke  ein  vollständig 
neues  wurde.  Dass  uns  davon  noch  immer 
zwei  Hefte  seit  1872  fehlen,  liegt  daran,  dass 
der  Verf.,  wie  wir  hören,  leider  seitdem  erkrankt 
ist.  Hoffentlich  führt  aber  Herr  Dr.  Pritzel 
sein  Werk  noch  selbst  zu  Ende. 

Sollen  wir  nun  ein  Urtheil  über  die  vor- 
liegende zweite  Auflage  fällen,  so  hätten  wir 
im  Guten  wie  im  Bösen  nur  zu  wiederholen, 
was  Ernst  Meyer  über  die  erste  Auflage 


4 


r 

Pritzel,  Thesaurus  literaturae  botanicae.  465 

schrieb.  Was  dieser  an  dem  angegebenen  Orte 
tadelte,  scheint  durchweg  beherzigt  zu  sein,  so 
dass  diesmal  das  Werk  nicht  mehr  mit  Aa  (Pe- 
trus van  der),  sondern  mit  Abat  beginnt  und 
Aa  wahrscheinlich  unter  Vanderaa  erscheinen 
wird.  Das  Gute  brauchen  wir  nicht  mehr  zu 
loben;  denn  darüber  ist  längst  gerichtet.  Das 
Böse  aber,  was  wir  zu  erwähnen  haben  würden, 
liefe  im  Allgemeinen  darauf  hinaus,  dass  trotz 
des  ausserordentlichen  Sammelfleisses  und  der 
Umsicht  des  Verf.  doch  noch  manches,  selbst 
manches  neuere  Buch  übersehen  wurde.  Selbst- 
verständlich wird  das  bei  jeder  derartigen 
Bibliographie  sich  als  ein  allen  Schriftstellern 
| anhängender  Mangel  wiederholen;  doch  fand 
Bef.  einzelne  Lücken,  die  ihm  um  so  weniger 
begreiflich  sein  konnten,  als  sich  der  Verf.  mit 
den  betreffenden  Autoren  hinlänglich  beschäf- 
tigt,  ja,  selbst  biographische  Notizen  über  sie 
beigebracht  hatte.  So  z.  B.  vermissen  wir  bei 
G.  W.  Focke  gerade  dessen  Hauptschrift  »Phy- 
siologische Studien«  Bremen  bei  G.  Schünemann 
1847,  gr.  4.  64 S.,  bei  Earl  Müller  von  Halle 
dessen  bryologisches  Hauptwerk  »Synopsis  Musco- 
rum  frondosorum«  Berolini,  sumptibus  Alb. 
Eoerstner,  1847—1851,  2 Bde,  8.  1.  Bd.  812, 
2.  Bd.  772  S.,  während  der  Verf.  doch  dessen 
populäres  bryologisches  Werk  »Deutschlands 
Moose«  u.  s.  w.  ganz  richtig  zur  Anzeige  brachte. 
Manche  Schriftsteller  kommen  aber  noch  viel 
unglücklicher  weg;  so  z.  B.  Professor  S.  0. 

, Lindberg  (5322)  in  Helsingfors,  von  welchem 
der  Verf.  nur  eine  einzige  kleine  Schrift  bio- 
logischen Inhalts  kennt,  während  derselbe,  wenn 
Verf.  auch  dessen  übrige  Extraabdrücke  aus 
verschiedenen  Zeit-  und  Gesellschaftsschriften 
aufnehmen  wollte,  wie  er  nach  seinem  eigenen 

30 


i 


466  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stock  15. 

Vorgänge  musste,  nicht  weniger  als  31  Abhand- 
lungen, darunter  eine  von  15  Bogen  Umfang, 
schrieb.  Aehnliches  passirt  dem  Verf.  auch  bei 
A.  Jäger  (4376 — 78),  für  welchen  bis  heute 
noch  drei  Abhandlungen  nachzutragen  sein  wür- 
den, ebenso  bei  Molen  do  (6359),  dessen 
»Laubmoose  Oberfrankens«  im  Jahre  1863  in 
Commission  bei  W.  Engelmann  in  Leipzig  er- 
schienen u.  8.  w.  Ref.  könnte  dem  Verf.  in 
dieser  Weise  schon  auf  dem  bryologischen  Ge- 
biete eine  recht  stattliche  Nachlese  veranstalten; 
doch  macht  er  diese  Bemerkung  nicht  aus  Ani- 
mosität gegen  den  Verf.,  sondern  um  an  diesem 
Beispiele  zu  zeigen,  dass  der  Bibliograph  nach- 
gerade da  angekommen  ist,  wo  er  die  Hilfe  der 
Monographen  in  Anspruch  zu  nehmen  hat,  wenn 
er  die  menschenmöglichste  Vollständigkeit  er- 
reichen will.  Nur  der  Monograph  allein  ist  im 
Stande,  weil  er  sich  im  Einzelnen  concentriert, 
weil  er,  um  mit  Schiller  zu  reden,  im  klein- 
sten Punkte  die  höchste  Kraft  sammelt,  — die 
ganze  Literatur  seiner  betreffenden  Disciplin  zu 
übersehen;  um  so  mehr,  als  er  fortwährend  mit 
den  Bedeutendsten  seines  Faches  gerade  die- 
jenigen Schriften  auszutauschen  pflegt,  welche 
im  Buchhandel  nur  schwer  oder  gar  nicht  zu 
erlangen  sind. 

Ref.  knüpft  an  diesen  Punkt  überhaupt  eine 
allgemeinere  Betrachtung  über  bibliographische 
Werke  der  vorliegenden  Art.  Unter  allen  Um- 
ständen erweist  sich  für  den  Literaten  auch 
ein  bibliographisches  Lexikon  mit  alphabetischer 
Anordnung,  wie  das  P r i t z e 1 * sehe,  segensreich, 
und  wir  glauben  gern,  dass  diese  Anordnung 
für  einen  Anfang  genüge,  den  Pritzel  selbst 
unternahm,  ohne  sich  viel  auf  seine  Vorgänger 
stützen  zu  können.  Dennoch  glauben  wir  auf 


Pritzel,  Thesaurus  literaturae  botanicae.  467 

der  andern  Seite,  dass  diese  alphabetische  Be- 
handlung der  Wissenschaft  nicht  ganz  würdig 
ist.  Das  letzte  Ziel  einer  Bibliographie  soll 
nicht  ein  Nachschlagewerk,  sondern  eine  Ent- 
wicklung der  betreffenden  Wissenschaft  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  auf  die  neuesten  Tage  sein. 
Eine  solche  kann  nur  erreicht  werden,  wenn 
die  angezeigten  Schriften,  nach  den  einzelnen 
Disciplinen  geordnet,  die  Schriftsteller  auffuhren, 
wie  sie  nach  einander  erschienen  oder  mit 
einander  als  Zeitgenossen  die  betreffenden  Dis- 
ciplinen fortentwickelten.  Wir  kennen  nur  we- 
nige Versuche,  wo  dieser  Weg  eingeschlagen 
wurde;  z.  B.  als  es  sich  im  Jahre  1851  darum 
handelte,  ein  Verzeichniss  der  von  dem  botani- 
schen Professor  Link  in  Berlin  Unterlassenen 
grossen  Bibliothek  zum  Behufe  der  Verauctioni- 
rung  aufzunehmen.  Hier  waren  die  Schriften 
nach  21  Rubriken  geordnet.  Zum  Theil  noch 
vorzüglicher  war  1852  der  Catalog  der  Biblio- 
thek von  Laurentius  Oken  geordnet,  näm- 
lich in  17  Rubriken,  welche  theilweis  in  Unter- 
abtheilungen zerfielen.  In  ähnlicher  Weise  ge- 
ordnet, erschien  auch  mehrere  Jahre  hindurch 
(1851 — 1859)  die  Bibliotheca  Historico  — Na- 
turalis  physico  — chemica  et  mathematica  von 
dem  leider  zu  früh  verstorbenen  Leipziger  Buch- 
händler Ernst  A.  Zuchold  bei  Vandenhoeck 
und  Ruprecht  in  Göttingen. 

Alle  diese  und  ähnliche  Versuche  schlugen 
ohne  Zweifel  einen  Weg  ein,  der,  da  sich  die 
Wissenschaften  sämmtlich  immer  monograpM- 
scher  theilen , dem  einzelnen  Forscher  der 

praktischere  und  geistvollere  sein  muss.  Wir 
wissen  sehr  wohl,  was  wir  damit  fordern.  Der 
Bibliograph  ist  aber  auch  kein  Mechaniker,  son- 
dern ein  Kritiker,  und  sein  Gebiet  ist  nachge- 

30* 


468  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15« 

rade  so  ausgedehnt  geworden,  dass  seine  Dis- 
ciplin  mehr  als  ein  Menschenleben  auszufällen 
vermag.  Wer  aber  den  angegebenen  Weg  ein- 
schlüge, dürfte  sicher  sein,  wahrhaft  Classisches 
unternommen  und  durchgeführt  zu  haben.  Wir 
jedoch  wollen  vorläufig  nur  gratuliren,  dass  wir 
mindestens  einen  Pr itzeT sehen  Thesaurus 
besitzen,  der  für  seinen  Nachfolger  die  vorzüg- 
lichste Grundlage  einer  botanischen  Cultur- 
geschichte  der  oben  beregten  Art  werden  muss. 

Wenn  das  Pritzel’sche  Werk  es  nur  mit 
den  botanischen  Schriftstellern  zu  thun  hatte, 
so  hat  es  das  Pfeiffer 'sehe,  unter  No.  2 auf- 
geführte, nur  mit  den  botanischen  Klassen,  Ord- 
nungen, Gruppen,  Familien,  Abtheilungen,  Gat- 
tungen, Untergattungen  und  Sectionen  zu  thun. 
Auch  hier  scheint  die  Arbeit  nur  das  Produkt 
des  Fleisses  zu  sein;  doch  ein  einziger  tieferer 
Blick  belehrt  uns,  dass  das  Mechanische  des 
Sammelns  nicht  ohne  wissenschaftliche  Kritik 
denkbar  ist.  Schon  im  Jahre  1848  kündigte 
der  Verf.  sein  Werk  in  der  Botanischen  Zeitung 
vom  1.  December  an,  und  er  war  sich  schon 
damals  bewusst,  auf  welche  Schwierigkeiten  er 
stossen  würde.  »Eine  Arbeit,  schrieb  er,  wie 
ich  mir  den  neuen  Index  denke,  hat  allerdings, 
bei  der  ungeheuren  Menge  des  zu  bewältigen- 
den Materiales,  etwas  Abschreckendes,  und  den- 
noch habe  ich  mich  dazu  entschlossen,  weil  ich 
fand,  dass  meine  seit  langen  Jahren  für  meinen 
eigenen  Gebrauch  angelegte  Notizen-  und  Ex- 
cerptensammlung  mir  schon  eine  bedeutende 
Grundlage  lieferte,  gleichsam  ein  Baugerüste,  in 
welchem  die  einzelnen  Fächer  allmälig  nur  aus- 
gebaut zu  werden  brauchen«.  Von  diesem  Zeit- 
punkte an  arbeitete  der  Verf.  unverdrossen  wei- 
ter, bis  er  im  Jahre  1871  soweit  war,  auch 


Pfeiffer,  Nomenclator  botanicus.  469 

einen  Verleger  zu  finden,  welcher  das  volumi- 
nöse Werk,  — 2 Bände  mit  200  Druckbogen 
mit  dem  sich  der  Verf.  nachgerade  über  30 
Jahre  beschäftigt  hatte,  muthig  für  die  Publica- 
tion übernahm. 

Als  der  Verf.  zu  arbeiten  begann,  waren  es 
die  mehr  oder  weniger  allgemeineren  Werke 
eines  Tournefort,  Vaillant,  Linne,  Adam- 
son, Hill,  Jussieu,  Necker,  Ventenet, 
Forster,  Thunberg,  Medicus,  Gmelin, 
Mönch,  Hoffmann,  Willdenow,  Acha- 
rius,  Fries,  R.  Brown,  Schrader,  Link, 
Sprengel,  Decandolle,  Reichenbach, 
Nees,  D.  Koch,  Endlicher,  Walpers 
u.  s.  w.,  die  der  Verf.  nebst  den  botanischen 
Artikeln  des  60  Bände  starken  Dictionnaire  des 
sciences  naturelles,  sowie  der  meisten  botani- 
schen Zeitschriften  und  akademischen  Samm- 
lungen bereits  durchgearbeitet  hatte.  Diese 
stattliche  Reihe  von  Werken  war  aber  nur  ein 
Minimum  dessen,  was  noch  vor  ihm  stand  und 
was  namentlich  in  den  zahlreichen  Werken  der 
Monographen  gesucht  werden  musste.  Gleich 
Pritzel  hatte  auch  unser  Verf.  keine  eigent- 
lichen Vorgänger,  da  diese  stets  in  einer  andern 
Richtung  ihre  zusammenfassenden  Nomenclato- 
ren  verfasst  hatten.  Dem  nächsten  Vorgänger, 
Steudel,  kam  es  nur  darauf  an,  sämmtliche 
bekannte  Arten  mit  ihren  Synonymen  aufzu- 
zählen; hier  dagegen  sollten  die  Gruppen  auf- 
gesucht, alphabetisch  geordnet  und  nicht  nur 
nach  ihren  Synonymen,  sondern  auch  nach  dem 
verschiedenen  Sinne  aufgezählt  werden,  in  wel- 
chem sie  von  den  verschiedensten  Autoren  seit 
ihrer  Begründung  gebraucht  worden  waren. 
Jeder  einzelne  Pflanzenname  musste  auf  diese 
Weise  gewissermassen  seine  Hauptgeschichte 


470  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 

durch  die  literarischen  Nachweise  in  sich  selbst 
abspiegeln,  so  dass  jeder  neue  Schriftsteller  so- 
gleich das  ganze  Bild  dessen  empfangt,  mit  dem 
er  sich  eben  beschäftigen  will.  Man  könnte  es 
dem  Verf.  fast  zum  Vorwurfe  machen,  dass  er 
diese  literarischen  Nachweise  so  weit  ausdehnte, 
obgleich  jedes  Gitat  schliesslich  seinen  Vortheil 
bringen  muss.  Selbst  die  Etymologie  der  ein- 
zelnen Namen  kommt  hierbei,  obschon  nicht 
durchgreifend,  zu  ihrem  Hechte.  Kurz  und  gut: 
man  weiss  sofort,  was  unter  dem  betreffenden 
Namen  hat  verstanden  sein  sollen  und  wie  ihn 
die  einzelnen  Forscher  nach  den  verschiedenen 
Pflanzensystemen,  nach  ihren  abweichenden  Clas- 
sifications-Ansichten verstanden  haben.  Wie 
man  also  bei  P r i t z e 1 gleichsam  eine  Geschichte 
jedes  botanischen  Buches  empfangt,  so  empfangt 
man  hier  die  Geschichte  eines  jeden  Pflanzen- 
namens, soweit  er  nur  Gattungen,  Classen,  Ord- 
nungen u.  s.  w.  betrifft.  Zwar  gab  der  Verf. 
bereits  zwei  Jahre  früher  (1870)  eine  kurzge- 
fasste »Synonymia  botanica«  heraus , welche 
diese  Namen  ebenfalls  alphabetisch  und  nach 
dem  natürlichen  Systeme  ordnete;  allein  dieselbe 
war  eben  nur  ein  Lexikon  ohne  jeglichen  lite- 
rarischen Nachweis,  gleichsam  nur  das  Hand- 
buch für  seinen  Nachfolger,  der  nun  ganz  als 
Lehrbuch  aufgefasst  werden  muss. 

Auf  den  ersten  Blick  hin  scheint  das  Alles 
freilich  höchst  mechanisch,  und  Mancher  dürfte 
sich  vielleicht  fragen:  wozu  so  unsägliche  An- 
strengungen, da  sie  doch  nur  dürres,  geistloses 
Gerippe  sind?  Die  Antwort  aber  ist  höchst 
einfach:  weil  die  Wissenschaft  ohne  dergleichen 
Apparate,  welche  ganze  kostbare  Bibliotheken 
ersetzen,  gar  nicht  gedacht  werden  kann.  Wer 
nicht  die  Geschichte  des  Gegenstandes  kennt, 


Pfeiffer,  Nomenclator  botanicus.  471 

mit  dem  er  sich  wissenschaftlich  beschäftigen 
will,  weiss  überhaupt  nicht,  was  er  noch  zu  er- 
forschen habe.  Darum  eilt  auch  jeder  For- 
scher, sich  diese  Geschichte  zuvor  zu  eigen  zu 
' machen;  erst  nachdem  er  sie  vollständig  über- 
blickt, darf  er  darauf  rechnen,  Neues  zu  finden, 
das  schon  Erforschte  unter  seine  etwaigen  neuen 
Gesichtspunkte  zu  bringen,  mit  Einem  Worte: 
die  Wissenschaft  zu  entwickeln.  So  ist  es  in 
jeder  Wissenschaft,  so  ist  es  in  einem  eminen- 
ten Sinne  auch  auf  dem  Gebiete  der  Classifica- 
! tion.  Nirgends  mehr,  als  gerade  hier,  ist  der 
reichhaltigste  Apparat  an  Pflanzen,  Büchern  und 
geschichtlichen  Nachweisen  nothwendig.  Wir 
übertreiben  nicht,  wenn  wir  behaupten,  dass  die 
1 Literaturkenntniss  de«  Classificators  vielleicht 
den  Höhepunkt  aller  Gelehrsamkeit  erreicht, 
weil  die  Forschungen  meist  nur  Detailforschun- 
gen und  darum  gewöhnlich  auf  das  Allerunan- 
genehmste in  den  oft  kostbarsten,  schwer  zu- 
gänglichen Werken  zerstreut  sind.  So  gross 
der  Wirrwarr  sein  würde,  wenn  die  einzelnen 
Forscher  ohne  Rücksichtnahme  auf  ihre  Vor* 
ganger  ihre  eigenen  Beobachtungen  publiciren 
wollten,  so  gross  ist  nun  der  Segen,  welchen 
dergleichen  zusammenfassende  Sammelwerke  in 
sich  tragen.  Sie  ermöglichen  erst  die  Einheit 
der  Wissenschaft,  helfen  jedem  Einzelnen  zu 
seiner  Priorität  und  werden  darum  zu  Wissen- 
schaft selbst. 

Leider  zwar  reicht  das  vorliegende  Werk  nur 
bis  zum  Jahre  1858.  Allein  das  war  kein  Feh- 
ler des  Verf.,  sondern  derselbe  musste  nothge- 
drungen  mit  einem  bestimmten  Jahre  ab- 
schliessen,  wenn  nicht  die  Einheit  und  Durch- 
sichtigkeit des  Ganzen  empfindlich  darunter  lei- 
den sollten.  Bis  zu  dem  genannten  Zeitpunkte 


472  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 

liegt  das  Manuscript  fertig  vor,  so  dass  der 
Verleger  es  iu  der  Hand  hatte,  sogleich  mit 
beiden  Bänden  zu  beginnen.  Bis  auf  diese 
Stunde,  wo  wir  schreiben,  liegen  von  dem  er- 
sten 18  Hefte  (ä  Subscriptionspreis  l1/*  Thlr., 
Ladenpreis  2 Thlr.),  von  dem  zweiten  die  er- 
sten 16  Hefte  vor,  welche  in  höchst  übersicht- 
lichem Drucke  ihren  Inhalt  zur  Anschauung 
bringen.  Verdient  nun  der  Verf.  für  das  Alles 
nicht  nur  unsere  höchste  Anerkennung,  sondern 
auch  unsern  wärmsten  Dank,  so  muss  sich  Bei- 
des um  so  höher  steigern,  als  er  Wahrscheinlich 
schon  wieder  darüber  ist,  auch  die  Zeit  von 
1858  bis  heute  nachzutragen.  Damit  wird  sein 
Werk  im  vollsten  Sinne  ein  wahrhaft  geschicht- 
liches Denkmal  unter  den  bibliographischen 
Werken  sein,  geeignet,  dem  deutschen  Namen 
aufs  Neue  die  höchste  Ehre  zu  bringen. 

— r. 


Augustin  Tüngers  Facetiae , herausgegeben 
von  Adelbert  von  Keller.  Tübingen  1874. 
163  Seiten  Grossoctav  (Bibliothek  des  Litera- 
rischen Vereins  in  Stuttgart.  CXVIII). 

Ueber  die  Lebensverhältnisse  Tüngers  ist 
nichts  weiter  bekannt  als  was  sich  aus  den  in 
vorliegendem  Buche  zerstreuten  Angaben  er- 
sehen lässt,  die  der  Herausgeber  zusammenge- 
stellt hat.  Es  erhellt  daraus,  dass  Tünger  wahr- 
scheinlich im  J.  1455  zu  Endingen,  einem  jetzt 
zum  würtembergiscben  Oberamt  Balingen  ge- 
hörigen Pfarrdorfe  geboren  wurde,  zu  Erfurt 
studirte,  23  Jahre  alt  in  ärmlichen  Umständen 
heirathete,  später  aber  Procurator  des  bischöf- 


t.  Keller,  Augustin  Tüngers  Facetiae.  473 

lichen  Hofes  zu  Konstanz  war.  Die  im  J.  1486 
verfasste  Schwänkesammlung  ist  dem  Grafen 
Eberhard  von  Würtemberg  und  Mömpelgard  dem 
Aeltern  gewidmet,  womit  der  1445  geborene 
Graf  Eberhard  im  Bart  gemeint  sein  muss,  des- 
sen Vetter,  Graf  Ulrichs  Sohn,  Eberhard  der 
Jüngere  hiess.  Da  jener  erstere  kein  Latein* 
verstand,  ist  der  in  dieser  Sprache  abgefassten 
Sammlung  vom  Verfasser  eine  deutsche  Ueber- 
setzung  beigefügt,  welche  nicht  rein  hochdeutsch 
ist,  wie  Keller  anmerkt,  sondern  die  Färbung 
des  südschwäbischen  Idioms  trägt,  welches  an 
das  alemanische  streift.  Die  früher  dem  Klo* 
ster  Weingarten,  jetzt  der  k.  Handbibliothek  zu 
Stuttgart  gehörige  und  1486  geschriebene  Per- 
gamenthandschrift galt  einige  Zeit  lang  für  ver- 
j loren  (s.  Kellers  Bemerk,  zu  Uhlands  Schriften 
zur  Gesch.  u.  Sage  7,  622). 

Was  nun  die  Schwänke  selbst  betrifft,  so 
enthält  die  Sammlung  deren  54,  die  von  Mora- 
lisationen  begleitet  sind  und  von  denen  die 
Mehrzahl,  hier  zum  ersten  Mal  mitgetheilt,  auf 
wirklichen  Vorfällen  zu  beruhen  scheint,  an- 
dere dagegen  auch  sonst  bekannt  sind,  wie  z.  B. 
no.  14,  die  ich,  da  sie  nur  sehr  kurz  ist,  als 
Probe  des  Tünger’schen  Stils  folgen  lasse: 

>Ain  gepur  uß  Hessen  kämm  in  die  stat 
Ertfurt,  und  als  er  onge verde  für  ain  appoteg 
gieng  und  im  sölicher  geschmack  nicht  gewon 
was,  viel  er  nider  geschwunden.  Und  wann 
aber  die  lüt  zuo  luffen,  in  ze  laben,  und  ma- 
nigerlay  uß  der  appotegk  raichten,  wenn  sy  an 
der  hand  was,  und  im  es  für  huoben,  rieht  er 
sich  nicht  allain  nicht  dester  mer  uff,  sondern 
ward  im  ie  lenger  ie  onmechtiger,  biß  das  ainer 
her-zuo  luff,  der  erwuscht  (mit  urloub  uwer 
I genaden)  kuemist  und  huob  im  in  fürdienasen. 


474  Gott.  gel.  Auz.  1874.  Stück  15. 


Da  huob  der  gepur  erst  uff  sine  ougen  gen 
himel  und  kam  wider  zno  im  selber«. 

Ygl.  hiermit  die  von  Gödeke  in  Benfey’sOr. 
u.  Occid.  2,  260  angeführten  zwei  Parallelen  ans 
Stephani  de  Borbone’s  (f  1262)  Liber  de  septem 
donis  spiritns  sancti  und  aus  Dschellaleddin 
•Rumi’s  Mesnewi  (geschrieben A 1263).  Füge  hinzu 
das  Fabliau  vom  Villain  Anier,  bei  dem  Le 
Grand  auch  auf  die  Histoires  Facetieuses  et  Mo- 
rales p.  189  verweist. 

Die  no.  44,  wo  ein  auf  der  Reise  befindlicher 
schwäbischer  Zunftmeister  in  der  Herberge  ein 
Kalb  geboren  zu  haben  träumt  und,  da  er  beim 
Erwachen  ein  solches  auch  neben  sich  findet, 
den  Traum  erfüllt  glaubt,  gehört  zu  den  von 
Oesterley  zu  Kirchhofs  Wendunmuth  1,  2,42 
verzeichneten  Schwänken.  — In  no.  30  liegt 
ein  Bäcker  statt,  wie  er  glaubt,  bei  der  Magd 
vielmehr  bei  der  eigenen  Frau  und  preist  dann, 
ohne  sie  zu  erkennen,  gegen  sie  selber  ihre 
Schönheit  und  Anmuth  über  alle  Massen.  Man 
denkt  hierbei  an  v.  d.  Hagens  Gesammtabent. 
no.  32  »Ehestand,  Tod  und  Hochzeit«,  so  wie 
andererseits  in  Tüngers  no.  12  der  Bauer  und 
die  Birnen  an  die  Stelle  der  Sibylle  und  der 
von  ihr  an  Tarquinius  verkauften  Bücher  ge- 
treten zu  sein  scheinen.  — Bei  der  no.  45, 
wo  ein  junger  Mensch,  dem  sein  Vater,  um  ihn 
vom  Trunk  abzugewöhnen,  einen  auf  offener 
Strasse  liegenden  Säufer  zeigt,  dadurch  nur  za 
der  Frage  veranlasst  wird,  wo  der  Schankwirth 
wohne,  der  so  guten  Wein  verkaufe,  verweist 
Keller  auf  Oesterley  zu  Pauli  Schimpf  und  Ernst 
c.  21,  bei  welchem  letztem  sich  auch  noch 
manche  andere  Parallele  zu  Tüngers  Schwänken 
finden  möchte,  von  denen  ich  hier  nur  diejeni- 
gen hervorhebe,  zu  welchen  mir  ohne  längeres 


r 


v.  Keller,  Augustin  Tängers  Facetiae.  475 

Nach8uchen  Verwandtes  und  Nachweisbares  bei- 
Mt.  Anders  z.  B.  in  Betreff  der  no.  36,  wo 
einer  Nonne  jede,  auch  die  kleinste  ihr  vom 
Beichtvater  auferlegte  Busse  zu  schwer  dünkt. 
Der  Schluss  der  deutschen  Uebersetzung  fehlt; 
im  lat.  Text  heisst  es:  »Indignante  vero  sacer- 
dote  impacienciam  mulieris  ipsamque  propterea 
corripiente,  quesivit  mulier,  num  sibi  cordi  es- 
sent  dies  festi,  si  aliquot  dies  ab  omni  corpori 
suo  contrario  vacaret  opere«.  Auch  dies  ist 
nicht  sehr  verständlich;  doch  scheint  die  Nonne 
den  Beichtiger  zu  fragen,  ob  er  etwa  auf  die 
Heilighaltung  von  Festtagen  Werth  lege;  dann 
wolle  sie  einige  Tage  lang  sich  aller  lästi- 
gen Arbeit  enthalten.  Einem  ganz  gleichen 
Schwanke  bin  ich  sonst  schon  begegnet,  weiss  aber 
nicht  anzugeben  wo  ? Eine  ernsthaftere  Fassung 
desselben  jedoch  bietet  eine  Anzahl  französi- 
scher, italienischer  und  deutscher  Dichtungen, 
Volksmärchen  u.  s.  w.  S.  Reinhold  Köhler  in 
Lemcke*8  Jahrbuch  7,  273  ff.  »Der  standhafte 
Büsser«.  Bemerkenswerth  ist,  dass  in  der  von 
Adolf  Wolf  zu  den  »Volksliedern  aus  Venetien« 
S.  111  ff.  mitgetheilten  Legende  der  unbussfertige 
Ritter  schliesslich  auch  nur  dazu  sich  entschliesst 
»einen  Abend  an  einem  Arbeitstage  und  einen 
Feiertag  Busse  zu  thun«. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


Hygiea.  Medicinsk och  farmaceutiskmänads- 
skrift  utgifven  af  Svenska  Läkare-Sällskapet.  Re  • 
digeradt  af Dr.  A.Jäderholm  under medverkan4 
af  Dr.  Kjellberg,  Dr.  W.  Netzei,  Prof.Dr.  C. 
J.Rossander  och  Prof.  Dr.  E.  Oedmansson. 


476  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 


Trettiofemte  bandet.  Stockholm,  1873.  P.  A. 
Norrstedt  & söner.  742  Seiten  in  Octav.  ! 

Förhandlingar  af  Svenska  Läkare-Sällskapets  ' 
sainmenkommster  är  1873.  Protokollsforande 
Sällskapets  Sekreterare  Med.  Rad.  Ed  holm 
och  Doctor  Wising.  Stockholm,  1873.  P.  A. 
Norrstedt  och  söner.  345  Seiten  in  Octav. 
(Mit  der  Hygiea  als  Anhang  herausgegeben). 

Der  zweite  Jahrgang  der  Hygiea  seit  dem 
üebergange  der  Redaction  in  Jäderholms 
Hände  zeichnet  sich  wie  seine  Vorgänger  durch 
Reichhaltigkeit  und  Gediegenheit  des  Inhaltes 
aus  und  die  demselben  beigefügten  Protokolle  i 
über  die  Verhandlungen  der  Svenska  Läkare 
Sallskap,  deren  Organ  die  Hygiea  darstellt,  im 
Jahre  1873,  documentiren  auf  das  Glänzendste 
nicht  allein  das  wissenschaftliche  Streben  der 
einzelnen  Mitglieder  und  deren  Ringen  nach  der 
Erkenntniss  der  Wahrheit,  sondern  auch  das 
Segensreiche  solcher  gemeinsamen  Arbeiten.  Ich  ; 
will  dafür  als  Beleg  nur  die  Verhandlungen 
über  einen  später  als  Morphinismus  acutus  er- 
kannten zweifelhaften  Krankheitsfall  (Förhand- 
lingarne,  p.  90— 114)  anführen,  über  welchen  dut 
in  Folge  der  Discussion  in  der  Gesellschaft  die 
Wahrheit  an  das  Tageslicht  gebracht  wurde 
und  welcher,  wie  ich  dies  in  meinen  Beiträgen 
zur  Diagnostik  der  acuten  Morphin  Vergiftung 
ausführlich  dargethan  habe  (vgl.  Deutsche  Kli- 
nik 1874  1.  3.  5.  7.)  nicht  allein  für  die  Diag- 
nose der  fraglichen  Intoxication,  sondern  auch 
für  deren  Prophylaxe  von  entschiedener  Bedeu- 
tung ist.  Aehnliche  Discussionen  finden  sich  in 
den  Verhandlungen  mehrere,  so  über  Thoraco- 
centose  und  gegen  Schluss  des  Jahres  über  die  j 
Schutzmittel  gegen  die  Pocken,  welche  in  der 


477 


Jäderholm,  Hygiea. 

Schwedischen  Hauptstadt  vom  October  an  zu 
epidemisiren  begannen.  Ausser  diesen  Discus- 
sionen  nehmen  aber  die  einzelnen  Vorträge  der 
Mitglieder  durchgängig  das  Interesse  der  Fach- 
genossen auch  über  die  Grenzen  des  König- 
reiches Schweden  in  Anspruch,  und  viele  der- 
selben verdienten  in  weiteren  Kreisen  bekannt 
gemacht  zu  werden,  wie  dies  mit  einzelnen 
durch  die  Deutsche  Klinik  bei  uns  geschehen 
ist.  Auffallend  reichhaltig  sind  bei  diesen  Vor- 
trägen Toxikologie  und  Pharmakologie  vertre- 
i ten,  und  insbesondere  haben  die  Arsenikalien 
wiederholt  die  Aufmerksamkeit  der  Svenska  Lä- 
kare  Sallskap  auf  sich  gezogen.  Als  sehr  wich- 
! tig  will  ich  hier  nur  hervorheben,  dass  es 
I Hamberg  gelungen  ist,  Arsen  in  der  Luft  und 
I Zimmern  nachzuweisen,  welche  mit  arsenhalti- 
' gen  Tapeten  versehen  sind. 

Auch  unter  den  Originalarbeiten  der  Hygiea 
findet  sich  viel  Toxikologisches.  So  hat  z.  B. 
allein  das  Februarheft  einen  Aufsatz  von  Ed- 
ling über  einen  durch  Einbringen  von  arseni- 
ger  Säure  in  den  Uterus  herbeigeführten  Abor- 
tus mit  tödlichem  Ausgange,  eine  Krankenge- 
! schichte  von  P.  A.  Levin  über  die  Intoxica- 
tion von  drei  Personen  durch  externen  Gebrauch 
von  arsenikhaltiger  Krätzsalbe,  endlich  eine  Ab- 
handlung von  G.  Cederström  über  den  Stich 
des  Petermännchen  (Trachinus  Draco),  dem  der 
! Verfasser  einen  besonderen  Giftapparat  vindici- 
| ren  möchte.  Dasselbe  Heft  bringt  dann  auch 
für  die  forensische  Chemie  eine  nicht  unwich- 
tige Arbeit  über  die  Entdeckung  des  Blutes  bei 
Anwesenheit  äusserst  geringer  Mengen  in  orga- 
( ni8chen  Flüssigkeiten.  In  hygienischer  Beziehung 
wichtig  muss  der  im  Junihefte  von  Jäderholm 
f mitgetheilte  Fall  von  Arsenicismus  besonders 


L 


478  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  15. 

« 

hervorgehoben  werden,  wo  eine  ganze  Familie 
durch  den  Genuss  von  Kartoffeln  erkrankte, 
welche  die  Hausfrau  unvorsichtigerweise  in  einem 
Kessel  gekocht  hatte,  welchen  sie  kurze  Zeit  zu- 
vor zum  Färben  von  Wollgarn  mit  Anilinroth 
benutzt  hatte. 

Von  grossem  Interesse  sind  uns  die  pharma- 
kognostischen  Mittheilungen  0.  Sandahls  von 
der  Wiener  Weltausstellung  gewesen,  von  wel- 
chen indessen  der  geringere  Theil  dem  Jahr- 
gange 1873  angehört.  Ueberhaupt  liefert  die 
Hygiea  ein  zahlreiches  Contingent  von  Beise- 
erinnerungen und  Beisebriefen,  welche  nicht 
allein  sehr  ansprechend  geschrieben,  sondern 
auch  zum  Theil  gründlich  und  durch  und  durch 
wissenschaftlichen  Inhalts  sind.  Die  Gründlich- 
keit finden  wir  namentlich  in  den  Briefen  von 
Wretlind,  der  sich  die  Aufgabe  gestellt  hat, 
die  heilgymnastischen  Anstalten , Badeeinrich- 
tungen u.  s.  w.  Deutschlands  zu  studiren  und 
dabei  auch  das  Di  et  rieh  sehe  Lohbad  in 
Charlottenburg  und  die  Dresdener  Semmelcur- 
anstalt  in  das  Bereich  seiner  Betrachtungen 
zieht.  Schärfe  des  Urtheils  und  wissenschaft- 
liche, gediegene  Kritik  kennzeichnen  die  Briefe 
Bossa nders,  der  die  chirurgisch-klinischen 
Anstalten  vieler  Deutscher  Hochschulen  durch- 
mustert hat  (Bonn,  Berlin  u.  a.).  Manche  Be- 
merkungen sind  treffend.  In  Bonn  findet  er  die 
Klinik  der  Ferien  wegen  ziemlich  leer  an  Kran- 
ken, was  ihm  den  Satz  entlockt:  »Glückliche 
Stadt,  wo  in  den  Universitätsferien  auch  die 
Kranken  Ferien  haben«!  Ueber  das  Leipziger 
Barackenkrankenhaus  heisst  es:  »Bei  einem  flüch- 
tigen Besuche  in  Leipzig  inspicirte  ich  das  neue 
Barackenkrankenhaus.  Es  war  sehr  interessant 
zu  sehen,  wie  ein  solches  Krankenhaus  nicht 


479 


Jäderholm,  Hygiea. 

beschaffen  sein  muss.  Eine  Menge  Baracken 
sind  allerdings  da,  aber  theils  ist  die  Ventila- 
tion gering,  theils  hat  man  Closets  und  Bade- 
räume unvollständig  von  den  Krankenräumen 
getrennt,  theils  hat  man  alle  Baracken  durch 
niedrige  und  von  dicken  Mauern  begränzte  VerT 
bmdungsgänge  verbunden,  und  in  den  Mauern 
sind  kleine  Fenster  höchst  sparsam  angebracht. 
Ohne  Zweifel  wird  man  durch  die  Statistik  aus 
diesem  Krankenhause,  wie  früher  aus  Lariboisiere 
beweisen,  dass  das  Barackensystem  nicht  bes- 
ser ist  als  das  Corridorsystem ; ich  lege  dagegen 
im  Voraus  meinen  Protest  ein,  das  Leipziger 
Krankenhaus  ist  einfach  schlecht,  und  wir  wer- 
den in  Stockholm,  hoffe  ich,  ein  viel  besseres 
erhalten«.  Es  ist  mitunter  lehrreich,  auch  zu  hö- 
ren, was  die  Fremden  denken,  welche  der  Pa- 
triotismus nicht  dazu  treibt,  bei  manchen  Män- 
geln ein  Auge  zuzudrücken.  Ausser  Wr  etlind 
und  Rossander  haben  auch  noch  Ribbing 
(das  Studium  der  Ophthalmologie  in  Paris), 
Curt  Wallis  (Ueber  Fgyptens  Klima)  und 
A.  Kuliberg  (Ueber  den  dritten  internationa- 
len ärztlichen  Congress  zu  Wien)  den  Stoff  zu 
ihren  Aufsätzen  ausserhalb  Schwedens  gesammelt. 

Dagegen  spricht  sich  ein  nationales  Gepräge 
in  den  Aufsätzen  von  H.  A.  Wi  strand,  dem 
im  Januar  verstorbenen  Professor  der  gericht- 
lichen Medicin  am  Carolinischen  Institut,  über 
die  Morbilitätsstatistik  Schwedens  im  Jahre  1871 
aus,  ebenso  in  der  Arbeit  0.  F.  Hailin’ s über 
das  Lazarethwesen  des  Königreiches  in  demsel- 
ben Jahre.  Diesen  für  die  Statistik  nicht  un- 
wichtigen Arbeiten  reiht  sich  ein  Auszug  aus  dem 
Jahresberichte  der  chirurgischen  Abtheilungen  im 
Stockholmer  Serafimerlazareth  von  Prof.  C.  San- 
to ss  on  an.  Ein  im  Julihefte  sich  findendes 


480  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  15. 

Gutachten  von  Lilljerjörn,  Cederschiöld 
und  Oedmanssonüber  einen  von  Prof.  Mester- 
ton  in  Upsala  herrührenden  Entwurf  zu  einem 
Vaccinationsgesetze  für  Schweden  hat  vorwal- 
tend locales  Interesse. 

Ausser  den  bereits  angeführten  medicinischen 
Disciplinen  sind  in  der  diesjährigen  Hygiea  na- 
mentlich pathologische  Anatomie  und  Chirurgie 
vertreten.  Zu  nennen  sind  in  dieser  Beziehung  ; 
die  Aufsätze  von  Braun  über  Exstrophia  ve- 
sicae  cum fissura ossium pubis,  von  Santesson 
und  Bl  ix  über  Cystoma  carcinomatosum  testi- 
culi,  von  Bergwall  über  elastische  Ligaturen, 
von  S.  Bibbing  übe?  einen  Fall  von  Tumor 
albus  und  Eniegelenksresection,  von  Bossander 
über  einen  mit  Massage  und  Strychnininjection 
geheilten  Fall  von  Schreiberkrampf  und  von 
Santesson  über  ein  ossificirendes  periostales 
Sarkom  der  linken  Scapula,  operirt  mittelst  Re- 
section des  grössten  Theiles  des  Schulterblatts. 

Wie  in  den  früheren  Jahren  bietet  die 
Hygiea  auch  dieses  Mal  ein  reichhaltiges  ein 
reiches  Material  von  Berichten  des  Gesundheit- 
collegiums und  den  an  dasselbe  eingelieferten 
ärztlichen  Rapporten.  Unter  letzteren  ist  von 
epidemiologischer  Bedeutung  insonderheit  ein 
* Aufsatz  von  Piscator  über  das  endemische 
Trachom  in  FryksdaL 

Die  Aufgabe  der  Hygiea,  das  Wichtigste  aus 
der  ausländischen  Literatur  zum  Gemeingute 
der  Schwedischen  Aerzte  zu  machen,  ist  auch 
in  diesem  Jahrgange  festgehalten  und  gut  durch- 
geführt. Theod.  Husemann. 


J 


481 


Gftttingisehe 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  16.  22.  April  1874. 

l 

i 

! P.  Vergilii  Maronis  opera  a Mauricio 
1 Hanptio  iternm  recognita.  Lipsiae  apad 
! S.  Hirzelium.  MDCCCLXXHI.  12. 

Es  ist  die  Traner  um  den  theuren  Freund 
und  grossen  Philologen,  welche  den  Unterzeich- 
neten zu  dieser  Anzeige  bestimmt  hat.  Denn 
die  zierlichen  Ausgaben  des  Horatius,  des  Ca- 
tullus Tibullus  Propertius  und  des  Vergilius  ha- 
ben sich  längst  ebenso  wegen  ihres  inneren  Wer- 
the8  als  durch  ihre  äusBere  Ausstattung  allge- 
meine Anerkennung  erworben,  und  wie  viel  Mo- 
riz  Haupt  insbesondere  für  die  Verbesserung  » 
| der  kleinen  Vergil  zugeschriebenen  Gedichte  ge- 
than  hat,  ist  bekannt.  Aber  wie  dies  letzte  Werk 
; des  Geschiedenen  mich  selbst  mit  schmerzlichem 
Vergnügen  erfüllt  hat,  so  ist  es  mir  Bedürfhiss 
darauf  hinzuweisen,  was  der  Wissenschaft  in  ihm 
! Neues  und  Treffliches  geboten  ist. 

| Seit  ich  Haupt  kannte,  beschäftigte  ihn  das 
Gedicht  Aetna.  Die  unglaublich  verdorbene 
Gestalt,  in  der  uns  diese  646  Verse  erhalten 
sind,  zog  ihn  unwiderstehlich  an  und  all  seine 

31 


L 


482  Gött.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

Belesenbeit  in  den  römischen  Dichtern,  seinen 
Scharfsinn  und  seine  glückliche  Divinationsg&be 
hot  er  auf  es  lesbar  zn  machen.  Als  er  1837 
in  seinen  Quaestiones  catollianae  p.  54  ff.  zuerst 
einzelne  Stellen  desselben  zu  verbessern  suchte, 
hatte  er  ihm  schon  mehrere  Jahre  eifriges  Stu- 
dium zugewendet.  Aber  nie  konnte  er  sich  ge- 
nug thun  und  allem  Zureden,  dass  er  doch  end- 
lich einmal  das  Gedicht  herausgeben  möge,  setzte 
er  die  Antwort  entgegen,  dass  er  noch  mit  za 
vielen  Stellen  nichts  anzufangen  wisse,  um  an 
eine  Herausgabe  denken  zu  können.  Noch  im 
Hermes  3 S.  338  sagt  er:  nam  ut  unquam  to- 
tum  carmen  mea  cura  perpur gatum  edere  possim 
eo  magis  vereor  quo  saepius  eins  lectionem 
repeto . nimirum  sublatis  ex  aliqua  poematis 
parte  vitiis  manifestiora  fieri  solent  alia,  ut  «Jdgay 
tipvsw  tibi  videare. 

Um  so  mehr  war  ich  erstaunt,  als  er  mir 
im  Spätsommer  vorigen  Jahres  in  Reichenhall, 
wo  wir  einige  Wochen  zusammen  zubrachten, 
sagte,  dass  er  sich  entschlossen  habe  der  neuen 
Ausgabe  des  Vergilius,  mit  deren  Correktur  er 
beschäftigt  war,  die  Aetna  beizugeben.  Wer 
konnte  denken,  dass  es  wie  eine  Ahnung  seines 
nahen  Endes  sei,  die  ihn  zu  diesem  Entschloss 
gebracht  habe? 

So  sind  denn  in  dieser  zweiten  Ausgabe  zu 
den  Catalecta . Culex . Ciris . Copa . Moretum  jetzt 
noch  die  Gedichte  Dirae . Lydia  und  Aetna  hin- 
zugekommen. Für  den  Verfasser  des  letzten  wurde, 
wie  bekannt,  schon  gegen  Ende  des  1.  Jahrh.  von 
Manchen  ebenfalls  Vergilius  gehalten  (Suetonius 
p.  58  Reiff.:  scripsit  etiam  de  qua  ambigitur 
Aetnam).  Und  mit  dieser  wunderlichen  An- 
nahme stimmt  die  handschriftliche  Ueberliefe- 


* 


P.  Vergilii  Maronis  opera  rec.  Hauptius.  483 

rang,  welche  diese  kleineren  Dichtungen  unter 
Vergils  Namen  verbindet. 

Vergleichen  wir  nun  den  Text  der  Aetna, 
vie  ihn  Haupt  gegeben  hat,  mit  dem  der  frühe- 
ren Ausgaben,  sei  es  der  Joseph  Scaligers,  oder 
der  Munros,  so  erweist  er  sich  als  ein  würdiges 
Denkmal  beharrlicher  Forschung  und  glücklich- 
ster Begabung.  Freilich  hat  auch  noch  Haupt 
11  Verse  (6.  69.  120.  121.  122.  351.  353.  358. 
426.  496.  497)  als  solche  bezeichnet,  deren 
Verderbniss  ihm  unheilbar  erscheine,  und  natür- 
lich werden  an  anderen  Stellen  seine  Aende- 
rangen  unannehmbar  erscheinen.  Aber  un- 
zweifelhafte Verbesserungen,  mögen  sie  auf  rich- 
tiger Entscheidung  über  die  verschiedene  hand- 
schriftliche Ueberneferung  oder  auf  Vermuthung, 
fremder  oder  eigener,  beruhen,  sind  in  so  grosser 
Zahl  und  von  so  tiefgehender  Bedeutung  vorhanden, 
dass  kein  anderes  Erzeugniss  eines  lateinischen 
Dichters  eine  ähnliche  Umgestaltung  erfahren 
hat.  Erst  jetzt  hat  die  Aetna  eine  Gestalt  ge- 
wonnen, wie  wir  sie  der  Zeit  vor  79  n.  Chr. 
Zutrauen  dürfen.  Denn  dass  der  Verfasser  den 
Ausbruch  des  Vesuvius  nicht  gekannt  haben 
kann,  bemerkt  Munro  p.  34  f.  mit  Recht. 

Die  Ueberlieferung  des  Gedichtes  ist  schwer 
zu  erklären.  Eine  Anzahl  von  Fehlern,  die 
allen  Hss.  gemeinsam  sind,  weist  auf  eine  ge- 
meinsame Urhandschrift:  z.  B.  152  causa;  dann 
aber  gehn  zwei  HSS.,  eine  (ft  bei  Munro,  F in 
Haupts  Abhandlungen)  wahrscheinlich  jetzt  ver- 
lorne aus  Lucca,  die  v.  138 — 289  enthielt,  und 
(C  bei  Haupt,  a bei  Munro)  die  jetzt  in  Cam- 
bridge befindliche  des  10.  Jahrn.,  die  zuerst 
Haupt  (ind.  lectt.  berol.  1854)  benutzte  und 
deren  Lesarten  jetzt  Munro  vollständig  mittheilt, 
so  auseinander,  dass  zwei  ganz  verschiedene 

31* 


484  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

Recensionen  angenommen  werden  müssen  (z.  B. 
227: 

ß Ingenium  saerare  ca/pidque  attollere  caeh 
cc  sacra  peringentem  capitique  attoUere  caelum  ; 
v.  276 — 278  in  a stehn  in  0,  nach  v.  258;  y.  160: 
ß guod  patula  in  promptu  cerms  vastosgue 

recessus 

a quae  Ualida  i/n  promptu  cernis  mlidosque 

• recessus). 

Keine  von  beiden  ist  vom  Verdacht  willkürli- 
cher Interpolation  frei  (z.  B.  v.  237: 
ß nubila  cur  panope  caelo  denuntiet  imbres 
d nubila  cur  caelo  terris  denuntiet  imbres), 
aber  fast  überall  erweist  sich,  was  ß giebt,  als 
das  allein  Richtige  oder  mit  leichter  Aenderung 
Herzustellende,  dagegen  a schwerer  oder  leich- 
ter verdorben.  Und  doch  wieder  ist  a in  Ver- 
gleich mit  den  übrigen  jungen  HSS.,  die  nicht 
aus  ihm  stammen  können,  nicht  allein  vollstän- 
diger (v.  61.  469  f.  Haupt  ind.  lectt.  1854),  son- 
dern auch  frei  von  einer  Menge  von  Fehlem 
und  Interpolationen,  die  sich  in  allen  übrigen 
finden  (vgl.  Munro  p.  30).  Eine  Anzahl  von 
Stellen  zeigt,  dass  die  Quelle,  aus  der  die  Jün- 
gern stammen,  schwer  leserlich  oder  verstüm- 
melt war,  so  dass  sie  Lücken  lassen,  die  früher 
von  den  Italienern  willkürlich  ausgefüllt  worden 
waren,  jetzt  durch  u ihre  richtige  Ergänzung 
erhalten : 

v.  53 : promcat  admotis  — 

a:  provoeat  admotis  ad  territa  sidera  signis 
v.  327:  donee  confluvio  vduti  — 

donee  confluvio  veluti  revolutis'  aestihus 

amnis 

a:  donee  confluvio  vduti  sipbmibus  actus 
v.  446:  ni  furtim  adgereret  — * 

ni  furtim  adgereret  secretis  callibus  humor 


’ P.  Vergilii  Marortis  opera  rec.  Hauptius.  485 

* 

a:  m furtim  adgereret  sicuU  vidnia  mantis. 
Und  dasselbe  findet  sich  auch  in  dem  Brach- 
stuck (y.  1 — 168)  einer  HS.  der  Abtei  Stavelot 
\ aus  dem  11.  Jahrh.,  deren  Lesarten  Bormans 
in  den  Bulletins  de  TAcademie  royale  des  sciences 
— de  Belgique  T.  21,  2 (1854)  p.  25£MF.  mit- 
getheilt  bat,  obgleich  sie  meist  mit  a gegen  die 
übrigen  fäuch  gegen  ß in  den  Versen  138 — 168) 
übereinstimmt.  So  läspt  sie  y.  28  carminis  haec 
est  weg,  y.  40  hat  sie  nur  armare,  während  sie 
v.  53  provocot  cßmpstis  Uia  sidera  signis 
bietet.  Dass  nie  aber  nicht  aus  « stamme,  zei- 
gen richtige  Lesarten,  die  sie  gegen  a erhalten 
! hat,  wie  v.  19  tristem , 115  docendi,  und  allerlei 
andere  kleine  Abweichungen.  Diese  HS.  kennt 
Munro  nicht  (eben  so  wenig,  als  Haupts  * quae- 
stiones  catullianae),  Haupt  hat  sich  nicht  über 
sie  geäussert.  Man  wird  also  annehmen  müs- 
sen, dass  aus  einer,  wie  es  scheint  in  langobar- 
discher  Schrift  geschriebenen  Urhandschrift  zwei 
Abschriften  genommen  wurden , aus  deren 
einer  ß , aus  der  zweiten,  schon  ziemlich  inter- 
polierten, 1)  a und  2)  die  HS.  von  Stavelot,  3) 
die  stammen,  aus  der,  unter  Hinzutreten  allerlei 
neuer  Interpolationen,  die  jüngeren  ihren  Ur- 
| sprung  herleiten.  Eine  bessere,  etwa  mit  a 

vergleichbare,  muss  auch  schon  Aldus  benutzt 
! haben,  wenn  er  v.  117  quis  mim  non  credat 

\ inanis  setzte , während  die  meisten  jüngeren 

die  Worte  non  credat  inanis  weglassen,  einige 
quis  emm  non  viderit  illud  ergänzen:  a und  die 
von  Stay,  haben  quis  mim  non  credit  inanes. 

Mit  Becbt  hat  sich  bei  diesem  Zustand  der 
Ueberlieferung  Haupt  in  den  Versen  138  — 289 
bo  viel  als  möglich,  strenger  als  Munro  (z. B. 
190  parvo  aut  tmüi  discrimine  signes,  vgl.  qu.  ca- 
tull.p.62,  y.  252  homini),  an  ß , in  dem  übrigen 


486  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

Theile  des  Gedichtes  an  a gehalten,  obgleich  das 
Verhältnis  von  a zu  so  weit  diese  bekannt  ist, 
eine  unliebsame  Perspective  eröffnet,  wie  un- 
sicher, oder  vielmehr  unmöglich  da,  wo  diese 
HS.  nicht  zu  Hülfe  kommt,  oft  die  Herstellung 
des  Ursprünglichen  sein  und  bleiben  müsse. 
Zugleich  wird  aber  durch  diese  Betrachtung 
eine  grössere  Freiheit  in  den  Aenderungen  ge- 
rechtfertigt, sobald  Sinn  und  Achtung  vor  dem 
Dichter  und  seiner  Zeit  es  fordern. 

Um  einen  Begriff  von  dem  Unterschiede 
des  Textes,  wie  ihn  Haupt  herstellt,  von  dem 
Munros  zu  geben,  will  ich  den  Schluss  des  Ge- 
dichtes, die  Erzählung  von  den  Brüdern  von 
Catana,  v.  604  ff.,  ein  im  Ganzen  ziemlich  gut 
erhaltenes  Stück,  genauer  vergleichen,  v.  605 
noc  minus  ille  pio  quanquam  sors  nobilis  ignis 
die  HSS.  Munro  liest  mit  C.  Barth  quanquam 
sons , Haupt  schreibt  quam  sonti , in  ignist  (d.  i. 
igni  est)  stimmen  beide  überein.  Aber  da  ge- 
rade das  Feuer  das  ist,  wodurch  der  Aetna 
schadet,  so  kann  nec  minus  nur  auf  eine  Ver- 
gleichung der  beiden  Arten,  wie  das  Feuer  des 
Berges  sich  erweist  und  erwiesen  hat,  gehn:  ge- 
wöhnlich ist  es  verderblich,  in  dem  zu  erzählen- 
den Falle  ehrte  es  die  kindliche  Hingebung. 
Also]  scheint  sonti  nothwendig  und  quanquam  nur, 
nachdem  einmal  sons  entstanden  war,  dem  Vers 
zu  lieb  gesetzt  worden  zu  sein.  Oder  sollte  quam 
qui  sons  (d.  i.  quam  eo  qui  sons  est),  das  der 
Lesart  der  HSS.  näher  steht,  richtig  sein?  — 
v.  606  f.  kann  man  zweifeln,  ob  Haupt  mit 
Recht  Scaligers  Vermuthung  ingens  für  ignis 
aufgenommen  habe,  da  Munros 

et  velut  eversis  penitus  fornacibus  ignis 
eveeta  m longumst  rapidis  fervoribus  unda 
auch  erträglich  ist:  da  aber  die  HSS.  ignes, 


P.  Vergilii  Maronis  opera  rec.  Hauptius.  487 

nicht  ignis,  haben  and  der  Oedanke  ignis  nicht 
fordert,  wol  aber  ein  stark  hervorhebendes  Pra- 
dicat  zu  unda  sehr  wiinschenswerth  erscheinen 
lässt,  so  wird  man  doch  ingens  wählen.  Ob  man 
longumst  mit  Munro , oder  undast  mit  älteren 
Ausgaben  und  Haupt  schreibt,  ist  ohne  Bedeu- 
tuug,  aber  Verse  wie  161.  177.  187.  231.  316. 
388.  415.  420.  435.  528.  620  sprechen  mehr 
für  undast . — V.  610.  et  nitidum  obscura 
caelum  caligine  torpet  hat  Haupt  mit  Scaliger 
gesetzt,  während  Munro  torquet  der  HSS.  bei- 
behält, weil  der  Himmel  beim  Gewitter  vielmehr 
in  Unruhe  sei.  Aber  die  schwarzen  Wetterwol- 
ken, aus  denen  der  Blitz  zuckt,  stehn  unbeweg- 
lich in  der  schwülen  Luft,  während  zu  sagen, 
der  heitre  Himmel  werde  durch  die  Finsterniss 
gequält,  bedrängt,  mehr  als  sonderbar  wäre. 

— 612.  Munro  behält  was  die  HSS.  haben: 
ardebant  — iugera  cum  dominis , während  N. 
Heinsius  cum  domibus  wollte,  Haupt  cum  pomis 
geschrieben  hat.  Die  brennenden  Herrn  inmit- 
ten der  segetes,  iugera , silvae  und  cölles  sind 
mehr  als  wunderlich  und  die  Häuser  eben  so 
unwahrscheinlich.  In  ähnlicher  Weise  ist  domi- 
nis v.  252  in  a (und  so  Munro),  während  Haupt 
aus  omni  in  ß trefflich  homini  hergestellt  hat. 

— In  demselben  V.  612  behält  Haupt  silvae 
coUesque  virentes  früherer  Ausgaben,  während 
a urebant,  die  andern  Hss.  uirebant  haben  und 
Munro  rubdbmt  vermuthet hat.  Ich  denke,  »die 
grünenden  Hügel  und  Wälder  gerathen 
in  Brand«  giebt  ein  viel  grossartigeres  Bild,  als 
»sie  waren  roth«,  und  die  Aenderung  rubebani 
ist  nicht  leichter  als  virentes , wie  gleich  tre- 
mendum  v.  613  zeigt,  wofür  die  HSS.  tremebant 
haben.  — V.  614.  Haupt  nimmt  Scaligers  in- 
vaserat auf,  Munro  behält  evaserat , aber  weder 


488  Gott.  geL  Anz.  1874.  Stack  16. 

»batte  erklommen«  noch  »hatte  über- 
stiegen« passt  hier  von  der  Lava,  sondern 
allein  »hatte  erreicht«.  — V.  619  erklärt 
Monro  das  hs.  defectum  raptis  Mum  sua  carmim 
tcvrdant : »sie  verloren  die  Zeit  mit  der  Wieder- 
holung unnützer  Beschwörungsformeln«,  aber 
der  Gegensatz  des  folgenden  Verses:  hic  vdox 
minima  properat  sub  pondere  pauper  fordert  die 
von  Haupt  angenommene  Vermuthung  Jacobs 
sarcma  tardat  — V.  623.  consequitur  fugisse 
ratis  der  HSS.  behält  Munro  und  vergleicht 
Liieret.  3,  929.  Das  ist  ein  starkes  Vergehn: 
consequi  hat  nie  den  Dativ  bei  sich  und  leto 
erklärt  Munro  bei  Lucretius  selbst  richtig  in 
leto . Also  ist  ratos  der  früheren  Ausgaben  von 
Haupt  mit  Recht  aufgenommen.  — V.  623  heisst 
es  weiter  in  a : 

et  praemia  captis 

concrepat  ac  mdli  sparsura  incendia  pascunt 

vd  solis  speursura  dees . 

Die  einleuchtenden  alten  Verbesserungen  nuUis 
parsura  und  solis  parswra  piis  haben  Munro  und 
Haupt  aufgenommen;  wenn  aber  Munro  auch 
increpat  annimmt  und  dann  haec  für  ac  setzt,  so 
ist  praemia  weder  mit  der  von  Scaliger  ver- 
suchten Erklärung  (»cum  clamore  imponit  pre- 
tium  pro  redemtione«)  noch  irgend  einer  an- 
dern verständlich,  Sondern  die  durch  Auratus 
coneremat  begonnene  Verbesserung  hat  Haupt 
schon  qu.  catull.  p.  67  durch  raptus  für  captis 
vollendet:  das  Feuer  verbrennt,  was  sie 
durch  ihren  Raub  gewonnen  hatten 
(vgl.  615  rapim,  618  raptis , 620  praeda)*  Dann 
aber  würde,  wenn  gesagt  werden  sollte,  dass 
die  sich  fortwälzende  Lavagluth  durch  das  Er- 
reichte und  Ergriffene  vermehrt  worden  sei, 
irgend  wie  ein  Zusatz,  wie  nur,  nur  noch 


P.  Vergilii  Maronis  opera  rec.  Hauptius.  489 

noting  sein,  denn  im  Vergleich  zn  der  Gewalt 
der  Lava  an  sich,  welche  hier  allein  in  Betracht 
kommt,  ist  die  Vermehrung  durch  das  Ergriffene 
nur  gering.  Dagegen  gewinnt  die  ganze  Stelle 
durch  Haupts  auch  schon  in  den  quaest.  cat. 
mitgetheilte  Vermutbung  pergunt  für  pascunt 
einen  grossartigen  Abschluss:  Die  Gluth  ergreift 
die  Fliehenden  und  zieht  weiter , um  niemand 
zu  schonen,  oder  nur  die  Frommen.  — Glän- 
zend ist  die  Vermuthung,  durch  welche  Haupt 
den  vorher  sinnlosen  Vers  626  hergestellt  hat. 
Die  älteren  HSS.  haben 

amphion  fraterque  pari  svib  munere  fontis 
und  Amphinomus  war  nach  den  Angaben  der 
Schriftsteller  über  die  Namen  der  Brüder  von 
Catana  schon  in  jüngeren  HSS.  richtig  verbes- 
sert worden.  Aber  pari  sub  munere  fortis , wie 
auch  Munro  nach  einer  Vermuthung,  die  sich 
in  den  jüngern  HSS.  findet,  liest,  indem  er  for - 
tis  als  Nom.  plur.  fasst,  in  gleicher  Lei- 
stung tapfer,  ist  sowol  wegen  des  in  solcher 
Verbindung  ganz  ungewöhnlichen  sub^  als  wegen 
des  Sinnes,  bevor  im  Folgenden  ihre  That  be- 
schrieben ist,  unhaltbar.  Dass  nun  der  eine  Bruder 
genannt  ist,  der  Name  des  Andern  aber,  Ana- 
pias  (die  Stellen  haben  I.  M.  Gesner  zu  Clau- 
dian  50,  die  Herausg.  des  Lykurg  §.  95,  Krü- 
ger Leben  d.  Thukyd.  p.  64,  auch  Munro  p.  79), 
nicht  in  den  Vers  passt,  leitete  Haupt  in  Ver- 
bindung mit  dem  hs.  fontis  zu  der  Vermuthung, 
dass  dieser  Name  durch  Umschreibung  ange- 
deutet sei,  und  er  hat  also 
Amphimmusque  et  frater  Anapi  nomine 

fontis 

geschrieben.  Sollte  aber  nicht  dasselbe  mit  ge- 
ringerer Aenderung,  unter  der  Voraussetzung, 
dass  in  einem  so  wenig  gebrauchten  und  be- 


9 


490  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  16. 


kannten  griechischen  Eigennamen  die  Prosodie 
habe  schwanken  können  (vgL  L.  Müller  de 
metris  poet.  lat.  p.  352  f.),  sich  erreichen  and 
schreiben  lassen: 

AmpJdnomus  fraterque  Anapi  sub  nomine  fontis? 
VgL  398.  644.  — Aach  V.  630  gewinnt  erst 
durch  Haupts  Vermuthung 
pergite , avara  manus,  dües  attoUere  praedas 

Sfur  partite)  den  nöthigen  Gegensatz  za  dem 
ölgenden: 

ülis  divitiae  sdlae  materque  pater  qm . 

— V.  631  haben  dieHSS.  hanc  rapies  praedam , 
die  älteren  Ausgaben  hanc  rapiunt  praedam,  und 
dies  hat  Haupt  mit  Recht  anfgenommen.  Wie 
raperest  d.  i.  (rapere  licet)  hier  passen  solle, 
ist  nicht  gut  einzusehn.  Versehn  in  den  En- 
dungen kommen  in  denHSS.  der  Aetna  so  viele 
vor,  dass  man  deshalb  an  rapiunt  keinen  An- 
alogs zu  nehmen  braucht,  wie  Monro  es  that. 
— Auch  V.  637  ist  Haupts  Vermuthung  viest 
für  dies: 

fdix  üla  via  est,  illa  est  innoxia  terra 
einleuchtend:  nicht  um  den  Tag,  nur  um  den 
Weg,  den  die  Brüder  nehmen,  handelt  es  sich. 
— Im  folgenden  Verse  638 
dexter  a saeva  tenent  laevaque  incendia  f erneut 
ist  zwar,  dextera  als  Akkusativ  genommen,  die 
überlieferte  Lesart  allenfalls  haltbar,  aber  der 
Wechsel  der  Konstruktion  hart  und  tenent  auch 
nur  Vermuthung  für  tenet,  wie  a hat.  Sehr 
empfiehlt  sich  daher  die  von  Haupt  aufgenom- 
mene Vermuthung  von  Auratus:  dextra  laeva 
tenus  — : bis  an  die  rechte  und  linke 
Seite  heran  — . — V.  639  hat  Haupt  für 

das  handschriftliche 

* 

ille  per  öbliquos  ignis  fratremque  triumphans 
die  Vermuthung  Früherer  aufgenommen: 


P.  Vergilii  Maroni  opera  rec.  Hauptius.  491 

Hie  per  obliquos  ignis  fraterque  triumphant 
mit  einem  durchaus  einfachen  und  passenden 
Sinne.  Munro  dagegen,  der  die  hs.  Lesart  bei- 
behält, dann  aber  den  Ausfall  eines  Verses  an- 
nimmt,  zeigt  schon  durch  seinen  Versuch  der 
Ergänzung  (p.  79): 

hortatur  tollitque  senem , matrem  arripit  alter , 
das  Unwahrscheinliche  seiner  Vermuthung:  die 
Brüder  sind  ja  schon  auf  dem  Wege  und  nur 
das  Gelingen  ihres  Unternehmens  wird  geschil- 
dert. Damit  steht  in  unmittelbarem  Zusammen- 
hang; dass  im  folgenden  Verse  640  die  Lesart 
der  HSS.  suffidt  illa,  die  die  Früheren  und 
Munro  wunderlicher  Weise  auf  die  Mutter  be- 
ziehen; die  das  Unternehmen  ausgehalten  habe, 
mit  Recht  von  Haupt  nach  Clericus  in  suffugit 
ülinc  geändert  ist:  nur  glaub’  ich,  dass  Ulme 
nicht  nöthig,  sondern  illa , wie  a hat,  als  ad- 
verbialer Ablativ  richtig  ist.  — Im  letzten 
Verse  endlich  des  Gedichts  hat  a so: 
sed  mrae  eessere  dorms  et  iura  piorum , 
Munro  schreibt  seeurae,  Haupt  sed  purae  und 
dann  mit  N.  Heinsius  rura.  Nothwendig  zwar 
ist  sed  nicht  und  seeurae  wie  purae  ist  ungewöhn- 
lich, aber  unbedenklich  als  Bezeichnung  für 
die  Gefilde  der  Seligen : dennoch  entscheidet 
wol  das  wünschenswerte  sed  für  purae  und 
ebenso  scheint  mir  domus  et  rura  besser  zu 
passen  als  domus  et  iura. 

Dasselbe  Verhältnis  wie  in  diesen  43  Ver- 
sen findet  sich  in  dem  ganzen  Gedicht  zwischen 
den  früheren  Texten  und  dem  neuen,  aber  ich 
will  nur  über  ein  paar  Stellen  noch  etwas  be- 
merken. Gleich  im  Anfang  hat  Munro  die 
Verse  5f.  so  geschrieben: 
seu  te  Cynthos  habet , seu  Delost  gratior  Hyla , 
seu  tibi  Ladonis  .potior  — , 


492  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

während  a delos  für  Belast , %la  für  Hyla  und 
dodona  für  Ladonis  hat , Haupt  aber  Xcmthos 
mit  Clericus  für  Cynthos,  illa  mit  den  früheren 
, Ausgaben  (und  der  HS.  von  Stavelot,  wenn 
Bormans  p.  266  genau  gesehn  hat)  für  üa 
schreibt  und  vor  Dodona  das  Reichen  der  Ver- 
derbniss  setzt.  Er  hat  also  die  Vermuthungen 
von  Munro  nicht  gebilligt  und  so  blendenden 
Anschein  sie  haben,  wird  man  doch  glauben 
müssen,  dass  der  Dichter  neben  Delos  nach  al- 
tem Brauch  als  Lieblingsstätten  Apollons  Ly- 
kien und  Delphoi,  nicht  in  alexandrinischer 
Gelehrsamkeit  lieber  einen  wenig  bekannten 
Tempel  in  Kypros  und  das  späte  Antiochia  ge- 
nannt habe.  Also  irgend  eine  Bezeichnung  von 
Delphoi  muss  in  dodona  stecken.  --  V.  18  f.  liest 
Haupt  jetzt : 

quis  non  Argolico  deflevit  Pergamon  igni 

ambustam  et  — , 

wie  er  ind.  lect.  1854  p.  5 vorgeschlagen*  (hier 
auch  noch  aut  für  et),  während  er' qu.  catull. 
p.  54  impositam  der  HSS.  behalten  zu  können 
glaubte.  Munro  nimmt  mit  Jacob  an , dass 
zwischen  18  und  19  ein  Vers  ausgefallen  sei. 
Aber  darf  man  eine  Lücke  annehmen,  wenn 
sich  ein  guter  Sinn  durch  leichte  Aenderung 
hersteilen  lässt?  Und  was  ist  gegen  ambustam 
oder,  wenn  dies  zu  gewagt  Scheint,  compositum 
(im  Sinüe  von  sepultam)  einzuwenden?  — V.  65 
haben  zwar  . weder  Haupt  noch  Munro  an  de- 
vectae  verterunt  terga  ruifiae  infestae  divis  acks 
Anstoss  genommen,  aber  terga  fugae  dare  oder 
praebere , das  Haupt  ind.  1854  p.  4 aus  Pro- 
pertius und  Ovidius  anführt,  ist  wesentlich  ver- 
schieden und  Wernsdorfs  devecta  - ruina  scheint 
doch  das  Richtige  zu  sein.  — V.  297  haben 
beide  Herausgeber 


P.  Virgilii  Maronis  opera  rec.  Hanptius  493 

pdUt  opus  coUectus  aquae'  victusque  movere 
Spiritus  — 

and  Haupt  sagt  ganz  richtig  ind.  1854  p.  13: 
>nam  sane  aqua  et  spiritum  movet  et  moto 
spiritu  opus  hydraulicüm  impellit«  und  unge- 
fähr ebenso  Munro  p.  60  (zu  y.  293).  Aehn- 
lieh  nachher  y.  301 : (arte)  quae  tenuem  im- 
pdlens  animam  subremigat  unda . Liest  man 

also, movere,  so  kann  das  nur  bedeuten:  »das 
Wasser  setzt  das  Kunstwerk  in  Gang  und  die 
es  zu  bewegen  gezwungene  Luft.«  Diese  Weit- 
schweifigkeit und  Ungeschicktheit  des  Aus- 
drucks wird  durch  die  leichte  Aenderung  wo- 
ven gehoben:  »das  Wasser  und  die  durch  dies 
in  Bewegung  gesetzte  Luft  bringen  das  Kunst- 
werk in  Gang.«  Die  Luft  bewegt  eigentlich 
auch  nichts,  sondern  bringt  die  Töne  herYor, 
indem  sie  sich  bewegt  und  durch  die  verschie- 
denen Pfeifen  ausströmt.  Vgl.  Wilmowski,  die 
röm.  Villa  zu  Nennig  und  ihr  Mosaik  p.  11. 

Endlich  noch  V.  426.  a hat 
cerne  locis  etiam  similes  adsiste  cavernas , 
für  adsiste  ist  schon  in  jüngeren  HSS.  arsisse 
hergestellt.  Aber  da  der  Dichter  im  Folgen- 
den eine  Anzahl  Yon  Orten  anführt,  wo  die 
frühere  Yulkanische  Kraft  erloschen  war,  die 
Insel  Aenaria,  den  Berg  Gaurus  zwischen  Nea- 
polis  und  Cumae,  die  Inseln  Rotunda  und  Sacra 
Vulcani  (über  die  letzteren  vgl.  Holm,  Sicilien 
1 S.  350.  349),  so  ist  es  unglaublich,  dass  er, 
der  in  Neapel  Einheimische,  den  Vesuvius,  der 
bis  zum  Jahr  79  allgemein  als  ausgestorbener 
Krater  galt  und  bekannt  war  (Strabo  5,  8), 
bier  übergangen  haben  sollte.  Daher  vermu- 
thete  schon  Jaeob,  dass  seine  Erwähnung  in 
Y.  426  versteckt  liege  und  der  Dichter 
Cerne  etiam  Nolae  similes  arsisse  cavernas 


494  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

geschrieben  habe,  da  Strabo  und  Vergilius  bei 
Gellius  6,  20  Nola  in  unmittelbare  Verbindung 
mit  dem  Vesuvius  bringen  (vgl.  die  Herausg. 
zu  Verg.  G.  2,  225).  Haupt  stimmte  qu.  cat  j 
p.  57  der  Sache  nach  bei,  hat  aber  jetzt,  wol 
weil  er  den  Wortlaut  der  Vermuthung  nicht 
billigte,  den  Vers  nur  als  verderbt  bezeichnet 
Munro  dagegen  schreibt 
Gerne  lods  etiam  his  similes  arsisse  cavemas, 
so  dass  sich  Ms  auf  die  im  Folgenden  erwähn- 
ten Orte  beziehn  und  illic  v.  427  auf  lods  Ms 
zurüpkweisen  soll.  Das  ist,  auch  abgesehn  von  dem 
über  den  Vesuv  Bemerkten,  nicht  wahrschein- 
lich, sondern  nach  dem  , was  über  die  andern 
Orte  gesagt  ist,  macht  illic  den  Eindruck,  als 
gehe  es  ebenfalls  auf  eine  bestimmte  Oertlich- 
keit,  und  damit  stimmt  auch  der  ganz  beson- 
dere Inhalt  der  Verse  427.  428  überein.  End- 
lich passt  hier  cerne  nicht.  Vielleicht  also  ist 
Nolae  sds  etiam  simües  arsisse  cavemas 
das  Ursprüngliche. 

Wahrscheinlich  finden  sich  in  dem  Hand- 
exemplar und  den  Papieren  Haupts  noch  An- 
deutungen zur  Begründung  mancher  der  von 
ihm  gewählten  Lesarten  und  hoffentlich  werden 
sie  irgendwie  veröffentlicht.  -Wenn  aber  diese 
Ausgabe  allen , welche  sie  prüfen  und  gebrau- 
chen, die  gerechte  Trauer  um  den  grossen  Phi- 
lologen erneuern  muss , so  wissen  die , welche 
v in  irgend  einer  Weise  mit  ihm  in  Berührung 
gekommen  sind,  dass  er  mehr  war,  dass  Moriz 
Haupt  ein  Mann  war,  im  höchsten  und  edelsten 
Sinne  des  Wortes. 

Hermann  Sauppe. 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  495 

The  life  of  John  Milton:  Narrated  in  con- 
nexion with  the  political,  ecclesiastical,  and 
literary  history  of  his  time  by  David  Masson 
M.  A.  LL.  D.  Professor  of  Rhetoric  and  English 
Literature  in  the  University  of  Edinburgh.  Vol. 
UL  1643  — 1649.  London:  Macmillan  and  Co. 
1873  IX.  729  SS. 

Zu  unserer  Freude  ist  der  dritte  Band  die- 
ses ausgezeichneten  Werkes  dem  zweiten  um 
Vieles  rascher  gefolgt  als  dieser  dem  ersten. 
Ueber  jenen  unmittelbar  vorhergehenden  Band 
ist  in  diesen  Blättern  erst  vor  einigen  Jahren 
(1871  S.  1568  — 1590)  ausführlich  Bericht  er- 
stattet worden,  und  Alles  was  damals  Loben- 
des gesagt  werden  konnte,  darf  in  vollem 
Masse  für  die  vorliegende  Abtheilung  wieder- 
holt werden.  Es  ist  ein  Werk,  das  auf  jeder 
Seite  von  der  ausserordentlichen  Gründlichkeit 
und  vom  ungemeinen  Fleisse  des  Verfassers 
Zeugnis  ablegt,  solid  gearbeitet  in  allen  seinen 
Theüen,  und,  ich  möchte  sagen,  von  derselben 
ernsten  und  idealen  puritanischen  Gesinnung 
durchdrungen,  welche  dem  Helden  dieser  Bio- 
graphie eigen  war.  Es  ist  aber,  — und  darin 
hegt  seine  Starke  wie  seine  Schwäche,  — un- 
endlich viel  mehr  als  die  Biographie  dieses  einen 
Mannes,  indem  es  sich,  wie  schon  der  Titel 
andeutet , über  die  gesammte  politische , kirch- 
liche und  literarische  Geschichte  des  damaligen 
England  verbreitet,  und  zwar  mit  solcher  Aus- 
führlichkeit, dass,  nachdem  nur  die  ersten  vier- 
zig Jahre  von  Miltons  Leben  erzählt  worden 
sind,  bereits  über  zweitausend  Seiten  vorliegen. 
Die  Absicht  des  Verfassers,  in  seine  Arbeit  eine 
Geschichte  Englands  in  einer  ihrer  bewegtesten 
Epochen  nach  Vornahme  selbstständiger  gründ- 


496  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 


licher  Forschungen  zu  verflechten  hat  ihn  ge- 
nöthigt,  oft  durch  mehrere  Bogen  von  seinem 
ursprünglichen  Thema  Umgang  zu  nehmen  und 
eine  Scheidung  der  einzelnen  Kapitel  in  »Hi- 
story« und  »Biography«  zu  veranstalten.  Die 
Einheit  der  Darstellung  geht  darunter  beinahe 
zu  Grunde,  aber  wir  werden  um  ein  sehr  ge- 
lehrtes Werk  über  die  Geschichte  der  Engli- 
schen Revolution  bereichert.  Auch  im  vorlie- 
genden Bande  nimmt  das  allgemein  historische 
Element  eine  überaus  bedeutende  Stelle  ein; 
und  dies  um  so  eher,  je  wichtigere  Ereignisse 
die  Jahre  1643 — 49  einschliessen. 

Die  Fortsetzung  der  Geschichte  der  West- 
minster-Synode , die  Verbindung  der  Engländer 
mit  den  Schotten,  die  ersten  grossen  Erfolge 
Cromwells,  der  Ausbruch  des  Zwistes  zwischen 
Presbyterianern  und  Independenten,  die  ent- 
scheidende Niederlage  des  Königs  und  ihre 
Folgen,  seine  Schicksale  im  Lager  der  Schotten 
wie  in  den  Händen  der  Engländer,  die  letzten 
Akte  seines  Lebens,  die  sich  während  des  Rin- 
gens von  Presbyterianismus  und  Independentis- 
mus und  während  des  zweiten  Bürgerkrieges 
abspielen,  sein  Process  und  sein  Ende:  Alles 
das  hatte  Masson  seinem  Plane  gemäss  nicht 
etwa  in  skizzenhafter  Andeutung  sondern  in 
breiter  Erzählung  zu  behandeln,  für  deren  Aus- 
führlichkeit ich  nur  Beispielshalber  auf  die 
Schilderung  der  Kämpfe  in  Schottland  zwischen 
Montrose  und  Argyle  etc.  (p.  340 — 369)  verwei- 
sen will.  Er  thut  es  mit  voller  Beherrschung 
des  überreichen  Stoffes,  nicht  selten,  wie  in  den 
früheren  Bänden,  mit  Einschiebung  werthvoller 
Listen , deren  Vorbereitung  einen  grossen  Auf- 
wand von  Zeit  und  Mühe  erfordert  haben  muss, 
und  aus  welchen  Jeder  Belehrung  schöpfen 


i 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  497 


kann,  der  sich  eingehender  mit  diesem  Abschnitt 
Englischer  Geschichte  zu  beschäftigen  gedenkt. 
So  z.  B.  findet  sich  p.  146  — 159  eine  Ueber- 
sicht  über  die  Englischen  Sekten  in  den  Jahren 
1644  ff.  ihre  Grundsätze,  Führern,  s.w.  vor- 
züglich nach  Edwards  Gangraena,  eine  Ueber- 
sicht,  die  der  Verfasser  wohl  abgekürzt  haben 
würde,  wenn  ihm  die  kritischen  Bemerkungen 
in  Weingartens  trefflichem  Werke : Die 

Bevolutionskirchen  Englands  (Leipzig.  1868) 
S.  102  ff.  bekannt  gewesen  wären,  so  erhalten 
wir  p.  326  und  327  eine  Zusammenstellung  der 
Streitkräfte  und  Anführer  des  reorganisirten 
Heeres,  wie  es  nach  den  entscheidenden  Parla- 
ments - Beschlüssen  vom  15.  Februar  und  vom 
3.  April  1645  erschien  u.  s.  f. 

Gegen  die  Auffassung  der  allgemeinen  hi- 
storischen Ereignisse  durch  den  Verfasser  wird 
man  kaum  irgendwie  bedeutende  Bedenken  er- 
heben. Mit  Recht  tritt  er  überfeinen  Deutun- 
gen entgegen,  wie  z.  B.  der,  dass  Cromwell, 
während  er  mit  dem  König  über  eine  Wieder- 
herstellung seiner  Würde  unterhandelte,  die 
»Agitatoren«  der  Armee  angestachelt  habe  ihre 
radikalen  Tendenzen  zu  verfolgen  (p.  571),  dass 
Cromwell  den  König  zu  seiner  Flucht  nach  der 
Insel  Wight  verlockt  habe,  um  ihn  so  sichrer 
in’s  Verderben  zu  stürzen  (p.  576).  Versuche 
der  Art  einen  falschen  Pragmatismus  in  die 
Erzählung  einzuführen , gehen  meistens  auf 
royaHstische  Tendenz-Schriftstellerei  zurück  und 
können  nicht  oft  genug  zurückgewiesen  werden. 
Denn  die  Epoche  der  Englischen  Revolution 
gehört  zu  denen,  deren  Geschichte  vorwiegend 
von  ihren  Gegnern  geschrieben  worden  ist. 
Und  das  Gewebe  von  parteilichen  Mythen, 
welches  diese,  vielfach  Männer  vom  grössten 

32 


498  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

historiographischen  Talent,  geschickt  zu  flechten 
gewusst  haben,  erstreckt  sich  oft  genug  noch 
in  die  Darstellungen  neuerer  Zeiten.  Es  ist  die 
Frage , ob  jener  mythische  Charakter  auch  der 
bekannten  Anekdote  anbaftet,  nach  der  Crom- 
well und  Ireton  den  verhängnisvollen  Brief 
Karls  I.  an  die  Königin,  der  in  einen  Sattel 
eingenftht  war,  und  durch  den  der  Monarch 
seine  wahren  Absichten  enthüllte,  auf  etwas 
abenteuerliche  Weise  auffiengen.  Masson  p.  572 
verwirft  sie  schlechtweg  (»its  mythical  charac- 
ter is  obvious«).  Schon  Forster  (Statesmen  of 
the  Commonwealth.  Ed.  New -York  p.  467) 
scheint  ebenfalls  einige  leise  Zweifel  nicht  un- 
terdrücken zu  können,  während  Guizot  11.271 
die  ganze  Geschichte  erzählt,  ohne  irgend  ein 
Bedenken  zu  äussern.  In  den  Erläuterungen 
zu  den  Memoiren  von  Sir  John  Berkley  p.  231 
— 240  (Collection  des  memoires  relatifs  ä la 
revolution  d’Angleterre  IV)  hat  er  die  Frage 
kritisch  beleuchtet.  Was  mit  dem  Citat  aus 
Clarendon’s  state  papers  bei  Guizot  gemeint  ist, 
ist  mir  zwar  nicht  Idar,  indes  möchte  ich  mich 
doch,  namentlich  mit  Bezug  auf  die  Aeusserung 
von  Coke  nicht  entschliessen , die  ganze  Nach- 
richt von  einem  aufgefangenen  verrätherischen 
Briefe  des  Königs  einfach  über  Bord  zu  werfen. 
Für  alle  die  oft  erzählten  und  nacherzählten 
ausschmückenden  Neben  - Umstände  dürfte  es 
freilich  gewagt  sein,  volle  Garantie  zu  über- 
nehmen. 

Es  erscheint  überhaupt  auffällig,  dass  der 
Verf.  von  den  neueren  Darstellungen  Guizot 
fast  gar  nicht  heranzieht,  dessen  Werk,  trotz 
der  vielfachen  vorzüglichen  Special  - Arbeiten, 
die  wir  in  letzter  Zeit  erhalten  haben,  immer- 
hin eine  der  beachtenswerthesten  Gesammt- 


I 


r 

i 

Masson,  The  Life  of  John  Milton.  499 

Darstellungen  bleibt.  Ebenso  werden  Banke 
und  Forster  (Statesmen  of  the  Commonwealth) 
fast  gar  nicht  berücksichtigt.  Wäre  es  ge- 
schehe so  fände  sich  vielleicht  p.  559 Anm.  nicht 
die  Bemerkung,  dass  die  Historiker  »mit  Aus- 
nahme Godwins«  den  »Vorschlägen  der  Armee« 
(1647)  nicht  genügende  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt hätten.  Mit  Entschiedenheit  zu  billi- 
gen ist  es,  wenn  p. 99  den  Independenten  die 
! Ehre  zugesprochen  wird , den  Grundsatz  der 
Gewissensfreiheit  zuerst  in  voller  Beinheit  ge- 
fasst zu  haben.  »Not  to  the  Church  of  Eng- 
land, nor  to  Scottish  Presbyterianism,  nor  to 
I English  Puritanism  at  large,  does  the  honour 
of  the  first  perception  of  the  full  principle  of 
Liberty  of  Conscience  and  its  first  assertion  in 
English  speech  belong.  That  honour  has  to 
be  assigned , I believe , to  the  Independents  ge- 
nerally, and  to  the  Baptists  in  particular.«  In 
der  That  man  braucht  nur  das  Urtheil  Baillies 
in  seinen  »Letters«  II  181«  über  Godwin  zu 
lesen:  »Godwin  is  a bitter  enemy  to  presbytery 
and  is  openly  for  a full  liberty  of  conscience  to 
all  Sects,  even  Turks,  Jews,  Papists«,  urn 
eine  Anschauung  davon  zu  bekommen,  wie  un- 
i erschrocken  consequent  die  Ideen  vorgeschritte- 
ner Independenten  über  religiöse  Freiheit  wa- 
ren. Und  man  hat  Grund  dies  um  so  stärker 
zu  betonen,  je  deutlicher  ein  geistvoller  Engli- 
scher Schriftsteller,  Tüll  och,  in  jüngster  Zeit 
Miene  gemacht  hat  in  seinem  Werke:  »Bational 
Theology  and  Christian  Philosophy  in  England 
I in  the  seventeenth  century  1872«  indirekt  den 

; Independenten  jenen  Buhm  zu  bestreiten  und 

mit  Argumenten,  die  mir  nicht  stichhaltig  er- 
scheinen, die  Haies,  Chillingworth,  Taylor  und 
ihre  Gesinnungs-Genossen  als  »the  true  authors 

32* 


500  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  10. 


of  our  modern  religious  liberty«  darzustellen 
(vgl.  auch  Masson  p.  107.  126). 

Was  die  Darstellungsweise  Massons  betrifft, 
so  zeigt  sich  auch  in  diesem  Bande  nicht  selten 
jene  eigentümliche  Manier,  die  wir  früher  ge- 
glaubt haben  auf  Carlyle’sche  Wurzel  zurück- 
führen zu  dürfen.  So  lebendige  Wirkung  es 
auch  hervorbringt,  so  berührt  es  doch  wieder 
sehr  eigen thümlich  p.  177,  nach  Art  der  anti- 
ken Autoren,  eine  Bede  Cromwells  eingeschoben 
zu  finden,  von  welcher  der  Verfasser  selbst  so- 
fort sagt,  sie  sei  »imaginär«,  oder  p.  293  eine 
Bede  zu  lesen,  welche  die  Vorsteher  der  Buch- 
händler vor  dem  Hause  der  Lords  halten,  und 
deren  Form  gleichfalls  Erfindung  des  Histori- 
kers ist.  Eine  ähnliche  verständnisvoll  erdich- 
tete, aber  immerhin  erdichtete  Ausschmückung 
ist  ein  Gespräch  Miltons  mit  seiner  Frau  (p.  47) 
oder  eine  Unterhaltung  Youngs  mit  ihm  (p. 
187  i.  f.)  oder  dieürtheile  des  Publikums  über 
seine  Ehe  (p.  54). 

Kommen  wir  nunmehr  auf  den  biographi- 
schen Theil  selbst  zu  reden,  so  haben  wir  auch 
hier  wieder  die  umfassende  Forschung  und  die 
grosse  Genauigkeit  des  Verf.  zu  bewundern. 
Keine  Urkunde,  die  auf  den  betreffenden  Ab- 
schnitt von  Miltons  Leben  neues  Licht  werfen 
kann,  keine  zeitgenössische  Flugschrift,  die  mit 
seinen  persönlichen  Schicksalen,  mit  seiner  lite- 
rarischen Thätigkeit  in  Zusammenhang  steht,  ist 
ihm  entgangen.  Ein  neu  aufgefundenes,  inter- 
essantes Aktenstück  ist  das  Testament  des  al- 
ten Powell,  Milton’s  Schwiegervaters  (p.  636). 
Sehr  schätzbar  sind  auch  für  diesen  Theil  die 
Auszüge,  welche  Masson  aus  den  Registern  von 
Stationers-Hall  gemacht  hat,  namentlich  die  Ge- 
schichte der  »Areopagitica«  und  die  mit  ihr  zu- 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  501 


gammenhängende  Geschichte  der  Censnr  hat 
ihm  p.  268  Anlass  dazu  gegeben.  Den  parla- 
mentarischen Verordnungen , welche  sich  mit 
diesem  Gegenstände  beschäftigen,  und  die  Masson 
aufzählt,  darf  man  noch  eine  hinzufugen,  die 
Masson,  soviel  ich  bemerke,  nicht  erwähnt.  Sie 
befindet  sich  im  Britischen  Museum  unter  den 
»King’s  Pamphlets«,  bezeichnet  E.  93/i,  zusam- 
mengedruckt mit  einer  andern  Ordonnanz  des 
Parlaments  und  fuhrt  den  Titel:  »Also  an  Order 
of  the  Commons' in  Parliament,  Prohibiting  the 
Printing  or  publishing  of  any  lying  Pamphlet 
scandalous  to  His  Majestie,  or  to  the  proceedings 
of  both  or  either  Houses  of  Parliament  . . . March 
10.1642«  (1643).  Nach  dieser  Verordnung  sollte 
das  »Committee  for  examinations  or  any  of 
them«  die  Macht  haben  an  Orten,  wo  man  Pres- 
sen vermuthet,  welche  »scandalous  and  lying 
libells«  drucken,  solche  Pressen  zu  demoliren 
und  wegzunehmen,  ebenso  die  Druck-Materialien 
und  die  »Master-Printers  and  Workmen-Printersc 
vor  besagtes  Committee,  zu  bringen.  Dieses 
oder  eines  seiner  Mitglieder  soll  ferner  Macht 
haben  diese  Drucker  gefangen  zu  setzen  oder 
alle  Personen,  welche  öffentlich  oder  privatim 
»any  Pamphlets  scandalous  to  His  Majestie  or 
to  the  proceedings  of  both  or  either  Houses  of 
Parliament«  verkaufen  oder  die  Durchsuchung 
ihrer  shops  verweigern.  Die  Personen,  welche 
das  Committee  für  irgendwelche  der  vorgenann- 
ten Vergehen  festsetzt,  sollen  solange  sitzen, 
bis  die  »parties  employed  for  the  apprehending 
of  the  said  Persons  and  seizing  their  Presses 
and  materials  be  satisfied  for  their  paines 
and  charges«.  Friedensrichter,  »Captains,  Offi- 
cers and  Constables«  sollen  beim  Festnehmen 
dieser  Personen  und  beim  Durchsuchen  ihrer 


502  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

Lager  helfen.  »And  likewise  all  Justices  of 
peace,  Officers  and  Constables  are  hereby  re- 
quired from  time  to  time  to  apprehend  snch 
persons,  as  shall  publish,  vend  or  sell  the 
sayd  Pamphlets«.  Diese  Ordonnanz,  eine  nicht 
unwichtige  Illustration  zur  Geschichte  der  Eng- 
lischen Pressfreiheit,  gehört  unzweifelhaft  zu 
jenen  »divers  good  orders  . . . made  by  both 
Houses  of  Parliament  for  suppressing  the 
late  great  abuses  and  frequent  disorders  in 
printing«  etc.,  auf  die  sich  die  Ordonnanz  des 
14.  Juni  1643  (Masson  p.  289)  bezieht,  welche 
Miltons  berühmteste  Prosa-Schrift,  die  Schutz- 
Schrift  für  die  Freiheit  der  Presse,  die  »Areo- 
pagitica«  hervorrief.  Indem  der  Verf.  diese 
Schrift  analysirt,  in  ihrer  Bedeutung  würdigt 
und  mit  grosser  Belesenheit  die  Wirkungen  er- 
örtert , die  sie  im  feindlichen  Lager  hatte, 
kommt  er  auch  auf  jenen  Censor  zu  sprechen, 
der  nach  Toland  ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen 
der  Miltonseben  Schrift  durch  sie  zum  Aufgeben 
seines  gehässigen  Amtes  bewogen  sein  soll.  Es 
wird  ihm  leicht  zu  beweisen,  dass  dieser  Cen- 
sor erst  1649  auf  sein  Ansuchen  von  seinem 
Amte  befreit  wurde;  was  aber  seinen  Namen 
betrifft,  so  scheint  doch  einiges  Schwanken 
darüber  vorgekommen  zu  sein.  Wenn  ihn  auch 
die  authentischen  Urkunden  »Mabbott«  nennen, 
so  giebt  ihm  doch  auch  nicht  Toland  allein  den 
Namen:  »Mabol«.  In  »Whitlockes  Memorials« 
tritt  er  zum  22.  Mai  1649  gleichfalls  unter  dem 
Namen  »Mabbol«  auf,  während  sich  daselbst 
im  Register  allerdings  die  Bezeichnung  »Mabbold« 
vorfindet. 

Nächst  der  Schrift  »Areopagitica«  musste  der 
Milton’sche  Traktat  »On  Education«  im  vorliegen- 
den Bande  eine  ausführliche  Besprechung  finden. 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  503 


Wir  können  uns  mit  dem,  was  Masson  fiber 
das  interessante  Werkchen  sagt,  vollkommen 
einverstanden  erklären  und  hätten  nur  ge- 
wünscht, dass  der  innere  Zusammenhang  der 
pädagogischen  Ansichten  Miltons,  wie  sie  in 
dieser  Schrift  niedergelegt  sind,  mit  so  mancher 
frappanten  Aeusserung  seiner  früheren  im  Col- 
lege gehaltenen  Reden  etwas  näher  dargelegt 
wäre«  Ein  solcher  Zusammenhang  existirt  inso- 
feme  unläugbar,  dass  schon  damals  jene  Bacon- 
ßche  auf  das  Studium  der  Natur  gerichtete  Ten- 
denz zum  Ausdruck  kommt,  welche  Miltons 
Traktat  so  hoch  stellt.  — Wenn  Milton  bei 
seinem  Studien-Plan  für  seine  Schule  die  Eng- 
lische Literatur  auslässt,  so  möchte  ich  daraus 
nicht  mit  Masson  p.  243.  249  schliessen,  dass 
er  sie  in  jenen  Jahren  gering  geachtet  habe. 
Führt  doch  Masson  selbst  p.  284  das  begeisterte 
Lob  an,  das  in  den  Areopagitica  Edmund  Spen- 
ser gespendet  wird.  Aber  etwas  Anderes  war 
es  die  Schätze  der  heimischen  Literatur  hoch 
halten  und  sie  seinen  Zöglingen  vielleicht  als 
Belohnung  ihres  Fleisses  in  den  Musse-Stunden 
in  die  Hand  geben,  etwas  Anderes  ihrer  Be- 
trachtung in  dem  Rahmen  des  Lehrplans  eine 
Stelle  anzuweisen,  der  mit  strenger  Arbeit  ge- 
füllt sein  sollte.  Bekanntlich  hat  Edward  Phil- 
lips uns  etwas  genauer  darüber  in  Kenntnis 
gesetzt,  wie  sein  Onkel  Milton  bei  Erziehung 
seiner  Schüler  zu  Werke  gieng  und  namentlich, 
welche  Autoren  in  jeder  Disciplin  er  mit  ihnen 
durchnahm.  Aus  ihrer  Zahl  sind  der  Geograph 
»Pierre  Davity«  und  der  Mathematiker  »Riff«, 
welche  Masson  (s.  p.  254)  unbekannt  geblieben 
sind,  leicht  als  bekannte  Persönlichkeiten  nach- 
zuweisen. Der  erste,  »seigneur  de  Montmortin« 
lebte  nach  der  »Biographie  universelle«  1573 — 


504  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 


1635  und  gab  u.  A.  1626  ein  Buch:  »Etats  et 
empires  du  monde«  heraus.  Der  Andere  ist 
identisch  mit  Peter  Ryff  aus  Basel,  der  1552 — 
1629  lebte  und  u.  A.  1600  Francof.  »questiones 
geometricas  in  Euclidis  Elementa«  herausgab  (s. 
Athenae  Rauricae  und  Basler  Chroni- 
ken Bd.  I S.  13).  Warum  Masson  a.  a,  0.  den 
»Christian  Urstisius«  zu  einem  Italiänischen 
Mathematiker  macht,  weiss  ich  nicht.  Es  ist 
der  bekannte  Basler  Gelehrte,  dessen  »Elementa 
arithmeticae«  in  Basel  1579  erschienen.  — Wer 
sich  eingehender  mit  Miltons  Schrift  über  die 
Erziehung  beschäftigt,  hat  von  einigen  bedeuten- 
den Männern  zu  reden,  deren  Bestrebungen  und 
Persönlichkeit  mit  dieser  Schrift  und  ihrem  Autor 
in  enge  Beziehung  gesetzt  werden  müssen.  Es 
sind  John  Durie,  Johann  Arnos  Comenius  und 
Samuel  Hartlib,  dem  das  Werkchen  gewidmet 
ist.  Durie,  den  bekannten  Schottischen  Theologen, 
der  sich  sein  Leben  lang  in  ironischen  Bestre- 
bungen für  die  Vereinigung  der  protestantischen 
und  reformirten  Kirchen  abgemüht  hat,  hatte 
der  Verf.  schon  früher  (namentlich  Bd.  II.  368) 
zu  erwähnen.  Wenn  er  daselbst  in  der  Anm. 
äusserte,  »What  Durie  had  been  doing  or  where 
he  had  been,  between  1637  and  1641  I cannot 
teil«,  so  hätte  ein  Blick  auf  den  betr.  Artikel 
in  Herzog’s  Real-Encyclopädie , der  aus  gu- 
ten Quellen  schöpft,  darüber  belehren  können, 
dass  Durie  von  1635 — 38  in  Schweden  lebte, 
daselbst  ausgewiesen  1639  in  Dänemark,  darauf 
in  Braunschweig  verweilte,  bis  er  1640  wieder 
in  England  anlangte  und  1641  nach  dem  Haag 
gesandt  wurde.  — Im  vorliegenden  Bande  tritt 
Durie  auf  als  Freund  jenes  Samuel  Hartlib  und 
mit  ihm  zu  gleichen  idealistischen  Plänen  ver- 
bunden. Schon  längst  hätte  dieser  Samuel  Hart- 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  505 

lib  eine  ausführliche  Deutsche  Biographie  ver- 
dient. Er  war  ein  nach  England  verschlagener 
Preusse,  ein  äusserst  fruchtbarer  Schriftsteller, 
der  sich  fast  auf  allen  Gebieten  versucht  bat, 
immer,  auch  unter  den  grössten  körperlichen 
Leiden  mit  hochfliegenden  wissenschaftlichen  Ge- 
danken beschäftigt  und  mit  den  grössten  gelehr- 
ten Celebritäten  seinerzeit  durch  eine  unglaub- 
lich eifrige  Korrespondenz  in  engster  Verbin- 
dung, ohne  doch  selbst  irgend  ein  Werk  von 
dauernder  Bedeutung  hervorzubringen.  Eine 
nicht  genügende  Biographie  des  merkwürdigen 
Idealisten,  verfasst  von  H.  Dircks  (London 
John  Russell  Smith  1865)  macht  den  Wunsch 
nur  noch  lebhafter,  endlich  seine  Lebensbeschrei- 
bung aus  der  Hand  von  James  Crossley  zu 
erhalten,  welche  dieser  ausgezeichnete  Gelehrte 
schon  vor  Jahren  alS  Anhang  zu  seinem  Werke : 
»The  Diary  and  Correspondence  of  Dr.  Johri 
Worthington«  (Chetham  Society  Vol.  XIII.  XXXVI) 
versprochen  hat.  Bis  dahin  wird  man  auch 
versparen  dem  Deutschen  Publikum  das  sehr  mit 
Unrecht  vergessene  Charakterbild  Hartlibs  vor- 
zuführen, zu  dessen  Skizzirung  eben  Worthingtons 
Korrespondenz,  der  Briefwechsel  von  Sir  Robert 
Boyle,  die  Schätze  des  Britischen  Museums*), 
die  Notizen,  welche  nun  wieder  Masson  aus  dem 
State-Paper-Office  etc.  liefert,  ein  überreiches 

*)  Vor  Allem  die  äusserst  seltenen  Schriften  Hart- 
libs sind  dort  in  grosser  Vollständigkeit  vertreten.  In- 
dem ich  die  Auszüge,  die  ich  mir  daselbst  aus  ihnen  ge- 
macht habe,  mit  Massons  Notizen  vergleiche,  fallt  mir 
auf,  dass  er  p.  320  das  Pamphlet:  »The  Copy  of  A Letter 
Written  to  Mr.  Alexander  Henderson  London  Printed 
in  the  Yeare  1643«  mit  Thomasons  Aufschrift  »Feb.  6. 
1642«  bezeichnet  sein  lässt.  In  dem  Exemplar,  das  ich 
gesehn  habe  (E.  87)  steht,  wenn  meine  Notiz  nicht  irrig 
ist,  deutlich:  »Feb.  first  1642«. 


506  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  16. 

Material  liefern.  — Hier  genüge  nur  die  Be* 
merkung,  dass  Hartlib  es  war,  der  mehrere 
Schriften  des  Amos  Comenius,  dessen  Theorien 
ihn  ganz  gewonnen  hatten,  zuerst  in  England 
einführte,  dass  er  in  brieflichen,  freundschaft- 
lichen Verkehr  mit  ihm  trat  und  ihn  1641  so- 
gar bewog  nach  England  zu  kommen,  wo  es 
ihm  damals  möglich  schien,  mit  Unterstützung 
des  Parlaments  den  grossen  Traum  der  Errich- 
tung eines  »Pansophischen  Kollegiums«  zu  ver- 
wirklichen. Man  weiss,  dass  diese  Pläne  schei- 
terten, aber  bedauerlich  bleibt  trotzdem,  dass  es 
bis  jetzt  nicht  gelungen  ist  die  Spuren  jener 
Unterhandlungen  zwischen  dem  Parlament  und 
Comenius  aufzufinden,  von  welchen  dieser  selbst 
in  der  autobiographischen  Einleitung  des  zwei- 
ten Theiles  der  »Opera  didactica  omnia«  (1657) 
redet.  — Für  die  biographische  ? Skizze,  die 
Masson  von  dem  grossen  pädagogischen  Refor- 
mator entwirft,  hätten  ihm  einige  Arbeiten  gute 
Dienste  leisten  können,  die  er  in  der  Literatur- 
Uebersicht  p.  203  Anm.  nicht  angiebt.  Neben 
Bayle,  Raumer,  Quick,  Wood,  die  er 
nennt,  wäre  vor  Allen  zu  nennen  die  auf  wich- 
tigem urkundlichen  Material  beruhende  Arbeit 
von  Gindely:  Ueber  des  J.  A.  Comenius  Le- 
ben und  Wirksamkeit  in  der  Fremde  (Sitzungs- 
berichte der  phil.  hist.  Klasse  der  Wiener  Aka- 
demie 1855),  ferner  die  zum  Andenken  an  den 
zweihundertjährigen  Todestag  des  Comenius  er- 
schienenen Gelegenheitsschriften : Das  Leben 
des  Comenius  von  Fr.  J.  Zoubek  (Zivot  Jana 
Amosa  Komensköho.  V.  Praze  1871  mit  einer 
Uebersicht  über  die  Schriften  des  Mannes)  L. 
W.  Seyffarth:  J.  A.  Comenius  Leipzig  1871, 
Pappenheim:  A.  Comenius  Berlin  1871. 

Für  Miltons  Biographie  ist  das  Eingreifen 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  507 

Ton  Comenius  insofern  wichtig,  als  dessen  päda- 
gogische Ansichten  unzweifelhaft  durch  das  Me- 
dium Hartlibs  seinem  poetischen  Freunde  über- 
mittelt und,  wie  man  nicht  läugnen  kann,  in 
der  Schrift  über  die  Erziehung  eigenartig  ver- 
arbeitet worden  sind.  Sie  berühren  sich  Beide 
in  Vielem ; anzunehmen,  dass  sie  sich  persönlich 
gekannt  haben,  werden  wir  mit  Masson  p.  235 
uns  nicht  für  berechtigt  halten.  — Ehe  wir 
diesen  Abschnitt  des  vorliegenden  Werkes  ver- 
lassen, wollen  wir  nur  noch  bemerken,  dass  es 
sehr  wünschenswerth  gewesen  wäre,  wenn  der 
Verf.  ihn  mit  einer  allgemeinen  Schilderung  des 
Englischen  Erziehungswesens  eingeleitet  und  sich 
nicht  mit  den  kurzen  Andeutungen  p.  222  be- 
gnügt hätte.  Erst  auf  diesem  Hintergründe 
hätten  sich  die  Beformbestrebungen  von  Hart- 
lib,  Comenius,  Milton  etc.  in  voller  Klarheit  ab- 
gehoben. 

Neben  der  Schrift  über  die  Freiheit  der 
Presse  und  die  Erziehung  tritt  in  diesem  Bande 
als  dritte  Gruppe  aus  der  literarischen  Thätig- 
keit  Miltons  in  den  Jahren  1643—1649  jene 
Reihe  berufener  Flugschriften  auf,  deren  Thema 
die  Frage  der  Ehescheidung  bildet.  Man  weiss, 
dass  die  Verbindung  des  Dichters  selbst  mit 
Mary  Powell,  die  einen  so  wenig  glücklichen 
Anfang  nahm,  ihn  veranlasst  hat,  sich  der  Be- 
handlung dieser  Frage  zuzuwenden.  Zu  keinem 
anderen  Resultate  gelangt  Masson,  ja  seine  fei- 
nen kritischen  Bemerkungen  p.  42 — 47  machen 
es  sogar  wahrscheinlich,  dass  nicht  erst  die  be- 
harrliche Weigerung  der  jung  Vermählten  aus 
dem  väterlichen,  lebenslustigen  Hause  in  die 
stille  Gelehrten- Wohnung  des  Gemahls  zurück- 
zukehren  diesem  die  Feder  in  die  Hand  gedrückt 
hat,  sondern  dass  er  schon  vor  ihrer  Abreise, 


508  Gott.  gel.  Anz.  1374.  Stück  16. 

in  den  ersten  Wochen  der  Ehe  eine  Frage 
durchdacht  hat,  die  allerdings  gemeiniglich  kein 
Gegenstand  für  die  Gedanken  der  Flitterwochen 
zu  sein  pflegt. 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  näher  auf  die  Ge- 
schichte der  literarischen  Fehden  einzugehn,  die 
sich  über  die  kühnen  Forderungen  Miltons  ent- 
spannen oder  zu  berichten,  in  welcher  Weise 
die  Versöhnung  der  Gatten  herbeigeführt  wurde, 
und  wie  sich  nun  sein  häusliches  Leben  gestal- 
tete. Genüge  es  zu  sagen,  dass  auch  diese 
Punkte  vom  Verf.  mit  grösster  Klarheit  und 
Vollständigkeit  erörtert  werden. 

Auch  auf  die  wenigen  poetischen  Erzeugnisse 
des  Dichters,  welche  dieser  Epoche  angehören, 
die  Geschichte  der  ersten  Ausgabe  seiner  Ge- 
dichte etc.  will  ich  nicht  näher  eingehen.  — 
Ein  Mangel  scheint  mir  zu  sein,  dass  Masson 
der  apokryphen  Miltonschen  Werke  gar  nicht 
gedenkt,  welche  den  von  ihm  behandelten  Jah- 
ren angehören.  Zwar  wird  man  ihm  nicht  eben 
sehr  verübeln,  dass  er  jenes  Gedicht : »The  Epi- 
taph« mit  Stillschweigen  übergeht,  dessen  Auf- 
findung durch  John  Morley  so  viel  Staub  in 
der  Englischen  Presse  aufgewirbelt  hatte.  Mag 
auch  Morley  noch  in  seinem  Sammelwerke: 
»The  King  and  the  Commons  Cavalier  and  Pu- 
ritan Song«  (London  1869)  p.  XXII — XLV  da- 
für eintreten,  dass  das  Gedicht  wie  die  Hand- 
schrift Milton  angehöre,  die  Thatsache,  dass  die 
Unterschrift  gar  nicht  »J.  M.«  lautet,  wiegt 
schwerer,  als  die  Gründe,  welche  Morley  für 
seine  Ansicht  vorbringt  (vgl.  meine  Bemerkungen 
in  v.  Sy  bei:  histor.  Zs.  Bd.  XXVI  p.  405  XXVII 
p.  210).  Erwähnenswerth  wäre  die  Kontroverse 
immerhin  gewesen.  Noch  unerlässlicher  dürfte 
es  sein,  ein  Wort  über  die  prosaischen  Schriften 
zu  sagen,  die  man  fälschlich  Milton  zugeschrie- 


Masson,  The  Life  of  John  Milton.  509 

ben  hat,  und  mit  denen  sich  schon  Todd  in 
seinem  Leben  Miltons  (in  Vol.  I der  »Poetical 
'Works«  dritte  Ausgabe  p.  221  ff.)  zu  beschäftig 
gen  hatte. 

Endlich  bleibt  nur  noch  übrig  unser  lebhaf- 
tes Bedauern  darüber  auszusprechen,  dass  der 
Verf.  nur  beiläufig  in  einer  Note  zu  p.  45  von 
jenem  Buchhändler  George  Thomason  spricht, 
der  als  Sammler  von  vielen  tausenden  jetzt  im 
Britischen  Museum  befindlichen  Pamphleten  aus 
der  Zeit  der  Revolution  und  des  Bürgerkrieges 
schon  in  der  Anzeige  von  Massons  zweitem 
Bande  (G.  G.  A.  1871  S.  1581)  zu  erwähnen 
war.  Was  wir  bis  jetzt  über  Thomason  und 
seine  berühmte  Sammlung  an  kritischen  Anga- 
ben besitzen,  ist  ungenügend,  auch  die  Angaben, 
die  Edwards  noch  neuerdings  in  seinem 
Werke:  Lives  of  the  founders  of  the  British 
Museum  1870  I 331 — 333  gemacht  hat,  ent- 
sprechen der  Bedeutung  keineswegs , welche 
diese  Sammlung  als  historische  Quelle  für  sich 
in  Anspruch  nehmen  kann.  Sie  ist  um  so 
grösser,  da  sich  bekanntlich  auf  sehr  vielen 
Stücken  dieser  Sammlung  handschriftliche  No- 
tizen befinden,  die  sehr  oft  über  die  Verfasser 
der  Flugschriften  und  die  genauere  Zeit  ihres 
Erscheinens  höchst  erwünschte  Auskunft  geben. 
Ohne  eine  Untersuchung  der  Handschrift  Tho- 
masons, seiner  literarischen  Verbindungen  und 
des  Verfahrens,  welches  er  bei  Anlegung  seiner 
Sammlung  befolgte,  wird  es  immer  nur  vom 
Zufall  abhangen,  inwiefern  man  von  diesen  No- 
tizen einen  richtigen  oder  falschen  Gebrauch 
macht.  Masson  scheint  mir  z.  B.  durch  eine 
solche  Ms-Note,  die  sich  auf  einem  Exemplar 
der  ersten  Ausgabe  von  Miltons  Gedichten  (Br. 
Museum  King’s  Pamphlets  E.  1126)  befindet, 
S.  451  zu  einem  falschen  Baisonnement  ver- 


512  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  16. 

unter  dem  Einfluss  seiner  sophistisch-prosaischen 
Bildung  steht,  sondern  auch  Sophokles  sich  in 
verhältnissmässig  häufigem  Gebrauch  von  (ssvd  c. 
Gen.  der  Prosa  nähert.  So  tritt  auch  erst  das 
häufige  iksva  c.  Gen.  nach  Verba,  die  mit  civ 
zusammengesetzt  sind,  ins  recht  Licht  (vgl.  z.  B. 
Foss  comment.  Theophr.  2 p.  52).  Auch  sonst 
enthält  Mommsens  Abhandlung  feine  und  neue  Be- 
obachtungen über  den  Wandel  im  Gebrauch  der  | 
Präpositionen  und  der  Kasus,  zu  denen  sie  tre- 
ten, dass  der  Gebrauch  im  Ganzen  zunimmt, 
dass  »das  Vor  walten  des  Dativs  bei  Präpositio- 
nen der  älteren  und  der  poetischen,  des  Accu- 
sative der  jüngeren  Sprache  und  der  Prosa,  das 
des  Genetivs  den  rhetorisch-philosophischen  Ele- 
menten in  Poesie  und  Prosa  angehöre«  (S.  15). 
Auch  die  Beobachtung  überrascht,  dass  sich  iv 
bei  Dichtern  im  Ganzen  viel  häufiger  als  st $,  in 
attischer  Prosa  aber  sig  nur  bei  Xenophon  häu- 
figer als  iv  findet,  im  übrigen  iv  obwol  nicht 
so  wie  bei  den  Dichtern,  aber  immer  noch  über- 
wiegt, dass  ferner  etwa  von  Isokrates  an  in 
die  Stelle  von  iv  und  sig  immer  häufiger  nqog 
mit  Acc.  und  xatd  mit  Acc.  eintreten.  Ref. 
führt  zur  Bestätigung  an,  dass  Lykurg  in  der 
Leocratea  89  mal  I?,  62  mal  sig , 51  mal 
mit  Accus,  gebraucht  hat. — §.  7 — 10  erörtern 
sodann  (S.  28 — 49)  den  homerischen  Gebrauch 
von  psn t c.  Dat.,  pstä  c.  Gen.,  <ft)r  und  dpa 
c.  Dat.  §.11  fügt  Bemerkungen  über  den  Ge- 
brauch der  nachkommenden  Epiker  hinzu. 

Diese  wenigen  Worte  werden  genügen  die 
Wichtigkeit  dieser  Untersuchungen  zu  zeigen  und 
den  lebhaften  Wunsch  zu  rechtfertigen,  dass  der 
Verfasser  Zeit  und  Muth  finde  sein  verheissenes 
ausführliches  Werk  über  die  Geschichte  der 
Präpositionen  in  der  griechischen  Literatur  zu 
vollenden.  H.  S. 


513 


CüMtingische 

gelehrte  Anzeigen 

' unter  der  Aufsicht 

der  Eonigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stttek  17.  29.  April  1874. 


Das  Wiener  Stadtrechts*  oder  Weich- 
bild bueh.  Heransgegeben  von  Dr.  Heinrich  . 
Maria  Schuster,  Docent  an  der  k.  k.  Univer- 
sität zu  Wien.  Gedruckt  mit  Subvention  der 
kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften.  Wien, 
Verlag  der  G.  J.  Manz’schen  Buchhandlung. 
1873.  VIII  und  166  SS.  in  8. 

Das  Wiener  Stadtrecht  ist  ausgezeichnet 
durch  seinen  Reichthum  an  Formen.  Privileg, 
Statut,  Rechtsbuch,  alle  drei  Gestalten  treten 
hier  nach,  zum  Theil  neben  einander  auf. 

Den  Privilegien  gehört  das  18.  Jahrhun- 
dert. Sie  beginnen  mit  einer  ausführlichen,  alle 
Rechtsgebiete  berührenden  Urkunde  Herzog  Leo- 
polds, des  vorletzten  der  Babenberger,  vom  18. 
Octbr.  1221.  Sie  wiederholt  vielfach  wörtlich 
die  Rechtssatzungen,  welche  derselbe  Herzog 
1212  der  Stadt  Ens  gegeben  hatte,  unterschei- 
det sich  aber  characteristisch  von  ihrer  Vorlage 
dadnrch,  dass  sie  diese  mit  römisch-rechtlichen 
Wendungen  an  verschiedenen  Stellen  durchwoben 
bat.  So  wenn  eie  gleich  im  Eingänge,  wo  das 

33 


514  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

Enser  Stadtrecht  einfach  »vocabitur  ad  judicium 
tribus  vicibus«  hat,  »a  judice  civitatis  tribus 
edictis  vel  uno  pro  omnibus  peremptorio  citetur« ; 
an  die  Stelle  setzt,  oder  wenn  sie  da,  wo  von 
Nothwehr  die  Rede  ist,  nicht  verabsäumt,  das 
vim  vi  repellendo  einzuschieben,  oder  die  hand- 
hafte That,  welche  das  Enser  Stadtrecht  mit 
den  Worten:  si  in  opere  et  manufacto  depre- 
hensus  fuerit  umschreibt,  durch:  si  homicidium 
notorium  fuerit  wiedergiebt.  Auch  die  Auf- 
nahme einer  Anzahl  deutscher  Glossen  ist  der 
Wiener  Urkunde  verglichen,  mit  ihrer  Vorlage 
eigen.  Diesem  ältesten  Wiener  Privileg,  das 
dann  wieder  andern  Städten  zum  Muster  gedient 
hat,  ist  eine  lange  Reihe  von  Freiheitsbriefen 
österreichischer  Herzoge  und  deutscher  Könige 
gefolgt.  Seitdem  das  Wiener  Privileg  zuerst 
von  Hormayr  in  den  Wiener  Jahrb.  der  Lite- 
ratur Bd.  39  (1827)  vollständig  veröffentlicht 
worden  war,  ist  es  noch  oft  wieder  abgedruckt 
worden,  so  von  Gaupp  und  von  Gengier  in  ih- 
ren bekannten  Sammelwerken  der  deutschen 
Stadtrechte,  von  v.  Meiller  in  der  Abhandlung: 
Oesterreichische  Stadtrechte  und  Satzungen  aus 
der  Zeit  der  Babenberger  (Archiv  für  Kunde 
österr.  Geschichtsquellen  X 1853)  und  in  einem 
mir  vorliegenden  Hefte  von  68  Seiten  ohne  Ti- 
tel (gedruckt  bei  J.  P.  Sollingers  Wittwe),  das 
wohl  auf  denselben  Herausgeber  zurückgeht, 
ohne  aber  ein  Sonderabdruck  der  vorhergenann- 
ten Publication  zu  sein.  In  den  beiden  letz- 
tem Veröffentlichungen  sind  zugleich  einige  der 
nachfolgenden  Wiener  Privilegien  mitgetheilt. 

Die  Statuten  Wiens  beginnen  mit  dem  14. 
Jahrhundert  häufiger  zu  werden.  Eine  ältere 
Sammlung  und  Verarbeitung  derselben  zu  einem 
Statutenbuche  ist  nicht  auf  uns  gekommen, 


Schuster,  D.  Wien.  Stadtr.-  o.  Weichbildbuch.  515 

ebenso  wenig  ist  neuerdings  eine  Sammlung  und 
Veröffentlichung  in  einem  Urkundenbuche  unter- 
nommen. Das  Stadtbuch,  dessen  Anlage  im  J. 
1320  Herzog  Friedrich  der  Schöne  gestattete, 
ist  uns  zwar  erhalten,  enthält  aber  in  den  Mauth- 
Zoll-  und  Marktbestimmungen,  welche  Bauch, 
Scriptores  rerum  Aust.  III  17  ff.  daraus  mit- 
theilt, nicht  blos  auf  städtische  Selbstgesetz- 
gebung zurückgehendes  Hecht. 

Eine  dritte  Form,  in  der  Wiener  Stadtrecht 
auftritt,  ist  die  des  Rechtsbuches,  und  ihr 
ist  die  grösste  litterarische  Aufmerksamkeit  zu 
Theil  geworden.  Sie  hat  das  früher  als  ih- 
rem für  die  Geschichte  des  Privatrechts  reichen 
Inhalte  dem  Umstande  zu  danken  gehabt,  dass 
sie  häufig  in  den  Codices  mit  dem  Schwaben- 
Spiegel  verbunden  vorkommt;  dann  auch  der 
grossen  Zahl  von  Handschriften,  in  der  sie  nach 
und  nach  aufgefunden  wurde.  Schon  zu  Anfang 
des  vorigen  Jahrhunderts  berichtete  J.  J.  Moser 
in  einer  seiner  ersten  Schriften  von  einem  im 
Schottenkloster  aufbewahrten  Ms.,  das  er  bei 
seinem  Aufenthalte  in  Wien  während  des  Win- 
ters 1721  auf  1722  kennen  gelernt  hatte.  Seine 
Bibliotheca  manuscriptorum  (Norimb.  1722)  hat 
es  fast  ausschliesslich  mit  diesem  Codex  zu 
thun,  dem  Wiener  Stadtrecht,  das  er  enthält, 
widmet  sie  allerdings  nur  wenige  Zeilen,  ver- 
weilt dagegen  ausführlich  bei  dem  darauf  fol- 
genden Schwäbischen  Land-  und  Lehnrecht, 
collationirt  dasselbe  mit  den  Ausgaben  Bürger- 
meisters und  Schilters  und  theilt  endlich  eine 
Anzahl  der  im  Codex  enthaltenen  Urkunden 
österreichischer  Herzoge  mit.  Einige  dreissig 
Jahre  später  erwähnte  Senckenberg  in  seinen 
Gedanken  von  dem  jederzeit  lebhaften  Gebrauch 
des  uralten  deutschen  Hechts  (1759)  zwei  Codi- 

33* 


516  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

cos  des  Wiener  Stadtarchivs,  welche  den  Schwa- 
benspiegel mit  dem  Wiener  Stadtrecht  ver- 
binden. Gegen  Ende  des  Jahrhunderts  gab 
dann  Adrian  Rauch  in  den  Herum  Austriacarum 
Scriptores  tom.  UI  (Vindob.  1794)  neben  an- 
dern Urkunden  zur  Wiener  Recfatsgeschichte 
auch  einen  Abdruck  dieser  dritten  Form  des 
Wiener  Stadtrechts  ex  codice  Prandaviano  (Ho- 
mey er  nr.  570). 

An  die  Aeusserung  Senckenbergs  knüpfte 
hundert  Jahre  später  Siegel  an  und  beschrieb 
in  einer  wenige  Blätter  zählenden,  zwei  Rechts- 
handschriften des  Wiener  Stadtarchivs  (Wien, 
Sylvester  1858)  betitelten  Abhandlung  genau 
den  Inhalt  jener  beiden  Codices,  der  Nr.  68b 
und  686  des  Homeyerschen  Verzeichnisses  der 
Rechtsbücher  (1856),  das  im  Ganzen  von  zehn 
Handschriften  des  Wiener  Stadtrechts  Nachricht 
gab,  wenn  es  bei  manchen  auch  zweifelhaft  war, 
ob  sie  noch  existirten.  1861  beschrieb  Franz 
Stark  eine  neue,  nur  durch  die  Anführung  in 
Pertz  Archiv  X 625  (nicht  Göttinger  Gel.  Anz., 
wie  es  S.  42  der  vorliegenden  Schrift  heisst) 
bekannte  Handschrift  der  Grazer  Universitäts- 
bibliothek in  den  Sitzungsberichten  der  kais. 
Akademie  der  Wissenschaften  XXXVI,  86  ff., 
verglich  sie  mit  dem  Abdrucke  bei  Rauch,  wies 
die  dem  Schwabenspiegel  entlehnten  Stellen  nach 
und  theilte  die  bei  Rauch  fehlenden  zehn  Ca- 
pitel  mit.  Bald  darauf  fanden  sich  in  Graz, 
diesmal  in  der  Joanneumsbibliothek  noch  zwei 
andere  Handschriften  des  Rechtsbuches,  über 
welche  Sandhaas  in  den  angef.  Sitzungsberich- 
ten vom  J.  1868  XLI  368  ff.  referirte. 

Gestützt  auf  diese  Vorarbeiten,  fasste  der 
Herausgeber  auf  Anregung  seines  Lehrers,  Prof. 
Siegel,  den  Plan  zu  einer  neuen  Edition  des 


Schuster,  D.  Wien.  Stadtr.-  o.  Weichbildbuch.  517 

Wiener  Stadtrechtsbuches.  Es  setzt  seinen  Eifer 
und  seine  Umsicht  sofort  ins  beste  Licht,  wenn 
er  die  Einleitung  mit  der  Bemerkung  eröffnen 
kann,  dass  ihm  23  Handschriften  des  Rechts- 
buches bekannt  geworden  sind.  Es  finden  sich 
darunter  besonders  werthvolle,  welche  die  bis- 
her erwachsene  Litteratur  noch  gar  nicht  be- 
rücksichtigt hatte;  so  war  z.  B.  die  Handschrift 
der  Wiener  Hofbibliothek,  welche  ihm  den 
Grundtext  (Aa)  geliefert  hat,  zwar  bei  Homeyer 
unter  Nr.  684  auigeführt,  aber  ohne  die  Angabe, 
dass  sie  ein  Wiener  Stadtrecht  enthalte.  An 
neuen  Hss.  haben  6ich  ausserdem  noch  drei 
in  der  Wiener  Hofbibliothek  (Ba,  Cc,  Fa),  je 
zwei  in  Nikolsburg  (Cd,  F'e)  und  im  Kloster 
Seitenstetten  (Cc,  F'c),  je  eine  in  Linz  (Bc)  und 
in  Pesth  (Fd);  ausserhalb  Oesterreichs  je  eine 
in  Lübeck  (Bd),  München  (Ca)  und  in  Berlin 
(Cb)  gefunden.  Auf  mehrere  von  diesen,  auf  die 
Lübecker  und  auf  die  Hs.  Fa  der  Wiener  Hof- 
bibliothek, war  der  Herausgeber  durch  Hasen- 
öhrls  Ausgabe  des  österreichischen  Landesrechts 
(Wien  1867)  hingewiesen  worden,  da  diese  Co- 
dices das  Wiener  Stadtrechtsbuch  und  das 
österreichische  Landrecht  in  sich  vereinigen. 
Diese  neuen  Funde  zusammen  mit  den  drei 
Grazer  und  den  zehn  bei  Homeyer  verzeichne- 
ten  Handschriften  würden,  allerdings  die  Summe 
von  26  Mss.  ergeben;  allein  zwei  von  den  Num- 
mern des  Homeyerschen  Verzeichnisses,  Nr.  571 
und  Nr.  687,  letztere  die  von  J.  J.  Moser  be- 
schriebene Handschrift,  sind  verschollen,  eine 
bei  Homeyer  aufgeführte  Berliner  Hs.  Nr.  39 
finde  ich  in  der  gegenwärtigen  Ausgabe  nirgend 
erwähnt,  die  von  ihr  benutzte  Berliner  Hs.  (Cb) 
ist  nicht  mit  jener  identisch,  inzwischen  ist 
eine  neue  Handschrift  des  Wiener,  Stadtrechts- 


518  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  17. 


buches,  welche  ausserdem  das  Landrecht  des 
Schwabenspiegels,  das  österreichische  Landrecht 
und  zahlreiche  österreichische  Statute  und  Pri- 
vilegien enthält,  in  der  Bibliothek  des  germani- 
schen Museums  aufgefunden  und  ausführlich  von 
Prof.  Gengier  im  Anzeiger  für  Kunde  der  deut- 
schen Vorzeit  1873  Juni  Nr.  6 beschrieben 
worden. 

An  den  ersten  Abschnitt  der  Einleitung,  der 
der  Beschreibung  der  Hss.  gewidmet  ist,  reiht 
sich  ein  Synopsis  und  Textentwicklung  über- 
schriebener  Theil,  der  es  wahrscheinlich  macht, 
dass  das  Wiener  Stadtrechtsbuch,  wie  es  nun- 
mehr vorliegt,  das  Resultat  von  mindestens  vier 
Redactionen  ist.  Dieselben  gehen  auf  verschie- 
dene Verfasser  zurück,  da  die  in  Handschriften 
älterer  Redaction  durch  Verheften  . der  Lagen 
entstandene  Unordnung  in  jüngern  beibehalten 
ist.  Den  Codex,  welchen  der  Herausgeber  nach 
seiner  Textgestaltung  für  den  ältesten  erachtet, 
den  der  Wiener  Hofbibliothek  will  (Homeyer  684) 
er  aus  paläographischen  Gründen,  die  sich  ihm 
besonders  aus  einer  Vergleichung  mit  Wiener 
städtischen  Urkunden  ergeben,  in  das  14.  Jahr- 
hundert setzen.  Das  widerspricht  allerdings  der 
bisher  herrschenden  Ansicht,  nach  welcher  das 
Wiener  Stadtrechtsbuch  dem  folgenden  Jahr- 
hundert angehört,  bestimmter  in  das  Jahr  1435 
zu  setzen  ist.  Doch  hat  diese  Ansicht  ihren 
Halt  blos  an  dem  Datum  des  Rauchschen  Ab- 
druckes, dessen  Vorlage  zu  den  verschollenen 
Hss.  gehört  (Horn.  n.  570),  und  eines  der  bei- 
den von  Siegel  beschriebenen  Codices  des  Wie- 
ner Stadtarchivs  (Ca,  Horn.  n. 686) ; und  schon 
früher  sind  Stimmen  laut  geworden,  welche  das 
Rechtsbuch  nach  seinem  Inhalt  in  eine  ältere 
Zeit  zu  versetzen  geneigt  waren*  So  meinte 


Schuster,  D.  Wien.  Stadtr.o.  Weichbildbuch.  519 

Weiske  bei  Gelegenheit  einer  Besprechung  des 
von  Rössler  herausgegebenen  Brünner  Schöffen- 
buches aus  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  auch 
die  Entstehung  des  Wiener  Stadtrechtsbuchs  in 
diese  Zeit  verlegen  zu  können  (Ztschr.  f.  deut- 
sches Recht  XIV,  1853).  Auch  Sandhaas  a.  a.  0. 
erklärte  sich  für  eine  Abfassung  im  14.  Jahrh., 
wenngleich  aus  Gründen  anderer,  vorwiegend 
äusserer  Art:  eine  der  Grazer  Hss.  (F'a)  trägt 
das  Datum  1429  und  stellt  sich,  verglichen  mit 
den  übrigen,  als  Repräsentantin  einer  der  spä- 
tem RecenBionen  dar.  Unser  Herausgeber  unter- 
sucht eingehend  die  Frage  nach  dem  Alter  sei- 
ner Quelle.  Sein  Resultat,  das  er  aus  einer 
Vergleichung  der  Bestimmungen  des  Wiener 
Stadtrechtsbuchs  mit  herzoglichen  Privilegien 
und  Verordnungen  vornehmlich  des  14.  Jahr- 
hunderts gewinnt,  lässt  sich  dahin  zusammen- 
fassen,  dass  die  Entstehung  zwischen  die  End- 
punkte 1276  und  1360  fallt.  Den  terminus  a 
quo  liefert  die  Erwähnung  eines  von  König  Ru- 
dolf, der  erst  1276  nach  Wien  kam,  den  Wie- 
nern bestätigten  Rechts  in  Art.  90.  Den  terminus 
ad  quem  die  Verordnung  Herzog  Rudolf  IV.  vom 
Jahre  1360,  welche  bestimmt,  dass  die  Auflas- 
sung oder,  wie  sie  hier  heisst  »Wandlung  und 
vertigung«  städtischer  Grundstücke  vor  dem 
Bürgermeister  und  dem  Rath  der  Stadt  Wien 
geschehen  soll , während  bis  dahin  solche  durch 
die  Grundherren  vorgenommen  war.  Damit 
trifft  es  denn  zusammen,  dass  von  dem  Jahre 
1368  ab  Grundbücher  Seitens  des  Wiener  Raths 
geführt  werden,  von  denen  sich  die  sog.  Kauf- 
bücher seit  jenem  Jahre,  die  Satzbücher  seit 
1388  erhalten  haben.  Weder  das  Institut  der 
öffentlichen  Bücher  noch  die  Auflassung  vor 
dem  Rathe,  sondern  nur  die  »in  gruntherren 


520  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

wise«  vorgenoflftnene  Fertigung  ist  dem  Stadt- 
rechtsbuche bekannt.  Der  Herausgeber  glaubt 
den  terminus  ad  quem  noch  weiter  zurück,  so- 
gar bis  zum  Jahre  1296  verlegen  zu  können. 
Doch  vermag  ich  ihm  darin  nicht  zu  folgen; 
das  Argument,  das  er  aus  dem  im  Stadtrechts- 
buche vorkommenden  Volljährigkeitstermine  von 
14  resp.  12  Jahren  entnimmt,  ist  nicht  stich- 
haltig. Dieser  Termin  kann  dem  Verfasser  sehr 
wohl  aus  dem  römischen  Rechte  bekannt  ge- 
worden sein,  zumal  die  eine  Stelle,  die  den  Ter- 
min der  14  Jahre  erwähnt,  Art.  109  aus  dem 
Schwabenspiegel  Lassberg  13.  entlehnt  ist. 

Das  Vorkommen  einzelner  subjectiven  An- 
nahmen kann  nicht  weiter  auffallen,  da  wir  es 
hier  entschieden  mit  einer  blossen  Privatarbeit 
zu  thun  haben.  Das  bezeugt  zunächst  der  Ein- 
gang, der  durch  zwei  Prologe  gebildet  wird. 
Der  Verfasser  spricht  im  ersten  seinen  Vorsatz 
aus,  »weltlichen  recht  ze  reden  und  ze  schrei- 
ben« den  Leuten  zu  Nutz  und  Frommen,  »swenne 
si  durch  not  und  auf  recht  chömen  für  gericht«. 
Im  zweiten  Prolog  wendet  er  sich  mit  seinen 
Ermahnungen  an  den  Richter,  sich  vor  Unrech- 
ter Frage,  an  den  Gedingen,  sich  vor  Unrechter 
Folge,  an  den  Vorsprechen,  sich  vor  falschem 
Urtheil  zu  hüten,  worauf  dann  eine  ausführliche 
Auseinandersetzung  aller  der  Anforderungen 
folgt,  die  an  einen  Vorsprechen  zu  stellen  sind. 
Die  Thätigkeit  des  Vorsprechen  besteht  nicht 
bloss  in  »reden«  oder  »sprechen«,  sondern  auch 
in  »ertailen«.  Dabei  , ist  nicht  blos  an  Erthei- 
len  von  Rath,  sondern  auch  an  Urtheilen,  Ur- 
theilsfinden  zu  denken,  denn  die  Vorsprechen 
scheinen  in  Wien,  wie  in  andern  Orten  auch  zu 
dieser  Function  herangezogen  zu  sein,  woraus  es 
sich  denn  auch  erklären  würde,  dass  die  Thätig- 


Schuster,  D.  Wien*  Stadtr.-  o.  Weichbildbuch.  52 1 

keit  der  Gedingen  sich  auf  Folgen  beschränkt« 
Nach  der  mehrfachen  Berücksichtigung,  die  das 
Rechtsbuch  dem  Amt  der  Vorsprechen  zu  Theil 
werden  lässt,  ist  die  Ansicht  des  Herausgebers 
nicht  unwahrscheinlich,  dass  wir  den  Verfasser 
der  Quelle  unter  den  Männern  jenes  Standes  zu 
suchen  haben. 

Oer  Character  des  Rechtsbuches  wird  weiter 
darin  sichtbar,  dass  der  Verfasser  nicht  selten 
in  die  im  Ganzen  objective  Darstellung  des 
Rechtsstoffes  mit  seinem  Ich  tritt,  die  unpersön- 
liche Redeweise  mit  der  persönlichen  vertauscht 
und  thatsächliche  aus  der  Erfahrung  geschöpfte 
Bemerkungen  einflicht.  Für  beides  mag  die 
Stelle  als  Beispiel  dienen,  in  der  er  von  dem 
Privileg  der  Juden  spricht,  geraubte  oder  ge- 
stohlne  Pfänder  nur  gegen  Ersatz  des  Pfand- 
schillings herauszugeben  und  zwar  nach  Capital 
und  Zins,  »es  wellen  die  juden  etleich  denn  ein 
bescheidenhait  tuen,  (eine  Nachsicht  üben),  der 
lützel  an  euch  juden  gegen  uns  christen  ist« 
(art.  79).  Dasselbe  Privileg  giebt  ihm  weiter- 
hin Anlass,  seine  Kritik  an  dem  bestehenden 
Recht  zu  üben;  es  dünkt  ihn  »nicht  als  recht- 
leich  und  recht  wär,  wann  die  verfluchten  juden 
vil  pezzer  recht  habent  gegen  den  christen  denn 
die  christen  gegen  den  Juden«  (art.  145).  Es 
werden  auch  wohl  gute  Lehren  an  die  Darstel- 
lung eines  Rechtssatzes  geknüpft , wie  in 
Art.  120:  schüllen  die  perch therren  und  die 
purchtherren  daz  wizzen , das  solich  recht 
erfunden  sei  auf  gnad,  daz  man  einen  man 
so  schier  nicht  schaiden  schol  von  seiner 
geweren,  wann  er  doch  pezzer  recht  ze  sei- 
nem erib  hat  wann  ein  frömder.  Die  Rechts- 
sätze sind  mitunter  in  Form  einer  Sentenz, 
eines  Rechtssprichworts  ausgedrückt,  z.  B.  Art. 


522  Gott.  gel.  Anz.  1874.  StSck  17, 


29  wann  gelub  (Verträge)  prechent  alle  recht, 
Art.  28  wann  der  recht  gelter  ist  der  nagst  erb 
zu  aines  ieglichen  mannes  guet,  der  gelten  sol, 
was  zugleich  als  ein  Beispiel  der  Rechtssprache 
dienen  möge,  denn  hier  ist  in  dem  nemlichen 
Satze  gelter  erst  in  dem  Sinne  von  Gläubiger 
gebraucht,  während  gelten  am  Schluss  auf  den 
Schuldner  zu  beziehen  ist;  oder  Art.  44,  wo  die 
den  Mietvertrag  aufhebende  vis  major  charac- 
terisirt  wird:  gewalt  und  raub,  urleug  und  feur 
das  nimpt  sich  selber  aus,  wann  daz  dreibet 
den  wiert  aus  seinem  haus  mit  sampt  seinen 
gesten.  Auch  gefällt  sich  der  Verf.  wohl  ein- 
mal in  lehrhaft  vorgetragener  Casuistik,  wie  in 
Art.  93,  wo  es  ihm  denn  passirt,  dass  er  über 
der  künstlichen  Gruppirung  vergisst,  dass  er  in 
dem  vorgebenden  Artikel  die  legitimirende  Kraft 
der  Ehe  (art.  92:  so  welle  wir  daz)  zugestanden 
hat,  die  er  hier  bestreitet. 

Wie  es  zum  Character  eines  Rechtsbuches 
gehört , dass  es  trotz  seines  unbeglaubigten, 
privaten  Ursprungs  Anwendung  im  Leben  wie 
eine  wahre  Rechtsquelle  gefunden  hat,  so  ist  es 
auch  von  diesem  Rechtsbuch  zu  behaupten,  wenn 
wir  gleich  kein  weiteres  Zeugniss  dafür  besitzen, 
als  die  grosse  Zahl  der  Handschriften,  in  denen 
es  uns  überliefert  ist.  Eine  der  jetzt  in  Graz 
befindlichen  Handschriften,  die  früher  in  Juden- 
burg aufbewahrt  wurde  (FT)),  ist  auf  diese 
letztere  Stadt  umgeschrieben  und  zwar  einfach 
dadurch,  dass  überall,  wo  Wien  vorkommt,  Ju- 
denburg an  die  Stelle  gesetzt  wurde  (Sandhaas 
a.  a.  0.  S.  369).  Die  Hs.  Cc  der  Wiener  Hof- 
bibliothek gehörte  früher  dem  Collegium  von 
St.  Nicolai  kraft  einer  Schenkung  des  Wiener 
Bischofs  Faber  vom  Jahre  1540  »ut  ibi  in  per- 
petuum  studentibus  usui  sit«. 


Schuster,  D.  Wien.  Stadtr.-  o.  Weichbildbach.  523 

Treffen  nan  auch  alle  für  den  Begriff  eines 
Rechtsbuches  aufzustellenden  Merkmale  zu,  so 
kann  ich  mich  doch  nicht  damit  befreunden, 
dass  der  Herausgeber  eine  Bezeichnung  des 
Wiener  Stadtrechtsbuches  als  Weichbildbuch, 
die,  soviel  ich  sehe,  auf  Siegel  zurückgeht,  so- 
gar in  den  Titel  seiner  Ausgabe  aufnimmt; 
denn  einmal  ist  das  Wort  Weichbild,  Weich- 
bildrecht süddeutschen  Quellen  ganz  unbekannt 
und  zweitens  ist  man  doch  nicht  berechtigt,  weil 
das  Hauptbeispiel  eines  Rechtsbuches  aus  dem 
Gebiete  des  Stadtrechts  das  sächsische  Weich- 
bild ist,  alle  Rechtsbücher,  die  stadtrechtlichen 
Stoff  verarbeiten,  Weichbildbücher  zu  nennen. 

Die  Darstellung  des  Rechtsbuches  ist  durch- 
gehends  selbständig.  Die  Erfahrung  hat  dem 
Verfasser  den  Stoff  an  die  Hand  gegeben  und 
es  ist  vorzugsweise  der  gewohnheitsrechtliche 
Bestandteil  des  Statutarrechts,  an  den  er  sich 
hält.  Auf  einzelne  Rathsbeschlüsse  und  Privi- 
legien ist  wohl  hingewiesen,  aber  eine  Benutzung 
derselben  hat  doch  nicht  stattgefunden.  Eine 
eigenthümliche  Stellung  nehmen  eine  Anzahl  von 
Artikeln  ein , die  dem  Schwabenspiegel  entlehnt 
sind.  Sie  bilden  eine  zusammenhängende  Gruppe, 
nemlich  Artikel  95 — 1 09  init.  der  Ausgabe,  handeln 
von  Leibgeding,  Morgengabe  und  Erbrecht  und 
sind  an  Bestimmungen  des  Wiener  Stadtrechts 
angereiht,  die  von  ehelichem  Güterrecht  und 
Erbrecht  handeln.  Ich  finde,  der  Herausgeber 
hat  auf  diesen  interessanten  Bestandteil  seiner 
Quelle  nicht  die  gebührende  Rücksicht  genom- 
men. Er  bespricht  ihn  zwar  in  der  Einleitung 
S.  38,  doch  ist  z.  B.  nirgends  eine  Nachweisung 
gegeben,  welche  Artikel  des  Schwabenspiegels 
benutzt  sind,  welche  Handschriftenrecension  da- 


524  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

bei  etwa  za  Grunde  gelegt  wurde,  Untersuchun- 
gen, die  möglicherweise  auch  für  die  Altersbe- 
stimmung, die  der  Herausgeber  für  das  Wiener 
Stadtrechtsbuch  unternommen  hat,  Ertrag  ge- 
liefert hätten. 

Der  Verfasser  hat  seinen  Stoff  in  anspre- 
chender systematischer  Ordnung,  wie  die  Ein- 
leitung S.  40  nacbweist,  abgehandelt,  doch 
scheint  er  mit  seinem  Plane  nicht  ganz  zu  Ende 
gekommen  zu  sein,  denn  es  ist  mehrfach  auf 
spätere  Erörterung  eines  Gegenstandes  verwie- 
sen, ohne  dass  eine  solche  in  unsem  Handschrif- 
ten anzutreffen  ist:  so  im  drittletzten  Artikel 
auf  das  »capitel  von  widertreiben«,  im  Art.  145 
»das  vindet  ir  hernach  geschriben.an  der  juden 
hantvest«.  Man  wird  bei  einem  Ausdruck  wie 
dem  letztem  an  eine  vom  Verfasser  beabsich- 
sichtigte  Aufnahme  eines  der  Judenprivilegien 
zu  denken  haben,  vielleicht  spedell  der  Urkunde 
Herzog  Friedrich  II.  von  1244  (v.  Meiller,  Ar- 
chiv S.  146;  Stobbe,  Juden  S.  297),  da  diese 
einen  genau  zutreffenden  Passus  enthält,  denn 
wenn  auch  die  Bezeichnung  hantfest  in  einem 
der  von  Siegel  beschriebenen  Codices  für  das 
Städtrechtsbuch  als  Ganzes  gebraucht  wird,  so 
wurde  sie  doch  schwerlich  auch  auf  ein  einzel- 
nes Capitel  desselben  angewandt. 

Der  Inhalt  des  Rechtsbuches  gehört  fast  aus- 
schliesslich dem  Gebiete  des  Privatrechts  an. 
Für  dieses  bildet  es  eine  reiche  Quelle  der  Be- 
lehrung, und  man  schuldet  dem  Herausgeber, 
der  sie  uns  erschlossen,  den  besten  Dank.  Auch 
um  die  leichtere  Benutzung  derselben  hat  er 
sich  verdient  gemacht,  indem  er  nach  dem  Mu- 
ster der  Homeyerschen  Ausgaben  über  die  ein- 
zelnen Artikel  deutsche  Inhaltsangaben  setzte, 
Parallelstellen  aus  altern  Wiener  Stadtrechten 


Schus  ter,  D.  Wien.  Stadtr.-  o. Weichbildbuch,  525 

und  Privilegien  und  einzelne,  neuere  Werke,  wie 
Stobbes  V ertragsrecht , Schröders  eheliches  Gü- 
terrecht, wo  sie  einen  Artikel  oder  dessen  In- 
halt zu  erläutern  geeignet  sind,  citirte. 

Als  Beilagen  hat  der  Herausgeber  eine  An- 
zahl ungedruckter  Urkunden  des  Wiener  Stadt- 
archivs angehängt,  wie  er  solche  auch  in  der 
Untersuchung  der  Entstehungszeit  des  Stadt- 
rechtsbuches  (S.  30  ff.)  herangezogen  hat.  Den 
Nutzen,  den  die  Wahrüng  der  urkundlichen 
Schreibung  d.  h.  des  v und  u und  der  unaufge- 
lösten Abkürzungen  in  den  Beilagen  stiften  soll, 
vermag  ich  nicht  einzusehen. 

Den  Beschluss  bildet  ein  Wort-  und  Sach- 
register (S.  146—162).  Bei  den  mannigfachen 
formellen  und  materiellen  Schwierigkeiten,  die 
das  Rechtsbuch  darbietet,  war  ein  solches  un- 
entbehrlich. Es  soll  unsern  Dank  für  das  Ge- 
botene nicht  schmälern,  wenn  wir  unsern  Wunsch, 
es  möchte  dasselbe  noch  vollständiger  und  ein- 
gehender ausgefallen  sein , ausdrücken.  Hier 
nur  ein  paar  Nachträge.  Wenn  hintz  (hin  ze) 
erläutert  wurde,  so  war  auch  das  so  häufig  vor- 
kommende datz  (daze)  zu  erwähnen;  ebenhöch 
ist  nicht  ein  Gebäude  von  gleicher  Höhe,  son- 
dern ein  Belagerungsgeschütz  (Schmeller  I 15). 
Eetaiding  (Art.  128),  placitum  legitimum  fehlt; 
ebenso  vreihait  (Art.  109),  Vagabund;  Verziechen 
von  Pfändern  gebraucht  (Art.  134)  im  Sinne  von 
zu  Eigenthum  verfallen;  im  Art.  134  wird  statt 
wieser : wierser  zu  lesen  sein.  Gearnt  z.  B.  ge- 
arat  Ion  (Art.  38,  46)  ist  nicht : geordnet,  wie  der 
Herausgeber,  durch  spätere  Handschriften  verlei- 
tet, angiebt,  sondern  geerntet,  verdient  (Grimm, 
Wb.  s.  v.  arnen  I 563;  Schmeller  I 146).  Was 
unter  dem  Worte  schaden  beigebracht  ist,  reicht 
für  die  spezifisch  mittelalterliche  Rechtsbedeu- 


526  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 


tung  des  Worts,  wie  sie  namentlich  in  Art.  135 
hervortritt,  für  dessen  Inhalt  die  Ueberschrift 
»Schadenersatz«  zu  wenig  characteristisch  ist, 
nicht  aus.  Die  allitterirende  Formel  »stiften 
und  stören«,  (Haitaus  1744)  welche  Art.  120  in 
der  Verbindung  vorkommt : gewalt  haben  . • . . 
aigen  ze  stiften  und  ze  stören  (==  steuern,  adju- 
vare),  ist  nicht  erwähnt.  F.  Frensdorff. 


Gwerziou  Breiz-Izel.  Chants  populaires  de 
la  Basse-Bretagne.  Recueillis  et  traduits  par 
F.  M.  Luzel,  Officier  d’Academie,  Correspon- 
dant  du  Ministern  de  l’Instruction  publique  pour 
les  travaux  historiques.  Tome  H.  Lorient. 
Corfmat  Fils  (Paris,  Franck).  1874.  VH  und 
584  Seiten  Grossoctav. 

Der  erste  Band  des  rubricirten  Werkes,  er- 
schienen im  J.  1868,  ist  von  mir  an  dieser 
Stelle  (1869  S.  521  ff.)  angezeigt  und  die  Be- 
deutung desselben  eingehend  dargelegt  worden. 
Diese  ist  nämlich  eine  doppelte,  indem  sie  nicht 
nur  eine  Sammlung  in  mehrfacher  Beziehung 
anziehender  Volkslieder  bietet,  sondern  auch 
durch  die  strenge,  zuverlässige  Genauigkeit  und 
Sorgfalt  der  Aufzeichnung,  welche  sich  von  allen 
Interpolationen  und  ästhetischen  Zustutzungen 
frei  hält,  auf  wahrhaft  wissenschaftlichen  Werth 
Anspruch  machen  kann  und  in  dieser  Beziehung 
also  die  gänzliche  Werthlosigkeit  der  frühem 
Arbeit  des  Grafen  de  la  Villemarque  auf  das 
schlagendste  dargethan  hat.  Man  kann  dies  um 
so  mehr  als  ausgemacht  annehmen,  als  trotz 
mehrfacher  Aufforderungen,  sich  über  die  Au- 
thentic seiner  Quellen  auszusprechen,  letzterer 


Luzel,  Gwerziou  Breiz-Izel.  II.  527 

bisher  das  hartnäckigste  Stillschweigen  beobach- 
tet (vgl.  meine  Anzeige  von  Luzel’s  Schrift:  De 
V Authenticate  du  Barzaz-Breiz  de  M.  de  la 
Villetnarque  in  den  Heidelb.  Jahrb.  1872  S. 
858  ff.).  Inzwischen  hat  die  in  Bede  stehende 
Sammlung  Luzel’s  die  verdiente  aliseitige  An- 
erkennung gefunden  und  der  erste  Band  ist  im 
J.  1869  vom  Institut  gekrönt  worden,  wogegen 
sie  allerdings  auch  von  den  Vertheidigern  de  la 
Villemarque’s,  so  wie  von  denen  des  »Altars« 
angegriffen  worden  ist,  von  letztem  wegen  eines 
Liedes,  welches  von  einem  ausschweifenden  Bi- 
schof handelt  (L’Eveque  de  PennanstanJc ; s. 
GGA.  1869  S.  540),  und  wegen  einiger  ähnlicher. 
Was  nun  den  Inhalt  des  vorliegenden  neuen 
Bandes  betrifft,  so  charakterisirt  ihn  der  Heraus- 
geber im  Hinblick  auf  die  später  zu  publiciren- 
den  lyrischen  Volksdichtungen  ( Soniou ) folgen- 
dermassen:  »«Ten  ai  fini  avec  le  Gwerziou , ou 
chants  sombres,  fantastiques,  tragiques,  racon- 
tant  des  apparitions  surnaturelles,  des  assassi- 
nate, des  infanticides,  des  duels  h mort,  des 
trabisons,  des  enlevements  et  des  violences  de 
tonte  Sorte,  moeurs  feodales,  et  ä demi-barbares 
qui  rappellent  generalement  les  XI6,  XII6  et 
Xfll6  siecles  et  qui  se  sont  continuees  en  Bretagne 
iusqu’  au  XVIH  siede«.  Den  Hauptinhalt  scheinen 
wirkliche  Ereignisse  zu  bilden,  obwol  die  genauere 
Bestimmung  derselben  oft  grossen  Schwierig- 
keiten unterliegt,  vielleicht  in  manchen  Fällen 
auch  gar  nicht  möglich  ist,  wo  eben  kein  sol- 
cher zu  Grunde  liegt,  trotzdem  dass  einheimi- 
sche Geschichtsforscher  ein  solches  muthmassen, 
wie  gleich  im  ersten  Gwerz  »Le  Comte  Gmllou « 
(in  drei  Versionen  p.  7 ff.  559  ff.),  welches  er- 
zählt, wie  dieser  Graf  zu  seiner  Braut  zieht 
und  unterwegs  eine  Schäferin  ein  Lied  singen 


528  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

hört,  wonach  jene  in  seiner  Abwesenheit  einen 
Knaben  geboren  hat.  Er  lässt  sich  dasselbe 
wiederholen  und  zieht  weiter,  bis  ihn  die  Mat- 
ter seiner  Braut . nahen  sieht  und  ihm  auf  den 
Bath  der  letztem  deren  jüngste  Schwester  ent- 
gegensendet, da  diese  ihr  sehr  ähnlich  ist. 
Der  Graf  lässt  sich  jedoch  nicht  täuschen  und  | 
schickt  sie  zurück,  worauf  die  Braut  selbst  sich  j 
schmückt  und  ihm  entgegengeht.  Er  fragt  sie,  i 
ob  sie  ein  Kind  geboren,  und  da  sie  dies  läng- 
net,  fordert  er  sie  zum  Tanzen  auf.  Sie  wei- 
gert sich  dessen  eines  Fiebers  wegen,  worauf  er 
sie  ohne  Weiteres  ersticht,  dann  aber  seine  j 
Spielleute  um  seiner  todt  daliegenden  »Süssen«  j 
willen  eine  Trauermelodie  blasen  heisst.  — 
Man  hat  nun  geglaubt,  dass  diese  Ballade  sich 
auf  eine  geschichtliche  Thatsache  gründe,  und 
in  dem  darin  vorkommenden  Grafen  GuiUou 
einen  Grafen  Guülaume  de  Poitou  oder  einen 
Grafen  von  Goelo  erkennen  wollen.  Allein  das 
Lied  findet  sich  fast  buchstäblich  in  Piemont 
wieder  und  ist  von  dem  Cavaliere  di  Nigra  in 
der  Rivista  Cmtemporanea  1862,  Octoberheft  p. 
203  ff.  (La  Fidanzata  infedele)  mitgetheilt  wor- 
den. Da  diese  Zeitschrift  ausserhalb  Italiens 
nicht  leicht  zugänglich  ist,  so  wird  es  gewiss 
willkommen  sein,  wenn  ich  letzteres  Lied  zur  1 
Erleichterung  der  Vergleichung  vollständig  mit- 
theile, und  zwar  in  der  italienischen  Ueber- 
setzung,  die  Nigra  selbst  von  dem  etwas  schwer- 
verständlichen piemontesischen  Texte  gegeben 
hat.  »I.  Cantate,  pastorella,  — cantate  unä 
canzone,  — quella  che  voi  cantavate  — guar- 
dando  i vostri  agnelli.  — Si,  si,  mio  prenee, 
si,  si,  che  la  canterö:  — La  vostra  beUa  doma 
— ha  fatto  un  gentil  bambino.  — II.  La  madre 
di  lei  — che  lä  era  ai  balconi,  — ne  guardaya 


i 


529 


Luzel,  Gwerziou  Breiz-Izel.  II. 

il  prence  — ehe  veniva  da  Lione.  — 0 la  mia 
fighuola,  — sciagurata  che  tu  sei!  — Guarda 
la  il  tuo  prence  — ehe  ti  viene  a vedere.  — 0 
la  mia  madre!  — mandategli  la  mia  sorella,  — 
quella  ehe  mi  somiglia  — nella  bocca  e negli 
occhi.  — Il  bei  prence  — da  lungi  V ha  vista 
venire:  — Quella  non  e la  dama  — ehe  il  mio 
cuore  ha  promesso.  — 0 la  mia  figliuola,  — 
sciagurata  che  tu  sei!  — Guarda  lä  il  tuo 
prence ; — ha  rifiutato  tua  sorella..  — 0 la  mia 
madre,  — venite,  ajutatemi  ad  abbigliare;  — 
innanzi  al  mio  prence,  — ch’  i’  ne  voglio  an- 
dare.  — Il  bei  prence  — da  lungi  l’ha  vista 
venire;  — Quella  e ben  la  dama  — ehe  il  mio 
cuore  ha  promesso.  — Ditemi  voi,  bella,  — 
ditemi  la  veritä:  — siete  ancora  verginella  — 
come  vi  lasciai?  — Si,  si,  mio  prence — lave- 
rith  vo?  ben  dire:  col  prence  di  Fiandra  — tre 
notti  son  andata  a dormire.  — Il  bei  prence 
— chiama  paggio  Nicolö:  — Andate  a pigliar 
la  mia  spada  — quella  dair  elsa  dorata.  — 0 
piangete,  paggi!  — Oh  piangete,  piccoli  e 
grandi  1 Io  ho  ammazzato  la  dama  — che  il  mio 
cuore  amava  tanto!«  — Eine  sehr  abgekürzte 
Version  dieses  Liedes  findet  sich  auch  in  Giu- 
seppe Ferraro ’s  Canti  jpopolari  Monferrini. 
Torino  — Firenze  1870  p.  5:  L’Ad/ultera.  Die 
Identität  des  bretonischen  und  des  piemontesi- 
schen  Volksliedes  ist  unverkennbar;  sogar  der 
etwas  seltsame  Schluss  des  erstem,  wonach  die 
Spielleute  des  Grafen  um  seine  todt  hinge- 
streckte »Süsse«  trauern  sollen,  findet  sein  ent- 
sprechendes Gegenbild  in  den  zum  Weinen  um 
die  getödtete  Herzensgeliebte  des  Prinzen  auf- 
geforderten Pagen  des  letztem.  Noch  aber  will 
ich  einen  andern  Zug  erwähnen,  der  in  zwei 
Versionen  des  bretonischen  Liedes  vorkommt 

34 


530  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

und  wonach  der  Graf  seiner  mit  ihm  tanzenden 
Braut  auf  die  Brust  schlägt,  so  dass  ihr  darob 
die  Milch  aus  derselben  aufs  Eieid  spritzt.  Dies 
erinnert  an  einen  ganz  ähnlichen  Zug  in  einem 
deutschen  Volksliede  (des  Knaben  Wunderhorn 
II,  273.  Mittler  no.  329),  wo  das  Schwesterlein 
des  Markgrafen  bei  ihm  der  Schwangerschaft 
geziehen  wird  und  er  mit  ihr  deshalb  zu  tan- 
zen anfängt,  wo  es  dann  weiter  heisst:  »Der 
Tanz  der  währte  dritthalbe  Stund  — Bis  ihr 
die  Milch  aus  den  Brüsten  raus  sprang«.  Vgl. 
auch  Aehnliches  bei  Kretschmer  2,  185.  Mitt- 
ler no.  328  und  in  Svend  Grundtvig’s  Danmarks 
Gamle  Folkeviser  no.  126.  So  wie  nun  das 
eben  besprochene  bretonische  Lied  sich  als  ein 
keineswegs  historisches  erweist,  so  dürfte  auch 
wol  in  Betreff  noch  mancher  anderer,  die  für 
solche  gehalten  werden,  bei  genauerer  Nachfor- 
schung der  gleiche  Fall  eintreten;  doch  will  ich 
auf  eine  solche  hier  nicht  weiter  eingehen  und 
dafür  auf  einige  andere  Gwerziou  hinweisen, 
zu  denen  in  einzelnen  Zügen  sich  auch  ander- 
wärts Parallelen  finden.  So  heisst  es  in  Fran- 
cois Morvan  (p.  305),  dass  ein  Mädchen,  die 
ein  Capitän  verführen  will,  sich  von  ihm  seinen 
Dolch  leiht,  um  sich  das  Schnürband  aufzu- 
schneiden, sich  dann  aber  denselben  ins  Herz 
stösst.  Dieser  Umstand  (vgl.  Luzel  I,  327) 
kehrt  in  mehreren  französischen  und  italieni- 
schen Volksliedern  wieder,  die  Puymaigre  in 
seinen  Chants  popul.  du  pays  messin  (s.  GGA. 
1866  S.  2011  ff.)  zu  La  Fille  du  Patissier  (p. 
93  ff.)  anführt;  füge  hinzu  Bujeaud  Chants  et 
Chansons  popul.  des  prov.  de  POuest  (s.  GGA. 
ebendas.):  La  Fille  des  Sables  (2,  177  ff.); 
Ferraro  Canti  pop.  Monferrini  no.  2:  La  Mofir 
ferrina  incontaminata;  Bernoni  Canti  popol.  Ve- 


Luzel,  Gwerziou  Breiz-Izel.  II«  531 

neziani.  Venez.  1873  Puntata  IX  no.  2:  La 
Incowtaminata ; Casetti  e Imbriani  Canti  pop. 
delle  Provincie  Meridionali.  Torino  1872  vol. 
II  p.  1 £ — In  dem  Liede  Guyon  Quere  (p.  325) 
erzählt  dieser  im  Gefängniss  sitzende  Raub- 
mörder, wie  einst  einer  seiner  Genossen  von 
ihm  ein  ungetauftes  Kind  verlangt  und  er  des- 
halb einer  hochschwangern  Frau  den  Leib  auf- 
schneidet, um  sich  das  von  jenem  Gewünschte 
zu  verschaffen.  Wozu  dieses  dienen  soll,  wird 
nicht  weiter  gesagt;  das  Motiv  jedoch  ist,  dass 
die  Händchen  des  ungeborenen  Kindes  zu  Die- 
beslichtern bestimmt  sind;  also  in  der  Bretagne 
ganz  derselbe  Aberglaube  wie  in  Deutschland; 
s.  Grimm  Mythol.  1027  und  Reinhold  Köhler  in’ 
der  Zeitschrift  für  deutsche  Mythol.  4,  180  ff.; 
fuge  hinzu  meine  Anzeige  von  Henderson’s  Folk- 
lore in  den  Heidelb.  Jahrb.  1888  S.  86  ff.  und 
Kirchhofs  Wendunmuth  2,  167  (Stuttg.  Liter. 
Verein).  — In  dem  Liede  Le  jeune  Comte  (p. 
249)  sagt  der  junge  Graf,  der  gehängt  werden 
soll,  er  werde  nicht  mit  einem  hänfnen  Strick 
gehängt  werden,  sondern  werde  sich  weisse  Seide 
kaufen.  Dies  zielt  auf  den  ehedem  in  verschie- 
denen Ländern  herrschenden  Gebrauch,  vor- 
nehme Verbrecher  mit  seidenen  Stricken  zu 
hängen  oder  zu  erwürgen,  von  dem  ich  Beispiele 
in  der  Zeitschr.  f.  deutsche  Culturgesch.  1872 
S.  370  angeführt.  — Ebendas.  S.  358  habe  ich 
auch  die  oft  eintretendo  Nothwendigkeit  über 
den  Tisch  hinwegzuspringen  besprochen,  wie  sie 
früher  sowol  in  germanischen  wie  in  romani- 
schen Ländern  für  den,  der  hinter  demselben 
hervorwollte,  bestand  und  die  es  erklärt,  warum 
es  hier  in  dem  Liede  Les  Gars  de  Plouaret  (p. 
355)  heisst:  Quand  Yves  Le  Guillerm  entendit 
cela  — II  sauta  pardessus  la  table  — Renver- 

' 34* 


532  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

sant  verre  et  bouteille  avec  son  pied€.  — Sehr 
bemerkenswert  ist  ferner  in  dem  Gwerz  Le 
Clerc  Le  Glaouiar  (p.  423)  das  Anerbieten  des 
Vaters  den  im  Kerker  befindlichen  Sohn  nach 
dem  Gewicht  desselben  an  Geld  loszukaufen 
(»Le  vieux  Le  Glaouiar  disait  — Au  Sdnechal, 
ce  jour  lä:  — Mettez  mon  fils  dans  la  balance, 
— Je  vous  donnerai  son  poids  de  chevance«); 
denn  in  alten  Liedern  und  Chroniken  verschie- 
dener Länder  kommt  ganz  dieselbe  Auslösungs- 
weise vor;  s.  Grimm  Rechtsalterth.  S.  673  f.  no. 
7.  — Auch  der  Umstand,  dass  ein  Säugling 
wunderbarerweise  zu  sprechen  anfangt,  kehrt  in 
vielen  Volksliedern  ausserhalb  der  Bretagne 
wieder;  so  in  der  portugiesischen  Romance 
Conde  Ymno  bei  Almeida  Garrett  2,  44  ff. 
(Wolf  y Hofmann  Primavera  y Flor  2,  124  ff.), 
in  einer  catalonischen  bei  Milä  y Fontanals  Ob- 
servaciones  sobre  la  poesia  popular  p.  123,  in 
einer  Variante  des  piemontesischen  Volksliedes 
j Donna  Lmbarda  in  der  Rivista  Europea  1858 
Januarheft;  in  einem  provenzalischen  Liede  La 
Nourigo  don  rei  bei  Damase  Arbaud  Chants 
pop.  de  la  Provence,  in  Svend  Grundtvig  Dan- 
marks  Gamle  Folkeviser  no.  4 Fraendehaevn  B. 
v.  10.  11.  34  und  sonst  noch  in  andern  Dich- 
tungen und  Sagen.  — 

Aus  den  angeführten  Beispielen  wird  zur  Ge- 
nüge erhellen,  dass  der  vorliegende  Band  von 
Luzel’s  Sammlung  des  in  mehrfacher  Beziehung 
Interessanten  nicht  weniger  bietet  als  der  vor- 
hergehende und  dessen  wahrscheinlich  noch  mehr 
geboten  hätte,  wenn  er  seinen  sämmtlichen  aus 
dem  Volksmunde  gesammelten  Stoff  mitgetheilt; 
denn  nachdem  er  in  dem  Vorwort  bemerkt  hat, 
dass  er  alles  bereits  früher  Gedruckte  ausge- 
schieden, fügt  er  hinzu:  »D’un  autre  cote  je  me 


Luzel,  Gwerziou  Breiz-Izel.  II«  533 

suis  trouve  dans  la  necessity  de  sacrifier  an 
certain  nombre  de  morceaux,  les  uns,  dans 
l’interet  de  l’economie  materielle  de  mon  volume, 
les  autres,  pour  d’autres  raisons.  Mais  je  pourrai 
en  faire,  plus  tard,  si  le  besoin  s’en  faisaitsen- 
tir  (ce  que  je  ne  pense  pas),  l’objet  d’une  pe- 
tite publication  complementaire«.  Hoffen  wir, 
dass  sich  Luzel  Y Voraussicht  nicht  erfüllen  und 
im  Gegentheil  das  Bedürfniss  eines  Nachtrags 
zu  den  Gwerziou  sich  bald  fühlbar  machen 
werde;  denn  gerade  die  Lieder,  die  er  » pour 
d’autres  raisons«  ausgelassen,  wären,  wie  ich 
muthmasse,  für  die  Geschichte  des  bretonischen 
Volksliedes  so  wie  für  die  Culturgeschichte  im 
Allgemeinen  besonders  wichtig  gewesen,  wenn 
sich  auch  darin  neue  Beispiele  von  dem  lieder- 
lichen Leben  des  hohen  bretonischen  Clerus  in 
der  frühem  Zeit  oder  von  den  »moeurs  un  peu 
barbares«  darin  gefunden  hätteii.  Aber  freilich 
der  Herausgeber  war  durch  die  Erfahrung  ge- 
witzigt und  wusste,  welch  mächtige  Einflüsse  dem 
ersten  Theil  seiner  Publication  gegenüber  ge- 
standen. Nicht  bedeutungslos  ist  es  anderer- 
seits, wenn  Luzel  ohne  Anstand  ein  Lied  {Anne 
Le  Bail  p.  151  ff.)  mittheüt,  welches  auf  fol- 
gende Weise  schliesst:  »Grand  Anne  Le  Bail 
entendit  cela  — Elle  se  jeta  au  milieu  de  la 
mer.  — Anne  Le  Bail  disait  en  arrivant  au 
fond  de  la  mer.  — Seigneur  Saint-Samson  beni, 

— Voudriez-vous  faire  un  miracle  en  ma  fa- 
veur?  — J’ai  cinq  cents  ecus  de  rente  — Et  je 
vous  en  cederai  deux  cents  par  contract,  — Si 
vous  me  rendez  dans  l’eglise  de  Saint-Norvez. 

— Elle  n’avait  pas  fini  de  parier,  — Quelle  fut 
rendue  dans  l’eglise  de  Saint-Norvez,  — Au 
moment  de  l’Elevation,  ä la  grande  messe«. 
Dergleichen  religiöse  Vorstellungen  sind  also  in 


534  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  17. 

der  Bretagne  (wie  auch  sonst  in  katholischen 
Ländern)  die  allgemein  herrschenden  und  schei- 
nen durchaus  keinen  Anstoss  zu  gewähren,  we- 
der beim  Klerus  noch  bei  den  Laien.  — Der 
in  Aussicht  gestellte  dritte  Band  wird  die  So- 
niou  enthalten,  d.  h.  chants  d’amour,  elegies, 
illusions  et  disillusions,  refrains  de  danse,  jeux 
et  rondes  enfantines,  etc.  Auch  dies  lässt  neue 
und  anziehende  Beiträge  zur  Sittenkunde  so  wie 
zur  Gefühls-  und  Denkweise  des  bretonischen 
Volkes  erwarten,  so  dass  sich  Luzel  durch  sein 
seit  fünfundzwanzig  Jahren  unermüdlich  fortge- 
setztes Sammeln  des  ächten  (nicht  gefälschten) 
Liederschatzes  der  Bretagne  in  seiner  Heimat 
wie  ausserhalb  derselben  ein  ehrenvolles  und 
dauerndes  Denkmal  gesetzt  haben  wird. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


Hase,  Lie.  Dr.,  Divisionspfarrer  zu  Hanno- 
ver: Die  Bedeutung  des  Geschichtlichen  in  der 
Religion.  Leipzig,  Verlag  von  Breitkopf  und 
Härtel,  1874.  80  Seiten  kl.  8. 

Dass  diese  Arbeit  wirklich  genüge  und  das 
Problem,  um  das  sie  sich  bemüht,  in  einer  all- 
gemein gütigen  Weise  löse,  das  wird  man  ganz 
und  gar  nicht  behaupten  können.  Sie  ist,  was 
das  Stilistische  angeht,  geschickt  und  glatt  ge- 
schrieben und  zeugt  von  den  mancherlei  Kennt- 
nissen auch  in  Beziehung  auf  die  Geschichte  der 
Religion  und  Theologie,  die  dem  Verf.  zu  Ge- 
bote stehen,  aber  in  Beziehung  auf  ihren  Gegen- 
stand ist  sie  denn  doch  zu  oberflächlich  und 
zu  schnellfertig  und  lässt  es  an  der  Hauptsache 


Hase,  D.  Bedeut,  d.  Geschichtl.  i.  d.  Religion.  535 

fehlen,  von  der  doch  eigentlich  die  Entscheidung 
abhängen  muss. 

Der  Zweck  des  Verf.  ist,  zu  zeigen,  welche 
Bedeutung  das  Historische  in  der  Religion  auch 
noch  für  unser  gegenwärtiges  religiöses  Leben, 
für  das  des  Einzelnen,  wie  der  Gesammtheit 
habe.  Er  erinnert  dabei  an  ein  bekanntes  Wort 
Lessings,  dass  zwischen  zufälligen  Geschichts- 
wahrheiten und  ewigen  Vemunftwahrheiten  sich 
ein  breiter  Graben  befinde,  den  zu  überspringen 
schwer,  ja  unmöglich  sei,  und  er  will  nun  die 
Brücke  aufzeigen,  die  gleichwohl  über  diesen 
Graben  führt:  ein  Unternehmen,  das,  wenn  es 
gelungen  wäre , denn  allerdings  ein  tief  und  all- 
seitig gefühltes  Bedürfniss  unserer  Zeit  befrie- 
digen würde.  Irrt  sich  Ref.  nicht,  so  ist  doch 
ein  gutes  Theil  unserer  Forschungen,  die  sich 
auf  die  Geschichte  der  Religion  und  namentlich 
auch  des  Urchristenthums  beziehen,  gerade  dar- 
auf gerichtet,  das  wirklich  Geschichtliche  in 
dem  traditionellen  Bestände  zu  erkennen  und 
herauszuschälen,  um  dann  eben  dies  auch  für 
unser  gegenwärtiges  Leben  verwerthen  zu  kön- 
nen; und  gerade  dadurch,  dass  die  hier  sich 
darbietenden  Probleme  so  schwer  zu  lösen  sind, 
entstehen  die  mancherlei  Richtungen  in  Theologie 
und  Kirche,  die  unsre  Zeit  in  diese  aller  Orten 
hervorbrechende  Unruhe  versetzen.  Hätte  da 
nun  der  Verf.  das  wirklich  lösende  Wort  ge- 
sprochen, da  müsste  man  ihm  nicht  bloss  dank- 
bar sein,  man  müsste  sogar  sagen,  dass  er  et- 
was überaus  Werthvolles  geleistet  habe,  das  zum 
kirchlichen  Frieden  und  zum  Gedeihen  unseres 
kirchlichen  Lebens  von  einer  gar  nicht  hoch 
genug  anzuschlagenden  Bedeutung  sein  müsste. 

Allein  davon  ist  der  Verf.,  all  seines  guten 
Willens  unbeschadet,  doch  noch  weit  entfernt 


536  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

geblieben,  und  zwar,  wie  uns  scheinen  will,  aus 
dem  einfachen  Grunde,  weil  er  versäumt  hat, 
uns  vor  aller  weiteren  Erörterung  einen  klaren 
und  deutlichen  Begriff  von  dem  zu  geben , was 
er  denn  nun  unter  dem  Historischen  in  der  Re- 
ligion versteht.  Dass  wir  das  Alles,  was  uns 
da  • traditionell  als  wirkliche  Geschichte  darge- 
boten  wird,  nicht  als  solche  annehmen  können,  i 
wird  der  Yerf.  eben  so  gut  wissen,  wie  Jeder,  ! 
der  sich  mit  diesen  Dingen  auch  nur  einiger 
Maassen  beschäftigt  hat,  aber  was  ist  denn  nnn 
das  wirklich  Geschichtliche  auf  diesem  Gebiete?  j 
wie  scheiden  wir  es  aus  von  den  unhistorischen  1 
Umhüllungen,  in  denen  die  Ueberlieferung  das- 
selbe auf  uns  gebracht  hat?  Unsere  Wissen- 
schaft hat  nun  schon  die  nimmer  ermüdende 
Arbeit  von  Generationen  daran  gesetzt,  um 
diese  Ausscheidung  sauber  und  klar  zu  voll- 
ziehen, und  es  ist  klar,  dass  sie  vollzogen  sein 
muss,  ehe  von  der  »Bedeutung  des  Geschicht- 
lichen in  der  Religion«  für  unser  gegenwärtiges 
Leben  überhaupt  die  Rede  sein  kann.  Aber 
davon  bei  demVerf.  doch  eigentlich  Nichts.  An 
die  hier  sich  aufdrängenden  kritischen  Fragen 
tritt  er  im  Grunde  gar  nicht  recht  heran,  er 
begnügt  sich  statt  dessen  mit  einem,  wenn  auch 
immer  geistvollen,  so  doch  auch  nicht  einmal 
immer  stichhaltigen  dogmatischen  Räsonnement: 
allein  wem  wäre  nicht  klar,  dass  damit  hier 
zunächst  ganz  und  gar  Nichts  entschieden  wer- 
den kann,  so  lange  die  Vorfrage,  wie  wir  sie 
eben  angedeutet  haben,  nicht  ausgemacht  ist? 

Der  Verf.  möge  doch  einmal  sich  selbst  die 
Frage  vorlegen,  ob  auf  dem  von  ihm  beliebten 
Wege  nicht  doch  auch  noch  ganz  andere  Dinge 
als  noch  immer  berechtigt  nachgewiesen  wer- 
den könnten,  als  bloss  das,  wovon  er  meint, 


J 


Hase,  D.  Bedeut,  d.  Oeschichtl.  i.  d.  Religion.  537 

dass  es  für  das  Leben  der  Christenheit  noch 
immer  eine  Bedeutung  haben  müsse?  Er  selbst 
geht  in  seinem  historischen  Positivismus  schon 
weiter,  als  ihm  ein  evangelischer  Christ  immer 
zugestehen  möchte,  aber  wo  man  so,  wie  der 
Verf.,  alle  historische  Kritik  ignorirt  und  Man- 
ches von  dem,  um  welches  heut  zu  Tage  sogar 
der  Streit  der  Kritiker  am  Meisten  sich  bewegt, 
als  unbezweifelbare  Wahrheit  hinstellt,  da  weiss 
man  denn  schliesslich  doch  nicht,  wo  man  im 
Anerkennen  des  Traditionellen  als  des  wirklich 
geschichtlichen  Halt  machen  soll,  und  da  hat 
am  Ende  jeder  überlieferte  Aberglaube  ein 
Recht,  dass  man  ihn  respectire  und  sich  in  den- 
selben wieder  hinein  lebe,  zumal  auch  der  Got- 
tesbegriff des  Verf.,  die  Grundlage  seines  ganzen 
Räsonnements,  da  keine  Gränze  setzt,  vor  der 
man  mit  seinem  Anerkennen  des  »Geschichtli- 
chen« Halt  machen  müsste.  Allerdings  fasst 
der  Verf.  Gott  als  den  frei  Wirkenden  auf,  in 
dessen  Willen  alles  Dasein  ruht  und  aus  dessen 
Willen  auch  alles  Geschehen  hervorgeht,  aber 
ist  es  nicht  doch  so,  dass  er  den  Willen  Gottes 
als  absolute  Willkür  auffasst  und  dass  ge- 
rade dies , dass  die  absolute  Willkür  Gottes 
Alles  hervorgehen  lasse,  das  Argument  ist,  auf 
welches  der  Verf.  seine  Beweisführung  stützt? 
Da  aber  lässt  sich  denn  schliesslich  Alles  als 
möglich  begreifen  und  als  unzweifelhafte  Ge- 
schichte hinstellen,  aber  dass  das  uns  jetzt  zu 
befriedigen  im  Stande  wäre,  und  namentlich  auch, 
dass  auf  diesem  Wege  für  die  Frage  nach  der 
Bedeutung  des  Geschichtlichen  in  der  Religion 
eine  Lösung  gefunden  werden  könnte,  wer  möchte 
es  denn  noch  behaupten? 

Ref.  bedauert  recht  herzlich,  diesen  Wider- 
spruch gegen  des  Verf.  Darstellung  erheben  zu 


538  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

müssen,  um  so  mehr,  als  derselbe  sich  mit  man- 
chem Anderen,  was  der  Verf.  hervorhebt,  ein- 
verstanden erklären  möchte,  das  aber  immer 
nur  dann  seine  Richtigkeit  hat,  wenn  zuvor  fest- 
gestellt ist , was  denn  nun  das  Historische, 
zu  dem  man  in  das  persönliche  Verhältniss  des 
Glaubens  zu  treten  habe,  in  der  That  und  Wahr- 
heit sei.  Für  den  Ref.  ist  das  Geschichtliche 
das  persönliche  Leben,  wie  es  in  den  grossen 
Trägern  des  sittlich-religiösen  Verhältnisses  sich 
als  ein  wirklich  geschichtliches  und  deshalb 
auch  geschichtlich  wirksames  gezeigt  hat,  am 
höchsten  und  in  wirklicher  Vollendung  in  Jesus 
Christus,  welcher  für  den  Ref.  eben  deshalb 
auch  die  höchste  und  eine  völlig  unersetzliche 
Bedeutung  hat  für  das  Leben  der  Christenheit 
im  Einzelnen  und  im  Ganzen,  und  vielleicht 
wenn  dieser  Gesichtspunkt  mit  voller  Klarheit 
und  Bestimmtheit  hervorgehoben  würde,  möchte 
sich  eine  befriedigende  Lösung  der  Frage  er- 
geben, die  dem  Verf.  allerdings  unsere  Zeit 
selbst  an  die  Hand  gegeben  hat  und  die  auch 
einer  Lösung  in  dringender  Weise  bedürftig  ist. 

F.  Brandes. 


Hermann  Hagen:  Jacobus  Bongarsius. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  gelehrten  Stu- 
dien des  16. — 17.  Jahrhunderts.  (Programm 
der  Kantonsschule  in  Bern).  Bern.  Gedruckt 
bei  A.  Fischer.  1874.  76  SS.  4°. 

Der  Verfasser  der  vorgenannten  Abhandlung, 
damit  beschäftigt  einen  neuen  Katalog  der  höchst 
werthvollen  Handschriftensammlung  für  den 


539 


Hagen,  J.  Bongarsius. 

Druck  vorzubereiten,  welche  aus  dem  Nachlass 
des  Jakob  von  Bongars  durch  Vergabung  Jakob 
von  Gravissets  in  Besitz  der  Stadt  Bern  gelangt 
ist  und  die  Hauptzierde  der  dortigen  städtischen 
Bibliothek  bildet,  hat  schon  vor  Kurzem  eine 
litterar-historische  Skizze  veröffentlicht,  zu  der 
er  durch  jene  umfassende  Arbeit  angeregt  wurde. 
Sie  bezog  sich  auf  den  aus  Orleans  gebürtigen 
Juristen  Peter  Daniel,  über  welchen  bis  dahin 
nur  höchst  mangelhafte  biographische  Angaben 
existirten,  dessen  Bibliothek  zum  Theil  in  Bon- 
gars Hände  übergieng  (»Der  Jurist  und  Philo- 
log  Peter  Daniel  aus  Orleans.  Bern.  Gedruckt 
bei  A.  Fischer  1873«).  Wichtiger  ist  das 
Thema  dieser  neuesten  Schrift,  welche  Bongars 
selbst  behandelt.  Sie  ist,  kann  man  sagen,  die 
erste  Biographie  des  berühmten  Franzosen, 
welche  muthig  mit  den  »landläufigen  Traditio- 
nen« der  Kompilatoren  bricht,  die  einzig  aus 
der  dürftigen  Quelle  von  Bayle  geschöpft  und 
diese  noch  dazu  nicht  selten  getrübt  haben. 
Freilich  verwahrt  sich  der  Verf.  ausdrücklich 
dagegen  »ein  abgerundetes,  vollständiges  Lebens- 
bild des  merkwürdigen  Mannes«  haben  geben 
zu  wollen,  was  über  den  Zweck  eines  Schul- 
programmes hinausgegangen  wäre.  Diese  an 
sich  völlig  gerechtfertigte  Voraussetzung  wird 
man  bei  Beurtheilung  der  Arbeit  nicht  ausser 
Augen  lassen  dürfen.  Wenn  auch  ein  Umriss 
der  allgemeinen  Biographie  Bongars’  gegeben 
wird,  so  sollte  doch  wesentlich,  wie  es  dem 
Philologen  nahe  lag,  die  wissenschaftliche  Seite 
des  Mannes  beleuchtet  werden. 

So  ist  es  zu  erklären,  dass  die  bedeutungs- 
volle staatsmännische  und  diplomatische  Thätig- 
keit  des  treuen  Anhängers  Heinrichs  IV.  nur 
leicht  gestreift  wird.  Wollte  man  sie  genauer 


540  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stuck  17* 


schildern  und  namentlich  die  Schritte  verfolgen, 
die  Bongars  als  Unterhändler  seines  Königs  bei 
den  Deutschen  Fürstenhöfen  zu  thun  hatte,  so 
hätte  man  sich  auf  die  Forschungen  zu  stützen, 
die  Ritter  in  den  Briefen  und  Acten  zur  Ge- 
schichte des  dreissigjährigen  Krieges  etc.  (»Die 
Gründung  der  Union  1598 — 1608  München 
1870«  vgl.  desselben  Geschichte  der  Deutschen 
Union.  2 Bde.  1867.  1873)  niedergelegt  hat. 
Nicht  nur,  dass  hier  die  Benutzung  Deutscher 
Archive  die  Fülle  des  Stoffes  vermehrt,  auch 
von  den  zu  Paris  befindlichen  acht  Bänden 
»Memoires  de  Bongars«  konnten  solche  ausge- 
beutet werden,  in  welche  H.  Hagen  keine  Ein- 
sicht erlangen  konnte. 

Von  den  politischen  Angelegenheiten,  mit 
denen  Bongars’  Name  verknüpft  worden  ist, 
werden  zwei  besonders  hervorgehoben.  Es  ist 
ein  Mal  das  von  Varilias  und  schon  von  An- 
dern aufgebrachte  Histörchen,  Bongars  sei  es 
gewesen,  der  1585  nächtlicher  Weile  in  Rom 
ein  leidenschaftliches  Pasquill  angeschlagen 
habe,  das  sich  gegen  Sixtus  V.  und  die  Bann- 
bulle richtete,  die  von  diesem  Pabste  gegen 
Heinrich  von  Navarra  und  den  Prinzen  Conde 
geschleudert  worden  war.  Varilias  Angaben 
werden  kritisch  untersucht  und  zeigen  sich  hier 
eben  so  wenig  stichhaltig,  wie  man  auch  sonst 
sie  kennt.  Die  zweite  Angelegenheit  betrifft 
die  literarische  Fehde,  in  welche  Bongars  mit 
Fabian  von  Dohna,  dem  Pfälzischen  Hofmarschall, 
verwickelt  wurde,  über  den  gleichfalls,  abge- 
sehen von  Rankes  Französischer  Geschichte,  bei 
Ritter  a.  a.  0.  Ergänzendes  zu  finden  wäre. 
An  die  Spitze  einer  Hülfsschaar  gestellt,  welche 
1587  zur  Unterstützung  Heinrichs  von  Navarra 
nach  Frankreich  abgesandt  wurde,  war  Fabian 


541 


Hagen,  J.  Bongarsius. 

von  Dohna  von  den  Lignisten  eine  entschiedene 
Niederlage  beigebracht  worden.  Obgleich  man 
auf  Hugenottischer  Seite  sich  gegenseitig  ver- 
sprochen hatte,  über  die  Sache  nicht  weiter  zu 
reden,  gab  Dohna  1588  dennoch  in  Frankfurt 
eine  Deutsche  Flugschrift  heraus,,  in  welcher  er 
nicht  nur  sich  zu  rechtfertigen,  sondern  die 
Schuld  des  Missgeschicks  auf  Heinrich  von  Na- 
varra, den  Herzog  von  Bouillon  und  ihre  Genos- 
sen abzuwälzen  suchte.  Die  Schrift  wurde  am 
Ende  (nicht  wie  Hagen  S.  19  meint  am  Anfang) 
der  Messe  herausgegeben,  damit  die  Gelegenheit 
sofortiger  Erwiderung  abgeschnitten  sei*).  Bon- 
gars,  welcher  damals  in  Deutschland  verweilte, 
fühlte  sich  gedrungen,  Dohnas  unehrliche  Dar- 
stellung zu . beantworten  und  seinen  Herrn  zu 
vertheidigen.  Sowohl  seine  wie  Dohna’s  Schrift 
scheinen  sehr  selten  zu  sein,  wenigstens  konn- 
ten sie  in  Bern,  wie  der  Verf.  S.  20  mittheilt, 
»wo  sie  am  allerersten  zu  suchen  sind,  noch 
nicht  ermittelt  werden«.  Um  so  erwünschter 
wird  es  sein  zu  erfahren,  dass  wenigstens  eine 
der  in  Frage  stehenden  Schriften,  die  Bongarsi* 
sehe,  sich  unter  Hist.  Gail.  207  a in  der  Göt- 
tinger Univers.-Bibliothek  befindet.  Es  sind 
zwanzig  Seiten  in  4°,  betitelt:  »Responsio  ad 
scriptum  Baronis  Fabiani  a Donaw  quod  de 
sua  in  Galliam  expeditione,  auxilio  serenissimi 
regis  Navarrae  et  ecclesiarum  Gallicarum  sus- 

*)  S.  die  gleich  za  erwähnende  Antwort  von  Bon- 
gars  S.  19  »Si  tarnen  scriptum  illud  tuum  initio  Nun- 
dinarum  prodire  voluisses,  tractassem  etiam  quaedam 
fusius  et  explicatius.  Sed,  homo  in  scribendo  quam 
agendo  cautior,  callide  sub  finem  mercatus  publicari  vo- 
luisti,  ne  cui  respondendi  otium  daretur:  interim  volita- 
ret  illud  per-  manus  hominum  et  imprimeret  ea  multi- 
bus, quae  haud  facile  postea  sperares  exprimi  posse.« 


542  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  17. 

cepta,  Germanise  edidit.  Anno  MDLXXVIH«. 
Die  Schrift  ist  anonym,  aber  ihr  Inhalt  deckt 
sich  vollständig  mit  dem  Auszug,  den  de  Thon 
aus  ihr  giebt.  Sie  ist  ein  Muster  der  eleganten 
Diktion,  welche  dem  feingebildeten  gelehrten 
Staatsmann  eigen  war,  und  nicht  selten  schlägt 
jener  Ton  scharfer  Satyre  in  ihr  vor,  über  wel- 
chen er  so  trefflich  gebieten  konnte.  Selbst  in 
seinem  Gesicht,  dessen  Abbildung  nach  einem 
alten  Oelgemälde  der  vorliegenden  Abhandlung 
beigegeben  worden  ist,  fehlt  dieser  satyrische 
Zug  keineswegs.  In  aller  Schärfe  tritt  er  in 
einem  Pasquill  hervor,  das  erst  Hagen  in  sei- 
ner wahren  Bedeutung  erkannt  und  mit  Recht 
als  Anhang  seiner  Arbeit  hinzugefügt  hat.  Es 
richtet  sich  gleichfalls  gegen  F.  v.  Dohna  und 
zwar  im  Stile  der  epistolae  obscurorum  virorum. 
Wenn  Hagen  S.  21  vermuthet,  dass  das  Latein 
Dohna’s  denBongars  dazu  bestimmt  habe  diese 
kränkende  Form  zu  wählen,  so  wird  das  nun- 
mehr durch  eine  Stelle  der  »Responsio«  einiger- 
massen  bestätigt,  wo  es  p.  17  heisst:  »Hic tibi, 
quoniam  aut  Alexandri  illius  Magni,  aut  Gaesaris 
Julii  gloriam  rebus  gestis  aequare  non  potueras, 
licebat  ad  Xenophontis  laudem  adspirare : quem 
legisti,  ni  fallor  (nam  et  lingttarum  et  historia- 
rum  cognitionem  habere  mediocrem  audio)  etc. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  demjenigen  Theile 
der  vorliegenden  Arbeit,  welche  die  wissenschaft- 
liche Thätigkeit  Bongars’  behandelt,  so  haben 
wir  die  Ausführlichkeit  und  Genauigkeit,  mit 
welcher  diese  besprochen  wird,  zu  rühmen,  ln 
der  That  stand  dem  Verf.  für  seine  Zwecke  ein 
Material  zu  Gebote , wie  es  nicht  leicht  an  ir- 
gend einem  anderen  Orte  zusammengebracht 
werden  konnte,  wie  an  dem,  wo  diese  biogra- 
phische Skizze  entstand.  Nicht  nur  der  ge- 


543 


Hagen,  J.  Bongarsius. 

druckte  Briefwechsel  von  Bongars  konnte  heran- 
gezogen und  häufig  durch  Vergleichung  mit  den 
Originalien  ergänzt  werden,  die  sich  in  Bern  be- 
finden, eine  ganze  Reihe  ungedruckter  Briefe 
trat  hinzu,  die  in  mehreren  Berner  Codices  auf- 
bewahrt sind.  Und  ausserdem  liessen  sich  die 
vielfachen  Kollektaneen,  Studien  und  Aufzeich- 
nungen von  Bongars  Hand  benutzen,  welche 
einen  nicht  zu  unterschätzenden  Theil  seines 
Nachlasses  bilden.  Auf  diese  Weise  war  es 
dem  Verf.  möglich  in  die  Entstehung  einzelner 
Bongarsscher  Arbeiten  aus  seinen  vorbereitenden 
Notizen  und  aus  seiner  Korrespondenz  mit  ge- 
lehrten Freunden  den  besten  Einblick  zu  er- 
halten und  seine  Schrift  mit  einer  Fülle  von 
Anmerkungen  und  literarischen  Nachweisen  zu 
bereichern,  welche  ein  Stück  allgemeiner  Ge- 
lehrten-Geschichte  der  Zeit  enthalten. 

Nach  einigen  Worten  über  die  werthvolle 
Sammlung  von  Büchern  und  Handschriften, 
welche  Bongars  auf  seinen  vielfachen  Reisen  ge- 
sammelt hatte,  wendet  sich  der  Verf.  zu  einer 
Besprechung  seiner  philologischen  Arbeiten. 
Neben  seiner  Ausgabe  des  Justin  von  1581  war 
die  Unterstützung  zu  erwähnen,  die  er  dem 
Christoph  Coler,  Joseph  Scaliger,  Gruter,  Putsch 
etc.  bei  ihren  Arbeiten  angedeihen  liess.  Als 
Historiker  trat  er  mit  den  berühmten  Sammel- 
werken »Scriptores  rerum  Hungaricarum«  1600 
und  »Gesta  Dei  per  Francos«  1611  hervor. 
Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  nach  Angabe  des 
Verf.  S.  41  in  dem  Cod.  Bern.  468  No.  12  u. 
17  die  Papiere  noch  vorhanden  sind,  welche  sich 
auf  den  Inschriften-Anhang  des  erstgenannten 
Werkes  beziehen.  Die  Sammlung  Lateinischer 
Inscriptionen,  welche  er  auf  seiner  Reise  durch 
Ungarn  entdeckt  und  abgeschrieben  hatte,  er- 


544  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  17. 

scheint  in  den  im  Ms.  vorhandenen  Original- 
Papieren  bei  Weitem  reichhaltiger  und  zuver- 
lässiger als  im  Druck,  und  kann  daher  mögli- 
cher Weise  noch  von  dem  modernen  Forscher 
mit  Nutzen  zur  Vergleichung  herangezogen  wer- 
den. Auch  wird  man  das  auf  jener  Reise  ge- 
- führte  Tagebuch,  welches,  aus  einem  Berner  Co- 
dex abgedruckt,  die  erste  Beilage  der  vorliegen- 
den Arbeit  bildet,  gerne  kennen  lernen. 

Unter  den  Historikern,  die  er,  in  gleicher 
Weise  wie  die  Philologen,  aus  dem  Schatz  sei- 
ner Kenntnisse  und  Sammlungen  unterstützte, 
sei  nur  Freher  genannt. 

Für  seine  theologischen  Kenntnisse  geben 
namentlich  mehrere  Stücke  aus  seinem  literari- 
schen Nachlass,  für  seine  juristischen  eine  Menge 
von  staatsrechtlichen  und  rechtsgeschichtlichen 
Erörterungen  Zeugniss,  wenn  sie  auch  nicht  im 
Druck  erschienen  sind.  Aber  auch  der  Werth 
der  spekulativen  Philosophie  und  der  Natur- 
wissenschaften blieb  ihm  nicht  fremd , wie- 
wohl unter  dem  Namen  der  letzten  sich  wenig 
mehr  als  die  unklaren  Vorstellungen  der  Al- 
chemie verbergen  mochten.  So  erscheint  Bon- 
gar8  als  eine  reich  begabte,  für  alle  Zweige  des 
Wissens  lebhaft  interessirte  Natur,  und  auch 
sein  Charakter  wird  durch  diese  neue  Beleuch- 
tung höchst  vorteilhaft  erhellt.  Mit  lebhafter 
Anerkennung  der  Mühe  und  Geschicklichkeit, 
mit  welcher  sein  Lebensbild  wieder  au  {gefrischt 
worden  ist,  verbinden  wir  die  Hoffnung,  dass  der 
Verf.  den  in  Aussicht  gestellten  Katalog  der 
Bongarsiana  recht  bald  werde  nachfolgen  lassen, 
in  welchem  manche  Punkte  ausführlicher  zu  er- 
örtern sein  werden,  die  in  der  vorliegenden  Ar- 
beit nur  obenhin  berührt  werden  konnten. 

Bern.  Alfred  Stern. 


545 


Götti  ngische 

gelehrte  Anzeigen 

outer  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  18.  6.  Mai  1874. 


Historiae  patriae  monumenta  edita  josso  re- 
gia Caroli  Alberti.  Tonras  XIII.  Codex  diplo- 
maticus  Langobardiae.  Augustae  Tanrinorom 
e regio  typographeo  An.  1873.  58  Seiten  and 
1951  Columnen  in  Folio. 

Codex  diplomaticns  Cavensis  nunc  primum 
in  lucem  editus  curantibus  DD.  Michaele  Mor- 
caldi,  Mauro  Schiani,  Sylvano  de  Ste- 
phano 0.  S.  B.  Accedit  Appendix,  qua  prae- 
cipua  bibliothecae  ms.  membranacea  describun- 
tur  per  D.  Bernardum  Cajetano  de  Aragon ia 
. 0.  S.  B.  Tomus  I.  Neapoli  excudebat  Petrus 
Piazzi.  1873.  LXXIX,  XXXVI,  XXXII,  287 
und  32  Seiten  in  Quart. 

Zwei  wichtige  Urkundensammlungen  zur  Ge- 
schichte Italiens,  des  nördlichen  una  südlichen, 
sind  fast  gleichzeitig  erschienen,  die  eine  als 
Theil  des  grossen  Quellenwerkes,  dem  wir  eine 
Reihe  wichtiger  Publicationen  zur  Geschichte 
zunächst  des  Königreichs  Sardinien  verdanken 
t und  das  mit  diesem  Bande,  wie  es  sein,  wenn 
auch  ursprünglich  wohl  anders  gemeinter  Titel 

35 


546  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stuck  18. 


erlaubt,  seinen  Bereich  nun  auch  über  andere 
benachbarte  Theile  Italiens  ausdehnt,  das  andere 
der  Anfang  einer  Veröffentlichung  der  urkund- 
lichen Denkmäler  eines  einzelnen  Klosters,  das 
aber  durch  den  Reichthum  und  das  Alter  der 
aufbewahrten  Urkunden  viele  der  grösseren  Ar- 
chive übertrifft.  Denn  es  bietet  dieser  Band 
allein  nicht  weniger  als  210  Nummern  bis  zum 
Jahre  960,  während  die  ganze  Lombardei  doch 
nur  642  bis  zu  diesem  Jahr,  1006  bis  zum 
Jahre  1000,  wo  der  vorliegende  Band  endet, 
geliefert  hat.  Denn  nicht,  wie  man  vielleicht 
denken  könnte,  um  das  alte  Langobardische 
Reich  oder  den  Umfang  desselben  auch  in  spä- 
terer Zeit  handelt  es  sich  bei  dem  Codex  diplo- 
maticus  Langobardiae,  sondern  eben  um  die 
Lombardei  im  späteren  Sinne  des  Worts.  Der 
Band  reiht  sich  so  als  Chartarum  Tomus  HI 
an  die  im  1.  und  6.  Band  der  ganzen  Samm- 
lung gegebenen  beiden  Tomi  an,  welche  die  Ur- 
kunden des  Königreichs  Sardinien  auf  dem  Fest- 
land bis  hinab  zum  Jahre  1299  geliefert  haben, 
wozu  noch  in  Bd.  10  und  12  zwei  Tomi  eines 
Codex  diplomaticus  Sardinia©  (der  Insel)  bis 
zum  Jahre  1599  kommen.  Es  bedarf  nun  nicht 
der  Bemerkung,  wie  wichtig  eine  vollständige 
Sammlung  der  aus  diesem  Gebiet  erhaltenen 
Urkunden  für  den  Forscher  der  Geschichte  sein 
muss,  wie  auch  wir  Deutsche  gerade  an  diesen 
ein  nicht  geringes  Interesse  zu  nehmen  haben. 
Aber  auch  das  alte  Kloster  La  Cava  ist  wohl 
in  der  Lage  für  die  Documents  und  Hand- 
schriften, welche  es  birgt,  eine  allgemeinere 
Theilnahme  in  Anspruch  zu  nehmen,  wie  sie 
sich  denn  auch  schon  im  voraus  dadurch  be- 
thätigt  hat,  dass  unter  den  20  Förderern  die- 
ser Publication,  die  zu  Anfang  genannt  werden, 


Codex  diplomatics  Langobardiae.  547 

die  ‘imperatrix  Alemanniae*  und  der  ‘magnus  dux 
Badensis’  erscheinen.  Doch  steht  ja  unzweifel- 
haft die  Urkundensammlung  der  Lombardei  in 
noch  näheren  Beziehungen  zu  unseren  histori- 
schen Arbeiten,  und  es  muss  deshalb  gestattet 
sein,  von  dieser  noch  etwas  eingehender  zu 
sprechen. 

Da  mag  man  gerne  zuerst  dem  Gefühl  des 
Dankes  für  mannigfache  Bereicherung  unserer 
Kenntnis,  welche  dieser  Band  gewährt,  Ausdruck 
geben.  Für  die  ältere  Zeit  freilich  ist  nach  den 
umfassenden  und  reichen  Publicationen  von 
Ughelli,  Muratori,  Fumagalli,  Lupi,  Tiraboschi, 
Tatti,  und  in  neuerer  Zeit  Odorici,  bei  uns 
Dümmler  und  Stumpf  u.  a.  nicht  so  gar  viele 
neue  Ausbeute  zu  finden  gewesen;  später  aber, 
im  9ten  und  lOten  Jahrhundert  werden  eine 
Anzahl  wichtiger  Urkunden  hier  zum  ersten 
Mal  mitgetheüt.  Dabei  muss  ich  freilich  be- 
merken, dass  die  Ausgabe  es  einigermassen 
schwer  macht,  sich  hierüber  ein  sicheres  Ur- 
theil  zu  verschaffen,  indem  keineswegs  gleich- 
massig  in  Beziehung  auf  die  Anführung  früherer 
Drucke  verfahren  ist;  wie  denn  Gleichmässig- 
keit  das  ist,  was  in  der  Bearbeitung  des  Ban- 
des überhaupt  sich  in  hohem  Grade  vermissen 
lässt. 

Es  hängt  das  mit  der  Art  und  Weise  zu- 
sammen, wie  die  Arbeit  unternommen  und  aus- 
gefuhrt  ist.  Der  eigentliche  Herausgeber  Hr. 
Giulio  Porro  Lambertenghi  giebt  darüber  in 
der  Vorrede  nähere  Auskunft.  Der  Plan  zu  der 
Sammlung  sei  von  dem  verstorbenen  Bibliothe- 
kar an  der  Ambrosiana  zu  Mailand  Dozio  an- 
geregt , dieser  aber  der  Arbeit  selbst  bald  durch 
den  Tod  entrissen,  die  Fortführung  ihm,  Porro, 
übertragen  mit  der  Berechtigung,  sich  Mitarbeiter 

35* 


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548  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  1& 

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in  der  Lombardei  selbst  zuzugeselleri,  rind  er 
habe  dafür  gewonnen  Finazzi  für  die  Provinz 
Bergamo,  Roholotti  für  Cremona,  0«Jori(ri  für  | 

Brescia,  an  dessen  Stride  später  Ceruti  getreten; 
ihm  selbst  sei  die  Aufgabe  für  die  sechs  andern 
Provinzen,  welche  die  Lombardei  umfasst,  ge- 
blieben, Bern  entsprechend  ist  über  jeder  Ur- 
kunde dör  Name  dessen  genannt  der  sie  bei-  , 
gesteuert  und  bearbeitet?  hat,  dann  aber  auch  J 
offenbar  jedem  die  volle  Verantwortlichkeit  für  I 
sein  Theil  Arbeit  gelassen  und  nichts  geschehen,  1 
um  Ungleichheiten  in  der  Behandlung  auszu-  1 
gleichen.  Um  nur  das  Aeusserljföbstri  zu  er-  4 
wähnen,  selbst  die  Art  der  Orthographie  ist  I 
verschieden:  der  eine  schreibt  die  Eigennamen  " 
gross,  der  andere  klein,  und  wa»  det  Art  mehr,' 
ist.  Auch  die  Anmerkungen,'  dieKteraripfchefc  j 
Nachweisungen  tragen  deshalb  einen  ungleich-  4 
artigen  Charakter  an  sich.  ■< 

Aber  leider  auch  viel  grössere  Nae&theite  <1 
sind  daraus  erwachsen.  Dieselbe  UrknjSe  er-A  ] 
scheint  wiederholt  an  verschiedenen  Stehen,  8r*~.  ’ 
fährt  eine  verschiedene  *ßeurtheilung.'  Es  ist  ' i 
schon  auffallend,  wenn  S.  1783  unter  deu  un*  1 
echten  Urkunden,  die  nicht  .aufgenommen,  nur 
verzeichnet  werden  sollen,  «ine  angeführt  wird, 
die  S.  1643  als 'Nr.  935  abgedruckt  ist,  aller- 
dings auch  mit  einer  Note,  welche  die  Authen-  . 
ticität  bezweifelt,  ohne  dass  aber  darauf  irgend 
verwiesen  wäre.  Das  Bedenkliche  steigt  aber, 
•Wenn  dieselbe  Urkunde  vorher  schon  einmal  ge- 
geben ist,  Nr.  886,  S.  1567,  nur  mit  verderbten 
Daten  und  ohne  jede  Bemerkung  über  die  Zwei- 
felhaftigkeit der  Form  und  des  Inhalts.  An 
dieser  Stelle  ist  Ceruti  der  Bearbeiter  nach 
einer  Copie  im  Archiv  zu  Mantua  gewesen,  wäh- 
rend Nr.  935  und  wahrscheinlich  auch  die  Notiz 


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> Codex  diplomaticQS  Langobardiae.  549 

• • 

S»  Sfe  1783  von  porro  herrühren,  auch  beide  sich 
auf  eine  Ausgabe  Muratoris  beziehen.  Ebenso 
tibeilt  Robolotti  als  Nr.  878  S.  1556  ohne  jede 
Bemerkung  eine  Urkunde  mit,  die  S.  1782  als 
' ^unecht,  und  noch  dazu  ohne  Grund,  verworfen 
Wird;  es  ist  die  Urkunde  Otto  III.  Stumpf  Nr. 
l 1$68,  die  der  Kaiser  selbst  später  als  erschlichen 
[ bi^eißjmet  und  cassiert  hat.  Mit  mehr  Grund 
Kr'^pL.%.  655  auch  unter  den  unechten  S.  K81 

Identisch  sind  Nr.  280  und  293,  ein* 
K^lj^lök^Porro  zu  879,  das  zweite  MaJ  von  Ce- 
8$0,  gesetzt,  beide  Male  unter  Be- 
die  frühere  Ausgabe  Muratoris. 
m 192  und  252,  dort  nach  einer  Ab- 

W schrift  tamchtig  zu  856,  hier  nach  Muratori 
h richtig  zu  871  gesetzt,  beides  von  Porro;  Nr. 
r 281  und  U8S7  das  eine  Mal  von  Porto  mit  fal- 
sehen  Daten  Kaiser  Ludwig  II.  beigelegt,  an  der 
L 'zweiten  Stelle  von  demselben  richtig  als  Urkunde 
V ^Ludwigs  v6n  Burgund  gedruckt,  dort  nach  Tatti, 
L iier  nach  einem  > Codex  zu  Mailand,  zugleich 
Cr  iBer  unter  Anfiifirung  einer  Ausgabe  von  Sa- 
Ipvioli,  die  gar  nicht  existiert. 

I SolcheuW ahrnehmungen  sind  denn  allerdings 

r*  geeignet,  unser  Vertrauen  auf  die  Zuverlässig- 
; keit  der  Edition  nicht  Wenig  zu  erschüttern. 

Was  vor  allem  in  die  Augen  Springt  sind  die 
| . zahlreichen  Irrthümer  in  der  chronologischen 
Bestimmung  der  Urkunden.  Nr.*  62  gehört 
nicht  zu  787,  sondern  781;  139  nicht  zu  841, 
sondern  842;  177  nicht  zti  852,  sondern  851; 
205  nicht  zu  858,  sondern  852 ; u.  s.  w.  Eine 
Italienische  Urkunde  Otto  L wird  Nr»  591  zu 
950  gesetzt,  da  doch  jeder  weiss,  dass  der  Kö- 
' nig  erst  951  nach  Italien  kam.  Bei  901  heisst 
i es  Jin  der  Ueberschrift:  incertis  mense  et  die, 
. wahteifcd . beide  in. . der  Urkunde  voll  und  deut- 


* . **  . 


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550  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 

lieh  angegeben  sind.  Nr.  801  fehlen  sie  auch 
in  dem  Text , während  andere  Abdrücke 
(Stumpf  Nr.  782)  sie  haben.  Aehnliche  Fehler 
oder  Ungenauigkeiten  ergiebt  noch  in  zahl- 
reichen Fällen  eine  Vergleichung  der  Königs- 
urkunden mit  den  Regesten  von  Böhmer  und 
Stumpf.  Und  es  muss  in  der  That  nicht  wenig 
Wunder  nehmen,  dass  die  Arbeiten  dieser  auch 
um  die  Italienische  Urkundenkenntnis  so  ver- 
dienten und  mit  Italienischen  Gelehrten  so  viel- 
fach in  Verkehr  stehenden  Männer  hier  gar 
nicht  benutzt  worden  sind.  Ich  sage  gar  nicht. 
Einmal  begegnet  allerdings  Böhmers  Name,  in 
der,  man  muss  nur  sagen  wunderlichsten  Weise. 
S.  1782  ist  wörtlich  gedruckt:  »967.  23  martii. 
Diploma  Ottonis  marchionis,  quo  plurima  bona 
etiam  in  Langobardia  concedit  Aleramo  mar- 
chioni  Böhmer«.  Unser  trefflicher  Urkunden- 
forscher scheint  in  einen  Italienischen  Markgraf 
verwandelt  < Die  Sache  ist  offenbar  die , dass 
irgend  ein  Hülfsarbeiter  das  Regest  nach  Böh- 
mer gemacht  und  gewissenhaft  seinen  Namen 
beigefügt  hat,  den  der  welcher  dies  abdrucken 
liess  nicht  verstand.  Ebenso  wenig  ist  irgendwo 
von  den  Arbeiten  Fickers  Gebrauch  gemacht,  von 
Deutschen  Pnblicationen  überhaupt,  soviel  ich 
bemerkt  habe,  nur  die  Abdrücke  Italienischer  Kö- 
nigsurkunden von  Dümmler  in  Bd.  X der  For- 
schungen angeführt.  Der  Herausgeber  hat  sich 
so  jedenfalls  wichtiger  Hülfsmittel  beraubt,  die 
ihm  seine  Arbeit  erleichtert,  ihn  vor  manchen 
Irrthümem  bewahrt  hätten.  So  ist  ihm  auch 
die  Ausgabe  der  Urkunden  Rudolfs  von  Burgund 
in  den  Origines  Guelficae  und  manches  andere 
unbekannt  geblieben. 

Es  liegt  mir  ferne  hier  bei  anderen  kleinen 
Ungenauigkeiten  zu  verweilen,  die  sich  schon 


Codex  diplomaticus  Langobardiae.  551 

bei  einer  mehr  flüchtigen  Durchsicht  des  Ban- 
des darbieten;  wenn  z.B.  Nr.  285  inderüeber- 
schrift  Earlmann  imperator  heisst,  oder  Nr.  802 
zum  28.  Februar  gesetzt  wird  (der  Text:  15. 
Kal.  Februarii).  Auf  eine  Prüfung  der  zahl- 
reichen und  wichtigen  Privaturkunden  habe  ich 
mich  überhaupt  nicht  einlassen  können. 

Eben  hier  findet  sich  nicht  wenig  Neues,  ohne 
dass  freilich,  wie  oben  bemerkt,  dies  mit  Sicherheit 
den  Angaben  des  Bandes  selbst  entnommen  werden 
kann.  Namentlich  das  Mailänder  Archiv  S.  Fi- 
delis hat  da  wo  Fumagallis  Mittheilungen  auf- 
hören eine  reiche  Ausbeute  geliefert.  Darunter 
ist  auch  eine  Urkunde  König  Hugos  für  seine 
Gemahlin  Berta  (Nr.  553).  Von  Deutschen 
Königen  ist,  soviel  ich  sehe,  nur  Nr.  654  von 
Otto  I.  neu.  Zu  den  bekannten  Schenkungen  der 
Adelheid  an  das  Kloster  S.  Salvatore  zu  Pavia 
ist  eine  dritte  ausführliche  hinzugekommen 
(Nr.  997).  Hervorheben  will  ich  noch  das  In- 
ventar der  Bücher  und  Geräthe  zu  Cremona 
von  Bischof  Odelrich  aus  dem  J.  984,  das  man 
wohl  nicht  eigentlich  zu  den  Urkunden  rech- 
nen kann. 

In  mancher  Beziehung  nicht  weniger  erwünscht 
als  die  Bekanntmachung  neuer  Urkunden , ist 
die  Beseitigung  von  Fälschungen,  von  denen 
namentlich  die  LangobardischeZeit  heimgesucht 
war  und  die  in  dem  Codice  diplomatico  von 
Troya  einen  nur  zu  bedeutenden  Baum  ein- 
nahmen. 

Ueberhaupt  soll  ja  nicht  verkannt  werden, 
dass,  verglichen  mit  der  Arbeit  des  Neapolita- 
nischen Gelehrten,  diese  Turiner  Publication 
einen  Fortschritt  zeigt.  Aber  nach  den  Lei- 
stungen eines  Bonaini  u.  a.  war  man  mehr  zu 
erwarten  berechtigt.  Eigenthümlich , dass  Hr. 


552  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 


Perro  insofern  gerade  auch  an  Troya  anknüpft, 
als  er  in  der  Vorrede  Sie  von  diesem  so  leb- 
haft verhandelte  Frage  nach  der  Behandlung 
der  Römer  durch  die  Langobarden  aufhimmt, 
um  sie  wieder  im  entgegengesetzten  Sinn  zu 
beantworten:  eine  Erörterung,  die  miraberauch 
nicht  geeignet  erscheint,  um  die  Gründe  nament- 
lich Hegels  zu  widerlegen ; auf  die  ich  hier  aber 
nicht  weiter  eingehen  kann. 

Viel  wichtiger  und  am  Ende  für  die  Wür- 
digung dieser  Publication  die  Hauptsache  wäre 
ein  Urtheil  über  die  Zuverlässigkeit  der  Texte. 
Aber  die  . Hül&mittel , die  dafür  zu  Gebote 
stehen,  sind  nur  gering.  Eine  Vergleichung 
anderer  Ausgaben  kann  wenig  in  Frage  kom- 
men, wo  diese  Edition  «auf  die  Originale  oder 
Handschriften  zurückgegangen  ist.  Varianten 
giebt  sie  nie  undf  fordert  also  volles  Vertrauen. 
Beigefugt  sind  indessen  mehrere  Facsimiles,  nach 
deren  Vergleichung  ich  manches  anders  lesen 
würde,  z.  B.  in  der  Urk.  Lothars  Nr.  141  S. 
248 : multam  pateretur  diminutionem ; ut  et  tu- 
torem ; peragendam.  Nr.  654  bat  ziemlich 
gleichzeitig  Stumpf  in  dem  3.  Heft  der  Acta 
imperii  Nr.  218  drucken  lassen  aus  einer  Ab- 
schrift desselben  Originals,  das  Porro  benutzte, 
(von  dem  Italiener  Ghiuzoni),  und  es  fehlt  da 
nicht  an  Abweichungen,  bei  denen  man  nicht 
umhin  kann  den  Lesarten  des  letzteren  den 
Vorzug  zu  geben:  offenbar  hat  Porro  die  Ab- 
kürzungszeichen übersehen,  wenn  er  gleich  in 
den  ersten  Zeilen  liest  statu  statt  statum,  no- 
verit  st.  növerint ; dazu  kommen  Irrthümer,  wie 
construere  st.  constituere  (abbatem).  Ist  dies 
bei  den  in  deutlicher  Minuskel  geschriebenen 
Urkunden  geschehen  , so  kann  die  Meinung 


> 


Codex  dipomaticns  Cavensis.  653 

von  der  Genauigkeit  der  Texte  die  in  Cnrsiv 
überliefert  sind  nicht  eben  die  beste  sein. 

Mehr  Vertrauen  flösst  in  dieser  Beziehung 
die  Arbeit  der  Benedictiner  von  La  Cava  ein. 
Sie  reibt  sich  würdig  den  Publicationen  an, 
durch  welche  Mitglieder  des  Ordens  sich  seit 
den  Tagen  Mabillons  so  vielfach  um  die  histo- 
rische Forschung  verdient  gemacht  haben. 
Mehrere  Facsimiles  begleiten  auch  diese  Aus- 
gabe, welche  eine  Controls  möglich  machen, 
und  zeigen,  dass  die  Herausgeber  wohl  die  Ab- 
kürzungen aufgelöst,  u und  v nach  jetzigem  Ge- 
brauch gesetzt,  die  Interpnnction  binzugefügt, 
sonst  aber  sich  streng  an  die  Originale  gehal- 
ten haben;  auch  alle  Namen  von  Personen  und 
Orten  sind,  wie  man  kaunr  billigen  kann,  mit 
kleinen  Anfangsbuchstaben  geschrieben. 

Die  Urkunden  gehen  zurück  bis  auf  das 
Jahr  792,  und  dieser  Band  erreicht  noch  lange 
nicht  das  der  Gründung  des  Klosters,  die  erst 
im  J.  1011  erfolgte.  Die  Vorrede  des  Hrn. 
Morealdi  erklärt  es  (S.  33)  daraus,  dass  das 
Kloster  vielfach  benutzt  worden  sei,  um  private 
Urkunden  in  Sicherheit  aufzubewahren,  ausser- 
dem seien  später  honoris  causa  wohl  die  Schätze 
älterer  Stifter  hier  niedergelegt  worden.  Viel- 
leicht dass  ausserdem  daran  zu  denken  ist;  dass 
mit  dem  Erwerb  von  Gütern  auch  ältere  auf 
sie  bezügliche  und  in  ihnen  bewahrte  Urkunden 
an  das  Stift  kamen.  Es  hat  aber  dies  die 
Folge  gehabt,  dass  eine  bedeutende  Zahl  sehr 
verschiedenartiger  Actenstücke  hier  sich  finden, 
grossentheils  solche  die  sich  sonst  wenig  erhal- 
ten haben,  die  namentlich  diesseits  der  Alpen  zu 
den  grössten  Seltenheiten  gehören:  Urkunden 
über  Kauf,  Pacht,  Schuldverhältnisse  unter  Pri- 
vaten, über  Bestellung  und  Behandlung  der 


554  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 

*.v 

Morgengabe,  dazu  gerichtliche  Acte  verschiede- 
ner Art  machen  die  grosse  Mehrzahl  ans:  sie 
schliessen  sich  eng  an  die  Bestimmungen  des  I 
Langobardischen  Rechtes  an,  und  geben,  wie 
auch  von  anderer  Seite  schon  hervorgehoben 
ist,  mannigfach  interessante  Belege  für  die  An- 
wendung desselben. 

Wie  diese  Urkunden  ausserdem  für  die  Ge- 
schichte der  süditalienischen  Fürstenthümer,  na- 
mentlich Salernos,  von  grosser  Wichtigkeit  sind, 
hat  früher  De  Blasio  gezeigt,  der  als  Archivar 
des  Klosters  auf  sie  seine  Untersuchungen  über 
die  Chronologie  der  Fürsten  gründete:  eine 
hiernach  entworfene  ausführliche  Tabula  chro- 
nologies ist  dem  Bande  vorausgeschickt,  die 
selbst  wieder  zur  Bestimmung  der  Daten  in 
den  einzelnen  Urkunden  dient.  Ein  Index  chro- 
nologicus  giebt  diese  zugleich  mit  dem  Inhalt 
derselben  an,  während  den  Stücken  selbst  nur 
allgemein  das  Jahr,  ohne  jede  nähere  Bezeich- 
nung, vorgesetzt  ist. 

Ein  allgemeineres  Interesse  gewährt  es  zu 
sehen,  wie  Fränkischer  und  Griechischer  Ein- 
fluss im  9ten  und  lOten  Jahrhundert  hier  in 
Süditalien  mit  einander  um  die  Herrschaft  ge- 
rungen haben.  So  schon  in  den  äusseren  Ver- 
hältnissen, so  dass  Urkunden  nach  den  Jahren 
bald  Fränkischer,  bald  Griechischer  Kaiser  da- 
tiert werden.  Freilich  ist  den  Herausgebern 
passiert,  wie  an  anderer  Stelle  gerügt  ist,  eine 
Anzahl  späterer,  dem  Ilten  Jahrhundert  angehö- 
riger  Stücke  auf  einen  älteren  Byzantinischen  j 
Kaiser  zu  beziehen;  doch  bleiben  andere  die 
bestimmt  dieser  Zeit  angehören.  Der  Fürst 
von  Salerno  erkennt  eben  jenen  als  seinen  Ober- 
herrn an.  Waimar  sagt  im  J.  899,  Nr.  111  1 

S.  143:  quia  concessum  est  mihi  a sanctissimis  ] 


Codex  diplomatic*»  Caveusis.  555 

et  piissimis  imperatoribus  Leone  et  Alexandrum 
per  berbnm  et  firmissimum  pr^ieptnm  bulla 
anrea  sigillatum  integram  sortem  Benebentane 
probincie,  er  nennt  sich  imperalis  patricius. 
Aber  die  Salernische  Münze  ist  die  Fränkische, 
den  Solidus  zu  12  Denarien,  S.  106.  138  etc., 
woneben  wieder  die  auri  solidi  Constantiniani 
sich  im  Gebrauch  befinden.  Eine  wunderliche 
Mischung  Griechischer  und  Langobardischer 
Beamten  — namen,  muss  man  wohl  sagen  — giebt 
eben  jene  Urkunde:  nullus  basilico  nec  stratigo 
nec  protospatarius  aut  spatarius,  candidatus 
und  spatarius  aut  gastaldeus  aut  sculdais  aut 
qualiscumque  alius  reipublice  hactionarius  vel 
qualiscumque  alius  serbus  sanctorum  impe- 
ratorum.  Auch  Einflüsse  des  Fränkischen  Be- 
neficialwesens  zeigen  sich,  Nr.  12.  100.  113. 

Doch  ich  enthalte  mich  solche  Einzelheiten 
hervorzuheben.  Mit  Recht  macht  auch  schon 
die  Vorrede  auf  den  Reichthum  von  Eigen- 
namen aufmerksam,  den  die  Urkunden  bieten 
(darunter  so  eigenthümlich  Deutsche  wie  Rosse- 
mannus).  Dass  die  Sprache  fast  ausschliesslich 
die  lingua  rustica  Italiens  ist,  versteht  sich  von 
selbst ; nur  ganz  einzeln  zeigt  sich  der  Einfluss 
grammatischer  Studien,  wie  in  Nr.  64  von  dem 
Fürsten  Guaiferius.  Nicht  bloss  auffallende  For- 
men, auch  ganz  neue  Worte  finden  sich,  wie 
sortifices,  nach  der  Erklärung  der  Herausgeber 
(S.  207)  ==  heredes. 

In  der  Beifügung  von  Anmerkungen  sind  sie 
sehr  sparsam  gewesen.  Es  fällt  auf,  in  einer 
derselben  r(S.  98)  noch  das  falsche  Chronicon 
Cavense  Pratills  citiert  zu  sehen.  Dagegen 
wird  die  Ausgabe  der  echten  Annales  Gavenses 
von  Pertz  im  3.  Bande  der  Scriptores  da  wo 
von  der  Handschrift  die  Rede  ist  (S.  XXXIII N.) 


. 556  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 

V 

nicht  erwähnt,  obwohl  nicht  bloss  Troya  in 
einem  hier  mitgetheilten  Brief,  der  zur  Ausgabe 
der  Urkunden  auffiorderte,  auch  der  Verfasser 
der  Vorrede  an  anderen  Stellen  selbst  der  An- 
wesenheit und  Arbeiten-  d&$*  Deutschen  Gelehr- 
ten im  Kloster  gedenken.  * * . ..  v 

Sorgfältige  Register  fehlen  so  w&ag  hier  «wie  . 
in  dein  Band  der : Turinjer  Sammlung. 

Als  Beilage  mit  besonderer  Paginierung > 
im  ganzen  ist  diese  fünfmaltvefscfaieden , was 
nicht  ^ben  bequem  — giebb  der  Bgnd  voä  La 
^.ßavä:  I manoscritti  membrahacei  deÜa  biblio- 
teca  della  SS.  Trinita  , di  Cava  de’  Tirreni 
descritti  per  D.  Bernardo  Gaetano  d’Aragona 
ö.  in  italienischer  Sprache,  ohne  Zweifel 

* aueb  der'Anfang  einer  in  den  folgenden  Bänd$»  % 
fortzuflihrenden  Arbeit,  in  der  hier  nur  die  fjfr-f. 
Schreibung  einer  einzigen^  Handschrift  gelkftjk 
wird.  Diese,  die  einen  von  der  Vulgata  i3r  .* 
weichenden  Text  /einer  Lateinischem  Bibel*  ent-  • 
hält,  wird  hier  ins  8te  Jahrhundert  gaget^t;* 
doch  scheinen  mir  die  beigefügten  schönen  Fäcsi-  .. 
mile  höchstens  an  das  9te  denken  zu  lasset. 
Ob  die  durch  Mittheilung  längerer  Stellen  dar- 
gelegte Beschaffenheit  des  Textes  das.  Verlaßt 
gen  nach  einer  Vollständigen  Veröffentlichung 
rechtfertigt,  vermag  ich  nicht , zu  beurtheilea. 
Aber  die  Fortsetzung  dieses  Werkes  wird  leb- 
haft zu  wünschen  sein.  G.  Waitz. 


% 

Senator,  Untersuch,  üb.  d.  fieberhaft.  Process.  557 

Dr.  H.  Senator.  Untersuchungen  über  den 
fieberhaften  Process  und  seine  Behandlung.  Ber- 
lin bei  A.  Hirschwald.  1,873*  8.  £08  Seiten. 

*f'  ' 

Der  Verf.  legt  *ifi  der  vorliegenden  Mono- 
graphie seine  dttrch  mehrfache  Arbeiten  gewon- 
nene^ Ansichten  über  das  Fieber  dar  und  sucht  . 
nun  zu . einem  gewissen  Abschluss  über  dies 
streitige  Thema  zu  gelangen.  Ob  die  Lehre  vom 
Fieber  augenblicklich  sich  zu  einer  monogra- 
phischen Arbeit  eignet,  darüber  muss  man  von 
vornherein  zweifelhaft  sein,  denn  wir  sind  erst 
im  Beginn  eines  exacten  Studiums,  überall  sind 
es  nur  Bruchstücke,  welche  zum  Bau  herbeige- 
bracht werden,  und  gerade  in  einer  Monographie 
müssen  die  Lücken,  das  Unbefriedigende  der 
bisherigen  Resultate  am  schroffsten  hervortreten. 
Dieser^chwierigkeit  ist  sich  übrigens  der  Verf. 
vollständig  bewusst. 

Nach  einer  kurzen  Darstellung  des  jetzigen 
Standpunctes  der  Fieberlehre,  worin  der  Verf. 
seine  und  Leydens  vermittelnde  Stellung  zwi- 
schen Traube  und  Liebermeister  kennzeichnet, 
beschreibt  er  seihe  calorimetrischen  Untersu- 
chungen an  Hunden  im  Fieber-  und  Hungerzu- 
stande. Das  Fieber  der  Versuchshunde  wurde 
durch  Einspritzung  Von  Sputis  unter  die  Haut 
erzeugt.  Hier  fehlt  leider  jede  Angabe  des  par 
thologischen  Befundes  und  dadurch  giebt  sich 
der  grosse  Mangel  aller  solcher  Untersuchungen 
zu  erkennen.  Sie  reissen  das  Fieber  aus  der 
Symptomenreihe  der  Krankheiten  heraus  und  be- 
trachten das  Fieber  als  die  Krankheit. 

Aus  jenen  Versuchen 4 zieht  S.  folgende 
Schlüsse  über  das  Fieber  der  Thiere.  Im  Be- 
ginne ist  die  Abgabe  von  Harnstoff,  von  Koh- 
lensäure und  Wasser  vermindert,  im  weiteren 


558  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  18. 

Verlaufe  bedeutend  vermehrt,  aber  mit  beträcht- 
lichen Schwankungen.  Die  Harnstoffiabschei- 
dung  ist  so  stark  vermehrt,  dass  eine  gestei- 
gerte Neubildung  bewiesen  ist;  die  vermehrte 
Abscheidung  scheint  sogar  allein  auf  vermehr- 
ter Production  zu  beruhen.  Die  grössere  Menge 
der  abgegebenen  Kohlensäure  ist  nicht  mit 
Nothwendigkeit  auf  vermehrte  Bildung  zurück- 
zufiihren,  sondern  findet  seine  Erklärung  durch 
die  günstigeren  Ausscheidungsbedingungen.  Die 
Steigerung  der  Wasserabgabe  lässt  sich  noch 
nicht  auf  einen  bestimmten  Grund  zurückführen. 
Nach  der  Berechnung  verliert  der  Körper  im 
Fieber  viel  mehr  Eiweiss,  aber  weniger  Fett, 
wie  im  Hungerzustande.  Dagegen  erreicht  der 
Stoffumsatz  des  Fiebers  lange  nicht  die  Höhe 
des  normalen  Stoffumsatzes.  Mit  der  Dauer 
des  Fiebers  nimmt  die  Intensität  des  Stoff- 
wechsels ab,  dagegen  ist  eine  Abnahme  der 
Wärmebildung  nicht  nachweisbar.  Da  also  im 
Fieber  Wärmehaushalt  und  Stoffiunsatz  nicht 
übereinstimmen,  so  muss  man  schliessen,  dass 
noch  auf  anderen  Wegen  Wärme  gebildet  wird 
als  auf  dem,  welcher  zur  Bildung  von  Harnstoff 
und  Kohlensäure  führt. 

Dagegen  lässt  sich  beim  fiebernden  Menschen 
eine  Steigerung  der  Harnstoffabgabe  bis  auf  das 
Doppelte  annehmen  und  der  Eiweisszerfall  ist 
in  noch  höherem  Masse  gesteigert,  als  sich  aus 
der  Zunahme  des  Harnstoffes  berechnen  lässt. 
Die  Zunahme  der  Kohlensäureausscheidung  ist 
eine  weit  geringere.  Dagegen  wird  Kali  und 
Harnfarbstoff  in  viel  grösserer  Menge  ausge- 
schieden. Es  müssen  demnach  im  Fieber  haupt- 
sächlich die  stickstoffhaltigen  Gewebe  zerfallen, 
welche  reich  an  Kali  und  Hämoglobin  sind,  also 
die  rothen  Blutkörperchen  und  die  Muskeln- 


Senator.  Untersuch,  üb.  d.  fieberhaft.  Process.  559 

4 

0 

Ans  der  Verminderung  der  rothen  Blutkörper- 
chen folgt  aber  eine  Verminderung  der  Ver- 
brennungsvorgänge. Es  wird  im  Fieber  nicht 
so  viel  Sauerstoff  aufgenommen  und  nicht  so 
viel  Körpermaterial  zu  den  Endproducten  oxy- 
dirt.  Durch  den  Harn  wird  im  Fieber  ein  klei- 
nerer Theil  der  Wasserzufuhr  entfernt,  als  im 
normalen  Zustande,  dagegen  ist  die  Abgabe  von 
Wasserdampf  vermehrt. 

Aus  den  Endproducten  des  Stoffumsatzes 
lässt  sich  nur  ein  geringer  Zuwachs  von  Wärme 
für  das  Fieber  berechnen.  Die  Wärmeabgabe 
ist  sehr  gesteigert,  aber  nicht  proportional  der 
Körpertemperatur.  Die  Regulation  der  Eigen- 
wärme ist  im  Fieber  aufgehoben;  es  beruht 
dies  auf  einer  zeitweise  eintretenden  Verenge- 
rung der  Hautgefässe,  welche  mit  derjenigen  Er- 
weiterung derselben,  welche  zur  Wärmeregula- 
tion nöthig  wäre,  abwechselt.  Bei  längerer 
Dauer  des  Fiebers  tritt  die  gesteigerte  Erreg- 
barkeit der  Gefässe  zurück,  die  Arterien  sind 
dauernd  enger,  die  Wärmeabgabe  noch  mehr 
beschränkt , also  steigt  die  Innentemperatur 
noch  mehr,  während  die  Peripherie  kühler  wird. 
Die  wesentlichen  Fiebererscheinungen  werden 
nur  durch  die  periodischen  Beschränkungen  der 
Wärmeabgabe  neben  einer  beständig  vermehr- 
ten Wärmebildung  erklärlich. 

Der  Verf.  glaubt  durch  diese  Theorie  alle  bis 
jetzt  bekannten  Erscheinungen  des  Fiebers  erklärt 
zu  haben  und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  seine 
Zusammenstellung  eine  recht  geschickte  ist.  Ref.  ist 
dem  Gedankengange  der  Arbeit  bis  hierher  ohne 
Unterbrechung  gefolgt.  Es  spricht  aus  demsel- 
ben eine  ruhige  Forschung  und  Anschauungs- 
weise; es  ist  dem  Ergebniss  die  volle  Berechti- 
gung für  den  jetzigen  Standpunkt  der  Fieber- 


560  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 


lehre  nicht  abzusprechen.  Die  Forschungen 
des  Verf.  erhalten  durch  dasselbe  eine  gewisse 
Abrundung,  deren  jeder  Schriftsteller  bedarf 
wenn  er  sich  lange  Zeit  hindurch  mit  ein  und 
demselben  Thema  beschäftigt  hat.-  Anders  ist 
natürlich  der  Standpunkt  des  Lesers  und  Kri- 
tikers. Natürlich  wird  er  die  Arbeit  und  das 
Geschick  des  Verf.  anerkennen,  aber  unmöglich 
kann  er  zugestehen,  dass  durch  die  Arbeit  ein 
gewisser  Abschluss  in  der  Lehre  vom  Fieber 
erreicht  sei.  Obgleich  die  neueren  Studien  den 
Symptomencomplex  »Fieber«  viel  klarer  gefasst 
und  in  seine  Einzelheiten  zerlegt  haben,  müssen 
wir  doch  gestehen , dass  wir  der  Erkenntniss 
seines  Wesens  noch  eben  so  fern  stehen,  wie 
früher.  Diese  Unsicherheit  ist  so  gross,  dass 
sie  selbst  S.  zwingt,  auf  eine  Definition  des 
Fiebers  ganz  zu  verzichten,  wie  er  es  im  Ueber- 
gange  zum  letzten  Capital  thut.  Dieses  letzte 
Capitel,  in  welchem  der  Verf.  aus  der  ent- 
wickelten Theorie  die  Folgerungen  über  die 
Therapie  ableitet,  ist  der  schwächste  Theil  des 
Buches,  wie  jede  Folgerung  aus  nicht  sicheren 
Prämissen.  Es  tritt  hier  eine  solche  subjective 
Färbung  hervor , dass  manches  Fragezeichen 
nöthig  ist.  Den  Eiweisszerfall  denkt  S.  durch 
ernährende  Klystiere  oder  subcutane  Ernährung 
zu  ersetzen:  schwerlich  wird  aus  diesen  das 
Eiweiss  aufgenommen,  sicher  nicht  in  Organ- 
eiweißs  umgewandelt.  Um  die  Temperatur- 
Steigerung  zugleich  mit  der  Erregbarkeit  der 
Hautgefässe  zu  bekämpfen,  empfiehlt  er  vor 
dem  Bade  grosse  Senfteige.  Vielleicht  wäre 
auch  das  Firnissen  der  Haut  zu  rathen.  Von 
den  Kalisalzen  wird  Bromkalium  empfohlen. 
Es  reiht  sich  Hypothese  an  Hypothese  und  die 
Bemerkung  ist  nicht  zu  unterdrücken,  dass  sicher 


Wolf,  Luc.  Geizkoflerw.  s.  Selbstbiographie.  561 

nicht  fünf  Jahre  verfliessen  werden,  bevor  der 
Yerf.  das  fünfte  Capitel  umgeschrieben  wün- 
schen wird.  B. 


Lncas  Geizkofi  er  und  seine  Selbst- 
biographie 1550 — 1620.  Von  Adam  Wolf 
Wien  1873.  Wilhelm  Braumüller.  IV  und  212 
SS.  in  8. 

Aus  einem  Manuscript  des  Museum  Ferdi- 
nandeum zu  Insbruck  veröffentlicht  der  Heraus- 
geber hier  die  Selbstbiographie  eines  aus  Tyrol 
stammenden,  später  zu  Augsburg  ansässigen 
Becbtsgelehrten  des  sechszehnten  Jahrhunderts. 
Sie  giebt  Aufschluss  über  Herkunft  und  Familie 
des  Autors,  sein  bunt  bewegtes  Stndienleben, 
seine  Fahrten  in  Deutschland,  Frankreich  und 
Welschland  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  da  er  als 
gereifter  Mann  sich  ein  Haus  zu  Augsburg  grün- 
det. Die  persönlichen  Erlebnisse  sind  mit  werth- 
vollen Mittheilungen  über  politische  und  kirch- 
liche Verhältnisse,  über  Bechtsstndium  und  Uni- 
versitäten verbunden,  so  dass  das  Buch  als  ein 
werthvoller  Beitrag  zur  Sittengeschichte  einer 
wichtigen  Uebergangsperiode,  jenes  Zeitraums 
zwischen  dem  Religionsfrieden  und  dem  Aus- 
bruche des  dreissigjährigen  Krieges,  begrüsst 
werden  darf. 

Lucas  Geizkofler  war  das  jüngste  von  den 
siebzehn  Kindern  eines  zu  Sterzing  angesesse- 
nen begüterten  Mannes,  der  in  seiner  Jugend 
den  Rechtsstudien  obgelegen  hatte.  Aus  dem 
Leben  des  Vaters,  Hans  Geizkofler,  theilt  der 
Sohn  eine  Reihe  characteristischer  Züge  mit. 

36 


562  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  18. 

Gleich  der  Eingang  versetzt  uns  in  die  grosse 
Bewegung  der  Zeit.  Wir  sehen  Hans  Geiz- 
kofler, nachdem  er  zu  Leipzig  und  Wittenberg 
studirt,  im  Jahre  1517  auf  der  Universität  zu 
Bologna,  um  institutiones  juris  zu  hören.  Aber 
seine  italiänischen  Studirgesellen  lassen  ihm,  so- 
bald er  ins  Auditorium  zur  Lection  kommt 
oder  der  Professor  fortgegangen  ist,  keine  Buhe 
und  bestürmen  ihn  mit  Fragen  nach  Neuigkei- 
ten aus  Deutschland  und  dem  kecken  ketzeri- 
schen Mönch  Martin  Luther.  Als  er  freimüthig 
erklärt,  er  könne  in  den  ihm  zugekommenen 
Thesen  nichts  Ketzerisches  entdecken,  begreifen 
die  Welschen  gar  nicht,  wie  man  noch  zweifeln 
könne,  nachdem  päpstliche  Heiligkeit  und  die 
fürnehmsten  Doctoren  ihr  Wort  gesprochen. 
Andersgesinnte  wagen  sich  nicht  mit  ihrer  Mei- 
nung heraus,  voll  Furcht,  was  einem  teutschen 
Studenten  wohl  hin  gehe,  werde  für  sie  nicht 
ohne  Gefahr  bleiben.  Bald  fieng  man  an,  aber 
auch  auf  Geizkofler  zu  lauschen,  und  besorgt 
riefen  ihn  seine  Pfleger,  Gerhaber  wie  sie  ein- 
mal mit  altem  Ausdrucke  genannt  werden,  in 
die  Heimat  zurück. 

Blieb  Hans  Geizkofler  auch  dem  alten  Glau- 
ben treu,  so  war  er  doch  von  tiefer  Abneigung 
gegen  alles  Pfaflenthum  erfüllt  und  liess  trotz 
alles  Anrathens  und  Hindeutens  auf  Ordens- 
stellen und  Brixener  Domherrenpfründen  kei- 
nen seiner  zwölf  Söhne  den  Fuss  in  den  geist- 
lichen Weingarten  oder  Berg  der  Hoffahrt  und 
üppigen  Pracht  setzen,  sondern  verlangte  und 
erreichte  es,  dass  alle  mit  der  Feder  oder  dem 
Spiess  ihre  Nahrung  gewannen. 

Neben  dem  Vater  tritt  in  den  Aufzeichnun- 
gen des  Sohnes  besonders  ein  Bruder,  Michael 
Geizkofler,  hervor.  Auch  dieser  studirte  die 


Wolf,  Luc.  Geizkofler  u.  e.  Selbstbiographie.  563 

Rechte,  hörte  in  Wittenberg,  als  dort  bis  in 
die  3000  Studenten  von  verschiedenen  Nationen 
versammelt  waren  (S.  18),  neben  juristischen 
Vorlesungen  Luther,  Melanchthon  und  Bugen- 
hagen,  wurde  dann  Rentmeister  der  Fugger  zu 
Augsburg  und  blieb  ungeachtet  aller  Jesuiten- 
freundschaft seiner  Herren  ein  treuer  und  eif- 
riger Anhänger  Luthers  das  ist  ein  recht  katho- 
lischer Christ,  wie  der  Verfasser  selten  hinzu- 
zufügen versäumt,  während  er  andrerseits  von 
der  katholischen  versteh  papistischen  Religion 
redet.  Dem  Bruder  Michael  hatten  denn  auch 
die  meisten  seiner  Geschwister  zu  danken,  dass 
sie  aus  dem  merklichen  groben  Irrthum  aber- 
gläubischen Papstthums  kamen.  Noch  mehr 
aber  unser  Lucas  Geizkofler.  Nach  dem  Tode 
des  Vaters  (1563)  nahm  sich  Michael  deB  jun- 
gen damals  dreizehnjährigen  Bruders  an,  liess 
ihn  zu  sich  nach  Augsburg  kommen  und  die 
Schule  von  St.  Anna  besuchen,  an  der  damals 
berühmte  Lehrer,  wie  Hieronymus  Wolf,*  wirk- 
ten. Der  Bruder  schickte  ihn  dann  auf  die 
Universität,  um  Jura  zu  studiren.  Zuerst  nach 
Strassburg,  dann  nach  Paris,  wo  erst  eben  nach 
mehr  als  dreihundertjährigem  Verbot  die  Lehre 
des  römischen  Hechts  zugelassen  war.  Endlich 
studirte  er  noch  zu  Dole  in  Burgund  und  in 
Padua,  dessen  Besuch  damals  unter  den  deut- 
schen Juristen  in  Folge  der  grossen  Privilegien, 
welche  die  germanische  Nation  dort  genoss,  und 
des  Schutzes,  welchen  die  Protestanten  an  dem 
Dogen  zu  Venedig  hatten,  sehr  allgemein  war 
(Stölzel,  Entwicklung  des  gelehrten  Richter- 
thums  I 51). 

Der  Beschreibung  dieser  peregrinatio  acade- 
mica  ist  der  grösste  Theil  des  Buches  gewid- 
met, innerhalb  derselben  der  breiteste  Raum 

36* 


564  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  18. 

für  die  Geschichte  des  Pariser  Aufenthalts  in 
Anspruch  genommen,  so  dass  der  Autor  seine 
ganze  Aufzeichnung  nicht  unpassend  als  gallica 
diaria  bezeichnet  (S.  III).  Die  Zeit,  die  er  in 
Paris  zubrachte,  war  aber  wohl  dazu  angethan, 
dem  Schreiber  von  Denkwürdigkeiten  einen  rei- 
chen Stoff  zu  gewähren,  und  eben  durch  diese 
Schilderungen  und  Erzählungen  aus  Paris  bildet 
das  Buch  Geizkoflers,  das  ursprünglich  nur  ein 
Stück  aus  einer  Haus-  oder  Familienchronik  ist, 
zugleich  einen  Beitrag  zur  allgemeinen  Ge- 
schichte. Er  kam  im  Sommer  1571  (wie  Seite 
31  zu  verbessern  ist)  nach  Paris  und  verblieb 
dort  bis  zum  Herbste  1572.  Ueber  1500  deut- 
sche Studenten  hielten  sich  damals  in  Paris  auf, 
mehr  noch  als  durch  die  Studien,  durch  die 
Schaulust  angelockt.  Wo  es  etwas  zu  sehen 
gab  in  jenen  festlichen  Tagen,  welche  die  Hoch- 
zeitsfeier des  Königs  Heinrich  von  Navarra  mit 
der  Prinzessin  Margarethe  im  Gefolge  hatte, 
fanden  sie  sich  getreulich  ein,  die  teutschen 
Scholaren  von  der  Universität,  nicht  selten  et- 
was beweint.  Als  sich  das  Gerücht  von  bevor- 
stehenden Gefahren  ausbreitete,  zogen  ihrer 
viele  nach  Orleans  und  Bourges,  die  in  jener 
Zeit  überhaupt  von  zahlreichen  deutschen  Juri- 
sten aufgesucht  wurden  (Stölzel  S.  58).  Lucas 
Geizkofler  blieb  in  Paris,  vertauschte  aber  auf 
Bath  eines  bei.  Hofe  wohl  bekannten  Lands- 
mannes wiewohl  ungern  seine  bisherige  Woh- 
nung , einem  fürnehmen  Buchdrucker  und 
Buchführer,  Andreas  Wegelin,  der  die  Teutschen 
lieb  hatte  und  sie  um  ein  leidenlich  Kostgeld 
wohl  tractirte,  mit  einem  Quartier  in  einem 
grossen  Kosthause , das  ein  Pfaffe  Monsieur 
Blandis  nahe  bei  St.  Hilarikirchen  hielt.  Wie 
gut  der  Rath  war,  sollten  die  verhängnisvollen 


Wolf,  Luc.  Geizkofler  u.  a.  Selbstbiographie.  565 

Augusttage  offenbaren.  Die  Gassen,  wo  die 
Buchführer  wohnten,  wurden  von  den  mörderi- 
schen Botten  ganz  besonders  heimgesucht,  das 
Haus  seines  neuen  Wirthes,  der  bei  der  Thür 
in  einem  Pfaffenrock  und  vierecketen  Barett 
wohl  gekleidet  stand,  blieb  trotz  aller  Nachfrage 
nach  hugenottischen  Vögeln  unangetastet.  Ein 
wahres  Prachtstück  von  einem  Pfaffen  begegnet 
uns  in  dem  Mr.  Blandis:  er  disputirt  mit  sei- 
nen Kostgängern  auf  Tod  und  Leben,  holt  sich 
zur  Verstärkung  wohl  einige  Jesuiten  in  sein 
Haus,  studirt  alweg  am  Freitag  bei  einem 
Schwarzkünstler  die  Zauberei  und  sucht  mit  ih- 
rer Hülfe  Lucas  Geizkofler  und  seinen  gottes- 
furchtigen  Gesellen  einen  kräftigem  Gespenster- 
glauben beizubringen,  lässt  sie  nicht  undeutlich  \ 
merken,  wie  er  de  hereticis  occidendis  denke, 
aber,  nachdem  ihm  seine  Kostgänger  den  Beu- 
tel gefüllt  und  auf  Monate  im  Voraus  das  Kost- 
geld bezahlt  hatten,  schützt  er  sie  doch  vor  je- 
dem Angriff.  Die  Zechlust,  welche  die  deut- 
schen Scholaren  selbst  unter * den  grössten  Ge- 
fahren nicht  verliess,  hätte  sie  allerdings  auch 
trotzdem  nahezu  ins  Unglück  gebracht.  Lucas 
Geizkofler  erwies  sich  wiederholt  als  das  be- 
sänftigende, vorsichtige  Element*  unter  seinen 
ungestümen,  rasch  zufahrenden  Landsleuten. 
Durch  die  während  der  eigentlichen  Schreckens- 
tage gebotene  Zurückhaltung  berichtet  er  aller- 
dings über  deren  Vorgänge  nur  nach  Hören-  < 
sagen,  aber  bei  manchem  Ereigniss  vor-  und 
nachher  ist  er  doch  Augenzeuge  gewesen.  So 
besuchte  er  wie  viele  teutsche  Scholaren  den 
Admiral  Coligny  hach  dem  auf  ihn  gemachten 
Mordanfalle  und  hörte,  wie  er  gar  freundlich 
redend  sich  selbst  getröstet  (37);  am  4.  August 
sah  er  die  Einsegnung  des  königlichen  Braut- 


566  GÖtt.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 

paares  durch  den  Cardinal  yon  Bourbon  mit 
an  (38),  am  11.  Sept,  eine  grosse  Prozession, 
an  der  der  königliche  Hof  und  das  Parlament 
theilnahmen  und  bei  der  man  das  Bildniss  der 
grossen  Genovefa  herumtrug,  die  bei  den 
Parisianern  so  hoch  geehrt  wird,  wie  bei  den 
Atheniensern  unter  den  Heiden  die  grosse  Diana 
geehret  worden  sein  mag  (62);  am  27.  October 
die  Hinrichtung  des  Kitters  Briquemont,  eines 
Freundes  von  Coligny,  der  sich  nach  der  Bar- 
tholomäusnacht verborgen  gehalten  hatte  (71). 
Unter  all  den  Aufregungen  und  Gefahren  ver- 
gass  Geizkofler  seiner  Studien  nicht,  hörte  die 
berühmtesten  der  Pariser  Professoren,  unter 
andern  auch  Pierre  la  Kamee,  Petrus  Kamius, 
wie  er  ihn  nennt,  der  in  der  Bartholomäus- 
nacht ermordet  wurde  (32.  47),  und  der  Ver- 
kehr mit  den  Herren  Kanzovii  aus  Holstein  und 
den  Weisem  aus  Augsburg  wurde  auch  für  ju- 
ristische Zwecke  ausgenutzt,  namentlich  zur 
Abhaltung  juristischer  Disputationen  (57.  61). 
Bei  solcher  Gelegenheit  rühmt  er  wohl  das 
herrlich  Ingenium,  das  jener  oder  dieser  seiner 
Freunde  offenbart;  das  Gleiche  darf  der  Leser 
von  dem  Erzähler  thun,  der  sich  überall  als 
ein  wehrhafter  schlagfertiger  Vertheidiger  sei- 
nes Glaubens  bewährt  und  gegenüber  den  Be- 
denklichkeiten seiner  Freunde  kräftig  der  Huge- 
notten annimmt,  die  aus  natürlicher  Defension 
und  Zulassung  aller  Völkerrecht  die  Faust  zu 
Beschützung  ihres  Leibs  und  Lebens  ge- 
braucht (77). 

Im  Herbst  1572,  als  es  ihm  bei  seinem  Kost- 
herrn  Blandisius  zu  unheimlich  wurde,  verliess 
er  Paris,  aber  noch  langehin  hat  ihn  der  Ge- 
danke an  das  parisianische  Blutbad  verfolgt 
und  bei  Freudenfesten  ist  er  darüber  in  schwere 


Wolf,  Luc.  Geizkofler  u.  s.  Selbstbiographie.  567 

Gedanken  und  Melancholey  gerathen,  so  dass 
ihm  untersagt  wurde,  von  dem  parisianischen 
tyrannischen  Wesen  etwas  zu  hören  oder  zu 
lesen  (95.  96). 

Ueber  Dole,  wo  Geizkofler  das  Jahr  1573 
zubrachte,  Strassburg,  Tübingen,  die  Sauer* 
bronnen  und  förnehmsten  warmen  Bäder  in 
Baden  und  Würtemberg  kehrte  Geizkofler  nach 
fünfjähriger  Abwesenheit  in  seine  zweite  Hei- 
mat, die  Stadt  Augsburg  zurück.  Nachdem  er 
dann  noch  zu  Padua  1575  auf  1576,  mehrmals 
durch  die  unglückselige  Zeit  der  sterbenden  Läuft 
unterbrochen,  studirt,  1577  zu  Dole  während 
eines  zwölftägigen  Aufenthalts  Baccalaureus,  Li- 
centiat  und  Doctor  beider  Rechte  geworden  — 
die  Formalitäten,  die  dabei  zu  beobachten  wa- 
ren, werden  genau  beschrieben  — war,  trat  er 
als  Consulent  in  die  Dienste  der  Fugger,  für 
deren  Interesse  er  schon  häufig  während  seiner 
Universitätszeit,  durch  Besprechung  ihrer  Rechts- 
händel mit  berühmten  Rechtsgelehrten  thätig 
geworden  war.  Im  Jahre  1590  verheirathete 
er  sich  vierzigjährig  zu  Augsburg  mit  Catharina 
Hörmannin  von  Gutenberg,  der  Verwandten 
eines  Mannes,  der  in  dem  Fuggerschen  Ge- 
schäftshause eine  bedeutende  Stellung  einnahm. 

Soweit  reicht  die  Selbstbiographie,  die  Geiz- 
kofler 1609  schrieb,  jedoch  unter  Benützung 
gleichzeitiger  tagebuchartiger  Notizen,  die  er 
sich  auf  seinen  Reisen  gemacht  hatte.  Wir  be- 
sitzen seine  Aufzeichnungen  allerdings  nicht  von 
seiner  eigenen  Hand,  sondern  in  einer  Abschrift 
des  Zacharias  Geizkoflers,  seines  Neffen,  der  wie 
andere  seiner  Familie  für  die  Geschichte  seines 
Geschlechtes  thätig  war.  Aber  wir  werden, 
trotzdem  die  Erzählung  von  Lucas  Geizkofler 
durchgehende  in  dritter  Person  redet,  dieselbe 


568  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 


auch  in  der  vorliegenden  Form  als  von  ihm 
selbst  herrühend  anzusehen  haben,  denn  abge- 
sehen davon,  dass  er  in  einem  andern  Ms.  auf 
diese  von  ihm  verfassten  gallica  diaria  verweist, 
ist  er  an  einigen  Stellen  aus  seiner  gewöhnli- 
chen objectiven  Redeweise  in  die  der  ersten 
Person  übergegangen.  — Zum  grössten  Theile 
ist  das  Buch  deutsch  geschrieben;  einzelne  Par- 
tien, wie  die  Schilderung  einer  zu  Paris  am  1. 
Septbr.  1572  aufgeführten  Schulkomödie  (70 
Anm.),  der  Bericht  über  die  Rückkehr  aus 
Frankreich  durch  Baden  und  Würtemberg 
(105) , der  ganze  Schluss  von  der  Beschrei- 
bung der  Promotionsfeierlichkeiten  in  Dole  an 
(129  ff.),  sind  lateinisch  abgefasst,  in  der  vor- 
liegenden Publication  mit  Ausnahme  des  erst- 
erwähnten Stückes,  das  ausgelassen  ist,  deutsch 
wiedergegeben. 

Von  dem  reichen  Inhalt  des  Buches,  seinem 
Werth  für  die  Erkenntniss  der  Geschichte  und 
der  Sitten  der  Zeit,  konnte  hier  nur  eine  Probe 
gegeben  werden.  Nicht  minder  anziehend  ist 
es  durch  seine  Form,  wenn  auch  die  Darstel- 
lung Geizkoflers  nichts  weniger  als  kunstvoll 
genannt  werden  darf.  Nicht  selten  wird  der 
Gang  der  Erzählung  durch  Einschaltungen  un- 
terbrochen. Namentlich  liebt  er  es  bei  Erwäh- 
nung von  Persönlichkeiten,  mit  denen  er  in  Be- 
rührung kommt,  über  ihr  früheres  oder  späte- 
res Leben  Andeutungen  zu  geben.  Er  hat  offen- 
bar grossen  Werth  darauf  gelegt,  mit  hervor- 
ragenden Männern  seiner  Zeit  bekannt  zu  wer- 
den; es  genüge  hier  auf  die  Notizen  zu  ver- 
weisen, welche  er  bei  Gelegenheit  des  Besuchs 
der  verschiedenen  Universitäten  giebt,  und  des 
Abstechers  zu  gedenken,  welchen  er  von  Speier 
nach  Heidelberg  macht,  um  Donellus  heimzu- 


Wolf,  Luc.  Geizkofler  u.  s.  Selbstbiographie.  569 

suchen  und  seine  öffentlichen  Vorlesungen  zu 
hören  (S.  127).  Nicht  selten  hat  er  den 
Schmerz,  von  Männern,  die  er  in  seiner  Jugend 
gekannt,  erwähnen  zu  müssen,  dass  sie  zuyor 
die  wahre  evangelische  Religion  wohl  erkannt 
hatten,  hernach  aber  durch  die  zeitliche  Ehr 
und  Geldsucht  überwunden,  oder  durch  Anlei- 
tung der  Jesuiten  zum  Papstthum  gewichen  sind 
(S.  28,  32,  38). 

Der  Herausgeber  hat  der  Selbstbiographie 
(S.  9 — 142)  eine  kurze  Einleitung  (S.  1 — 8) 
voraufgeschickt,  welche  auf  die  Bedeutung  der 
Städte  und  des  Bürgerthums  für  das  Reforma- 
tionszeitalter hinweist,  nicht  blos  der  Führer 
und  Leiter  der  grossen  Bewegung,  sondern  auch 
der  kleinen  Leute,  welche  im  Rathhause,  in  der 
Landstube,  von  der  Lehrkanzel,  oder  in  der 
Werkstätte  an  der  Erlösung  des  Geistes  mitge- 
arbeitet haben.  Zu  den  zahlreichen  Selbstbio- 
graphien des  16.  Jahrhunderts,  die  nach  dieser 
Seite  hin  Licht  verbreiten,  gesellt  sich  die  vor- 
liegende des  Lucas  Geizkofler.  Der  Herausgeber 
lässt  ihr  zwei  umfassendere  Abhandlungen  nach- 
folgen,  von  denen  die  erste  (S.  143 — 176)  aus 
den  übrigen  im  Museum  Ferdinandeum  zu  Ins- 
bruck aufbewahrten  Papieren  des  Geizkofler- 
schen  Geschlechts  über  das  Leben  des  Autors 
bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  1620,  seine  Hei- 
rat, seine  religiöse  Stellung,  seine  sonstigen 
Schriften  und  sein  Verhältnis  zu  den  Fuggern 
berichtet;  die  zweite  (S.  177 — 208)  die  Ge- 
schichte des  Geschlechts  der  Geizkofler  von 
1430 — 1730  sowie  einzelner  merkwürdiger  Glie- 
der nach  den  durch  mehrere  Generationen  fort- 
geführten Geschlechtsregistern  und  Hauschroni- 
ken erzählt. 

Diese  Beigaben  sind  dem  Leser  sehr  will- 


570  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 


kommene  Ergänzungen ; der  Herausgeber  hat 
in  ihnen  eine  reichhaltige  Belehrung  über  die 
Zeit,  die  Stadt  Augsburg,  die  Fugger,  das  Ge- 
schlecht des  Erzählers  niedergelegt,  kurz  einen 
reichen  und  doch  massvoll  gehaltenen  Rahmen 
hergestellt,  in  welchen  sich  das  Bild  des  Lucas 
Geizkofler  harmonisch  einfügt.  Sicherlich  war 
dies  Verfahren  berechtigter,  als  eine  Unterbre- 
chung des  Textes  der  Selbstbiographie  durch 
Anmerkungen.  Zu  solchen  hat  der  Herausgeber 
an  den  wenigen  Stellen  seine  Zuflucht  genom- 
men, wo  Orts-  oder  Personennamen  des  Textes 
zu  erläutern  waren.  Erwünscht  wären  sie  auch 
da  gewesen,  wo  Daten,  die  im  Texte  fälschlich 
angegeben  sind,  zu  berichtigen  waren,  wie  S. 
31  (s.  oben)  oder  S.  122  (vgl.  mit  S.  180),  wo 
von  einem  Studium  des  Hans  Geizkofler  zu 
Leipzig  und  Wittenberg  anno  1543  die  Rede 
ist,  oder  S.  36,  wo  die  Zeitangaben  über  die 
Verwundung  Colignys  mit  den.  sonst  bekannten 
nicht  im  Einklang  sind.  Der  Graf  von  Lini, 
der  Schwiegersohn  Colignys,  war  nicht  als  Luy- 
nes,  sondern  als  Teligny  zu  erklären;  auch  wa- 
ren die  Titel  einiger  juristischen  Schriften  oder 
Namen  von  Juristen  zu  verbessern,  wie  S.  61 
paradita  in  paratitla,  S.  94  Cymis  in  Cynus, 
Zinichaim  in  Zuichem,  injuxto  in  juncto  u.  a.  m. 
und  in  der  aus  dem  Corpus  jur.  canon,  citirten 
Stelle  statt  quibus  sibi : quibuslibet,  statt  execu- 
verit:  exercuerit  zu  lesen. 


F.  Frensdorff. 


571 


Thiele,  Papst  und  Kaiser. 

Thiele,  D.  H.,  Propst  des  Klosters  Marien* 
berg,  Hof-  und  Domprediger  in  Braunschweig: 
Papst  und  Kaiser.  Eine  zeitgeschichtliche  Stu* 
die.  Leipzig,  Verlag  von  Justus  Naumann,  1874. 
48  Seiten  gr.  8. 

Der  Verf.  nennt  seine  Arbeit  eine  »Studie«, 
vielleicht  hätte  er  sie  aber  auch  ein  Pasquill 
nennen  können,  wenn  sie  auch  nicht  in  dem  ge- 
wöhnlichen Tone  eines  solchen  gehalten  ist.  Von 
dem,  was  wir  sonst  »Studien«  zu  nennen  ge- 
wohnt sind,  d.  h.  von  sorgfältiger  Quellenerfor- 
schung zum  Zweck  der  Aufhellung  tatsächlicher 
Verhältnisse,  finden  wir  hier  gar  nichts.  Man 
sieht  allerdings,  dass  der  Verf.  kirchengeschicht- 
liche Vorlesungen  gehört  und  kirchengeschicht- 
liche Werke  gelesen  hat,  denn  er  besitzt  man- 
cherlei allgemeine  Kenntnisse  fiber  die  vergan- 
genen Zeiten  der  christlichen  Kirche,  die  er 
denn  auch  zu  seinem  Zwecke  zu  verwerthen 
weiss.  Aber  neue  Aufschlüsse  fiber  die  Zustände 
und  Vorgänge  früherer  Zeiten  empfangen  wir 
nicht,  und  — der  Zweck,  den  der  Verf.  ver- 
folgt, ist  auch  durchaus  nicht,  uns  solche  zu 
geben:  im  Gegentheil,  er  benutzt  die  Vorgänge 
der  früheren  Zeiten  nur,  um  das,  was  jetzt  in 
Preussen  und  im  deutschen  Reiche  geschieht, 
mit  ihnen  in  Parallele  zu  stellen  und  als  ver- 
werflich erscheinen  zu  lassen. 

Der  Gesichtspunkt,  von  welchem  der  Verf. 
bei  der  Beurtheilung  der  gegenwärtigen  deut- 
schen Verhältnisse  ausgeht,  ist  der,  den  man  im 
Allgemeinen  den  » particularistischen « genannt 
hat:  er  ist  durch  die  Wendung,  welche  unsere 
neueste  Geschichte  genommen  hat , ganz  und 
gar  nicht  befriedigt,  und  eben  deshalb  hat  er 
auch  seine  Schrift  verfasst,  um  dieser  Unzu- 


572  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  18. 

'V 

friedenheit  Luit  zu  machen.  Aber  ob  ihm  da 
nun  diu  Unbefangenheit  und  Klarheit  des  Gei- 
stes geblieben  sei,  die  nöthig  wäre,  um  die 
Vorgänge  im  neuen  deutschen  Reiche  richtig 
und  gerecht  zu  beurtbeilen,  das  ist  eine  Frage, 
die  wir  denn  doch,  Angesichts  seiner  Auslas- 
sungen, bestimmt  verneinen  möchten.  Wer  in 
dem  gegenwärtigen  Kampfe  zwischen  Kaiser  und 
Papst  nichts  Anderes  erblicken  kann,  als  nur 
eine  neue  Auflage  der  ersten  Christenverfolgun- 
gen durch  die  römischen  Kaiser,  wer  es  vermag, 
Sätze  zu  schreiben,  wie  den,  dass  der  gegen- 
wärtige Kampf  ein  solcher  »zwischen  altrömi- 
schem, ins  Deutsche  übersetztem  Staatsrecht 
und  neurömischem  Kirchenrecht«  sei,  der  giebt 
zu  dem  Zweifel  Veranlassung,  ob  er  überhaupt 
noch  im  Stande  sei,  zu  verstehen,  was  im  deut- 
schen Reiche  sich  gegenwärtig  begiebt,  und  un- 
ter solchen  Umständen  kann  uns  alle  Geschick- 
lichkeit in  der  Gruppirung  der  Thatsachen 
nicht  bewegen,  ein  anderes,  als  ein  ernst  zu- 
rückweisendes Urtheil  über  die  Arbeit  des  Verl 
zu  fallen.  Es  ist  nichtB  Anderes,  als  eine  feind- 
selige Stimmung  gegen  Kaiser  und  Reich,  die 
sich  hier  zum  Aussprechen  gebracht  hat  und 
die  so  weit  geht,  dass  sie  in  ziemlich  unver- 
steckter Weise  für  die  den  Staat  und  seine  un- 
bezweifelbaren  Rechte  befehdenden  Bischöfe 
Partei  nimmt , und  da  hilft  es  denn  wenig, 
dass  der  Verf.  mit  einem  Aufblick  zu  Gott  und 
mit  einem  lateinischen  Gebetsworte  schliesst: 
die  ganze  Verschrobenheit  seines  Standpunktes 
wird  dadurch  nicht  gebessert,  eben  so  wenig, 
wie  es  etwas  nützt,  dass  er  den  Wunsch  aus- 
spricht, es  möge  gehen,  wie  — - in  Bürgers 
Leonore  beschrieben  wird  — der  Verf.  fuhrt 
eben  diese  Verse  ziemlich  geschmackloser  Weise 


f 


Tbiele,  Papst  und  Kaiser. 


573 


an  — es  möge  so  rasch  wie  möglich  Frieden 
gemacht  werden.  *'■ 

Dass  es  mit  einem  Frieden,  wie  er  jetzt  mit 
den  streitenden  Bischöfen  allein  geschlossen 
werden  könnte,  nicht  gethan  sein  würde,  das 
kann  nur  Leuten  verborgen  sein,  die  so  befan- 
gen sind,  wie  der  Verf.  Allerdings  ist  der 
augenblickJiche  Zustand  ja  unerquicklich  genug, 
und  dass  das  Ziel  des  Kampfes  der  Frieden 
zwischen  Staat  und  Kirche  sein  müsse,  ist  wohl 
selbstverständlich.  Aber  wenn  der  Staat  jetzt 
bloss  auf  Frieden  hinausgehen  und  deshalb 
Frieden  um  jeden  Preis  schliessen  wollte,  müsste 
da  der  Erfolg  nicht  der  sein,  dass  die  Macht- 
stellung der  Kirche  in  unerträglicher  Weise  er- 
höht würde  und  zwar  so,  dass  nicht  bloss  der 
Staat,  sondern  auch  die  evangelische  Kirche 
den  empfindlichsten  Schaden  davon  hätte  ? 
Wenn  der  Verf.  daher  etwas  Nützliches  und 
zunr  Frieden  wirklich  Diensames  batte  thun 
wollen,  so  hätte  er  vor  allen  Dingen  zeigen 
müssen,  auf  welchen  Grundlagen  denn  der 
neue  Frieden  errichtet  werden  müsste,  um  auch 
für  den  Staat  annehmbar  und  unbedenklich  zu 
sein;  aber  dieser  blosse  Ruf  nach  Frieden,  wie 
er  ihn  erhebt,  ist  nicht  bloss  nutzlos,  sondern 
dient  auch  nur  dazu,  des  Verf.  feindliche  Stel- 
lung gegen  den  neuen  deutschen  Staat  ins 
Licht  zu  stellen.  Nach  unserm  Bedünken  muss 
eine  völlige  Neuordnung  der  kirchlichen  Ver- 
hältnisse das  Ziel  des  gegenwärtigen  Kampfes 
sein  und  zwar  eine  Neuordnung  nach  gesunden 
Kirchen-  und  staatspolitischen  Grundsätzen, 
durch  welche  die  Beziehungen  beider  zu  einan- 
der nach  Maassgabe  der  beiderseitigen  Berech- 
tigungen sicher  gestellt  werden  müssen,  und 
dazu  ein  besonnenes,  verständnissvolles  Wort 


574  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  18. 

zu  reden,  hätte  sich  allerdings  der  Mähe  ge* 
lohnt,  zumal  diese  Verhältnisse  wohl  noch  nicht 
überall  klar  erkannt  sein  mögen.  Aber  wer 
ein  solches  wirkliches  Friedenswort  nicht  reden 
kann,  der  thäte  am  Besten,  überhaupt  in  den 
Streit  nicht  hinein  zu  reden,  am  Allerwenigsten 
aber  in  so  wirklich  oberflächlicher  Weise,  wie 
es  der  Verf.  gethan  hat. 

Jedenfalls  werden  des  Verf.  »Studien«  zu 
unserer  Zeitgeschichte  noch  tiefer  zu  gehen  ha- 
ben, wenn  sie  werthvoll  werden  sollen.  Diese 
Parallelisirungen,  wie  er  für  gut  befunden  hat, 
sie  vorzutragen,  wo  scheinbare  und  rein  auf 
der  Oberfläche  liegende  Aehnlichkeiten  hervor- 
gehoben, dagegen  aber  die  tiefer  liegenden  und 
wesentlichen  Unterschiede  ganz  und  gar  nicht 
beachtet  werden,  sind,  selbst  wenn  sie  immer- 
hin mit  einem  gewissen  Esprit  gemacht  sind, 
doch  kaum  etwas  Anderes,  als  ein  Missbrauch 
von  Geschichtskenntnissen,  und  um  so  bedenk- 
licher, als  allerdings  die  Urtheilslosen  leicht  da- 
durch getäuscht  und  missleitet  werden  können. 

F.  Brandes. 


Joannis  Urbach  processus  judicii  qui 
Panormitani  ordo  judiciarius  a multis  dici- 
tur  ex  recognitione  Theodori  Mut  her  jure- 
consulti.  Halis  Saxonum  typis  et  impensis 

Orphanotrophaei  A.  D.  CIOIQCCCLXXHI.  — 
XXVIH  und  339  S.  8. 

Das  in  der  Ueberschrift  genannte  Werk,  der 
processus  judicii  des  Joannes  Urbach,  ist 


Mather,  Joanms  Urbach  proc.  iud.  575 

von  Mather  nach  einer  Handschrift  der  Leip- 
ziger Universitätsbibliothek,  welche  dem  15. 
Jahrhundert  angehört,  herausgegeben.  Ausser 
dieser  hat  der  Herausgeber  nicht  weniger  wie 
siebenzehn  andere  Handschriften  und  verschiedene 
ältere  Drucke  benutzt  und  aus  ihnen  zur  Ver- 
gleichung ein  sehr  erhebliches  Material  an  Les- 
arten unter  dem  Texte  beigefugt.  Schliesslich 
hat  er  durch  Zurückführung  der  Quellencitate 
auf  die  heutige  Citirmethode,  sowie  durch  ein 
genaues  Quellen-  und  ein  umfangreiches  Sach- 
register den  Gebrauch  des  Werkes  um  Vieles 
erleichtert. 

R.  v.  Stintzing,  dem  der  Herausgeber 
seine  Arbeit  gewidmet  hat,  setzt  in  seiner  vor- 
trefflichen Geschichte  der  populären  Literatur 
des  römisch-kanonischen  Rechts  in  Deutsch- 
land S.  239  ff.  die  Entstehung  dieses  Process- 
werks  in  den  Anfang  des  15.  Jahrhunderts,  ge- 
nauer die  Regierungszeit  Innocenz  VH.  (1404 — 
1406),  — eine  Annahme,  die  durch  das  Alter 
der  meisten  Handschriften  unterstützt  wird. 
Für  den  eigentlichen  Verfasser  hält  Stintzing 
den  Panormitanus;  Muther  dagegen,  der 
sich  hierüber  schon  früher  ausgesprochen  (Ztschr. 
f.  R.  Gesch.  Bd.  VI  S.  214  ff.  Bd.  VHI  S.  123. 
Glaser’s  Jahrbb.  Bd.  IX.  S.  243  vgl.  Wetzeil, 
System  3.  Aufl.  §.  3 Anm.  15a),  sieht  das  Werk 
für  deutschen  Ursprungs  an  und  vindicirt  es 
dem  Johannes  Urbach,  über  dessen  Person,  lite- 
rarische Beziehungen  und  sonstige  Verhältnisse 
er  sich  weitere  Ausführungen  Vorbehalten  hat. 

Die  Herausgabe  dieses  processus  judicii  ist 
ein  höchst  verdienstliches  Unternehmen,  durch 
welches  sich  Muther  Anspruch  auf  unseren  Dank 
erworben  hat.  Zwar  besitzt  derselbe  in  Absicht 
auf  die  Rechtsbildung  des  gemeinen  Processes 


576  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  18. 

die  gleiche  Bedeutung  nicht,  vie  sie  den  älte- 
ren italienischen  Schriftstellern  des  Mittelalters 
zum  Theil  zukommt,  nichts  desto  weniger  ist 
sein  Werth  für  die  geschichtliche  Erforschung 
des  gemeinen  Processes  kein  geringer.  Lidern 
er  ausschliesslich  auf  den  Italienern,  namentlich 
den  Glossen,  dem  Durantis  und  Johannes 
Andrea  fasst,  fbdrt  er  in  Wahrheit  den  Ab- 
schluss und  die  Resultate  der  wissenschaftlichen 
Bewegung  der  voraufgehenden  Jahrhunderte,  wo- 
für unter  Anderem  auf  die  Lehre  von  der  Voll- 
macht und  namentlich  auf  die  Lehre  von  den 
substantialiajudidi  hingewiesen  sein  mag,  welche 
letztere  unmittelbar  auf  die  Reform  des  jüngsten 
Reichsabschiedes  hinführt.  Daneben  ist  der  pro- 
cessus judicii  des  Johannes  Urbach  die  erste 
Processdarstellung,  die  zugleich  den  sog.  unbe- 
stimmt summarischen  Process  mit  umfasst. 
Endlich  besitzt  die  Schrift  durch  ihre  kurze, 
übersichtliche  und  lichtvolle  Darstellung  gegen- 
über den  massenhaft  anschwellenden  Werken 
der  späteren  Italiener  einen  Vorzug,  der  ihre 
Brauchbarkeit  um  ein  Beträchtliches  erhöht. 

Zum  Schluss  haben  wir  noch  die  schöne  Aus- 
stattung hervorzuheben,  welche  die  Verlagshand- 
lung dem  Buche  hat  zu  Theil  werden  lassen 
und  die  um  so  mehr  Anerkennung  verdient,  als 
derartigen  Unternehmungen  ein  Absatz  über  die 
engsten  Gelehrtenkreise  hinaus  von  vorne  herein 
nicht  in  Aussicht  steht,  dieselben  daher  immer 
mit  Opfern  verbunden  sind,  die  im  Interesse 
der  Wissenschaft  gebracht  werden. 

Kiel.  E.  Wieding. 


J 


577 


Gdttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  König).  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  19.  13.  Mai  1874. 


Dr.  Wilhelm  Schum.  Vorstudien  zur 
Diplomatik  Kaiser  Lothars  m.  Habilitations- 
schrift. 36  S.  8.  Halle  1874.  Buchdruckerei 
des  Waisenhauses.  - 

Unter  dem  Titel  »Vorstudien  zur  Diplomatik 
Kaiser  Lothars  HI.<  die  Urkundenfälschungen 
jener  Periode  zu  behandeln,  hält  Referent  für 
keine  eben  glückliche  Wahl  des  Verfassers.  Erst 
nach  einer  in  das  kleinste  Detail  eingehenden 
nnd  im  Wesentlichen  abgeschlossenen  Durch- 
forschung der  gesammten  Urkunden  Lothars  HI. 
konnte  er  die  vorliegenden  Untersuchungen  aus- 
führen. Er  hätte  dieselben  aber  auch  so  lange 
dem  grösseren  Publikum  yorenthalten  sollen, 
bis  seine  Arbeit  über  das  gesammte  Urkunden- 
wesen Lothars  erschienen  war;  sie  von  dieser 
ihrer  Grundlage  loszureissen  und  als  Vorarbeit 
vorauszusenden,  raubt  ihnen  wenigstens  zum 
Theil  ihre  beweisende  Kraft.  In  einer  Reihe 
von  p.  36  angeführten  Fällen  muss  der  Verfas- 
ser geradezu  jede  definitive  Entscheidung  und 
an  mehr  als  einer  Stelle  (so  p.  19,  26,  29,  31 

37 


578  Gott,  gel*  Anz.  1874.  Stück  19. 

und  32)  die  nähere  Begründung  seiner  Ansicht 
auf  die  versprochene  eingehendere  Untersuchung 
der  Urkunden  Lothars  verschieben.  Bei  der 
geringen  Kennt  niss,  die  wir  bisher  über  das 
Urkundenwesen  dieser  Epoche  besitzen,  ist  es 
auch  dem  Referenten  schwer  möglich,  über  die 
vorliegende  Arbeit  des  Verfassers  ein  sicheres 
und  eingehendes  Urtheil  zu  fällen  und  beschränkt 
sich  derselbe  daher  auf  einige  wenige  allge- 
meine Bemerkungen. 

Bei  St.  3256  a wäre  auf  das  paläographische 
Moment  näher  einzugehen  gewesen;  denn  der 
zweite  für  die  Fälschung  dieser  Urkunde  ange- 
führte Grund  ist  zu  wenig  gewichtig,  als  dass 
er  sie  beweisen  könnte. 

Bei  Besprechung  der  beiden  Urkunden  St. 
3240  und  3266  muss  es  p.  8 auffallen,  dass  der 
Verfasser  die  Schrift  von  St.  3266,  nachdem  er 
kurz  vorher  einige  Gründe  für  die  Unechtheit 
dieser  Urkunde  beigebracht  hat  und  6ie  auch 
für  gefälscht  ansieht,  ebenso  wie  die  von  St. 
3240  für  ganz  zeit-  und  kanzleigemäss  erklärt. 
— Mag  man  den  Beweis  für  die  Unechtheit  von 
St.  3292  auch  gelten  lassen,  so  muss  Referent 
doch  die  p.  17  bei  dieser  Gelegenheit  aufge- 
stellte Behauptung  des  Verfassers,  dass  das 
Nachschreiben  von  Protokolltheilen  aus  einer 
zur  Confirmation  vorgelegten  Urkunde  »allen 
diplomatischen  Regeln  Hohn  spricht«,  auf  das 
Entschiedenste  bestreiten.  Diese  Ansicht  ist 
unrichtig  und  mögen  als  Beweis  dafür  einige 
Beispiele  aus  dem  Kanzleiwesen  des  XI.  Jahr- 
hunderts genügen.  So  geht  in  der  Urkunde 
Heinrichs  H.  für  S.  Bavo  zu  Gent  (St.  1343. 
Original  im  Cathedralarchiv  zu  Gent),  deren 
Originalität  über  alle  Zweifel  erhaben  ist,  die 
Invocation:  In  nomine  domini  dei  et  salvatoris 


Schum,  Vorstudien  z.  Diplom.  Kais.  Loth.  III.  579 

nostri  Jesu  Christi  zurück  auf  die  jedenfalls  vor* 
gelegte  Urkunde  Ludwig  des  Frommen  (Sickel 
L.  136).  Was  den  Titel  von  St.  3292:  Lotha- 
rius  ordinante  divina  dementia  Romanorum  im- 
perator  augustus  betrifft,  so  kann  ich  dem  Ver- 
fasser nicht  beistimmen , wenn  er  behauptet, 
dass  er  ganz  karolingisch  ist;  am  allerwenig- 
sten stimmt  er  mit  dem  Ludwig  des  Fr.  über- 
ein, wie  man  in  diesem  Falle  vor  Allem  an- 
nehmen müsste.  Dass  man  aber  auch  beim  Ti- 
tel sich  nicht  gescheut  hat  die  Vorurkunde  ein- 
fach abzuschreiben,  zeigen  die  Urkunden  Hein- 
richs II.  St.  1320  und  1353  (Original  in  Mün- 
ster), wo  der  unter  Heinrich  II.  nicht  gebräuch- 
liche Titel:  superna  favente  dementia  rez  aus 
den  vorgelegten  Urkunden  Ottos  UI.  St.  1177 
und  1246  herübergenommen  ist.  Ueberhaupt 
verfahren  die  mittelalterlichen  Schreiber  in  der 
Nachbildung  vorgelegter  Urkunden  oft  ganz 
mechanisch  und  gedankenlos.  So  wird  in  St. 
1320  das  »rogatu  Franconis  praesulis«  aus  St. 
1177  abgeschrieben,  obwol  jener  Bischof  Franco 
von  Worms  inzwischen  bereits  gestorben  war; 
und  doch  werden  wir  aus  diesem  Grunde  St. 
1320  keineswegs  verdächtigen  können  (vgl.  auch 
Sickel:  Acta  I p.  130). 

Bei  Besprechung  der  Fulder  Diplome  p.  18  ff. 
würde  der  Nachweis  für  die  Unechtheit  von  St. 
3250  an  Klarheit  gewonnen  haben,  wenn  von 
Anfang  an  der  Vergleich  mit  St.  3082  und 
3285  gemeinsam  geführt  worden  wäre.  Die 
vorausgeschickte  Nebeneinanderstellung  von  St. 
3250  und  3285  scheint  mir  nur  wenig  für  die 
Fälschung  von  St.  3250  zu  beweisen;  denn  die 
Fassung  der  Arenga  von  St.  3250  steht  nicht 
im  Widerspruch  mit  dem  Inhalt  der  Urkunde. 
Erst  durch  das  Heranziehen  von  St.  3082  wird 

37* 


580  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

die  einem  Fälscher  zngeschriebene  Zusammen* 
arbeitung  von  St.  3250  in  das  richtige  Licht  ge- 
stellt. — Den  paläographischen  Beweis  für  die 
Echtheit  von  St.  3230  halte  ich  nicht  für  aus- 
reichend; denn  damit,  dass  die  Schrift  dem  1. 
Drittel  des  XII.  Jahrhunderts  angehört,  ist 
noch  nicht  gesagt,  dass  sie  auch  kanzleige- 
mäss  ist. 

Für  den  einen  Theil  der  bisher  mit  »Titel« 
bezeichneten  Formel  des  Protokolls  den  nicht 
gebräuchlichen  Namen  »Devotionsformel«  einzu- 
führen,  halte  ich  für  überflüssig.  Endlich 
möchte  ich  mich  auch  gegen  die  wiederholt  an- 
gewendete Schreibung  »Hildisheim«  wenden, 
welche  der  Verfasser  vielleicht  der  in  St.  3240 
und  3266  p.  7 erscheinenden  Schreibung  »Hil- 
dinisheim«  nachgebildet  hat.  Die  alte  Schreib- 
weise ist  »Hildeneshem«  und  daher  werden  wir 
wol  am  Besten  thun  an  Hildesheim  festzu- 
halten. 

An  Druckfehlern  möchte  ich  bemerken:  p. 
27  Anmerk.  4 soll  es  heissen  Jaffe  Nr.  5352 
statt  3352,  p.  30  St.  3239  statt  3259,  p.  31 
St.  3287  statt  3288. 

Zum  Schluss  sei  noch  der  Wunsch  ausge- 
sprochen, dass  es  dem  Verfasser  baldigst  ge- 
lingen möge  seine  eingehenderen  Untersuchun- 
gen über  das  gesammte  Urkundenwesen  Lothars  HL 
zu  publiciren ; erst  dann  wird  man  mit  Sicher- 
heit beurtheilen  können,  was  der  Verfasser  in 
seinen  »Vorstudien«  geleistet  hat. 

Wien.  Victor  Bayer. 


ßuthe,  Lehrbuch  der  Geographie  etc.  581 

Lehrbuch  der  Geographie  für  die  mittleren 
und  oberen  Classen  höherer  Bildungs-Anstalten 
some  zum  Selbstunterricht  von  H.  Gut  he, 
Dr.  phil.,  Professor  der  Erdkunde  an  der  poly- 
technischen Hochschule  zu  München.  Dritte 
Auflage.  Hannover,  Hahn’sche  Hofbuchhand- 
lung 1874.  XII  und  676  S.  8°. 

Dass  für  dies  im  Jahrgange  1872  dieser  Bll. 
(Stück  31)  eingehender  besprochene  und  dem 
Lehrer  der  Geographie  ganz  besonders  empfoh- 
lene Lehrbuch  so  überraschend  bald  wieder  eine 
neue  Auflage  nöthig  geworden,  ist  als  Zeichen 
eines  neuen  Aufschwunges  des  geographischen 
Unterrichts  gewiss  mit  Freude  anzuerkennen. 
Gleichwohl  kann  ich  nur  mit  wehmüthigem  Ge- 
fühle diese  neue  Auflage  anzeigen,  indem  der 
Verf.  wenige  Wochen  nach  der  Unterzeichnung 
des  Vorwortes,  in  welchem  er  etwa  noch  über- 
sehene Fehler  dadurch  zu  entschuldigen  bittet, 
dass  schwere  Verluste  in  seiner  Familie  sein 
Gemüth  bedrückten,  die  Verlagshandlung  aber 
die  Herausgabe  so  sehr  als  möglich  beschleu- 
nigt gewünscht  hätte,  am  29.  Jan.  d.  J.  dersel- 
ben tückischen  Cholera-Epidemie  zum  Opfer  ge- 
fallen ist,  durch  welche  ihm  unmittelbar  nach 
seiner  Uebersiedelung  nach  München  im  vori- 
gen Jahre  zugleich  .Frau  und  Kind  geraubt 
worden  waren.  Im  noch  nicht  vollendeten  neun- 
undvierzigsten Lebensjahre  ist  Hermann  Guthe 
aus  voller  Thätigkeit  nach  nur  20stündigen,  aber 
schweren  Leiden  der  Wissenschaft  entrissen,  für 
deren  Dienst  ihm  eben  erst  durch  die  Berufung 
auf  den  in  München  errichteten  Lehrstuhl  der 
Erdkunde  ein  von  ihm  so  lange  schon  er- 
wünschter und  ihm  auch  vorübergehend  auf  einer 
preussischen  Universität  in  Aussicht  gestellt  ge- 


582  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 


wesener  grösserer  Wirkungskreis  eröffnet  wor- 
den war.  Und  muss  ich  für  die  Wissenschaft 
diesen  Verlust  noch  insbesondere  deshalb  be- 
klagen, weil  nun  wahrscheinlich  noch  lange  ein 
Unternehmen,  welches  ich  als  eine  sehr  wich- 
tige, fast  nothwendige  Vorbedingung  für  die 
Heranbildung  von  tüchtigen,  den  heutigen  wis- 
senschaftlichen Anforderungen  genügenden  Leh- 
rern der  Geographie  für  unsere  gelehrten  Schu- 
len ansehe  und  als  solche  auch  in  der  Anzeige 
der  vorigen  Auflage  des  Guthe’schen  Lehrbuchs 
zu  begründen  gesucht  habe,  unausgeführt  blei- 
ben wird,  nämlich  die  Bearbeitung  eines  mit 
Erläuterungen  und  Litteraturnachweisungen  für 
Lehrer  versehenen  geographischen  Lehrbuches, 
wofür  Guthe  zu  gewinnen  mir  gelungen  war 
und  worüber  derselbe  noch  wenige  Wochen  vor 
seinem  Tode  sich  hier  mit  mir  besprochen  hatte. 
Zu  einer  solchen  eben  so  wichtigen  wie  schwie- 
rigen Arbeit  war  aber  Guthe  ganz  besonders 
berufen,  da  er  in  seltener  Weise  historisches 
und  naturwissenschaftliches  Wissen  in  der  Durch- 
bildung vereinigte,  wie  es  für  einen  wahren 
Lehrer  der  durch  Humboldt  und  Ritter  gegrün- 
deten wissenschaftlichen  Erdkunde  erfordert 
wird.  Ursprünglich  Philologe  von  Fach,  hatte 
Guthe  (der  am  22.  Aug.  1825  zu  St.  Andreas- 
berg auf  dem  Harze,  wo  sein  ihn  jetzt  noch 
überlebender  Vater  damals  als  Kaufmann  und 
Senator  lebte,  geboren  und  von  Ostern  1839 
bis  Ostern  1845  auf  dem  Gymnasium  zu  Claus- 
thal vorgebildet  war),  in  Göttingen  von  Ostern 
1845  bis  Michaelis  1847  vornehmlich  philolo- 
gischen und  historischen  Studien  obgelegen,  als 
er  während  des  folgenden  Wintersemesters  in 
Berlin  durch  die  Vorlesungen  Karl  Ritters  für 
die  Geographie  gewonnen  wurde  und  nun  sich 


Guthe,  Lehrbuch  der  Geographie  etc»  583 

entschloss,  neben  der  Philologie  in  Göttingen, 
wohin  ihn  vornehmlich  C.  F.  Hermann,  dessen 
Andenken  G.  auch  in  sinniger  Weise  die  erste 
Ausgabe  seines  geographischen  Lehrbuches  ge- 
widmet hat,  zurückgezogen  hatte,  noch  drei  Se- 
mester lang  durch  mathematische  und  natur- 
wissenschaftliche Studien  für  die  Geographie 
sich  gründlicher  auszubilden.  So  vorbereitet 
konnte  er  gleich  um  Michaelis  1849  am  Lyceum 
in  Hannover  eine  Anstellung  als  Lehrer  nicht 
allein  in  den  alten  Sprachen  und  im  Deutschen, 
sondern  auch  für  Naturwissenschaften,  Mathe- 
matik und  Geographie  übernehmen  und  in  allen 
diesen  Fächern  eine  erspriesliche  Lehrthätigkeit 
entwickeln.  Von  nun  an  wandte  Guthe  sich 
aber  mehr  und  mehr  der  Mathematik  und  mit 
besonderer  Vorliebe  der  Geographie  zu,  und  da 
ihm  dafür  das  Lyceum  nicht  die  vollständige 
Verwerthung  bot,  so  ging  er,  nachdem  er  am 
9.  April  1856  auf  Grund  einer  vorgelegten  Ab- 
handlung (»Zur  Geschichte  und  Geographie  der 
Landschaft  Margiana  des  heutigen  Merw«  Han- 
nover 1856,  4°)  von  der  philosophischen  Facul- 
tät  in  Göttingen  den  Doctorgrad  erworben  im 
J.  1863  an  die  Polytechnische  Schule  in  Hanno- 
ver über,  an  der  ihm  speciell  die  Fächer  der 
Mathematik  und  der  Mineralogie  übertragen 
wurden,  weil  man  damals  in  dieser  Art  Lehran- 
stalten der  Geographie  noch  nicht  den  ihr  ge- 
bührenden Platz  zuzugestehen  verstand.  Umso 
erwünschter  war  es  deshalb  für  Guthe,  dass 
ihm  kurz  vorher  (1862)  durch  Uebertragung 
des  Unterrichts  des  Kronprinzen  und  der  Prin- 
zessinnen und  durch  die  Ernennung  zum  Lehrer 
der  Geographie  beim  Cadetten-Corps  Aufforde- 
rung und  Gelegenheit  gegeben  war  der  Erd- 
kunde eine  besondere  Thätigkeit  zu  widmen  und 


584  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

geschah  dies  nun  auch  um  so  eifriger,  als  na- 
mentlich der  Unterricht  beim  Kronprinzen  dazu 
vorzüglich  anregte.  Durch  die  Katastrophe  von 
1866  in  dieser  ihm  lieb  gewordenen  Lehrthätigkeit 
unterbrochen  und  damit  auch  ökonomisch  in 
schwierige  Lage  gebracht,  fasste  Guthe  nun  den 
Gedanken,  den  für  diesen  Unterricht  entworfenen 
Leitfaden  für  den  Druck  zu  bearbeiten,  und 
konnte  ich  diesem  Plan,  nachdem  er  deshalb 
meine  Meinung  eingeholt  und  mir  seine  für  je- 
nen Unterricht  ausgearbeiteten  Hefte  zur  Be- 
gutachtung mitgetheüt  hatte,  auch  nur  entschie- 
den beistimmen.  Zu  bescheiden  jedoch  von  sei- 
nen Arbeiten  denkend,  bedurfte  es  erst  meiner 
wiederholten  Versicherung  mit  diesen  Arbeiten 
unbedenklich  öffentlich  hervortreten  zu  dürfen 
so  wie  auch  meiner  Aufforderung,  damit  nicht 
zu  säumen,  dass  er  endlich  seinen  Plan  ins 
Werk  setzte.  So  ist  das  schöne  Buch:  »Die  Lande 
Braunschweig  und  Hannover,  mit  Rücksicht  auf 
die  Nachbargebiete  geographisch  dargestellt. 
Hannover  1867.  8.«  entstanden,  welches  von 
dem  Verf.  auch  dem  Andenken  des  Kronprinzen 
Emst  August  von  Hannover  gewidmet  worden 
ist  und  welchem  er  dann  im  Jahre  darauf  durch 
die  dieser  Arbeit  gewordene  allgemeine  Aner- 
kennung ermuthigt  sein  ebenfalls  aus  solchen 
Vorträgen  hervorgegangenes  Lehrbuch  der  Geo- 
graphie folgen  liess,  welches  wiederum  einen  die 
Erwartungen  des  Verf.  weit  übertreffenden  Bei- 
fall fand  und  sich  unter  den  geographischen 
Lehrbüchern  namentlich  für  den  Selbstunter- 
richt so  rasch  eine  hervorragende,  wenn  nicht 
die  erste  Stelle  erworben  hat. 

Dass  dieses  für  höhere  Bildungsanstalten  be- 
stimmte geographische  Lehrbuch  auf  den  Verf., 
dem  es  bis  dahin  an  einem  solchen . Institute 
die  Geographie  als  Hauptfach  zu  lehren  noch 


Gutbe,  Lehrbuch  der  Geographie  etc.  585 

nicht  gelungen  war,  gleichzeitig  die  Blicke 
zweier  deutschen  Regierungen,  der  preussischen 
und  der  bayerschen,  lenken  konnte,  um  ihn  für 
eigens  für  die  Geographie  gegründete  Professu- 
ren zu  gewinnen,  darf  wohl  als  ein  erfreulicher 
Beweis  für  die  nun  auch  in  Deutschland  in  den 
maassgebenden  Kreisen  mehr  zum  Durchbruch 
kommende  Erkenntniss  der  Nothwendigkeit, 
der  Geographie  den  ihr  gebührenden  Platz  un- 
ter den  Fachstudien  einzuräumen , angesehen 
werden ; zu  bedauern  ist  es  aber  gewiss,  dass 
Guthe  in  der  Wahl  zwischen  Halle,  wo  die  phi- 
losophische Facultät  ihn  seit  längerer  Zeit  schon 
für  eine  dort  neu  zu  errichtende  Professur  der 
Geographie  erbeten  hatte  und  München,  von  wo 
erst  später  eine  Anfrage  an  ihn  ergangen  war, 
schliesslich  sich  für  die  letztere  Stadt  entschei- 
den musste.  Ich  sage  musste,  denn  Guthe  hat 
diese  Entscheidung  nicht  etwa  in  einer  gewissen 
Uebereilung  getroffen,  wie  man  nach  einer  inter- 
essanten Anzeige  der  vorliegenden  neuen  Auflage 
des  Lehrbuches  in  der  Jenaer  Litteraturzeitung 
vom  14.  März  aus  der  Feder  des  gegenwärtigen 
Inhabers  der  nunmehr  in  Halle  wirklich  einge- 
richteten geographischen  Professur,  zu  dessen 
Gewinnung  man  dieser  Universität  übrigens  eben- 
falls nur  Glück  wünschen  kann,  glauben  könnte, 
sondern  weil  er  in  München,  wohin  er,  nachdem 
er  in  Berlin  bei  persönlicher  Erkundigung 
allerlei  Anstände  gefunden,  und  seine  Hoffnung 
auf  eine  wirkliche  Berufung  vor  der  Hand  we- 
nigstens hatte  aufgeben  müssen,  sich  auf  beson- 
dere Einladung  unter  Erbietung  zum  Ersatz 
der  Reisekosten  begeben  hatte,  um  dort  sich 
die  Verhältnisse  anzusehen,  den  entschiedenen 
Willen  ihn  zu  gewinnen  und  überhaupt  eine 
»wärmere  und  gemüthlichere  Atmosphäre«  ge- 


586  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

fanden  hatte.  Ohne  Zweifel  aber  wäre  Guthe, 
obgleich  er  selbst  ganz  froh  über  diese  Ent- 
scheidung gewesen  zu  sein  mir  erklärte,  weil 
München  auch  durch  seine  geographische  Lage 
und  seine  Bibliotheken  ihm  mehr  böte  als  Halle, 
dort  doch  viel  mehr  an  seiner  rechten  Stelle  ge- 
wesen, als  in  München,  wo  die  Professur  für 
Geographie,  ebenso  wie  auch  die  für  Statistik, 
welche  beide  Disciplinen  doch  nach  der  Idee 
unserer  deutschen  Universitäten  recht  eigentlich 
diesen  zukommen,  wunderlicher  Weise  nicht 
mit  der  Universität  verbunden,  sondern  der  Po- 
lytechnischen Hochschule  zugetheilt  ist , eine 
Verkehrtheit,  deren  nachtheiligen  Einfluss  auf 
seine  wissenschaftliche  Wirksamkeit  Guthe  auch 
schon  während  seiner  kurzen  Lehrthätigkeit  in 
München  zu  erkennen  Gelegenheit  gehabt  hat, 
indem  er  in  seinen  Vorträgen  auf  die  Bildungs- 
stufe der  Polytechniker  sich  hatte  herablassen 
müssen  und  mag  es  wohl  nicht  überflüssig  sein, 
sein  Urtheil  über  diese  Einrichtung  so  wie 
einige  gelegentliche  Aeusserungen  über  seine 
wissenschaftlichen  Arbeiten  und  Pläne  in  Mün- 
chen zu  hören.  »Die  Verhältnisse,  schreibt  er 
mir  nach  Beendigung  seines  ersten  Semesters, 
sind  hier  sehr  eigentümlich.  Das  Polytechni- 
cum,  das  Schoosskind  der  Regierung,  rafft  alles 
an  sich  und  hat  so  auch  die  Bildung  der  Leh- 
rer an  den  Gewerb-  und  Realschulen  übernom- 
men, selbst  derjenigen  Lehrer,  welche  nur  in 
humanioribus  unterrichten.  So  haben  wir  also 
einen  Professor  der  Geschichte,  der  Geographie, 
der  Statistik,  der  deutschen  Literatur,  der  deut- 
schen Grammatik,  der  französischen,  der  engli- 
schen ! Ab  und  an  hört  auch  ein  Polytechniker, 
dem  eine  weitere  Ausbildung  am  Herzen  liegt, 
eines  dieser  Collegien.  Die  Universität  scheint 


Guthe,  Lehrbach  der  Geographie  etc.  587 

sich  dagegen  nicht  zu  wehren,  und  da  die  be- 
treffenden Fächer  bei  uns  gut  besetzt  sind  und 
das  Honorar  billiger  ist,  als  auf  der  Universi- 
tät, so  hören  bei  uns  viele  Studiosen  der  Uni- 
versität. Sie  können  sich  leicht  denken,  was 
für  Lehrer  wir  in  die  Welt  schicken,  Lehrer, 
die  nie  ein  philosophisches  Golleg  gehört  ha- 
ben.   Das  richtige  wäre,  die  polytechni- 

sche Schule  auf  ihren  eigentlichen  Zweck  zurück- 
zuführen  und  mich  und  meine  Genossen  an  die 
Universität  zu  setzen.  — — Wir  haben  hier 
auch  eine  geographische  Gesellschaft.  Sie  hält 
im  Liebigschen  Hörsale  Vorträge  für  ein  ge- 
mischtes Publikum:  Männer  und  Frauen,  Alte 
und  Junge  (ich  sah  Mädchen  von  12  Jahren) 
gebildete  und  ungebildete.  Ich  habe  zweien 
Sitzungen  beigewohnt.  Das  eine  mal  wurde  über 
Centralafrika  gesprochen.  — Leichter  Schaum. 
Das  andere  Mal  wurde  etwas  Darwinismus  zum 
Besten  gegeben.  — Versammlungen  von  Fach- 
männern, welche  wenigstens  daneben  existiren 
sollten,  kommen  nicht  vor.  — — So  viel  ist 
mir  klar,  dass  ich  hier  einen  sehr  dankbaren 
Boden  finde,  und  so  mag  denn  auch  mein  Le- 
bensschifilein hier  vor  Anker  liegen  bleiben. 
Nach  Berlin  sehne  ich  mich  nicht  im  minde- 
sten, und  andere  Universitäten  würden  mir 
wohl  nicht  die  Hülfsmittel  gewähren,  welche  ich 
hier  habe.  Mein  Buch  wird  in  3.  Auflage  in 
diesem  Herbst  erscheinen.  Ihre  freundliche  Re- 
cension desselben  hat  in  mir  den  Gedanken  ge- 
reift, neben  der  gewöhnlichen  Ausgabe  eine 
solche  mit  Anmerkungen  und  Erläuterungen 
herauszugeben.  Ich  würde  mich  bemühen,  darin 
eine  ausgewählte  Litteratur  zu  geben  und  alles 
so  zu  concentriren , wie  nur  irgend  möglich. 
An  diesem  Werke  würde  ich  aber  leicht  4—6 


588  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

Jahre  arbeiten  müssen,  obwohl  ich  den  Umfang 
des  Buches  nur  auf  das  2 — 3fache  des  jetzigen 
schätze«.  — 

Ueber  das  Lehrbuch  selbst  sei,  da  dasselbe 
in  der  angeführten  Anzeige  in  diesen  Bll.  schon 
eingehender  besprochen  worden  und  die  Ein- 
richtung in  dieser  neuen  Auflage  im  Ganzen 
unverändert  bleiben  musste,  hier  nur  noch  be- 
merkt, dass  im  Einzelnen  die  bessernde  Hand 
sich  wieder  vielfach  zeigt.  In  liebenswürdi- 
ger Weise  hat  der  Verf.  auch  die  nur  Einzel- 
heiten betreffenden  Bemerkungen  B.  Röslers  in 
dessen  übrigens  mehr  schulmeisterlichen  als 
wirklich  wissenschaftlich  eingehenden  Recension 
der  2.  Auflage  (Zeitschrift  für  die  Oesterreichi- 
schen  Gymnasien  1873.  S.  190  f.)  grösstentheils 
benutzt.  Dass  derselbe  aber  durch  R’s  vor- 
nehme Ermahnung  »in  einem  gläsernen  Hause 
sitzend  nicht  mit  Steinen  um  sich  zu  werfen«, 
weil  doch  der  »Hadsch«  nach  Jerusalem  nicht 
besser  sei,  als  der  nach  Mekka,  sich  nicht  hat 
imponiren  lassen  und  seine  Mittheilung  über 
die  Mekka- Wallfahrten  (wobei  übrigens  diese 
Wallfahrten  nicht  schlechthin,  wie  R.  citirt, 
sondern  »in  ihren  Einzelheiten«  läppischer  Irr- 
wahn genannt  werden,  was  doch  ein  grosser 
Unterschied  ist)  aus  der  vorigen  Auflage  ein- 
fach wiederholt  hat,  kann  ich  nur  ebenso  ent- 
schieden billigen,  als  dass  derselbe  auch  durch 
die  Verweisung  auf  Strauss  (Alter  und  Neuer 
Glaube)  sich  von  der  entschieden  theistischen 
Weltanschauung  nicht  hat  bekehren  lassen,  die 
er  in  seinem  Buche  wiederholt  offen  bekannt 
hat.  Guthe  war  auch  darin  ein  echter  Schüler 
Karl  Ritter’s,  der  ja  seine  Arbeit  an  der  Wis- 
senschaft geradezu  seinen  Lobgesang  Gottes  ge- 
nannt hat,  und  kann  ich  es  mir  nicht  versagen, 


Guthe,  Lehrbuch  der  Geographie  etc.  589 

dafür  in  dieser  dem  Andenken  Guthe’s  gewid- 
meten Anzeige  noch  ein  Zeugniss  aus  einem 
seine  wissenschaftliche  Thätigkeit  in  München 
eingehender  darlegenden  Briefe  mitzutheilen,  in 
welchem  er  auf  meine  Beileidsbezeugung  über 
die  ihm  auferlegte  häusliche  Heimsuchung  er- 
wiedert:  »Meine  schweren  Verluste  suche  ich 
herzhaft  zu  überwinden.  Wohl  mir,  dass  ich 
den  Tröstungen  der  Religion  zugänglich  bin. 
Arbeit,  Arbeit,  — das  ist  menschliche  Arznei; 
unzerstörbarer  Glauben  an  die  persönliche  Wie- 
dervereinigung mit  den  vorausgegangenen  ge- 
liebten Seelen,  das  ist  der  Trost  des  barmher- 
zigen Gottes,  der  mich  und  das  Häuflein  mei- 
ner Kleinen  nicht  verlassen  und  versäumen  wird«. 
— Manche  Geographen  werden  das  ohne  Zweifel 
als  altväterische  Beschränktheit  belächeln  oder 
bespötteln.  Gleichwohl  ist  es  gewiss,  dass  Kei- 
ner in  die  vergleichende  Erdkunde  Carl  Ritters 
wirklich  eindringen  wird,  der  nicht  auch  im 
Stande  ist,  die  inneren  Erfahrungen  eines  ern- 
sten, religiös-gläubigen  Gemüthes  zu  verstehen, 
in  welchen  die  geographische  Idee  Ritters  eine 
ihrer  tiefsten  Wurzeln  hat. 

Hoffen  wir,  dass  auch  das  Guthe’sche  Lehr-* 
buch  der  Geographie  nicht  verwaist  bleiben 
möge,  und  dass  sich  für  die  fortgesetzte  Er- 
neuerung desselben  ein  eben  so  berufener  Bear- 
beiter finden  werde,  wie  er  dem  ebenfalls  werth- 
vollen Daniel’schen  Lehrbuch  der  Geographie 
nach  dem  Tode  des  Verfassers  gewonnen  wor- 
den ist.  Wappäus. 


590  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

Studien  zum  Deutschen  Staatsrechte.  Von 
Dr.  Albert  Hänel.  Erste  Studie.  Die  ver- 
tragsmässigen  Elemente  der  Deutschen  Reichs- 
verfassung. Leipzig,  Verlag  von  H.  HässeL 
1873.  VHI  und  283  S.  in  8°. 

Unter  der  neuem  schon  sehr  zahlreichen  Li- 
teratur über  die  Grundlagen , die  rechtliche  Na- 
tur und  die  Organisation  der  Verfassung  des 
Norddeutschen  Bundes  und  des  jetzigen  Deut- 
schen Reichs  nimmt  die  obige  Schrift  nicht 
blos  durch  die  Wichtigkeit  der  behandelten 
Frage,  sondern  auch  durch  die  Gründlichkeit, 
Klarheit  und  Bündigkeit  der  Darstellung  eine 
hervorragende  Stelle  ein  und  berechtigt  zu  den 
besten  Erwartungen  für  die  vom  Verf.  damit 
begonnenen  Studien. 

Ohne  Zweifel  ist  es  eine  der  wichtigsten 
Fragen  für  die  gegenwärtige  politische  Gestal- 
tung Deutschlands,  ob  und  inwieweit  der  Ver- 
tragsbegriff und  dessen  Gonsequenzen  bei  der 
Lösung  der  verschiedenen  Probleme,  besonders 
in  Betreff  des  Verhältnisses  der  einzelnen  Bun- 
desstaaten zu  einander  und  zum  Reiche  und 
bei  der  Interpretation  der  Bestimmungen  der 
Verfassung  des  deutschen  Reichs,  oder  auch 
neben  resp.  über  derselben  auf  Geltung  An- 
spruch machen  können  und  es  lässt  sich  nicht 
verkennen,  dass  die  in  der  Wissenschaft  und 
Praxis  hervorgetretenen  politischen  Gegensätze 
sich  hauptsächlich  auf  die  Adoption  oder  Nega- 
tion der  Gonsequenzen  des  Vertragsbegriffs  zu- 
rückführen lassen,  wie  dies  z.  B.  besonders  bei 
der  Controverse  über  die  Verfassungs-Aende- 
rung  nach  Art.  78  der  Norddeutschen  Bundes- 
verfassung hervorgetreten  ist  und  sich  zum  Theil 
auch  gegenüber  der  jetzigen  Fassung  dieses  Ar- 


Hänel,  Studien  zum  Deutschen  Staatsrecht.  591 

tikels,  wie  er  in  Folge  der  Versailler  Verträge 
in  die  Verfassung  des  Deutschen  Reichs  über- 
tragen wurde,  noch  geltend  macht. 

Zu  welch’  heillosen  Verwirrungen  und  bluti- 
gen Zusammenstössen  die  Aufstellung  und  Ver- 
folgung der  starrsten  Gonsequenzen  der  Vertrags- 
theorie in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika geführt  hat,  ist  allgemein  bekannt. 
Nordamerika  bietet  uns  hier  ein  warnendes  Bei- 
spiel dar  und  insofern  ist  es  vollkommen  ge- 
rechtfertigt, wenn  der  Verf.  im  Ersten  Kapitel, 
welches  »Allgemeine  Erörterungen«  zum  Gegen- 
stand hat,  uns  in  eingehender  Schilderung  vor- 
führt, wie  die  Geister  der  Nullification  und  Se- 
cession mit  denen  der  staatlichen  Union  dort 
auf  einander  geplatzt  sind  und  des  Näheren 
erörtert,  welche  verschiedene  Phasen  der  politi- 
schen Entwickelung  in  der  Praxis  und  in  der 
Theorie  die  Sache  durchlaufen  hat.  Nur  darf 
dabei  nicht  unbemerkt  bleiben,  dass  doch  bei 
uns  in  Deutschland,  wo  selbst  dem  Deutschen 
Bunde,  — der  wirklich  nur  ein  Bund  fort- 
dauernd und  im  ganzen  Umfange  des  Begriffs 
souveräner  Staaten  war,  des  Character  der 
Unauflöslichkeit  mit  der  rechtlichen  Folge  der 
Unzulässigkeit  willkührlichen  Austritts  zuge- 
sprochen war  (Wiener  Schl.  A.  Art.  5),  — bis 
auf  die  neueren  Zeiten  auch  von  Seiten  der  am 
weitesten  gehenden  particularistischen  Opposi- 
tion, keine  Kentucky’schen  oder  Calhoun9 
sehen  Resolutionen  aufgestellt  worden  sind ; 
wenn  auch  darüber  gestritten  wurde  und  fort- 
hin gestritten  werden  wird,  inwieweit  bei  einem 
aus  einem  Bund  souveräner  Staaten  hervorge- 
gangenen, einheitlichen  Staats  wesen  die  Con- 
sequenzen  des  Vertragsbegriff  sich  geltend  zu 
machen  berechtigt  seien.  Erst  in  der  jüngsten 


592  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  19. 


Zeit  hat  sich  die  Theorie  dahin  verstiegen,  ver- 
möge einer  einseitigen  und  theilweise  rein  so- 
phistischen Ausbeutung  des  Staatsbegriffs,  den 
besonders  von  der  Deutschen  Wissenschaft  in 
seinem  Grund  und  Wesen  erkannten  und  con- 
struirten  Bundesstaat  für  einen  logischen 
Nonsens  zu  erklären  und  entweder  den  Glieder- 
staaten die  Souveränetät  ganz  abzusprechen, 
oder,  wie  es  von  Seydel  in  der  Zeitschrift  für 
die  gesammte  Staatsw.  Jahrg.  XXVIII.  1872. 
S.  185  f.  versucht  worden  ist , unter  Adoption 
der  amerikanischen , die  Gesammtstaatsgewalt 
ganz  negirenden,  Theorie  der  Secessionisten,  nur 
die  Einzelstaaten  als  souveräne  Volksge- 
meinschaften zu  betrachten,  welche  in  Beziehung 
auf  die  zur  Wahrnehmung  der  gemeinsamen 
Interessen  eingerichteten  Centralgewalt,  ohne 
staatsrechtliche  Subjection,  nur  m 
einem  internationalen  Verhältniss  stehen 
und  als  souveräne  Theilhaber  jener  s.  g. 
Gentralgewalt  sich  des  selbstständigen  und  freien 
Urtheils  über  die  Ausübung  derselben  und  über 
die  Innehaltung  der  nach  dem  Willen  jedes  Ein- 
zelnen sich  bestimmenden  Vollmachten  nicht 
begeben  haben  sollen. 

Die  Wissenschaft  ist  nicht  dazu  da,  um 
aus  sich  selbst  oder  aus  einem  selbst  ge- 
schaffenen Begriff  die  im  Leben  hervortreten- 
den Rechtsverhältnisse  der  Menschen  und  das 
für  sie  massgebende  Gesetz  zu  construiren, 
sondern  die  gegebenen  oder  geschichtlich  ent- 
wickelten Verhältnisse  menschlicher  Gemein- 
schaft in  ihrem  Grund  und  Wesen  zu  erfassen 
und  daraus  die  ihrer  Natur  entsprechenden  Re- 
geln zu  schöpfen,  oder  wie  schon  Paulus  in  L. 
1.  D.  de  reg.  jur.  so  wahr  und  richtig  sagt: 
»Non  ex  regula  jus  sumatur,  sed  ex  jure  quod 


Hänel,  Studies  zum  Deutschen  Staatsrechte.  593 

est,  regula  fiat«.  Es  heisst  daher  nach  unserer 
Ueberzeugung  von  vorne  herein  einen  Irrweg 
betreten,  wenn  man,  ausgehend  von  dem,  über- 
dies in  sehr  verschiedener  Weise  formulirten, 
Begriff  des  einfachen  Staats  mit  den  daraus 
gezogenen  Consequenzen  über  das  historisch  bei 
verschiedenen  Völkern  hervortretende  Verhält- 
niss  einer  staatsrechtlich  organisirten  Staaten- 
gemeinschaft zu  dessen  kurzer  und  präciser 
Bezeichnung  die  deutsche*)  Rechtssprache, 
im  Gegensatz  zum  einfachen  Staat  und  zum 
blosen  Staatenbund,  die  so  passende  Termino- 
logie »Bundesstaat«  allgemein  recipirt  hat,  — 
abzuurtheilen  unternimmt,  und  wir  können  lei- 
der auch  dem  Autor  der  vorliegenden  Studien 
nicht  ganz  den  Vorwurf  ersparen,  dass  er  den 
Irrweg  nicht  ganz  vermieden  hat;  wogegen  wir 
die  Hoffnung  hegen,  dass  in  der,  nach  der  be- 
reits vorliegenden  historischen  und  literarge- 
schichtüchen  Abtheilung  zu  den  besten  Erwar- 
tungen berechtigenden  Arbeit  von  Brie  über 
den  Bundesstaat  (Leipzig  1874)  dieser  Fehler 
vermieden  werden  wird.  Der  Bundesstaat  ist 
eben  ein  aus  Bund  und  Staat  zusammenge- 
setzter Begriff  und  es  ist  reine  Willkühr,  da- 
bei blos  mit  dem  Begriff  des  Staats  zu  ope- 
riren  und  den  damit  in  unzertrennlicher  Ver- 
bindung stehenden  Begriff  des  Bundes  ganz 
zu  ignoriren  oder  bei  Seite  zu  schieben. 

Doch  wir  wollen  hier  keine  neue  Abhand- 
lung über  den  Bundesstaat  liefern,  über  dessen 

*)  Ziemlich  entsprechend  würde  englisch  „confede- 
rated state  sein“;  wogegen  die  französische  Sprache  keinen 
Ausdruck  für  Bundesstaat  hat,  wie  auch  Tocqueville 
de  la  Democratic  en  Amerique  p.  189  sagt:  „le  mot 
nouveau  qui  doit  exprimer  la  nöuvelle  (?)  chose  n’existe 
point  encore“. 


38 


594  Gott  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 

Wesen  wir  uns  bereits  in  der  2ten  Auflage  des 
deutschen  Staats-  und  Bundesrechts  (1853) 
selbständig  und  unabhängig  von  der  bekannten 
Abhandlung  von  Waitz,  im  Resultate  aber  in 
ziemlicher  Uebereinstimmung  mit  letzterer,  wie 
wir  glauben,  klar  und  bündig  ausgesprochen 
haben.  Daran  halten  wir  im  Wesentlichen 
auch  gegenwärtig  noch  fest  und  Anden  den  Bun- 
desstaat in  mehr  oder  weniger  vollkommener 
Entwickelung  überall  gegeben,  wo  aus  dem  ver- 
tragsmässigen  Zusammenschluss  mehrerer  Staa- 
ten ein  dem  wesentlichsten  Moment  des  Staats- 
begriffs entsprechendes  Verhältniss  von  Herr- 
schaft und  Unterordnung,  mit  einer  in  ihrer 
Sphäre  selbstständigen  und  einheitlich  orga- 
nisirten  Gewalt  zur  Wahrnehmung  und  Verwal- 
tung der  für  gemeinsam  erklärten  Angelegen- 
heiten, unter  fortdauernder  politischer  Selbst- 
ständigkeit oder  Souveränetät  der  Gliederstaa- 
ten in  allen  übrigen  in  die  Sphäre  des  Staats 
überhaupt  möglicher  Weise  gehörigen  Angele- 
genheiten, — hervorgegangen  ist.  Demgemäss 
haben  wir  schon  dem  Norddeutschen 
Bunde,  obwohl  er  in  einigen  Beziehungen  auch 
innerhalb  der  durch  seine  Verfassung  geregelten 
Institutionen  auf  der  Linie  des  Staatenbundes 
stehen  blieb,  den  Character  des  Bundesstaats 
vindicirt  und  thun  dies  auch  in  Beziehung  auf 
das  jetzige  Deutsche  Reich,  trotzdem  nicht  alle 
Angelegenheiten  in  gleicher  Weise  gemeinsam 
für  Alle  sind  und  gewisse  Consequenzen  der 
blossen  Conföderation  in  den  Versailler  Verträ- 
gen noch  eine  stärkere  Ausprägung  erhalten 
haben , als  dies  beim  Norddeutschen  Bunde  der 
Fall  war.  Jedenfalls  wird  Niemand,  der  nicht 
vor  den  gegebenen  Zuständen  seine  Augen  ver- 
schliesst,  verkennen,  dass  das  jetzige  Deutsche 
Reich,  wenn  es  auch  von  der  staatsrechtlichen 


Hänel,  Studien  zum  Deutschen  Staatsrechte.  595 

Organisation  des  vormaligen  römischen  Seichs, 
das  man  um  Gotteswillen  nicht  zum  Urbild  oder 
Prototypus  des  Bundesstaats  machen  darf,  him- 
melweit verschieden  ist,  wie  schon  der  Nord- 
deutsche Bund  ein  ganz  anderes  Wesen  ist  und 
einen  ganz  andern  politischen  Character  hat, 
als  der  vormalige  Deutsche  Bund,  welcher  eben 
nur  ein  völkerrechtlicher  Verein  souveräner 
Staaten  war  und  sein  wollte. 

Mit  der  Beantwortung  der  »Vorfragen  über 
die  Natur  des  Vertrages  und  das  Wesen  des 
Bundesstaates«,  welche  der  Herr  Verf.  §.  3 S. 
31  f.  giebt,  kann  man  sich  im  Ganzen  wohl 
einverstanden  erklären,  wenn  derselbe  auch  im 
Einzelnen  nicht  völlig  das  Richtige  getroffen  zu 
haben  scheint,  zunächst  in  Betreff  des  Umfangs 
der  Geltung  des  Vertragsbegriffs  auf  den 
verschiedenen  Gebieten  des  Rechts.  Denn  wir 
müssen  entschieden  läugnen,  dass  dieselbe  über 
das  Gebiet  des  Privatrechts  hinausgreife,  wenn 
wir  auch  den  Vertrag  als  Entstehungsgrund 
von  Rechtsverhältnissen  nicht  auf  Begründung 
von  Rechtsverhältnissen  zwischen  Individuen 
oder  Corporationen  innerhalb  des  Staats 
beschränken  können,  sondern  auch  auf  die 
Willenseinigung  mehrerer  imabhängigen  Staa- 
ten beziehen  müssen,  wie  ja  auch  die  Geltung 
des  Vertrags  auf  völkerrechtlichem  Ge- 
biete nicht  dem  geringsten  Zweifel  unterliegt 
und  überall  zur  Anwendung  kommen  kann,  wo 
die  s.  g.  Paciscenten  sich  wirklich  nicht  blos 
selbstständig,  sondern  auch  mit  abgeschlossener 
eigener  Rechtssphäre  gegenüber  stehen  und 
sich  über  Etwas  einigen,  was  Bestandtheil  die- 
ser ihrer  eigenen  Rechtssphäre  ist  und  bezüg- 
lich dessen  sie  sich  auch  nach  der  s.  g.  Wil- 
lenseinigung als  selbstständige  Rechtssubjecte 
gegenüberstehen.  Schon  im  Deutsch.  Staats- 

38* 


596  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  19. 

und  Bundesrecht  (3ter  Aufl.)  §.  5 Note  3)  hat 
sich  der  Unterzeichnete  dahin  ausgesprochen, 
dass  für  das  entwickelte  Staatsrecht,  ins- 
besondere für  die  nothwendige  Einigung  des 
Willens  der  s.  g.  Factoren  der  Staatsgewalt  der 
Vertragsbegriff  durchaus  zurückzuweisen  sei ; 
womit  auch  der  Verf.  übereinstimmt.  Wir  müs- 
sen aber  auch  im  Gegensatz  zum  Verf.  (cf.  da- 
gegen schon  Deutsch.  St.  u.  Bundesrecht  Th.  I. 
§.  17)  entschieden  leugnen,  dass  der  Vertrag 
den  juristischen  Entstehungsgrund  für  den 
Staat  selbst  abgeben  könne,  insofern  dabei  an 
die  Begründung  des  Staats  im  Sinne  der  alten 
Vertragstheorie  von  H.  Groot,  Hobbes,  Locke, 
Pufendorf,  Rousseau  u.  s.  w.  gedacht  wird,  weil 
die  wesentlichen  Hoheitsrechte  des  Staats  gar 
nicht  in  der  Rechtssphäre  der  paciscirenden 
Individuen  existirten  und  mithin  auch  durch 
ihre  Willenseinigung  nicht  für  den  Staat  ge- 
schaffen oder  auf  diesen  übertragen  werden 
konnten.  — Anders  steht  aber  die  Sache  aller- 
dings, wie  wir  auch  dem  Verf.  zugeben  müssen, 
in  Betreff  der  juristischen  Begründung  des 
Bundesstaats  aurch  Vertrag,  für  welchen 
der  Letztere  in  der  That  der  einzige  mögliche 
rechtliche  Entstehungsgrund  ist,  und  wobei 
sich  auch  die  Bildung  der  Bundesstaatsgewalt 
durch  Verzicht  der  paciscirenden  Staaten  auf 
einen  Theil  ihrer  schon  begründeten  Souveräne- 
tätsrechte  und  Uebertragung  derselben  auf  die 
Centralgewalt,  im  Sinne  eines  unwiderrufllichen 
pactum  unionis  et  subjectionis,  sehr  wohl  den- 
ken und  erklären  lässt.  Innerhalb  der  hierdurch 
begründeten  und  begrenzten  und  durch  die 
adoptirte  Verfassung  regulirten  staatsrecht- 
lichen Subjections- Verhältnisses  findet  dann  aller- 
dings, dem  staatsrechtlichen  Princip  entspre- 
chend, der  Vertragsbegriff  keinen  Platz  mehr 


Hänel,  Stadien  zum  Deutschen  Staatsrechte.  597 

und  in  diesem  Sinne  rief  der  Unterzeichnete  im 
sog.  constituirenden  Reichstag  den,  auch  für  die 
Zukunft  auf  den  Vertrag  pochenden,  sächsischen 
Abgeordneten  in  der  15.  Sitzung  v.  19.  März 
1867  (Stenograph.  Berichte  S.  240)  zu,  doch  zu 
bedenken,  dass  der  Vertrag  da  aufhöre, 
wo  die  Verfassung  anfange.  Keineswegs 
sollte  und  konnte  aber  damit,  dem  Wesen  des 
Bundesstaats  widersprechend,  dem  Bundesven- 
trage  für  die  Zukunft  jede  Bedeutung  abge- 
sprochen werden,  insofern  ja  durch  ihn  die 
Sphäre  der  Bundesgewalt  den  Einzelstaaten 
gegenüber  abgegrenzt  und  eine  einseitige 
Ueberschreitung  derselben  als  eine  Verletzung 
des  vertragsmä8sig  constituirten  Rechts  signali- 
sirt  wird.  Demgemäss  wird  man  auch  daran 
festhalten  müssen,  dass  eine  Erweiterung  der 
Sphäre  der  Bundesgewalt,  welche  sich  nur  durch 
Verkürzung  oder  Einschränkung  der  Rechts- 
sphäre der  Einzelstaaten  vollziehen  kann,  an 
sich  eines  neuen  Vertrags  und  seiner  Bestäti- 
gung durch  diejenigen  Factoren  bedarf,  welche 
den  ursprünglichen  Bundesvertrag  sanctionirten, 
wenn  nicht  durch  die  auf  Grund  des  Bundes- 
vertrags adoptirte  Verfassung  eine  solche  Aen- 
derung  und  Erweiterung  derselben  auf  einem 
ganz  oder  mehr  staatsrechtlichen  Wege  in  un- 
zweideutiger Weise  anerkannt  ist  und  ein  Glei- 
ches muss  gelten  von  der  Erweiterung  des 
Bundes  selbst  durch  Aufnahme  neuer  Mit- 
glieder, wenn  nicht  auch  dafür  der  Weg  der 
bundesstaatlichen  Gesetzgebung  festgestellt  ist. 
Wir  halten  daher  auch  jetzt  noch  an  der  An- 
sicht fest,  welche  wir  in  der  Schrift:  »Die.  Ver- 
fassungs-Aenderung  nach  Art.  78  der  Nord- 
deutschen Bundesverfassung«  (Braunschw.  1869) 
ausführlich  begründet  haben,  dass  dieser  Art. 
78  nach  der  Natur  des  Bundesstaats  und  auf 


598  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 


Grund  der  Verhandlungen  des  constituirenden 
Beichstags  nur  auf  Verfassungsänderungen  in- 
nerhalb der  durch  den  Bundesvertrag  be- 
gründeten und  durch  die  Verfassung  regulirten 
Rechtssphäre  des  Nordd.  Bundes  bezogen  wer- 
den konnte  und  haben  auch  aus  den  hiergegen 
gerichteten  Ausführungen  des  Herrn  Verf.  über 
den  »Eingang«  der  Verfassung  S.  92  f.  und  die 
im  3ten  Abschn.  des  3ten  Kapitels  S.  145  f.  be- 
handelten »Verfassungsänderungen , insoweit 
die  Streitfrage  auf  den  Norddeutschen 
Bund  beschränkt  wird,  keine  andere  Ueberzeu- 
gung  gewinnen  können,  obwohl  wir  zugeben 
und  auch  bereits  in  der  Schrift:  »Zur  Frage 
von  der  Reichscompetenz«  etc.  (Braunschw. 
1871)  öffentlich  ausgesprochen  haben,  dass  die 
Sache  nach  Art.  78  der  Reichs  Verfassung  von 
1871,  nach  Maassgabe  der  Versailler  Verhand- 
lungen und  des  ganz  veränderten  Inhalts  des 
Art.  78,  jetzt  anders  steht. 

Damit  ist  denn  freilich  dem  über  die  ver- 
tragsmässige  Natur  des  Neuen  Deutschen  Bun- 
des zu  ventilirenden  Streit  in  einer  der  wichtig- 
sten Beziehungen  die  Spitze  abgebrochen,  ebenso 
wie  es  in  einer  andern  Beziehung  schon  für 
den  Norddeutschen  Bund  dadurch  geschehen 
war,  dass  man  in  Art.  79  seiner  Verfassung  die 
Regelung  des  Verhältnisses  zu  den  Süddeut- 
schen Staaten  und  die  Aufnahme  derselben  in 
den  Bund  auf  den  Weg  der  Bundesgesetzgebung 
verwiesen  hatte,  während  der  dem  Reichstag 
vorgelegte  Entwurf  der  verbündeten  Regierun- 
gen nur  von  einer  Regelung  durch  »den  Reichs- 
tag vorzulegende  Verträge«  sprach.  Es  war 
daher  auch  ganz  natürlich  und  der  Verfassung 
entsprechend,  dass  beim  Abschluss  der  Versailler 
Verträge  mit  den  einzelnen  süddeutschen  Staa- 
ten der  Norddeutsche  Bund,  vertreten  durch 


Hänel,  Stadien  zam  Deutschen  Staatsrechte.  599 

sein  Präsidium,  im  Ganzen  als  paciscirendes 
Subject  auftrat,  dass  für  ihn  der  Eintritt  der 
süddeutschen  Staaten  durch  verfassungsmässigen 
Beschluss  seines  Bundesraths  und  seines  Reichs- 
tags sanctionirt  wurde,  und  dass  in  dem  Ein- 
gang der  nunmehrigen  Reichsverfassung  der 
Norddeutsche  Bund  als  der  eine  der  vertrag- 
schliessenden  Theile  im  Ganzen  genannt  wurde. 
Damit  hat  aber  u.  E.  doch  nicht  in  jeder  an- 
dern Beziehung  der  Umstand  seine  Bedeutung 
verloren,  dass  auch  für  die  Staaten  des  Nord- 
deutschen Bundes  der  Vertrag  den  rechtli- 
chen Entstehungsgrund  des  Bundes  selbst  und 
seiner  Verfassung  bildet  und  wir  glauben  daher 
behaupten  zu  müssen,  dass,  wenn  und  insoweit 
es  sich  in  Zukunft  (was  aber  kaum  in  Frage 
kommen  wird),  um  eine  Erweiterung  der  Zwecke 
des  Bundes,  welcher  deu  Namen  Deutsches 
Reich  führt,  oder  um  Aufnahme  neuer  Mitglie- 
der (worüber  die  jetzige  Reichsverfassung  gar 
keine  Bestimmung  trifft),  handeln  sollte,  dies 
rechtlich  nur  auf  vertragsmässigem  Wege,  also 
mit  Zustimmung  sämmtlicher  Mitglieder,  würde 
geschehen  können,  einerlei,  ob  sie  schon  zu  den 
Mitgliedern  des  Norddeutschen  Bundes  gehörten 
oder  nicht,  wobei  wir  auch  dem  Umstand,  dass 
schon  über  der  sog.  Arenga  sich  die  Ueber- 
schrift  »Verfassung  des  Norddeutschen  Bundes« 
oder  jetzt  »Verfassung  des  Deutschen  Reichs« 
findet,  so  wenig  eine  Bedeutung  beizulegen  ver- 
mögen, als  dem  allgemeinen  Titel  eines  Buches 
für  den  wirklichen  Inhalt  desselben.  Demge- 
mäss ist  und  bleibt  auch  das  Verhältnis  der 
einzelnen  deutschen  Staaten  unter  sich  und 
zum  Ganzen  theils  ein  völkerrechtliches,  theils 
ein  staatsrechtliches;  nämlich  ein,  die  Anwen- 
dung des  Vertragsbegriffes  ausschliessendes, 
staatsrechtliches,  soweit  durch  Abschluss 


600  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  19. 


des  Bundes  und  die  daraus  hervorgegangene 
Verfassung  ein  dem  Staatsbegriff  entsprechendes 
Unions-  und  Subjectionsverhältniss  begründet  ist; 
ein  völkerrechtliches  dagegen,  was  nur 
durch  Vertrag  normirt  oder  abgeändert  werden 
kann,  soweit  sie  nebeneinander  und  zum  Gan- 
zen als  souveräne  Staaten  fortbestehen,  oder 
die  Verfassung  selbst  Etwas  der  vertragsmässi- 
gen  Regulirung  überweist. 

Aus  dem  Bisherigen  ergiebt  sich  zur  Genüge, 
in  wie  weit  wir  principiell  von  den  Ansichten 
des  Verf.  abweichen.  Auf  die  einzelnen  Aus- 
führungen des  Verf.,  die  in  vielfacher  Beziehung  I 
vortrefflich  und  überzeugend  sind,  näher  hier 
einzugehen,  verbieten  die  einer  Anzeige  in  die- 
sen Blättern  gesteckten  Grenzen,  und  nur  zur 
übersichtlichen  Darlegung  des  Inhaltes  der 
Schrift,  wollen  wir  noch  die  in  den  einzelnen 
Abschnitten  behandelten  Materien  hervorheben. 

Das  erste  Kapitel S.  1 f . liefert  »Allgemeine 
Erörterungen«  über  die  Ausbeutung  der  Ver- 
tragstheorie in  Nordamerika,  wovon  bereits  oben 
näher  die  Rede  war,  über  die  Stellung  der 
Frage  für  das  Deutsche  Reich  (S.  27  f.),  über 
das  Wesen  des  Vertrags  und  des  Bundesstaats 
S.  31  f.  und  nach  Feststellung  des  Status 
causae  et  controversiae  (S.  50  f.)  über  die 
Rechtspersönlichkeit  und  den  Staatsbegriff  im 
Bundesstaate. 

Das  zweite  Kapitel  (S.  68  f.)  behandelt 
die  Entstehung  des  Deutschen  Reichs. 

Im  dritten  Kapitel  werden  die  einzelnen 
Bestimmungen  der  Deutschen  Reichsverfassung 
(natürlich  nur  bezüglich  der  gestellten  Aufgabe?) 
einer  eingehenden  Betrachtung  unterzogen,  und 
zwar  im  1.  Abschnitt  (S.  92  f.)  der  Eingang 
der  Deutschen  Reichsverfassung;  im  2 ten  Abschn. 

(S.  104  f.)  die  Bezugnahmen  der  Deutschen 


Hänel,  Studien  zum  Deutschen  Staatsrechte.  601 

Reichsverfassung  auf  Verträge  in  den  Artikeln 
3.  50.  52  und  66  und  in  den  Schlussbestimmun- 
gen zum  XI.  und  XII.  Abschn.  der  Reichsver- 
fossung,  sowie  besonders  noch  im  Art.  40,  den 
Zollvereinsvertrag  von  1867  betr.  Im  3ten 
Abschn.  entwickelt  der  Verf.  (S.  145 — 224) 
seine  Ansichten  über  »Verfassungsänderungen« 
und  betrachtet  dabei  die  Bedeutung  der  Streit- 
frage überhaupt,  sowie  insbesondre  das  erste 
und  das  2te  Alinea  des  jetzigen  Art.  78, 
wobei  wir  besonders  auf  die  gründliche  (auch 
historische)  Ausführung  über  den  Begriff  und 
den  Umfang  der  »jura  singulorum,  aufmerksam 
machen,  womit  sich  auch  der  Unterz,  grössten- 
theils  einverstanden  erklären  kann. 

Das  vierte  Kapitel  (S.  225  f.)  behandelt 
die  Bedeutung  der  Proto co Ile  zu  den  Ver- 
fassungsverträgen und 

das  fünfte  oder  Schlusskapitel  stellt  »Er- 
gebniss  und  Folgerungen«  (S.  239  f.)  zusammen, 
womit  wir  uns  freilich  in  den  wesentlichsten 
Beziehungen,  namentlich  in  Betreff  des  s.  g. 
Aufgehens  der  Einzelstaaten  in  der  »Rechts- 
macht des  Gesammtstaats«  durchaus  nicht  ein- 
verstanden erklären  können  und  daran  festhal- 
ten  müssen,  dass  es  von  vorne  herein  nicht  in 
der  Staatsmacht  des  Reichs  enthalten  ist,  den 
Einzelstaaten  zu  zu  weisen,  was  sie  innerhalb 
des  Gesammtorganismus  für  Rechte  haben,  son- 
dern dass  ihnen  von  ihrer  Souveränetät  Alles 
verblieben  ist,  was  nicht  dem  bundesstaaat- 
lichen  Gesammtkörper  zugewiesen  wird,  wobei 
wir  besonders  wieder  die  ganz  einseitige  Aus- 
beutung des  Staatsbegriffs  für  den  Gesammt- 
staat  zurückweisen,  in  welcher  sich  zu  unserem 
Bedauern  auch  der  Herr  Verf.  ergeht,  obwohl 
wir  zugeben  müssen,  dass  nach  der  auch  von 
uns  jetzt  anerkannten  Bedeutung  des  Art.  78 


602  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stfick  19. 


fiber  Verfassungsänderung  der  rechtliche  »Schutz 
der  Staatenrechte wovon  der  Verf.  noch  S. 
252  f.  handelt  nur  ein  unvollkommener  ist  ge- 
gen die  mehr  und  mehr  sich  geltend  machende 
Tendenz,  Deutschland  aus  einem  Bundesstaat 
zu  einem  Einheitsstaat  zu  machen. 

Eine  dankenswerthe  Zugabe  bilden  schliess- 
lich die  beiden  Anhänge:  1.  Der  Preussische 
Entwurf  der  Norddeutschen  Bundesverfassung 
vom  15.  Decbr.  1866  im  Vergleich  mit  dem  dem 
Beichstag  des  Norddeutschen  Bundes  am  4. 
März  1867  vorgelegten  Verfassungsentwurfe  (S. 
207  f.)  — um  so  dankenswerther,  als  jener  Ent- 
wurf v.  15.  Decbr.  1866,  welchen  auch  der  Unter- 
zeichnete nur  in  einer  Abschrift  besitzt,  bis 
jetzt  im  Druck  nicht  veröffentlicht  worden  ist, 
weshalb  wohl  ein  vollständiger  Abdruck  dieses 
Entwurfs  mit  Angabe  der  Abweichungen  des 
andern  Entwurfs  noch  erwünschter  gewesen 
wäre;  und  2.  Die  Verfassung  der  conföde- 
rirten  Staaten  von  Amerika  im  Vergleich  mit 
der  Verfassung  der  vereinigten  Staaten  von 
Amerika  (S.  276  f.)  — H.  A.  Zachariä. 

Johann  Smidt.  Ein  Gedenkbuch  zur  Säcu- 
larfeier  seines  Geburtstages  herausgegeben  von 
der  historischen  Gesellschaft  des  Künstlervereins 
zu  Bremen.  Bremen  1873.  VIII  und  312  Sei- 
ten in  Octav. 

»Das  gegenwärtige  Gedenkbuch  mag  viel- 
leicht beitragen,  auch  in  weitern  Kreisen  die 
Erkenntniss  zu  erschliessen , dass  der  Name  Jo- 
hann Smidts  nicht  nur  der  Bremischen,  son- 
dern der  Deutschen  Geschichte  angehört«.  In- 
dem so  das  Vorwort  des  vorliegenden  Buches 
schliesst,  stellt  es  eine  Behauptung  hin,  fiber 
die  an  sich  freilich  wohl  nie  ein  Zweifel  hat 
sein  können,  die  aber  näher  begründet  und  er- 


Johann  Smidt. 


603 


lautert  zu  sehen,  nicht  blos  für  das  Andenken 
Smidts,  sondern  in  der  That  für  die  bessere 
Kenntnis  eines  Abschnitts  Deutscher  Geschichte 
selbst  von  Interesse  ist. 

Der  im  Jahre  1857  verstorbene  Bürgermei- 
ster Smidt  von  Bremen  war  einer  der  Männer, 
die  in  den  ersten,  für  das  Deutsche  Leben  viel- 
fach so  bewegten  und  wechselreichen , mehr 
schweren  als  erfreulichen  Decennien  unsers 
Jahrhunderts,  in  freilich  beschränktem,  aber 
bestimmtem,  und  doch  nicht  unbedeutendem 
Wirkungskreise,  in  Sachen  seiner  Vaterstadt 
und  in  Deutschen  Angelegenheiten  überhaupt 
eine  reiche  und  erspriessliche  Thätigkeit  entfal- 
teten: auch  noch  mancher  der  Mitlebenden 
wird,  wie  der  Unterzeichnete,  sich  mit  Vergnü- 
gen den  Eindruck  einer  bedeutenden  Persönlich- 
keit zurückrufen,  wie  man  ihn  auch  nur  bei  flüch- 
tiger Berührung  mit  demselben  in  den  späteren  Le- 
bensjahren gewann.  Hier  sind  es  Bilder  aus 
früheren  Tagen,  die  uns  geboten  werden,  keine 
vollständige  Lebensbeschreibung,  aber  Beiträge 
zu  der  Geschichte  seiner  Bildung  und  seiner 
Wirksamkeit  zu  verschiedenen  Zeiten  und  unter 
verschiedenen  Verhältnissen,  die  wohl  geeignet 
sind,  sein  Andenken  neu  zu  beleben  und  zu- 
gleich das  Verlangen  nach  weiteren  Mittheilun- 
gen aus  den  zu  Gebote  stehenden  Materialien, 
am  liebsten  wohl  einer  ausgeführten  Darstel- 
lung seiner  ganzen  politischen  Thätigkeit,  zu 
erregen.  Freilich  meint  die  Vorrede,  dass  der 
Zeitpunkt  kaum  gekommen,  um  eine  völlig 
freie  und  ^unbefangene  Würdigung  derselben 
zu  geben.  Doch  dürfte  dem  vielleicht  die  an- 
dere Rücksicht  gegenübertreten,  dass  auch  das 
Interesse  und  Verständnis  für  manche  Verhält- 
nisse , die  da  in  Betracht  kommen,  sich  irn 
Lauf  der  Jahre  mehr  verliert,  und  eine  spätere 


604  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  19. 


Zeit,  wenn  auch  mit  mehr  Unbefangenheit,  doch 
kaum  mit  mehr  Liebe  sich  mit  Smidt,  seinen 
Arbeiten  und  Schöpfungen  beschäftigen  wird. 
Und  hat  er  sich  in  der  späteren  Zeit  seines  Le- 
bens mit  manchem,  was  in  seiner  Heimath  und 
in  Deutschland  geschah  nicht  mehr  in  Einklang 
befunden,  mit  dem  was  die  veränderte  Zeit 
brachte  sich  nicht  recht  befreunden  können,  so 
wird  das  einer  gerechten  Würdigung  seiner 
grossen  Verdienste  und,  worauf  es  auch  wesent- 
lich ankommt,  der  Darlegung  seiner  Arbeiten 
und  weiteren  Mittheilungen  aus  seinen  Papieren 
kaum  irgend  hinderlich  sein. 

Aber  auch  das  hier  Gebotene  ist  gewiss  des 
Dankes  werth. 

Vorausgeschickt  ist  eine  Lebensskizze,  die 
Otto  Gildemeister  gleich  nach  dem  Tode  in 
Bremen  veröffentlichte  (S.  1—38),  und  in  der  in 
würdigster  Form,  mit  sicherem  Urtheil  und  fei- 
nem Takt,  das  Bild  des  Mannes  gezeichnet 
wird.  Daran  schliessen  sich  die  Ausführungen, 
die  ihn  in  ganz  verschiedenen  Verhältnissen  zei- 
gen und  jede  ihre  eigenthümliche  Bedeutung 
haben.  Smidt  als  Student,  Candidat  der  Theo- 
logie, Prediger  und  Professor  der  Philosophie, 
von  E.  H.  Meyer  (S.  39—87);  Das  erste  Jahr 
in  Frankfurt,  von  C.  Bulle  (S.  88 — 192);  Die 
Gründung  Bremerhavens,  von  W.  v.  Bi p pen 
(S.  193—253). 

Der  erste  Aufsatz  zeigt,  wie  Smidt  die  un- 
gewöhnliche geistige  Bildung  gewann,  die  ihn 
freilich  noch  nicht  zum  Staatsmann  machte, 
aber  sicher  dem  kleinstaatlichen  Diplomaten 
die  ungewöhnliche  Bedeutung  verschaffte,  die 
ihm  zutheil  ward:  er  führt  uns  in  die  Jahre 
des  Jenaer  Lebens,  wo  Fichte  der  begeisternde 
Lehrer  einer  empfänglichen  Jugend  war:  mit 
ihm  trat  Smidt  in  näheren  Verkehr  und  hielt 


Jobann  Smidt. 


605 


diesen  auch  später  aufrecht;  zu  dem  Freundes- 
kreis, in  dem  er  verkehrte,  gehörten  Berger, 
Koppen,  Herbart,  die  später  als  Lehrer  der 
Philosophie  thätig  gewesen  sind,  als  Smidt  sich 
längst  der  praktischen  Laufbahn  zugewandt 
hatte  und  aus  einem  Gandidaten  der  Theologie 
und  Lehrer  der  Weltweisheit  zum  Mitglied 
der  » Wittheit« , wie  der  Bremer  Rath  sich 
nannte,  geworden  war. 

Der  letzte  Aufsatz  von  Dr.  v.  Bippen  schil- 
dert ausführlich  und  actenmässig  das  Werk, 
durch  welches  sich  Smidt  in  seiner  Vaterstadt 
wohl  am  dauerndsten  sein  Andenken  gesichert 
hat,  die  Erwerbung  des  Hafenplatzes  an  der 
untern  Weser  und  Begründung  der  Stadt  Bre- 
merhaven, worauf  jetzt  nicht  am  wenigsten  die 
maritime  Bedeutung  Bremens  beruht.  Dass 
Smidt  es  vielen  abgünstigen  Urtheilen  in  der 
Vaterstadt  gegenüber  durchsetzte,  ist  ein  Zei- 
chen der  sicheren  Auffassung  der  in  Betracht 
kommenden  Verhältnisse  die  er  hatte;  dass  er 
in  Hannover  die  Abtretung  des  Gebietes  und 
der  Hoheitsrechte  durchsetzte  trotz  entschiede- 
ner Abneigung  des  Königs  und  des  leitenden 
Ministers  namentlich  gegen  das  letztere,  ein  Be- 
weis des  eigentümlichen  Geschicks,  das  er  bei 
allen  diplomatischen  Verhandlungen  bewies. 

Dies  hat  er  vor  allem  auch  in  den  Jahren 
1813 — 15  bewährt,  als  es  galt  die  von  Frank- 
reich vernichtete  Selbständigkeit  Bremens  und 
der  andern  Hansestädte  wiederzugewinnen  und 
zu  sichern;  und  eben  dadurch  hat  er  sich  im 
Hauptquartier  der  Verbündeten,  auf  dem  Con- 
gress zu  Wien  und  am  Bundestag  zu  Frankfurt 
einen  wesentlichen  Einfluss  verschafft.  Ueber 
die  Thätigkeit  in  Wien  wird  man  besonders 
gern  noch  weitere  Mitteilungen  erwarten.  Hier 
ist  es  der  Aufentalt  in  Frankfurt  von  Ende 


608  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stock  19. 

eipfache  Grösse  und  Schönheit  zu  würdigen  wissen. 
Von  den  sechszehn  Blättern  gehören  zu  Antigone 
und  Trachinierinnen  je  drei,  zu  den  übrigen  fünf 
Stücken  je  zwei.  Auf  die  Aehnlichkeit,  welche  die 
ganze  Art  der  Darstellung  mit  den  Zeichnungen  von 
Asmus  Carstens  hat,  macht  schon  Overbeck  in  sei- 
nem kurzen  Vorwort  aufmerksam  und  es  ist  kein 
geringes  Lob  für  die  lachmannschen  Blätter,  wenn 
mehrere  den  Vergleich  mit  den  schönsten  yon  Car- 
stens, z.  B.  den  Griechen  der  Vorlesung  der  home- 
rischen Gesänge  zuhörend,  der  Gesandtschaft  der 
Griechen  an  Achill,  nicht  zu  scheuen  brauchen. 
Einzelnes  ist  ja  freilich  auch  nicht  gelungen,  z.  B. 
ist  auf  2 das  Gesicht  des  Dieners  des  Teukros  miss- 
lungen und  Agamemnon  kann  nach  Teukros  Wor- 
ten nicht  mehr  zugegen  sein ; was  soll  die  auf  Teu- 
kros deutende  Handbewegung  des  Salaminiers 
rechts?  Auf  3 entspricht  der  Ausdruck  der  Freude, 
wie  er  in  dem  Gesicht  Klytämnestras  liegt,  nicht 
der  Situation:  die  Freude  des  bösen  Gewissens 
müsste  anders  erscheinen.  Auf  demselben  Blatt  ist 
das  Gesiebt  der  Dienerin  gleich  hinter  Klytämne- 
stra  verzeichnet. — Die  Einleitung  giebt  nach  einer 
kurzen  Uebersicht  über  Leben  und  Kunst  des  So- 
phokles eine  Analyse  der  sieben  Tragödien,  aus 
der  Bich  die  Stelle  ergiebt,  an  welche  jede  einzelne 
Zeichnung  gehört.  Ein  Versehen  istS.  3 z.E.  die 
Zahl  458 : Apsephion  war  468  Archon.  Uebergan- 
gen  ist,  dass  Sophokles  im  J.  443/42  Vorsitzender 
der  Hellenotamiae  war.  Was  der  Verf.  über  das 
Verhältniss  des  Dichters  zur  trilogischen  Kompo- 
sition bemerkt,  kann  nicht  genügen.  Doch  das  sind 
Einzelheiten,  die  den  anmuthigen  Eindruck,  den 
das  ganze  Buch  macht,  nicht  beeinträchtigen  kön- 
nen. Eine  hübsche  Zugabe  ist  die  Darstellung  des 
Sophokles  nach  der  lateranischen  Statue  auf  dem 
Titelblatt.  H S. 


609 


Göttingische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stack  20.  20.  Mai  1874. 


Zoological  Mythology  or  the  Legends 
of  Animals  by  Angelo  de  Gubernatis. 
In  2 yol.  London.  Triibner  & Co.  1872.  — 
XXV  und  432,  VII  und  442  SS.  gr.  8. 

Die  Thiere  in  der  indogermanischen 
Mythologie  von  Angelo  de  Gubernatis. 
Aus  dem  Englischen  übersetzt  von  M.  Hart- 
mann. Autorisirte,  mit  Verbesserungen  und 
Zusätzen  versehene  deutsche  Ausgabe.  I.  Hälfte. 
Leipzig,  Verlag  von  F.  W.  Grunow.  1874.  — 
XXIV  und  336  SS.  gr.  8. 

Das  vorangestellte  Werk  des  Herrn  von  Gu- 
bernatis (Professors  des  Sanskrit  und  der  ver- 
gleichenden Literatur  zu  Florenz)  ist  nur  inso- 
weit als  Originalausgabe  anzusehen,  als  es  un- 
mittelbar aus  dem  italiänischen  Ms.  des  Autors 
übertragen  ist,  wobei  indess  mehrfache  Versehen 
untergelaufen  zu  sein  scheinen.  Diese  zu  be- 
richtigen und  Einiges  hinzuzufügen  haben  sich 
der  Autor  und  Herr  M.  Hartmann  in  der  deut- 
schen Ausgabe  angelegen  sein  lassen,  und  auch 
von  Jenem  ist  eine  besondere  Vorrede  derselben 

39 


610  Gott.  gel.  Adz.  1874.  Stück  20. 

vorangeschickt.  Da  Herr  von  Gubem.  sich 
hier  in  sehr  höflicher  Weise  über  die  deutsche 
Literatur  und  Gelehrsamkeit  verbreitet,  so  will 
auch  Ref.,  der  schon  mehrfach  Gelegenheit 
fand*)  einige  Bedenken  gegen  die  herrschende 
mythologische  Methode  vorzutragen,  seine  Be- 
merkungen hier  in  möglichst  civile  Form  zu 
kleiden  versuchen. 

Herr  von  Gubem.  hat  sicher  nicht  Unrecht 
gethan  den  anfänglich  gewählten  Titel  »Mytho- 
logical Zoology«  noch  in  »Zoological  Mythology« 
umzusetzen,  denn  das  Werk  hat  mit  der  Mythen- 
forschung allerdings  Viel,  mit  der  Naturwissen- 
schaft der  Thiere  Wenig  zu  tbun.  Es  erhellt 
dies  schon  aus  der  deutschen  Vorrede  des  Herrn 
Verf.,  wo  es  S.  XX  oben  heisst:  »Mir  scheint 
die  beste  Grundlage  der  Poesie  die  Wissen- 
schaft, aber  auch  der  beste  Begleiter  der  Wis- 
senschaft die  Poesie  zu  sein,  die  ihr  als 
Vorläufer,  als  Fackel  dient«.  — Dass  in  al- 
ten Zeiten,  wo  es  eine  Wissenschaft  eigent- 
lich noch  nicht  gab,  die  Kunst  gewissermassen 
ihre  Stelle  vertreten  musste,  ist  bekannt;  aber 
heutzutage  dürften  nicht  bloss  die  Herrn  Natur- 
forscher Bedenken  tragen,  die  Fackel  der  Poesie 
als  Führerin  zur  wissenschaftlichen  Forschung 
zu  gebrauchen.  Ein  Künstler  mag  unbedenklich, 
wenn  er  es  sagen  darf,  seinem  Werke  vorschrei- 
ben: »Wahrheit  und  Dichtung«,  der  Gelehrte 
wird  sich  bescheiden  an  die  Worte  Bacons  er- 
innern müssen:  »Citius  ex  errore  veritas  emer- 
git  quam  ex  confusione«. 

Wir  freuen  uns  allerdings,  dass  die  Befürch- 
tungen , die  man  aus  einem  solchen  Standpunkt 

*)  Vgl.  Gr.  G.  A.  1872  S.  82  fg.,  Germania  (ed. 
Bartsch)  XVIII  S.  883  fg. 


de  Gubernatis,  Zoological  Mythology.  611 

des  Herrn  Verf.  von  vornherein  schöpfen  möchte, 
sich  nur  zum  Theil  bewahrheiten.  Es  ist  wol- 
thuend  bei  derLectöre  überall  auf  solide,  wenn 
auch  nicht  immer  ganz  zusammenhängende  und 
noch  weniger  klar  geordnete,  Studien  zu  treffen. 
Der  Herr  Verf.  zeigt  sich  nicht  bloss  als  gründ- 
lichen Kenner  der  ihm  zunächst  liegenden 
Sanskrit-Literatur,  sondern  auch  bei  den  Grie- 
chen und  Hörnern  wol  zu  Hause:  bez.  der  euro- 
päischen Volksliteratur  hat  er  schätzbare  Bei- 
träge namentlich  aus  seiner  italiänischen  Hei- 
mat und  aus  dem  reichen  Schatze  der  slavi- 
schen  Mährchenpoesie  herangezogen.  Wenn  hier 
und  da  doch  Irrthümer  oder  Missgriffe  — auch 
unabhängig  von  der  Methode  des  Herrn  Verf. 
— unterlaufen,  so  sind  wir  weit  davon  entfernt, 
die  Entschuldigung,  welche  in  der  deutschen 
Vorrede  S.  XXI  versucht  ist,  unsererseits  abzu- 
weisen, aber  auf  Einiges  möchten  wir  beiläufig 
aufmerksam  machen.  Es  ist  bekanntlich  nicht 
alles  Gold,  was  glänzt,  und  nicht  alles  my- 
thisch, was  in  der  poetischen  Behandlung 
eines  Mythos  ausgeführt  ist.  Der  Kindermord 
der  Medea  wurzelt  nicht  in  der  Volkssage*), 
Euripides  hat  hier  bekanntlich  willkührlich  den 
tragischen  Conflict  gesteigert,  und  dabei  viel- 
leicht die  Sage  vom  Mahle  des  Thyestes  copirt. 
Soviel  ist  klar,  dass  wir  diese  Medea  des  Euri- 
pides nicht  als  eine  Gestalt  der  griechischen 
Volkssage  aufiassen  und  also  schon  darum  nicht 
mit  der  kinderschlachtenden  Gudrun  in  der  Edda 
vergleichen  dürfen.  (D.  Ausg.  S.  174).  Auf 

*)  Nach  dieser  hat  Medea  vielmehr  ihre  Kinder  in 
den  Tempel  der  Here  Akraa  geflüchtet,  wo  sie  von  den 
Korinthern  umgebracht  wurden.  Nach  dem  gutbeglaubig- 
ten Zeugniss  der  Scboliasten  zu  V.  278  ist  dieser  Um- 
stand von  manchen  Neueren  mit  Recht  hervorgehoben 
worden. 


39* 


612  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

derselben  Seite  hat  sich  der  Herr  Verf.  durch 
Missverständnis  einer  Stelle  in  der  Edda  (Lo- 
kasenna  Str.  23)  die  Betrachtung  eines  inte- 
ressanten mythischen  Symbols  entzogen.  Nicht 
mit  dem  Melken  der  Kühe  war  Loki  acht  Win- 
ter beschäftigt,  sondern  die  Worte 

kyr  mölkandi  ok  kona 

bedeuten  nach  den  Erklärem  »eine  milchende 
(=  milchgebende)  Kuh  und  ein  Weib«  (warst 
du).  Diese  Erklärung  scheint  nach  dem  Zu- 
sammenhang allein  angemessen , noch  deutlicher 
spricht  das  folgende,  wol  mit  Unrecht  von  Eini- 
gen angefochtene  Verspaar  »Und  Du  hast  dort 
Kinder  geboren,  und  das  scheint  mir  von  arger 
Art«.  Somit  wird  hier  Loki  als  Gott  der 
Fruchtbarkeit  (vgl.  Weinhold  in  Haupts  Zeitschr. 
VH,  11.)  als  zeitweise  in  weiblicher,  receptiver 
Function  (während  der  acht  Wintermonate)  wir- 
kend aufgefasst:  ein  Umstand,  der  freilich  von 
dem  späteren  mythol.  Standpunct  aus,  den  die 
Lokasenna  vertritt,  einen  Grund  zu  schimpf- 
licher Nachrede  für  den  männlichen  Gott  abgiebt. 

Bei  der  Behandlung  des  Fuchses  (Chapter 
XII)  fehlt  es  an  einer  kritischen  Würdigung  der 
deutschen  Thiersage.  Wenn  auch  eine  Kennt- 
ni8S  der  gesammten  betr.  Literatur  von  einem 
Ausländer  nicht  erwartet  wird,  so  berührt  es 
doch  als  eine  störende  Lücke,  wenn  so  wichti- 
gen Fragen  leicht  aus  dem  Wege  gegangen 
wird.  Ehe  wir  darauf  genauer  eingehen,  möch- 
ten wir  noch  über  die  Anlage  des  Werkes  im 
Allgemeinen  den  Leser  zu  orientiren  suchen. 

Die  »Thiermythologie«  zerfällt  indreiTheile: 
I.  Die  Landthiere.  II.  Die  Thiere  der 
Luft.  HI.  Die  Wasserthiere.  Man  würde 
indess  irren,  wenn  daraus  auf  die  Zugrunde- 
legung eines  naturhistorischen  Princips  geschlos- 


de  Gubematis,  Zoological  Mythology.  613 

sen  werden  sollte : schon  der  Umstand , dass 
unter  den  Luftthieren  auch  der  Phoenix,  die 
Harpye  und  der  Greif  figuriren,  mahnt  daran, 
dass  man  sich  auf  mythischem  Boden  befindet. 
Herr  von  Gub.  sagt  in  der  engl.  Vorrede  (S. 
XV)  sogar  mit  dörren  Worten:  although  the 
first  book  bears  the  title  of  Animals  of  the 
Earth,  the  second  etc.  — there  is  but  one  ge- 
neral domain  in  which  all  the  animals  of  my- 
thology are  produced,  and  made  to  exact  their 
respective  parts.  This  domain  is  always  the 
heavens  etc.  — Welchen  Werth  hat  demnach  fur 
den  Herrn  Verf.  und  sein  Publikum  diese  drei- 
fache Eintheilnng?  Man  könnte  weiter  fragen, 
wie  kam  der  Verf.  überhaupt  zu  dem  Titel: 
Thiermythologie?  Es  ist  wahr,  dass  Viel  von 
Thieren  in  dem  Werk  die  Bede  ist,  aber  durchaus 
nicht  ausschliesslich,  ja  kaum  vorzugsweise;  denn 
abgesehen  von  dem  beschränkteren  Vorkommen 
der  Pflanzen  und  anorganischen  Körper  ist  von 
menschlichen  Helden  auch  sehr  viel,  am  meisten 
vielleicht  von  Erscheinungen  der  Atmosphäre 
gehandelt.  Man  wirft  mir  vielleicht  ein:  die 
Luftphänomene  werden  häufig  genug  ja  mit 
Thieren  verglichen!  — Aber  nur  so,  dass  auf 
das  t hierische  Wesen  dabei  entweder  gar 
Nichts  ankommt,  z.  B.  wenn  ich  eine  Wolke 
mit  dem  Haupt  eines  Wolfes  oder  Hundes,  aber 
ebenso  gut  auch  mit  dem  eines  wilden  Mannes 
oder  mit  irgend  einem  runden  Gefäss  in  mythi- 
scher Sprache  vergleiche  — oder  dass  das  my- 
thische Thier  nur  das  Geschöpf  mit  freier 
Willensäusserung  bezeichnet,  also  die  animali- 
sche Classe  mit  Einschluss  des  Menschen.  — 
Ganz  anders  sind  natürlich  Fälle  zu  beurthei- 
len,  wo  im  Opferritual  z.  B.  bestimmten  Gott- 
heiten nur  eine  bestimmte  Thierspecies  (wol 


614  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  20. 

gar  nur  von  bestimmtem  Alter,  Geschlecht, 
Aussehen)  dargebracht  werden  darf  — diese 
Fälle,  soviel  Interessantes  sie  auch  für  denMy- 
thologen  darbieten  mögen,  sind  doch  nicht  das 
eigentliche  Gebiet  des  Mythenforschers:  die  Ge- 
schichte der  heidnischen  Cultusformen  ist  eine 
nützliche,  ja  notwendige  Hilfswissenschaft  der 
Mythologie,  aber  nicht  diese  selbst,  ebensowenig 
wie  die  christliche  Archäologie*)  sich  mit  der 
Dogmatik  deckt.  Nur  der  Nichtbeachtung  die- 
ses Umstandes  glauben  wir  es  zuschreiben  zu 
dürfen,  wenn  Herr  von  Gub.  seine  gelehrte  my- 
thologische Arbeit  uns  in  der  etwas  abstrusen 
Form  einer  Thiermythologie  vorlegte.  Das 
Thier  als  solches  ist,  soweit  ich  sehe,  nie  Ge- 
genstand eines  wirklichen  Mythos  gewesen  **),  es 
dient  nur  dazu,  in  buntem  Wechsel  mit  andern 
Formen  des  organischen  wie  anorganischen  Le- 
bens die  höheren  Erscheinungen  der  Natur  der 
menschlichen  Auffassungskraft  durch  eine  Bil- 
derschrift zu  illustriren,  und  es  berührt  in  der 
That  sonderbar,  wenn  wir  in  einem  mythol. 
Werke  viele  Seiten  hindurch  von  den  Kämpfen 
und  Leiden  des  Sonnenhelden  gelesen  haben 
und  nun  uns  erinnern,  dass  wir  immer  noch  im 
Capitel  vom  »Rinde«  stehn!  Da  Herr  von  Gu- 
bernatis  so  ziemlich  das  ganze  Gebiet  der  indo- 
germanischen Mythologie  umspannt,  so  wäre  ein 
Eintheilungsprincip  wie  das  von  Mr.  Cox  in  sei- 
ner Aryan  Mythology  gewählte  wol  zweckmässi- 
ger gewesen:  es  würde  ebenso  wol  nur  den  Reiz 
der  Neuheit  für  sich  haben,  wenn  Jemand  bei 
Behandlung  der  allgemeinen  Literaturgeschichte 
die  geographischen  Bestimmungen,  an  welche 

*)  Das  Wort  hier  im  weiteren  Sinne  mit  Einschluss 
der  Antiquitäten. 

**)  Ich  komme  darauf  weiter  unten  zurück. 


de  Gubematis,  Zoological  Mythology.  615 

sich  die  einzelnen  Dichtnngen  anlehnen,  zum 
Eintheilungsprincip  erheben  und  z.  B.  Shake- 
speares Kaufmann  von  Venedig  nebst  Schillers 
Fiesco  der  italiänischen,  Byrons  Siege  of  Corinth 
der  griechisch-türkischen  Abtheilung  zuweisen 
wollte!  — Wenn  wir  also  die  Einteilung  des 
Werkes  verfehlt  und  den  Titel  unzweckmässig 
gewählt  finden,  indem  derselbe  — ohne  dass 
wir  darum  dem  Herrn  Verf.  den  Vorwurf  zu 
grosser  Bescheidenheit  machen  wollten  — zu 
Wenig  sagt,  so  möchte  umgekehrt  in  dem  Werke 
selbst,  wenn  nicht  zu  Viel  hineingezogen  wäre, 
mehr  geleistet  worden  sein.  Es  ist  bekanntlich 
Weise  der  vergleichenden  Mythologen  Alles  auf 
Erden,  in  der  Luft  und  im  Wasser  als  ihr  Ge- 
biet anzusehn,  was  nicht  durch  die  allerfestesten 
historischen  Dokumente  geschützt  ist.  Histori- 
sche Daten,  die  an  und  für  sich  nichts  Unwahr- 
scheinliches haben  (wie  die  Todesweise  Absa- 
lom’s, des  Sohnes  Davids)  werden  uns  gelegent- 
lich mythisch  erläutert  (I,  334  engl.  Ausg.)  — 
kaum  befremdet  die  schon  üblich  gewordene 
mythische  Interpretation  der  grossen  Epen,  nicht 
nur  der  indischen,  sondern  auch  derÖiade,  der 
Nibelungen  und  des  Rolandsliedes.  Zum  Glück 
könnte  man  sagen,  hat  der  geehrte  Herr  Ver- 
fasser, von  der  Ueberfülle  seines  Stoffes  fast  be- 
wältigt, nicht  Zeit  überall  die  Erklärung  in’s 
Einzelne  auszuführen  — hier  ist  anderen  noch 
Etwas  zu  thun  überlassen!  — Wir  unsererseits 
können  Allen,  die  der  mythischen  Deutung 
nur  da  ihr  Recht  einräumen,  wo  der  histori- 
schen Interpretation  so  zu  sagen  der  Athem 
ausgeht,  wir  können  ihnen  nur  das  Studium  der 
Karl ss age  und  ihrer  Dichtungen  empfehlen, 
um  das  Verhältnis  von  Geschichte  und  Dich- 


616  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

tung  in  der  Heldensage  überhaupt*)  etwas  kla- 
rer zu  fassen.  Wie  frei  scheint  hier  nicht  die 
Sage  zu  walten,  und  wie  leicht  scheint  es  auch 
hier  den  Mythologen,  den  »verdunkelten  Gott« 
und  den  ührigen  Apparat  ihrer  Wahrsagekunst 
anzubringen ! Und  doch  ist  hier  die  historische 
Erklärung  unmöglich  zu  beseitigen,  Und  das 
gründlichste  Werk,  was  wir  über  diesen  Gegen- 
stand haben,  die  Histoire  poetique  de  Charle- 
magne von  Gaston  Paris,  lässt  hier  jede  mythi- 
sche Deutung  als  Phantasterei  erscheinen ! 
(Vergl.  das  Referat  von  Bartsch  Germ.  XI, 
229).  Dieser  Umstand  dürfte  zur  Vorsicht  mah- 
nen auch  da,  wo  wir  denAntheil  der  Geschichte 
und  Sage  nicht  so  genau  abwiegen  können  wie 
bei  der  Earlssage  und  dem  Rolandslied.  — 
Während  für  den  zweiten  Theil  der  Nibelun- 
gen die  historische  Deutung  nie  ganz  verlassen, 
wenn  auch  vielfach  bestritten  wurde,  hat  man 
sich  die  entsprechende  Interpretation  des  ersten 
Theils,  wie  ich  glaube,  ohne  Not  verkümmert. 
Ohne  hier  näher  darauf  eintreten  zu  wollen, 
weise  ich  noch  darauf  hin,  wie  auch  bez.  der 
homerischen  Gedichte  allgemach  eine  mehr 
bedächtige  Beurtheilung  wieder  Platz  zu  neh- 
men beginnt.  Nachdem  hier  Wolfs  Prolegomena 
der  subjectiven  philologischen  Kritik  einen  viel- 
leicht nur  allzufreien  Tummelplatz  geschaffen 
hatten,  und  in  Folge  dessen  auch  eine  Alles 
in?s  Mythische  ziehende  Erklärungsweise  hier 
lange  Zeit  ein  leichtes  Spiel  zu  haben  glaubte, 
hat  es  zwar  nie  an  Verfechtern  des  altem 
Standpunktes  gefehlt,  aber  erst  in.  neuester  Zeit 
haben  sich  Stimmen  von  dem  bedeutendsten 

*)  Von  den  indischen  and  ferner  liegenden  Epen 
bitte  ich  vorläufig  indess  abzusehen. 


de  Gubernatis,  Zoological  Mythology.  617 

Gewicht,  wie  die  Th.  Bergks,  wieder  für  eine 
gewisse,  innere  Einheit  der  beiden  grossen  Epen 
und  für  die  historische  Geltung  des  Namens 
Homeros  entschieden*).  War  aber  der  Dichter 
eine  — wenn  auch  uns  immerhin  räthselhaft 
bleibende  — historische  Persönlichkeit,  so  lässt 
sich  auch  ein  fester  historischer  Hintergrund  für 
die  Ilias  und  Odyssee  gar  nicht  in  Abrede 
stellen. 

Indem  wir  uns  also  gegen  die  auch  in  der 
»Zoological  Mythology  € wiederholt  hervortretende 
willkührliche  Vermengung  der  auf  die  phanta- 
stisch-speculative  Betrachtung  der  Naturphäno- 
mene gegründeten  Göttersage  mit  der  bei 
allen  poetischen  Ausschmückungen  (die  ihrer- 
seits allerdings  manche  Aehnlichkeit**)  mit  dem 
äusseren  Apparat  der  Göttersage  zeigen  mögen) 
doch  in  der  Hauptsache  auf  reale  historische 
V erhältnisse  zurückzuführenden  Helden  sage 
verwahren  müssen,  nehmen  wir  gerne  Gelegen- 
heit, nach  einer  andern  Seite  hin,  bez.  der  Classe 
jener  weit  verbreiteten  Volkserzählungen,  Mähr- 
chen,  Schwänke  u.  s.  w.  dem  Herrn  Verf.  un- 
sern  Dank  nicht  nur  für  die  anziehende  Fülle 
bisher  wenig  bekannter  Formen  dieser  Gattung, 
die  er  uns  vorführt,  sondern  auch  für  den  Ver- 
such auszusprechen,  diesen  scheinbar  oft  schnur- 
renhaften Erzählungen  durch  mythologische  Deu- 

*)  Vergl.  Bergk  Griech.  Lit.  Gesch.  I.  S.  446  fg.  — 
Die  Existenz  von  Einzelliedem  wird  man  freilich  auch 
jetzt  nicht  bestreiten. 

**)  Aber  es  ist  sicher  ebensosehr  Sache  des  Gelehr- 
ten sich  durch  scheinbare  Aehnlichkeit  über  die  innere 
Grundverschiedenheit  nicht  täuschen  zu  lassen,  wie  es 
ihm  zusteht,  auch  da  Identität  anzunehmen,  wo  die  äusse- 
ren Formen  auseinandergehen.  Leichtes  Zusammenstel- 
len von  Aehnliohkeiten  bleibt  Düettantenarbeit. 


618  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

tung  — man  vergleiche  z.  B.  S.  66  der  deut- 
schen Ausg.  die  Behandlung  des  Mährchens 
vom  Blinden,  Buckligen  und  der  dreibrüstigen 
Prinzessin  aus  Paocat.  V,  12  — einen  tieferen 
Sinn  zu  leihen.  Wir  glauben  die  Behandlung 
dieser  Mährchen  als  den  anziehendsten  Thefl 
des  gelehrten  Werkes  überhaupt  bezeichnen  zu 
dürfen,  und  ohne  gerade  in  jedem  Falle  die  ge- 
gebene Erklärung  zu  unterschreiben,  im  Ganzen 
doch  beipflichten  zu  können. 

Man  wird  sich  allerdings  nicht  verhehlen, 
dass  zur  Zeit,  wo  diese  Mährchen  schriftlich 
fixirt  wurden,  die  ursprüngliche  Bedeutung  ver- 
gessen, und  das  Mährchen  nun  entweder  als 
Mährchen  im  heutigen  Sinne  oder  als  gnomi- 
sches  Beispiel  aufgefasst  wurde.  Gnomisch  be- 
trachtet würde  das  oben  angeführte  Mährchen 
etwa  denselben  Sinn  haben,  wie  die  bekannte 
Gellertsche  Fabel  mit  der  Moral:  »Vereint 
wirkt  also  dieses  Paar,  was  einzeln  keinem 
möglich  war«,  (ed.  Biedermann  S.  21). 

Dieser  Uebergang  aus  der  mythischen 
Naturdichtung  in  die  gnomische  Didaktik 
muss  sicher  sehr  früh  stattgefunden  haben,  ja 
man  darf  die  Frage  aufwerfen,  ob  es  überhaupt 
je  eine  Zeit  hat  geben  können,  wo  der  mensch- 
liche Geist  nur  in  die  Betrachtung  der  Natur- 
Phänomene  vertieft  von  der  prosaischen  wie 
poetischen  Macht  des  ihn  umgebenden  Men- 
schen lebens  vollkommen  abstrahiren  konnte. 
Mir  scheint  dies  kaum  denkbar:  selbst  in  der 
sogenannten  patriarchalischen  Zeit,  lange  bevor 
irgend  welche  Staatsform  den  Menschen  in  ein 
bestimmt  geregeltes  Verhältniss  zu  Mitbürgern 
und  Fremden  setzte , konnte  das  Menschenleben 
nicht  ohne  jedes  Ereigniss,  nicht  ohne  Phäno- 
mene bleiben,  die  der  Betrachtung  sich  ebenso 


de  Gubernatis,  Zoological  Mythology.  619 

scharf  aufprägen  mussten  und  ihr  doch  immer 
noch  näher  lagen,  als  die  Erscheinungen  der 
Natur  im  Wechsel  von  Tag  und  Nacht,  Jahres- 
zeiten u.  dergl.  Es  ist  daher  schon  bedenklich, 
die  auf  das  Menschenleben  gerichtete  Dichtung, 
mag  sie  nun  die  Heldenthaten  im  epischen 
Liede  feiern  oder  die  Vorkommnisse  des  All- 
tagsleben im  gnomischen  Spiegel  zeigen,  einer 
wesentlich  späteren  Zeit  zuzuweisen,  wie  die 
dem  Preise  der  Naturgötter  geweihten  Hymnen: 
noch  bedenklicher  aber  will  es  uns  scheinen, 
für  eine  Heldendichtung,  für  ein  Lehrgedicht 
überall  einen  mythischen,  ursprünglich  nur 
auf  das  Naturleben  bezüglichen  Zusammenhang 
anzunehmen.  Um  hier  nur  von  der  gnomi- 
schen Dichtung  zu  reden,  so  ist  uns  kaum 
eine  Zeit  denkbar,  wo  dieselbe  naturgemäss 
Bich  mehr  hätte  entfalten  können,  als  jene  Ur- 
zeit, wo  Sprichwort  und  Fabel  als  die  einzige 
Form  des  öffentlichen  Unterrichts  erscheinen 
mussten.  So  wie  wir  wissen,  dass  in  den  attischen 
Schulen  neben  Homer  namentlich  die  gnomische 
Poesie  als  Unterrichtsobjekt  gebraucht  wurde,  so 
wird  in  noch  früherer  Zeit,  wo  es  die  Schule 
als  besonderes  Institut  noch  nicht  gab,  neben 
der  gehobenen  poetischen  Rede  auch  eine  nüch- 
terne, die  Wirklichkeit  der  Welt  und  des  Le- 
bens möglichst  getreu  abspiegelnde  Diction  ge- 
geben haben.  Nur  darin  haben  Diejenigen, 
welche  von  einer  Alleingeltung  der  sog.  Natur- 
poesie in  jenen  Zeiten  zu  reden  lieben,  allen- 
falls Recht,  dass  die  Form  der  Belehrung  eine 
freiere,  naivere  war  als  späterhin,  wo  es  die 
Schule  einführte,  Moral  in  kurzen,  trockenen 
Sätzen  mehr  dem  Gedächtniss  als  dem  lebendi- 
gen Bewusstsein  einzuprägen.  Damals  ward  die 
Lehre  meist  noch  als  Beispiel  einer  einmal  ge- 


620  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 


schehenen  und  unter  ähnlichen  Umständen  im- 
mer wieder  möglichen  Handlung,  oder  noch  lie- 
ber unter  der  Hülle  eines  Bildes  eingeführt,  das 
durch  eine  kurze  Unterschrift  seine  Bedeutung 
auch  dem  minder  Scharfsinnigen  klar  darlegte. 
Derartige  Bilder  sind  unserer  Ansicht  nach  die- 
jenigen Thierfabeln,  welche  nicht  dem  my- 
thischen Kreise  zugewandt  sind.  In  der  my- 
thischen Dichtung  treten  uns  die  Thiere  wie 
eine  Art  Bilderschrift  entgegen,  um  die  Sprache 
der  Natur  annähernd  zu  fixiren,  in  der  gnomi- 
schen  Poesie  als  eine  ähnliche  für  die  kleineren 
Phänomene  des  Menschenlebens.  Wollte  man  also 
die  grossen  Ereignisse  in  der  Natur  als  Tragödie, 
als  erhabenes  Drama  bezeichnen,  so  würde  die 
Sphäre  der  gnomischen  Poesie  und  insonderheit 
der  Thierfabel  sich  als  niederes  Schauspiel  oder 
Komödie  ansehen  lassen,  und  dieser  Ansicht 
entspricht,  dass  schon  bei  den  Griechen*)  sich 
der  Ausspruch  findet:  XQV™ ‘V&Q  (sc.  vfi 

d Xwnsxt)  6 jffoumoq  dtaxorm  r£vnXsUrmv  vno- 
d'eöSwv,  di)ö7i€Q  r\  xofitodia  jaw.  — Der  Fuchs 
in  der  Thierfabel  wird  also  mit  dem  Davus  der 
neueren  attischen  Komödie  verglichen.  Bekannt- 
lich treten  aber  in  der  älteren  attischen  Komödie 
oft  genug  auch  Thiermasken  auf,  und  die  Carri- 
katur  bewahrt  bis  auf  den  heutigen  Tag  diese 
jetzt  freilich  oft  roh  erscheinende  Sitte,  Men- 
schen ganz  oder  halb  in  Thiergestalt  zu  zeigen, 
während  es  im  früheren  MA.  noch  ein  gelehrt- 
kirchliches Buch,  dessen  Quelle  in’s  griech.  Al- 
terthum hinabreichen  wird**),  den  Physiolo- 
gus  gab,  das  unbedenklich  die  Eigenschaften 

*)  Yergl.  Philostrat  imag.  1,  2 ed.  Jacobs.  (Grimm 
Reinhart  Fuchs  S.  XX). 

**)  Vergl.  H.  Hofimann  von  Fallersleben  Fundgr.  I, 
S.  16. 


de  Gubernatis , Zoological  Mythology.  621 

der  Thiere,  schienen  sie  gut,  auf  Christus,  schie- 
nen sie  übel,  auf  den  Teufel  zu  deuten  ver- 
suchte. Je  unbefangener  man  in  früherer  Zeit 
den  Thieren  gegenüberstand  — je  weniger  man 
ihre  thierische  Natur  sich  theoretisch  klar  zu 
machen  wusste  oder  versuchte,  um  so  leichter 
musste  man  sie  im  Spiel  der  Poesie  zu  einem 
Gleichniss,  zu  einer  Maske  für  den  Menschen, 
die  auch  nicht  immer  ein  Zerrbild  zu  geben 
brauchte,  anwenden*).  Dieser  Ansicht  sind 
freilich  die  neueren  Forscher  — so  einfach  sie 
scheinen  möchte  — gleichwol  entschieden  ab- 
hold gewesen,  und  es  wird  hohe  Zeit  für  mich, 
diese  abweichenden  Ansichten  näher  zu  kenn- 
zeichnen und  womöglich  zurückzuweisen. 

Es  war  zuerst  J.  Grimm,  der  gegenüber 
den  allerdings  übertriebenen,  z.  Th.  pedanti- 
schen Deutungsversuchen,  welche  an  die  Thier- 
sage und  Thierfabel  herantraten,  mit  geistvoller 
Kühnheit  die  Behauptung  aufstellte**),  die  Thier- 
sage bedeute  ursprünglich  weiter  Nichts  als  den 
Versuch  einer , epischen  Wiedergabe  des  wirkli- 
chen Thierlebens,  die  Thierfabel  beruhe  ur- 
sprünglich auf  diesem  einfachen  Verhältniss  der 
Anziehungskraft  des  naiven  Thierlebens  für  den 
menschlichen  Geist,  namentlich  im  Stadium  sei- 
ner Kindheit.  Alle  didaktischen  oder  satirischen 
Beziehungen  auf  das  Menschenleben  in  der  Thier- 
fabel sind  nach  Grimm  nur  Missverständnisse 

*)  Versuche  späterer  Zeit,  die  Thiere  so  als  maskirte 
Menschen  zu  gebrauchen  mussten  freilich,  weil  ihnen 
jene  Naivität  abging,  oft  verfehlt  erscheinen. 

**)  Reinhart  Fuchs  S.  V fg.  — Allerdings  erkennt 
Gr.  sehr  wol,  dass  die  Thiere  nicht  ganz  thierisch,  son- 
dern als  mit  Vernunft  begabt  dargestellt  werden,  aber 
in  diesem  letzteren  Moment  liegt  für  Ihn  nur  ein  naiver, 
poetischer  Reiz,  Nichts  weiter  (S.  VII). 


622  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  20. 

oder  Misdeutungen  des  ursprünglichen  Gehalts, 
der  unbefangenen  Abspiegelung  des  Thierlebens. 
Von  diesem  Standpuncte  aus  bestritt  Grimm 
nun  auch  ferner  den  Gedanken  einer  künstlichen 
Einführung  der  Thierdichtung  in  die  Literatur 
des  Abendlandes , insonderheit  Deutschlands ; 
aller  Anklänge  ungeachtet,  die  sich  zwischen 
dem  sog.  Aesop  nebst  den  andern  klassischen 
Autoren  und  unserer  Fabeldichtung  finden,  soll 
uns  die  Thiersage  ebenso  eigenthümlich  gehö- 
ren, als  unsere  deutsche  Heldensage,  und  diese 
Thiersage  soll  wieder  von  einem  deutschen 
Stamme,  den  Franken  ganz  eigenthümlich  aus- 
gebildet sein.  Bei  der  Autorität  des  Namens 
Grimm  hätte  es  kaum  der  patriotisch-nationalen 
Färbung  dieser  Ansicht  bedurft,  um  derselben 
— zumal  sie  durch  äussere  Zeugnisse  gestützt 
schien  — « einen  grossen  Anhang  zu  sichern, 
wenngleich  es  an  Widerspruch,  namentlich  von 
Seiten  des  unbestechlich  nüchternen  Gervinus 
nicht  fehlte,  darf  dieselbe  als  die  noch  heute 
im  Ganzen  bei  uns  herrschende  bezeichnet  wer- 
den. Wir  haben  dieser  Tage  in  einem  inte- 
ressanten Aufsatz  aus  der  Hinterlassenschaft  W. 
Wackernagels  (Kl.  Sehr.  H,  S.  234  fg.)  einen 
neuen  Versuch  erhalten,  bei  aller  Opposition  |im 
Einzelnen , in  der  Hauptsache  doch  Grimms 
Ansicht  über  die  Thiersage  zu  behaupten  und 
festzuhalten. 

Wenn  uns  also  Grimm  mit  seiner  wenn  auch 
gewagten  Auffassung  der  Thiersage  wenigstens 
auf  der  Erde  und  sogar  in  Deutschland  festhal- 
ten  will,  sind  wir  dagegen  in  dem  Buche,  mit 
dessen  Besprechung  wir  es  hier  zunächst  zu 
thun  haben,  natürlich  überall  auf  die  Lüfte  ver- 
wiesen. In  dem  Gap.  vom  Fuchs,  Schakal  und 
Wolf  (engl.  Ausg.  T.  H,  p.  121  sq.)  — und 


de  Gubematis , Zoological  Mythology.  623 

4 

diese  Tbiere  sind  ja  nach  Grimm  die  Haüpt- 
träger  der  Thiersage  — werden  wir  in  aller 
Kürz-e,  da  ja  schon  so  Viel  über  diesen  Gegen- 
stand geschrieben,  belehrt,  dass  der  mythische 
Fuchs  oder  Schakal,  wie  alle  mythischen  Thiere, 
einen  doppelten  Sinn  hat,  einmal  den  Abend 
bedeutet,  wenn  er  nämlich  den  Hahn  (d.  h.  die 
Sonne,  die  auch  sonst  als  Vogel  erscheint)  zu 
fassen  bekommt,  andrerseits  aber  den  Morgen, 
wenn  nämlich  der  Sonnenbahn  — wie  es  in  der 
Fabel  heisst  — wieder  aus  dem  Rachen  des 
Fuchses  fliegt.  Statt  Morgen  und  Abend  wäre 
es  genauer,  Morgen-  und  Abend-röthe  zu  sa- 
gen, denn  sein  rothes  Fell  trägt  der  Fuchs  na- 
türlich auch  in  der  Fabel  nicht  umsonst.  Wir 
sind  weit  entfernt  Herrn  von  Gubernatis  mit 
dem  trivialen  Einwand  zu  begegnen,  dass  wenn 
die  Sonne  auch  einmal  als  Vogel  erscheint, 
darum  noch  nicht  jeder  Vogel  eine  Sonne  zu 
sein  braucht,  oder  eine  im  Ernst  uns  vorge- 
tragene Ansicht  in  eine  niedrigere  Sphäre  zu 
ziehen ; wir  halten  die  Erklärung  des  Herrn 
von  Gubern.  für  möglich,  wenn  auch  allerdings 
sehr  unwahrscheinlich.  Aber  darin,  dass  über- 
haupt eine  Erklärung  und  Deutung  für  die  Fa- 
bel von  Fuchs  und  Hahn  gesucht  wird,  treten 
wir  dem  Herrn  Verf.  völlig  bei;  als  eine  blosse 
Anecdote  aus  dem  Thierleben  will  auch  uns 
dieselbe  schlechterdings  nicht  erscheinen. 

Wir  halten  für  diese  und  ähnliche  Fabeln 
die  gewöhnliche  didaktische  oder  besser  vielleicht 
gnomische  Deutung  bei,  und  meinen,  dass  hier 
ebenso  die  yvco[Atj  in  ein  leicht  verständliches 
Bild  aus  der  animalischen  Welt  gekleidet  ist, 
wie  in  den  mythischen  Gedichten  der  jiv&og. 
Man  wird  auch  zugeben  dürfen,  dass  so  wie  die 
Mythen  vorzugsweise  der  ältesten  Zeit  der 


624  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  20. 

Poesie  angehören,  und  die  Allegorien  späterer 
Zeit  meist  nicht  mit  Unrecht,  wenn  auch  viel- 
leicht mit  etwas  übertriebener  Schärfe,  das  fast 
beständige  Epitheton  »frostig«  in  unsern  Kriti- 
ken finden,"  ebenso  die  eigentlich  gno mische 
Dichtung  überwiegend  in  jenen  älteren  Zeiten 
blühen  konnte,  wo  es  der  Poesie  noch  oblag, 
auch  Führerin  auf  dem  Gebiete  der  Lebens- 
klugheit und  der  praktischen  Moral*)  zu  sein, 
während  allmählich  Philosophie,  Schule,  theo- 
retische und  praktische  Rechtspflege,  weiterhin 
die  christliche  Kirche  mit  ihren  über  das  Dies- 
seits hinausreichenden  ethischen  Lehrsätzen, 
und  endlich  jene  Mischung  aller  dieser  verschie- 
denen Elemente,  die  wir  Humanität  zu  nennen 
pflegen,  hier  die  Poesie  ebenso  ablösten,  wie  es 
nach  der  Seite  des  Erkennens  der  Aussenwelt 
und  der  Vergangenheit  die  physikalisch-mathe- 
matischen und  die  historischen  Wissenschaften 
gethan  haben.  Sind  wir  also  vollkommen  be- 
rechtigt, von  der  Poesie  jetzt  eine  direkt-mora- 
lische oder  gnomische  Richtung  nicht  mehr  zu 
verlangen,  so  wird  dadurch  die  Thatsache,  dass 
einst  die  Poesie  auch  nach  dieser  Seite  hin  le- 
bendig wirksam  war,  in  keiner  Weise  erschüt- 
tert. Parabeln  und  Fabeln  dienten  vorzugsweise 
dazu,  dieser  gnomischen  Aufgabe  der  älteren 
Poesie  zu  genügen:  aus  der  Verbindung  einzel- 
ner Fabeln  wurde  das  sog.  Thierepos,  wie  das 
Heldenepos  aus  der  Verschmelzung  und  künst- 
lerischen Verbindung  einzelner  Heldenlieder, 
und  unwillkührlich  trat  das  die  kleine,  wirkliche 
Welt  abspiegelnde  Thierepos  als  Travestie  oder 

*)  Diese  praktische  Moral  möchte  ich  allerdings 
nicht  so  scharf  von  der  reineren  Ethik  trennen,  wie  Ger- 
yinus  dies  für  nötig  fand. 


de  Gubernatis , Zoological  Mythology.  625 

doch  Parodie  neben  das  ideale  und  heroische 
Heldenepos. 

Dieser  Entwicklungsgang  lässt  sich  in  der 
orientalischen  Literatur,  die  es  freilich  zum 
Thierepos  nicht  gebracht  hat*),  wo  aber  die 
gnomische  Richtung  der  Thierfabel  heller  als 
sonst  zu  Tage  tritt,  nicht  bestreiten  — in  der 
griechischen  und  französisch-deutschen  Lit.  Gesch. 
durch  Beispiele  belegen.  Besonders  wertvoll  ist 
uns  die  Batrachomyomachie,  die  sollte  sie  auch 
mit  den  neuesten  Forschern  (Bernhardy,  Bergk) 
erst  in  die  Zeit  der  Perserkriege  hinabzusetzen 
sein,  immerhin  doch  das  älteste  Beispiel  eines 
Thierepos  verbleibt.  Hier  erkennt  man  deutlich 
in  der  Einleitung  eine  früher  selbständige  Fabel, 
deren  Sinn  auch  ziemlich  durchsichtig  ist;  der 
Schluss  scheint,  wie  auch  Bergk  bemerkt,  wie- 
derum auf  einer  Fabel  zu  beruhen,  das  Ganze 
hat  aber  in  dieser  nun  hergestellten  Verbin- 
dung offenbar  weniger  gnomischen  als  satirischen 
oder  parodischen  Zweck.  Grimm  kann  solchen 
bestimmten  Zeugnissen  nur  mit  derartigen 
Wendungen  begegnen,  wie  (S.  X)  »Nach  dem 
Character,  den  ich  der  Thierfabel  beigelegt 
habe,  versteht  es  sich  von  selbst,  dass  ihr  kein 
Hang  zur  Satire  beiwohnen  könne«  und  S.  XII: 
»Schwerer  zu  widerlegen  wird  die  ausgebreitete 
Ansicht  scheinen,  dass  mit  der  Fabel  wesentlich 
ein  didaktischer  Zweck  verbunden  sei,  dass  sie 
stets  eine  Lehre  verhülle.  ...  In  der  That  ist 
auch  schon  sehr  frühe  die  Thierfabel  unter  die- 
sen Gesichtspunct  gestellt  u.  s.  w.«.  Und  so 
wird  auch  von  Wackernagel  den  bestimmtesten 
historischen  Zeugnissen  entgegen  immer  ange- 

*)  Das  PaiScatantra  ist,  wenn  auch  nicht  in  poetische 
Fonn  eingefasst,  doch  ganz  ähnlich  ans  kleinen  Fabel- 
dementen  zusammengewebt,  wie  der  Reineke  Fuchs. 

40 


626  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

nommen,  dass  in  noch  früherer  Zeit  notwen- 
dig sich  die  Sache  doch  anders  verhalten  haben 
müsse!  Diese  Notwendigkeit  beruht  aber  ge- 
nauer betrachtet  wesentlich  auf  der,  kaum  hun- 
dert Jahre  alten,  wol  erst  von  den  Romantikern 
fester  begründeten  Theorie,  dass  Kunst  und 
Poesie  Selbstzweck  seien,  lediglich  auf  Gefühl 
und  Phantasie  beruhen  und  von  jeder  morali- 
schen Rücksicht  abzulösen  seien.  Diese  Theorie, 
mag  sie  nun  der  Aesthetiker  billigen  oder  nicht, 
mag  sie  der  Literarhistoriker  dazu  benutzen, 
die  Fabel  und  alle  Lehrdichtung  aus  dem  ent- 
gegengesetzten Grunde  als  nicht  rein  poetische 
Gattungen  hinzustellen,  aus  dem  einst  Platon 
alle  nicht  rein-moralische  Poesie  verbannt  wis- 
sen wollte,  so  darf  sie  doch  gewiss  nicht  dazu 
missbraucht  werden,  die  historische  Entwicke- 
lung, wie  sie  klar  und  bestimmt  vorliegt,  in  ein 
falsches  Licht  zu  versetzen.  Hält  man  eine 
didaktisch-gnomische  Poesie  für  unmöglich,  so 
streiche  man  einfach  die  Fabel  aus  den  Gattun- 
gen der  Poesie,  aber  suche  sie  nicht  auf  eine 
Weise  für  die  Poesie  zu  retten,  die  auf  mehr 
oder  weniger  geistreiche  Redensarten  hinauslauft. 
Seit  Grimm,  der  durch  die  künstlichen  Bilder, 
welche  er  R.  F.  S.  XIII  uns  vorführt,  die  Sache 
eben  nicht  klarer  gemacht  hat,  zumal  Wendun- 
gen wie  »das  zur  Moral  vergohrene  Getränke 
deutlich  den  subjectiven  Standpunct  zeigen,  ist 
es  so  zu  sagen  Mode  geworden,  die  Fabel  da- 
durch, dass  sie  allerdings  »lehrhaft«  aber  we- 
der aus  der  Lehre  entsprungen  sein,  noch  auf 
die  Lehre  als  ihr  Ziel  ausgehen  soll,  möglichst 
unschuldig  hinzustellen.  »Die  Fabel  ist  lehr- 
haft, aber  keine  Lehrdichtung«  sagt  man  auch 
wol.  Ist  die  Lehre  aber,  wie  man  zuzugeben 
scheint,  einmal  wesentlich  mit  der  Fabel  ver- 


de  Gubernatis , Zoological  Mythology.  627 

banden,  so  kann  sie  nar  entweder  Mittel  oder 
Zweck  sein.  Wäre  die  Lehre  Zweck,  würde  die 
poetische  Einkleidung  nur  das  Mittel  zu  diesem 
höchst  pedantischen  Zwecke  sein  können,  man 
muss  also  die  Sache  umkehren,  und  wird  die 
Lehre  vermutlich  als  Mittel  zur  Unterhaltung 
ansehen.  Einen  solchen , etwas  aufgeklärten, 
Standpunct  wird  man  sich  vielleicht  heutzutage, 
wo  wir  unsere  Belehrung  allerdings  nicht  mehr 
aus  Fabeln  zu  schöpfen  brauchen,  gestatten  dür- 
fen, aber  es  verräth  doch  deutlich  den  Ge- 
schmack einer  übersättigten  Cultur,  wenn  man, 
wie  W.  Wackernagel  (Kl.  Sehr.  II,  S.  243) 
schreibt  »man  fasste  die  Thiere  zu  dichterisch, 
zu  sehr  halb  göttlich,  halb  menschlich  auf,  um 
sie  in  so  prosaischer  Weise  nur  als  die  arm* 
seligen  Diener  bald  dieser,  bald  jener  Lehre 
verwenden  zu  können«.  Wie  dichterisch  man 
nun  aber  auch  damals  die  Thiere  auffasste,  so 
ist  doch  bekannt,  dass  man  sie  in  sehr  prosai- 
scher Weise  damals  wie  heute  mit  den  Zähnen 
zu  verzehren  pflegte,  und  intelligentere  Vertre- 
ter der  Thierheit,  z.  B.  der  Fuchs,  würden 
auch  in  jenen  poetischen  Zeiten  schwerlich  mehr 
Entrüstung  gezeigt  haben,  als  die  »armseligen 
Diener«  einer  doch  nur  für  das  simple  Men- 
schengeschlecht bestimmten  prosaischen  Lehre 
aufzutreten,  als  darüber,  sich  von  einem,  viel- 
leicht recht  poetisch  gestimmten  Jäger,  das  Fell 
über  die  Ohren  ziehen  zu  lassen. 

Die  Energie,  mit  welcher  seit  Grimm  der 
lehrhafte  Zweck  der  Fabel  und  der  ebenfalls 
gnomische  oder  satirische  des  Thierepos  be- 
kämpft wird,  zeigt  eben  wol  nur,  dass  diese 
jetzt  verpönte  Ansicht  eigentlich  ganz  auf  der 
Hand  liegt.  Verfolgt  man  historisch  die  Ge- 
schichte des  sog.  deutschen  Thierepos  vomlsen- 

40* 


628  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 


grimus  bis  zum  Reineke  Vos,  so  lässt  sieb  nir- 
gend ein  ganz  bestimmter  gnomischer  oder  sa- 
tirischer Grandzug  verkennen,  wenn  man  nicht 
eben  a priori  die  Sache  sich  anders  zu  Recht 
construirt  hat.  Unser,  theils  von  den  Alten, 
theils  von  den  westlichen  Nachbarn  entlehntes 
Thierepos  ist  ebenso  auf  die  bekannten  (äsopi- 
schen) Fabeln  vom  kranken  Löwen  und  die  an- 
dern bei  Grimm  S.  CCLXI  sq.)  besprochnen 
Stücke  zurückzuführen,  wie  die  Batrachomyo- 
machie  auf  die  (wol  nicht  mehr  erhaltene)  Fabel 
vom  Tode  der  Maus  und  die  andere  von  den 
Krebsen.  — Die  Abweichungen  die  sich  im 
Laufe  der  Zeit  ergeben  haben,  sind  nicht  grösser, 
wie  sie  sich  überall  sonst  bei  dem  Uebergang 
eines  poetischen  Stoffes  in  völlig  andere  äussere 
Umgebungen  zu  zeigen  pflegen.  Von  den  Zeug- 
nissen Grimms  für  den  einheimischen  Ursprung 
der  epischen  Thiersage  kenne  ich  nur  Eines, 
das  ins  Gewicht  fallen  könnte,  die  Variation 
einer  uns  auch  sonst  bekannten  Fabel*),  die 
sich  bei  Froumund  von  Tegernsee  (Grimm  R.  F. 
S.  L)  findet,  wo  der  Bär  an  Stelle  des  Löwen 
als  König  der  Thiere  bezeichnet  wird.  Grimm 
hat  in  diesem  Zuge  das  ältere,  echtere,  einhei- 
mische Wesen  erkennen  wollen,  ob  aber  mit 
Recht?  Will  man  dem  naheliegenden  Ge- 
danken, dass  Froumund  oder  die  Leute,  von 
denen  er  redet,  willkührlich  die  Bezeichnung 
der  Thiere  gewechselt  hätten,  zumal  darauf  bez. 
des  Sinnes  Nichts  ankam,  nicht  Raum  geben,  so 
bliebe  doch  die  Verbindung  dieses  ganz  verein- 
zelten, nach  Baiera  gehörigen  Zeugnisses  mit 
den  sonst  sicher  in  Franken  und  zwar  in  dem 
nördlichen  Westfrankenlande  nachweisbaren  An- 

*)  Vom  Löwen,  Hirsch  und  Fuchs.  — Die  Zeugnisse 
S.  bei  Grimm  R.  F.  S.  CCLXI. 


de  Gubernatis , Zoological  Mythology.  629 

fangen  der  mittelalterlichen  Thierepik  erst  zu 
erweisen.  Wenn  uns  dieselbe  Fabel,  die  Frou- 
mund  im  lOten  Jahrh.  in  scheinbar  mehr  hei- 
mischer Färbung  vorträgt,  bereits  im  7ten  von 
dem  fränkischen  Chronisten  Fredegar  in  einer 
den  klassischen  Mustern  getreueren  Form  vor- 
gefiihrt  wird*)  und  hier  bei  den  Franken  die 
Weiterbildung  zu  den  (zunächst  lateinischen) 
Thier epen  des  MA.  sich  zeigt**),  so  ist  die 
Wahrscheinlichkeit  einer  wirklich  nationalen 
Thiersage  bei  uns  doch  wenig  gesichert.  Noch 
gewagter  aber  erscheint  es,  den  didaktischen 
Zweck  und  die  praktische  Richtung  dieser  (sei 
es  nun  deutschen,  sei  es  klassischen)  Thierfabeln 
irgend  bestreiten  zu  wollen,  die  Art  und  Weise, 
in  welcher  die  Chronisten  uns  diese  Fabeln  vor- 
tragen, lässt  darüber  kaum  einen  Zweifel.  Dass 
gelegentlich  auch  aus  anderen,  rein  epischen 
Gedichten,  z.  B.  den  Nibelungen,  eine  Lehre 
gezogen  wurde,  kann  nicht  mit  Wackernagel 
dazu  benutzt  werden,  um  die  durchgehende  sei 
es  moralische  sei  es  satirische  Verwendung  der 
Thierfabel  eben  auch  als  eine  rein  zufällige  hin- 
zustellen. 

Wie  auf  anderen  Gebieten  so  haben  auch 
bez.  der  Thierfabel  die  Franzosen  den  Völkern 
des  MA.  die  Schätze  der  alten  Welt  vermittelt. 
Indem  wir  dies  glauben  anerkennen  zu  müssen, 
können  wir  dies  Lob  in  der  Weise  beschränken, 
dass  die  Thierfabel,  namentlich  die  höhere,  epi- 
sche Gattung  erst  in  den  Niederlanden  ihre 
glücklichste  Ausbildung  gefunden  hat.  Hier 
kam  man  dazu  das  Thierleben  mit  jener  ge- 
mütlichen Naivität  aufzufassen,  welche  die  nie- 

*)  Vgl.  Reinke  de  Vos  ed.  K.  Schröder  S.  V.  — 

**)  Vgi.  auch  Wackernagel  Lit.  Gesch.  § 68  N.  2. 


630  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  20. 

derländische  Schule  bekanntlich  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Malerei  auszeichnet.  So  wie  es 
einem  oberflächlichen  Freunde  und  dilettanti- 
schen Kenner  der  Malerei  nun  wol  einfallen 
könnte,  jene  einfachen,  naiven  Stillleben,  jene 
gemütvollen  Landschaften  als  die  einfachsten 
und  darum  auch  ersten  Sujets  der  Malerei  über- 
haupt sich  vorzustellen  — während  doch  in 
Wahrheit  mit  den  Landschaften,  Thieren,  Blu- 
men, Wolken  u.  s.  w.  die  Malerei  eher  aufge- 
hört als  den  Anfang  gemacht  hat  — so  konnte 
es  wol  auch  den  grössten  Forschern  begegnen, 
dass  sie  das  Zufällige  einmal  für  das  Wesent- 
liche, das  Beiwerk  für  die  Hauptsache  ansahen. 
Wie  sehr  wenig  es  in  der  Thierdichtung  darauf 
ankommt,  getreu  das  Naturell  der  einzelnen 
Thiere  wiederzugeben,  zeigt  uns  noch  im  nd. 
Reineke  Vos  König  Nobel;  von  den  wirklichen, 
selbst  edlen  Eigenschaften  des  Löwen  tritt  uns 
hier  viel  weniger  entgegen,  als  von  allen  den 
Schwachheiten  und  Launen,  welche  an  zugleich 
schwächlichen  und  despotischen  menschlichen 
Fürsten  sich  bemerken  lassen,  und  den  mensch- 
lichen König,  nicht  den  Thierfürsten  soll  uns 
der  Löwe  schildern.  Allerdings  zeigen  daneben 
Bär,  Wolf  und  Fuchs  einige  Züge,  die  zunächst 
wenigstens  auf  ihrer  thierischen  Natur  beruhen, 
aber  man  würde  wol  irren,  wenn  man  hierin 
mehr  als  eine  äusserliche  Ausschmückung,  eine 
Sache  des  Colorits  sehen  wollte,  und  auch  hier 
ist  ein  Hinweis  auf  menschliche  Verhältnisse 
kaum  zu  verkennen. 

So  wenig  sonst  ein  verständiger  Dichter  sein 
Hauptaugenmerk  auf  die  Treue  des  historischen 
Colorits  richten  wird  — wie  geringes  Gewicht 
hat  z.  B.  noch  Shakespeare  in  seinen  antiken 
Stoffen  darauf  gelegt  — ebensowenig  konnte 


de  Gubernatis,  Zoological  Mythology.  631 

es  die  Meinung  der  alten  Fabeldichter  und  Re- 
daktoren sein,  ein  getreues  zoologisches  Bild 
der  einzelnen  Thiere  geben  zu  wollen.  Nur 
einer  leichten  Anlehnung  an  die  wirkliche  Na- 
tur bedurfte  es,  um  die  poetische  Illusion  des 
Hörers  zu  ermöglichen.  Dass  den  Fischen  z.  B. 
ein  besonderer,  sogar  allzugrosser  Grad  von 
Klugheit  eigne,  wird  sich  aus  der  Naturge- 
schichte schwerlich  erweisen  lassen,  und  doch 
gefallt  uns  die  Geschichte  von  den  allzuklugen 
Fischen  im  Pancatantra  (V,  6)  so  wol,  weil  hier 
die  leichte  körperliche  Beweglichkeit  dieser  Ge- 
schöpfe recht  glücklich  als  ein  Analogon  jener 
fast  sorglosen  Elasticität  des  Geistes  aufge- 
fasst ist,  die  Schwierigkeiten  und  Gefahren  nur 
immer  durch  eine  leichte  Wendung  glaubt  ent- 
gehen zu  können.  — Und  mag  der  Schakal  in 
Wirklichkeit  eher  das  Gegentheil  von  Klugheit 
besitzen,  so  konnte  er  doch,  wegen  seines 
schleichenden,  scheuen  Auftretens  mit  den  Mi- 
nistern despotischer  Fürsten  vergleichbar,  nun 
unbedenklich  in  der  Fabel  alle  jene  praktische 
Schlauheit  an  den  Tag  legen,  welche  egoisti- 
schen Fürstendienern  zu  Zeiten  eignen  mag. 

Wir  haben  durch  diese  gelegentlichen  Be- 
merkungen der  historischen  Erklärung  der  Thier- 
sage wieder  zu  ihrem  Rechte  zu  helfen  ver- 
sucht; an  den  wirklich  mythischen  Elementen 
denken  wir  uns  natürlich  nicht  zu  vergreifen. 
Wenn  der  geehrte  Herr  Verfasser,  der  mit  Recht 
mehrfach  über  die  zu  weite  Fülle  seines  Stoffes 
Klage  führt,  seinerseits  sich  auf  die  natürlichen 
Gränzen  seiner  »zoologischen  Mythologie«  oder, 
wie  man  vielleicht  eben  so  gut  sagen  könnte 
»mythischen  Meteorologie«  beschränkt  hätte,  so 
möchte  die  Anerkennung  seines  geistvollen  und 
gelehrten  Werkes  von  Seiten  der  Kritik  wol 


632  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

eine  wärmere  gewesen  sein.  Haben  doch  auch 
Beurtheiler,  die  auf  einem  besseren  Fasse  mit 
der  vergleichenden  Mythologie  stehen,  als  Ref. 
sich  rühmen  darf,  ihre  Zustimmung  nur  in  et- 
was reservirter  Form  gegeben. 

E.  Wilken. 


I regesti  de9  Romani  pontefici  dalP  anno 
1198  all*  anno  1304  per  Augusto  Potthast 
Opera  premiata  dall’  accademia  letteraria  di 
Berlino.  Osservazioni  storico-critiche  delT  Ab- 
bate Pietro  Press utti.  Roma,  Tipografia 
cattolica.  1874.  133  p.  8°. 

Die  in  diesen  Blättern  1873  S.  1705  ausge- 
sprochene Besorgniss,  dass  die  Mangelhaftigkeit 
der  Potthast’schen  Regesta  pontificum  unseren 
Nachbarn  Anlass  geben  möchte,  deutsche  Gei- 
stesarbeit überhaupt  zu  verdächtigen,  hat  sich 
nur  allzuschnell  erfüllt.  Je  heftiger  jene  Kreise 
in  Rom,  zu  denen  der  Verfasser  der  vorliegen- 
den Polemik  offenbar  gehört,  darüber  erbittert 
waren,  dass  die  Kapitale  des  Ketzerthums  auch 
in  der  neuesten  Zeit  sich  den  Ruhm  nicht  rau- 
ben lassen  wollte,  für  die  Geschichte  des  mit- 
telalterlichen Papstthums  mehr  gethan  zu  ha- 
ben, als  selbst  die  römischen  Verehrer  und 
Vertreter  desselben,  um  so  grösser  war  dort 
die  Freude  , über  die  Entdeckung,  dass  die  Ber- 
liner Arbeit  in  vielen  Beziehungen  zu  gerechten 
Ausstellungen  Raum  giebt.  Man  muss  nur  bei 
Pressutti  nachlesen,  wie  er  in  den  allerhöflich- 
sten Formen  dem  »professore  Berlinese«,  der 
sich  ihm  auch  zuweilen  in  einen  »direttore  della 


Pressutti,  I regesti  de’  Romani  pontefid.  633 

biblioteca  regia  di  Berlino«  verwandelt,  seine 
Fehler  vorrechnet,  nnd  man  wird  die  Genüg* 
thüung  heransfühlen,  dass  eine  so  gute  Gelegen-* 
heit  sich  dargeboten  hat,  welche  der  stolzen 
protestantischen  Gelehrsamkeit  einen  empfind-* 
liehen  Schlag  zu  versetzen  gestattete.  Diese 
Befriedigung  würde  ohne  Zweifel  etwas  wenige? 
sichtbar  geworden  sein,  wenn  Herr  Pressutti  ge- 
wusst hätte,  dass  man  auch  bei  uns  keineswegs 
gemeint  ist,  die  Arbeit  des  »professore  Beni- 
nese« als  mustergültig  hinzustellen,  und  dass 
man  auch  bei  uns  sehr  wohl  weiss,  wie  weit  sie 
hinter  dem  von  Pressutti  anerkannten  Vorbilde 
Jaffe’8  »ebreo  di  religione«  zurückbleibt.  Es 
ist  also  der  gegen  Deutschland  beabsichtigte 
Schlag  ziemlich  in  die  Luft  gegangen.  Indessen 
weder  jene  feindliche  Absicht  noch  die  kund* 
gegebene  grausame  Hoffnung,  dass  dem  Kaiser* 
thume  der  Zollern  ein  gleiches  Ende  wie  dem 
staufischen  beschieden  sein  werde,  noch  der 
Hohn,  dass  die  Berliner  Akademie  selbst  die 
Beweise  für  den  stets  unvermeidlichen  Sieg  der 
Kirche  beizubringen  bemüht  gewesen  sei  (p.  13 : 
tali  considerazioni  sono  di  molta  opportunitä 
in  quest9  epoca,  la  quale  ha  senza  dubio  mölti 
riscontri  con  la  prima  metä  del  secolo  XHI;  ö 
dobbiamo  perciö  saperne  molto  grato  al  sig. 
Potthast,  che  e andato  raccogliendone  le  prove, 
nonche  all9  Accademia  Berlinese , che  ne  e stata 
la  promotrice),  noch  aüch  die  sehr  verständli- 
chen Seitenblicke  auf  »la  protervia  degli  eretici 
e la  crudeltä  del  carnefice«  dürfen  uns  von  der 
unumwundenen  Anerkennung  abhalten,  dass  Herr 
Pressutti,  insoweit  er  bei  der  Sache  bleibt,  mit 
seiner  Kritik  der  Regesta  pont.  im  Allgemeinen 
Recht  hat  und  dass  die  von  ihm  gerügten  Un- 
genauigkeitCn  und  Flüchtigkeiten  in  der  That 


634  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 


vorhanden  sind.  Am  schwersten  wird  da  wohl 
der  Vorwurf  wiegen,  dass  nicht  einmal  das  aller- 
nächstliegende Werk,  die  Annales  ecclesiastici, 
gründlich  ausgebeutet  worden  ist,  z.  B.  für  das 
erste  Jahr  des  Honorius  III.  1216 — 1217  bringt 
Press,  p.  23.  24  aus  denselben  überraschend 
viele  Nachträge. 

Seine  Ergänzungen  und  Verbesserungen  be- 
ziehen sich  überhaupt  hauptsächlich  auf  dies 
eine  Jahr.  Die  Nachträge  zu  den  Regesten  In- 
nocenz  III.  sind  wenig  zahlreich  und  theils  so 
entlegenen  Drucken  entnommen,  dass  aus  dem 
Uebersehen  solcher  kaum  gegen  Potthast  ein 
ernstlicher  Vorwurf  wird  erhoben  werden  dür- 
fen, theils  aber  aus  Handschriften,  deren  Be- 
nutzung ja  so  wie  so  nicht  im  Plane  des  Heraus- 
gebers der  Reg.  pont.  lag  und  liegen  konnte. 
Eben  dies  bat  Pressutti  vollständig  verkannt, 
dass  die  dem  Letzteren  gestellte  Aufgabe  sich 
einzig  und  allein  darauf  beschränkte,  Alles  zu 
verzeichnen,  was  von  päpstlichen  Urkunden  der 
betreffenden  Zeit  sei  es  im  Wortlaute  gedruckt, 
sei  es  in  Regestenform  schon  vorlag.  Alles, 
was  darüber  hinausgeht,  mag  ja  ganz  wünschens- 
werth  sein,  darf  aber  von  Potthast  nicht  ver- 
langt werden.  Pressutti’s  Angriffe  sind  daher, 
soweit  sie  sich  auf  die  Nichtbenutzung  hand- 
schriftlicher Quellen  beziehen,  vollkommen  un- 
gerechte und  unbedingt  zurückzuweisen.  Mit 
viel  besserem  Rechte  könnte  man  den  Spiess 
umdrehen  und  sagen:  Wenn  Ihr  in  Rom  im 
Besitze  eines  so  ’reichen  handschriftlichen  Ma- 
terials seid  — und  dass  Ihr  es  seid,  wissen  wir 
längst  und  das  beweisen  auch  die  Regesten  un- 
gedruckter Ürkunden  aus  dem  ersten  Jahre  des 
Honorius  IH.  25.  Juli  1216 — 1217,  mit  welchen 
Pressutti  mehr  als  hundert  Seiten  füllt  (p.  26— 


Pressutti,  I regesti  de9  Romani  pontefici.  635 

133)  ~ , warum  seid  Ihr  nicht  schon  längst  mit 
demselben  zum  Vorschein  gekommen?  Warum 
habt  Ihr  es  nicht  schon  längst  besser  gemacht 
als  erat  der  »ebreo«  und  nun  der  »professore 
Berlinese«?  — Jeder  von  uns,  und  vielleicht  Herr 
Potthast  am  meisten,  wird  Pressutti,  der  sonst 
über  uns  denken  mag  wie  es  ihm  beliebt,  schon 
für  diese  Bereicherung  unseres  urkundlichen  Wis- 
sens dankbar  sein , im  übrigen  aber  den  auf- 
richtigen Wunsch  hegen,  dass  es  nicht  bei  jenem 
specimen  eruditionis  bleibe  und  dass  Pressutti, 
der  sich  für  jene  Regesten  im  Allgemeinen  p.  26 
auf  »pergamene  originali  o codici  coevi  o pre- 
ziosissimi  manoscritti,  ricontrati  nelle  biblioteche 
e negli  archivi«  beruft  und  bei  einzelnen  Stü- 
cken unendlich  oft  triumphirend  ausruft:  »Di 
questa  lettera  il  Potthast  cita  il  solo  brano:  de 
noi  fu  letta  per  intero  in  due  cod.  mss.«,  uns 
wenigstens  sage,  was  das  fur  codices  sind,  auf 
deren  Eenntniss  er  so  stolz  ist. 

Trotzdem  sind  auch  Herrn  Pressutti  genug 
Menschlichkeiten  untergelaufen.  Er  führt  z.  B. 
eine  ziemliche  Zahl  von  Urkunden  an  als  unge- 
druckt oder  nicht  bei  Potthast  verzeichnet,  wäh- 
rend sie  doch  schon  gedruckt  sind  oder  als  Re- 
gest bei  Potthast  stehen.  Als  solche  habe  ich 
vorläufig  bemerkt: 

p.  20.  1211  Sept.  30.  s.  Bartholomeo  di  Trisulto 

= P.  nr.  4308. 

p.  31.  1216  Sept.  16.  Burdegal.  archiep.  = P. 

nr.  5333. 

p.  36.  — Nov.  1.  Lucae  archimandrite,  ge- 
druckt: Pirrus,  Sic.  sacra 
p.  982. 

p.  38.  — Nov.  28.  Abbati  Garoliloci  = P.  nr. 

5373. 


636  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

p.  73.  1217  Jan.  31.  Abbati  s.  Genovefae  == 

P.  nr.  5446  ztun  1.  Febr. 
p.  98.  — März  21.  Abb.  s.  Huberti  = P.  nr. 

5503  cf.  nr.  5653.  . 

p.  109.  — April  17.  Salinguerrae , längst  ge- 
druckt, zuletzt  bei  Theiner 
I,  48. 

p.  113.  — April  24.  Petro  nato  regis  Franc.  = 

P.  nr.  5529. 

— — Johanni  s.  Praxedis  = P. 

nr.  5530. 

Ferner  muss  p.  38:  1216  Nov.  8.  priori  de 
Nostlet  im  Datum  oder  in  der  Ortsangabe: 
Rome  ap.  S.  Petrum,  ein  Fehler  stecken,  da 
alle  übrigen  Urkunden  dieser  Zeit  und  andere 
vom  selben  Tage  aus  dem  Lateran  sind.  Ebenso 
ist  die  p.  72  in  Honor.  III.:  1217  Jan.  30.  er- 
wähnte Urkunde  Innocenz  III.  gewiss  falsch  da- 
tirt,  da  dieser  Papst  am  31.  Mai  1209  nicht  in 
Perugia  gewesen  sein  kann.  Auf  p.  123  sind 
Wiederholt  Tagesdaten  ganz  falsch  reducirt  u.  s.  w. 
Solche  eigene  Irrthümer  dürften  doch  geeignet 
sein,  wenn  Herr  Pressutti,  was  wir  hoffen,  die 
Mittheilung  seiner  Regesten  fortsetzt  (»dovendo 
quests  lettere  far  parte  di  un  mio  lavore,  cui 
non  vorrei  altrimenti  sfruttare«,  p.  26),  ihn  zu 
etwas  grösserer  Vorsicht  zu  fuhren  und  auch  zu 
etwas  geringerer  Unfehlbarkeit,  als  er  in  der 
vorliegenden  Schrift  für  sich  gegen  seinen  Vor- 
gänger in  Anspruch  nimmt.  Dieselbe  wimmelt 
übrigens  von  Druckfehlern,  die  bei  solchen  ur- 
kundlichen Nachweisungen  sehr  unbequem  sind. 

Heidelberg.  Winkelmann. 


Will,  Monumenta  Blidenstatensia.  637 

Monumenta  Blidenstatensia  saec.  IX.  X et  XI. 
Quellen  zur  Geschichte  des  Klosters  Bleidenstat 
aus  dem  Nachlass  von  Joh.  Fr.  Böhmer  mit 
Ergänzungen  nach  Druckwerken  und  Mittheilun- 
gen aus  dem  Codex  Blidenstatensia  im  K.  Reichs* 
archiv  zu  Mönchen  herausgegeben  von  Dr.  Cor- 
nelius Will,  F.  Thurn-  und  Taxischem  wirkli- 
chem Rath  und  Archivar.  Innsbruck,  Wagner- 
sehe  Universitäts-Buchhandlung.  1873.  XXII 
und  56  Seiten  in  Quart. 

Nicht  wenigen  Freunden  Deutscher  Geschichts- 
forschung wird  bekannt  sein,  wie  oft  schon  das 
Verlangen  nach  der  Publication  alter  Traditionen 
und  anderer  Urkunden  des  Klosters  Bleidenstat 
bei  Wiesbaden,  das  bis  in  die  frühere  Karolin- 
gische Zeit  binaufreicht,  seit  den  Mittheilungen 
Bodmanns  in  den  Rheingauischen  Alterthümern 
laut  geworden  ist.  Böhmer,  Landau  u.  a.  ha- 
ben sich  vergebens  bemüht  die  Benutzung  der 
Handschrift  zu  erlangen,  welche  aus  dem  Nach- 
lass eben  Bodmanns  in  die  Hände  des  Nassaui- 
schen  Archivars  und  fleissigen  Sammlers  Habel 
übergegangen  war.  Nach  seinem  Tode  hat  man 
gehofft,  dass  der  Bann  endlich  gelöst  werde. 
Und  der  Titel  der  vorliegenden  Publication  mag 
zuerst  wohl  die  Erwartung  erregen,  dass  das  nun 
hier  der  Fall,  der  lang  verborgene  Schatz  ge- 
hoben sei.  Statt  dessen  giebt  die  Einleitung 
die  unerwartete  und  unerwünschte  Nachricht, 
dass  unter  dem  Nachlass  Habels,  der  in  Milten- 
berg verwahrt  wird,  sich  die  Bleidenstäter  Tra- 
ditionen bisher  nicht  gefunden  haben.  Aber  eben 
das  ist  dann  der  Grund  gewesen,  dass  der 
Herausgeber  andersher  gesammelt  und  hier  ver- 
öffentlicht hat,  was  von  diesen  Traditionen  und 
anderen  urkundlichen  Aufzeichnungen  des  Klo* 


638  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 


sters  sich  irgend  erhalten  hat.  Und  das  ist 
dann  glücklicher  Weise  doch  nicht  so  gar  we- 
nig gewesen. 

Die  Hauptsache  sind  Abschriften,  welche  der 
bekannte  Geschichtsforscher  Eindlinger  seinen 
grossen  Sammlungen  einverleibt  hat,  die  jetzt  im 
Archiv  zu  Münster  aufbewahrt  werden.  Als 
Böhmer  die  Hoffnung  aufgeben  musste  Bodmanns 
Nachlass  zu  erlangen,  fasste  er  diese  Abschrif- 
ten ins  Auge,  die  offenbar  aus  derselben  Quelle 
geflossen  sind,  welche  jener  benutzte.  Es  sind 
drei  verschiedene  Stücke,  eine  Anzahl  Traditio- 
nen und  zwei  Güterverzeichnisse,  jetzt  in  Band 
137  der  Kindlingerschen  Sammlung  vereinigt, 
aber  nicht  in  unmittelbarer  Reihenfolge  hinter 
einander  geschrieben.  Ob  sie  früher  in  einem 
Bande  standen,  ist  nicht  deutlich.  Wäre  es  der 
Fall  gewesen,  so  müsste  dieser  successiv  ge- 
schrieben sein.  Denn  die  Stücke  sind  aus  ganz 
verschiedener  Zeit.  Die  Traditionen  — 19  an 
der  Zahl  — umfassen  nur  die  Jahre  876—889, 
das  erste  sogenannte  Summarium  et  registrum 
bonorum  gehört  der  Mitte  des  lOten  Jahrhun- 
derts an,  ein  zweites  Registrum  der  zweiten 
Hälfte  des  Ilten. 

Die  Sammlung  der  Traditionen  scheint  nur 
ein  Fragment  zu  sein.  Kindlinger  hat  noch  eine 
Anzahl  Urkunden  bewahrt,  die  wohl  zu  derselben 
Sammlung  gehört  haben  können  und  die  vomJ. 
814—1091  reichen,  hier  als  UI  und  IV,  je 
nachdem  es  Privat-  oder  Kaiserurkunden  sind, 
mitgetheilt,  wozu  drei  spätere  Notizen  kommen, 
die,  ich  sehe  nicht  weshalb,  als  Regesten  be- 
zeichnet werden  (als  VI  gedruckt)  und  von  de- 
nen die  eine  von  1144  datiert.  Ausserdem  sind 
aus  Bodmann  9 weitere  theils  Abdrücke,  theils 
Excerpte  zusammengestellt,  die  vom  Anfang  des 


Will,  Monumenta  Blidenstatensia.  639 

9ten  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre  1096  gehen. 
Es  erscheint  also  nicht  unwahrscheinlich,  dass 
der  Codex  wenigstens  bis  zum  Ende  des  Ilten 
Jahrhunderts  ging  und  dann  vielleicht  noch 
weitere  Nachträge  in  sich  aufgenommen  hat. 
Auch  der  Haupttheil  kann  aber  vielleicht  zu 
verschiedenen  Zeiten  abgefasst  sein,  und  nichts 
hindert  dann  anzunehmen,  dass  auch  die  beiden 
sogenannten  Begistra  ihm  einverleibt  waren. 

Das  eine,  in  der  Ausgabe  das  zweite  (S. 
13  ff.),  ist  aber  selbst  nur  eine  chronologisch 
geordnete  Notiz  über  Erwerbungen  die  das  Klo- 
ster in  den  Jahren  1017 — 1079  machte.  Als 
Verfasser  giebt  sich  der  Abt  Ezzo  auf  das 
deutlichste  zu  erkennen:  er  schreibt:  comparavi 
(§.  43.  47.  52.  57.  61),  concambiavi  (48),  dedi 
(49.  63),  vendidi  (50),  acquisivi  (58);  ein  Aus- 
druck seiner  Bescheidenheit  ist  es,  wenn  es  in 
der Ueberschrift  heisst:  Hec  sunt  bona  que  sub 
Herberto  et  Ezzone  magis  ex  gratia  Dei  quam 
de  villicatione  eorum  acquisita  sunt.  Ihm  sind 
wahrscheinlich  auch  die  Angaben  der  Preise  zu- 
zuschreiben, die  sich  selten  in  den  Urkunden 
finden,  hier  aber  regelmässig,  und  schon  seit 
dem  Jahre  1017  in  Marken  angegeben  werden, 
eine  Bezeichnung,  welche  so  früh  in  Deutsch- 
land sonst  nicht  nachweisbar  ist  (das  älteste 
Beispiel  das  ich  kenne  ist  von  1026).  Eben 
diese  Preisangaben  verleihen  übrigens  diesem 
Stück  ein  besonderes  Interesse : sie  beziehen  sich 
meist  auf  Land,  ausserdem  auf  Pferde  (12.  43). 
Für  ein  Darlehn  von  8 Mark  wird  im  J.  1057 
eine  Rente  von  3 Solidi  verschrieben  (49);  mag 
jene  zu  15  oder  12  Solidi  gerechnet  sein,  immer 
nur  ein  niedriger  Zins. 

Das  vorhergehende  wirkliche  Güterverzeich- 
nis kann  nicht,  wie  die  Ueberschrift  sagt,  saec» 


040  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  20. 

IX,  X,  sein,  sondern  ist  ohne  Zweifel  anf  ein- 
mal gemacht,  und  zwar  im  lOten  Jahrhundert, 
da  des  Königs  Heinrich  (22),  des  Erzbischofs 
Heriger  als  verstorben  (82,  f 927)  gedacht  wird; 
und  wenn  es  (43)  von  einem  Hazilo  heisst:  cum 
in  Longobardiam  iturus  erat  tradidit,  so  ist 
wohl  erst  an  die  Zeit  Otto  I.  zu  denken;  doch 
kann  diese  Notiz , da  sie  den  Schluss  bildet, 
auch  später  hinzugefügt  sein. 

Als  besondere  Nummer  (V)  erscheint  eine 
Grenzbeschreibung,  die  allerdings  auf  das  Jahr 
812,  das  die  Ueberschrift  nennt,  zurückgeführt 
wird,  aber,  wie  sie  selbst  angiebt,  doch  erst  in 
der  Zeit  des  Erzbischof  Willigis  von  Mainz  auf- 
gezeichnet ist.  Diese  hat  Böhmer  aus  einer 
Würzburger  Handschrift  genommen , die  sich 
jetzt  im  Münchener  Reichsarchiv  befindet. 

Aus  einem  andern  Codex  desselben  ist  ein  liber' 
ponfraternitatis  (S.  35 — 37)  — der  dem  Heraus- 
geber in  der  Einleitung  Anlass  zu  einigen  Be- 
merkungen über  solche  Diptycha  giebt  — , das 
Necrologium  (S.  37 — 42),  aus  dem  Böhmer  in 
Band  IU  der  Fontes  knappe  Auszüge  gegeben, 
und  ein  kurzes  Registrum  reliquiarum  (S.  43) 
mitgetheilt. 

Sorgfältige  Orts-  und  Namenregister  be- 
schliessen  den  Band,  während  die  Einleitung 
Über  die  Geschichte  des  Klosters  und  seine 
Denkmäler,  speciell  die  benutzten  Hülfsmittel 
nähere  Auskunft  giebt.  Die  Zuverlässigkeit  des 
Textes  hat  mir  nirgends  zu  Zweifeln  Anlass  ge- 
geben, so  dass  Hrn.  Will  in  jeder  Beziehung 
nur  Dank  für  diese  erwünschte  Publication  ge- 
bührt. G.  Waitz. 


641 


G5Hingische 

gele  hrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  21.  27.  Mai  1874. 


Pharmakologische  Untersuchungen.  Heraus- 
gegeben von  Dr.  Michael  Joseph  Ross- 
bach, Privatdocent  an  der  Universität  Würz- 
burg. I.  Heft.  Würzburg.  Druck  und  Verlag 
der  Stahel’schen  Buch-  und  Kunsthandlung. 
1873.  81  pp.  in  Octav. 

Die  lokale  Anästhesirung  durch  Saponin. 
Experimental-pharmakologische  Studien  von  Dr. 
Hermann  Köhler,  Docent  an  der  Universi- 
tät Halle.  Mit  2 Tafeln.  Halle.  G.  E.  M. 
Pfeffer.  1873.  106  pp.  in  Octav. 

Dass  das  Erscheinen  einer  besondern  Zeit- 
schrift für  experimentelle  Pharmakologie  im 
Jahre  1873  bei  dem  grossen  Aufschwünge,  wel- 
chen neuerdings  die  Arbeiten  auf  diesem  Ge- 
biete genommen,  nicht  die  Herausgabe  selbst- 
ständiger pharmakologischer  Monographien  über- 
flüssig machen  würde,  liess  sich  von  vornherein 
erwarten.  In  der  That  wird  es  sich  immer  em- 
pfehlen, Arbeiten  von  ganz  allgemeinem  Inter- 
esse und  wirkliche  Monographien  über  einen 

41 


L 


642  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 


einzelnen  Arzneikörper  in  Gestalt  besonderer 
Bücher  in  die  Hände  der  Aerzte  zu  bringen. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  müssen  wir  die 
separate  Publication  der  beiden  in  der  Ueber> 
Schrift  genannten  Arbeiten  nicht  allein  gut 
heissen,  sondern  geradezu  mit  Freuden  be- 
grüssen. 

Das  erste  Heft  der  pharmakologischen  Unter- 
suchungen Bossbachs,  dessen  Namen  durch 
interessante  Studien  über  die  Action  gewisser 
Stoffe  auf  Protoplasma  und  über  die  Wirkung 
der  Alkaloide  auf  die  organischen  Substrate 
des  Thierkörpers  in  den  Kreisen  der  Pharma- 
kologen hinlänglich  bekannt  geworden  ist,  bringt 
eine  höchst  verdienstvolle  Arbeit  über  den  An- 
tagonismus des  Atropins  und  Physostigmins, 
welche  von  Bossbach  in  Gemeinschaft  mit 
Fröhlich  im  physiologischen  Laboratorium  zu 
Würzburg  ausgeführt  ist.  Es  ist  von  uns  wie- 
derholt in  diesen  Blättern  betont  worden,  wie 
wenig  stabil  die  Besultate  physiologischer  For- 
schungen der  Neuzeit  sich  zu  erweisen  pflegen 
und  wie  rasch  Anschauungen,  die  sich  durch 
derartige  Arbeiten  allgemeinen  Glauben  erwer- 
ben, durch  weitere  Untersuchungen  beseitigt 
werden.  Die  Bossbach ’sehen  Untersuchun- 
gen liefern  einen  neuen  Beleg  dafür  in  Bezug 
auf  verschiedene  pharmakologisch-physiologische 
Glaubenssätze  der  Neuzeit,  namentlich  in  Hin- 
sicht der  lähmenden  Wirkung  des  Atropins  und 
des  Antagonismus,  welchen  man  dem  Physostig- 
min andern  Alkaloiden  gegenüber  beigelegt  hat. 
Es  ist  ein  eigenthümliches  Verhängniss,  dass 
das  Dogma  von  der  paralysirenden  Action  des 
Belladonnaalkaloides,  welches  bekanntlich  zuerst 
von  Be z old  aufgestellt  wurde,  in  denselben 
Bäumen  zu  Grabe  getragen  wird,  denen  esseine 


Bossbach } Pharmakolog.  Untersuchungen.  643 

Entstehung  dankt.  Die  Thatsache,  dass  das 
Atropin  in  minimalen  Mengen  die  Papille  warm- 
blütiger Thiere  nicht  erweitert,  sondern  verengt 
und  nicht  primär  lähmend,  sondern  erregend 
auf  den  Oculomotorius  wirkt  und  dass  auch 
der  so  auffallenden  Lähmung  der  im  Herzen 
belegenen  Hemmungscentren  durch  Atropin, 
eine  Erregung  derselben  vorausgeht , nöthigt 
uns,  zu  der  alten  Ansicht  zurückzukehren,  dass 
die  Grundwirkung  der  Narcotica  in  Erregung 
und  Lähmung  besteht  und  dass  die  Differenzen 
der  Wirkung  der  einzelnen  nur  in  der  verschie- 
denen Zeitdauer  der  Erregung  besteht.  Es  ist 
das  freilich  vorläufig  eine  Hypothese,  aber  sie 
wird  weiter  gestützt  durch  das  von  Rossbach 
beim  Physostigmin  erhaltene  Resultat,  dass  die- 
ser Stoff,  dem  man  ausschliesslich  eine  erregende 
Wirkung  auf  den  Oculomotorius  und  die 
Hemmungscentren  im  Herzen  zuschrieb , in 
grossen  Dosen  lähmend  auf  beide  Partien  des 
Nervensystems  wirkt.  Die  Entdeckung  Ross- 
bachs, dass  Physostigmen  in  grossen  Dosen 
Pupillenerweiterung  bedingt , bildet  eine  neue 
Stütze  für  die  angegebene  Wirkung  der  Narco- 
tica. Wenn  man  nach  dem  Stande  unserer  ge- 
genwärtigen Kenntnisse  im  Curare  und  Coniin 
vorläufig  noch  Substanzen  von  primärlähmender 
Wirkung  erblicken  muss,  so  dürfte  vielleicht 
eine  genauere  Untersuchung  auch  hier  zu  an- 
dern Anschauungen  lenken.  Ich  will  hier  nur 
an  das  analogwirkende  Methylstrychnin  erinnern, 
welches  bei  Fröschen  trotz  seiner  lähmenden 
Action  tetanische  Anfälle  zu  produciren  pflegt, 
die  allerdings  nicht  so  ausgesprochen  wie  beim 
Strychnin  sind.  Man  hat  diese  Erscheinungen 
freilich  von  einer  Verunreinigung  des  Methyl- 
strychnins mit  Strychnin  ableiten  wollen,  aber 

41* 


644  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

diese  Erklärung  ist  jedenfalls  nickt  über  allen 
Zweifel  erhaben  und  es  ist  eben  so  gut  mög- 
lich, dass  es  sieb  um  eine  integrirende  Action 
der  betreffenden  Ammoniumbase  .handelt.  In- 
dem Rossbacb  und  Fröhlich  nach  dem 
Ebengesagten  eine  gleichartige  Wirkung  des 
Atropins  und  Physostigmins  auf  die  in  Frage 
stehenden  Nervenbezirke  nachwiesen,  kann  es 
sich  natürlicherweise  nicht  mehr  um  einen  An- 
tagonismus der  betreffenden  Substanzen  han- 
deln. Dies  geht  auch  aus  den  weiteren  Ver- 
suchen hervor,  welche  den  Beweis  liefern,  dass 
wohl  die  bereits  in  kleinen  Dosen  lahmende 
Substanz  die  erregende  Action  der  anderen  auf- 
zuheben im  Stande  ist,  nicht  aber  umgekehrt 
die  erregende  Substanz  die  durch  die  andere 
gesetzte  Lähmung  aufzuheben  vermag.  Es  war 
den  Ophthalmologen,  welche  gleich  nach  der 
Entdeckung  der  pupillenverengenden  Wirkung 
der  Calabarbohne  mit  letzterer  Versuche  an- 
stellten, nicht  entgangen,  dass  zwar  das  Atro- 
pin die  durch  jene  bedingte  Pupillenverengung 
in  Erweiterung  umwandle,  dass  aber  umgekehrt 
das  Extract  der  Calabarbohne,  selbst  bei  Anwen- 
dung bedeutender  Mengen  einer  durch  Atropi- 
nisirung  hervorgerufenen  übermässigen  Mydria- 
sis  nicht,  oder  wie  sie  sich  meist  ausdrücken, 
nicht  nachhaltig  entgegen  za  wirken  vermag. 
Erst  die  Arbeit  von  Eossbach  liefert  eine 
ausreichende  Erklärung  für,  diese  Thatsache. 
Auf  die  in  ihrer  Erregbarkeit  stark  herabge- 
setzten Endigungen  des  Oculomotorius  mag  das 
stark  erregende  Physostigmin  vorübergehend 
einen  Reiz  ausüben,  auf  die  Dauer  und  in 
grossen  Mengen  angewendet,  muss  es  die  Atro- 
pinwirkung geradezu  verstärken. 

Wenn  wir  im  Allgemeinen  die  Schlussfolge- 


Hossbach,  Pharmakolog.  Untersuchungen.  645 

rungen  von  Hossbach  und  Fröhlich  als  zu« 
treffend  bezeichnen  müssen,  insofern  ein  Anta- 
gonismus des  Physostigmins  und  Atropins  im 
engeren  Sinne,  nämlich  in  Bezug  auf  einen  be- 
stimmten Theil  des  Organismus,  dadurch  ne- 
girt  wird,  so  können  wir  jedoch  nicht  zugeben, 
dass,  wie  die  Verfasser  annehmen,  auch  die  le- 
bensrettende Wirkung  des  Physostigmins  bei 
Atropinvergiftungen  durch  ihre  Untersuchungen 
als  ein  Irrthum  dargethan  ist.  Die  von  Ross- 
bach und  Fröhlich  benutzten  Versuchstiere 
sind  unseres  Erachtens  zur  Entscheidung  dieser 
Frage  nicht  geeignet.  Die  Verf.  stützen  ihre 
Schlussfolgerungen  auf  Experimente  an  Frö- 
schen und  Kaninchen.  Dass  bei  Fröschen  der 
Antagonismus  des  Atropins  und  Physostigmins 
in  Bezug  auf  das  Herz  nicht  existirt,  war  schon 
früher  durch  Untersuchungen  von  Köhler  be- 
kannt und  ist  als  eine  den  Fröschen  zukom- 
mende Verschiedenheit  betont  worden,  aber  auch 
Rossbach  und  Fröhlich  haben  neue  Mo- 
mente beigebracht,  welche  den  Beweis  dafür 
liefern,  dass  der  Frosch  den  beiden  Alkaloiden 
gegenüber  sich  anders  wie  warmblütige  Thiere 
verhält.  Die  durch  die  in  Rede  stehenden  Sub- 
stanzen hervorgebrachten  Pupillenveränderungen 
stehen  hei  Fröschen  und  Warmblütern  in  dia- 
metralem Gegensätze.  Erscheint  somit  der 
Frosch  wegen  seines  eigentümlichen  Verhaltens 
zu  den  genannten  Giften  als  ein  bedenkliches 
Versuchsthier,  so  ist  dies  doch  noch  mehr  bei 
dem  Kaninchen  der  Fall,  dessen  Toleranz  ge- 
gen Atropin  keinem  Forscher  entgangen  ist. 
Wir  haben  selbst  wiederholt  beobachtet,  dass 
Kaninchen  die  subcutane  Injection  von  1 Gm. 
Atropinsulphat  ertragen  können , ohne  da- 
durch erheblich  zu  erkranken.  Wird  nun,  wie 


646  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  21. 

es  in  den  Versuchen  von  Bossbach  and 
Fröhlich  geschah,  bei  Kaninchen  eine  relativ 
winzige  Dosis  Atropin  eingeführt  and  erfolgt 
darauf  nach  Injection  von  Physostigmin  der 
Tod  unter  den  Erscheinungen  der  Physostigmin- 
vergiftung, so  ist  daraus  jedenfalls  nicht  der 
Schluss  abzuleiten,  dass  Physostigmin  kein  An- 
tidot bei  Atropinvergiftung  sei.  Versuche, 
welche  zu  solchen  Gonclusionen  berechtigen, 
müssen  an  Thieren  mit  ausgesprochener  Em- 
pfänglichkeit gegen  Atropin  angestellt  werden, 
also  an  Hunden  und  vielleicht  noch  besser  an 
Katzen.  Die  Erfahrungen  Frasers  und  aller 
derjenigen,  welche  wie  z.  B.  neuerdings  Köh- 
ler zu  bestätigenden  Ergebnissen  gelangt  sind, 
dass  Hunde  entschieden  letale  Dosen  von  Atro- 
pin überstehen,  wenn  ihnen  Calabarbohnenextract 
als  Antidot  gereicht  wurde,  sind  durch  Ver- 
suche an  Kaninchen  nicht  zu  beseitigen.  Wir 
können  übrigens  dabei  nicht  unerwähnt  lassen, 
dass  die  Frage  von  der  antidotarischen  Wirk- 
samkeit gewisser  Stoffe  bei  Atropinvergiftung 
ausserordentlich  schwer  zu  beantworten  ist.  Ich 
habe  wiederholt  darauf  aufmerksam  gemacht, 
wie  sehr  viele  dem  Anscheine  nach  besonders 
schwere  Intoxicationen  mit  Belladonna  und  an- 
dern atropinhaltigen  Stoffen  auch  ohne  jedes 
Antidot  und  selbst  bei  unzweckmässiger  Be- 
handlung günstig  verlaufen  und  dass  man  so- 
mit in  Fällen,  wo  die  Aerzte  sozusagen  der 
Mode  zu  Liebe  Opium  oder  Morphin  antidota- 
risch verwertheten , oder  einem  genialen  Im- 
pulse folgend  zum  Calabarextracte  griffen,  nie- 
mals mit  Bestimmtheit  sagen  kann,  das  Antidot 
habe  den  tödlichen  Ausgang  verhütet.  Ich  bin 
wahrlich  kein  Anhänger  der  früher  einmal  von 
Böcker  gepredigten  expectativen  Methode, 


Köhler,  D.  lok.  Anästhesirung  durch  Saponin.  647 

aber  die  Unsitte,  die  Wirkung  eines  Giftes  mit 
dem  eines  andern  bekämpfen  zu  wollen,  kann 
ich  nicht  billigen.  Sie  hat  dem  wirklich  ratio* 
nellen  Gebrauche  der  chemischen  Antidote  Ab« 
bruch  gethan  und  dadurch  gewiss  in  einzelnen 
Fällen  von  Vergiftung  schädigend  gewirkt.  — 

Was  die  Schrift  von  Köhler  betrifft,  über 
welche  ich  in  Schmidt’s  Jahrbüchern  eine 
ausführliche  Inhaltsangabe  veröffentlicht  habe, 
so  kann  ich  dieselbe  in  diesen  Blättern  nicht 
unerwähnt  lassen,  weil  sie  die  vorzüglichste 
pharmakodynamische  Monographie  über  einen 
Pflanzenstoff,  welchen  die  Neuzeit  aufzuweisen 
hat,  darstellt.  Der  Verf.  ist,  von  der  vor  eini- 
gen Jahren  durch  Pelikan  aufgefundenen  lo- 
kalanästhesirenden  Wirkung  des  Saponin  aus- 
gehend, zu  einer  gründlichen  Untersuchung  die- 
ses Stoffes  hinsichtlich  seiner  Wirkung  sowohl 
auf  die  peripherische  Sensibilität  als  auf  die 
Verrichtungen  anderer  Körpertheile  veranlasst, 
wobei  sich  u.  a.  eine  besondere  Wirksamkeit 
auf  das  Herz  und  die  Respiration  ergeben  hat. 
Köhler  hat  sich  nicht  nur  auf  physiologische 
Untersuchungen  beschränkt,  deren  Details  in 
seiner  Schrift  mitgetheilt  sind,  sondern  auch 
die  chemischen  Eigenschaften  des  Stoffes  und 
dessen  Nachweis  im  Falle  etwaiger  Vergiftung 
mit  demselben  studirt. 

Ob  das  Saponin  eine  Rolle  in  der  Therapie 
zu  spielen  berufen  ist,  muss  klinischen  Versu- 
chen überlassen  bleiben.  Die  Anwendung  als 
locales  Anästheticum  bei  Einspritzung  unter  die 
Haut  in  Fällen  von  Neuralgie  oder  andern 
schmerzhaften  Leiden,  zu  welcher  die  Ergeb- 
nisse der  physiologischen  Versuche  einladen, 
hat,  wie  der  Verf.  hervorhebt,  das  Bedenken 
gegen  sich , dass  das  Saponin  in  grossen  Gaben 


648  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

sich  als  Herzgift  erweist.  Auch  die  von  Köh- 
ler constatirte  örtliche  entzündliche  Wirkung 
möchten  wir  als  ein  zweites  Bedenken  daran 
reihen.  Die  Anwendung  als  fiebervertreibendes 
Mittel,  auf  welche  Köhler  hinweist,  ist  zwar 
rationell  und  ohne  Zweifel  auch  unbedenklich, 
aber  ein  besonderer  Vorzug  des  Saponins  vor 
andern  antipyretischen  Substanzen  tritt  uns  aus 
seinen  Versuchen  nicht  entgegen.  Ist  somit 
aber  auch  vielleicht  der  Gewinn  für  die  Thera- 
pie keiner  oder  nur  ein  geringer,  so  wird  doch 
das  Verdienst  der  musterhaften  Untersuchung 
hierdurch  nicht  geschmälert  und  es  wäre  sehr 
zu  wünschen,  dass  über  andere  durch  die  thera- 
peutisch wichtigeren  Alkaloide  in  den  Hinter- 
grund gedrängten  Pflanzenstoffe  gleich  um- 
fassende und  gründliche  Studien  angestellt  und 
veröffentlicht  würden. 

Theod.  Husemann. 


Bibliotheque  Imperiale  Publique  de  St.-Pe- 
tersbourg.  — Catalogue  de  la  section  desBus- 
sica  ou  ecrits  sur  la  Bussie  en  langues  etran- 
geres.  Tome  I:  A — M.  VIHet845  pag.  Tome 
ft:  N-— Z.  Supplement  Table  methodique.  771 
pag.  in  8.  St.  Petersbourg.  Imprimerie  de 
l’Academie  Imperiale  des  sciences.  1873. 

Die  kaiserliche  öffentliche  Bibliothek  in  St. 
Petersburg  ist  die  jüngste  der  grossen  Anstal- 
ten dieser  Art  in  Europa,  denn  sie  existirt  erst 
§eit  dem  Beginn  dieses  Jahrhunderts.  Freilich 
geht  sie  auf  eine  ältere  bedeutende  Sammlung 


Biblioth.  Imper.  Publique  de  St-Petersburg.  649 

zurück,  durch  deren  Uebersiedlung  an  die  Neva 
es  erst  möglich  wurde  hier  eine  öffentliche  Bi- 
bliothek zu  gründen.  In  Polen  hatten  während 
der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  die 
Gebrüder  Andreas  und  Joseph  Grafen  Zaluski 
fast  ihr  ganzes  namhaftes  Vermögen  darauf  ver- 
wandt eine  grosse  Büchersammlung  zusammen- 
zubringen, die  sie  1747  für  eine  öffentliche 
jedermann  zugängliche  erklärten.  Als  in  der 
Katastrophe  des  Staates  Suwörow  Warschau 
eroberte,  erging  1794  ein  kaiserlicher  Befehl, 
demgemäss  sowol  die  Staatsarchive  der  polni- 
schen Republik  wie  die  Bibliothek  Zaluski  nach 
Petersburg  abgeführt  wurden*). 

Das  war  der  erste  grössere  Fond  von  etwa 
200,000**)  Bänden  der  1810  eröflneten  Peters- 
burger Bibliothek.  Bald  flössen  ihr  aus  andern 
Quellen  weitere  ausserordentliche  Beiträge  zu. 
So  erwarb  sie  einen  höchst  werthvollen  direct 
aus  den  Stürmen  der  französischen  Revolution, 
als  der  gewandte  und  eifrige  Dubrowski,  der  es 
vom  Kirchensänger  zum  Legationsrath  brachte, 
kostbare  Handschriften  und  Documente,  nament- 
lich Briefschaften  des  XV. — XVII.  Jahrhunderts 
bei  den  Plünderungen  der  Bastille  und  der  be- 
rühmten Abtei  St.  Germain  de  Pres  vor  dem 
sichern  Untergang  zu  bewahren  wusste  und  sie 
später  der  Petersburger  Bibliothek  einver- 


*)  Die  reiche  niohtrassische  Literatur  über  die  Pe- 
tersburger Bibi,  ist  in  vorliegendem  Werk  II,  748  ver- 
zeichnet. Ueber  die  Geschichte  der  Anstalt  siehe  den 
Aufsatz  des  Oberbibliothekar  Dr.  Minzloff , Ein  Gang 
durch  die  petersb.  öffentl.  Bibi.  1870.  Ueber  das  pol- 
nische Archiv  cfr.  des  Referenten  Abhandlung:  Livonica 
im  polnischen  Staatsarchiv.  1872. 

**)  BibliophUe  ülustre.  1862  pg.  77. 


650  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 


leibte*).  — Eine  unschätzbare  Bereicherung  er- 
fuhr sie  weiter  durch  die  Uebersendung  einer 
grossen  Sammlung  morgenländischer  Handschrif- 
ten, die  Paskewitsch  bei  seinem  siegreichen 
Feldzug  gegen  Persien  aus  den  dortigen  Klö- 
stern und  Moscheen  nach  Petersburg  über- 
mittelte. 

Aber  nicht  nur  durch  ßevolution  und  Krieg 
wuchs  das  Institut  des  Friedens,  gleichzeitig 
war  man  eifrig  bedacht  auch  jede  andere  gün- 
stige Gelegenheit  zu  seiner  Vergrösserung  zu 
benutzen.  Nur  weniges  sei  hier  erwähnt.  Wie- 
derholt wurden  sehr  beträchtliche  Summen  ver- 
wandt berühmte  Privatbibliotheken  anzukaufen: 
Voltaires  Bibliothek  etwa  7000  Bände  Bücher 
und  Manuscripts  ist  jetzt  hier  aufgestellt;  ohne 
Nebenbuhlerin  ist  die  für  100,000  Hubel  er- 
worbene Sammlung  althebräischer  Handschriften 
der  Karaim ; der  berühmte  Codex  Sinaiticus 
ruht  als  Prachtstück  in  der  Petersburger  Biblio- 
thek; ihre  Beihe  ältester  Drucke  darf  sich  mit 
jeder  andern  messen;  von  hohem  historischen 
Interesse  ist  die  aus  ihrem  polnischen  Grund- 
stock in  die  Petersburger  Bibliothek  überge- 
gangene collection  des  Mazarinades,  die  grösste 

*)  Ueber  diese  für  neuere  Geschichte  wichtige  Samm- 
lung sind  bisher  nur  spärliche  Nachrichten  in  die  Oeffent- 
lichkeit  gedrungen.  Die  ältesten  Briefe  stammen  von 
Ludwig  XI.  und  Carl  VIII.,  doch  sind  ihrer  nicht  viele. 
Dagegen  liegen  hier  umfangreiche  und  wichtige  Materia- 
lien für  den  Ausgang  des  XVI.  und  Beginn  des  XVII. 
Jahrhunderts:  mehrere  hundert  Originalschreiben  von 
Catharina  Medici  und  Heinrich  ni.,  Document©  zur  Ge- 
schichte der  Königin  Elisabeth  von  Spanien,  eine  be- 
deutende Anzahl  Briefe  der  Jeanne  d’ Albert,  Schreiben 
Mazarins  über  die  englischeu  Bewegungen  unter  Carl.  I. 
etc.  cfr.  Emouf  im  Bulletin  du  bibliophile.  Paris.  1867. 
pg.  376. 


Biblioth.  Imper.  Publique  de  SLPetersbourg.  651 

dieser  Art:  in  137  Vol.  etwa  6000  Pamphlete 
auf  Mazarin  aus  der  Zeit  der  Fronde«  — Und 
so  liessen  sich  noch  eine  Menge  kostbarster 
Schätze  aufzählen,  die  in  der  Petersburger  Bi- 
bliothek ruhen*). 

Es  war  natürlich,  dass  obgleich  sämmtliche 
Zweige  der  Wissenschaft  hier  würdig  vertreten 
sein  sollten,  doch  in  der  ersten  Bibliothek  des 
Beiches  besonders  das  ins  Auge  gefasst  wurde, 
was  sich  auf  dieses  Beich  selbst  bezog:  die 
Bussica.  In  der  Zalusciana  war  bereits  eine 
beträchtliche  Literatur  für  die  polnische  Ge- 
schichte vorhanden.  Die  neuern  Publicationen 
des  Inlandes  sollten  bei  der  kaiserlichen  Biblio- 
thek seit  ihrer  Gründung  ausnahmslos  einlau- 
fen,  dazu  wurde  1810  die  Vorschrift  erlassen, 
dass  von  allen  in  Bussland  gedruckten  Werken 
zwei  Pflichtexemplare  dorthin  eingeliefert  wer- 
den mussten.  Die  ältern  Drucke  suchte  man 
durch  grosse  Käufe  zu  gewinnen,  so  wurde  na- 
mentlich die  kirchenslavische  Abtheilung  berei- 
chert als  die  Sammlung  Tolstoi  für  150,000  Bu- 
bel  erstanden  ward,  eine  gleiche  Summe  wurde 
für  die  grosse  altrussische  Bibliothek  Pogödins 
angewiesen,  für  den  Nachlass  des  prager  Sla- 
visten  Jungmann , für  Klopmanns  Livonica 

*)  Für  die  Aldinen  liefert  der  von  Minzloff  bereits 
1854  angefertigte  Catalog  über  900  Nummern;  von  ihm 
1862,  von  Walther  1864  gedruckte  Verzeichnisse  be- 
weisen, dass  die  Petersburger  Collection  von  mehr  als 
5000  Bänden  aus  der  berühmten  Officin  Elzevir  die 
erste  der  Welt  ist,  cfr.  auch  Tranchfere  im  Bulletin  du 
bibliophile.  Paris  1864  pg.  905;  auf  die  Mazarinades 
wies  Gardet  in  demselben  Bulletin  1862  pg.  1148  hin, 
in  welchem  überhaupt  oft  der  Petersburger  Sammlungen 
gedacht  wird,  namentlich  von  Seiten  des  grossen  Biblio- 
philen A.  Fürst  Galitzin:  1862  pg.  1000,  1863  pg.  492, 
1864  pg.  714  u.  ö. 


652  Gott.  gel.  Ans.  1874.  Stück  21. 

wurde  erkleckliches  gezahlt.  Daneben  flössen 
sehr  bedeutende  Schenkungen  ein,  wie  der  lite- 
rarische Nachlass  des  berühmten  Historikers 
Karamsin,  des  Juristen  Grafen  Speränski,  von 
Debolzow,  Gudobin  u.  a.  wurden  der  Bibliothek 
reiche  Beiträge  dargebracht 

So  wetteiferten  nachdem  äussere  Ereignisse 
die  Gründung  und  erste  Erweiterung  der  An- 
stalt begünstigt  hatten  die  Munificenz  der  Re- 
gierung und  der  Patriotismus  einzelner  mit 
einander  und  erreichten  ein  Resultat  das  wol 
beispiellos  ist:  obgleich  sie  wie  bemerkt  die 
jüngste  der  grossen  öffentlichen  Bibliotheken  ist, 
hat  die  Petersburger  in  dem  halben  Jahrhun- 
dert ihres  Bestehens  bis  auf  die  pariser  bereits 
sämmtliche  Rivalinnen  des  europäischen  Conti- 
nents überflügelt,  1867  betrug  die  Zahl  der 
Bücher  über  1,000,000,  dazu  kamen  gegen 
35,000  Handschriften,  mehr  als  85,000  Kupfer- 
stiche etc.  Und  wie  die  äussere  Ausstattung 
eine  glänzende  ist,  so  ist  die  Liberalität  beim 
Besuch  des  Instituts  die  weitgehendste:  die 
grossen,  bequem  eingerichteten  Lesezimmer  sind 
den  ganzen  Tag  jedermann  geöffnet,  den  langen 
Winter  hindurch  gut  erwärmt  und  erleuchtet. 

Zur  Ausführung  des  schon  lange  gehegten 
Planes,  in  der  petersburgei^  Bibliothek  eine  wo- 
möglich complete  Sammlung  aller  Werke  her- 
zustellen, die  in  fremden  Sprachen  über  Russ- 
land erschienen  sind , wurde  erst  energisch 
geschritten  als  1849  Modeste  Baron  Korff 
Director  der  Anstalt  wurde.  In  einem  jetzt 
nach  ihm  benannten  und  mit  seinem  Por- 
trait geschmückten  Saale  ist  diese  in  sich  ge- 
schlossene Section  aufgestellt.  Es  war  nicht 
leicht  innerhalb  einer  grossen  Bibliothek  einen 
Theil  auszuscheiden,  ohne  dabei  die  andern 


Biblioth.  Imper.  Publique  de  SL-Petersburg.  653 

Disdplinen  zu  schädigen.  Um  vor  allem  sich 
selbst  über  Plan  und  Umfang  des  Unternehmens 
klar  zu  werden,  publicirte  man  zunächst  mit 
Hülfe  zahlreicher  bibliographischer  Werke  im 
Jahre  1851:  »Materialien  zum  Versuch  eines 
Katalogs  sämmtlicher  über  Russland  in  frem- 
den Sprachen  erschienenen  Werke«.  Ein  De- 
sideraten-Catalog,  der  als  Richtschnur  bei  wei- 
teren Anschaffungen  dienen  sollte.  Für  diese 
wurde  nichts  gespart,  nach  einem  Decen- 
nium  zählte  die  Section  schon  20,000  Num- 
mern. Um  nochmals  die  Meinungen  der  Fach- 
leute des  In-  und  Auslandes  zu  hören,  nament- 
lich auf  etwaige  Lücken  aufmerksam  gemacht 
zu  werden,  wurden  1860  in  einer  kleinen  An- 
zahl Exemplare  s.  g.  Correcturbogen  des  Cata- 
logs der  Russica  in  der  kaiserlichen  öffentl. 
Bibi,  zu  St.  Petersburg  gedruckt.  Es  war  das 
ein  Verzeichniss  der  damals  in  dieser  Abthei- 
lung factisch  vorhandenen  Bücher,  das  bereits 
wiederholt  Gelehrten,  es  sei  hier  nur  an  Win- 
kelmanns Bibliotheca  Livoniae  historica  erinnert, 
von  Nutzen  geworden  sind.  — Endlich  nach 
weiterer  sorgsamer  zehnjähriger  Arbeit  durfte 
man  1869  die  gestellte  Aufgabe  im  wesentlichen 
für  gelöst  halten,  die  Sammlung  schien  im 
grossen  und  ganzen  pomplet  zu  sein.  Man  wird 
gern  zugestehn , dass  selten  ein  ähnliches 
Unternehmen  mit  gleich  viel  Liebe  und  Eifer 
aufgenommen  und  betrieben  worden  ist.  Wenn 
jetzt  der  Druck  des  Catalogs  angeordnet  wurde, 
so  sollte  derselbe  offenbar  nicht  nur  grossem 
Kreisen  von  diesen  Reichthümern  Kunde  geben, 
sondern  auch  durch  die  Art,  wie  er  das  that, 
mithelfen  die  wissenschaftliche  Forschung  auf  ' 
den  Gebieten,  für  welche  hier  die  Literatur 
verzeichnet  ist,  weiter  zu  führen.  Und  in  der 


654  Gott«  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

That  sichert  die  Gediegenheit  der  Arbeit  die- 
sem Catalog  einen  solchen  Erfolg. 

In  vielleicht  zu  grosser  Kürze  werden  in  der 
Einleitung  Plan  und  Umfang  der  Sammlung  an- 
gegeben. Wir  vermissen  an  dieser  Stelle  un- 
gern ausführlichere  Nachrichten  über  die  Ge- 
schichte derselben,  auch  für  entferntere  Kreise 
wären  solche  lehrreich  gewesen.  Jetzt  werden 
in  der  Einleitung  fast  nur  die  Grenzen  ange- 
geben, die  für  das  Unternehmen  gesetzt  sind. 
Scharf  und  sicher  sind  sie  gezogen,  man  er- 
kennt, dass  eine  kundige  Hand  sie  bestimmt 
hat  und  wird  ihnen  im  ganzen  durchaus  zu- 
stimmen. Die  Section  sollte  nach  allen  Seiten 
(Geschichte,  Theologie,  Literatur,  Naturwissen- 
schaften etc.)  sämmtliche  in  fremden  Sprachen 
erschienenen  Druckwerke  umfassen,  die  auf  Russ- 
land Bezug  haben  und  vor  dem  Jahre  1870  als 
selbstständige  Publicationen  ans  Licht  getreten 
waren.  Man  hat  dann  alles  zu  thun  gesucht, 
die  grösstmögliche  Vollständigkeit  zu  erreichen: 
auch  die  ganze  in  fremder  Sprache  in  Russland  er- 
scheinende periodische  Presse  wurde  aufgenom- 
men, ja  selbst  jedes  nichtrussische  Gedicht  sobald 
es  das  russische  Leben  berührte.  Ob  es  aber  no- 
ting war,  auch  jede  Uebersetzung  eines  russi- 
schen Originalwerkes,  selbst  wenn  dieses  gar 
nicht  über  Russland  handelte,  der  Section  ein- 
zuverleiben erscheint  zweifelhaft,  da  hätte  füg- 
lich der  Inhalt  entscheiden  sollen,  vielleicht 
wäre  dadurch  Platz  gewonnen  für  manches  an- 
dere, was  jetzt  ausgeschlossen  worden  ist  und 
was  man  doch  gern  hier  gefunden  hätte.  Denn 
die  beschriebenen  weiten  Schranken  sind  nach 
mehr  als  einer  Seite  stark  eingeengt.  Fern  ge- 
halten wurden  nämlich  alle  in  cyrillischer  Sprache 
gedruckten  Bücher  also  alle  bulgarischen,  serbi- 


Biblioth,  Imper.  Publique  de  St.-Petersbourg.  655 

sehen,  croatischen;  ebenso  in  Folge  ihres  eigen- 
tümlichen Alphabets  alle  Werke,  die  in  grie- 
chischer oder  irgend  einer  orientalischen  Sprache 
geschrieben  sind ; endlich  die  lettische,  finnische, 
estnische  und  litthausche  Literatur,  für  welche 
man  in  der  Section  eine  besondere  Abtheilung 
bildete.  — Die  Verschiedenheit  des  Alphabets 
kann  doch  für  keinen  hinreichenden  Grund  zur 
Scheidung  gelten,  es  ist  z.  B.  empfindlich,  die 
wichtigen  griechischen  und  arabischen  Quellen 
für  die  älteste  russische  Geschichte  bei  einem 
sonst  vollständigen  Verzeichniss  der  fremdlän- 
dischen Zeugen  nicht  zu  finden.  Ueberhaupt 
vermögen  wir  uns  des  Eindrucks  nicht  zu 
erwehren,  als  ob  bei  Feststellung  der  end- 
gültigen Grundsätze,  nach  welchen  die  Auf- 
nahme in  die  Section  geregelt  wurde,  mehr  die 
Praxis  als  die  Theorie  entschieden  hat.  Es 
scheint,  dass  nicht  selten  die  gewiss  gewichti- 
gen, während  einer  zwanzigjährigen  Arbeit  er- 
probten und  bewährten  Erfahrungen  in  höherm 
Grade  den  Ausschlag  gegeben  haben  als  die 
Erwägungen  darüber,  welches  die  natürlichen 
Grenzen  des  Themas  seien,  was  als  mit  dem- 
selben systematisch  zusammengehörig  gelten 
müsse.  Trat  aber  die  Nothwendigkeit  ein  vor- 
zugsweise jenen  practischen  Erfahrungen  zu  fol- 
gen, dann  hätten  wir  eine  ausführlichere  Dar- 
legung und  Begründung  derselben  gewünscht, 
damit  nicht  der  ferner  stehende  manches  für 
willkürlich  halte,  was  das  Product  reiflicher 
Ueberlegung  ist. 

Eine  der  heikelsten  Fragen  warf  sich  auf, 
als  bestimmt  werden  sollte,  wie  weit  die  Lite- 
ratur derjenigen  ' Lande  aufzunehmen  ist,  die 
früher  von  Russland  unabhängig  waren.  Man 
ist  hier , wie  ja  das  bei  Specialsammlungen 


656  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

meist  eintritt,  nach  gewissen  Seiten  möglichst 
weit  gegangen:  Finland,  die  baltischen  Provin- 
zen, die  rassischen  Eroberungen  im  Süden  und 
Osten  sind  vollständig  herangezogen.  Am 
schwierigsten  war  die  Entscheidung  für  Polen 
zu  treffen.  Während  auch  hier  für  die  übrigen 
Disciplinen,  Theologie,  Naturwissenschaften  etc. 
alles  recipirt  wurde,  glaubte  man  sich  gezwun- 
gen, für  die  Geschichte  eine  Trennung  vorzu- 
nehmen: nur  die  letzte  Zeit  nach  der  Union  mit 
Bussland  ist  berücksichtigt,  die  ältere  polnische 
Geschichte  bis  gegen  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts wurde  ausgeschlossen.  Wahrschein- 
lich haben  wieder  practische  Gründe  mit- 
gewirkt, die  Gebrüder  Zaluski  hatten  bereits 
für  die  polnische  Geschichte  besonders  eifrig  ge- 
sammelt, es  mochte  schwer  sein,  die  ganze  pol- 
nische historische  Literatur  in  den  einmal  ge- 
wählten Bahmen  einzufügen.  Jetzt  scheint  frei- 
lich auch  hier,  wie  überhaupt  häufig  bei  der 
Anlage  der  Section  entschieden  zu  haben,  ob 
im  Titel  eines  Werkes  Beziehungen  zu  Buss- 
land angedeutet  waren  oder  nicht.  Das  Zu- 
fällige, das  in  diesem  Merkmal  Hegt,  tritt  wie- 
derholt deutlich  zu  Tage.  Es  war  so  nicht  zu 
vermeiden,  dass  für  die  russische  Geschichte 
vom  XV.  Jahrhundert  ab,  wo  sie  sich  immer 
mehr  mit  der  polnischen  unlöslich  verzwickt, 
eine  Beihe  Quellenschriftsteller  ausgeschlossen 
wurden,  die  für  die  russisch-polnischen  Kriege 
von  Bedeutung  sind.  Während  z.  B.  Heiden- 
steinii  de  bello  moscovitico  commentariorum 
libri  sex  Aufnahme  fanden,  sind  die  Collectanea 
vitam  resque  gestas  Johannis  Zamoyscii  illu- 
strantia  ed.  Dzialynski  ausgeschlossen,  obgleich 
sie  für  die  Kriege  Ivan  des  Schrecklichen  von 
grossem  Werth  sind  und  namentlich  die  nur 


Biblioth.  Imp£r.  Publique  de  St.-Petersbourg.  657 

bier  abgedruckten  vitae  Joh.  Zamoyscii  a Bei- 
noldo  Heidensteinio  perscriptae  libri  tres  für 
das  Yerständniss  jener  commentarii  Heidensteins 
unentbehrlich  sind.  Ebenso  ist,  um  ein  anderes 
Beispiel  aus  derselben  Zeit  zu  wählen,  von  den 
beiden  Beden  des  Warsevicius,  die,  mit  welcher 
er  Stephan  Bathory  zum  Frieden  beglückwünscht 
aufgenommen,  dagegen  die  Leichenrede  auf  den 
Tod  des  Königs,  die  für  die  Kriegsgeschichte  wol 
ebenso  werthvoll  ist  wie  jene  andere,  fortge- 
lassen, weil  bei  dieser  nicht  wie  bei  der  ersten 
in  der  Ueberschrift  des  moskauschen  Gegners 
gedacht  wird.  — Wo  einmal  eine  so  schöne 
Sammlung  vereint,  wo  wie  bei  Livland  und  be- 
sonders Finland  die  Literatur  anderer  Gebiete 
vollständig  aufgenommen  wurde,  deren  Einfluss 
auf  Bussland  doch  nicht  dem  polnischen  gleich- 
geschätzt werden  darf,  da  hätten  wir  gewünscht, 
dass  auch  für  diese  wichtigste  Seite  in  der 
politischen  Geschichte  Busslands  durch  Jahr- 
hunderte, für  seine  Beziehungen  nach  Polen  die- 
selbe Vollständigkeit  erstrebt  wäre,  wenngleich 
wir  anerkennen,  dass  es  nicht  leicht  sein  mochte, 
innerhalb  der  Polonica  die  passende  Grenze  zu 
finden,  sie  hätte  vielleicht  bis  zur  Erhebung  der 
Jagellonen  zurückgeschoben  werden  müssen. 

Was  dann  gegenüber  der  ältern  für  die 
jüngste  polnische  Geschichte  geboten  wird,  ist 
von  ausserordentlicher  Reichhaltigkeit,  so  na- 
mentlich für  die  Bewegungen  von  1831  und 
1862.  Für  diese  letztere  wurde  in  grosser  Voll- 
ständigkeit »die  revolutionäre  (oder  s.  g.  unter- 
irdische) polnische  Literatur  von  den  Statthal- 
tern Graf  Berg  und  Murawjew  eingesandt,  wozu 
noch  eine  beträchtliche  Sammlung  polnischer 
Schriften  ähnlichen  Inhalts  kam,  die  sich  als 
herrenloses  Gut  in  den  Lagerräumen  der  Nishe- 

42 


658  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  Öl. 

gorodschen  Eisenbahn  zu  Moskau  vorgefunden 
hatte«. 

Bei  den  letzten  grossen  feindlichen  Begeg- 
nungen Busslands  mit  dem  westlichen  Europa 
verstand  es  sich  von  selbst,  dass  nicht  die  ganze 
unabsehbare  Literatur  über  die  europäischen 
Kriege  von  1813 — 1815  in  eine  Sammlung  Kus- 
sica  Aufnahme  fand.  Wenn  aber  für  den 
Krimkrieg  eine  ähnliche  Zurückhaltung  beob- 
achtet worden  ist,  so  darf  doch  die  Oportuni- 
tät  derselben  bei  einem  Krieg  fraglich  erschei- 
nen, der  sich  fast  nur  innerhalb  russischer 
Grenzen  abspielt  und  bei  dem  die  russische  Ar- 
mee für  sich  allein  das  eine  Heerlager  bildete, 
nicht  wie  1813  mit  den  verschiedensten  Truppen 
verbündet  operirte. 

Trotz  diesen  bedeutenden  und  einigen  wei- 
tern minder  erheblichen  Einschränkungen  ist 
die  Zahl  der  in  der  Section  gesammelten  und 
im  Catalog  verzeichneten  Werke  eine  über  Er- 
warten grosse,  weit  mehr  als  30,000  Titel  sind 
hier  angeführt.  Und  gwar  sind  das  fast  durch- 
gehend selbstständige  Werke,  wenngleich  sich 
auch  nicht  ganz  selten  Sonderabdrücke  einzelner 
Aufsätze  aus  Zeitschriften  aufgezählt  finden. 
Uns  ist  nicht  klar  geworden,  wann  letzteres  ge- 
schehen ist,  ob  hier  überhaupt  eine  Regel  ein- 
gehalten ist  oder  ob  lediglich  der  Zufall  gespielt 
hat,  doch  wird  man  selbst  in  diesem  Fall  dank- 
bar sein  einzelnes  zu  finden,  was  eigentlich  hier 
nicht  gesucht  werden  darf  und  in  grossen  Sam- 
melwerken versteckt  leicht  der  Aufmerksamkeit 
des  Forschers  entgeht. 

Die  Ordnung  des  Catalogs  ist,  soweit  die 
Verfasser  genannt  oder  bekannt  waren,  nach 
diesen  sonst  nach  dem  Anfangs-  oder  Stichwort 
lexicographisch,  unter  jedem  Buchstaben  sind 


Biblioth.  Imper.  Publique  de  St-Petersbourg.  659 

die  Titel  von  eins  ab  gezählt.  Diese  selbst 
wurden  kurz  aber  präcis  angegeben.  Wahr- 
scheinlich lag  ein  Zettelcatalog  dem  Druck  zu 
Grunde,  woraus  sich  einige  kleinere  Unebenhei- 
ten in  demselben  erklären,  wie  wenn  die  Bände- 
zahl nicht  immer  gleichmässig  angegeben  ist, 
oder  wenn,  während  sonst  Abkürzungen  mög- 
lichst vermieden  wurden,  doch  1090  Possevinus 
Ant.  Lettera  alia  Duchessa  di  Mant.  steht, 
was  allenfalls  aus  dem  Druckort  Mantova  er- 
gänzt werden  kann;  so  hätte  602  Herman  Dan. 
Stephaneis  Moscovitica  das  sonst  regelmässige 
Piece  de  vers  beigefügt  werden  sollen. 

Was  die  Vollständigkeit  betrifft,  so  ist  darin 
nicht  nur  das  höchste  erstrebt,  sondern  die 
langjährige  sorgsame  Arbeit  auch  mit  ausser- 
ordentlichem Erfolg  betrieben  worden,  man 
staunt  über  die  Fülle  und  vermag  innerhalb  der 
gezogenen  Grenzen  schwer  Lücken  zu  ent- 
decken. Nur  auf  eine  gewisse  Literaturgattung 
sei  speciell  verwiesen,  hier  lassen  sich  nach  neue- 
ren bibliographischen  Hilfsmitteln  allerdings  in  der 
Petersburger  Sammlung  Desiderate  auffinden. 
Schon  Fürst  A.  Galitzin  hatte  im  Bulletin  du 
bibliophile  1859  pg.  31  auf  die  schöne  Peters- 
burger Collection  der  oft  sehr  werthvollen  Flie- 
genden Blätter  und  Neuen  Zeitungen  des  XVI. 
Jahrhunderts  aufmerksam  gemacht,  die  beson- 
ders in  Folge  der  Kriege  Ivan  des  Schrecklichen 
gegen  Livland  und  Polen  in  grosser  Zahl  in 
Deutschland  gedruckt  wurden.  In  den  bereits 
1862  erschienenen  Annalen  der  poetischen  Na- 
tional-Literatur  der  Deutschen  von  E.  Weller 
finden  sich  unter  No.  320,  340,  344  hieherge- 
hörige  Titel,  die  im  Catalog  der  Russica  fehlen 
(auch  No.  283  ist  nur  in  einer  von  den  drei 
Editionen  daselbst  verzeichnet),  und  ebenso  las- 

42* 


660  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  21. 

sen  sich  aas  Wellers  neuerem  Werk  Die  ersten 
deutschen  Zeitungen  1872  (Bibi,  des  literar. 
Vereins  Bd.  CXI)  Lücken  in  der  Petersburger 
Sammlung  nachweisen  cfr.  Weller  No.  268,  269  i 
etc.,  532,  560  und  die  merkwürdige  No.  540. 

— Freilich  sind  solche  alte  Drucke  nicht 
leicht  käuflich  zu  haben. 

Seinen  hohen  wissenschaftlichen  Werth  aber 
erhält  dieser  Catalog  vor  allem  durch  die  in 
seinem  zweiten  Theil  beigefiigte  systematische 
Ordnung  table  methodique.  Nach  bestimmten  i 

Materien  sind  dort  die  einzelnen  Werke  wissen-  ' 
schaftlich  geordnet  und  mit  der  Nummer  des 
ersten  Haupttheiles  citirt.  Aus  diesen  Tafeln 
wird  sofort  klar,  wem  vor  allem  die  Samm- 
lung und  ihr  Catalog  zugut  kommt:  die  Ge- 
schichte hat  den  Löwenantheil  gewonnen,  ihr 
allein  gehören  mehr  Werke  an  als  allen  übrigen 
Disciplinen  zusammen.  Man  begnügte  sich 
nicht  für  die  einzelnen  Begierungen  und  die  Ge- 
schichte grösserer  Gebiete  die  selbstständigen 
Publicationen  aufzuführen ; innerhalb  dieser  Grup- 
pen  ist  durch  Unterabtheilungen  sogar  dafür  ge- 
sorgt, das  auf  speciellere  Themata  bezügliche 
leicht  herauszufinden.  Jetzt  erkennt  man  erst  j 
völlig  die  Oede,  welche  nicht  nur  relativ  gegen-  ! 

über  der  reichen  Petersburger  Collection,  son-  i 

dem  absolut  und  wie  es  scheint  auf  allen  Bi- 
bliotheken Deutschlands  gleichmässig  herrscht, 
sobald  es  sich  um  russisch-polnische  Geschichte 
handelt,  und  die  es  unmöglich  macht,  eine  Frage 
aus  derselben  in  Deutschland  zu  lösen*).  Auch 

*)  Dass  über  kurz  oder  lang  hiegegen  etwas  wird 
geschehen  müssen,  scheint  ausser  Frage,  in  unverhalt- 
nissmässiger  Weise  aber  wächst  gerade  hier  die  Schwie- 
rigkeit mit  der  Zeit,  weil  der  russische  Buchhandel  kein 
eigentliches  Antiquariatsgeschäft  kennt,  wol  nirgend 


Biblioth.  Impör.  PubUque  de  St.-Petersbourg.  661 

der  gewöhnliche  an  sich  haltlose  Entschuldigungs- 
grund, die  Unkenntniss  der  nationalen  Sprache 
wird  nicht  mehr  vorgewandt  werden  dürfen: 
eben  die  nichtrussischen  Werke  verzeichnet  der 
Catalog,  wie  viel  könnte  der  Westen  schon 
aus  diesen  ihm  zugänglicheren  Materialien  über 
den  fernen  unbekannten  Osten  lernen , aber 
auch  von  ihnen  ist  nur  weniges  in  deutschen 
Bibliotheken  zu  finden. 

Auf  die  Ordnung  dieser  systematischen  Ver- 
zeichnisse ist  offenbar  die  ausgezeichnetste  Sorg- 
falt verwandt  worden,  man  wird  das  mit  gröss- 
tem Danke  anerkennen,  selbst  wenn  man  mit 
der  einen  oder  andern  Gruppirung  nicht  über- 
einstimmt. Es  sind  bei  den  einzelnen  Begie- 
rungen Unterabtheilungen  mit  der  Ueberschrift 
poesies,  sermons  etc.  gemacht,  vor  allem  wol, 
da  die  Form  an  sich  doch  wenig  austrägt,  um 
besonders  in  späterer  Zeit  die  inhaltsleeren  Pro- 
ducta höfischer  Beredsamkeit  hier  einzuordnen. 
Aber  wir  meinen  man  ist  damit  zuweit  zurück- 
gegangen, wenn  man  zum  ersten  mal  eine  solche 
Gruppe  bereits  bei  Ivan  dem  Schrecklichen  von 
der  vorhergehenden  guerre  de  Pologne  et  de 
Livonie  abschied.  Hier  gehören  noch  die  Werke 
beider  Abtheilungen  zusammen,  kaum  weniger 
als  die  vorausgehenden  speciell  als  solche  Ge- 
zeichneten, sind  zumal  bei  der  nicht  zu  grossen 
Fülle  anderer  zeitgenössischen  Nachrichten 
gleichfalls  als  Quellen  für  die  Geschichte  jener 
Kriege  Ivans  Werke  zu  betrachten,  wie  Jac. 

Werke  so  rasch  vom  Markt  verschwinden  wie  dort.  Zum 
Theil  um  dem  entgegenzutreten  forderte  der  erwähnte 
Fürst  A.  Galitzin  1862  im  Bull,  du  bibliophile  pg.  1001 
zur  Gründung  einer  societe  de  bibliophiles  russes  auf; 
von  der  Realisirung  des  Vorschlages  ist  aber  nichts  be- 
kannt geworden. 


662  Gott«  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

Gorscii  orationes  gratulatoriae,  Cochanovii  ad 
Stephanum  regem  epinicion,  Hermanni  Stepha- 
neis Moscovitica  etc.*).  — Scheint  uns  an  dieser 
Stelle  mehr  als  nöthig  getheilt  zu  sein,  so  ha- 
ben wir  an  einer  andern  eine  Scheidung  ver- 
misst: es  findet  sich  nämlich  keine  Abtheilung 
für  die  Regentschaft  der  Prinzessin  Sophie.  Die 
Bedeutung  derselben  in  der  russischen  Geschichte 
ist  doch  eine  viel  hervorragendere  als  nur  die 
einer  Vormünderin  ihrer  Brüder,  und  mit  nich- 
ten  dürfen  die  Jahre  ihrer  Regierung  als  die  er- 
sten der  petrinischen  gelten. 

Wir  schliessen  unsere  Besprechung  des  Ca- 
talogs mit  vollstem  Dank  für  die  Veröffentli- 
chung desselben.  Nach  ihm  wird  in  Zukunft  je- 
der greifen,  der  über  eine  Frage  osteuropäi- 
schen Lebens  Auskunft  sucht,  vornemlich  aber 
wird  die  russische  Geschichtsforschung  durch  ihn 
gefördert  werden,  sie  am  meisten  fühlt  sich  den 
unermüdlichen  Bearbeitern  desselben  für  diese 
reife  Frucht  ihres  zwanzigjährigen  rastlosen 
Fleisses  verpflichtet. 

Richard  Hausmann. 


Chroniques  greco-romanes  inedites  ou  peu 
connues  publiees  avec  notes  et  tables  genealo- 
giques  par  Charles  Hopf.  Berlin.  Weidmann. 
1873.  (XL VIII  und  538  S.  in  8°). 

Das  vorliegende  Werk,  eine  Frucht  derlang- 

*)  Unter  den  Reden  vermissen  wir:  De  bello  adver- 
sns  Moschos  ad  equites  Polonos  oratio.  Posnaniae  1578. 
4°.  Illustribns  . . dominis  comitibus  a Gorca  Stanislao  .. 
et  Andreae  . . Franziscns  G*  de  Nadarice.  Auch  ist  der 
Sonderdruck  des  inhaltsreichen  königlichen  Briefes  nicht 
angeführt:  Stephani  regis  Poloniae  epistola:  historiam 
susceptae  a se  superiori  aestate  adversus  Moschum  ex- 
peditions et  expugnatae  civitatis  et  arcis  Polotzko  red- 
tans.  s.  1.  1579.  4°. 


Hopf,  Chroniques  greco-romanes  inedites.  663 

jährigen  Studien  Hopfs  in  den  Bibliotheken  und 
Archiven  Griechenlands  und  Italiens,  ist  kurz  vor 
dem  im  vorigen  Herbste  erfolgten  Tode  des 
Verfassers  erschienen.  Die  Vorarbeiten  dazu 
waren  schon  vor  langer  Zeit  vollendet,  schon 
1863  hatte  Hopf  den  Prospect  zu  einer  solchen 
Sammlung  von  Quellen  zur  Geschichte  Griechen- 
lands und  der  griechischen  Inseln  in  der  Zeit 
nach  der  Aufrichtung  des  lateinischen  Kaiser- 
thums erscheinen  lassen,  welche  gleichsam  die 
Grundlage  für  eine  ebenfalls  von  ihm  beabsich- 
tigte und  für  die  Ersch  und  Grubersche  Ency- 
clopädie  bestimmte  Geschichte  Griechenlands  im 
Mittelalter  bilden  sollte.  Allein  aus  äusseren 
Gründen  zog  sich  das  Erscheinen  derselben  von 
einem  Jahre  zum  anderen  hin,  der  Verfasser  sah 
sich  so  genöthigt,  jene  Geschichte  vorher  1868  zu 
publiciren,  und  jetzt  erst  ist  jenes  Quellen  werk 
nachgefolgt.  Natürlich  konnte  der  vor  10  Jah- 
ren aufgestellte  Plan  nicht  ganz  unverändert 
festgehalten  werden,  einige  Stücke,  welche  in- 
zwischen anderweitig  publicirt  waren,  sind  fort- 
gelassen,  andere  hinzugefügt  worden,  auch  jetzt 
aber  enthält  die  Sammlung,  wie  damals  ange- 
kündigt war,  24  Stücke,  zu  denen  noch  die  genea- 
logischen Tafeln  hinzukommen.  Jedesfalls  mit 
Rücksicht  auf  den  internationalen  Character, 
welchen  die  griechisch-byzantinische  Geschichte 
trägt,  auf  das  besondere  Interesse,  welches  ge- 
rade die  Gelehrten  des  Auslandes,  namentlich 
Frankreichs  und  Russlands,  derselben  zuwenden, 
hat  der  Verf.  da,  wo  er  selbst  spricht,  sich  der 
französischen  Sprache  bedient.  Er  schickt  eine 
längere  Vorrede  voraus,  in  welcher  er  die  ein- 
zelnen publicirten  Stücke  bespricht,  die  nöthi- 

ten  Angaben  über  die  Handschriften  und  über 
ie  etwaigen  früheren  Ausgaben  macht,  zugleich 


664  . Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  21. 

aber  aüch  Bemerkungen  über  die  Verfasser  and 
den  Character  dieser  Quellen  hinzufügt.  Den 
Text  selbst  begleiten  Anmerkungen,  meist  kurze 
Erläuterungen  der  Personen-  und  Ortsnamen, 
den  Schluss  des  Werkes  bilden  12  genealogische 
Tafeln  von  Hopf  selbst  mit  jener  an  ihm  be- 
kannten Gelehrsamkeit  und  Akribie  aus  chroni- 
calischen  und  archivalischen  Quellen  zusammen- 
gestellt, leider  sind  aus  Mangel  an  Raum  die 
Belege  für  die  einzelnen  Angaben  nicht  hinzu- 
gefügt. 

Die  Reichhaltigkeit  und  Bedeutsamkeit  dieses 
Quellenwerkes  wird  schon  eine  Aufzählung  der 
einzelnen  in  ihm  enthaltenen  Stücke  vor  Augen 
führen.  Die  Bezeichnung  Chroniken  passt  nicht 
eigentlich  auf  alle,  mehrere  sind  rein  urkund- 
liche Documente.  So  No.  VI  zwei  officielle  Ver- 
zeichnisse der  Inseln  des  griechischen  Archipels, 
das  eine  bisher  ungedruckt,  lateinisch,  dem 
Ende  des  13.  Jahrhunderts  angehörend,  aus  Ve- 
nedig, das  zweite  griechisch,  aus  dem  Ende  des 
16.  Jahrhunderts,  schon  in  Crusius  Turcograeda 
abgedruckt.  Aehnlich  No.  VII,  ein  Verzeichniss 
der  Fürsten  und  Barone  Griechenlands  vom  Jahre 
1313,  entnommen  einem  grösseren  Verzeichniss 
aller  Fürsten  und  Herren  der  Welt,  mit  denen 
Venedig  damals  in  Verbindung  stand.  Ferner 
No.  IX,  eine  ausführliche  Instruction  des  Dogen 
Michel  Steno  vom  Jahre  1408  für  die  Commissa- 
rien, welche  damals  in  die  griechischen  Provin- 
zen Venedigs  geschickt  wurden,  ebenso  No.  X, 
Zusätze  zu  dem  von  Canciani  herausgegebenen 
Liber  consuetudinum  imperii  Romaniae,  vom  J. 
1421,  auch  die  venetianischen  Provinzen  betref- 
fend, No.  XI  zwei  Verzeichnisse  der  Lehen  Mo- 
reas,  das  eine  vom  Jahre  1364  für  die  Fürstin 
Marie  von  Bourbon,  bisher  unedirt,  das  zweite 


Hopf,  Chroniques  greco-romanes  inedites.  665 

vom  Jahre  1391  für  Herzog  Amadeus  von  Sa- 
voyen, schon  von  Guicheron  und  Buchon  heraus- 
gegeben, hier  nach  dem  Original  verbessert. 
Ferner  No.  XH  ein  Ausgabebuch,  betreffend  die 
Vermählung  Philipps  von  Savoyen  mit  Isabella 
von  Villehardouin,  Fürstin  von  Morea,  1301,  end- 
lich No.  XIII  fünf  Urkunden,  2 griechische,  die 
andern  italienische,  Argos  und  Nauplia  betreffend. 
Diesen  Documenten  verwandt  ist  dann  noch  No. 
XXIH,  ein  Verzeichniss  der  venetianischen  Gouver- 
neure in  Griechenland  und  den  griechischen  In- 
seln, welches  zum  Theil  officiellen  Verzeichnissen 
entnommen,  zum  Theil  aber,  da  diese  nur  un- 
vollständig erhalten  sind,  von  Hopf  selbst  aus 
archivalischen  Quellen  zusammengestellt  ist. 

Die  übrigen  Nummern  sind  Chroniken  oder 
doch  cbronikenartige  Schriftstücke.  Das  wich- 
tigste unter  allen  ist  gleich  No.  I:  La  prise  de 
Constantinople  von  Robert  de  Clary,  einem  Rit- 
ter aus  der  Picardie,  welcher  an  dem  vierten 
Kreuzzuge  Theil  nahm,  darauf  wahrscheinlich  in 
Constantinopel  geblieben  und  dort  jedesfalls  erst 
nach  1216  gestorben  ist.  Dieser  Bericht  ist 
sowohl  historisch  wegen  der  Naivetät  und  des 
Freimuthes  des  Verfassers,  der  allerdings  nicht 
in  die  hohe  Politik  eingeweiht  war,  neben  dem 
des  hochgestellten  und  diplomatischen  Villehar- 
douin von  hohem  Werthe  und  auch  sprachlich 
als  eine  der  ältesten  französich  geschriebenen 
Chroniken  interessant.  Hopf  hatte  die  einzige, 
in  Copenhagen  befindliche  Handschrift  dieser 
Chronik  schon  1855  copirt,  in  der  Hoffnung,  sie 
schon  in  nächster  Zeit  herauszugeben.  Inzwischen 
hat  dann  der  Graf  Paul  Riant  dieselbe  ver- 
öffentlicht, aber  in  einer  Prachtausgabe  in  weni- 
gen Exemplaren,  welche  gar  nicht  in  den  Buch- 
handel gekommen  sind  und  von  denen  er  nach- 


666  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 


her  selbst  einen  Theil  wieder  hat  einstampfen 
lassen,  so  dass  für  die  gelehrte  Welt  im  Allge- 
meinen doch  diese  Hopfsche  Ausgabe  als  die 
editio  princeps  gelten  wird. 

Es  folgt  No.  U Devastatio  Constantinopolitana, 
ein  kurzer,  aber  namentlich  chronologisch  sehr 
genauer  Bericht  über  den  vierten  Kreuzzug  von 
einem  Deutschen,  welchen  schon  Pertz,  aber  mit 
zahlreichen  Fehlern,  im  XVI.  Bande  der  Scripto- 
res  herausgegeben  hatte  und  welcher  hier  emen- 
dirt  wiederholt  ist,  dann  No.  HI  Chronista  Nov- 
gorodensis,  auch  der  Bericht  eines  Zeitgenossen 
über  den  vierten  Kreuzzug  in  der  Novgoroder 
Chronik,  welcher  bisher  nur  russisch  gedruckt« 
hier  zum  ersten  Male  in  lateinischer  Uebersetzung 
mitgetheilt  ist.  No.  IV,  ein  sehr  interessantes 
Stück,  eine  Hauptquelle  für  die  Geschichte  Mo- 
reas  iml3ten  und  dem  Anfänge  des  14ten  Jahr- 
hunderts, ist  die  Istoria  del  regno  di  Romania, 
die  italienische  Uebersetzung  eines  ursprünglich 
lateinischen  Originals,  als  dessen  Verfasser  Hopf 
den  bekannten  Venetianer  Marino  Sanudo,  den 
Verfasser  der  Secreta  fidelium  crucis,  erkannt  hat, 
der  dasselbe  in  seinen  letzten  Jahren  c.  1330 
geschrieben  hat.  Daran  schliesst  sich  an  No.  V,  ein 
lateinisches  Fragment,  die  griechisch-venetiani- 
sche  Geschichte  in  der  zweiten  Hälfte  des  13ten 
Jahrhunderts  betreffend,  welches  schon  von  Du- 
cange  und  Buchon  gedruckt  war,  als  dessen  Ver- 
fasser hier  aber  auch  Hopf  zuerst  jenen  Marino 
Sanudo  erkannt  hat.  No.  Vin  enthält  Auszüge, 
die  Geschichte  Moreas  und  der  griechischen  In- 
seln (1205 — 1497)  betreffend,  aus  der  grossen 
Chronik  des  Venetianers  Stefano  Magno,  welcher 
im  16ten  Jahrhundert  gelebt  und  viele  jetzt  nicht 
mehr  erhaltene  Chroniken  und  Documente  be- 
nutzt hat. 


Hopf,  Chroniques  greco-romanes  inedites.  667 

Die  übrigen  Stücke  enthalten  chronicalische 
Berichte  sehr  specieller  Art : No.  XII  eine  kurze 
Biographie  der  ans  der  Geschichte  des  Huma- 
nismus bekannten  Brüder  Nicolaus  und  Deme- 
trius Chalcocondylas  aus  Athen,  No.  XV  Ex- 
cerpte  aus  Schriften  des  Rhetors  Johannes  Do- 
ceanus,  namentlich  aus  einem  Panegyricus  auf 
den  Kaiser  Constantin  Palaeologus,  No..  XVI 
Variae  lectiones  zu  den  in  der  Bonner  Samm- 
lung von  Bekker  sehr  fehlerhaft  herausgegebenen 
Epirotica  nach  den  neuen,  wenig  bekannten  Aus- 
gaben der  griechischen  Gelehrten  Mustoxidi  und 
Destunis,  No.  XVII  ein  Stück  aus  dem  Werke 
Anthos  des  Joannicius  Cartanus  von  Corfu,  kurze 
Annalen  bis  1504,  No.  XVIII  eine  Chronik  des 
albanischen  Herrschergeschlechtes  der  Mustacci, 
No.  XIX  ein  Stück  aus  dem  Werke  des  Bischofs 
Remondini  von  Zante  über  die  Geschichte  die- 
ser Insel,  die  Herrschaft  der  Tocchi  daselbst 
(1357 — 1480)  betreffend,  No.  XX  eine  Chronik 
des  S.  Theodorklosters  auf  der  Insel  Cythera, 
No.  XXI  der  Bericht  des  Bischofs  Leonard  von 
Chios  an  Papst  Pius  II.  über  die  Eroberung  von 
Lesbos  durch  die  Türken,  No.  XXII  ein  Stück 
aus  einem  Gedichte  des  Zantioten  Johann  Co- 
roneos,  die  Geschichte  des  albanischen  Herrscher- 
geschlechts der  Bua  behandelnd.  No.  XXIV 
endlich  ist  die  italienische  Uebersetzung  einer 
Chronik  von  Morea,  deren  Original,  wie  Hopf 
zeigt,  griechisch  geschrieben  war. 

Die  beigefugten  Tafeln  enthalten  Genealo- 
gien: 1)  der  französischen  Fürsten  und  Barone 
von  Morea,  2)  der  Herzoge  von  Athen,  3)  der 
Herren  von  Negroponte,  4)  der  Herzoge  des  Ar- 
chipels aus  den  Häusern  Sanudo  und  Crispo,  5) 
der  Herren  von  Andros  und  Naxos  aus  dem 
Hause  Sommaripa,  6)  der  venetianischen  Dyna- 


668  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 

sten  auf  einzelnen  Inseln  des  Archipels,  7)  der 
Dynastenfamilien  ebendaselbst  aus  anderen  ita- 
lienischen, nicht  yenetianischen  oder  genuesi- 
schen Familien,  8)  einheimischer  edler  Geschlech- 
ter auf  jenen  Inseln,  9)  der  genuesischen  Dyna- 
sten im  Archipel,  10)  der  yenetianischen  Dyna- 
sten auf  den  ionischen  Inseln,  11)  der  Fürsten- 
geschlechter in  Epirus  und  Thessalien,  12)  grie- 
chischer Fürsten-  und  Herrengeschlechter  in  Morea. 

Berlin.  Dr.  Ferdinand  Hirsch. 


Weir  Mitchell.  Les  lesions  des  nerfs  et  de 
leurs  consequences,  traduit  et  annote  avec  l’au- 
torisation  de  l’auteur  par  M.  Dastre.  Paris. 
1874  bei  G.  Masson.  8.  pag.  408. 

Die  Uebersetzung  des  amerikanischen  Werkes 
ist  durch  eine  sehr  ausführliche  Vorrede  einge- 
leitet, welche  Vulpian  verfasst  hat.  Vulpian  be- 
spricht in  ihr  einzelne  Theile  der  allgemeinen 
Neryenpathologie,  führt  M’s  Ansichten  an  und 
sucht  sie  den  seiuigen  anzupassen. 

Auf  M’s  Antrag  war  im  Secessionskriege  1863 
in  Philadelphia  ein  Hospital  yon  400  Betten  für 
Nervenverletzungen  eingerichtet.  M.  hat  über 
seine  dortigen  Erfahrungen  schon  zwei  Werke 
veröffentlicht.  Dies  dritte  handelt  über  Nerven- 
verletzungen überhaupt. 

Die  Anlage  des  Buches  ist  streng  systematisch ; 
man  vermisst  keinen  Theil  des  Schemas,  durch 
dessen  strenge  Einhaltung  sich  hauptsächlich  die 
deutschen  Lehrbücher  auszeichnen.  Es  ist  dies 
deshalb  auffallend,  weil  M.  fast  nur  die  ameri- 
kanische und  französische  Literatur  berücksich- 
tigt, der  englischen  und  deutschen  dagegen  sel- 
ten gedenkt. 

Unter  den  anatomischen  Bemerkungen  findet 


Weir  Mitchell,  Lesions  des  nerfs.  669 

sich  der  sehr  richtige  Satz,  dass  die  Nerven  dem 
verletzenden  Gegenstände  am  meisten  in  der 
Mitte  der  Glieder  ausweichen,  in  der  Nähe  der 
Gelenke  aber  am  meisten  leiden.  M.  leugnet  die 
trophischen  Nerven  und  schreibt  ihre  Function 
nicht  den  vasomotorischen,  sondern  den  Cerebro- 
Spinalnerven  zu,  und  zwar  unter  Zustimmung  des 
Uebersetzers  und  Vulpians.  Die  Erörterung  der 
pathologischen  Physiologie  gründet  sich  auf  eine 
.Reihe  wohldurchdachter  Experimente. 

Dann  führt  M.  die  Arten  der  Verletzungen  in 
sehr  vollständiger  Reihe  auf  und  erörtert  ihre 
Folgen.  Die  daraus  sich  ergebende  Symptomato- 
logie ist  mit  ausserordentlicher  Sorgfalt  beschrie- 
ben, besonders  die  entfernteren  Zeichen.  Sehr 
merkwürdig  sind  die  Gelenkaffectionen  nach  Ner- 
venverletzungen, welche  dem  Gelenkrheumatismus 
sehr  gleichen.  Die  Reflexlähmungen  gewähren 
doch  keine  volle  Ueberzeugung.  Die  Hyperästhesie 
der  Haut  nach  Nervenwunden  wird  eingehend 
beschrieben ; M.  verlegt  ihren  anatomischen  Grund 
in  Veränderungen  der  sensiblen  Nervenendigungen. 

In  Bezug  auf  die  Behandlung  empfiehlt  M.  die 
Nervennaht:  sie  beschleunigt  die  Heilung  sehr, 
am  besten  näht  man  das  umliegende  Gewebe  zu 
beiden  Seiten  des  durchschnittenen  Nerven  zu- 
sammen. Die  Electricität  soll  man  frühzeitig  an- 
wenden. Dagegen  hat  sich  unter  den  Mitteln 
zur  subcutanen  Injection  nur  das  Morphium 
bewährt;  Atropininjectionen  können  zur  Unter- 
stützung des  Morphiums  dienen,  da  durch  sie 
nur  die  schmerzstillende  Wirkung  des  Morphiums 
zur  Geltung  kommt. 

Zuletzt  werden  die  Nervenkrankheiten  der 
Amputationsstümpfe  mit  grosser  Genauigkeit  be- 
handelt. Weder  grosse  Wärme,  noch  grosse 
Kälte  werden  beim  Tragen  künstlicher  Glieder 


670  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  21. 


gut  gelitten,  sie  erregen  beide  Schmerzen  im 
Stumpfe.  Besonders  aber  rufen  bestimmte  Wind- 
richtungen Schmerzen  hervor.  Jede  Klasse  von 
Amputirten  hat  bestimmte  Entstehungsursachen 
für  Neuralgien.  Die  Erfahrung,  dass  die  verlorene 
Hand,  der  verlorene  Fuss  dem  Rumpfe  näher  ge- 
glaubt werden,  erklärt  M.  durch  Verwechslung 
mit  dem  Stumpfe,  welcher  dem  Rumpfe  näher 
ist.  Durch  Tragen  des  künstlichen  Gliedes  wird 
übrigens  jene  falsche  Vorstellung  aufgehoben. 
Das  Gefühl  der  Bewegungen  des  amputirten  Glie- 
des ist  ein  Beweis,  dass  schon  der  Willensact 
einen  Eindruck  über  die  gewollte  Bewegung  lie- 
fert und  nicht  die  ausgeführte  Bewegung  allein 
die  Vorstellung  derselben  erregt. 

Völlig  neu  ist  die  Beschreibung  der  Chorea 
der  Stümpfe. 

Die  eingestreuten  Krankengeschichten  dienen 
überall  zu  lebendiger  Illustration  der  Darstel- 
lung. Das  Buch  enthält  viel  neues  und  zeigt 
eine  planmässige  Durchführung.  Wenn  auch 
einzelne  Behauptungen  Widerspruch  erwecken 
können,  so  stehen  sie  doch  nicht  vage  in  der  Luft 

Die  Uebersetzung  ist  überall  gut ; die  äussere 
Ausstattung  dürfte  den  deutschen  Buchhändlern 
zum  Muster  dienen.  IL 


Lexicon  etymologicum  latino  etc.  = sanscritum 
comparativum  quo  eodem  sententia  verbi  analo- 
gue explicatur.  Construxit  Seb.  Zehetmaytr 
gymn.  professor.  Vindobonae  1873.  Prostat  apud 
Alfred.  Holder,  bibliopolam  universitatis. 

Zu  den  beiden  vor  kurzem  erschienenen  klei- 
nen vergleichenden  Wörterbüchern  der  lateini- 
schen Sprache  (von  Hintner  und  Vanicek)  gesellt 
sich  dieses  dritte,  dessen  specieller  Zweck  sich 


Zehetmayr,  Lexicon  etymologicum  latino  etc.  671 

im  Titel  ankündigt.  Die  Idee  verdient  Beifall, 
ebenso  zum  Theil  auch  die  Ausführung,  da  der 
Herr  Verfasser  mit  grossem  Fleiss  gearbeitet  hat. 
In  formeller  Hinsicht  wäre  es  gut,  wenn  er  nicht 
lateinisch,  sondern  deutsch  geschrieben  hätte; 
das  Werk  würde  dadurch  an  Präcision  und  Klar- 
heit wol  gewonnen  haben.  Es  wäre  ferner  gut, 
wenn  die  reichen  Hinweisungen  auf  bairische 
Provincialismen  etwas  eingeschränkt  worden  wä- 
ren, da  der  des  bairischen  Dialectes  nicht  kun- 
dige Leser  durch  sie  gezwungen  wird,  Schmellers 
Idioticon  fortwährend  zur  Hand  zu  haben.  Oef^ 
ters  sind  diese  Hinweisungen  auch  nicht  beson- 
ders glücklich  gewählt.  Bei  insece  z.  B.  verweist 
Herr  Z.  auf  das  altbair.  im  decretum  Tassilonis 
vorkommende  »stabsacken«.  Die  Bedeutung  je- 
' nes  lateinischen  Wortes  wird  dadurch  gewiss  nicht 
klar  und  obendrein  muss  dieses  deutsche  trotz 
Schmellers  Erklärungsversuch  für  ganz  unklar 
gelten.  Dergleichen  findet  sich  mehrfach  und 
hätte  von  Herrn  Z.  bei  der  grossen  Belesenheit, 
die  er  auf  jeder  Seite  seines  Werkes  documen- 
tirt,  durch  besseres  gewiss  leicht  ersetzt  werden 
können.  Leider  hat  aber  auch  diese  dem  Werke 
geschadet,  denn  die  Menge  des  Verglichenen  geht 
oft  zu  weit  und  dasselbe  liegt  oft  der  eigent- 
lichen Aufgabe  fern;  so  ist  z.  B.  das  unter fera 
bemerkte  viel  weniger  ein  Articel  über  dieses 
Wort,  als  ein  Nachweis  über  die  Verbreitung  des 
Suffixes  »aha«  im  deutschen.  Die  etymologischen 
Zusammenstellungen  sind  meist  besonnen  gemacht; 
leider  muss  ich  mir  im  Augenblick  versagen,  alle 
Einzelheiten,  in  denen  ich  mit  dem  Herrn  Ver- 
fasser nicht  übereinstimme,  hervorzuheben  und 
kann  nur  auf  einzelne  herausgegriffene  Punkte 
eingehen.  Entschieden  verkehrt  ist  das  unter 
abyssus  über  gr.  ßtlacog,  ßiv&og  u.  s.  w.  bemerkte ; 
das  richtige  findet  sich  bei  Fick,  ig.  wbch.  II 


672  Gott*  gel  Anz.  1874.  Stück  21. 

131.  381.  Bei  piscis  erinnert  Hr.  Z.  an  sskr. 
picchala  schleimig,  schlüpfrig  u.  s.  w.  Eine  pas- 
sendere Etymologie  liegt  viel  näher.  Die  Römer 
überliefern  als  Name  eines  Fisches  aqui-,  oder 
aci-penser,  den  man  gewöhnlich  auf  den  Stör 
bezieht.  Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  dahin 
gestellt,  lässt  sich  das  Wort  kaum  anders  als 
acupenser  — vgl.  aqui-folius  u.  a.  — »scharf- 
flossig«  erklären.  Penser  gehört  alsdann  zu 
ahd.  fasa  Faser,  Haaru.  s.  w.,  also  zu  einer  Wur- 
zel pas.  Als  Grundform  des  lat.  pisci-s  germ, 
fiska  ergibt  sich  nun  leicht  peska  (oder  penska) 
»der  Flossige«,  wozu  das  altir.  iasc.  Fisch,  d.  i. 
(p)esc  — mit  Dehnung  vor  Doppelconsonanz  — 
genau  stimmt.  — Dass.formus  direct  zu  ferveo 
gehöre,  bezweifle  ich;  es  ist  von  einer  Wurzel 
»bhar«  brennen  abzuleiten,  die  mit  n erweitert 
im  ags.  beornan  an.  brenna  vorliegt.  Diese  vol- 
lere Form  »bhara«  ist  vielleicht  auch  schon  für 
forn-u-s,  fora-ac-s  vorauszusetzen.  — Ebenso  ge- 
hört lat.  für  gr.  (pcoQ  nur  indirect  zu  fero  sskr. 
bhar  tragen,  zunächst  jedoch  zu  bhar  nehmen 
= sskr.  har  nehmen,  wegnehmen,  rauben.  Da 
dieses  har  öfters  mit  Berufung  auf  das  — jedoch 
sehr  schlecht  bezeugte  — zend.  zar  unter  eine 
Wurzel  ghar  gestellt  wird,  so  erlaube  ich  mir 
darauf  hinzuweisen,  dass  der  alte  Anlaut  bh  von 
den  Sanskrit-Grammatikern  ausdrücklich  bezeugt 
wird.  Ein  värttika  zu  Pänini  YHI.  2.  32  be- 
merkt: »hrgraho  bhag  chandasi  basya«  und  be- 
legt bhr  (nehmen)  mit  zwei  Beispielen,  und  dem  al- 
ten Yäska  scheint  die  Form  bhr  noch  ganz  geläufig 
gewesen  zu  sein,  denn  er  leitet  bhrätar  ohne 
jede  Bemerkung  von  bhr  = hr  ab  (brätä  bha- 
rater  haratikarmano  Nir.  IV.  26).  In  letzter 
Instanz  sind  natürlich  bhar  tragen  und  bhar 
nehmen  identisch. 

Göttingen.  Adalbert  Bezzenberger. 


677 


,6  5(tingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  22.  3.  Juni  1874. 


Dr.  Richard  Schröder,  ord.  Professor 
deB  deutschen  Rechts  in  Würzburg,  das  eheliche 
Güterrecht  Norddeutschlands  und  der  Nieder- 
lande im  Mittelalter.  A.  u.  d.  T. : Geschichte 
des  ehelichen  Güterrechts  in  Deutschland.  Zwei- 
ter Theil.  Das  Mittelalter.  Dritte  Abtheilung: 
das  sächsische  und  das  friesische  Recht.  Stettin. 
Danzig.  Elbing.  Leon  Saunier’s  Buchhandlung. 
1874.  XIV  und  428  Seiten  in  Octav. 

Die  verdienstvolle  Arbeit  Schroder’s  über 
die  Geschichte  des  deutschen  ehelichen  Güter- 
rechts ist  mit  der  jetzt  vorliegenden  dritten  Ab- 
theilung zu  Ende  geführt.  Ursprünglich  hatte 
es  in  der  Absicht  des  Verfassers  gelegen,  die 
Geschichte  des  ehelichen  Güterrechts  bis  auf  die 
neueste  Zeit  fortzufübren.  Dieser  Plan  ist  jetzt 
aufgegeben.  Das  einheimische  deutsche  eheliche 
Güterrecht  hat  den  Abschluss  seiner  inner- 
lichen Entwickelung  bereits  mit  dem  Ende  des 
Mittelalters  gefunden.  Die  Reception  des  römi- 
schen Rechts  und  die  gesammte  neuere  Ent- 
wickelung hat  nur  die  äussere  Geltung  des  aus 

43 


678  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

dem  Mittelalter  überlieferten  Güterrechts,  nicht 
seine  innere  Gestalt  berührt.  Aus  diesen  Grün- 
den hat  der  Verfasser  seine  Darstellung  der 
Geschichte  des  deutschen  ehelichen  Güter- 
rechts mit  dem  vorliegenden  Bande,  welcher  die 
Darstellung  des  mittelalterlichen  Hechts  vervoll- 
ständigt, abgeschlossen,  jedoch  eine  spätere  Ar- 
beit in  Aussicht  gestellt,  welche  die  dogmati- 
sche Darstellung  des  heute  in  Deutschland  gel- 
tenden Rechts,  und  damit  die  Resultate  des  seit 
dem  16.  Jahrhundert  zwischen  römischem  und 
deutschem  ehelichen  Güterrecht  geführten  Kam- 
pfes geben  wird. 

Die  vorliegende  dritte  Abtheilung  stellt  das 
eheliche  Güterrecht  Norddeutschlands  und  der 
Niederlande  im  Mittelalter  dar,  d.  h.  das  mittel- 
alterliche sächsische  und  friesische  Recht,  nach- 
dem das  alemannische  und  bairische  Recht  in 
der  ersten,  das  fränkische  Recht  des  Mittelalters 
in  der  zweiten  Abtheilung  des  zweiten  Theils, 
und  früher  im  ersten  Theil  das  älteste  deutsche 
Recht  (»die  Zeit  der  Volksrechte«)  seine  Behand- 
lung gefunden  hatte. 

Die  neueste  Leistung  des  Verfassers  ist  durch 
dieselben  Vorzüge  ausgezeichnet,  welche  seinen 
früheren  Arbeiten  schon  längst  einen  hervor- 
ragenden Platz  in  unserer  germanistischen  Lite- 
ratur gegeben  haben.  Wir  finden  die  gleiche 
Gründlichkeit  der  Forschung,  das  gleiche  Ein- 
dringen in  die  einzelnsten  Züge  der  Rechtsent- 
wickelung, die  gleiche  Zuverlässigkeit  und  Be- 
stimmtheit der  gegebenen  historisdien  Resultate. 
Der  Verfasser  hat  mit  seinem  nun  durch  die 
dritte  Abtheilung  vollendeten  Werk  uns  ein  Ge- 
sammtbild  von  dem  mittelalterlichen  ehelichen 
Güterrecht  in  allen  seinen  Entwickelungsformen 
gegeben,  wie  wir  es  in  gleicher  Vollständigkeit 


Schroder,  D.  ehel.  Güterrecht  Norddeutschl.  679 

und  Klarheit  auch  nicht  annähernd  fur  irgend 
einen  anderen  Theil  der  mittelalterlichen  Rechts* 
geschichte  besitzen.  Was  insbesondere  diese 
dritte  Abtheilung  auszeichnet,  ist,  dass  jetzt  zum 
ersten  Mal  nicht  blos  das  friesische  Recht  in  un- 
seren Gesichtskreis  gerückt  ist,  sondern  auch  das 
sächsische  Recht  in  allen  seinen  Gestalten  voll 
ausgebreitet  vor  uns  liegt.  Jetzt  zum  ersten 
Mal  lässt  sich  überblicken  nicht  blos  das  Recht 
des  Sachsenspiegels  und  des  Magdeburger 
Rechts,  welches  bereits  in  v.  Martitz  und 
Agricola  vortreffliche  Bearbeiter  gefunden 
batte,  sondern  ebenso  die  reiche  Entwickelung 
des  westfälischen  Rechts,  dessen  Bedeutung  weit 
über  die  alten  Gränzen  Westfalens  hinaus  gehen 
sollte,  die  Geschichte  des  thüringischen  Rechts, 
welches  sich  nach  den  Untersuchungen  des  Ver- 
fassers als  durchaus  abhängig  vom  fränkischen 
Recht  erweist,  und  vor  Allem  die  so  höchst 
eigentümliche  Geschichte  des  ehelichen  Güter- 
rechts in  den  colonisirten  Theilen  des  sächsi- 
schen Gebiets,  wo  wir  neben  einander  ostfäli- 
sches,  westfälisches,  flämisches  und  fränkisch- 
czechisches  Recht  in  Geltung  sehen. 

Der  Verfasser  hat  die  Uebersicht  seiner  Re- 
sultate dadurch  erschwert,  dass  die  Glieder  der 
einzelnen  Rechtssysteme  von  einander  getrennt 
und  unter  den  verschiedenen  systematischen 
Rubriken  nebeneinander  gestellt  sind.  Es  soll 
hier  versucht  werden,  unter  Wiederherstellung 
des  natürlichen  Zusammenhanges,  für  die  ver- 
schiedenen Formen  des  norddeutschen  Rechts 
die  Ergebnisse  des  Verfassers  zusammenzu- 
stellen. 

Das  ostfälische  Recht,  welches  seine 
landrechtliche  Form  im  Sachsenspiegel,  seine 
stadtrechtliche  im  Magdeburger  Stadtrecht  ge- 

43* 


"H 


680  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  22.  I 

fanden  hat,  weist  eine  Gestalt  des  ehelichen  i 
Güterrechts  anf,  die  man  bisher  sehr  wenig 
passend  als  System  der  »Gütereinheit«  bezeich-  1 
nete.  Der  Verfasser  schlägt  den  Namen  »Ver-  i 
waltungsgemeinschaft«  (im  Gegensatz  zar  Güter-  | 
gemeinschaft)  yor.  Es  wird  noch  treffender  sein, 
dies  System  direct  als  ‘ das  deutschrechtliche 
Gütertrennungssystem  2a  bezeichnen. 
Die  Idee  dieses  Systems  ist  die  Wirkungslosig- 
keit der  Ehe  für  die  Zuständigkeit  des  Vermö- 
gens. Die  Substanz  der  beiderseitigen  Güter 
bleibt  getrennt,  und  nur  die  Verwaltung  wird  in 
Folge  der  vormundschaftlichen  Rechte  des  Ehe- 
herrn eine  einheitliche  in  der  Hand  des  Man- 
nes. Nur  an  einem  Punkt  ist  das  Princip  der 
Gütertrennung  durchbrochen.  Die  Mobilien  der 
Frau  werden  in  Folge  der  Eingehung  der  Ehe 
Eigenthum  des  Mannes,  und  an  Stelle  des  in- 
ferirten  Mobiliarvermögens  der  Frau  tritt 
schon  mit  Eingehung  der  Ehe  die  Gerade, 
welche  als  das  gesetzliche  Mobiliarver- 
mögen der  Frau  (analog  der  gesetzlichen 
Morgengabe,  der  gesetzlichen  Leibzucht)  zn 
definiren  ist,  d.  h.  das  Eigenthum  der  Frau  an 
gewissen  Kategorieen  von  Sachen  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Illation.  Nichtsdestoweniger  ruht 
auch  die  Gerade  auf  dem  Princip  der  Güter- 
trennung; sie  soll  nur  die  Anwendung  dieses 
Princips  erleichtern,  indem  sie  mit  Rücksicht 
auf  die  Minderung  des  eingebrachten  weiblichen 
Mobiliarvermögens  durch  Gebrauch  und  durch 
Verwaltungshandlungen  des  Mannes  der  Frau 
von  Rechtswegen  gewissermassen  ein  »eisernes« 
Mobiliarvermögen  schafft.  Daraus  folgt,  dass 
während  der  Ehe  die  eingebrachten  Mobilien 
der  Frau  gleich  dem  übrigen  Vermögen  des 
Mannes  für  die  Schulden  des  Mannes  haften; 
nur  die  Gerade  ist  gleich  dem  unbeweglichen 


Schröder,  D.  ehel.  Güter  recht  Norddeutschi.  681 

X 

Frauengut,  dem  Princip  der  Gütertrennung  ent- 
sprechend, von  der  Haftung  für  die  lediglich 
ehe  männlich  en  Schuldenfrei  (S.  265  ff.  324). 
Nach  Auflösung  der  Ehe  nimmt  die  überlebende 
Frau  (und  ebenso  deren  Erben)  nur  die  Gerade 
und  die  eingebrachten  ehefräulichen  Immobilien 
(S.  2 ff.). 

Der  Beweis  des  Eigenthums  des  Mannes  an 
den  inferirten  Mobilien  der  Frau  ist  das  wich- 
tigste Ergebniss  der  Untersuchungen  des  Ver- 
fassers über  das  ostfälische  Recht.  Schon  Al- 
brecht hatte  dies  Eigenthum  behauptet,  doch 
hat  erst  Schröder  den  überzeugenden  Beweis 
für  diesen  Satz  erbracht.  Sein  wichtigstes  Ar- 
gument ist  der  ostfälische  Rechtssatz,  dass 
Grundstücke,  welche  der  Mann  mit  dem  Gelde 
der  Frau  anschafft,  in  das  Eigenthum  des  Man- 
nes, nicht  der  Frau  übergehen  (S.  16  ff.).  Da 
das  ostfälische  Recht , gleich  dem  westfali- 
schen , auf  dem  Princip  steht:  »res  succedit 
in  locum  pretii  et  pretium  in  locum  rei«  (S. 
320),  so  folgt,  wie  der  Verfasser  scharfsinnig 
entwickelt , aus  jenem  Rechtssatz  das  Eigenthum 
des  Mannes  an  dem  Gelde,  überhaupt  an  den 
Mobilien  der  Frau.  Es  ergiebt  sich  ferner,  dass 
das  Eigenthum  des  Mannes  an  dem  nicht  vor- 
behaltenen beweglichen  Frauengut,  welches  spä- 
ter im  ostfalischen  Stadtrecht  direct  ausgespro- 
chen ist,  nicht,  wie  v.  Martitz  angenommen, 
auf  einem  Rechtsgeschäft  von  Seiten  der  Frau, 
sondern,  bereits  altsächsischem  Recht  entspre- 
chend, auf  den  kraft  Rechtssatzes  feststehenden 
Wirkungen  der  Ehe  beruhte:  es  bedurfte  des 
Vertrags  , nicht  um  das  Eigenthum  des  Mannes 
an  den  fraulichen  Mobilien,  sondern  um  den 
Eigenthums-  und  Verwaltungsvorbehalt  der  Frau 
an  ihrem  Sondergut  zu  begründen  (S.  359  ff. 


682  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 


363  ff.).  Andererseits  beweist  der  Verfasser  das 
Eigenthum  der  Frau  an  der  Gerade  schon  wäh- 
rend der  Dauer  der  Ehe  schlagend  dadurch, 
dass  im  Fall  erblosen  Versterbens  der  Frau  die 
Gerade  nicht  etwa  beim  Manne  verbleibt,  son- 
dern als  erbloses  Gut  an  den  Richter  fällt  (S. 
6.  321). 

Das  westfälische  Recht  ist  schon  seit 
den  Zeiten  der  Lex  Saxonum  dadurch  gekenn- 
zeichnet, dass  es  zwischen  der  kinderlosen  und 
der  beerbten  Ehe  unterscheidet.  Bei  kinder- 
loser Ehe  hat  das  altwestfalische  Recht  die 
gleichen  Rechtssätze  wie  das  ostfalische,  also 
Gütertrennungsprincip  mit  Geraderecht,  so  dass 
sich  das  System  des  Sachsenspiegels  als  das 
eigentlich  altsächsische  Recht  darstellt  (S.  11. 
22.  49.  111.  113.  321).  Doch  hat  im  westfa- 
lischen Rechtsgebiet,  anders  als  in  Ostfalen, 
das  Stadtrecht  früh  die  altherkömmlichen  Grund- 
sätze des  Landrechts  aufgegeben.  Die  Gerade, 
auf  die  Verhältnisse  der  ländlichen,  nicht  der 
städtischen  Wirthschaft  berechnet,  wird  besei- 
tigt (nur  in  einem  unbedeutenden  erbrechtlichen 
Voraus  der  Frau  hat  sie  häufig  noch  eine  Re- 
miniscenz  hinter  sich  gelassen),  und  für  die  un- 
beerbte Ehe  entweder  Gütertrennungssystem 
(mit  stricter  Anwendung  auch  auf  die  inferirten 
Mobilien  der  Frau)  mit  Quotenerbrecht  des 
überlebenden  Ehegatten  am  Nachlass  des  Ver- 
storbenen (so  in  den  Städten  mit  Soest-Lübe- 
cker Recht,  S.  23  ff.),  oder  Gütergemeinschafts- 
system, sei  es  mit  Alleinerbrecht  (so  in  Wesel, 
Minden,  Osnabrück  und  den  Städten  des  Mün- 
sterlandes, S.  36  ff.  315),  sei  es  mit  Quoten- 
erbrecht (so  in  Dortmund  mit  seinen  Tochter- 
rechten und  im  Fürstenthum  Corvey,  S.  43  ff. 
311  ff.)  des  überlebenden  Ehegatten  an  dem  ge- 


Schröder,  D.  ehel.  Güterrecht  Norddeutschi.  683 

rammten  Nachlass.  Von  den  westfalischen 
Städten  aus  haben  sich  diese  Umbildungen  des 
alten  Rechts  nach  den  Städten  Ostfalens  und 
nach  dem  Gebiet  jenseits  der  Elbe  verbreitet. 
So  steht  z.  B.  Hamburg  und  Bremen  mit  Dort- 
mund auf  dem  Boden  des  Quotenerbrechts, 
Hannover  und  Lüneburg  auf  dem  Boden  des 
Alleinerbrechts  am  gesammten  Nachlass. 

Bei  beerbter  Ehe  hat  das  westfäli- 
sche Recht  schon  nach  dem  Zeugniss  der  Lex 
Saxonum  gütergemeinschaftliche  Tendenz:  zum 
Frauenvermögen  gehört  ausser  den  eingebrach- 
ten  Immobilien  der  Frau  und  der  Gerade  die 
Hälfte  der  ehelichen  Errungenschaft.  Auf  dem 
Standpunkt  dieser  altwestfälischen  Errungen- 
scbaftsgemeinschaft  für  die  beerbte  Ehe  scheint 
das  westfälische  Landrecht  mit  verschwindenden 
Ausnahmen  (so  das  Gebiet  des  Stiftes  Corvey) 
stehen  geblieben  zu  sein  (S.  111).  Die  west- 
falischen Städte  haben  auch  hier,  und  zwar,  wie 
es  scheint,  in  Folge  der  Anforderungen  der 
städtischen  Wirthschaft,  das  System  des  Land- 
rechts fortgebildet,  und  sind  einen  Schritt  wei- 
ter gegangen.  Das  westfälische  Stadtrecht 
lässt,  unter  der  Führung  von  Soest,  Lübeck, 
Dortmund  für  die  beerbte  Ehe  an  die  Stelle  der 
Errungenschaft8gemeinscbaft  durchweg  die  all- 
gemeine Gütergemeinschaft  mit  Halbtheilung 
nach  Auflösung  der  Ehe  treten  (S.  119  ff.  145). 
Der  juristische  Charakter  dieses  westfälischen 
Stadtrechtssystems  ist  bisher  unter  mancherlei 
Controversen  namentlich  an  den  ßechtssätzen 
des  lübischen  Rechts  zur  Verhandlung  gekom- 
men. Das  lübische  Recht  steht  dem  westfäli- 
schen Landrecht  am  nächsten.  Während  die 
Dortmunder  Stadtrechtsgruppe  bei  jeder  Ehe, 
auch  bei  der  kinderlosen,  allgemeine  Güterge- 


684  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  22. 

meinschaft  eintreten  lässt  (vgl.  oben),  hat  das 
lübische  Recht  den  altwestfälischen  Gedanken 
festgehalten,  dass  nur  die  beerbte  Ehe  eine  gü- 
tergemeinschaftlich e Ehe  ist.  Der  Verfasser 
zeigt,  gegen  Gropp,  dass  auch  die  Güterge- 
meinschaft des  lübischen  Rechts  eine  Güterge- 
meinschaft unter  Lebenden,  nicht  blos  von  To- 
des wegen  ist,  und  zwar  dadurch  ausgezeichnet, 
dass  sie  auch  während  der  Ehe  nur  dauert, 
wenn  und  so  lange  Kinder  da  sind,  so  dass  die 
lübische  Gütergemeinschaft  durante  matrimonio 
durch  Geburt  eines  Kindes  eintritt  und  durch 
Absterben  aller  Kinder  wieder  aufhört  (S.  305  ff.): 
ein  System,  von  dessen  praktischer  Anwendung 
es  allerdings  schwer  ist,  sich  eine  klare  Vor- 
stellung zu  machen. 

In  den  geschilderten  beiden  Gütersystemen 
des  ostfälischen  und  des  westfälischen  Rechts 
sind  die  originalen  Hervorbringungen  des  säch- 
sischen Rechts  erschöpft.  Und  auch  hier  schon 
zeigt  sich  im  Herzen  des  Sachsenlandes  der  Ein- 
fluss des  im  Mittelalter  übermächtigen  fränki- 
schen Rechts:  das  wichtige  Dortmunder  Stadt- 
recht hat  ersichtlich  unter  der  Einwirkung  des 
benachbarten  fränkischen  Rechts,  welches  seine 
Errungenschaftsgemeinschaft  ohne  Rücksicht  auf 
das  Dasein  von  Kindern  eintreten  lässt,  die  alt- 
westfälische  Unterscheidung  der  kinderlosen  und 
der  beerbten  Ehe  aufgegeben  (S.  104.  3li)  und 
zeigt  sogar  das  von  Dortmund  beeinflusste  Ham- 
burger Recht  Anklänge  an  die  fränkische  Dritt- 
theilung.  Dagegen  stellt  sich  das  thüringi- 
sche Recht  als  eine  blosse  Provinz  des  fränki- 
schen Rechts  dar.  Sowohl  in  den  nordthüringi- 
schen, um  Goslar  und  Mühlhausen  gelagerten, 
wie  in  den  südthüringischen  Städten,  deren 
Mittelpunkt  Eisenach  bildete,  galt  die  fränkische 


Schröder,  D.  ehel.  Güterrecht  Norddeutschi.  685 

Errungenschaftsgemeinschaft,  mit  Hinterfälligkeit 
der  Immobilien  unbeerbter,  mit  Verfangenschaft 
(jedoch  in  der  Regel  durch  Theilrecht  modifi- 
cirt)  bei  beerbter  Ehe  (S.  69  ff.  187  ff.).  Die 
Goslarische  Städtegruppe  war  zuerst  von  Hä- 
n'el  ausgeschieden  worden,  jedoch  unpassend 
unter  den  Gesichtspunkt  ostfalischen  Rechts  ge- 
bracht. Agr i cola  hatte  bereits  den  sächsi- 
schen Charakter  dieser  Stadtrechtsgruppe  be- 
zweifelt (vgl.  Roth  in  der  krit.  Vierteljahrsschr'. 
XII,  S.  598).  Der  fränkische  Charakter  dersel- 
ben, und  damit  die  Einreihung  dieser  Erschei- 
nung in  die  Reihe  der  Machtäusserungen  des 
fränkischen  Rechts  ist  durch  die  gründlichen 
Untersuchungen  Schroder’s  jetzt  sicher  ge- 
stellt. 

Das  weite  Gebiet  der  sächsischen  Colo- 
nisation bietet  ein  höchst  eigentümliches 
Schauspiel:  hier,  wo  die  deutsche  Einwanderung 
aus  verschiedenen  Quellen  zusammenströmte, 
finden  wir,  der  Mischung  der  Bevölkerung  ent- 
sprechend, eine  Reihe  von  Rechtssystemen  ne- 
ben einander.  Insbesondere  ist  gerade  das  ehe- 
liche Güterrecht  der  Punkt,  in  welchem  die  Ein- 
wanderer am  zähesten  an  ihrem  angeborenen 
Recht  festhalten,  auch  wenn  sie  sonst  zu  dem 
im  Ganzen  das  Gebiet  der  Colonisation  be- 
herrschenden ostfalischen  Recht  übergegan- 
gen sind. 

Nicht  ehrtnal  das  Landrecht  finden  wir 
hier  einheitlich  gestaltet.  Wohl  gilt  im  Allge- 
meinen das  Recht  des  Sachsenspiegels,  also  ost- 
fälisches  Recht  auf  dem  platten  Lande  östlich 
von  der  Elbe ; aber  weite  Gebiete  haben  gerade 
für  das  eheliche  Güterrecht  dem  Recht  des 
Sachsenspiegels  sich  entzogen.  Unter  westfäli- 
schem Recht;  (dem  lübischen  Recht  verwandt) 


686  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

stand  das  Fürstentham  Breslau  (S.  35),  und  an- 
scheinend auch  die  Insel  Bügen  (S.  123).  Den 
grössten  Einfluss  aber  hat  das  flämische  Recht 
geübt.  Es  war  Landrecht  in  der  Mark  Bran- 
denburg, in  den  Herrschaften  Burg  und  Star- 
gard,  im  Herzogthum  Preussen,  im  Lande  Kott- 
bus, in  den  holsteinischen  Marschen  und  in  den 
zahlreichen  flämischen  Golonieen,  so  auf  dem 
Fläming  und  in  der  goldenen  Aue  (S.  145). 
»Während  der  Westfale  mit  Vorliebe  die  Städte 
aufsucht,  war  die  flämische  Einwanderung  in 
erster  Reihe  auf  das  platte  Land  berechnet,  ins- 
besondere wo  es  galt,  Sumpf-  und  Moorlände« 
reien  der  Cultur  zu  gewinnen*). 

Das  stadtrechtliche  eheliche  Güterrecht 
der  colonisirten  Gebiete  tritt  fast  durchweg  zum 
ostfalischen  Recht  in  Gegensatz.  Am  Ostsee- 
strande  herrscht  in  den  Städten  lübisches,  also 
westfälisches,  eheliches  Güterrecht.  Die  Städte 
des  Binnenlandes  stehen  im  Allgemeinen  unter 
der  Herrschaft  Magdeburger,  also  ostfalischen, 
Stadtrechts.  Aber  die  wenigsten  Städte  haben 
das  »plen&rium  jus  Magdeburgense«  (S.  54). 
Das  volle  und  das  mindere  Magdeburger  Recht 
unterscheiden  sich  gerade  dadurch,  dass  das 
Magdeburger  eheliche  Güterrecht  dort  mit  auf« 
genommen,  hier  ausgeschlossen  ist.  Und  die 
meisten  Städte  Magdeburger  Rechts  haben  nur 
das  mindere  Magdeburger  Recht  empfangen, 
d.  h.  in  das  ostfälische  Stadtrecht  ist  ein  Güter- 
rechtssystem anderen  Ursprungs  eingeschoben: 
die  Wanderer  aus  der  Ferne  haben  ihr  heimath- 
liche8  eheliches  Güterrecht  sich  erhalten,  wenn 
gleich  sie  sonst  dem  im  fremden  Lande  domi- 

*)  Schröder  in  v.  Sybels  Hist.  Zeitschr.  XXXI, 
S.  310. 


Schröder,-  D.  ehel.  Gäterrecht  Norddeutschi.  687 

nirenden  Recht  sich  gefügt  haben.  Das  eheliche 
Güterrecht  der  Städte  des  Binnenlandes  ist,  von 
den  wenigen  Städten  mit  vollem  Magdeburger 
Becht  abgesehen,  durchweg  fränkischen  Ur- 
sprungs. Wir  unterscheiden  zwei  Formen  die- 
ses fränkischen  Hechts : das  flämische  Becht  und 
das  Drittheilsrecht. 

Des  flämischen  Bechts  ist  schon  vorhin 
gedacht  worden.  Während  das  Drittheilsrecht 
(als  deutsches  Becht)  nur  Stadtrecht  ist,  hat 
das  flämische  Becht  auch  weite  Strecken  des 
platten  Landes  sich  unterworfen.  Es  gilt  in  den 
oben  genannten  Gebieten  wie  als  Landrecht,  so 
auch  als  Stadtrecht.  Ausserdem  gilt  flämisches 
eheliches  Güterrecht  in  einer  Beihe  von  einzel- 
nen Städten:  so  in  vielen  Städten  Schlesiens, 
und  der  Niederlausitz  (S.  62  ff.),  in  Schleswig 
und  Mecklenburg  (S.  51.  135).  Das  flämische 
Becht  ist  fränkisches,  und  zwar  niederfränki- 
sches Becht:  seine  Gütergemeinschaft  tritt  in 
Folge  jeder  Ehe  ein  ohne  Unterscheidung  der 
beerbten  und  der  kinderlosen  Ehe.  Aber  das 
flämische  Becht  ist  modificirtes  niederfränkisches 
Becht:  modificirt  durch  die  Einflüsse  des  be- 
nachbarten friesischen  und  westfälischen  Bechts. 
An  die  Stelle  der  fränkischen  Drittheilung  ist 
die  friesisch-westfälische  Halbtheilung  (zugleich 
die  Gleichstellung  von  Mobilien  und  Immobilien, 
und  damit  die  Beseitigung  der  Verfangenschaft) 
getreten,  und  die  Errungenschaftsgemeinschaft 
hat  sich  in  eine  allgemeine  Gütergemeinschaft 
verwandelt*).  Das  Dortmunder  Stadtrecht,  wel- 
ches als  Oberhof  den  westlichen  Theil  West- 
falens beherrschte,  und  die  bereits  oben  in  Ver- 
bindung mit  demselben  genannten  Stadtrechte 

*)  Vgl.  Schröder  a.  a.  0.  S.  307.  808. 


68a  Gott  gel.  Anz.  1874.  Stack  22. 

von  Hamburg  und  Bremen  sind  im  Grunde  le- 
diglich Ausdruck  dieses  flämischen  Rechts- 
systems, welches,  wie  östlich  der  Elbe,  so  aueb 
auf  altsächsischem  Boden  Wurzel  geschlagen, 
hatte. 

Das  Drittheilsrecht  hat  ein  beschränk- 
teres Geltungsgebiet.  Es  gilt  in  den  Stadtrech- 
ten der  Markgrafschaft  Meissen,  in  Böhmen  und 
Mähren,  und  hie  und  da  in  der  Niederlausitz 
und  Oberschlesien  (S.  80  ff.  137  ff.).  Es  er- 
scheint in  zwei  Formen.  Die  eine  ist  die  regel- 
mässige, und  beherrscht  Böhmen,  Mähren  mit 
den  nächstbenachbarten  Gebieten.  Sie  unter- 
scheidet nicht  zwischen  unbeerbter  und  beerbter 
Ehe;  in  beiden  Fällen  gilt  allgemeine  Güter- 
gemeinschaft, und  nimmt  nach  Auflösung  der 
Ehe  die  überlebende  Frau  ein  Drittel,  der  über- 
lebende Mann  das  Ganze  des  gesammten  ehe- 
lichen Vermögens.  Die  andere  Form  hat  ihren 
Sitz  in  den  Städten  des  Meissner  Landes,  und 
ist  im  Rechtsbuch  nach  Distinctionen  zur  Dar- 
stellung gekommen.  Sie  unterscheidet  wenig- 
stens für  die  Wittwe  die  unbeerbte  von  der  be- 
erbten Ehe.  Die  kinderlose  Wittwe  nimmt  ihr 
Eingebrachtes  und  ein  Drittel  vom  Nachlass  des 
Mannes,  die  mit  Kindern  concurrirende  Wittwe 
dagegen  ein  Drittel  vom  gesammten  ehelichen 
Vermögen,  während  der  überlebende  Mann  auch 
hier,  bei  unbeerbter  wie  beerbter  Ehe,  den  ge- 
sammten Nachlass  aus  der  Ehe  erwirbt.  Der  Ur- 
sprung dieses  Drittheilsrechtes  wird  sich  schwer- 
lich mit  Sicherheit  feststellen  lassen.  Schrö- 
der opponirt  gegen  v.  Martitz,  welcher  Letz- 
tere dem  Drittheilsrecht  fränkischen  Ursprung 
zugeschrieben  batte.  Schröder  will  (S.  97  ff.) 
das  Drittheilsrecht  auf  czechische  Grundlage 
zurückführen.  Allerdings  muss  nach  Schrö- 


Schroder,  D.  ehel.  Güterrecht  Norddeutsch!.  689 

d e r * s Untersuchungen  angenommen  werden, 
dass  das  Drittheilsrecht  zweifellos  nicht  reines 
fränkisches  Recht  ist.  Dass  in  den  meissnischen 
Städten  das  Drittheilsrecht  zwischen  kinderloser 
und  beerbter  Ehe  unterscheidet,  und  nur  im 
letzten  Fall  Gütergemeinschaft,  im  ersten  aber 
Gütertrennung  eintreten  lässt,  ist  dem  fränki- 
schen Recht  direct  zuwider.  Ebenso  wenig 
fränkisch  ist,  dass  das  Drittheilsrecht  nur  auf 
die  Wittwe  Anwendung  findet,  während  der 
Mann  Alleinerbe  ist  (nur  ausnahmsweise  finden 
sich  die  zwei  Drittel  des  Mannes,  S.  148).  Es 
kommt  hinzu,  dass  das  Drittheilsrecht  schon  im 
altböhmischen  Landrecht  bezeugt  ist,  also  alt- 
czechischem  Recht  entspricht  (S.  98).  Da  aber 
andererseits  der  von  Martitz  geltend  gemachte 
Zusammenhang  der  böhmischen  und  mährischen 
Städtegründung  mit  flandrischer  Einwanderung 
ebenso  ausser  Zweifel  steht,  so  wird  die  ver- 
mittelnde Ansicht  am  meisten  für  sich  haben, 
welche  Schröder  selber  neuerdings  ausge- 
sprochen*), dass  nämlich  das  Drittheilsrecht 
fränkisches  Recht  ist,  aber  beeinflusst  durch 
altczechische  Gewohnheiten. 

In  einem  Anhang  (S.  389  ff.)  hat  der  Ver- 
fasser das  friesische  Recht  dargestellt.  Es 
ergiebt  sich  eine  überraschende  Uebereinstimmung 
des  friesischen  und  des  altwestfälischen  Rechts. 
Auch  bei  den  Friesen  finden  wir  die  Unter- 
scheidung der  kinderlosen  und  der  beerbten 
Ehe,  und  gilt  auch  hier  für  die  kinderlose  Ehe 
Gütertrennungsprincip,  für  die  beerbte  Ehe  (der 
Beerbung  der  Ehe  steht  bei  Mittel-  und  West- 
friesen der  Ablauf  von  Jahr  und  Tag  nach 
Schliessung  der  Ehe  gleich)  Gütergemeinschafts- 

*)  Hist.  Zeitschr.  a.  a.  0.  S.  311. 


690  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

princip,  nämlich  Gemeinschaft  der  fahrenden 
Habe  und  der  Immobiliarerrungenschaft  mit 
Halbtheilung  bei  Auflösung  der  Ehe. 

Das  Hauptinteresse  der  Darstellung  falltauf 
das  im  Vorstehenden  charakterisirte  gesetz- 
liche eheliche  Güterrecht.  Die  Untersuchungen 
des  Verfassers  über  das  vertragsmässige 
eheliche  Güterrecht  (S.  329  ff.)  erstrecken  sich 
auf  die  Morgengabe,  die  Leibzucht  , die  Ursal 
und  das  Sondergut  der  Frau,  die  Vergabungen 
unter  Ehegatten  und  die  vertragsmässige  Güter- 
gemeinschaft, die  Ausschliessung  der  Güterge- 
meinschaft und  die  Einkindschaft.  So  verdienst- 
voll die  Untersuchungen  des  Verfassers  auch  an 
dieser  Stelle  sind,  so  macht  sich  hier  doch  der 
Uebelstand  bemerkbar,  dass  unsere  Kenntniss 
des  mittelalterlichen  Sachen-  und  Obligationen- 
rechts noch  so  äusserst  unvollkommen  ist.  Der 
Verfasser  sieht  sich  häufig,  so  namentlich  bei 
der  Lehre  von  der  Ursal  und  von  den  Verga- 
bungen unter  Ehegatten,  genöthigt,  mit  den  all- 
gemeinen Principien,  insbesondere  des  Sachen- 
rechts zu  operiren.  Seine  Schlüsse  z.  6.  aus 
dem  Wesen  der  Auflassung  (S.  358)  oder  aus 
dem  Rechtssatz  des  Sachsenspiegels  von  der 
»Wiedererstattung«  als  Voraussetzung  der 
Schuldhaftung  des  Erben  (S.  357)  werden  zwei- 
felhaft bleiben,  so  lange  wir  weder  über  das 
Eine  noch  über  das  Andere  genügende  Klarheit 
haben.  Das  Bedürfniss  nach  einer  eindringen- 
den Bearbeitung  des  mittelalterlichen  Vermögens- 
rechts macht  sich  gerade  bei  solchen  Unter- 
suchungen, wie  der  Verfasser  sie  hat  führen 
müssen,  doppelt  lebendig  fühlbar.  Von  den  ein- 
zelnen sicheren  Resultaten  des  Verfassers  ist  be- 
sonders hervorzuheben,  dass  der  Rechtssatz 
»Kinderzeugen  bricht  Ehestiftung«  nicht  etwa 


Schröder,  D.  ehel.  Güterrecht  Norddeutsch!.  691 

einen  Gedanken  des  Notherbrechts,  sondern  viel- 
mehr den  Rechtssatz  des  ehelichen  Güterrechts 
ausspricht,  dass  die  beerbte  Ehe  nur  gesetzli- 
ches, nicht  vertragsmässiges  Güterrecht  kennt, 
dass  also  die  Geburt  eines  Kindes  die  Aufhebung 
des  vertragsmässigen  Güterrechts  beweist.  Dieser 
Rechtssatz  gilt  nicht  allgemein,  aber  doch  in  der 
Regel  da,  wo  die  beerbte  Ehe  eine  Ehe  mit 
Gütergemeinschaft  ist  (S.  331.  386). 

Die  Arbeit  des  Verfassers  setzt  uns  in  den 
Stand,  zugleich  eine  Frage  von  allgemeiner 
Tragweite  zu  beantworten.  Die  ältere  Juris- 
prudenz lehrte,  dass  die  Gütergemeinschaft  in 
den  Städten,  also  in  Folge  wirthschaftlicher 
Gründe,  ihren  Anfang  genommen  hätte.  Diese 
Anschauung  ist  erst  durch  den  epochemachen- 
den Aufsatz  Roth’s  in  ßekker  und  Muther’s 
Jahrbuch  UI,  S.  313  ff.  beseitigt  worden,  indem 
Roth  in  Anschluss  an  Euler  und  Schwarz 
zeigte,  dass  die  Gütergemeinschaft  bereits  im 
Mittelalter,  und  zwar  innerhalb  bestimmter 
Stammesgebiete,  entwickelt  sei,  dass  die  Güter- 
gemeinschaft und  Gütertrennung  einen  Stammes-, 
also  landrechtlichen  Gegensatz,  den  Gegensatz 
nämlich  des  fränkischen  Rechts  (mit  dem 
schwäbischen  und  bairischen  Recht  als  seinen 
Dependenzen)  und  des  sächsischen  Rechts  be- 
zeichne, dass  also  nicht  wirtschaftliche  Motive, 
sondern  nationale  Rechtsüberzeugungen  den 
Grund  für  die  Ausbildung  der  Gütergemeinschaft 
darstellten.  Später  hat  v.  Martitz  die  wirt- 
schaftlichen Anforderungen  des  städtischen  Le- 
bens wieder  in  den  Vordergrund  gerückt.  Die 
Arbeit  Schroder’s  lässt  uns  nun  über  diese 
so  wichtige  Frage  ein  endgültiges  Urteil  ge- 
winnen. Es  ergiebt  sich,  dass  die  Grundlage 
der  Gegensätze  des  ehelichen  Güterrechts 


692  Gott.  gel.  Anz.  1674.  Stück  22. 

nickt  in  wirtschaftlichen  Anforderungen  zu 
suchen  sind.  Die  Abweichung  der  Städte  öst- 
lich von  der  Elbe  von  dem  ostfälischen  eheli- 
, chen  Güterrecht  hat  ihre  Motive  ausschliesslich 
in  der  Nationalität  der  Einwanderer,  welche 
diese  Städte  gründeten.  An  der  Hand  des  ehe- 
lichen Güterrechts  können  wir  sicherer  als  an 
sonstigen  Zeugnissen  die  Ströme  der  deutschen 
Auswanderung  verfolgen,  welche  Norddeutschland 
germanisirten*).  Um  so  sicherer  ist  der  Schluss 
von  dem  ehelichen  Güterrecht  auf  die  Nationa- 
lität, da  wir  in  Magdeburg  und  den  mit  vollem 
Magdeburger  Hecht  bewidmeten  Städten,  trotz 
reich  entwickelten  städtischen  Lebens  dennoch 
keine  Gütergemeinschaft,  sondern  nur  eine  Fort- 
bildung (den  städtischen  Bedürfnissen  entspre- 
chend) des  Gütertrennungssjstems  vor  uns 
sehen.  Die  Gegensätze  des  deutschen  ehelichen 
Güterrechts  haben  danach  (auch  in  den  Städten) 
1 a n d rechtliche  Motive.  Aber  innerhalb  4er 
Stammesrechte  wird  seit  dem  12.  Jahrhundert 
der  Gegensatz  von  Stadt  und  Land  bedeutend. 
Es  ist  oben  schon  betont  worden,  wie  innerhalb 
des  westfälischen  Rechts  das.  Stadtrecht  dem 
Landrecht  gegenübertritt.  Das  Stadtrecht  stellt 
durchweg  eine  fortgeschrittene  Form  des  Land- 
rechts dar.  Also:  das  Stadtrecht  vermag  wohl 
dem  Stammesrecht  eine  höhere  Entwickelungs- 
stufe zu  geben,  nicht  aber,  sich  vom  Stammes- 
recht loszulösen.  Der  bedeutende  Gedanke  der 
Zurückführung  der  deutschen  Rechtsentwicke- 
lung auf  die  Stammesgegensätz£,  welchen  Roth 
für  uns  lebendig  gemacht  hat,  gewinnt  seine 

*)  Von  diesem  Gesichtspunkt  ans  hat  Schröder 
in  der  Hist.  Zeitschr.  a.  a.  0.  S.  289 ff.  eine  interessante 
Zusammenstellung  seiner  Resultate  gegeben. 


Jahrb.d.  hist.  Ver.d.  Kant.  Glarus.  8. 9.10.H.  693 


Ausführung  and  seinen  Beweis  durch  die  vor- 
liegende Arbeit  Schroder's.  Auch  auf  dem 
Gebiet  des  deutschen  Familienrechts  sind  es 
nicht  Nützlichkeitserwägungen,  nicht  Interessen- 
anforderungen, sondern  die  angeborenen  ethi- 
schen Ueberzeugungen  der  Nation,  welche  den 
grossen  Gang  der  Rechtsgeschichte  bestimmt 
haben.  Die  wirtschaftlichen  Interessen  haben 
nur  vermocht  zu  modificiren,  nicht  zu  produ- 
ciren. 

Strassburg  i.  E.  Sohm. 


Jahrbuch  des  historischen  Vereins 
des  Kantons  Glarus.  Achtes  Heft. 
120  S.  (m.  4 chromolith.  Tfln.)  und  pp.  561 — 
600  der  Urkundensammlung  (mit  Separatpagina- 
tur).  Neuntes  Heft.  94  S.  und  pp.  601 — 
640,  sowie  pp.  I — XVI.  Zehntes  Heft.  100  8. 
(m.  1 lith.  Tfl.)  und  pp.  1—48  von  Bd.  H der 
Urkundensammlung.  — Zürich  und  Glarus, 
Meyer  und  Zeller,  1872.  1873.  1874.  Gross 
Octav. 

Drei  weitere  Hefte  and  von  der  in  der 
Ueber8chrift  genannten  Publication  erschienen, 
seitdem  die  fünfte  bis  siebente  Lieferung  hier 
besprochen  worden  sind  (Gott.  gel.  Anz.  1871. 
Stück  3).  Ganz  besonders  erwünscht  ist,  dass 
der  erste  Band  der  »Urkundensammlung« 
nunmehr  zum  Abschlüsse  gelangte;  mit  dem 
neuesten  Hefte,  das  die  ersten  drei  Bogen  des 
zweiten  Bandes  bringt,-  gewinnt  die  vortreffliche 
Bearbeitung  des  Schatzes  urkundlicher  Materia- 
lien, oder  vielmehr,  genauer  gesprochen,  des  ge- 

44 


694  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  2 2. 

sammten  Quellenstoffes  zur  glarnerischen  Ge- 
schichte, durch  den  Vereinspräsidenten  Dr.  J. 
J.  Blume  r seine  Fortsetzung. 

Die  zwei  letzten  Hefte  von  Bd.  I.  enthalten 
von  dieser  Urkundensammlung  zur  Ge- 
schichte des  Kantons  Glarus  neben  zwei 
Nachträgen*)  21  Nummern  aus  den  Jahren 
1419  bis  1436/7.  Im  ersten  Heft  von  Bd.  H. 
kommen  nach  sechs  weiteren  Ergänzungen  zu 
Bd.  I.  fünf  Stücke  zur  Geschichte  des  Jahres 
1436  und  des  Anfangs  von  1437.  Ein  stets 
reicher  werdendes  Material  wird  mit  zunehmen- 
der Eindringlichkeit  und  Beherrschung  bearbei- 
tet; dagegen  tritt  bisher  ungedruckter  Quellen- 
stoff mehr  zurück« 

Es  ist  schon  1871  (1.  c.  p.  113)  darauf  hin- 
gewiesen worden,  dass  der  Abschluss  des  ersten 
Bandes  zeitlich  bis  an  den  Anfang  des  grossen 
Bürgerkrieges  in  der  Eidgenossenschaft  hinfuh- 
ren werde,  welcher  wegen  der  Frage  über  die 
am  30.  April  1436  durch  den  Tod  des  Grafen 
Friedrich  von  Toggenburg  erledigte  Erbschaft 
ausbrach.  In  den  erläuternden  Excursen  zu 
den  einschlägigen  Chronikstellen  (aus  dem  so- 
genannten Klingenberg  und  des  Schwyzer  Land- 
schreibers Hanns  Fründ  Erzählung:  über  Fründ 
vergl.  G.  g.  A.  1872,  pp.  392—395)  und  Ur- 
kunden beginnt  Blumer  geradezu  eine  Geschichte 
dieses  Kampfes  zu  geben , an  welchem  Glarus, 
neben  Schwyz  Hauptgegner  Zürichs,  einen  so 
grossen  Antheil  nahm.  Ganz  erschöpfend  wer- 

*)  Der  eine  derselben,  Nachtrag  J)  zu  No.  111,  ist 
eine  etwa  ein  halbes*  Jahrhundert  nach  dem  Ereignisse 
geschriebene  Erzählung  der  Näfelser  Schlacht  von  1388, 
mit  einer  sonst  nirgends  gebrachten,  allerdings  märchen- 
haft gestalteten  Erwähnung  des  die  Abwehr  der  Glar- 
ner fördernden  schlechten  Aprilwetters  am  Schlachttage. 


Jahrb.d.  hist.  Ver.d.  Kant.  Glarus.  8.9.10.H.  695 

den  die  Verhältnisse  derjenigen  Theile  der  Erb- 
schaft, welche  für  die  Kriegführenden  in  Betracht 
kamen,  erörtert,  der  Landschaften  Sargans  und 
Gaster  aus  der  Gruppe  der  österreichischen 
Pfandschaften  des  Grafen,  und  der  Länder  Utz- 
nach  und  Toggenburg,  welche  eigene  Gebiete 
desselben  gewesen  waren.  Zürich,  you  Bürger- 
meister Stüssi,  der  seiner  Abstammung  nach 
selbst  ein  Glarner  war,  geführt,  schloss  am  21. 
December  1436  ein  Burgrecht  mit  den  Sargan- 
serländem;  aber  in  den  gleichen  Tagen  nahmen 
Schwyz  und  Glarus  die  Toggenburger,  Utz- 
nacher  und  Gasterer  in  ihr  Landrecht  auf  und 
trennten  so  Zürich  von  seinen  neuen  Verbünde- 
ten, vereitelten  den  Versuch  der  Stadt,  sich  auf 
der  alten  Handelsstrasse  linthaufwärts  gegen 
Rätien  und  Italien  dauernd  festzusetzen,  wäh- 
rend dagegen  die  Zürcher  an  der  Grafschaft 
Utznach  Eigenthum  durch  Schenkung  der  Gräfin- 
wittwe,  an  der  Herrschaft  Windeck-Gaster  ein 
Lösungsrecht,  durch  königliche  Ermächtigung 
zu  haben  glaubten.  Utznach  wurde  nun  gegen 
die  Zürcher  besetzt;  Schwyz  und  Glarus  schlos- 
sen auch  mit  dem  Grafen  Heinrich  vonWerden- 
berg-Sargans,  am  30.  Januar  1437,  ein  Land- 
recht, d.  h.  mit  dem  eigentlichen  Erben  des 
Sarganserlandes,  welcher  durch  die  von  Herzog 
Friedrich  von  Oesterreich  erlaubte  Wiederlösung 
des  Pfandes  als  Herrn  des  Gebietes  sich  wie- 
der ansah,-  aber  durch  das  Burgrecht  seiner 
Unterthanen  mit  Zürich  schwer  verletzt  worden 
war*  — Nur  drei  Vierteljahre  nach  des  Toggen- 
burgers  Tode  war  dergestalt  schon  überreich- 
lich der  Anlass  zum  Kriege  vorhanden,  dessen 
allerdings  noch  bis  1440  verschobenen  wirkli- 
chen Ausbruch  die  Stücke  des  nächsten  Heftes 
bringen  werden. 

44* 


696  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  22. 

Bei  den  übrigen  Nummern  ist  die  Anmer- 
kung zu  dem  Münzvertrag  von  1425  (No.  175) 
besonders  hervorzuheben.  Bemerkenswerth  sind 
weiter  die  Versuche  der  Glarner  (1428,  1430: 
No.  183,  187),  an  der  Stelle  des  für  sie  un- 
günstiger lautenden  Bundes  von  1352  einen 
neuen  besseren  Bundesbrief  gegenüber  den  vier 
mit  ihnen  verbündeten  Orten  zu  gewinnen:  An- 
strengungen zur  Erreichung  von  Gleichberechti- 
gung, die  erst  1450  zum  Ziele  führten. 

Unter  den  acht  grösseren  und  kleineren  Ab- 
handlungen der  drei  vorliegenden  Hefte  he- 
ben wir  zunächst  aus  Heft  VIII  eine  Fortsetzung 
früherer  Aufsätze  hervor  (vgl.  G.  g.  A.  1868  p. 
699,  1871  pp.  106  und  107):  Der  Kanton 
Glarus  unter  der  Helvetik,  über  den 
Zeitraum  vom  Herbst  17  99  bis  August 
1802,  von  Dr.  J.  Heer.  Eine  ereignissreiche 
Epoche  ist  hier  behandelt:  beginnend  mit  dem 
gänzlichen  Abzüge  der  Heere  der  Coalition  und 
der  völligen  Wiederherstellung  der  Einrichtun- 
gen der  helvetischen  Republik  auch  für  den 
Kanton  Linth,  dann  die  in  successiven  Staats- 
streichen sich  äussernden  Schwankungen  des 
Uebergewichtes  bald  der  unitarischen,  bald  der 
föderalistischen  Parteirichtung  im  helvetischen 
Staatskörper,  bis  zu  dem  Momente,  wo  durch 
die  glücklich  durchgeführte  Erhebung  der  Alt- 
gesinnten in  den  früheren  herrschenden  Städten 
und  ehemaligen  Landsgemeinde-Kantonen  der 
Sieg  des  Princips  der  Decentralisation  entschie- 
den zu  sein  schien:  auch  das  als  Kanton  sich 
wiederherstellende  Glarus  hielt  am  20.  August 
1802  seine  Landsgemeinde  ab;  — das  unmittel- 
bar darauf  Folgende,  Bonaparte's  Intervention, 
die  vorübergehende  Wiedereinsetzung  der  ver- 
jagten Centralgewalt  unter  Frankreichs  Schutz, 


Jahrb.  d.  hist.  Ver.  d.  Kant.  Glarus.  8.9. 10.  H.  697 


• 

die  Berathang  and  Einführung  der  Ver  mit Je- 
lungsacte  1803,  ist  einer  späteren  Abhandlang 
Vorbehalten.  Seiner  Aufgabe  gemäss  beschränkte 
sich  der  Verfasser  auf  die  Schilderung  der  Zu- 
stände eines  einzelnen  Theiles  der  helvetischen 
Republik;  aber  seine  auf  allein  erreichbaren 
Materiale  aufgebaute  Darstellung  ist  massgebend 
für  die  Beurtheilung  jener  Jahre  überhaupt,  we- 
nigstens was  die  ehemaligen  schweizerischen  De- 
mokratien anbetrifft.  Die  Ungewissheit  und 
Unklarheit  der  öffentlichen  Verhältnisse,  die 
mangelnde  Abgrenzung  der  einzelnen  Compe- 
tenzen  und  die  daraus  immer  neu  entstehenden 
Collisionen,  die  Unmöglichkeit  bei  dem  völligen 
Geldmangel  in  den  Staatskassen  auch  nur  im 
kleinsten  Umfange  den  gesteigerten  Anforde- 
rungen der  auf  modernsten  Anschauungen  be- 
ruhenden Verfassungsartikel  und  Gesetze  zu  ge- 
nügen: all  das  erklärt  »die  Sterilität,  den  allge- 
meinen Fluch  der  helvetischen  Periode«.  Eine. 
Menge  löblichster  Anstrengungen  ohne  jede- 
Frucht;  »eine  Maschine,  welche  schlecht  con- 
struct, den  grössten  Theil  der  an  ihr  produ- 
cirten  Kraft  für  die  Ueberwindung  der  durch 
ihre  eigenen  Räder  entstehenden  Reibung  nutz- 
los verbraucht«;  dazu  eine  Bevölkerung,  die 
gleichgültig  oder  geradezu  abweisend,  bei  jeder 
den  bestehenden  Verhältnissen  ungünstigeren 
Wendung  widersetzlich  sich  zeigt,  durch  die 
Kriegsleiden  verarmt,  ohne  die  Mittel  die  ganz 
ungewohnte  Steuerlast  zu  tragen.  Um  noch 
einen  einzelnen  Punkt  zu  betonen,  weisen  wir 
auf  die  genauen  Angaben  betreffend  die  merk- 
würdige Kinderemigration  hin,  welche,  wie  aus 
anderen  schweizerischen  Gebirgsgegenden,  auch 
aus  Glarus  nach  vom  Kriege  weniger  heimge- 
suchten Theilen  der  Schweiz  im  Frühjahr  1800 


698  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

stattfand:  aus  Glarus  16  Zage  mit  zusammen- 
gerechnet etwa  1250  Kindern,  wovon  ungefähr 
630  ans  dem  Hinterlande,  den  eigentlichen 
Hochgebirgsthälem , von  denen  das  östliche 
dem  Heere  SuworofFs  als  letzte  Rückzugslinie 
gedient  hatte« 

Eine  einzelne  hervorragende  Persönlichkeit 
aus  der  Zeit  der  Staatsumwälzung  führt  der 
Actuar  des  Vereines,  Dr.  Jur.  Dinner,  wel- 
chem die  stets  sehr  instrnctiven  Protocolle  im 
Eingänge  der  Hefte  verdankt  werden,  in  Heft 
X.  vor,  den  General  Niklaus  Franz  von 
Bachmann  An-der-Letz,  dessen  Bild  in 
Lithographie  beigegeben  ist.  Bachmann  war 
ein  geborener  Näfelser,  katholischer  Confession. 
1757  im  17.  Jahre  in  französischen  Kriegsdienst 
eingetreten,  dem  schon  sein  Vater  sich  gewid- 
met, war  er  bis  zur  Revolution  zum  Befehls- 
haber eines  Regimentes  emporgerückt.  Erst  in 
seine  späteren  Jahre  fallt  der  Abschnitt  seines 
Lebens,  welcher  hier  speciell  behandelt  ist: 
Bachmann’s  Betheiligung  am  Feldzuge 
von  1815.  Nachdem  nämlich  Bachmann  1799 
bis  zum  Friedensschlüsse  1801  auf  der  Seite 
Oesterreichs  am  Kriege  gegen  die  französische 
Republik  sich  betheiligt  hatte  und  im  Herbst 
1802  an  der  Spitze  der  föderalistischen  Insur- 
rection gegen  die  helvetische  Regierung  gewesen 
war,  wurde  er  am  20.  März  1815  von  der  Tag- 
satzung ^ nach  Napoleon’s  Rückkehr  von  Elba  als 
Obergeneral  der  zur  Vertheidigung  der  Nord- 
westgrenze aufgeßtellten  eidgenössischen  Trup- 
pen erwählt.  Aus  den  Acten  des  eidgenössi- 
schen Archives,  besonders  aus  dem  noch  unge- 
druckten Berichte  Bachmanns  an  den  Tag- 
satzungspräsidenten über  seine  bis  26.  Juli  1815 
sich  erstreckende  Amtsführung  ist  diese  »eid- 


Jahrb.d.histVer.d.  Kant.  Glarus.  8.9. 10.  H.  699 

genössische  Bewaffnung«  geschildert:  ein  Unter- 
nehmen, welches  für  die  Schweiz  infolge  ihres 
Anschlusses  an  die  Alliirten  am  20,  Mai  im 
Falle  eines  Sieges  Napoleon’s  oder  auch  nur  der 
Wahl  eines  jurassischen  oder  elsässischen  statt 
des  belgischen  Kriegsschauplatzes  hoch  bedenk- 
lich hätte  werden  können.  Besonders  eine 
Massregel  des  Obergenerals,  das  Verlassen  des 
Neutralitätsgrundsatzes  durch  den  Einmarsch 
eines  Theiles  der  schweizerischen  Armee  auf 
französisches  Gebiet,  ein  Schritt,  dessen  Motive 
hier  eingehend  sich  dargelegt  finden,  wird  auch 
heute  noch  einer  sehr  verschiedenen  Beurthei- 
lung  — zumeist  sicherlich  einer  ungünstigen  — 
unterworfen  werden.  Bachmann  starb  1831  als 
91jähriger  Greis. 

Von  vorzüglichem  Interesse  sind  zwei  Ab- 
handlungen Dr.  Blumer’s  zur  Geschichte  des 
16.  Jahrhunderts,  in  Heft  IX  die  Reforma- 
tion im  Lande  Glarus,  1.  Abtheilung, 
und  in  Heft  X.  Aegidius  Tschudi  als 
Geschichtschreiber  (vgl.  G.  g.  A.  1871 
pp.  109—112  über  Blumers  biographischen  Auf- 
satz über  Tschudi,  in  Heft  VII).  — 

Die  erstgenannte  Arbeit  beruht  auf  hi- 
storiographischem  und  archivalischem  Materiale, 
dasselbe  zum  ersten  Male  gründlich  erschöpfend. 
Voran  steht  beim  ersteren  natürlich  die  in 
Bd.  IX.  des  »Archives  f.  Schweiz.  Geschichte« 
1853  durch  Blumer  selbst  edirte  Chronik  Va- 
lentin Tschudi’s*),  des  Schülers  und  Nachfol- 

*)  Zu  derselben  brachte  Bd.  XVHI.  des  »Archives« 
1873  einen  kritischen  Nachtrag  von  dem  Bearbeiter  der 
Tagsatzungsabschiede  der  Reformationsepoche,  Staats- 
archivar Strickler  in  Zürich.  Diese  »chronologische  Be- 
richtigung« thut  insbesondere  dar,  dass  der  ganze  Text 


700  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

gers  Zwingli’ s im  Pfarramte  zu  Glarus.  In  kla- 
rer Weise  wird  dargethan,  wie  es  kam,  dass 
das  Land  Glarus , »der  Milchbruder  der  Ur- 
kantone«,  in  der  confessionellen  Frage  der  über- 
wiegenden Mehrheit  nach  sich  von  seinen  Nach- 
barständen trennte  und  von  da  bis  zur  Gegen- 
wart (so  wieder  1874  bei  der  Abstimmung  über 
die  Revision  der  Bundesverfassung)  in  den  mei- 
sten Dingen  so  gründlich  abweichende  Bahnen 
einschlug.  Einerseits  ist  die  Ursache  dieser  Er- 
scheinung in  der  geographischen  Lage  zu  er- 
blicken, welche  die  Glarner  in  ähnlicher  Art 
nach  Zürich  als  dem  Verkehrsmittelpunkt  hin- 
weist, wie  die  Anwohner  des  Vierwaldstättersees 
nach  dem  allerdings  ungleich  näher  liegenden 
Luzern  sich  gezogen  fühlen,  während  zu  den 
unmittelbaren  Nachbarn  von  Glarus,  in  Uri  und 
Schwyz,  hohe  Gebirge  die  Beziehungen  erschwe- 
ren. Andrerseits  aber  waren  die  von  Zwingli 
während  seiner  zehnjährigen  seelsorgerlichen 
Thätigkeit  (1506  bis  1516)  ausgegangenen  An- 
regungen noch  nachdrücklich  wirksam,  so  dass 
eine  unter  seinem  Namen  ausgehende  Lehre  der 
Mehrzahl  der  Glarner,  vorzüglich  dem  gemeinen 
Manne,  schon  von  vorne  herein  empfohlen  war: 
um  auch  die  Obrigkeit  von  Glarus  zu  gewin- 
nen, widmete  Zwingli  1523  dem  Lande  Gla- 
rus seine  Auslegung  der  Schlussreden  der  er- 
sten Zürcher  Disputation,  d.  h.  nichts  Ande- 
res, als  das  bestimmt  formulirte  Programm  sei- 
ner ganzen  Reformation.  Allein  erst  nach  län- 

(Bd.  IX.  p.  340  unten  — p.  843  Mitte)  von  1525  in  das 
Jahr  1527  zu  versetzen  sei.  Nach  derselben  ist  auch  in 
diesem  Aufsatze  Blumer’s  die  pp.  16  und  17  erwähnte 
Landsgemeinde  in  der  Rufi  beiMitlödi  mit  der  zwei  Jahre 
später  gehaltenen  (pp.  20  und  21)  zu  identificiren. 


Jahrb.  d.  hist.  Ver.  d.  Kant.  Glarus.  8. 9. 10.  H.  701 


gerem  gefährlichem  Schwanken  zwischen  den 
fünf  Orten  auf  der  einen,  Zürich  auf  der  ande- 
ren Seite  kam  es  in  Glarus  dazu,  dass  der  Ein- 
fluss der  »Oligarchen«  geschwächt  werden  konnte  i 
mit  diesem  Namen  werden  die  Altgesinnten  im 
Bathe  durch  den  Glarner  Reformator  Fridolin 
Brunner  (Pfarrer  in  Mollis,  hernach  in  Matt) 
in  Briefen  an  seinen  Lehrer  Zwingli  benannt. 
Erst  Bern’s  Uebertritt  1528  gab  auch  für  Gla- 
rus den  Ausschlag  zu  Gunsten  der  Reformation, 
allerdings  nicht  ohne  den  lebhaftesten  Wider- 
spruch der  katholischen  Minorität,  zu  der  be- 
sonders die  angesehene  Familie  der  Tschudi 
zählte  — Valentin  hatte  sich  gleichfalls,  schon 
vor  Anfang  1527,  von  Zwingli’s  Sache  getrennt 
— ; Näfels,  noch  jetzt  das  einzige  glarnerische 
Dorf  mit  ganz  überwiegend  katholischer  Bevöl- 
kerung, war  der  Mittelpunkt  für  die  Altgesinn- 
ten. Nach  langen  Wirren  gelang  es  im  Januar 
1529  die  Anarchie  zu  beendigen  und  die  Ab- 
haltung von  Gericht  und  Rath  wieder  zu  er- 
möglichen; die  ordentliche  Landsgemeinde  ver- 
ständigte sich  dann  auch  über  die  Glaubensfrage 
in  der  neuen  Lehre  günstigen  Artikeln;  durch 
den  Mund  seines  Landammans  Aebli  vermochte 
das  selbst  zur  Ruhe  gelangte  Land  Glarus,  frei- 
lich gegen  Zwingli’s  Auffassung  der  politischen 
Dinge,  den  inneren  Krieg  in  der  Eidgenossen- 
schaft zu  vertagen:  der  am  25.  Juni  1529  be- 
siegelte erste  Cappeler  Friede  war  hauptsäch- 
lich Aebli’s  Werk.  — Die  Ereignisse  nach  dem- 
selben behält  der  Verfasser  einer  zweiten  Ab- 
theilung vor. 

In  der  Abhandlung  über  Tschudi  ist  in 
einem  gedrängten  Abrisse  der  Beweis  gebracht, 
»dass  Tschudi«,  wie  am  Schlüsse  gesagt  wird, 


702  Gott.  geL  Anz.  1874.  Stück  22. 

»durch  seine  classische  Bildung,  seine  umfas- 
sende Gelehrsamkeit,  seinen  rastlosen  Fleiss, 
durch  die  geachtete  Stellung,  welche  er  im  öf- 
fentlichen Leben  einnahm,  durch  seine  zahlrei- 
chen Verbindungen  mit  Staatsmännern,  Gelehr- 
ten und  geistlichen  Stiftern,  durch  seine  warme 
Vaterlandsliebe,  durch  die  Kraft  und  Anmuth 
seiner  Schreibweise  besonders  geeignet  war  zum 
Geschichtschreiber  der  Eidgenossenschaft  und 
dass  er  diese  Lebensaufgabe,  die  er  sich  ge- 
setzt, in  einer  Weise  gelöst  hat,  die  für  die 
Zeit,  in  welcher  er  lebte  und  wirkte,  kaum  et- 
was zu  wünschen  übrig  liess«.  Blumer  hat  den 
Geschichtschreiber  aus  dem  Geiste  seiner  eige- 
nen Zeit  heraus,  nicht  einseitig  vom  Standpunkte 
der  ungleich  höhere  Anforderungen  stellenden 
historischen  Wissenschaft  der  Gegenwart  aus, 
beurtheilt,  und  es  ist  ihm  das  sicherlich  in  vor- 
trefflicher Weise  gelungen.  Nur  auf  zwei  Stel- 
len, wo  er  Tschudi  doch  wohl  zu  günstig  auf- 
gefasst hat,  sei  hingewiesen.  Das  von  Tschudi 
als  »Liber  Heremi«  dargebotene  Werk  kann 
nicht  eine  »Abschrift«  des  Originales  (p.  85), 
sondern  muss  eine  in  der  vorliegenden  Form 
von  Tschudi  selbst  herrührende  Notizensamm- 
lung sein,  in  welcher  allerdings  alte  Bestand- 
teile der  Einsiedelnschen  Aufzeichnungen  ent- 
halten sind,  aber  in  der  Tschudi’schen  Compila- 
tion mit  von  ihm  stammenden  oder  wenigstens 
nicht  gleichzeitigen  Zusätzen  vermischt  sich  zei- 
gen*). Und  andererseits  geht  aus  W.  Vischer’s 
Abschnitt  über  Tschudi’s  Bearbeitung  der  Be- 
freiungsgeschichte der  Urschweiz , besonders  aus 

*)  Vgl.  Jahrb.  f.  d.  Litt.  d.  Schweiz.  Gesch.  1868, 
p.  139  und  Anz.  f.  schweizer.  Geschichte,  Bd.  I.  p.  225,  n.  1. 


Jahrb.  d.  bist.  Vor.  d.  Kant.  Glarus.  8. 9. 10.  H.  703 

den  so  instructive^  Vergleichungen  der  Urschrift 
Tschudi’s  mit  seinen  späteren  Beisätzen,  wie 
uns  scheint,  hervor,  dass  Tschudi  in  der  Art 
und  Weise,  sich  die  historischen  Facten  zurecht 
zu  legen  oder  auch  zurecht  zu  machen  (so  die 
Tagesdaten  für  1307),  mitunter  recht  weit  ging, 
vielleicht  etwas  weiter,  als  man  es  sogar  einem 
Geschichtschreiber  der  humanistischen  Epoche 
zulassen  darf.  — Eine  besonders  hervorhebens- 
werthe  Bereicherung  für  die  Kritik  der  Arbeit 
Tschudi’s  bietet  der  Abschnitt  über  seine  chro- 
nikalischen Quellen,  woraus  u.  a.  die  überaus 
starke  Benutzung  der  zürcherischen  und  berne- 
rischen Ghronikengruppen  durch  Tschudi  deut- 
licher hervorgeht. 

Von  mehr  localem  Interesse  sind  in  Heft 
VIH:  Ueber  Pannerherren  und  Panner- 
tage*)  des  Landes  Glarus  (mit  Abbildun- 
gen der  zehn  noch  vorhandenen  Panner,  vom 
Näfelser  Schlachtpanner  1388  bis  zum  übrigens 
schon  früher  existirenden  Panner  gegen  die 
Franzosen  1798,  wovon  neun  das  Bild  des  Lan- 
despatrons St.  Fridolin  zeigen : das  schönste  von 
allen  ist  das  1512  von  Papst  Julius  n.  ge- 
schenkte), von  Civilrichter  Schindler;  ferner, 
ebenfalls  in  Heft  VIH:  Kurze  Zusammen- 
stellung der  glarnerischen  Geschlech- 
ter, von  stud.  Weber;  in  HeftlX:  Aus  dem 
Tagebuch  eines  glarnerischen  Statt- 
halters vom  Jahr  1725,  von  Dr.  F.  Schu- 
ler. Der  erste  und  dritte  dieser  Aufsätze  sind 
ebenso  unterhaltend,  als  culturhistorisch  auf- 
schlussreich. 

*)  „Pannertag“  hiess  die  feierliche  Uebergabe  der 
Landespanner  an  den  neuerwählten  Pannerherrn  (der 
letzte  Pannertag  fand  1828  statt;  1837  wurde  das  Pan- 
nerherrenämt  aufgehoben). 


704  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 


Der  »etymologische  Versuch«  von  Pfarrer 
Heer  in  Mitlödi  (in  Heft  IX):  Keltische 
Spuren  in  den  Orts-,  Berg-  und  Fluss- 
namen des  Kantons  Glarus,  entzieht  sich 
zu  unserem  Bedauern  unserer  Beurtheilung.  Das 
Ergebniss  der  übersichtlich  angelegten  fleissigen 
Arbeit  lautet,  dass  einst  in  dem  Lande  eine 
Bevölkerung  hauste,  welche  ganz  dieselben  Sta- 
dien der  Entwickelung,  wie  die  benachbarte 
rätische,  durchmachte,  dass  keltisches  Blut  vor- 
handen gewesen  sei  — ob  je  unvermischt,  bleibe 
dahingestellt,  — dass  aber  sicherlich  die  die 
rätische  Bevölkerung  kennzeichnende  Vermischung 
romanischen  und  keltischen  Blutes  die  Oberhand 
gewonnen  habe;  auch  die  rätische  Bevölkerung 
sei  übrigens  nach  dem  Resultat  dieser  Unter- 
suchung der  Ortsnamen  ihrem  Grundstöcke  nach 
keltischer  Abstammung  gewesen  und  die  etrus- 
kische Vaterschaft  müsse  auf  sehr  enge  Gren- 
zen beschränkt  werden. 

Möge  der  historische  Verein  des  Kantons 
Glarus  unter  seiner  wohlbewährten  Führung  die 
historische  Litteratur  mit  weiteren  ähnlichen 
Jahresfrüchten  bereichern ! 

Zürich.  G.  Meyer  von  Knonau. 


Om  Apotheksamorterings  frägans  uppkomst 
och  utveckling.  Foredrag  paa  det  Ute  skan- 
dinaviske  Naturforskern^de  i Kj0benhavn  1873 
af  Apotheker  Beckman.  Kj0benhavn.  Trykt 
ho8  J.  H.  Schultz.  1874.  31  pp.  in  Octav. 

In  Schweden  ist  im  Laufe  des  vorigen  Jah- 


Beckman,  Om  Apothebsamorterings  etc.  705 

res  eine  Umgestaltung  des  gegenwärtig  bestehen- 
den Apothekerwesens  durch  den  Erlass  eines 
Gesetzes  in  der  Weise  geregelt,  dass  die  soge- 
nannten verkäuflichen  Apothekerprivilegien  bis 
zum  Jahre  1920  aufgehoben  werden,  jedoch  ge- 
gen/eine Entschädigung  der  Inhaber  aus  einem 
zu  diesem  Zwecke  gebildeten  Amortisationsfonds, 
welcher  von  den  Besitzern  und  von  den  neu 
concessionirten  Apothekern  durch  fortgesetzte 
jährliche  Beiträge  zusammengebracht  werden 
soll.  Von  dem  genannten  Zeitpunkte  an  soll 
nicht  etwa,  wie  von  einzelnen  Seiten  geglaubt 
wird,  freie  Concurrenz  eintreten,  vielmehr  soll 
durch  das  ganze  Königreich  das  jetzt  nur  für 
etwa  ein  Drittel  der  schwedischen  Apotheken 
zu  Becht  bestehende  Verfahren  der  persönlichen 
Concessionen  eingeführt  werden,  so  dass  also 
der  betreffende  Apotheker  sein  Geschäft  weder 
verkaufen  noch  vererben  darf.  Dass  der  bisher 
in  Schweden  bestehende  Gegensatz  zwischen 
verkäuflichen  und  nicht  verkäuflichen  Apotheken 
zwischen  Privilegium  und  Concession  für  den 
Inhaber  ein  unangemessener  ist,  liegt  zu  Tage; 
ob  aber  durch  das  angewendete  Verfahren  ein 
reeller  Nutzen  für  das  Publikum  erwächst  und 
ob  es  nicht  zweckmässiger  gewesen  wäre,  auch 
den  nicht  privilegirten  Apotheken  die  Verkäuf- 
lichkeit und  Erblichkeit  zuzugestehen,  müssen 
wir  als  eine  offene  Frage  betrachten.  Jeden« 
falls  wäre  die  von  einzelnen  Seiten  geforderte 
Abschaffung  der  Apothekerprivilegien  ohne  Ent- 
schädigung eine  schwere  Ungerechtigkeit  gegen 
die  gegenwärtigen  Besitzer  gewesen , welche 
zum  Theil  beim  Ankäufe  der  Apotheken  das 
Privilegium  selbst  zu  einem  theueren  Preise 
mitbezahlen  mussten.  Der  fragliche  Gesetzent« 


706  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  22. 

wurf,  welcher,  wie  wir  hervorheben  müssen,  aus 
der  Initiative  der  Corporation  der  Apotheker, 
der  sogenannten  Apothekersocietät,  hervorgegan- 
gen ist,  vermeidet  diese  Ungerechtigkeit  aller- 
dings und  es  darf  deshalb  nicht  befremden, 
wenn  Männer  von  Einfluss  und  Autorität,  wie 
z.  B.  der  Generaldirector  Berlin,  im  schwedi- 
schen Sanitätscollegium  ihre  persönlichen  Be- 
denken gegen  die  Zweckmässigkeit  des  Gesetzes 
den  dringenden  Wünschen  des  Publikums  und 
den  eigenen  Vorschlägen  der  Apotheker  unter- 
ordneten und  eine  fernere  Opposition  gegen 
das  Gesetz  unterliessen.  Berlin  hat  in  einer 
in  der  vorliegenden  kleinen  Schrift  mitgetheil- 
ten  Bemerkung  im  Protokolle  des  Sanitäts- 
collegiums seine  Bedenken  in  klarer  und  tref- 
fender Weise  ausgesprochen  und  damit  den  Be- 
weis geliefert,  dass  auch  in  Schweden  wie  bei 
uns  diejenigen  Aerzte,  welchen  kraft  ihren  be- 
sonderen Berufes  eine  genaue  Kenntniss  der 
pharmaceutischen  Verhältnisse  und  Lebensver- 
hältnisse zukommt,  die  zum  Stichblatt  der  Par- 
teien gewordene  ßeformbedürftigkeit  des  Apo- 
thekerwesens ein  schwerer  und  das  Gemeinwohl 
schädigender  Irrthum  ist. 

Die  kleine  Schrift,  welche  uns  zu  den  ge- 
machten Bemerkungen  veranlasst,  ist  ein  im 
vergangenen  Jahre  auf  der  scandinavischen 
Naturforscher  Versammlung  gehaltener  V ortrag 
des  Apothekers  Aug.  Beckman  zuStrengnäs, 
welcher,  obschon  Besitzer  einer  privilegirten 
Apotheke  doch  zu  den  Verehrern  und  Förde- 
rern des  gedachten  Gesetzentwurfes  gehört, 
welcher  zu  der  Zeit,  wo  der  Vortrag  gehalten 
wurde,  noch  nicht  die  Königl.  Sanction  erhalten 
hatte.  Der  Verfl  giebt  uns  eine  klare  Darstel- 


Beckman,  Om  Apotheksamorterings  etc.  707 

* 

lung  der  verschiedenen  Phasen,  welche  die 
Apothekerreform  in  Schweden  zu  durchlaufen 
hatte.  Wir  erfahren  aus  seiner  Schrift  zunächst, 
wie  sich  die  Verhältnisse  der  käuflichen  Privi- 
legien entwickelt  haben,  seit  die  erste  Apotheke 
unter  Gustav  dem  Ersten,  deren  Existenz  nur 
durch  Subsidien  des  Hofes  gefristet  werden 
konnte,  in  Stockholm  angelegt  wurde.  Der 
Verfasser  zeigt,  dass  einzelne  Apothekenver- 
leihungen in  älterer  Zeit  Privilegien  in  wahrem 
Sinne  des  Wortes  sind,  während  bei  andern 
dieser  Character  zwar  nicht  aus  der  Stiftungs- 
urkunde selbst,  aber  aus  den  äusseren  Verhält- 
nisssn  hervorgeht.  Wir  erfahren  weiter,  wie  die 
Frage  der  Apothekerreform  vorzugsweise  durch 
politische  Stürme  in  Anregung  gebracht  wurde, 
wie  die  Julirevolution  dieselbe  zuerst  hervor- 
brachte und  wie  die  Revolution  von  1848  das 
leise  Wehen  zu  einem  kräftigen  Sturm  um- 
wandelte, so  dass  die  Apothekersocietät  die 
Frage  in  die  Hand  zu  nehmen  genöthigt  war. 
Beckman  zeigt  uns  ferner,  wie  schwierig  die 
Regierung  selbst  die  Angelegenheit  anzugreifen 
bewogen  werden  konnte,  wie  weit  auseinander- 
gehend die  Anschauungen  der  Apothekersocietät 
und  des  Sanitätscollegiums  Decennien  hindurch 
waren,  wie  in  Folge  davon  die  Anträge  der 
ersteren  jahrelang  seitens  der  Regierung  unbe- 
antwortet blieben  und  wie  erst  auf  wiederholte 
Anträge  die  Sache  zu  dem  jetzigen  hoffentlich 
gedeihlichen  Abschlüsse  geführt  wurde. 

Die  letzten  Seiten  der  anziehenden  Schrift 
sind  mit  einer  Polemik  gegen  die  wiederholt 
aufgetretene  Anschauung , dass  der  Verkauf  der 
Apothekerprivilegien  ein  Missbrauch  sei,  ausge- 
füllt. Da  diese  Verhältnisse  nur  ein  locales 


710  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 


menden  Sprachen  und  Literaturen  in  einem  un- 
gewöhnlichen Masse  kundig,  unter  den  jetzt  le- 
benden Orientalisten  vielleicht  der  ausgezeich- 
netste. Auch  hat  er  die  Länder,  deren  Ge- 
schichte im  Zusammenhänge  er  zum  ersten  Mal 
aus  der  Verborgenheit  ans  Tageslicht  gezogen, 
grossentheils  selbst  bereist  und  kennt  daher  den 
Schauplatz  der  Begebenheiten  besser  als  irgend 
Einer.  Seine  Darstellung  schildert  durchweg 
lebendig  und  anschaulich,  wir  glauben  sagen  zu 
dürfen  vorwiegend  in  biographischer  Form  die 
hervorragendsten  Persönlichkeiten  dem  Leser 
vorführend,  das  Geschehene,  seine  Ausdrucks- 
weise ist  gewandt,  nicht  selten  schwungreich, 
wie  denn  fast  von  selbst  ein  solcher  Stü  dem 
Darsteller  von  Ereignissen  in  die  Feder  fliesst, 
die  in  einer  an  das  Phantastische  anstreifenden 
Weise  sich  nur  im  Morgenlande  und  unter  dem 
Islam  fanatisch  ergebenen  Völkerschaften  zuge- 
tragen .haben  können.  Auch  mag  dazu'  der 
Stil  einiger  Quellenschriften,  die  nicht  in  Prosa, 
sondern  in  gebundener  Rede  geschrieben  sind, 
das  Seine  beigetragen  haben.  Sämmtliche  Quel- 
len, die  schon  gedruckten  und  die  noch  nicht 
gedruckten,  kritisch  gesichtet  und  vorsichtig  be- 
nutzt zu  haben  ist  ein  weiteres  Verdienst  des 
Verf.,  der  sich  ein  nüchternes  Urtheil  bewahrt 
und  einen  allem  Uebertriebenen  abgewandten 
Sinn  besitzt,  wie  man  dergleichen  mit  Grund 
von  einem  Historiker  zu  erwarten  berechtigt  ist. 
Er  ist  sich  der  grossen  Schwierigkeiten  seiner 
Aufgabe , die  er  ein  »literarisches  Wagestück« 
nennt,  vollbewusst;  »er  hat  6s  gewagt  mit  den 
ihm  zu  Gebot  stehenden  dürftigen  Hilfsquellen 
und  noch  dürftigerer  Befähigung  die  so  ziem- 
lich schwere  Aufgabe  zu  unternehmen  und  die 
erste  Geschichte  Bochara’s  zu  schreiben«.  Diese 


Vambery,  Geschichte  Bochara’s.  711 

spärlichen  Hilfsquellen  finden  sich  S.  VI.  bis  S. 
XV.  genannt  und  kurz  characterisirt ; schon  be- 
kannte nennt  er  11  und  unbekannte,  von  ihm 
zum  ersten  Mal  benutzte,  5.  Ihrer  verschiedenen 
Natur  wie  ihrem  verschiedenen  literarischen 
Werth  ist  es  zuzuschreiben,  dass  das  Neue,  was 
er  bringt,  sich  vorzugsweise  im  zweiten  Theil 
seines  Werkes,  den  Zeitraum  von  1405  bis 
1870  umfassend,  findet,  nämlich  die  Erwähnung 
»einer  Reihe  von  Fürsten,  ja  ganzer  Dynastien, 
von  denen  bis  jetzt  in  Asien  nur  wenig,  in  Europa 
aber  noch  kein  Wort  geschrieben  wurde«  (S. 
XVI).  Die  bei  der  Vertheilung  des  mitunter 
reichlichen , mitunter  spärlichen  Stoffes  über 
einzelne  Abschnitte  durchgeführte  Gleichförmig- 
keit dieser,  von  denen  jeder  (Gapitel  benannt) 
ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganze  bildet,  ist 
ebenfalls  lobend  anzuerkennen.  Der  Leser  ge- 
langt dadurch  zu  Ruhepunkten,  die  ihm  zu  Re- 
flectionen  über  das  Gelesene  und  zu  leichterem 
Festhalten  desselben,  sowie  zum  Zusammenfassen 
der  einzelnen  Abschnitte  zu  einem  übersichtli- 
chen Ganzen  Veranlassung  geben.  Allen  ge- 
lehrten, zum  grossen  Theil  sprachlich-gelehrten 
Apparat  verlegt  der  Verf.  in  Anmerkungen  un- 
ter den  Text,  deren  Inhalt  von  seiner  gründli- 
chen Forschung  und  seiner  ausgebreiteten  Ge- 
lehrsamkeit ein  unwiderlegliches  Zeugniss  giebt. 
Das  Buch  bietet  sich  daher,  ungeachtet  seiner 
hohen  wissenschaftlichen  Bedeutung,  jedem  Ge- 
bildeten als  anziehende  Lectüre  an,  die  zu  gründ- 
licher Würdigung  »der  neuesten  politischen  Be- 
gebenheiten in  dem  uns  dadurch  nahe  gerück- 
ten Lande  Innerasiens«  befähigt.  Welches  die- 
ses Land  »jenseits  des  Oxus«  sei,  sucht  die 
Einleitung  S.  XIX  u.  ff.  durch  Feststellung  der 
Grenzen  Transoxaniens  nachzuweisen.  Doch 

45* 


712  G8tt.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

ist  es  fast  unmöglich  feste  Grenzen  zu  nennen, 
weshalb  der ‘Verf.  (S.  XXIV)  für  den  »staatli- 
chen Begriff  von  Transoxanien«  Bochara  oder 
das  Ghanat  von  Bochara  substituirt,  nämlich 
»die  Ufergegenden  des  Zerefschans  sammt  dem 
südlich  bis  zum  Oxus  und  dem  nördlich  bis  zur 
Steppe  Kizil-Kum  sich  erstreckenden  Striche  Lan- 
des«, (ibid.)  »ein  Tiefland,  das  von  den  östlichen 
Gebirgsketten,  die  als  einzelne  Ausläufer  des 
Thien-Schan  bis  Samarkand  sich  erstrecken, 
mit  einer  rasch  zunehmenden  Depression  bis  zur 
Kaspisee  sich  hinneigt«  (S.  XXIII).  Die  Bewoh- 
ner (Eingebornen)  waren  nach  den  Zeugnissen 
der  ersten  arabischen  Geographen  edelmüthig, 
offenherzig,  gastfrei,  heutzutage  nur  noch  letz- 
teres. Das  Urtheil  des  bekanntlich  in  Central- 
asien wohlbewanderten  Verf.  über  die  gegen- 
wärtigen Bewohner  klingt  sehr  hart:  »Das  heu- 
tige Mittelasien  ist  der  scheussliche  Pfuhl  aller 
jener  Laster,  die  in  den  mohammedanischen 
Ländern  Westasiens  vereinzelt  anzutreffen  sind« 
(S.  XXXVIII).  — Die  älteste  Geschichte  Bocha- 
ra’s  ist  wenig  aufgeklärt.  Nach  des  Verf.  ohne 
Zweifel  glaubwürdigem  Urtheil  waren  »die  Län- 
der jenseits  des  Oxus  im  grauen  Alterthum  der 
Sitz  eines  Volkes  von  iranischer  Abkunft«  (S.  5). 
Diese  »culturfreundlichen  Iranier«  (S.  9)  wur- 
den aber  durch  die  Turanier  verdrängt,  wann, 
lässt  sich  nicht  ermitteln,  doch  sind  sie  wahr- 
scheinlich von  Anfang  an  als  Herrscher  aufge- 
treten. Der  Nationalcultus  der  Iranier  beruht 
auf  der  Lehre  Zoroasters,  welche  daher  von 
Transoxanien  nach  Osten  vorgedrungen  ist  (S. 
14);  die  Turanier  haben  den  Buddhismus  von 
Thibet  her  importirt  (S.  15).  Mit  den  Erobe- 
rungsversuchen der  Araber,  nachdem  diese  den 
Islam  angenommen , beginnt  erst  die  Geschichte 


Vambery,  Geschichte  Bochara's.  713 

Bochara’s  aus  dem  Dunkel  ans  Licht  zu  treten 
im  Jahre  666.  Davon  handelt  Kap.  II,  S.  20— 
37.  Bochara  hatte  wiederholte  Belagerungen 
durch  die  Araber  auszuhalten,  bis  Kuteibe  bin 
Muslim  planmässig  die  Eroberung  Transoxaniens, 
zugleich  die  Ausbreitung  des  Islam  unternahm. 
Im  Jahre  709  gelingt  es  ihm  siegreich  in  Bo- 
chara einzuziehen  (S.  32),  wo  freilich  die  neue 
Lehre  anfangs  heftig  angefeindet,  später  am 
eifrigsten  gepflegt  wurde  (ibid.).  Bochara 
(sammt . Turkestan)  war  nun  ein  integrirender 
Theil  der  Provinz  Choiasan  geworden  und  blieb 
150  Jahre  unter  arabischer  Verwaltung.  »Diese 
Periode  bildet  eine  ununterbrochene  Kette  von 
Wirren,  inneren  Parteikämpfen  und  Empörun- 
gen, die  entweder  die  Statthalter  von  Chorasan 
selbst  oder  die  ewig  unruhigen  Völkerelemente 
dieser  Länder  hervorriefen«  (Kap.  Ill,  S.  39). 
Eine  der  bewegtesten  Episoden  solcher  Kämpfe 
ist  »das  Erscheinen  des  falschen  Propheten  Mo- 
kanna,  des  sogenannten  verschleierten  Propheten 
von  Chorasan«,  im  J.  767,  der  einen  fünfzehn- 
jährigen Kampf  hervorrief,  dessen  Nachwirkun- 
gen noch  in  späteren  Jahrhunderten  verspürt 
wurden  (S.  46).  Er  hielt  sich  selber  für  Gott, 
den  Herrn  aller  Herren,  und  lebte  verborgen  in 
einer  Festung  auf  dem  Berge  Sam  (?),  von  wo 
aus  er  zumeist  durch  seine  gewaltigen  Stellver- 
treter, die  zugleich  Generale  waren,  wirkte  (S. 
48  u.  f.).  Sein  Anhang  nahm  so  sehr  zu,  dass 
der  Islam  dadurch  bedroht  wurde  (S.  52),  den- 
noch unterlag  er  einer  nachdrücklichen  Belage- 
rung und  stürzte  sich,  als  er  alles  verloren  sah, 
in  einen  drei  Tage  lang  geheizten  Ofen  (S.  55). 
Eine  spätere  Revolte  brachte  das  Land  unter 
die  Botmässigkeit  der  Samaniden  (Kap.  IV,  S. 
60 — 78),  »welche  sich  um  die  Glanzperiode  der 


714  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

Oxusländer , besonders  aber  für  die  selbständige 
Geschichte  Bochara’s  die  grössten  Verdienste  er- 
worben haben«  (S.  59).  Unter  ihnen  hat  sich 
vorzugsweise  Ismail,  der  jüngere  Bruder  des 
schwachen  Nasr  bin  Ahmed,  hervorgethan,  der 
nach  mehreren  glücklichen  Kämpfen  von  diesem 
seinem  Bruder  anfangs  beargwöhnt,  dann  be- 
kriegt wurde.  Dennoch  benahm  sich  Ismail  ge- 
gen Nasr,  der  sein  Gefangener  wurde,  sehr  edel- 
müthig  und  folgte  ihm  in  der  Regierung  (893). 
Noch  andere  Kämpfe  führte  er  siegreich  zu 
Ende,  jederzeit  wohlwollend  und  schonend  ge- 
gen die  besiegten  Feinde.  »Bochara  war  damals 
das  Centrum  des  staatlichen  Mittelasiens,  denn 
die  Machtstimme  des  Herrschers  am  Zerefschan 
drang  im  Norden  bis  zum  Rande  der  grossen 
Steppe,  im  Osten  bis  in  die  Thalgegenden  des 
Thien-Schan  Gebirges,  im  Süden  bis  zum  persi- 
schen Golfe  und  dem  Nordrande  Indiens,  und 
schliesslich  im  Westen  durch  Irak  bis  auf  einige 
Tagereisen  weit  von  der  Residenz  des  Chalifen« 
(S.  72  u.  f.).  Dazu  kam,  »dass  während  der 
250  Jahre,  die  nach  dem  Einfall  der  Araber 
verflossen  waren,  in  Iran  sowol  als  in  Trans- 
oxanien  an  die  Stelle  der  alten  persischen  Cul- 
tur  eine  mohammedanisch -persische  Weltan- 
schauung getreten  war«.  Auch  wurde  Bochara 
durch  Ismails  Vorliebe  für  diese  Stadt  nicht  nur 
zur  Residenz,  sondern  auch  zum  Mittelpunkt 
jenes  geistigen  Strebens  und  Wirkens  gemacht, 
welches  den  östlichen  Theil  der  Islamwelt  zu 
jener  Zeit  beseelte«.  Die  verborgenen  »Funken 
persischer  Cultur«,  die  der  Zerstörungswuth  der 
Araber  entgangen  waren,  »wurden  von  den  Sa- 
maniden  zur  wohlthuenden  Leuchte  angefacht«. 
Bochara,  »der  Sitz  der  Wissenschaften«,  ver- 
diente sich  auch  den  Namen  des  »edlen  und 


Vambery,  Geschichte  Bochara’s.  715 

frommen  Bochara«,  dessen  es  heute  ganz  un- 
würdig ist  (S.  74).  Mit  Emir  Ismails  Tode 
(907)  fing  die  Herrschaft  der  Samaniden  an  zu 
sinken.  Die  Nachfolger  Ismails  waren  »mit  ge- 
ringer Ausnahme  nur  hilflose  Puppen  in  den 
Händen  ihrer  Beamten«,  daher  »die  Türken  bald 
als  Tonangeber  auftraten,  ja  zu  einer  Macht 
heranreiften , welche  nicht  nur  die  Samaniden  in 
Transoxanien,  sondern  alles  und  überall  über 
den  Haufen  werfend , so  vieler  Throne  in  Asien 
sich  bemächtigten  und  bis  auf  heute  noch  allent- 
halben den  Namen  »herrschende  Rasse«  führen« 
(Kap.  V,  S.  79).  Mit  diesen  wenigen  Worten 
characterisirt  der  Verf.  kurz  und  treffend  die 
ganze  Zukgnft  des  Landes.  Innere  Unruhen  und 
Zerwürfnisse  zerrütteten  die  Macht  der  näch- 
sten Nachfolger  Ismails.  Der  benachbarte,  in- 
zwischen zu  Ansehn  gelangte  Stamm  der  Uigu- 
ren  wagte  unter  Boghra  Chan  von  Kaschpar  her 
einen  Einfall,  eroberte  Samarkand  und  zwang 
dadurch  den  Samanidenfürsten  Ebul  Easim  zur 
Flucht  (S.  89).  Dieser  rettete  jedoch  später, 
mit  Hülfe  der  von  Gazni  bis  zum  Indus  gebie- 
tenden Gaznewiden  sein  Reich,  das  aber  mit 
der  Ermordung  des  dritten  Sohnes  Ebul  Kasim’s, 
Namens  Muntasir,  des  letzten  Samaniden , im 
J.  1004,  einer  wilden  Anarchie  anheimfiel.  Die 
Iranier,  »die  Träger  der  alten  Cultur«,  rangen 
mit  den  kriegerischen  Türken  um  die  Oberherr- 
schaft und  letztere  gingen  siegreich  aus  dem 
Kampf  hervor  (S.  94  u.  f.).  Dieses  Ergebniss 
wird  in  Kap.  VI,  S.  96 — 115  des  Weiteren  dar- 
gestellt. Muntasir  nämlich  sucht  Hülfe  bei 
Seldschuk,  der  nun,  wie  sich  das  öfter  in  der 
Geschichte  der  Völker  wiederholt,  aus  einem 
Beschützer  ein  Besitzer  des  Landes  seines 
Schützlings  wird.  So  etablirt  sich  die  Dynastie 


716  Gott,  geh  Anz.  1874.  Stück  23« 


der  Seldschukkiden  in  Westasien  , nachdem  sie 
in  Belch  und  Nischabur  die  Stützpunkte  gewon- 
nen (1039),  ihre  Macht  weiter  gen  Norde»  aus- 
zubreiten und  zu  befestigen  (S.  103).  Unter 
drei  Nachfolgern  — ein  seltener  Fall  in  den 
Annalen  islamitischer  Völker  — steht  die  Herr- 
schaft dieser  Dynastie  in  voller  Blüthe,  doch 
konnten  sie  im  Osten  nur  wenig  festen  Fuss 
gewinnen.  »Bochara  sammt  dem  westlichen 
Theil  des  Chanats  blieb  stets  unter  seldschuki- 
scher  Suzeränität,  der  östliche  Theil  Transoxa- 
niens  wollte  jedoch  die  Obrigkeit  jenes  Fürsten- 
hauses, das  in  Persien  den  Mittelpunkt  seiner 
Macht  hatte,  nie  anerkennen«  (S.  111).  Der 
Uigurenfiirst  Kurchan  besiegte  in  einer  mörde- 
rischen Schlacht  den  Seldschuken- Sultan  Sand- 
schar (1141)  und  machte  dadurch  die  Seld- 
schuken-Herrschaft  in  Transoxanien  für  immer 
zu  nichte.  Bochara  und  Samarkand  werden 
seitdem  »der  Erisapfel  zweier  habsüchtiger 
Nachbarn,  des  Uiguren  Kurchans  im  Osten  und 
der  Ghahrezmer  im  Westen«  (Kap.  VH,  S.  117). 
Diese  Kämpfe  währen  bis  zum  Jahre  1213;  der 
Ghahrezmer  Sultan  Mohammed  geht  siegreich 
aus  denselben  hervor,  büsst  aber  seine  Grau- 
samkeit gegen  490  Kaufleute,  die  er  angeblich, 
weil  sie  Spione  sind,  hinrichten  lässt,  mit  dem 
Verlust  seiner  Herrschaft  an  den  Mongolen- 
fürsten Dschengiz  (S.  128).  Derselbe  unternahm 
seinen  Feldzug  mit  600,000  Mann,  die  er  in 
vier  Haufen  theilte  und  mit  denen  er  in  drei 
Jahren  das  ganze  Transoxanien  eroberte  (Kap. 
VIII,  S.  134 — 144)  und  dieses  Land  »durch 
Vernichtung  seines  mehrere  Jahrhunderte  alten 
Culturvolkes  in  jenen  Abgrund  der  Barbarei 
stürzte,  der  den  Ruhm  seiner  Vergangenheit 
und  auch  seine  Zukunft  für  immer  verschlang« 


Vambery,’ Geschichte  Bochara’s.  717; 

(S.  149).  Die  zweihundertjährige  Herrschaft 
der  Dschengiziden,  sagt  der  Verf.,  entfaltet  vor 
dem  Auge  des  Lesers  ein  bluttriefendes  grauen- 
volles Bild,  über  welches  wir  jedoch  nur  spär- 
liche Daten  besitzen , die  man  sich  meistens  aus 
den  Annalen  der  Mongolen  in  China  und  Per- 
sien zusammenlesen  muss  (Kap.  IX,  S.  154). 
Den  ersten  Abschnitt  dieses  Zeitraums  bis  zu 
Timur  (1226 — 1363)  behandelt  Kap.  IX  (S.  154 
— 176),  die  Herrschaft  Tschapatai’s,  des  zweiten 
Sohnes  von  Dschengiz,  und  seiner  Nachfolger« 
eine  Zeit  fast  ununterbrochener  Unruhen  und 
Streitigkeiten,  während  welcher  nur  allein  die 
Religionswissenschaft  gedieh  und  die  Träger 
derselben  zu  grossem  Einfluss  gelangten,  der 
selbst  noch  heute,  wo  das  Land  schon  mehrere 
Jahrhunderte  von  muselmännischen  Fürsten  re- 
giert wird,  sich  aufrecht  erhalten  bat  (S.  175). 
Mit  Timurs  Erscheinung  tritt  ein  Umschwung 
ein.  Die  Türken  nehmen  immer  mehr  über- 
hand; ihre  Stammesoberhäupter  waren  schon 
frühe  die  Machtvollstrecker  und  Stellvertreter 
der  Mongolenfürsten  in  Transoxanien , ihre 
Sprache  war  Hof-  und  Umgangssprache  gewor- 
den, nun  werden  sie  auch  die  herrschende  Par- 
tei. Der  Verf.  beschreibt  Timur’s  Jugend  und 
Eroberungszüge  in  Kap.  X (S.  177—211),  seine 
Persönlichkeit,  seinen  Hof  und  seine  Residenz 
in  Kap.  XI,  S.  212 — 230.  Nachdem  er  seine 
Gegner  besiegt,  berief  er  1369  einen  Kuriltai 
d.  h.  eine  Ständeversammlung,  durch  welche  er 
zum  Emir  Transoxaniens  ausgerufen  wurde. 
Obwohl  Mohammedaner,  hielt  er  doch  das  mon- 
golische Gesetzbuch,  den  Jasau  des  Dschengiz, 
aufrecht,  welches  besser  als  die  Institutionen 
des  Koran  für  seine  militärische  Regierung 
passte  (S.  187  u.f.).  Neben  seiner  anstrengenden. 


718  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

Arbeit  einer  Reorganisation  des  durch  eine  mehr 
als  hundertjährige  Arbeit  zerrütteten  Transoxa- 
niens  lässt  Timur  auch  seiner  Eroberungslust 
freien  Lauf  (S.  190),  und  so  kommt  es,  dass  uns 
der  Verf.  auf  den  folgenden  Seiten  von  S.  190 
an  den  vor  keinem  Hinderniss  zurückschrecken- 
den ruhmsüchtigen  Weltenstürmer  auf  seinen 
siegreichen  Feldzügen  schildert,  auch  über  die 
Grenzen  Mittelasiens  hinaus  (bis  S.  208).  Auf 
einem  Zuge  gegen  das  »himmlische  Blumenreich 
der  Mitte«  begriffen,  ereilte  ihn  der  Tod  in 
Otvar  (1405  d.  17.  Februar).  Mit  seinem  Ab- 
scheiden »haben  die  Länder  jenseits  des  Oxus 
und  Jaxartes  ihre  Weltrolle  beschlossen«;  Nie- 
mand nach  ihm  »vermochte  in  diesem  kampf- 
lustigen Ursitz  der  Menschheit  die  kriegerischen 
Wogen  in  solchem  Maasse  aufzupeitschen  wie 
er«.  Auch  war  »Persien  nicht  mehr  wie  früher 
die  günstige  Vorhalle  der  asiatischen  Welten- 
stürmer« und  »in  Europa  ging  das  stürmische 
Mittelalter  zu  Ende  und  die  aufgehende  Sonne 
einer  besseren  Zeit  Hess  sich  sogar,  wenn  gleich 
mittelbar,  im  fernen  Osten  verspüren«  (S.  211). 
Mit  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  des  Verf. 
ist  hinlänglich  angedeutet,  was  der  zweite 
Band  seines  Werkes  in  Darstellung  der  nach- 
folgenden Geschichte  Bochara’s  bis  auf  die 
neueste  Zeit  bringt.  Ein  Herrschergeschlecht 
folgt  dem  anderen  und  jedes  spätere  übertrifft 
das  vorangegangene  nur  an  Schwäche,  einzelne 
hervorragende  Persönlichkeiten  ausgenommen, 
wie  z.  B.  Abdullah  Chan  (S.  76  u.  ff.),  die  je- 
doch Dauerndes  kaum  geschaffen  haben.  Sie 
gleichen  vielmehr  Meteoren,  die  hellstrahlend 
am  Himmel  erscheinen,  aber  schnell  wieder  ver- 
schwinden. Daher  legt  der  Verf.  auch  im  zwei- 
ten Bande,  wie  er  es  im  ersten  gethan  hat,  die- 


Vambery,  Geschichte  Bochara’s.  719 

sen  Wechsel  der  Herrscherfamilien  seiner  Dar- 
stellung zu  Grunde  und  führt  dem  Leser  zuerst 
das  Zeitalter  der  Timuriden  (1405 — 1500)  in 
Kap.  XII  (S.  1—34)  vor,  darnach  das  der 
Herrscherfamilie  aus  dem  Stamme  der  Oezbegen 
(Kap.  XHI  u.  XIV  oder  S.  35—98),  vom  Jahre 
1500  bis  1597.  Das  folgende  Kap.  XV  (S.  99 

125)  schildert  die  Herrschaft  der  ersten 

Aschtarchaniden  v.  1597—1680):  die  dann  noch 
bis  zum  Jahr  1737  im  Besitz  der  Macht  blei- 
ben (Kap.  XVI  S.  126—144).  Ihnen  folgt  die 
Dynastie  der  Mangiten  von  1784 — 1826,  über 
deren  Geschichte  wir  jedoch  nur  spärliche  Nach- 
richten besitzen,  die  der  Verf.  in  Kap.  XVH 
S.  145—164  zusammengestellt  hat.  Der  Regie- 
rung des  zwar  mächtigen  aber  schändlichen 
Emir  Nasrullah  wird  Kap.  XVHI  (S.  165 — 195) 
gewidmet,  der  letzten  zehnjährigen  Periode  von 
lg60—1870  bis  zur  Unterwerfung  unter  russi- 
sche Oberherrschaft  das  Schlusskapitel  XIX 
(S.  196 — 226).  Dieser  kurzen  Uebersicht  der 
Geschichte  Transoxaniens  in  den  letzten  470 
Jahren  unserer  Zeitrechnung  lassen  wir  noch  zu 
näherer  Kenntnissnahme  des  vorliegenden  Wer- 
kes einiges  Einzelne  folgen.  Es  waren  haupt- 
sächlich innere  Zerwürfnisse,  die  den  Sturz  der 
'Nachkommen  Timurs  herbeiführten.  Söhne  em- 
pörten sich  wider  ihren  Vater  und  Brüder  be- 
fehdeten sich  unter  einander  (vgl.  z.  B.  S. 
12  u.  ff.  die  Handlungsweise  des  Abdüllatif,  der 
zum  Mörder  seines  edlen  Vaters  Ulug  Beg  wird, 
ohne  damit  das  Ziel  seinesStrebens  erreicht  zu 
haben;  und  S.  21u.ff.  die  Kämpfe  von  drei 
Söhnen  Mahmuds,  die  wegen  der  Nachfolge  mit 
einander  kriegten).  Die  Früchte  dieses  Haders 
fielen  wie  gewöhnlich  so  auch  hier  einem  fern- 
stehenden Dritten  in  den  Schooss.  Ein  Dschen- 


720  Gott  gel.  Anz.  1874.  Stadt  23. 

gbride,  Scheibani  Mohammed  Chan,  »der  am 
Feuer  des  imheilrollen  Bruderkampfes  der  Ti- 
mnriden  die  Waffe  der  Eroberung  geschmiedet 
hatte«,  machte  1499  durch  Besitznahme  des 
Thrones  in  Samarkand  der  Herrschaft  jener  ein 
Ende.  Merkwürdig,  dass  unter  ihnen  MnTwh* 
durch  geistige  Begabung  und  dem  entsprechende 
Thätigkeit  »einen  unbestreitbaren  Ehrenplatz 
in  der  Geschichte  Asiens  erworben  haben«  (S. 
26),  worüber  wir  unserm  Verf.  eine  höchst  an- 
ziehende Schilderung  verdanken,  in  welcher  die 
bedeutendsten  Gelehrten,  Dichter  und  Knnc+W 
am  Hofe  der  Timuriden  aufgeführt  werden. 
Nicht  weniger  anziehend  ist  auch  die  auf  S.  35 
beginnende  Beschreibung  der  aus  unscheinbaren 
Anfängen  sich  gestaltenden  Macht  der  Oezbegen, 
deren  Fürst  Ebulchair  Chan  schon  zur  Zeit  der 
Timuriden  zu  solchem  Ansehen  gelangte,  dass 
diese  bei  ihm  Schutz  und  Hülfe  suchten.  Er 
wurde  aber  noch  von  seinem  Enkel,  dem  schon 
genannten  Schei'bani,  übertroffen,  der  in  wech- 
selvollen, aber  schliesslich  siegreichen  Kämpfen 
um  1508  fast  sämmtliche  Länder,  welche  die 
Nachkommen  Timurs  besassen,  unter  sein  Scep- 
ter brachte,  dann  deren  Verwaltung  als  Beloh- 
nung seinen  besten  Kriegern  anvertrante  (S.  56), 
für  sich  aber  nur  die  Stelle  eines  Oberbefehls- 
habers der  Armee  behielt.  Vielleicht  wäre  aus 
ihm  eine  Timur  ähnliche  Erscheinung  geworden, 
wenn  ihm  nicht  ein  ebenso  ehrgeiziger  »Kämpe 
auf  dem  Felde  der  Thaten«  Schah  Ismail  ent- 
gegengetreten wäre.  Dieser  aus  dem  Hause 
des  unter  den  Türken  Irans  hochgeehrten 
Scheichs  Sefi  aus  Erdebil  — daher  seine  An- 
hänger Sefiden  heissen  — vertrat  die  Lehre  der 
Schiiten,  was  Scheibani  bewog,  ihm  zuerst  »als 
bekehrender  Molla«  gegenüberzutreten,  um  »mit 


I 


•Vambery,  Geschichte  Bocharafs.  721 

dem  Heiligenschimmer  des  Religionskriegers 
grössere  Begeisterung  zu  erwecken«.  In  dem 
darnach  entbrannten  Kriege  fand  Scheibani,  von 
seinem  Gegner  überlistet,  den  Heldentod  (1510). 
Seinem  außergewöhnlichen  edlen  Character  wid-  ' 
met  der  Verf.  noch  eine  eingehende  Darstellung 
(S.  63 — 65).  Seine  Nachkommen  ringen  in 

blutigen  Kämpfen  um  den  Besitz  der  Herr- 
schaft, bis  Obeidullah,  ein  Neffe  Scheibanis  (S. 
67),  den  Thron  von  Transoxanien  im  Jahre  1533 
bestieg  (S.  74)  und  fortfuhr  mit  Kriegen  die 
Nachbarländer  heimzusuchen  (S.  74).  Unter  ihm 
erwuchs  der  grösste  der  Scheibaniden  Abdullah 
Chan  (geb.  1533),  der  nach  mehreren  siegreichen 
Kämpfen  mit  der  Eroberung  Chorasans  »den 
Glanzpunkt  seiner  Grösse  erreichte«  (S.  85)  und 
durch  seine  umsichtige  und  weise  40jährige  Re- 
gierung »unter  allen  Schichten  der  Bevölkerung 
einen  schon  längst  nicht  gesehenen  Wohlstand  ver- 
breitete« (S.  90).  Sein  Name  lebt  noch  heut- 
zutage auf  der  Zunge  jedes  Bocharaers  (S.  89). 
Mit  dem  gewaltsamen  Tode  seines  befähigten, 
aber  wilden,  eigensinnigen  und  tyrannischen 
Sohnes  Abdulmumin,  der  schon  gegen  den  Va- 
ter revoltirt  hatte  und  nur  6 Monate  nach  ihm 
regierte  (1597),  endete  die  Dynastie  der  Scheiba- 
niden (S.  92).  Der  Verf.  führt  alle  diese  un- 
unterbrochenen Erschütterungen,  denen  sich  die 
Parteikämpfe  nach  Abdulmumin’s  Ermordung 
anschliessen,  dem  Leser  in  belebten  Bildern  vor 
und  lässt  uns  dann  noch  einen  Blick  in  die 
Culturzustände  der  letzten  hundert  Jahre  thun 
(S.  94 — 98),  die  in  Vergleich  mit  dem,  was 
gleichzeitig  in  Persien  und  Indien  vorging,  nur 
kleinlich  und  armselig  erscheinen  (S.  98).  Wie- 
derum kostet  es  viel  Blut,  ehe  eine  neue  Dy- 
nastie, die  der  Aschtarchaniden,  deren  Heimat 


722  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  23. 

Astrachan  oder  Aschtarchan  am  untern  Lauf 
der  Wolga,  den  Thron  von  Transoxanien  ge- 
winnt (S.  100  u.  ff.),  und  endlich  Imamknli  Chan 
(seit  1611)  »der  einzige  Fürst  Transoxaniens 
wird,  der  sein  Land  ohne  Eroberungen  und 
Kriege  glücklich,  reich  und  blühend  gemacht 
hat«  (S.  109).  Er  war  mit  Hülfe  des  berühmten 
persischen  Schah  Abbas  zurHerrschaft  gelangt  und 
.verstand  es  während  seiner  38jährigen  Regie- 
rung den  Frieden  zu  erhalten.  Im  Jahr  1650 
übergab  er  seinem  Bruder  Nezr  Mehammed 
Chan  die  Herrschaft  und  pilgerte  nach  Mekka; 
er  starb  in  Medina.  Leider  ist  es  nun  wieder 
mit  dem  Frieden  aus.  Von  seinen  Söhnen  ver- 
jagt findet  Nezr  Mehammed  Chan  ein  fürstliches 
Asyl  bei  Abbas  H.  in  Isfahan,  der  ihn  nach  3 
Jahren  wieder  nach  Belch  zurückfuhrt.  Er  so- 
wol,  wie  sein  Nachfolger  Abdulaziz  (S.  119  n.fi.) 
legten  ihre  Scepter  nieder  und  starben  auf  ih- 
rer Pilgerreise  nach  den  heiligen  Stätten  Ara- 
biens (S.  119  und  S.  124).  »Immer  ärmlicher 
und  düsterer  wird  das  Bild  der  politischen  und 
socialen  Verhältnisse  des  kleinen  Staates  am 
Oxus« , die  Geschichte  weiss  nur  noch  von  in- 
neren Kriegen,  Bruderkämpfen  und  kleinlichen 
Streitigkeiten  (S.  126).  Diese  führt  uns  Kap. 
XVI  vor  Augen,  welches  mit  dem  Untergange 
der  Aschtarchaniden  abschliesst;  die  letzten 
Fürsten  dieser  Dynastie  gerathen  in  Abhängig- 
keit ihrer  ihnen  überlegenen  Veziere.  Mit  dem 
letzten  Ebulfeiz  Chan  im  J.  1737  »erlosch  auch 
jener  letzte  Schimmer  des  Glanzes  der  politi- 
schen Grösse  und  socialen  Bedeutung,  mit  wei- 
chem das  Ländchen  am  Oxus  in  der  Vergangen- 
heit 60  viele  Völker  des  islamitischen  Asiens 
überstrahlte«  (S.  141).  Von  hier  an  »wird  der 
Schleier,  welcher  die  trostlosen  Zustände  Trans- 


Vambery,  Geschichte  Bochara's.  723 

oxaniens  verhüllt,  immer  dichter«,  die  urkund* 
liehen  Quellen  fliessen  sehr  sparsam.  Orienta- 
lische Handschriften  über  die  neuere  Geschichte 
Bochara’8,  welche  sich  nach  Sir  Henry  Rawlin- 
sons’  Benachrichtigung  an  den  Verf.  in  der  Bi- 
bliothek des  East-India  Office  in  London  befin- 
den, aber  nur  dort  zum  Studium  verstattet  wer- 
den, hofft  der  Verf.  später  noch  einmal  ein- 
sehen  zu  können  (S.  144,  Anm.  2).  Einstweilen 
bleibt  eine  empfindliche  Lücke  in  Bezug  auf  die 
Zeit  von  1737  bis  1784,  wo  EmirMaasum,  »der 
schlaue  Frömmler«,  im  Juni  »den  Thron  Trans- 
oxaniens  bestieg,  um  von  demselben  Thaten  zu 
insceniren,  die  mit  dem  geflickten  Derwisch- 
mantel, in  den  er  sich  einhüllte,  keinesfalls  in 
Einklang  standen«  (S.  150).  Achtzehn  Jahre 
lang  dauerte  seine  an  grausamen  Kriegen  reiche, 
von  seinen  sunnitischen  Anhängern  jedoch  noch 
heute  als  gerecht  und  fromm  gepriesene  Regie- 
rung (S.  161),  deren  »streng  religiöser  Character« 
besonders  gerühmt  wird.  Das  Chanat  von  Bo- 
chara  erfreute  sich  während  dessen  »eines  sel- 
tenen Grades  des  Wohlstandes,  und  es  lebt 
nicht  nur  die  seltene  religiöse  Strenge,  sondern 
auch  die  Milde  und  Gerechtigkeit  seiner  Ver- 
waltung im  Andenken  seines  Volkes«  (S.  162). 
Sein  Sohn  Emir  Said,  der  1803  dem  Väter 
nachfolgte,  suchte  diesen  noch  in  Bigotterie  und 
Fanatismus  zu  übertreffen,  ohne  aber  des  Va- 
ters Regierungskunst  zu  besitzen.  Er  verblieb 
dreiundzwanzig  Jahre  in  ruhigem  Besitz  seiner 
Herrschaft,  die  aber  noch  mehr  als  die  seines 
Vaters  das  Volk  demoralisirte.  Leider  war  der 
Character  seines  Sohnes  und  Nachfolgers,  des 
Emir  Nasrullah,  dem  der  Verf.  das  ganze  XVIII. 
Kapitel  (S.  164 — 195)  widmet,  noch  verworfe- 
ner und  lasterhafter,  daher  auch  seine  Regierung 


724  Gott.  gel.  Anz.  1874.-  Stück  23. 

von  1826  bis  1860  mehr  als  je  vorher  das 
Land  herunterbrachte.  Nur  durch  Bruderkrieg 
und  Brüdermord  gelangte  er  in  den  Besitz  des 
Thrones,  den  er  wie  Keiner  durch  »himmel- 
schreiende Gewalttaten«  geschändet  hat  (S. 
169  u.  f.).  Der  Verf.  schildert  bis  S.  180  seine 
siegreichen  orientalischen  Feldzüge  und  kommt 
dann  auf  seine  Berührungen  mit  Russland  und 
Grossbritannien  zu  sprechen.  »Der  politische 
Wetteifer  dieser  beiden  christlich-europäischen 
Staaten  in  Bochara  nahm  englischerseits  1832 
durch  die  halbofficielle  Reise  Alexander  Burnes 
ihren  Anfang«  und  fand  zwei  Jahre  später  durch 
die  Absendung  des  russischen  Gesandten  Demai- 
son  ihre  Fortsetzung  (S.  181).  Wie  wenig  diese 
Gesandtschaften  ausrichteten,  ja  wie  schändlich 
der  Emir  von  Bochara  gegen  sie  verfuhr  — den 
Oberst  Stoddard  und  den  Capitain  Gonolly  liess 
er  bekanntlich  1842  hinrichten  (S.  191)  — ist  be- 
kannt genug.  Sein  Tod  erfolgte  1860  und  seit- 
dem haben  die  Berührungen  der  Russen  mit 
Bochara,  die  nun  von  den  Waffen  begleitet  wa- 
ren, einen  günstigeren  Erfolg  gehabt.  Das 
Schlusskapitel  des  zweiten  Bandes  S.  196  bis 
226  schildert  diese  Vorgänge  von  1860  bis  1870, 
deren  weitere  Erwähnung  an  dieser  Stelle,  da 
sie  der  neuesten  Zeit  angehören,  nicht  gerecht- 
fertigt sein  dürfte.  Mit  dem  Fall  von  Samar- 
kand am  14.  Mai  1868  (S.  216  u.f.)  »geht  der 
schönste  Theil  Transoxaniens  aus  den  Händen 
der  özbegischen  Dynastie  Mangit  in  den  Besitz 
des  Hauses  Romanoff  über«.  Bis  auf  die  Neu- 
zeit noch  eingehüllt  in  »den  Zauberschleier  der 
Romantik«  war  der  Fall  dieser  Stadt  in  Europa 
überraschend,  »und  in  der  That  ist  mit  ihrer 
Erschliessung  das  interessanteste  Phantasiege- 
bilde des  mittelalterlichen  Asiens  zu  Grunde  ge- 


Vamböry,  Geschichte  Bochara’s.  725 

gangen«  (S.  217).  Die  letzte  Entscheidungs- 
schlacht wurde  bei  Serpul,  »dort  wo  879  Jahre 
früher  zwischen  Scheibani,  Mehemmed  Chan  und 
Baber  der  Kampf-  einer  Dynastie  gefochten 
wurde«,  geschlagen  und  endete  mit  der  Unter- 
werfung des  Emir  Mozaffar-ed-din,  der  sich  zu 
einem  Friedensschluss  und  Bezahlung  einer 
Kriegscontribution  bequemen  musste  (S.  219). 
Russland  wird  seine  Errungenschaften  zu  be- 
haupten wissen,  denn  »russische  Fusstapfen  in 
umgekehrter  Richtung,  nämlich  von  Süden  nach 
Norden  gewandt,  sind  bis  jetzt  auf  asiatischem 
Boden  nicht  vorgefunden  worden«  (S.  224). 
»Der  Islam  aber  hat  durch  die  russischen  Er- 
folge in  Centralasien  im  Allgemeinen  die  gefähr- 
lichste Wunde  erhalten,  welche  das  Kreuz  in 
dem  mehr  als  tausendjährigen  Kampfe  ihm  bis 
jetzt  beizubringen  im  Stande  war«.  Denn 
»nicht  Mekka,  sondern  Bochara  war  das  geistige 
Centrum  des  Islams«  und  von  hier  aus,  wo  nun 
der  Ungläubige  herrscht,  erhielten  bis  dahin 
»eifrige  Moslimen  aus  allen  Theilen  des.  osma- 
nischen  Kaiserreichs  die  belebende  Kraft  ihres 
Religionsfanatismus«  (S.  225).  — Die  weiteren 
Ereignisse  in  Mittelasien,  wo  die  russische  Herr» 
Schaft  immer  mehr  Boden  gewinnt,  hat  der 
Verf.  in  mehreren  in  der  Zeitschrift  »Unsere 
Zeit«  veröffentlichten  Aufsätzen  beschrieben,  die 
sich  in  der  1873  bei  Brockhaus  in  Leipzig  un- 
ter dem  Titel:  Centralasien  und  die  englisch- 
russische Grenzfrage  • erschienenen  Schrift,  mit 
früheren  Arbeiten  des  Verfassers  zusammenge- 
stellt, auf  S.  217  bis  zu  Ende  wieder  abge- 
druckt finden.  Der  letzte  dieser  Aufsätze  aus 
1873  beschreibt  den  russischen  Feldzug  gegen 
Chiwa.  Hr.  Vamb6ry  ist  bekanntlich  jenem 
Vorschreiten  Russlands  abgeneigt,  doch  hat  er 

46 


726  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück'  23/ 

neuerdings,  wie  Dr.  G.  Badde  (Petermann’s 
Geogr.  Mittheilungen  Ergänzungsheit  Nr.  36  S. 
4)  sich  drastisch  ausdrückt,  »sich  neue  Tinte 
gekauft  und  schreibt  in  milderen  Zügen  für 
England  gegen  Russland«.  »Nur  in  Mittelasien, 
diesem  alten  Neste  des  wilden  Fanatismus,  der 
rauhen  Habsucht  und  Tyrannei,  ist,  nach  seinem 
Urtheil,  die  Verpflanzung  der  russischen  Bil- 
dung an  die  Stelle  der  einheimischen  einewohl- 
thuende  zu  nennen«  (Vgl.  die  eben  erwähnte 
Schrift:  Centralasien  und  die  russisch-englische 
Grenzfrage  S.  51).  Von  ganz  entgegengesetztem 
Standpunkt  beurtheilt  Friedrich  von  Hellwald  in 
seinem  1873  in  Augsburg  erschienenen  Buch: 
»Die  Russen  in  Centralasien«  das  Vordringen 
der  Russen.  Er  sagt:  »Russland  erfüllt,  daran 
kann  der  Ethnograph  nicht  zweifeln,  eine  wahre 
Culturmis8ion,  indem  es  auf  seine  Weise  den 
orientalischen  Völkern  den  europäischen  Ideen- 
kreis vermittelt;  mit  einem  Worte:  für  Asien 
ist  Russland  die  Cultur,  die  Civilisation«.  Wie 
sehr  aber  dieser  Vermittelung  die  Völkerschaf- 
ten Centralasiens  bedürftig  sind,  das  beweist 
die  in  dem  vorliegenden  Werk  so  anschaulich 
dargestellte  Geschichte  von  Transoxanien : im 
Allgemeinen  ein  Schauergemälde  der  noch  bis 
auf  die  neueste  Zeit  herab  in  Innerasien  unter 
dem  Bann  des  Islam  herrschenden  Uncultur. 
Das  dem  zweiten  Bande  S.  227 — 248  angehängte 
Sach-  und  Namenregister  ist  sorgsam  gearbeitet 
und  leistet  beim  Nachschlagen  nach  Einzelnhei- 
ten  erwünschte  Erleichterung.  Die  ausführlichen 
Inhaltsangaben  eines  jeden  Kapitels,  nach  Art 
englischer  Bücher  ähnlichen  Inhalts,  gewähren 
eine  willkommene  Uebersicht  und  lassen  die 
methodische  Eintheilung  des  bearbeiteten  histo- 
rischen Materials  erkennen.  Nur  möchte  man 


Vamb&y , Geschichte  Bochara’s.  727 

auch  schon  im  Inhaltsverzeichniss  die  jedem 
Kapitel  im  Text  beigegebene  Ueberschrift  ab- 
gedruckt sehen,  und  würde  eine  Karte  von 
Transoxanien,  die  leider  fehlt,  zur  besseren  und 
leichteren  Orientirung  auf  dem  Schauplatz  der 
Begebenheiten  wesentlich  beigetragen  haben. 
Dass  die  berühmte  Verlagshandlung  das  Werk 
seinem  Werth  entsprechend  mit  schönem  Papier 
und  gleichem,  correctem  Druck  ausgestattet  hat, 
bedarf  kaum  der  Bemerkung.  Oeffentliche  und 
Priyatbibliotheken  werden  es  zu  ihren  besten 
Schätzen  zählen.  Möchte  es  dem  gelehrten 
Verf.,  der  nicht  aufhören  wird  fortgehend  zu 
sammeln  und  Neues  zu  erforschen , noch  vergönnt 
werden,  nach  Verlauf  einiger  Jahre  eine  zweite, 
wo  möglich  dann  noch  erweiterte  und  verbes- 
serte Auflage  dieses  seines  Buches  zu  veran- 
stalten 1 

Altona.  ..  Dr.  Biernatzki. 


Die  Pharmacopoea  Germanica  verglichen  mit 
den  jüngsten  Ausgaben  der  Pharmacopoea  Bo- 
rus8ica,  dem  Schacht’schen  Supplement  etc.  Für 
Apotheker,  Aerzte,  Medioinal-Beamte  und  Dro- 
genhändler. Von  B.  Hirsch,  Apotheker  zu 
Grünberg  (Schlesien).  Berlin  1873.  Verlag  der 
Königl.  Geheimen  Ober-Hofbuchdruckerei  (R. 
v.  Decker).  VIU  und  547  pp.  in  gross  Octav. 

Von  allen  Büchern,  welche  das  Erscheinen 
der  Pharmacopoea  Germanica  hervorgerufen  hat, 
ist  das  vorliegende,  wenn  auch  nicht  der  Zeit 
nach  das  erste  und  dem  Umfange  nach  das 
grösste,  so  doch  seinem  wissenschaftlichen  In- 
halte nach  das  bedeutendste  und  in  Hinsicht 

46* 


728  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

auf  die  praktischen  Tendenzen,  die  es  verfolgt, 
für  den  Apotheker,  den  ja  zunächst  die  Publi- 
cation einer  neuen  Pharmakopoe  interessirt,  das 
brauchbarste  und  nützlichste.  Oie.  Ausgabe  der 
H i r 8 c h ’sehen  Pharmakopöenvergleichung  ist 
durch  den  bekannten  Setzerstrike  des  vorigen 
Jahres  nicht  unerheblich  verzögert  worden,  so 
dass  es  in  einzelnen,  nicht  immer  mit  derselben 
Schnelligkeit  auf  einander  folgenden  Heften  er- 
scheinen musste.  Diese  Verspätung  hat  auf  den 
Werth  des  Buches  einen  schädlichen  Einfluss 
nicht  ausgeübt;  veraltet  ist  der  Inhalt  dadurch 
keineswegs  und  das  vollendete  Werk  liegt  im- 
mer noch  früher  vor  uns  als  die  grösseren  Com- 
mentare  der  Pharmacopoea  Germanica,  deren 
Schlusshefte  bis  auf  die  heutige-  Stunde  noch 
nicht  erschienen  sind. 

Da  die  Pharmacopoea  Germanica  keine  Rück- 
sicht auf  ihre  unmittelbare  Vorgängerin,  als 
welche  die  7te  Ausgabe  der  Preussischen  Phar- 
makopoe zu  betrachten  ist,  nimmt  und  nicht, 
wie  es  in  andern  Ländern  üblich  ist,  in  einem 
besondern  Abschnitte  den  Zuwachs  neuer  Me- 
dicamente  und  die  Veränderungen  der  Beschaf- 
fenheit und  Darstellung  der  beibehaltenen  Arznei- 
mittel vorführt,  so  war  eine  derartige  Verglei- 
chung gleich  bei  dem  Erscheinen  der  Pharma- 
kopoe ein  dringendes  Desiderium  derjenigen 
Pharmaceuten,  welchen  die  Pharmacopoea  Ger- 
manica als  -Richtschnur  in  Zukunft  zu  dienen 
hat.  Diese  Aufgabe  zu  erfüllen,  hat  vor  Allem 
das  vorliegende  Buch  von  Hirsch  die  Absicht 
und  es  war  gewiss  zweckmässig,  dasselbe,  wie 
es  Verfasser  und  Verleger  ursprünglich  wollten, 
vor  dem  Erscheinen  der  Pharmakopoe  selbst 
auf  den  Markt  zu  bringen,  was  aber,  wie  be- 
merkt, äussere  Umstände  verhinderten.  Richtig 


Hirsch , Die  Pharmacopoea  Germanica.  729 

hat  aber  der  Verfasser  erkannt,  dass  er  seine 
Aufgabe  im  Interesse  der  Deutschen  Pharma- 
ceuten  nur  dann  genügend  löste,  wenn  er  auch 
auf  die  früheren  Ausgaben  der  Pharmacopoea 
Borussica  seine  Vergleichung  ausdehnte,  da  die 
neue  Pharmacopoe  bei  der  Auswahl  der  Medi- 
caments einen  ganz  andern  Standpunkt  ein- 
nimmt als  ihre  nächste  Vorgängerin.  Sie  hat 
nämlich  bei  der  Aufnahme  der  offidnellen  Arz- 
neimittel nicht  den  Standpunkt  der  pharmako- 
dynamischen  Dignität,  sondern  dem  Wunsche 
sämmtücher  deutscher  Apotheker  entsprechend 
den  des  praktischen  Gebrauches  befolgt  und  ist 
dadurch  genöthigt  gewesen,  eine  grosse  Anzahl 
über  Bord  geworfener  Droguen  und  Präparate, 
welche  in  den  früheren  Ausgaben  der  preussi- 
schen  Landespharmakopoe  sich  fanden,  in  ihre 
wohl  erworbenen  Rechte  wieder  einzusetzen. 
Dieselben  waren  zum  grössten  Theil,  soweit  sie 
das  Interdict  der  Editio  septima  nicht  aus  dem 
Verkehre  verbannte,  in  dem  sogenannten  Schacht- 
schen  Supplemente  conservirt  und  daraus  er- 
klärt sich  die  Bezugnahme  auf  dieses  nicht  of- 
ficielle  Buch  in  dem  Titel  der  vorliegenden 
Schrift.  Indem  aber  Hirsch  auch  verschiedene 
ausserdeutsche  Pharmakopoen  mit  zur  Verglei- 
chung heranzog,  hat  er  seiner  Arbeit,  ohne  der 
praktischen  Brauchbarkeit  für  Deutschlands 
Apotheker  etwas  zu  vergeben,  eine  breitere 
wissenschaftliche  Basis  geschaffen  und  derselben 
ein  Interesse  auch  ausserhalb  des  deutschen 
Vaterlandes  dadurch  gesichert.  Der  gegenwär- 
tige hohe  Standpunkt  der  deutschen  Pharmacie 
würde  zwar  an  sich  schon  ein  Interesse  des 
Auslandes  für  Bücher  von  der  Art  des  vorlie- 
genden zu  Wege  bringen  können ; dasselbe  wird 
aber  offenbar  dadurch  gesteigert,  dass  der 


730  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

Verf.  eine  Kenntniss  der  neuesten  Erscheinnngen 
auf  dem  Gebiete  der  ausländischen  Pharmako- 
poen in  hervorragender  Weise  darlegt. 

Was  die  Bearbeitung  selbst  anlangt,  so  müs- 
sen vir  derselben  in  doppelter  Weise  unsere 
Anerkennung  zollen.  Da  unsere  eigenen  Stu- 
dien neuerdings  uns  zu  einer  genauen  Durch- 
sicht der  jetzt  in  Europa  gültigen  Landesphar- 
makopöen  führten,  halten  vir  uns  berechtigt,  ein 
in  jeder  Beziehung  anerkennendes  Urtheil  über 
die  Genauigkeit  der  von  Hirsch  ausgeführten 
Vergleichung  abzugeben.  Dasselbe  gilt  von  der 
Art  der  Bearbeitung.  Ganz  abgesehen  von  der 
für  ein  solches  Werk  unumgänglich  nothwendi- 
gen  knappen  Fassung,  die  der  Verf.  in  vorzüg- 
licher Weise  durchführt,  so  dass  die  in  manchen 
Commentaren  zu  Deutschen  Pharmakopoen  üb- 
lichen und  keinesvegs  Jedermann  ansprechen- 
den Tiraden  und  Ausfälle  gegen  das  Buch, 
dem  sie  ihr  Leben  verdanken,  uns  hier  nicht 
entgegentreten,  hates  Hirsch  vermocht,  durch 
Anvendung  verschiedener  Druckarten  und  Mar- 
ginalien für  eine  ausserordentliche  üebersicht- 
lichkeit  zu  sorgen,  velche  für  den  Leser  ent- 
schieden von  grosser  Wichtigkeit  ist.  Wer 
übrigens  das  Buch  genau  durchstudirt,  vird  un- 
geachtet des  eben  hervorgehobenen  Fehlens  des 
groben  Geschützes  und  des  Tirailleurfeuers,  das 
in  den  Commentaren  zu  Pharmacopoen  Mode 
geworden,  in  hohem  Grade  von  dem  Inhalte  be- 
friedigt sein.  Es  finden  sich  in  den  einzelnen 
Artikeln  viele  treffliche  Bemerkungen  einge- 
streut, stets  sachgemäss  und  klar  und  den  Na- 
gel auf  den  Kopf  treffend  (vir  ervähnen  nur 
beispielsweise  die  Bemerkungen  zur  Nomen- 
clatur)  und  in  der  That  liefert  das  Buch  da- 
durch eine  berechtigte  und  bewusste  Kritik  der 


Hirsch,  Die  Pbaraacopoea  Germanica.  731 

Pharmacopoea  Germanica,  deren  mannigfache 
Mängel  dem  gebildeten  Pharmacenten  nicht  ent* 
gehen  können.  Von  besonderem  Interesse  sind 
namentlich  diejenigen  Artikel,  bei  denen  es  sich, 
um  die  Darstellung  pharmaceutischer  Präparate 
handelt.  Der  Verf.  hat  sich  dabei  mit  Recht 
auf  solche  beschränkt,  bei  welchen  auch  jetzt 
jetzt  noch,  wo  ja  die  meisten  Präparate  fabrik- 
massig  dargestellt  werden,  die  Bereitung  im 
Laboratorium  der  Apotheken  geschieht  oder  mit 
Vortheil  geschehen  kann.  Gerade  hier  aber 
finden  wir  eine  reiche  Auswahl  von  Winken 
für  den  praktischen  Pharmaceuten , welche  der 
langjährigen  Erfahrung  des  gerade  auf  diesem 
Gebiete  vorwaltend  thätigen  Verf.  entspringen. 
Ebenso  sind  die  Prüfungen  der  Arzneimittel  in 
einer  Weise  bearbeitet,  wie  man  sie  nach  den 
bisherigen  Leistungen  von  Hirsch  in  der  ge- 
dachten Richtung  zu  erwarten  berechtigt  war. 

Eine  sehr  nützliche  Beigabe  des  vorliegen- 
den Werks  sind  eine  Reihe  von  Tabellen,  welche 
die  durch  den  Text  der  Pharmacopoea  Germanica 
zerstreuten  Bestimmungen  über  Einsammlung 
und  Aufbewahrung  von  Arzneimitteln,  so  wie 
über  die  neuaufgenommenen  veränderten  oder 
verworfenen,  die  jederzeit  vorräthig  zu  halten- 
den und  die  extempore  zu  bereitenden  Medica- 
mente,  endlich  auch  die  neugewählte  Nomen* 
clatur  übersichtlich  veranschaulichen.  Weitere 
Tabellen  dienen  zur  Vergleichung  der  Maximal- 
dosen,  der  specifischen  Gewichte  und  des  Alko- 
holgehalts, auch  sind  die  Atomgewichte  der 
häufiger  vorkommenden  Elemente  tabellarisch 
zusammengestellt.  Sehr  dankenswerth  ist  auch, 
dass  der  Verf.  ferner  für  die  pharmazeutisch 
wichtigen  zusammengesetzten  Verbindungen  nach 
den  von  der  Pharmacopoea  Germanica  ange- 


732  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

nommenen  Atomgewichten  eine  Atomgewichts- 
tabelle eigens  berechnet  und  in  dieselbe  neben 
der  Formel  die  wichtigsten  characteristischen 
Angaben  über  Schmelzpunkt,  Siedepunkt,  Säfcti- 
gungscapacität,  spec.  Gew.  u.  s.  w.,  sowie  über 
den  Procentgebalt  der  Verbindung  an  ihren 
wichtigsten  Bestandteilen  aufgenommen  bat. 
Ein  besonderes  Begister  ist  dem  Buche  nicht 
beigegeben,  da  die  alphabetische  Anordnung 
des  Stoffes  und  die  Nomenclaturtabelle  ein  sol- 
ches überflüssig  macht. 

In  einem  Nachtrage  giebt  Hirsch  auch 
übersichtlich  die  neuerdings  vom  Bundesrath  be- 
schlossenen Veränderungen  der  Pharmacopoea 
Germanica,  welche  namentlich  die  Tabelle  der 
Maximaldosen  und  die  Aufbewahrung  der  Medi- 
caments betreffen.  Den  Schluss  des  Buches 
bildet  eine  alphabetische  Zusammenstellung  der- 
jenigen Artikel  der  Pharmacopoea  Germanica, 
welche  der  Verfasser  ihres  ifinern  Gehaltes  we- 
gen einer  Revision  bedürftig  erachtet.  Die  Zahl 
derselben  ist  nicht  gering  nnd  doch  ist  der 
Verf.  vorwaltend  vom  chemischen  Standpunkte 
aus  Irrthümer  aufzuflnden  bestrebt  gewesen, 
während  er  die  pharm akognostischen  Artikel  und 
im  Wesentlichen  auch  die  Mischungen  einer 
eigentlichen  Kritik  nicht  unterzogen  hat.  Die 
von  ihm  gemachten  Ausstellungen  dürfen  bei 
einer  in  einigen  Jahren  zu  erwartenden  neuen 
Ausgabe  der  Pharmakopoe,  wenn  nicht  etwa 
schon  früher  der  berechtigte  Wunsch  nach  einer 
internationalen  Pharmakopoe  officielle  Aner- 
kennung gefunden,  nicht  übersehen  werden. 

Theod.  Husemann. 


Grein,  Aisfelder  Passionsspiel  m.  Worterb.  733 

Alsfelder  Passionsspiel  mit  Wörter« 
buch.  Heraasgegeben  von  G.  W.  M.  Grein. 
Cassel  1874.  Verlag  von  Th.  Kay.  — 423  SS. 

Die  vollständige  Herausgabe  dieses  bisher 
nur  in  Proben  bekannten  Passions-Osterspieles 
rechtfertigt  sich  sowohl  bez.  des  Inhalts  als  ans 
sprachlichen  Gründen ; das  sorgfältig  gearbeitete, 
wenn  aach  von  einigen  Versehen  begleitete  Wör- 
terbuch lasst  den  Wortschatz  dieses  in  hessi- 
schem Dialect  abgefassten  Stückes  bequem  und 
deutlich  übersehen.  — Das  Stück,  jetzt  (abge- 
sehen von  der  Spielordnung)  ca.  8100  Verse 
zahlend  und  zu  dreitägiger  Aufführung  bestimmt, 
war  früher  in  kürzerer  Form  vorhanden  und 
wurde  damals  sicher  auch  in  anderer  Weise 
agirt.  Die  Prologe  zu  den  einzelnen  Tagewer- 
ken oder  Jornadas  — wie  das  spanische  Drama 
bekanntlich  seit  alter  Zeit  die  Acte  eines  Stü- 
ckes bezeichnet  — verrathen  schon  durch  sich 
selbst  eine  kleine  Verschiebung  der  ursprüngli- 
chen Oekonomie  des  Ganzen , ob  die  von  Herrn 
Grein  Einl.  S.  XVIII  versuchte  Erklärung  völ- 
lig zu  trifft,  lassen  wir  hier  dahingestellt. 

Aus  den  früher  noch  nicht  bekannten  Par- 
thien  heben  wir  hier  nur  zwei  hervor,  welche 
geeignet  sind,  den  diesen  späteren  Spielen*) 
eigentümlichen  Hang  zu  realistischer  Darstel- 
lung zu  belegen. 

An  die  Scene  mit  der  Samariterin  schliesst 
sich  die  Heilung  des  Blinden  (V.  1413  fg.)  an. 
Während  der  neuere  Leser  das  Fehlen  des 
Augenlichtes  an  und  für  sich  als  eines  der 
grössten  Uebel  zu  betrachten  pflegt,  ist  es  in 

*)  Die  Hs.  des  Aisfelder  Spieles  gehört  in  den  An- 
fang des  XVL  Jahrh. 


1 


734  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 

dem  alten  Spiel  vielmehr  die  dürftige  Lage  des 
von  anderer  Mitleid  Lebenden,  die  den  Haupt- 
grund seiner  Klagen  bildet.  Wenn  auch  die 
unmittelbare  Verbindung  seines  Gesuchs  an  den 
Heiland , ihm  das  Augenlicht  wiederzugeben  mit 
dem  Seufzer  nach  einem  Almosen-pfennig  (V. 
1460)  etwas  scurril  erscheint,  so  ist  im  Gan- 
zen doch  die  Rolle  dieses  Blinden,  der  mitlei- 
digen Seelen  nicht  nur  hundert  Paternoster 
täglich  für  sie  zu  beten  verspricht,  sondern  sie 
auch  an  dem  (himmlischen)  Lohn  seiner  tägli- 
chen Wallfahrten*)  will  theilnehmen  lassen  — 
sowie  die  seines  ihn  führenden  G ©hülfen,  den 
nach  langem  Fasten  nun  der  Kuchenzahn**) 
einmal  wieder  juckt,  nicht  unglücklich  in  jenem 
naiven  Humor  gehalten,  der  die  Wirkung  der 
erhabneren  Scenen  nicht  beeinträchtigt,  ja  sie 
vielleicht  erhöhen  möchte.  Unmittelbar  vor  je- 
ner harmlosen  Bettelei  des  Blinden  und  seines 
noch  mehr  vom  Hunger  geplagten  Führers  steht 
im  Spiel  nämlich  der  Ausspruch  des  Erlösers 
an  seine  mit  Mundvorrath  nahende  Jünger,  dass 
Er  Seine  Speise  bereits  genossen  habe  und  wie 
es  Joh.  4,  34  weiter  heisst:  »Meine  Speise  ist 
die,  dass  ich  thue  den  Willen  dess,  der  mich 
gesandt  hat«. 

Von  ganz  anderer  Art  ist  die  Scene,  in  der 
Judas  sich  den  Lohn  für  seinen  Verrath  voraus- 
bezahlen lässt,  V.  3150 fg.  — Wer  den  Ober- 
Ammergauer  Aufführungen  beigewohnt  hat,  wird 
sich  des  Eindrucks  erinnern,  den  das  klappernde 
Aufzählen  der  einzelnen  Silberlinge  und  die 
sorgliche  Prüfung  der  Stücke  macht.  In  den 

*)  Die  Bettelfahrten  werden  hier  so  bezeichnet. 

**)  Es  sind  die  flachen  Oster-kuchen  oder  Fladen  ge« 
meint.  Das  Stück  kam  bald  nach  Ostern  zur  Aufluhmng. 


Grein,  Aisfelder  Passionsspiel  m.  Wörterb.  735 

älteren  Spielen  ist  denn  auch  das  Mäkeln  des 
Judas  an  vermeintlich  schlechterer  Münze  bei 
dieser  Gelegenheit  durchaus  üblich,  doch  er- 
innere ich  mich  nicht,  eine  so  bitter-treffende 
Antwort  auf  die  Klage  des  Judas  über  einen 
schlechten  Denar,  wie  hier  V.  3225  gelesen  zu 
haben:  «Nun,  Judas,  einen  Strick  bekämst  Du 
schon  dafür,  wenn  Du  Dich  etwa  einmal  hän- 
gen wolltest».  — Wirkliche  Rohheiten  finden 
sich  nur  in  dem  von  späterer  Hand  eingefügten 
Episodion  vom  Marktschreier,  Y.  7483  fg.,  der 
darin  angeschlagene  Ton  unterscheidet  sich 
merklich  von  dem  Yortrag  der  Haupthandlung, 
und  auch  in  der  wol  gleichfalls  zu  den  nicht 
ältesten  Theilen  gehörigen  Streitscene  der  Ec- 
clesia und  Synagoga  (Y.  4480  fg.)  sind  die  wie- 
derholten Schimpfworte  im  Munde  der  Ersteren 
eine  Würze,  die  man  gleichfalls  entbehren 
könnte.  Freilich  sind  in  der  etwas  groben, 
mitteldeutschen  Mundart  des  Stückes,  über  die 
der  Hrgb.  S.  XIX  fg.  schätzbare  Zusammenstel- 
lungen giebt,  einige  Kraftausdrücke  weniger 
störend,  als  sie  es  etwa  in  der  gebildeten mhd. 
Sprache  sein  würden.  Wir  bemerken  hier  hin- 
sichtlich des  Dialektischen  noch,  dass  für  den 
Uebergang  eines  Dentals  nach  n in  g,  gk  (vgl. 
S.  XXIII)  die  in  märkischem  Niederdeutsch  ge- 
schriebenen Hirtenscenen  der  sog.  kurzen  Co- 
mödie  von  der  Geburt  des  Herrn  Christi*)  auch 
manche  Belege  bieten,  z.  B.  wungmseltzam  S. 
11,  lounger  S.  17,  JcingeJcen  S.  18,  19,  20,  26, 
27 ; ringelcm  S.  27 ; Mngelein  S.  28.  Dieser 
Uebergang  scheint  auch  in  andern  Gegenden 
sich  zu  finden,  so  verzeichnet  Martin  Schultze 
in  seinem  kürzlich  erschienenen  **)  Idiotikon  der 

*)  Neu  heraasgegeben  von  Friedländer,  Berlin  1839. 

**)  Nordhausen  hei  F.  Forstemann  1874. 


786  Gott.  gel.  Anz.  1874:  Stück  23. 

Nord-Thüringischen  Mundart  elonge  = nhd. 
elend,  Imge  = nhd.  linde  (S.  40  s.  v.  mierichen). 
Die  Assimilirung  eines  Dentals  an  vorhergehen- 
des 1 (Grein  S.  XXIII)  belegt  M.  Schultze  S.  40 
durch  melle  ==  melden;  alle  (olle),  allen  (ollen) 
= alden,  alten,  olden  u.  s.  w.  findet  sich  wol 
im  ganzen  nd.  Sprachgebiet,  dieselbe  Erschei- 
nung zeigt  sich  in  andern  Beispielen  auch  im 
Altnordischen  und  Schwedischen.  — Einfügung 
eines  t nach  Liquiden,  namentlich  n ist  auch 
im  Hochdeutschen  weitverbreitet,  nach  p,  b 
findet  sie  sich  ebenso  (wie  im  Alsfelder  Spiel) 
im  Worte  aptgrund  (nhd.  abgrund),  z.  B.  in 
Hahns  Ausgabe  des  jüngeren  Titurel  Str.  4,  4; 
11,  1 — ebendort  Str.  22,  1 steht  naMgdbure 
für  nächgebüre.  Der  alte  Druck  des  Tit.  zeigt 
diese  Eigenheiten  nicht.  — Belege  für  aptgot  bei 
Lexer  I,  15. 

Was  den  Text  und  das  Wörterbuch  betrifft, 
so  sind  einige,  meist  begründete  Ansstellungen 
schon  von  anderer  Seite  gemacht  worden*) 
denen  wir  hier  noch  eine  kleine  Nachlese  hinzu- 
fügen,  dabei  auch  schwierigere  Stellen  ins  Auge 
fassend,  wo  die  Aenderung  nicht  so  auf  der 
Hand  liegt.  V.  258  ist  nicht  ganz  klar,  und 
die  Besprechung  im  Wb.  nicht  ausreichend. 
V.  329  wäre : und  dick  ...  wissen  lan  zu  ver- 
muthen.  V.  411  wäre  statt  des  hier  fast  zu 
allgemeinen  bösen**)  etwa  losen  zu  schreiben. 
— V.  736  ist  mit  wol  für  nit  verdruckt  — 

*)  Vgl.  Jenaer  Lit.  Zeit.  1874,  Art  204.  Wol  mit 
Recht  ist  daselbst  die  Aenderung  von  V.  3640  gerügt, 
der  Hrgb.  hat  sich  wahrscheinlich  durch  das  in  jener 
Rede  so  häufige  vorfluchen  mit  dem  Dat.  irreführen 
lassen.  — Aber  V.  2556  lese  ich  mit  dem  Hrgb.  zeren, 
da  der  ähnliche  Ausdruck  Y.  2603  dafür  spricht. 

**)  Die  Y.  410,  411  genannten  Sünden  sind  als  Bei- 
spiele der  Y.  408  genannten  bosheit  zu  betrachten. 


Grein,  Alsfelder  Passionsspiel  m.  Worterb.  737 

In  der  Spielordnnng  vor  V.  923  1.  Herodiadi. 

— Nach  V.  1211  1.  hoc  dicto.  V.  1264  ist  das 
von  zu  streichen.  — Die  W.  1363  ff.  sind  nicht 
ganz  klar.  V.  1386  1.  nit  für  mit.  — V.  1389 
möchte  ich  schreiben  : es  sij  nach  min  eren  and 
erklären  »es  sei  meine  Aerndte  nahe«.  Dann 
würde  der  fg.  Vers  sich  passend  anschliessen. 

— V.  1400  war  wol  geseit  zu  schreiben.  — • 
V.  1529  könnte  dem  Sinne  nach  nur  vorschult, 
nicht  undvorsckult  erwartet  werden.  — V.  1577 
hätte  wol  einer  Erklärung  bedurft,  liegt  hier 
eine  ironische  Anspielung  auf  die  Reichsacht, 
die  sog.  Vogelfreiheit  zu  Grunde? 

Merkwürdig  ist  V.  2059  die  scheinbare 
Identificirung  Christi  mit  dem  heil.  Geiste,  vgL 
über  ähnliche  Wendungen  im  Heliand  Zeitschr. 
für  D.  Philol.  IV,  69.  — Bedenklich  ist  mir 
V.  2070  die  Schreibung  der  habe  nebst  der  Er- 
klärung: der  Kranke  (im  Wb.  s.  v.  haf.)  Ab- 
gesehen davon,  dass  das  got.  hamfs  und  seine 
Verwandten  nicht  den  Begriff:  krank,  schwach 
im  Allgemeinen,  sondern  einen  bestimmten, 
chronischen  Zustand  bezeichnen,  bei  dem  eine 
Todesgefahr  eben  nicht  obwaltet , liegt  auch  die 
Aenderung  hnabe  den  Zeichen  nach  sehr  nahe. 

— V.  2110  war  geben  vielleicht  das  Reimwort 
auf  men.  V.  2341  gäbe  vomichtet  den  besseren 
Reim;  alle  Freiheiten,  die  sich  jetzt  im  Texte 
finden,  sind  schwerlich  von  Alters  her.  Nach 
V.  2400  war  das  zweimalige  Moisi  als  Gen.  zu 
ändern.  V.  2420  soll  wol  Dasselbe  sagen,  wie 
der  fg.  V.,  aber  die  Fassung  wird  kaum  völlig 
correkt  sein.  V.  2582  ist  das  Pronomen  en 
(enm)  nicht  wol  zu  entbehren.  — Nach  V.  2663 
lies  flageUo.  V.  2751  1.  han  ich.  Nach  V.  2760 
ad  pedes  etc.  Ist  V.  2870  vollständig?  V.  2946 
halte  ich  wasseer  nicht  für  dasSubst.,  das  erst 


738  Gött.  gel*  Adz.  1874.  Stuck  23. 

V.  2948  richtig  steht,  sondern  erkläre  wassz 
der  = mhd.  swaz  da.  (vgl.  uffer  = uff  der  V. 
1110).  — Die  Erklärung  des  Part,  gezuckt  (V. 
2968)  im  Wb.  halte  ich  für  irrig,  dem  Sinne 
nach  passt  nur  gezuckt  als  Part,  von  gezünden 
anzusehen,  was  durch  die  Nebenformen  dieses 
Verbums  gezwihen  und  gezüngen  (so  mit  ei  für 
. i bei  Agricola,  vgl.  mhd.  Wb.  UI,  958,  wo 
auch  das  Part,  gezwtt  sich  findet)  erleichtert 
wird*).  V.  3167  ist  ding  (ähnlich  dem  mhd. 
starken  neutr.  gedinge)  die  gerichtliche  Forde- 
rung, der  formelle  Handel,  der  fg.  Vers  zeigt 
dies  deutlich.  V.  3419  ist  kimmelfart  nicht  was 
wir  jetzt  so  nennen,  es  ist  der  Weg  zum  Him- 
mel, zum  ewigen  Leben,  vgl.  VV.  4495  u.  4502. 
— V.  3431  ist  sim  wol  verdruckt.  — Y.  3489 
ist  las  = lehrte,  .wie  auch  im  mhd.  mitunter, 
vgl.  Lexer  S.  1889.  — Nicht  unbedenklich  sind 
auch  VV.  3710  und  3999,  sowie  4073,  4777 
und  4358.  — Vor  4480  1.  quot  für  quod.  — 
Ohne  hier  gerade  alle  zweifelhaften  Stellen  er- 
örtern zu  wollen,  bemerke  ich  noch,  dass  die 
Erklärung  von  vorbacken  V.  5563  im  Wb. 
schwerlich  genügt.  Das  im  mhd.  Wb.  Ila  458 
zweifelnd  aufgestellte  schwache  Masc.  pagge 
(Pfahl)  ist  wol  als  verwandte  Bildung  anzu- 
sehen. — In  der  Spielordnung  nach  V.  5807 
ist  parum  soviel  als  parvum  sc.  temporis  spa- 
tium,  ebenso  nach  V.  6151,  nach  V.  6159  steht 
in  demselben  Sinne  modicum.  — V.  5959  ist 
bbiden  schwerlich  Infinitiv,  es  müsste  eine  Par- 
ticipialform  hergestellt  werden.  — V.  6059  ist 
we  zu  streichen.  — V.  6340  würde  ich  lieber 

*)  Das  von  Pfeiffer  im  Glossar  zum  Jeroschin  beson- 
ders hingestellte  Verb,  mien  ist  wol  kein  anderes  als 
das  bekannte. 


Grein,  Aisfelder  Passionsspiel  m.  Worterb.  739 

voren  (=  mhd.  vüeren)  als  voden  lesen.  Nach 
V.  7410  1.  congrediuntur.  — V.  7447  war  das 
Komma  hinter  use  za  setzen.  — 

Bei  der  etwas  nachlässigen  Schreibweise  des 
Stackes  ist  es  wol  möglich,  dass  aach  da  Feh- 
ler stecken,  wo  sie  minder  handgreiflich  sind. 
Die  VV.  460 — 63  haben,  dem  Reim  nach  zn 
schliessen,  ursprünglich  diese  Folge  gehabt: 

Hanget  an,  hanget  an, 

Mir  wolln  in  die  helle  gan, 

Mir  (Hs.  Ir)  teofel  alle  gemeine 

Und  traren  and  weinen! 

/ 

Will  man  aber  nicht  ändern,  so  ist  wol  ein 
kreuzweiser  Reim  anzunehmen.  — Nach  V.  490 
ist  wol  complete  (sc.  versu)  oder  -ta  (sc.  anti- 
phona)  zu  lesen*  — Y.  2744  ist  dm  nicht  als 
das  nach  dem  Comp,  stehende  Vergleichungs- 
wort aufzufassen,  sondern  zu  construiren:  am 
nach  men  hon  ich  tusent  stunt  = noch  tausend 
mal  mehr  aber  habe  ich  u.  s.  w.*)  — V.  3121 
ist  schwerlich  ganz  correkt  überliefert,  aber  die 
im  Wb.  gegebene  Erklärung  führt  wol  auf  Ab- 
wege. In  brechen  vermuthe  ich  eine  Nebenform 
des  mhd.  brefoten  (lärmen,  schreien;  Lexer  S. 
347)  und  groissz  gen  der  brechen  wäre  dann: 
grossthun,  prahlen  in  Deinen  Augen  — Y.  3554 
giebt,  wie  er  dasteht,  allenfalls  einen  Sinn,  aber 
es  liegt  nahe  ein  Missverständnis  des  Schrei- 
bers anzunehmen,  zumal  auch  die  Verse  3551 — 
53  gelitten  zu  haben  scheinen.  Ich  glaube,  dass 
in  dorsten  das  mhd.  gedürsten  (Infin.  und  neutr. 
Subst.)  = audere  zu  suchen  ist,  das  ebenso 
im  Reim  auf  vwsten  bei  Leser  belegt  ist. 
Allerdings  wäre  dann  die  Construction  noch 
etwas  zu  ändern. 

*)  V.  2797  ist  sündenfrucht  vielleicht  Sündenlast. 


740  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  23. 


Jemehr  sieh  — zunächst  ans  Interesse  an 
den  sprachlichen  Erscheinungen  — die  For- 
schung auch  solcher  Zeiten  bemächtigen  wird, 
die  auf  den  ersten  Blick  nicht  gerade  als  die 
«Blütheperioden»  unserer  Literatur  sich  dar- 
stellen, um  so  mehr  wird  sich  eine  Auffassung 
von  selbst  berichtigen  müssen,  die  nur  in  we- 
nigen Decennien  (etwa  von  1190 — 1225)  den 
wirklichen  Höhepunkt  unserer  alten  Literatur, 
vorher  und  nachher,  aber  nur  unreife  Ansätze 
oder  rohen  Verfall  erblicken  möchte.  Der  un- 
serer höfischen  Dichtung  des  XIII.  Jahrh.  voran- 
gehenden Periode  wendet  sich  die  Aufmerksam- 
keit neuerdings  sogar  mit  Vorliebe  zu,  aber 
auch  den  das  MA.  abschliessenden  Zeiten  ge- 
bührt jene  regere  Beachtung,  wie  sie  sich  jetzt 
allerdings  auch  zeigt,  aber  vielleicht  wol  thäte 
sich  weniger  in  dem  Hervorziehen  zerstreuter 
Einzelheiten  zu  gefallen  als  vielmehr  an  die 
Würdigung  der  bedeutenderen  Documents'  mit 
frischer  Kraft  heranzutreten.  Auch  Herr  Grein 
wird  durch  seine,  das  Alsfelder  Spiel  uns  les- 
bar vorlegende,  Edition  dem  Vorurtheil,  mit  dem 
Hup.«  in  germanistischen  Kreisen  wol  noch  hie 
Und  da  diesen  späteren  Zeiten  begegnet,  hoffent- 
lich nicht  ohne  Erfolg  entgegengetreten  sein,  da 
Fehler  und  Vorzüge  der  poetischen  Behandlung 
hier  fast  gleichmässig  auf  der  Hand  liegen  und 
der  anspruchslose  Styl  zu  billigem  Urtheil  auf- 
fordert. E.  Wilken. 


741 


Crftttingisclie 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  24.  17.  Juni  1874. 


Hebräische  Sprachlehre  für  Anfänger.  Von 
Heinrich  Ewald.  Vierte  Ausgabe.  Mit 
den  Grund zügen  desBiblisch-Aramäi- 
sehen.  Göttingen,  in  der  Dieterichschen  Buch- 
handlung, 1874.  — 240  S.  in  8. 

Bekanntlich  ist  diese  Bearbeitung  der  He- 
bräischen Sprachwissenschaft  der  Zahl  nach  die 
dritte,  dem  Inhalte  nach  die  kürzeste  von  den 
drei  sehr  verschiedenen  welche  der  Unterz,  ver- 
öffentlichte. Die  beiden  ersten  wurden  schon 
früh  zu  dem  Ausführlichen  Lehrbuche 
vereinigt,  dessen  achte  Ausgabe  1870  erschien. 
Wie  die  Aufschrift  andeutet,  ist  dagegen  dieser 
kurze  Abriss  für  Anfänger  bestimmt,  nicht 
so  als  sei  es  nützlich  den  Anfängern  eine  in 
ihren  Grundzügen  und  ihrer  inneren  Folgerich- 
tigkeit andere  Sprachlehre  vorzulegen,  sondern 
nur  in  dem  Sinne  dass  es  nützlich  sei  den  An- 
fängern alles  das  für  sie  zunächst  nothwendige 
übersichtlich  mitzutheilen.  Das  ist  der  Zweck 
dieses  kürzern  Lehrbuches  von  Anfang  an  ge- 
wesen, und  derselbe  ist  es  auch  in  dieser  neuen 

47 


742  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  24. 

Auflage  noch.  Weder  der  wissenschaftliche 
Grund  noch  die  Anlage  und  Reihenfolge  der 
einzelnen  Lehrstücke  des  Werkes  darf  hier  ver- 
schieden sein:  sonst  wäre  der  Inhalt  selbst  in 
der  Lehre  verschieden.  Nur  das  Mass  dessen 
was  als  Inhalt  in  dem  einen  oder  anderen 
Werke  gegeben  werden  soll,  kann  nach  dem 
Zwecke  jedes  wechseln:  man  wird  aber  leicht 
begreifen  dass  die  Bestimmung  auch  dieses 
Masses  da  am  besten  gegeben  wird  wo  der  In- 
halt der  Wissenschaft  schon  am  sichersten  er- 
kannt ist. 

Ein  anderer  Nutzen  welchen  ein  solcher 
kürzerer  Abriss  schaffen  kann,  ist  der  für  die 
allgemeine  Sprachwissenschaft.  Man  sollte  end- 
lich begreifen  dass  diese  unter  uns  zu  keiner 
höheren  Stufe  gelangen  kann  wenn  nicht  zuvor 
alle  die  einzelnen  Sprachstämme  jeder  zunächst 
für  sich  vollkommen  sicher  erforscht  und  über- 
sichtlich beschrieben  sind;  das  Hebräische  ist 
aber  innerhalb  des  Semitischen  so  sehr  die  uns 
in  ihrem  ganzen  Umfange  bekannte  älteste  und 
wohlerhaltenste  Sprache,  dass  man  von  ihm  bei 
allem  Semitischen  immer  am  nächsten  ausgehen 
muss.  Dazu  kann  man  aus  guten  Gründen  be- 
haupten das  Semitische  sei  uns  heute  wissen- 
schaftlich betrachtet  als  Sprachstamm  schon  viel 
sicherer  und  übersichtlicher  bekannt  als  das 
Mittelländische.  Dies  erklärt  sich  zwar  theil- 
weise  leicht  sofern  das  Semitische  als  Sprach- 
stamm nicht  von  so  weitem  Umfange  ist  als  das 
sogenannte  Indogermanische:  allein  desto  mehr 
ist  zu  beklagen  dass  man  es  in  unseren  Tagen 
immer  noch  zu  wenig  beachtet  und  zu  leicht 
über  die  Thatsache  wegspringt  dass  es  wissen- 
schaftlich schon*  viel  sicherer  und  für  alle 
Sprachwissenschaft  nützlicher  erkannt  und  be- 


Ewald,  Hebräische  Sprachlehre  fl  Anfänger.  743 

schrieben  ist  als  man  gewöhnlich  gerne  zageben 
mag.  Eine  kürzere  aber  sichere  Uebersicht  über 
den  Grund  den  Bestand  und  den  Bau  des  He- 
bräischen könnte  hier  vielen  willkommen  sein 
welche  es  sonst  nicht  weiter  verfolgen  mögen. 
Die  Mittelländische  Sprachlehre  ist  noch  nicht 
einmahl  so  weit  den  Wortbau  so  richtig  und  so 
lehrreich  zu  verfolgen  als  dies  im  Semitischen 
jetzt  schon  lange  möglich  ist. 

Die  Neuerungen  welche  der  Unterz,  in  sei- 
nen Werken  über  das  Semitische  einführte,  ha- 
ben zwar  im  letzten  halben  Jahrhunderte  man- 
cherlei und  von  mancherlei  Antrieben  aus- 
gehende Gegner  gefunden:  doch  kann  man  wol 
behaupten,  diese  seien  jetzt  grundsätzlich  nicht 
mehr  da.  Zu  beklagen  ist  jedoch  dass  die 
Ueberbleibsel  der  früheren  unwissenschaftlichen 
Weise  das  Hebräische  zu  lernen  und  zu  lehren 
sich  noch  immer  gerne  wenigstens  in  dem  was 
man  heute  das  »Praktische«  nennt  erhalten 
wollen:  während  man  längst  hätte  wissen  kön- 
nen wie  schwer  uns  in  Deutschland  die  völlig 
verkehrte  Entgegensetzung  von  Theorie  und 
Praxis  in  welche  man  sich  immer  tiefer  völlig 
verlor,  ebenso  wie  die  des  »Idealen«  und  »Re- 
alen« nach  allen  Seiten  hin  geschadet  hat. 
Diese  elenden  Gegensätze  gingen  von  den  La- 
teinisch-Griechischen Schulen  immer  mehr  in 
das  öffentliche  Leben  (wohin,  auch  die  öffent- 
liche Lehre  gehört)  mit  seinen  Folgen  über, 
und  haben  einen  Schaden  gestiftet  an  welchen 
man  vor  50 — 60  Jahren  noch  gar  nicht  denken 
konnte.  Möchte  man  sich  endlich  über  sie  da- 
hin erheben  wo  sie  nicht  mehr  schaden  können. 

Die  neue  Ausgabe  welche  hier  erscheint,  ent- 
hält ausser  der  Verbesserung  der  Druckfehler 
welche  in  die  vorige  eingeschlichen  waren  und 

47* 


744  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stud:  24. 

vielen  zerstreuteren  Zusätzen  ganz  neu  in  einem 
Anhänge  die  »Grundzüge  des  Biblisch- Aramäi- 
schen«, welche  in  der  Aufschrift  des  Buches  be- 
merkt sind.  Unter  diesem  Biblisch-Aramäischen 
sind  alle  die  einzelnen  Aramäischen  Wörter  und 
kürzeren  oder  längeren  Bedestücke  zu  verstehen 
welche  sich  im  Alten  Testamente,  aber  sehr  zer- 
streut auch  in  dem  Griechischen  des  N.  Ts. 
finden.  Sie  bilden  zusammen  das  älteste  Ara- 
mäische welches  wir  bis  jetzt  aus  Büchern  ken- 
nen, und  haben  schon  insofern  für  die  Sprach- 
wissenschaft ihre  hohe  Bedeutung.  Obwohl  sie 
nun  vom  Syrischen  und  allen  anderen  Aramäi- 
schen Mundarten  bedeutsam  genug  abweichen 
und  vieles  schwieriger  zu  Verstehende  in  sich 
schliessen,  hat  man  sie  dennoch  noch  niemals 
einer  besonderen  wissenschaftlichen  Betrachtung 
und  Beschreibung  so  unterworfen  wie  das  hier 
in  aller  Kürze  aber  in  vollständiger  Uebersicht 
geschieht.  Sofern  sie  jedoch  in  der  Bibel  stehen, 
ist  hier  der  passende  Ort  dazu.  Zugleich  kann 
dies  als  ein  Beispiel  dienen  wie  gewiss  man  auch 
das  Aramäische  trotz  seiner  bedeutenden  Ab- 
weichung vom  Hebräischen  ganz  in  derselben 
Folge  einzeln  abhandeln  kann  wie  dieses. 

H.  E. 


Manuel  de  mineralogie  par  A.  Des 
Cloiseaux,  membre  de  l’Institut  etc. 
Paris,  Dunod,  editeur.  Vol.I.  1862.  Vol.H.  1874. 

Im  Jahre  1862  schon  erschien  der  erste 
Band  von  Des  Cloiseaux’s  Handbuch  der  Mine- 
ralogie, dem  vortrefflichsten,  das  wir  gegen- 


. Oes  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  745 

wärtig  besitzen.  Ungünstige  Verhältnisse  in 
Frankreich,  die  nur  durch  die  Intervention  des 
Ministers  für  die  öffentlichen  Arbeiten  gehoben 
werden  konnten,  verhinderten  aber  das  Erschei- 
nen des  zweiten  (letzten)  Bandes  dieses  bedeu- 
tenden Werks.  Erst  in  den  letzten  Wochen 
ist  die  erste  Abtheilung  des  wohl  von  allen  Mi- 
neralogen mit  Sehnsucht  herbeigewünschten 
zweiten  Bandes  erschienen  und  in  der  Vorrede 
dazu  die  Hoffnung  ausgesprochen,  dass  die  Voll- 
endung des  Ganzen  nicht  mehr  lange  Zeit  in 
Anspruch  nehmen  werde.  Lag  ja  doch  das 
Manuskript  seit  langer  Zeit  fertig  und  war  nur 
durch  ungünstige  Umstände  am  Erscheinen  ge- 
hindert. 

Herr  Des  Cloiseaux,  dessen  krystallographi- 
schen  und  besonders  dessen  krystallographisch- 
optischen  Untersuchungen  die  Mineralogie  schon 
so  manche  höchst  werthvolle  Entdeckungen  ver- 
dankt, hatte  zuerst  die  Absicht,  das  ebenfalls 
wegen  seiner  vortrefflichen  krystallographischen 
Angaben  werthvolle  englische  Handbuch  der 
Mineralogie  von  Phillips  in  seiner  dritten  von 
Brooke  und  Miller  herausgegebenen  Auflage 
französisch  zu  bearbeiten,  dasselbe  Buch,  des- 
sen deutsche  Bearbeitung  das  mineralogische 
Publikum  von  den  ganz  besonders  dazu  be- 
rufenen Händen  des  Herrn  Professors  Sartorius 
von  Waltershausen  erwarten  darf.  Des  Cloiseaux 
hat  aber,  weil  sich  die  Bearbeitung  zu  lange  ver- 
zögerte, vorgezogen,  ein  neues  Handbuch  zu 
schreiben,  das  sich  möglichst  streng  in  den  kry- 
stallographischen Angaben  an  das  Phillips’sche 
Buch  anlehnen  sollte.  Dieser  Entschluss  ist 
wohl  sicher  als  ein  ausserordentlich  glücklicher  zu 
bezeichnen,  denn  bei  einer  blossen  Bearbeitung 
des  englischen  Werks  hätte  die  Wissenschaft  im 


746  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 

Grossen  und  Ganzen  wohl  weniger  gewonnen, 
jedenfalls  aber  hätte  Herr  Des  Cloiseaux  kaum 
die  physikalischen  Eigenschaften  der  Mineralien, 
besonders  die  optischen,  in  dem  Maasse,  wie  es 
geschehen,  mit  hereinziehen  können,  und  gerade 
das  Hereinziehen  dieser  Eigenschaften  in  so 
grosser  Vollständigkeit  ist  es,  was  das  Werk 
von  Des  Cloiseaux  vor  allen  anderen  Hand- 
büchern der  Mineralogie  auszeichnet1,  die  die- 
ser Eigenschaften  nur  nebenbei  Erwähnung 
thun  und  ist  ferner  das,  was  diesem  Werk  einen 
bleibenden  Werth  verleiht,  um  so  mehr  als  Des 
Cloiseaux  mit  zu  denen  gehört,  die  am  meisten 
zur  Erforschung  der  optischen,  überhaupt  phy- 
sikalischen Eigenschaften  der  Mineralien  gethan 
haben  und  der  damit  auch  am  meisten  dazu 
beigetragen  hat,  diesen  Eigenschaften  eine  ihrer 
wissenschaftlichen  Bedeutung  würdige  Stelle 
beim  Studium  der  Mineralien  überhaupt  zu  ver- 
schaffen. 

In  der  Vorrede  zum  ersten  Band  werden 
die  hauptsächlichsten  Quellen,  die  Des  Cloiseaux 
benützte , angegeben.  Man  sieht  da  meist 
deutsche  und  englische  Namen,  nur  einen  oder 
den  andern  französischen  und  man  sieht  dar- 
aus, wie  wenig  Forscher  sich  in  diesem  Land 
in  der  neueren  Zeit  erfolgreich  mit  Mineralogie 
beschäftigen.  Um  so  bemerkenswerther  ist  es, 
dass  trotzdem  gerade  aus  französischen  Händen 
das  umfassendste  und  gediegenste  Handbuch 
dieser  Wissenschaft  hervorgegangen  ist. 

Was  die  Behandlungsweise  des  krystallogra- 
phischen  Theils  anbelangt,  so  sind  hier  bei  je- 
der kry8talli8irten  Mineralsubstanz  die  sämmt- 
lichen  beobachteten  Flächen  und  auch  so  ziem- 
lich alle  Combinationen  angegeben.  Selten  fin- 
det man  eine  wesentliche  Lücke.  Besonders 


Des  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  747 

schätzbar  sind  die  ausserordentlich  reichhaltigen 
Winkelverzeichnisse,  in  welchen  bei  den  meisten 
Mineralien  die  gemessenen  Winkel  und  die  be- 
rechneten nebeneinander  gestellt  sind,  so  dass 
eine  unmittelbare  Vergleichung  ermöglicht  ist. 
Dabei  sind  die  Grundwinkel,  auf  denen  die 
Rechnungen  beruhen,  mit  einem  Sternchen  be* 
zeichnet,  und  es  ist  damit  Jedermann  in  den 
Stand  gesetzt,  die  Rechnungen  zu  wiederholen 
und  zu  prüfen.  Nur  bei  den  ausserordentlich 
flächenreichen  Krystallen,  wie  bei  dem  Quarz, 
ist  eine  Anführung  der  gemessenen  Winkel  unter- 
lassen, weil  dies  bei  Weitem  mehr  Raum  be* 
ansprucht  hätte,  als  zur  Verfügung  stand. 
Ueberall  sind  die  Winkelangaben  benützt,  die 
von  den  besten  Erystallographen  bekannt  ge- 
macht worden  sind  und  stets  sind  die  Namen 
der  Autoren  bei  jedem  einzelnen  Winkel  ange- 
führt , so  dass  man  daraus  sofort  bis  zu  einem 
gewissen  Grad  auf  das  Mass  der  Zuverlässig- 
keit der  einzelnen  Angaben  schliessen  kann. 
An  nicht  wenigen  Mineralien  hat  Des  Gloiseaux 
selbst  werthvolle  krystallographische  Studien 
gemacht  und  seine  eigenen  Beobachtungen  hier 
mit  verwerthet. 

Sehr  zweckmässig  ist  die  Art  und  Weise, 
wie  in  den  Winkeltabellen  die  einzelnen  Win- 
kel angeordnet  sind.  Bei  der  grossen  Menge 
derselben,  welche  an  flächenreichen  Krystallen 
in  Betracht  kommen,  ist  es  sehr  schwierig,  einen 
einzelnen  Winkel  zu  finden,  wenn  diese  in  be- 
liebiger, gesetzloser  Weise  angeordnet  sind. 
De8shalb  hat  Des  Cloiseaux  eine  Anordnung 
nach  Zonen  vorgezogen,  wobei  alle  zu  einer 
Zone  gehörigen  Winkel  durch  eine  Klammer  zu- 
sammengefasst sind.  Dabei  folgen  sich  die  Zo- 
nen in  ganz  regelmässiger,  constanter  Weise,  so 


748  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  24. 

dass  man  auch  in  einer  noch  so  langen  Tabelle 
jeden  Winkel  leicht  finden  kann.  Die  Zonen 
folgen  sich  so : Zuerst  die  Prismenzone  mit  ver- 
tikaler Axe,  dann  die  Zonen,  deren  Axen  den 
Diagonalen  und  den  Seiten  der  Basis  des  Grund- 
prismas  parallel  sind  etc.v  wie  das  in  der  Vor- 
rede zum  ersten  Bande  pag.  II  weitläufig  aus- 
einandergesetzt ist. 

Die  Uebersicht  über  die  beobachteten  Flä- 
chen und  Zonen  wird  ermöglicht  durch  eine 
grosse  Anzahl  (im  ganzen  Werk  56)  sphärischer 
Projektionen,  welche  bei  den  flächenreichsten 
Krystallen  den  Winkeltabellen  gegenübergestellt 
sind.  Am  Ende  des  zweiten  Bandes  soll  die 
Art  und  Weise  auseinandergesetzt  werden,  wie 
diese  Projectionen  construirt  werden.  Man  er- 
kennt an  diesen  mit  grosser  Sorgfalt  und  Ge- 
nauigkeit aüsgeführten  Zeichnungen  deutlich  die 
grossen  Vorzüge,  welche  die  sphärische  Pro- 
jection, die  sich  daher  auch  immer  mehr  und 
mehr  einbürgert,  vor  der  von  Quenstedt  ange- 
wendeten Linearprojektion'  hat,  wo  bei  einer 
einigermassen  bedeutenden  Zahl  von  Kry stall- 
flächen die  Uebersicht  total  verloren  geht,  wo 
sehr  viele  Zonenpunkte  über  das  Papier  hinaus- 
fallen etc.  Wer  sich  die  grosse  Uebersichtlich- 
keit  der  sphärischen  Projektion  auch  bei  einer 
bedeutenden  Anzahl  von  Flächen  gegenüber  der 
geringen  Uebersichtlichkeit  der  Linearprojektion 
recht  klar  machen  will,  braucht  nur  z.  B.  die  von 
Des  Cloiseaux  gegebene  sphärische  Projektion  des 
Quarzes  mit  der  von  E.  Weiss  gegebenen*) 
Linearprojektion  desselben  Minerals  zu  verglei- 
chen, das  allerdings  zu  den  formenreichsten  ge- 
hört , die  man  kennt. 

■ 

*)  Abhandl.  der  nat.  Ges.  zu  Halle.  Bd.  V.  pag.  53. 


Des  Cloiseaux,  Manuel  ee  mineralogie.  749 

Ausser  diesen  sphärischen  Projektionen  sind 
aber  auch  durch  eine  grössere  Reihe  von  schie- 
fen Projektionen,  die  zu  einem  ziemlich  um- 
fangreichen Atlas  vereinigt  sind,  die  Formen 
dargestellt,  in  denen  sich  die  einzelnen  Mine- 
ralien und  ihre  Combinationen  in  der  Natur 
zeigen.  Es  lässt  aber  bei  diesen  Figuren  die 
künstlerische  Ausführung  Einiges  zu  wünschen 
übrig,  wenn  sie  auch  vom  Verfasser  sehr  exact 
gezeichnet  worden  sind. 

Leider  hat  aber  Des  Cloiseaux  durch  die 
von  ihm  angenommene  Krystallbezeichnungs- 
weise  den  meisten  Fachgenossen  den  Gebrauch 
seines  Werks  sehr  wesentlich  erschwert.  Er 
hat  nämlich  die  ächt  französischen  von  Hatiy 
erfundenen  und  von  Levy  modifizirten  Krystall- 
zeichen  angewandt,  die  ausser  von  französischen 
Autoren  kaum  noch  von  irgend  Jemand  gebraucht 
werden,  da  sich  jetzt  die  drei  Bezeichnungsweisen 
von  Weiss  (Rose),  Naumann  und  Miller  um  den 
Vorrang  streiten.  Ist  es  auch  in  den  meisten 
Fällen  nicht  schwierig,  von  den  Haüy-Levy’- 
schen  Zeichen  unmittelbar  zu  den  Weiss’schen 
oder  Naumann’schen  überzugehen,  so  stört  es 
doch  die  Bequemlichkeit  der  Anwendung,  be- 
sonders bei  raschem  Nachschlagen  und  zuweilen 
nöthig  werdende  Rechnungen  führen  Zeitverlust 
herbei.  Hätte  Des  Cloiseaux  eine  der  mehr 
gebräuchlichen  Bezeichnungsweisen  angewandt, 
so  hätte  er  dadurch  sein  Buch  gewiss  den  mei- 
sten Mineralogen  noch  angenehmer  und  brauch- 
barer gemacht.  Er  hat  zwar  in  der  Einleitung 
die  Formeln  angegeben,  nach  welchen  die 
Uebersetzung  des  einen  Zeichens  in  ein  anderes 
gemacht  wird,  aber  ganz  sind  dadurch  die  er- 
wähnten Unbequemlichkeiten  nicht  beseitigt. 

Ganz  vorzüglich  und  wie  in  keinem  anderen 


750  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 


Werke  über  Mineralogie  sind,  wie  erwähnt,  die 
physikalischen  Eigenschaften  der  Mineralien  be- 
handelt. In  der  Einleitung  ist  besonders  den 
allgemeinen  optischen  Verhältnissen  ein  grösse- 
rer Baum  gewidmet,  und  es  sind  die  in  den 
verschiedenen  Erystallsystemen  vorkommenden 
Arten  der  Dispersion,  aus  denen  sich  vielfach 
das  Erystallsystem  ohne  weitere  krystallogra- 
phische  Untersuchung  folgern  lässt,  durch  far- 
bige Abbildungen  erläutert.  Besondere  Berück- 
sichtigung fand  auch  die  Veränderung,  die  die 
optischen  Eigenschaften  bei  höherer  Temperatur 
erleiden.  Des  Gloiseaux  beabsichtigte  zuerst, 
neben  der  Beschreibung  des  von  ihm  erfunde- 
nen Polarisationsinstruments,  das  auch  zum 
Messen  von  Axenwinkeln  eingerichtet  ist,  und 
das  er  auf  Tafel  I.  des  Atlasses  abgebildet  hat, 
eine  vollständige  Anleitung  zum  Gebrauch  des- 
selben und  zur  Anstellung  krystallographisch- 
optischer  Untersuchungen  überhaupt  am  Ende 
des  zweiten  Bandes  folgen  zu  lassen.  Er  hat 
aber  dann  doch  vorgezogen,  diese  Anleitung  be- 
sonders herauszugeben,  da  sich  der  Druck  und  die 
Herausgabe  des  zweiten  Bands  verzögerten  und 
so  ist  sie  1864  in  Paris  unter  dem  Titel:  »Me- 
moire sur  l’emploi  du  microscope  polarisant  et 
sur  l’etude  des  propriötes  optiques  birefrin- 
gentes  propres  ä determiner  le  Systeme  cry- 
stallin  dans  les  cristaux  naturels  ou  artificielles« 
für  sich  allein  im  »Journal  des  mines«,  Band 
VI.  und  separat  erschienen.  Eine  deutsche  Be- 
arbeitung dieser  vorzüglichen  Abhandlung  findet 
sich  auch  in  Poggendorffs  Annalen,  Bd.  126. 
p.  387  ff.  1865. 

Da  Des  Gloiseaux  mit  ganz  besonderem  Er- 
folg auf  dem  Gebiet* der  krystallographischen 
Optik  arbeitet  und  seit  langer  Zeit  gearbeitet 
hat,  so  steht  ihm  hier  eine  Erfahrung  zur  Seite, 


Des  Cloiseaux,  Manuel  de  min£ralogie.  751 

wie  kaum  einem  zweiten  Forscher,  denn  es  giebt 
wohl  nur  wenige  Mineralkörper,  die  er  nicht  per- 
sönlich untersucht  hätte.  Daher  ist  auch  dieser 
Theil  des  vorliegenden  Werks  eine  reiche  Fund- 
grube neuer  Thatsachen,  die  nicht  alle  in  des 
Verfassers  zahlreichen,  diesem  Gebiet  allein  ge- 
widmeten, Abhandlungen  publizirt  worden  sind 
und  es  gehört  daher  Des  Cloiseaux’s  Mineralogie 
zu  den  Quellenwerken,  die  bei  krystallographisch- 
optischen  Untersuchungen  in  erster  Linie  zu 
Rathe  gezogen  werden  müssen.  Es  sind  aber 
auch  die  einschlägigen  Forschungen  anderer, 
z.  B.  die  von  Brewster,  SSnarmont,  Keusch  etc. 
in  reichem  Masse  benützt  und  man  erhält  da- 
durch fast  bei  allen  bekannten  Mineralien  ein 
genügendes  Bild  ihres  optischen  Verhaltens. 

Die  anderen  physikalischen  Eigenschaften  der 
Mineralien,  besonders  der  Krystalle  sind  zwar 
nicht  vernachlässigt,  aber  doch  bedeutend  we- 
niger berücksichtigt,  als  die  optischen. 

Was  die  chemische  Seite  des  Werks  anbe- 
langt, so  ist  leicht  zu  bemerken,  dass  dies  we- 
niger des  Verfassers  eigenstes  Gebiet  ist,  wie 
dies  die  Krystallographie  und  Optik  war.  Zu 
rühmen  ist  aber  jedenfalls  die  Vollständigkeit, 
mit  der  die  von  den  einzelnen  Mineralien  vor- 
handenen Analysen,  meist  nach  Kammeisbergs: 
»Handbuch  der  Mineralchemie«,  angegeben  sind. 

In  den  chemischen  Formeln  suchte  sich  der 
Verfasser  von  allen  Hypothesen  fern  zu  halten,  und 
nur  die  aus  der  Zusammensetzung,  wie  sie  die 
Analyse  giebt,  unmittelbar  berechneten  empirischen 
Formeln  sind  in  der  alten  Berzelius’schen  Schreib- 
weise, die  Sauerstoffatome  als  Punkte  geschrie- 
ben, angeführt.  Es  ist  das  jedenfalls  dem  aller- 
neustens  gemachten  Versuch  vorzuziehen,  für  die 
Mineralien,  speziell  für  die  Silikate,  sog.  ra- 


752  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 


tionelle  Constitutionsformeln  aufzustellen.  Wenn 
das  auch  für  die  Körper  der  organischen  und 
für  viele  Körper  der  unorganischen  Chemie  mit 
grosser  Sicherheit  nach  den  jetzt  in  dieser  Wis- 
senschaft geltenden  Ansichten  möglich  ist,  so  ist 
es  nicht  mit  Sicherheit  möglich  für  die  grosse 
Mehrzahl  der  Silikate.  So  weit  scheint  die  Chemie 
doch  noch  nicht  gekommen  zu  sein  und  alle  diese 
Constitutionsformeln  sind  nur  Versuche,  das  Rich- 
tige zu  treffen , es  sind  Möglichkeiten,  vielleicht 
z.  Th.  Wahrscheinlichkeiten,  die  aber  nicht  noth- 
wendig  richtig  sein  müssen,  sondern  denen  an- 
dere ebensogut  mögliche  Formeln  gegenüber- 
stehen, wie  das  Kolbe  unlängst  in  einem  Auf- 
satz über  die  Aufgaben  der  Mineralchemie  ge- 
zeigt hat.  Man  bat  zwar  neuerer  Zeit  gemeint, 
die  Constitution,  den  molekularen  Aufbau  der 
Mineralien,  zu  erforschen  durch  das  Studium 
der  chemischen  Vorgänge  bei  der  Verwitterung 
und  Zersetzung,  bei  der  Pseudomorphosenbil- 
dung  etc.  Gewiss  ist  dieö  ein  sehr  fruchtbarer 
Weg,  der  sicherlich  gute  Resultate  in  der  an- 
gedeuteten Richtung  ergeben  wird,  man  muss 
ihn  aber  doch  erst  einige  Zeit  verfolgen,  ehe 
man  die  erhaltenen  Resultate  zum  Ziehen  allge- 
meiner Schlüsse  benutzen  kann.  Dazu  kommt 
noch,  dass  sehr  viele  sogenannte  Mineralien 
gar  keine  homogenen  Substanzen  sind.  Es  sind 
dies  besonders  die  amorphen  Körper , aber 
auch  manche  Krystalle , von  denen  man  es 
a priori  gar  nicht  vermuthen  sollte,  sind  im 
höchsten  Grad  verunreinigt,  wie  das  z.  B.  in 
neuster  Zeit  vom  Staurolith  gezeigt  wurde , des- 
sen so  sehr  deutliche  Krystalle  nach  Rammeis- 
berg *)  30 — 40  % Kieselsäure  (Quarz)  mechanisch 

*)  Zeitschr.  der  deutsch,  geol.  Ges.  XXY.  58.  1873. 


Des  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  753 

eingeschlossen  enthalten.  Die  Formeln,  die  man 
solchen  Mineralkörpern  beilegt,  sind  natürlich 
ganz  falsch  und  unbrauchbar.  Ferner  ist  zu 
bemerken,  dass  man  erst  vor  Kurzem  darauf 
gekommen  ist,  die  Stelle  des  Wassers  in  den 
Mineralien  rationell  aufzufassen,  ganz  abgesehen 
von  dem  vielfach  behaupteten  und  bestrittenen 
Unterschied  zwischen  Constitutions-  oder  basi- 
schem Wasser  und  Kry stallwasser.  Früher  und 
bis  vor  wenigen  Jahren  behauptete  man  ohne 
Weiteres,  die  geringen,  oft  nur  1 oder  2°/o, 
auch  noch  weniger  betragenden  Quantitäten 
Wasser,  die  man  in  manchen,  besonders  in 
complicirt  zusammengesetzten  Silikaten  fand, 
seien  Zeichen  beginnender  Verwitterung,  wäh- 
rend die  reine  ursprüngliche  Substanz  wasserfrei 
sei,  was  um  so  wahrscheinlicher  erschien,  als 
gewisse  Abänderungen  dieser  Substanzen  wasser- 
frei waren.  Erst  neuerer  Zeit  ist  man  zu  der 
Einsicht  gekommen,  dass  diese  geringen  Quan- 
titäten Wasser,  die  man  im  Glimmer,  Turmalin, 
Vesuvian,  Epidot  etc.  gefunden  hat,  wesentlich 
mit  zur  Constitution  derselben  gehören  und  dass 
man  sie  in  der  Formel,  berücksichtigen  muss. 
Dadurch  hat  sich  zum  Tbeil  die  Compilation 
der  Formeln  z.  B.  beim  Glimmer  sehr  wesent- 
lich vereinfacht.  Wie  dies  bei  den  wenigen, 
darauf  hin  untersuchten  Mineralien  der  Fall 
war,  so  kann  noch  bei  einer  grossen  Anzahl 
anderer  das  Wasser,  oder  vielleicht  besser. ge- 
sagt, der  Wasserstoff,  eine  wichtige  Rolle  spie- 
len. Jedenfalls  sind  auch  hierin  noch  weitere 
Untersuchungen  nöthig,  ehe  es  möglich  ist,  über 
die  Constitution  der  Silikate  endgültig  zu  ur- 
theilen. 

Fasst  man  alle  diese  Umstände  zusammen, 
so  sieht  man,  dass  es  noch  sehr  vielfacher 


754  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 

Untersuchungen  bedarf,  ehe  man  von  jedem  Mi- 
neral die  genaue  empirische,  durch  die  Analyse 
gegebene  Zusammensetzung  kennt,  und  dass 
man  also  noch  sehr  weit  von  der  Möglichkeit 
entfernt  ist,  Constitutionsformeln  für  die  Sili- 
kate aufzustellen.  Thut  man  es  dennoch,  so  ist 
es  in  den  meisten  Fällen  ein  Spiel  mit  Hypo- 
thesen, dessen  wissenschaftlicher  Werth  gering 
ist.  Somit  ist  es  ganz  in  der  Ordnung,  dass 
sich  Des  Cloiseaux,  dem  der  Rath  der  berühm- 
testen französischen  Chemiker,  Dumas,  Peligot, 
H.  St.  Claire-Deville  und  Marignac  zur  Seite 
stand,  auf  die  einfachen  empirischen  Formeln 
beschränkt  hat.  Es  ist  dies  ganz  natürlich  für 
den  ersten  Band,  da  zur  Zeit  seines  Erschei- 
nens, 1862,  die  neuere  Chemie  noch  ganz  in 
den  Windeln  lag,  aber  auch  im  zweiten  Band 
ist  er  mit  Recht  dabei  geblieben.  Vielleicht 
hätte  er  hier  die  neueren  Atomgewichte  (0  = 
16  etc.)  anwenden  können,  es  hätte  aber  auch 
manches  Missliche  gehabt,  in  den  beiden  Bän- 
den verschiedene  Atomzahlen  für  die  einzelnen 
Elemente  zu  gebrauchen. 

Bei  jedem  einzelnen  Mineral  ist  im  Text 
das  Verhalten  vor  dem  Löthrohr  und  gegen 
Säuren  und  andere  Lösungsmittel  angegeben, 
ebenso  ist  die  Art  und  Weise  der  künstlichen 
Darstellung,  die  in  Frankreich  sehr  gepflegt 
wird,  stets  angeführt. 

Ein  entschieden  schwacher  Punkt  des  Werks 
ist  sicherlich  die  Classiflkation , die  aber  eben 
in  der  Mineralogie  überhaupt  ein  schwa- 
cher Punkt  ist.  Das  angenommene  System  ist 
das  von  Beudant,  der  die  Mineralien  nach  dem 
wichtigsten  darin  enthaltenen  Element  oder 
vielmehr  nach  irgend  einem  beliebigen  darin 
enthaltenen  Element  einer  von  seinen  35  Fa- 


Des  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  755 

milien  zurechnet,  welche  Zahl  bei  Des  Cloiseaux 
wegen  der  Entdeckung  einiger  neuer  Elemente 
auf  40  gestiegen  ist.  Diese  Familien  sind  in 
der  Ordnung  beschrieben , in  welcher  die  typi- 
schen Elemente  in  der  chemischen  Classifikation 
von  Berzelius  stehen,  nur  ist  hier  die  Ordnung 
umgekehrt  und  mit  dem  Wasserstoff  die  ßeihe 
begonnen,  mit  dem  Oold  geschlossen. 

Wie  wenig  diese  Glassifikation  in  der  That 
eine  natürliche  ist,  das  zeigt  z.  B.  die  Familie 
der  Carbonide.  Hier  sind  die  heterogensten 
Dinge  vereinigt.  Man  findet  zunächst  einige 
Unterabtheilungen:  1)  Kohlenstoff  mit  den 

Species  Diamant  und  Graphit;  2)  fossile  Koh- 
len mit  den  Spezies:  Anthrazit,  Steinkohle, 
Braunkohle,  Torf,  Dopplerit;  3)  Kohlenwasser- 
stoff und  zwar : a)  Fossiles  Wachs  mit  den  Species : 
Scheererit,  Ozokerit,  Fichtelit,  Könleinit,  Idria- 
lin;  b)  Bitumen  mit  den  Spezies:  Naphta  und 
Elaterit;  4)  Oxydirte  Kohlenwasserstoffe  oder 
Harze  mit  der  Spezies:  Copalin,  Middletonit, 
Euo8mit,  Rosthornit,  Walchowit,  Krantzit,  Tas- 
manit,  Bernstein,  Hartin,  Iaulingit,  Refikit,  Skle- 
retinit,  Pyroretin,  Guayaquilit,  Ambrit,  Anthra- 
koxen,  Berengelit,  Pyropissit,  Uranelain,  Piauzit, 
Ratinasphalt;  Anhang:  Asphalt  und  Melanchym 
5)  Honigsteinsaure  Salze  mit  der  Spezies:  Ho- 
nigstein; 6)  Oxalsäure  Salze  mit  den  Spezies: 
Whewellit  und  Humboldtin  (Oxalit);  7)  Kohlen- 
säure Verbindungen ; und  zwar:  Witherit,  Alsto- 
nit,  Barytocalcit , Strontianit,  Aragonit,  Kalk- 
spath,  Dolomit,  Giobertit  (MgCOs),  Pistomesit, 
Eisenspath,  Manganspath,  Zinkspat  h,  Weissblei- 
erz, Susannit,  Leadhillit,  Mysorin,  Selbit,  Pari- 
sit,  Kalicin,  Thermonatrit,  Soda,  Urao,  Gay- 
Lüssit,  Teschemacherit,  Hydrokonit,  Hovit,  Hy- 
drodolomit,  Hydromagnesit,  Ytterspath,  Lan- 


756  Gott,  gel*  Anz.  1874.  Stock  24. 

thanit,  Liebigit,  Voglit,  Wiserit,  Texasit,  Re- 
mingtonit,  Aurichalcit,  Bismuthit,  Malachit  and 
Kupferlasur. 

Diese  letzteren,  die  Karbonate,  sind  aller- 
dings von  den  übrigen  Gliedern  dieser  Familie 
durch  die  Ueberschnft:  »Genre  carbonate«  wei- 
ter abgetrennt,  als  z.  B.  die  Mellate  und  Oxalate 
von  den  fossilen  Harzen,  aber  eben  doch 
in  derselben  Familie  mit  diesen  beisammen,  also 
Steinkohlen  mit  Kalkspath  etc.  und  das  zeigt 
doch  recht  das  sehr  Mangelhafte  dieser  rein 
auf  chemische  Kennzeichen  gegründeten  Sy- 
steme, in  denen  nichts  Anderes,  nicht  einmal 
die  krystallographischen  Verhältnisse  die  geringste 
Berücksichtigung  finden.  Denn  fanden  sie  solche, 
so  könnte  nicht  das  Weissbleierz  von  den  iso- 
morphen Witherit,  Strontianit  und  Aragonit 
durch  die  ganze  rhomboedrische  Kalkspathreihe 
getrennt  sein.  Da  bietet  denn  doch  Gustav  Rose’s 
krystallo-chemisches  System  eine  weit  natürlichere 
Gruppirung  der  Mineralien,  wenn  es  gleich 
auch  nicht  ganz  ohne  Schwächen  ist. 

Die  Beschreibung  der  einzelnen  Mineralien 
geschieht  sehr  bequem  derart,  dass  die  einzel- 
nen Eigenschaften  derselben  stets  in  ganz  be- 
stimmter Reihenfolge  aufgeführt  werden,  was 
das  Auffinden  der  einzelnen  Angaben  sehr  er- 
leichtert. Diese  Reihenfolge  ist  im  Allgemeinen 
die  nachstehende:  Namen  und  gebräuchlichste 
Synonymen , krystallographische  Verhältnisse, 
Blätterbrüche,  physikalische  Eigenschaften  der 
Flächen,  physikalische  Eigenschaften  der  Krystalle, 
die  einzelnen  ebenfalls  stets  in  ganz  bestimmter 
Reihenfolge,  Verhalten  vor  dem  Löthrohr  und 
gegen  Säuren , chemische  Formel  und  Analysen, 
Vorkommen  und  endlich  künstliche  Darstellung. 

Was  nun  den  Inhalt  der  einzelnen  Bände 


Dos  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  757 

anbelangt,  so  findet  sich  im  ersten  nach  einer 
den  allgemeinen  Plan  des  Werks  erläuternden 
Vorrede  eine  Einleitung.  Diese  enthält  nicht, 
wie  man  es  in  den  deutschen  Handbüchern  zu 
finden  gewohnt  ist,  eine  erschöpfende  Darstel- 
lung der  Krystallographie , der  Erystallphysik 
und  der  Mineralchemie,  deren  Eenntniss  im  Allge- 
meinen vorausgesetzt  wird,  sondern  sie  enthält 
nur  eine  ausführliche  Erläuterung  der  gewähl- 
ten Ervstallflächenbezeichnung  mit  Tabellen  zum 
Uebernihren  dieser  Symbole  in  die  von  Nau- 
mann, Weiss  und  Miller;  ferner  eine  kurze  Er- 
läuterung einiger  optischen  Verhältnisse  mit 
eingeklebten  farbigen  Abbildungen  der  unter 
verschiedenen  Verhältnissen  im  Polarisations- 
instrument entstehenden  Interferenzbilder,  sowie 
der  anderen  physikalischen  Eigenschaften;  fer- 
ner einige  Worte  über  die  chemischen  Verhält- 
nisse und  über  die  Glassifikation.  Nach  einem 
kurzen  Druckfehlerverzeichnis  folgt  nun  auf 
555  Seiten  die  eigentliche  Mineralbeschreibung, 
die  eingeleitet  wird  durch  eine  Uebersicht  über 
die  bis  dahin  beobachteten  Formen  des  regulä- 
ren Systems  nebst  den  dazu  gehörigen  Winkeln 
und  veranschaulicht  durch  eine  grosse  Eugel- 
projektion.  Dann  folgt  die  spezielle  Beschrei- 
bung der  1.  Familie  der  Hydrogenide,  blos  die 
Spezies  Eis  enshaltend  und  dann,  den  Best  des 
Bandes  füllend  auf  ca.  550  Seiten  die  Silicide, 
die  freie  Eieselsäure  und  die  sämmtlichen  Sili- 
kate enthaltend.  Diese  letzteren  sind  ebenfalls 
nach  rein  chemischen  Gesichtspunkten  weiter 
eingetheilt  und  dabei  manches  ganz  Fremde  ver- 
einigt, manches  nahe  Verwandte  getrennt.  Zuerst 
kommt  die  reine  Eieselsäure,  Quarz  und  Opal, 
(der  Tridymit  war  1862  noch  nicht  entdeckt), 
dann  die  wasserfreien  Silikate  von  BO,  die 

48 


758  Gott-  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 

wasserhaltigen  Silikate  von  BO,  schwefelhaltige 
Silikate , fluorhaltige  S.  von  BO,  Siliko-Titanate 
von  BO,  Kiesel-  und  Zirkonsäure,  Silikozirko- 
niate  von  BO;  Silikorzirko-Niobate  von  BO; 
Siliko-Borate  von  BO;  wasserfreie  Thonerdesili- 
kate; wasserhaltige  Thonerdesilikate  (ohne  BO); 
Produkte  der  Verwitterung  und  Zersetzung  und. 
Gemenge  (welch  letztere  streng  genommen  gar 
nicht  hergehören);  wasserfreie  S.  von  BO  und 
AI2O3 ; wasserhaltige  Thonerdesilikate  (d.  h.  solche, 
die  neben  AlaOs  auch  noch  BO  enthalten);  Thon- 
erdesilikate; fluorhaltige  Thonerdesilikate;  bor- 
haltige Thonerdesilikate;  chlorhaltige  Silikate; 
schwefelsäurehaltige  Silikate ; phosphorsäure- 
haltige Silikate;  titansäurehaltige  Silikate;  Sili- 
kate von  unbestimmter  Zusammensetzung  (wozu 
mir  der  Tumerit  gehört,  von  dem  sich  jetzt 
mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  behaupten  lässt, 
dass  er  gar  kein  Silikat  ist). 

Um  zu  zeigen,  wie  wenig  natürlich  auch 
dieses  rein  chemische  System  der  Silikate  ist, 
will  ich  nur  auf  wenige  Punkte  aufmerksam 
machen.  Der  ApophylUt,  Okenit  und  Pekto- 
lith  stehen  mit  Serpentin,  Talk,  Dioptas  etc.  in 
der  Gruppe  der  wasserhaltigen  Silikate  von  BO, 
während  sie  doch  nach  ihrem  ganzen  Habitus, 
Vorkommen  etc.  kurz  nach  ihren  ganzen  natür- 
lichen Verhältnissen  zu  den  Zeolithen  gehören, 
die  weit  davon  getrennt  eine  Unterabtheilung 
in  der  Gruppe  der  wasserhaltigen  Thonerdesili- 
kate ausmachen.  In  Eine  Familie  sind  vereinigt 
die  höchst  ungleichen  Mineralien  Topas  und 
Euklas  nebst  der  Glimmergruppe. 

Auf  die  Behandlung  der  einzelnen  Spezies  ein- 
zugehen, würde  zu  weit  führen.  Die  Beschreibung 
ist,  um  das  zu  wiederholen,  sehr  vollständig,  die 
Angaben  sind  sehr  zuverlässig  und  die  Literatur 


Des  Cloiseaux,  Manuel  de  mineralogie.  759 

hat  bis  zum  letzten  Augenblick  verfolgt,  so  dass 
sogar  die  Resultate  der  während  des  Drucks 
erschienenen  Arbeiten  noch  in  einem  besonde- 
ren Anhang  verwerthet  worden  sind. 

Der  zweite  Band  enthält  zunächst  in  dem 
bis  jetzt  allein  vorliegenden  1.  Heft  Zusätze 
und  Modifikationen  zu  dem  Inhalt  des  ersten 
Bands,  die  z.  Thl.  sehr  wichtig  sind.  So  ist 
namentlich  der  Gadolinit  neu  bearbeitet,  ebenso 
Enstatit  und  Hyperstehn,  nach  den  Arbeiten 
von  V.  v.  Lang,  G.  vom  Bath  und  Anderen,  fer- 
ner der  Wöhlerit,  Tankit,  Lenzit,  Hannotom, 
Tumerit  und  andere.  Dem  folgt  ein  sehr  lan- 
ges Druckfehlerverzeichniss  zum  ersten  Band 
und  endlich  die  Beschreibung  der  den  nachfol- 
genden Familien  angehörigen  Mineralien.  Zu- 
erst kommt  die  Familie  der  Boride,  worin  alle 
Mineralien  stehen,  worin  Bor  in  grösserer  Menge 
vorhanden  ist.  Dieser  Familie  folgt  die  des  Koh- 
lenstoffs (der  Garbonide),  deren  eigentümlicher 
Zusammensetzung  schon  oben  gedacht  wurde. 
Hier  sind  viele  Stoffe  aufgeführt,  die  durchaus 
nicht  zu  den  Mineralien  gezählt  werden  dürfen. 
Mag  auch  der  Verfasser  die  Herbeiziehung  der 
fossilen  Kohlen  mit  einer  alten  in  der  Minera- 
logie herrschenden  Sitte  (oder  besser  gesagt 
Unsitte)  entschuldigen  (H.  Bd.  pag.  69)  und 
sagen,  dass  sie  eigentlich  Gebirgsarten  seien, 
mag  auch  von  manchen  Harzen  und  andern 
hierhergezählten  Stoffen  die  Zugehörigkeit  zum 
Mineralreich  nicht  absolut  geläugnet  werden 
können , so  ist  doch  jedenfalls  die  Herbeiziehung 
des  sich  noch  jetzt  aus  Pflanzen,  also  durch 
rein  organische  Prozesse  bildenden  Torfs  nicht 
zu  rechtfertigen. 

Den  Schluss  des  ersten  Hefts  des  2.  Bands 


48* 


760  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stuck  24. 

bildet  dann  der  Anfang  der  Familie  der  Tita- 
riide,  deren  Schluss  im  2ten  Heft  folgen  wird. 

Mögen  die  3 folgenden  Hefte  des  2ten  Ban- 
des so  rasch  als  möglich  dem  1.  Heft  folgen! 
Dies  ist  gewiss  der  Wunsch  eines  jeden,  der 
sich  eingehender  mit  Mineralogie  beschäftigt. 
Berlin.  Max  Bauer. 


Documenti  inediti  per  servire  alia  storia  del 
diritto.  Andrea  Alciati,  lettore  nello  studio  di 
Bologna,  anni  1537 — 41.  Da  B.  Podestä. 

Estratto  dalP  archivio  giuridico.  1874.  Bologna, 
tipi  Fava  e Garagnani. 

Ich  habe  früher  einmal  darauf  aufmerksam 
gemacht*),  wie  reiche  Schätze  die  Archive  Bolog- 
nas bergen ; die  vorstehende  Schrift  ist  ein  neuer 
Beweis  dafür,  besonders  in  Bezug  auf  das  archivio 
della  prefettura.  Der  Verfasser,  B.  Podesta, 
beschäftigt  sich  seit  Jahren  mit  der  Geschichte 
der  Universität  Bologna,  aus  welcher  er  einen 
interessanten  Abschnitt  schon  vor  längerer  Zeit 
veröffentlicht  hat**).  Damals  handelte  es  sich 
um  den  berühmtesten  Philosophen  Bolognas, 
hier  um  einen  seiner  bedeutendsten  Rechts- 
lehrer. Pietro  Paolo  Parisio,  geb.  1473  in 
Cossenza,  der  bereits  4 Jahre  einen  Lehr- 
stuhl für  Rechtswissenschaft  in  Bologna  zu  all- 
gemeiner Zufriedenheit  inne  gehabt  hatte  und 
Anfang  1537  daselbst  noch  war,  hatte  — so 

*)  G.  G.  A.  1868. 

**)  Alcuni  documenti  inediti  risguardanti  Pietro  Pom- 
ponazzi.  Atti  e memorie  della  R.  deputazione  di  storia 
patria  per  le  provincie  di  Romagna,  anno  VI. 


Podesta,  Andrea  Alciati.  761 

berichtet  Fra  Leandro  Alberti  in  seiner  Ge- 
schichte Bolognas*)  — für  18,000  Dukaten  das 
Amt  des  Auditors  der  camera  apostolica  ge- 
kauft und  sich  nach  Born  begeben.  Hier  er- 
nannte ihn  Paul  III.  1539  zum  Kardinal  und 
designirte  ihn  1542  zum  Vorsitzenden  der  Tri- 
dentineft* Kirchenversammlung.  Die  Reformato- 
ren von  Bologna  — zugleich  Magistrat  und  Se- 
nat der  Stadt  — suchten  nun  nach  einem  wür- 
digen Nachfolger;  sie  schrieben  an  Gesandte  in 
verschiedenen  Staaten,  an  ihre  Oratoren  beim 
Papst  und  an  berühmte  Persönlichkeiten.  Ende 
Mai  1537  nahmen  sie  Rinaldo  Petrucci  in  Aus- 
sicht, von  dem  aber  bald  nicht  mehr  die  Rede 
ist;  es  eröffnete  sich  ihnen  die  Hoffnung  auf 
Andrea  Alciati.  Dieser  Mann,  geb.  in  Alzate 
im  Mailändischen  am  8.  Mai  1492,  hatte  die 
Rechte  gelernt  in  Pavia  bei  Giasone  Maino  und 
in  Bologna  bei  Carlo  Ruini  und  1514  in  Bo- 
logna doktorirt ; schon  als  Student  hatte  er  eine 
Schrift  veröffentlicht:  Note  sugli  Ultimi  trelibri 
delle  istituzioni  di  Giustiniano.  1518  finden  wir 
ihn  als  Rechtslehrer  in  Avignon,  dann  mit 
ausserordentlichem  Erfolg  an  der  Akademie 
Bourges,  wohin  ihn  Franz  I.  berufen,  der  ja  so 
manchen  Gelehrten  und  Künstler  aus  Italien  be- 
rief. 1532  war  er  indessen  nach  Italien  zurück- 
gekehrt , auf  eine  Einladung  von  Francesco 
Sforza,  Herzog  von  Mailand,  der  ihn  zum  Se- 
nator machte  und  ihm  einen  Lehrstuhl  in  Pavia 
gab.  Aber  der  Krieg,  den  Franz  I.  1535  wie- 
der eröffnete , machte  die  Musen  der  Lombardei 
schweigen,  die  Universität  Pavia  ward  geschlos- 
sen; AJdati  unterhandelte  mit  den  (40)  Refor- 

*)  T.  IV  lib.  2 deca  7 pag.  491.  Hb.  der  Univ. 
BibL  in  Bologna. 


762  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  24. 

matoren  von  Bologna,  von  denen  4,  die  jährlich 
neu  gewählt  wurden,  beziehungsweise  bestätigt, 
die  besondere  Sorge  für  die  Universität  hatten. 
Am  31.  August  1537  schrieb  ihr  Agent,  Vange- 
lista  Matugliano  aus  Piacenza,  dass  er  mit  Al- 
ciati  abgeschlossen  habe,  ungefähr  so,  wie  sie 
wünschten.  Bologna  forderte  ihn  für  5 Jahre 
und  war  bereit,  ihm  jährlich  1200  Scudi  zu 
zahlen;  er  nahm  indessen  nur  auf  4 Jahre  an, 
und  zwar  auf  3 mit  fester  Verpflichtung  und 
auf  eins  a piacimento  dello  Illmo  et  Bev.  mo 
S.  Legato  o vice  Legato,  e di  V.  S.  rie;  ausser* **) 
dem  forderte  er  200  Scudi  Umzugskosten*). 
Dass  diese  Vereinbarung  kurz  vorher  in  Mai- 
land zu  Stande  gekommen,  ergibt  sich  aus  3 
nun  folgenden  Aktenstücken:  einem  Annahme- 
schreiben Alciati’s  vom  29.  August , einer  Quit- 
tung desselben  vom  selben  Tage  über  die  200 
Goldscudi  und  der  Formula  conventionis  mit 
dem  datum:  Die  mercurii  XXIX  Agusti*^) 

1537  Mediolani.  Matugliano  heisst  daselbst 
procurator  D.  Gregorii  Magalotii  vice  Legati  et 
Gubernatoris,  agentis  nomine  D.  Legati  Bono- 
niae  und  auch  procurator  40  Reformatorum  Sta- 
tus libertatis  civitatis  Bononiae.  Er  verpflich- 
tete sich  zu  lesen  wie  Jtuini  und  Parisio,  Abends 
um  21  Ubr,  wenn  die  Glocke  von  S.  Petronio 
das  Zeichen  gab,  la  quale  doveva  suonare  ,meza 
hora  al  piü  computati  li  botti  et  finita  de  suo- 
nare li  dottori  senza  aspettarsi  Tun  Faltro  in- 
continente  entrano  et  comenzano  le  sue  letioni 

*)  In  diesem  Briefe  ist  Zeile  2 maneggio  zu  lesen; 
er  ist  datirt:  31  et  ultimo  d’Agosto. 

**)  So  wohl  zu  lesen  statt  Agustis.  Pag.  5 Zeile  11 
lies:  et  Mag.  ci.Anm.  1 letzte  Zeüe  lies  della  Prefettura. 
Anm.  2 Zeile  4 lies  Dissertazione  und  corrisponderebbe. 
Pag.  7 Zeile  2 lies  seioglier. 


Podestä,  Andrea  Alciati.  763 

et  leggono  un  hora  per  il  meno  sotto  pena  di 
soldo  XX\  Die  1200  Goldscudi,  welche  Alciati 
bekommen  sollte,  stellen  (vgl.  Vincenzo  Bellini 
sopra  la  lira  marchesina)  einen  Werth  von  9065 
Lire  28  cent,  dar;  die  Vorlesungen  begannen 
am  4.  November.  An  diesem  Tage  erschien 
aber  nicht  Alciati,  sondern  merkwürdiger  Weise 
ein  Brief  des  Kard.  Campeggio  an  die  Reforma- 
toren ans  Rom,  in  welchem  er  sie  auf  die 
Schwierigkeit  aufmerksam  machte,  die  der  Lehr- 
thätigkeit  des  Alciati  in  Bologna  entgegenstän- 
den, indem  er  auf  einen  beigeschlossenen  Brief 
des  Kard.  Marino  Garacciolo  (aus  Mailand  vom 
27.  Okt.  1537)  hinwies.  Dieser,  früher  Gesandter 
Karls  V.,  dann  governatore  von  Mailand,  von 
Leo  X.  zum  Protonotar,  von  Paul  III.  zum  Kar- 
dinal ernannt,  machte  darauf  aufmerksam, 
dass  Alciati  kaiserlicher  Unterthan , zum  Lesen 
in  Pavia  verpflichtet  und  besoldet  und  vom 
kais.  Senat  durchaus  nicht  entlassen  sei ; mithin 
könne  er  keine  andern  Verpflichtungen  eingehen. 
Es  macht  einen  etwas  komischen  Eindruck,  wenn 
einem  so  weltberühmten  Rechtsgelehrten  eine 
solche  juristische  Deduction  gemacht  wird.  Als 
er  in  Bourges  war,  konnte  er  Bembo  wider- 
stehen, der  ihn  nach  Padua  ziehen  wollte;  aber 
um  in  Bologna  lesen  zu  können , hat  er  sich 
selbst  slu  Sadolet  gewandt.  Podestä  schreibt 
dies  seinem  unsteten,  eitlen  Charakter  und  sei- 
ner Habgier  zu.  In  Bourges  hatte  er  ein  sehr 
gutes  Einkommen,  Franz  I.  und  der  Dauphin 
besuchten  seine  Vorlesung.  — und  doch,  was 
war  Bourges  gegen  Bologna?  Für  dieses  war 
seine  Habsucht  nicht  entscheidend,  da  er  in 
Pavia  1500  Scudi  bezog.  Im  Paveser  Archive 
findet  sich,  wie  Prof.  Gian  Maria  Bussedi  mit- 
theilt, ein  Brief  Alciati’s,  in  welchem  es  (um 


764  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stack  24. 


1546)  heisst:  er  könne  eine  viel  grössere  Somme 
als  1500  Scudi  in  Padua  und  in  Pisa  bekom- 
men und  erhalte  gegenwärtig  in  Ferrara  auch 
mehr.  Es  war  der  alte  Ruf  Bolognas,  der  ihm 
über  alles  ging.  Als  er  immer  noch  nicht  kam, 
nahm  man  Restauro  mit  500  Dukaten  in  Aus- 
sicht; zugleich  aber  citirten  die  40  ihn  öffent- 
lich an  der  Ringhiera  des  Pallastes  des  Po- 
destä*).  Alciati  solle  den  Verpflichtungen  nach- 
kommen,  die  er  mit  eigener  Hand  unterschrie- 
ben habe , abgesehen  von  Notariatsinstrumenten, 
die  darüber  aufgenommen  seien.  Das  Hessen 
die  40  an  3 aufeinander  folgenden  Tagen  gß- 
schehn.  Als  Alciati  hievon  hörte,  wusste  er  sich 
Urlaub  vom  Kard.  Caracciolo  zu  erbitten  und 
erschien  plötzlich  in  Bologna , trotz  seiner 
Säumniss  freudig  vom  Senat,  der  ganzen  Uni- 
versität und  der  Bürgerschaft  empfangen,  die 
ihm  zu  Ehren  ein  Fest  veranstaltete.  Am  25. 
Jänner  1538  versammelten  sich  die  40  und  be- 
schlossen : D.  Andrea  Alciatus  Maximus  et  Emi- 
nentissimus  Juris  Civilis  interpres , recte  et 
legitime  pro  almi  Gymnasii  Bononiensis  utilitate 
et  omamento,  in  Album  Doctorum,  unde  certis 
de  causis  expunctus  et  erosus  fuerat,  quod  ante 
Senatum  viva  voce  ut  fieret  mandavit,  nunc  fac- 
tum per  hoc  suum  senatus  consultum  factum 
per  fabas  albas  omnes  XXVI  comprobavit**). 
Bald  nachher,  Juni  1538,  wurde  der  Friede  von 

*)  Ueber  diese  s.  meine  Anzeige  von  Fotesta:  Sopra 
2 statue  erette  a Giulio  II  e distrutte  nei  tumulti  ecc. 
in  Zahn  Jahrbücher  der  Kunstwissenschaft  1868. 

**)  In  diesem  Beschlüsse  ist  vorher  zu  lesen:  Magni- 
ficis  und  2 Zeilen  weiter:  presentia.  Der  marchese  del 
Yasto  gibt  in  seinem  amtlichen  Schreiben  an  die  40  un- 
serm  Alciati  sogar  den  Titel:  Magnificus,  den  die  40 
selbst  führten.  Schreiben  vom  7.  Aug.  1539  aus  Mailand, 
Seite  14.  S.  15  Z.  2 lies:  disegnavano  i. 


Podestä,  Andrea  Alciati.  765 

Nizza  zwischen  Earl  V.  und  Franz  I.  geschlos- 
sen, anf  Drängen  Pani  DI.  EarlV.  behauptete 
Mailand,  wo  dem  Kard.  Caracciolo  Alfonso 
d’Avalos  Markgraf  del  Vasto  folgte,  ein  ebenso 
tüchtiger  Staatsmann  wie  Feldherr,  der  unter 
dem  berühmten  Marchese  di  Pescara,  seinem 
Oheim,  den  Krieg  gelernt  hatte,  dem  er  dann 
im  Befehl  der  kais.  Heere  in  Italien  gefolgt 
war ; auch  den  Wissenschaften  war  er  hold  und 
nicht  fremd.  Da  nun  die  Professoren  in  Pavia 
während  der  Kriegszeit  nicht  verabschiedet  wor- 
den, auch  die  Gehalte  ihnen  nicht  Vorbehalten 
worden  waren,  so  bestand  del  Vasto  auf  die 
Rückkehr  Alciati’s;  man  drohte  mit  Einziehung 
seiner  Güter  in  der  Lombardei  im  Weigerungs- 
fälle. Die  40  wandten  sich  nun  an  den  Papst, 
zumal  da  Alciati  Kleriker  war,  und  dieser  setzte 
sein  Verbleiben  bei  Del  Vasto,  beziehungsweise 
beim  Kaiser  durch;  es  wurden  alle  Hebel  dabei 
in  Bewegung  gesetzt;  sogar  an  Gostanza  Far- 
nese wurde  geschrieben.  Diese,  eine  Tochter 
von  Alessandro  Farnese , der  später  als  Paul  III. 
den  päpstl.  Stuhl  bestieg,  war  eine  Anhängerin 
von  Karl  V.;  per  lei,  sagt  Litta  in  seinen  Fa- 
miglie  celebri  itaüane,  profuse  il  papa  negli 
Sforza  di  Santa  Fiora  le  sue  richezze;  piü  con 
bolla  18.  maggio  1539  contentö  la  di  lei  discen- 
denza  di  larghissimi  privilegi.  Sie  war  nämlich 
an  Bosio  II.  Sforza,  Sohn  Friedrichs  Grafen 
von  S.  Fiora  verheirathet.  Aus  vielen  Briefen 
der  40  geht  hervor,  dass  sie  sich  öfter  ihrer 
Fürsprache  bedienten,  und  dass  sie  grossen  Ein- 
fluss auf  Paul  HI.  hatte.  Im  selben  Archiv 
della  prefettura  finden  sich  nicht  wenige  Briefe 
von  ihr  selbst,  unter  denen  sie  sich  Gostanza 
Farnese  Sforza  unterzeichnet.  Möchte  Podestk 


766  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stfiek  24. 


diese  doch  auch  veröffentlichen  *) ! Der  Papst 
richtete  in  der  Sache  ein  Schreiben  an  den 
Präses  und  die  Senatoren  des  Consilium  und 
Senates  von  Mailand,  gegeben  Romae  ap.  S. 
Marcum  VI  Augusti  1539  anno  quinto,  gezeich- 
net: Bios,  in  welchem  er  sagt:  Sed  nos  argu- 
ments vobiscum  agere  nolunitis  potius  vos  pa- 
terna  benevolentia  hortamur  etc.  So  wurde 
um  diesen  Mann  gestritten,  den  Franc.  Corti 
mehr  wie  den  Teufel  fürchtete,  da  er  sagt:  Ich 
wollte  lieber,  dass  der  leibhaftige  Satan  (il 
gran  diavolo)  nach  dieser  Universität  (Padua) 
käme , denn  Alciato ; und  Bembo  schrieb : Wenn 
Alciato  kommt,  bleiben  von  den  Studenten  in 
Bologna  nicht  die  Hälfte.  In  der  That  muss 
man  sich  nicht  wundern,  dass  Alciati  Bologna 
so  hoch  stellte;  hier  erfreuten  sich  die  Dokto- 
ren der  Rechte  der  grössten  Vorrechte.  Hatte 
doch  Nikolaus  IV.  bestimmt  (18.  Aug.  1292), 
dass  die  in  Bologna  Doktorirten  überall  ohne 
Prüfung  und  Erlaubnis  kanonisches  und  bürger- 
liches Recht  lehren  dürften,  und  dass  sie  auch 
ohne  Amtsthätigkeit  als  Professoren  betrachtet 
werden  sollten;  die  Zuhörer  waren  gleichfalls 
besonders  begünstigt:  keiner  durfte  mit  Gewalt 
etwas  von  ihnen  erpressen  (Innoc.  IV.  13.  Jän- 
ner 1252);  die  Fürsten  sollten  alle  beschützen, 
die  nach  Bologna  zogen  (Urban  V.  1364);  zur 
Zeit  des  Alciati  besassen  sie  eine  Immunität 
gleich  der  der  Abgeordneten  zum  Parlament; 
nur  auf  besonderen  Befehl  des  Rektors  konnten 

*)  S.  16  Z.  4 lies  Marchese.  In  dem  päpstl.  Schrei- 
ben Z.  4 von  unten  ist  wohl  vobis  statt  nobis  zu  le- 
sen, sowie  Z.  11  desselben:  retrahitur.  S.  17  Z.  19:  ab- 
sentia. S.  20  Text  Z.  10  von  unt.:  si.  S.  21  Z.  2: 
mila;  Anm.  1:  Letters.  S.  23  Absatz  4 Z.  5:  Moti 
viri;  Z.  3 von  unt  contentis  cumque. 


Podestä,  Andrea  Alciati.  767 

sie  eingesperrt  oder  vorgeladen  werden.  Alciati 
blieb  nun  vorläufig,  wurde  aber  immer  von 
neuem  zurückgefordert  *).  Magistrate,  Feldherm, 
Kaiser  und  Papst  stritten  sich  um  ihn.  Schliess- 
lich musste  er  doch  Bologna  verlassen**).  Er 
that  dies  zugleich  mit  Mattheo  di  Corte  aus 
Pavia,  1541.  Dieser  hatte  1538  einen  Lehr- 
stuhl für  theoretische  Medizin  erhalten ; er  hatte 
einen  ausserordentlichen  Zudrang.  Er  ging  nach 
Florenz  als  Leibarzt  von  Herzog  Cosimo  I., 
starb  aber  kurz  darauf  in  Pisa  1542.  Leandro 
Alberti  zählt  neben  ihnen  als  besonders  berühmte 
Zeitgenossen  in  Bologna  auf:  Ludovico  Bocca- 
diferro,  den  Philosophen;  Romolo  Amario,  Pro- 
fessor der  Griech.  und  Lat.  Sprache;  Agostino 
Berö,  den  Rechtsgelehrten,  Giulio  Caccianimico 
und  Giovan  Lodovico  Bovio.  Alciati  starb  in 
Pavia  am  12.  Juni  1550. 

Möge  Podestä  fortfahren,  uns  mit  solchen 
Veröffentlichungen  zu  bereichern. 

Münster.  Dr.  Florenz  Tourtual. 

*)  S.  25  Absatz  1 Z.  8 von  unt.  ist  statt  e wohl  a 
zu  lesen ; Absatz  3 Z.  3 statt  § wohl  e.  S.  26  Text  Z.  7 
von  unt.  aequievisse;  Z.  3 von  unt.  re  statt  se.  Anm.  1 
della.  S.  27  letzte  Zeile:  obtenta.  S.  28  Z.  2:  Ex.  mi. 
Links  auf  dem  Rande:  Eximium.  S.  30  in  der  Auf- 
schrift: Dni  tanq.  In  dem  Distichon:  datque. 

**)  Das  Ital.  patria  in  jener  Zeit  hat  nur  die  Bedeu- 
tung von  Land.  Man  sieht  dies  recht  deutlich  aus  dem 
Bride  des  Venezianers  Kard.  A.  Contarini  an  die  40  vom 
17.  Febr.  1541  aus  Mantua,  in  welchem  er  schreibt : et 
in  questa,  et  in  ogni  altra  occorrenza  a benefitio  di 
quella  patria  (Bologna)  io  sarb  sempre  prontissimo  a 
farli  ogni  comodo.  Im  Schreiben  vom  23.  März  1541 
braucht  derselbe  dasselbe  Wort , um  das  Pavesische  zu 
bezeichnen.  S.  32  Absatz  2 Z.  2 lies  importanza.  S.  33 
in  der  Aufschrift  1.  Hl.  mi.  Verf.  scheint  die  Correktur 
nicht  selbst  gemacht  zu  haben. 


770  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  24. 

dass  ferner  Sophokles  t atg  Movöcug  SHettiov  & t 
mV  mncudsvikivmr*)  tfvvfjysv  (vgl.  Bergk  praef. 
Soph.  p.  XIX.  Helbig  quaest.  scaen.  p.  3),  so 
erscheint  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die 
Bildung  solcher  Vereine  von  Sophokles  aus- 
ging. Denn  erst  nachdem  der  Dichter  so  sich 
ganz  von  der  Darstellung  auf  der  Bühne  zurück- 
gezogen hatte,  konnte  ein  selbständiger  Stand 
der  Schauspieler  entstehn.  Und  eine  Inschrift 
(Lüders  S.  70.  176)  spricht  noch  von  dem  Cultus, 
den  der  Verein  der  dramatischen  Künstler  dem 
Apollon  und  den  Musen  gewidmet  habe.  Nicht 
viel  später  als  die  Erwähnung  bei  Aristoteles 
ist  ein  anderes,  viel  beredteres  Zeugniss  über 
diesen  Verein  zu  Athen.  Denn  über  die  Zeit, 
in  welche  die  zuerst  von  Kumanudes  veröffent- 
lichten Beschlüsse  der  Amphiktionen  zu  Gun- 
sten dieses  Vereins  (bei  Lüders  S.  171  f.)  ge- 
hören, irren  Lüders  und  Foucart.  Lüders  (S. 
67)  setzt  den  früheren  in  die  Wende  des  4. 
Jahrhunderts,  Foucart  (S.  37)  in  die  Jahre 
225 — 189,  aber  Bücher  (quaestt.  amphictionicae. 
Bonnae,  1870  p.  26  ff.)  hat  überzeugend  darge- 
than , dass  der  Beschluss  bald  nach  der  Schlacht 
von  Chaeronea  gefasst  sein  müsse  (vgl.  meine 
Abh.  de  ampbictionia  delphica  et  hieromn. 
attico  p.  8).  Den  späteren  Beschluss  setzt 
Foucart  in  die  Jahre  189—172,  Lüders  sehr 
unbestimmt  »in  die  Zeit,  da  solche  Bestimmun- 
gen der  Bestätigung  der  Börner  bedurften,  je- 
doch sicher  vor  der  Kaiserzeit«.  Bücher  aber 
(S.  14)  weist  durch  Vergleichung  der  Inschrift 
bei  Lebas  vol.  2 Nr.  929  nach,  dass  er  in  die 
Jahre  139 — 129  (oder  vielmehr  137 — 127  : vgl. 
meine  angef.  Abh.  S.  5 Anm.)  gehöre.  Auch 

*)  Vgl.  G.  I.  Gr.  8053:  tmdiiZccro  MsvsxXfc  /una 
xid-agag  nktovaxig  ra  n Tifio&m  xai  üoXvidto  — , xa&tjs 
nQooijxsr  aydgl  mnatdtvjLiiyq). 


Luders  , Die  dionysischen  Künstler.  771 

über  die  Zeit  einer  andern  Inschrift,  die  über 
Ordnung  und  Besitz  des  attischen  Vereins 
nähere  Auskunft  giebt,  sind  die  Urtheile  der 
beiden  Verfasser  verschieden.  Das  Ereigniss, 
auf  welches  sich  der  Beschluss  des  Vereins  zu 
Ehren  seines  Epimeleten  Philemon  bezieht,  setzt 
Lüders  S.  68  mit  Keil  in  d as  J.  200,  Foucart 
S.  35  mit  Lenormant  in  das  J.  68  v.  Chr. 
Ebenso  auch  Dumont,  Archontes  Atheniens  S. 
112.  Es  ist  schwer  sich  zu  entscheiden,  da 
das  Heiligthum  des  Vereins  zu  Eleusis  ebenso- 
gut, als  Philippos  von  Makedonien  Eleusis  be- 
lagerte, wie  während  der  Belagerung  Sullas 
zerstört  werden  konnte  und  Lüders,  der  den 
Stein  selbst  verglichen  hat  (S.  173  f.)  und  atti- 
sche Epigraphik  genau  kennt,  in  den  Buchsta- 
ben keinen  Grund  gegen  200  gefunden  hat  wie 
Lenormant.  Aber  die  verhüllte  Ausdrucksweise 
Z.  12  tov  tepivovs  ävatqc&ivtog  diä  rijv  xot- 
vqv  nsqiöxaoiv  in  Verbindung  mit  dem,  was 
Athenaeos  5 p.  212.  D aus  Poseidonios  über 
die  Parteinahme  der  dionysischen  Künstler  für 
Athenion  erzählt,  scheint  mir  eine  gewisse  Scheu 
anzudeuten  das  durch  ein  römisches  Heer  Ge- 
schehene römischer  Kenntnissnahme  in  stärke- 
rer Weise  auszusetzen.  Ich  stimme  also  für 
das  spätere  Jahr. 

Nächst  dem  attischen  Verein  ist  der  Verein 
in  Teos,  der  alten  Dionysosstadt,  bei  weitem 
der  gefeiertste  und  bedeutendste  (Lüders  S. 
74  ff.,  Foucart  S.  7f.  und  anderwärts,  da  er 
nicht  die  einzelnen  Vereine  besonders,  sondern 
die  Verhältnisse  immer  aller  zusammen  nach 
den  verschiedeneA  Seiten  ihrer  Organisation  be- 
spricht), Hier  ist  in  dem  Verhältniss  des  atti- 
schen und  teischen  Vereins  ein  dunkler  Punkt, 
den  weder  Lüders  noch  Foucart  erörtert  hat. 
Eine  Inschrift  des  teischen  (Lüders  S.  177  f.  = 


772  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stfick  24. 

« 

.C.  I.  Gr.  3067  = Fröhner  Inscr.  gr.  du  Louvre 
67)  spricht  von  den  Apollons  und  den 

Entscheidungen  der  Bvasßictatoi  in  ndvmv  %mv 
‘ELUyVwv,  d.  i.  der  Amphiktionen,  wie  Lüders 
und  Foucart  richtig  erklären.  Die  teischen  Be- 
schlüsse zu  Ehren  des  Kraton  gehören  aber  in 
die  Zeit  Eumenes  II,  197 — 159  v.  Ghr.  (Lüders  j 
S.  76)  und  unter  den  Vorrechten,  welche  durch 
die  Amphiktionen  dem  teischen  Verein  verliehen 
worden  waren,  ist  auch  das,  an  den  Pythien  j 
und'Soterien  in  Delphoi,  den  Museien  in  Thespiae 
und  den  Herakleien  in  Theben  aufzutreten,  die  j 
Soterien  aber,  wissen  wir,  wurden  bald  nach 
279  v.  Chr.  von  den  Aetolern  und  Athenern  ge- 
stiftet. Welchem  Verein  gehören  daher  die  vier 
Berichte  über  Aufführungen  an  den  Soterien  an, 

* die  Lüders  (nach  Wescher  und  Foucart,  Inscr. 
recueillies  ä Delphes  p.  4 ff.)  p.  187  ff.  giebt  und 
S.  113  ff.  ausführlich  bespricht?  Lüders  theilt 
sie  dem  teischen  zu,  Foucart  S.  63  dem  atti- 
schen. Da  die  Athener  das  Fest  mit  gestiftet 
und  die  Amphiktionen  nicht  lange  vorher  dem 
attischen  Verein  grosse  Vorrechte  zugewiesen 
hatten,  auch  von  den  erwähnten  Künstlern  viele 
aus  Athen,  wenige  aus  Asien,  die  meisten  vom 
griechischen  Festland  sind,  so  scheint  Foucart 
Recht  zu  haben  und  die  nachgesuchte  Erneuerung 
der  Beschlüsse  für  den  attischen  Verein  auf  eine 
in  der  Zeit  zwischen  279 — 137  erfolgte  Bevor- 
zugung des  teischen  durch  die  Amphiktionen, 
d.  h.  die  Aetoler,  hinzuweisen. 

Auf  Anderes  einzugehn  gebricht  der  Raum; 
nur  das  eine  sei  noch  erwähnt,  dass  der  Druck 
des  Buches  von  Lüders  etwas4  flüchtig  besorgt 
ist:  die  Zahlen  der  Inschriften  sind  im  Text 
fast  alle  um  eine  Stelle  zu  hoch,  46  für  45  u.  s.  w., 
und  sehr  viele  Druckfehler  finden  sich  namentlich 
im  Griechischen.  H.  Sauppe. 


773 


Gftttingisclie 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  25.  24.  Juni  1874. 


Unter  den  Patagoniern.  Wanderun- 
gen auf  unbetretenem  Boden  von  der  Magalhäes- 
Strasse  bis  zum  Rio  Negro  yon  George 
Chaworth  Musters,  Gapitain  in  der  britti- 
schen  Marine.  Autorisirte  Ausgabe  für  Deutsch- 
land. Aus  dem  Englischen  von  J.  E.  A.  Mar- 
tin, Universitäts-Bibliotheks-Secretär  in  Jena. 
Mit  9 Illustrationen  in  Ton-  und  Schwarzdruck 
und  2 Karten.  Jena,  Hermann  Costenoble  1873. 
X und  342  Seiten.  Gross  Octav. 

Schon  bei  Anzeige  der  noch  erst  bevor- 
stehenden Publikation  dieses  Werkes,  von  dem 
zuerst  in  den  »Proceedings«  der  Roy.  Geogr. 
Society  in  London  1871  ein  Auszug  erschien, 
bemerkte  Dr.  Petermann  (Geogr.  Mittheil.  1871. 
S.  171),  wie  »sehr  , willkommen  die  Nachricht 
sei,  dass  es  einem  englischen  Marine-Lieutenant 
gelungen,  von  der  Magalhäes-Strasse  aus  ganz 
Patagonien  bis  zum  Rio  Negro  zu  durchwandern. 
Das  war  vorher  noch  von  Niemandem  geschehen, 
die  Erforschung  des  Landes  beschränkte  sich 
auf  die  Küsten-Gestade  und  einige  Flussufer. 

49 


774  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 

Hr.  Musters  hatte  also  einen  bis  dahin  noch 
unbekannten  Landstrich  unseres  Planeten  zuerst 
erschlossen.  Nachdem  das  Buch  nun  erschie- 
nen, sieht  man  sich  in  der  Hoffnung  auf  werth- 
volle Aufschlüsse  über  die  Naturbeschaffenheit 
und  Bevölkerung  Patagoniens  nicht  getäuscht. 
Freilich  konnte  Hr.  Musters  andere  Instrumente 
als  einen  Compass  nicht  mitnehmen:  Höhen- 
messungen, Gradbestimmungen  u.  dgl.  m.  bringt 
er  daher  nicht.  Aber  mit  Hülfe  des  Compasses 
hat  er  »so  sorgfältig  als  möglich«  den  Weg, 
den  er  gezogen,  aufgezeichnet  (Vorwort  S.  V) 
und  mit  einer  ungewöhnlichen  Ausführlichkeit 
und  Beharrlichkeit  muss  er  sein  Tagebuch  ge- 
führt haben,  ungeachtet  der  vielfachen  Störun- 
gen, die  ihm  gerade  bei  seinem  Schreiben  be- 
gegneten (z.  B.  S.  158).  Es  ist  kaum  begreif- 
lich, wie  er  so  genaue,  ausführliche  und  offen- 
bar auch  wahrheitsgetreue  Schilderungen  der 
ihn  umgebenden  Natur  hat  niederschreiben  kön- 
nen, ohne  eigentlich  Müsse  dafür  zu  haben. 
»Ich  hielt  es  für  gut,  lesen  wir  S.  127,  dass 
ich  keine  Instrumente  weiter  mitgebracht  hatte, 
denn  »das  Schiessen  nach  der  Sonne«  würde 
sicherlich  als  ein  Stückchen  Zauberei  angesehen 
worden  sein,  und  jeden  Tod  oder  Unfall,  der 
später  eingetreten  wäre , hätte  man  an  dem 
Kopfe  des  Zauberers  heimgesucht.  Schon  dass 
ich  mir  Notizen  machte,  wurde  mit  argwöhni- 
scher Neugierde  betrachtet  und  man  erkundigte 
sich,  was  es  wohl  an  dem  Orte  gäbe,  über  das 
man  schreiben  könne ; denn  wenn  der  Tehuelche 
es  auch  begreift,  dass  man  Briefe  an  Freunde 
oder  Beamte  schreibt,  so  sieht  er  doch  durch? 
aus  nicht  ein,  warum  man  ein  Tagebuch  führt, 
und  ein  »ungelehrter  Indianer«  würde  wahr- 
scheinlich , wenn  er  etwa  argwöhnte , (dass 


Musters,  Unter  den  Patagoniern.  775 

(um  Burns’  Worte  zu  gebrauchen)  »er  es  wirk- 
lich werde  drucken  lassen«,  nicht  warten,  bis 
er  das  Buch  »todtschlagen«  kann,  sondern  allen 
Recensenten  vorgreifen  und  den  voraussichtlichen 
Verfasser  selbst  todtschlagen«.  Bei  so  bewandten 
Umständen  hat  Hr.  Muster  in  der  That  Unge- 
wöhnliches geleistet;  denn  nicht  allein,  dass  er 
auf  seinen  Märschen  meistens  Tag  für  Tag  er- 
zählt, was  ihm  begegnet,  er  beschreibt  auch  an- 
schaulich und  ausführlich  den  Boden,  über  den 
er  hinreitet,  womit  derselbe  bestanden  u.  s.  w., 
die  Aussicht  auf  die  benachbarten  Ebenen  oder 
Gebirge,  den  Lauf  der  Flüsse  u.  s.  w.,  so  dass 
man  doch  annehmen  muss,  dass  seine  ersten 
Aufzeichnungen  an  Ort  und  Stelle  schon  sehr 
genau  und  ausführlich  gewesen  sein  müssen. 
Auch  zu  den  9 Illustrationen  seines  Buchs  hat 
er  die  Skizzen  gemacht,  freilich  nur  in  »rohen 
Umrissen«,  »aus  welchen,  wie  es  im  Vorwort 
S.  VI  heisst,  Herr  Zwecker  mit  geschickter 
Hand  die  lebhaften  und  treuen  Abbildungen  ge- 
schaffen hat,  welche  die  Landschaft  und  das 
Leben  in  Patagonien  dem  Leser  vor  Augen 
stellen«.  Von  den  Falklands-Inseln,  wo  er  sich 
im  April  1869  aufhielt,  kam  er,  nachdem  er 
seinen  Reiseplan  gemacht,  nach  der  Possession 
Bai  am  Eingänge  der  Magalhäes-Strasse,  und 
setzte  hier  zum  ersten  Mal  seinen  Fuss  auf  das 
Festland  Patagonien  (S.  9).  Merkwürdig,  dass 
ihm  hier  gleich  die  in  Patagonien  heimischen 
Vierfüssler,  ein  Guanaco  (Auchenia  Huanäco  H. 
Sw.),  dieses  freilich  todt,  und  ein  Puma  (Felis 
concolor.  L.)  begegneten.  Ersteres  beschreibt 
er  weiterhin  S.  135  u.  ff.,  ebenso  dort  S.  138  u.  ff. 
den  Strauss  (Rhea  Darwinii.  Gould.),  auch  Nandu 
genannt.  In  Punta  Arena,  der  bekannten  chi- 
lenischen Ansiedelung,  wird  geankert  und  von 

49* 


776  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 


hier  aus  die  Wanderung  zuerst  in  Begleitung 
eines  kleinen  Streifcorps,  welches  Deserteure 
einfangen  sollte  (S.  12  und  S.  19  u.  f.),  ange- 
treten. Das  Corps  commandirte  Lieutenant 
Gallapos  und  der  von  Hrn.  Musters  angenom- 
mene Diener  hiess  «Paria.  Der  ganze  Reiterzug 
bestand  aus  21  Pferden  und  brach  am  19.  April 
auf:  »ein  schöner  frostiger  Morgen«  schreibt 
der  Verf.  S.  20.  Dem  aufmerksamen  Leser 
wird  es  nicht  entgehen,  dass,  obwohl  die  Reise 
des  Verf.  doch  ein  ganzes  Jahr  dauerte  . (vom 
19.  April  1869  bis  Ende  Mai  1870)  er  fast  im- 
mer, wenn  er  vom  Wetter  und  der  Temperatur 
spricht,  von  Schnee-  und  Gräupelwetter,  kalten 
schneidenden  Winden  u.  dgl.  m.  redet.  Gab  es 
denn  nie  Sommer?  Wir  finden  S.  149  die  Ant- 
wort: »Um  jene  Zeit  (im  Novbr.  1869  kam  ich 
zu  dem  Schlüsse,  dass  der  Sommer  in  diesen 
Gegenden  unbekannt  sei,  und  dass  das  patago- 
nische  Jahr  nur  aus  zwei  Jahreszeiten  — einem 
strengen  Winter  und  einem  schlechten  Frühling 
bestehe.  Die  Indianer  behaupteten  jedoch,  wäh- 
rend der  letzten  zwei  Jahre  sei  das  Klima  käl- 
ter geworden«.  Dieselbe  Beobachtung  hat  man 
an  den  Küsten  auch  gemacht : der  in  Folge  des 
Drehungsgesetzes  in  der  gemässigten  Zone  der 
südlichen  Halbkugel  vorherrschende  Nordwest- 
wind verursacht  die  reichlichen  Niederschläge  in 
den  patagonischen  Anden,  längs  deren  östlichen 
Abhängen  Hr.  Musters  hinzog,  während  aus 
demselben  Grunde  das  patagonische  Tiefland 
— die  östliche  Hälfte  Patagoniens  — einer 
ausserordentlichen  Dürre  und  Trockenheit  aus- 
gesetzt ist  (vgl.  Dan.  Völter,  Allg.  Erdbeschrei- 
bung Bd.  II,  S.  1092).  Die  Reise  des  Herrn 
Musters  und  seiner  Begleitung  ging  nicht  sehr 
schnell  von  Statten,  man  kam  täglich  nur  we- 


Muster , Unter  den  Patagoniern.  777 

nige  Meilen  vorwärts,  jagte  häufig  und  spähte 
nach  den  Deserteuren  aus.  Das  erste  Zusam- 
mentreffen mit  Eingebornen  wird  S.  32  u.  f.  ge- 
schildert. Sam  Slick,  Sohn  des  Häuptlings  Ca- 
simiro,  ritt  ihnen  entgegen  und  übernahm  die 
Führung  der  kleinen  Caravane.  So  kam  man 
nach  Santa  Cruz.  »Die  gedeihende,  wenn  auch 
kleine  Stadt,  die  ich  mir  in  der  Phantasie  ge- 
träumt hatte,  schreibt  der  Verf.,  wurde  durch 
ein  einziges  Haus  vertreten«;  doch  fand  er  bei 
Mr.  Clarke,  einem  Bekannten  von  den  Falklands- 
Inseln,  die  freundlichste  Aufnahme.  Die  Ansie- 
delung liegt  auf  der  Insel  Pabon,  die  ungefähr 
l1/*  engl.  Meilen  lang  und  etwa  350  Meter  breit 
ist  (S.  44).  Hr.  Musters  beschreibt  weitläufig 
das  tägliche  Leben  auf  der  Insel,  die  wenigen 
hier  angesiedelten  Bewohner,  ihre  Beschäfti- 
gungen u.  s.  w.,  besonders  aber  auch  S.  53  u.  ff. 
den  einigermas8en  civilisirten  Häuptling  Casi- 
miro,  dessen  Mutter  eine  Tehuelchin  gewesen, 
der  von  nun  an  der  Begleiter  des  Verf  wurde. 
Ausser  ihm  gesellten  sich  noch  vier,  dem  Verf. 
bereits  bekannte  Indianer  hinzu:  Orkeke,  Cam- 
pan,  Cayuke  und  Tankelow  (S.  66).  Im  Juli 
war  die  Witterung  in  Santa  Cruz  durchdringend 
kalt;  der  niedrigste  Stand  des  Thermometers, 
nach  welchem  jeden  Morgen  pünktlich  gesehen 
wurde,  war  8°  F.  (oder  10°, 66  R.).  »Unsere 
Kleider  zu  waschen  wurde  unmöglich,  da  wäh- 
rend des  Waschens  das  Wasser  gefror  und  die 
Kleidungsstücke  so  steif  wie  Bretter  wurden«. 
»Auf  den  Pampas  schien  es,  wenn  der  grimmige 
Südwind  blies,  wie  es  fast  immer  der  Fall  war, 
unmöglich  ihm  entgegenzugehen,  ohne  rasch  die 
Kräfte  zu  verlieren«.  »Der  Schnee  lag  achtzehn 
Zoll  hoch  — wir  dankten  Gott,  dass  wir  von 
den  öden  sturmgepeitschten  Pampas,  wenn  auch 


778  Gott.  gel.  An z.  1874.  Stück  25. 

langsam  und  mit  Mühe,  doch  glücklich  wieder 
herunterkamen«  (S.  64  u.  f.).  Die  Weiterreise  am 
9.  August  nahm  eine  nordwestliche  Richtung  in 
das  Thal  des  Rio  Chico,  dessen  Mündung  sich 
mit  der  des  Rio  Santa  (s.  die  Karte)  vereinigt. 
Hier  fand  sich  die  ganze  Horde  zusammen, 
darunter  achtzehn  Tehuelchen  oder  patagoni« 
sehe  Männer,  nebst  einer  verhältnissmässigen 
Anzahl  Frauen  und  Kindern.  Die  ganze  Gesell- 
schaft wurde  in  5 Toldos  (indianische  Zelte) 
untergebracht  (S.  76  u.  ff.).  Interessant  ist  die 
Zählung  der  Bevölkerung,  die  der  Verf.  hier 
anschliesst:  »zwischen  dem  Rio  Negro  und  der 
Magalhäes-Strasse  (also  etwa  zwischen  40  und 
53  Grad  südl.  Breite)  giebt  es  jetzt  gegen  fünf- 
hundert streitbare  Männer,  die  nach  einer  un- 
gefähren Schätzung  eine  Bevölkerung  von  etwa 
dreitausend  Seelen  ausmachen  (S.  79).  Andere 
Angaben,  die  aber  weniger  Glaubwürdigkeit  ver- 
dienen, gehen  über  diese  Zahl  hinaus  (vgl. 
Behm  und  Wagner,  die  Bevölkerung  der  Erde 
in  Dr.  Petermann’s  Geogr.  Mittheilungen,  Er- 
gänzungsheft No.  35  (1874)  S.  78).  Die  Te- 
huelchen oder  eigentlichen  Patagonier  theilen 
sich  in  zwei  Stämme,  den  nördlichen  und  den 
südlichen;  sie  reden  dieselbe  Sprache,  nur  mit 
verschiedenem  Accent ; die  Grenze  zwischen  ihnen 
bildet  die  weite  Strecke,  die  zwischen  dem  Rio 
Chupat  und  dem  Rio  Santa  Cruz  liegt.  Ein 
zweites  Volk  sind  die  Pampas-Indianer,  Penck 
genannt,  nördlich  vom  Rio  Negro,  ein  drittes 
die  Manganeros,  auch  Chenea  oder  Krieger  ge- 
nannt, deren  Hauptquartier  Las  Manzanas  in 
den  Cordilleren  ist  (S.  79  u.  80).  Man  zog  das 
Thal  des  Rio  Chico  in  nordwestlicher  Richtung 
hinauf.  Der  Fluss  war  zugefroren  (im  August), 
die  Witterung  kalt,  schneidende  Westwinde  alle 


Muster,  Unter  den  Patagoniern.  779 

Tage,  Schneegestöber  dann  und  wann.  Mitunter 
erweiterte  sich  das  Thal  zu  breiten  grasbedeck- 
ten Ebenen,  dann  erhob  sich  wieder  ein  hoher 
kahler  Bergrücken  und  ein  wellenförmiges  Ter- 
rain mit  furchenähnlichen  Erhöhungen  und  Ver- 
tiefungen, auch  zeigten  sich  Flecke  sumpfigen 
Bodens  mit  gefrornen  Lagunen,  hie  und  da 
offene  Quellen,  bei  denen  viele  Wasservögel. 
Bisweilen  traten  sehr  schroffe  Hügel  von  Basalt 
bis  hart  an  den  Fluss  heran,  — so  der  M6- 
waisch,  120  engl.  Meilen  von  Santa  Cruz,  — 
die  wie  verfallene  Burgen  aussahen.  Am  Fuss 
dieser  Hügel  bestand  der  Boden  an  vielen  Stel- 
len ganz  aus  Lava  (S.  84  u.  f.).  Der  Rio  Chico 
kommt,  wie  derVerf.  vermuthet,  aus  dem  schon 
seit  1780  bekannten  Viedma-See,  der  südwärts 
von  der  Reiseroute  lag;  darnach  würde  er  in 
seinem  Oberlauf  von  Süden  nach  Norden  strö- 
men und  erst  nachdem  er  aus  dem  See  heraus- 
getreten, sich  nach  Osten  wenden  (S.  91).  Ein 
Kampf  zwischen  den  nördlichen  und  südlichen 
Tehuelchen  unterbrach  den  Frieden  der  Cara- 
vane  (S.  90  u.  91).  Am  5.  Septbr.  ward  das 
Flussthal  verlassen  und  wandte  man  sich  nord- 
wärts in  »ein  unebenes  Thal,  welches  zwischen 
niedrigen  unregelmässigen  Hügeln  von  zersetzter 
Lava  lag«.  Nach  einem  Marsch  von  einigen 
Stunden  näherte  man  sich  den  etwa  tausend 
Fuss  hohen  Ausläufern  der  Cordilleren,  die  hier 
eine  grosse  Ebene  begrenzen.  Durch  die  eilen- 
den Wolken  und  das  Schneegestöber  hindurch 
sah  man  gelegentlich  nur  die  höheren  Spitzen 
des  entfernteren  Gebirges.  Auf  jener  dürren 
Ebene  lagen  kleine  Stücke  Porphyr,  Quarz, 
Kiesel  und  Obsidian,  auch  verkieseltes  (verstei- 
nertes?) Holz.  Weiter  kam  man  an  einen  klei- 
nen reissenden  Strom,  der  eine  grasreiche  Ebene 


780  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 


bewässerte  und  in  östlicher  Richtung  floss  (S. 
93  u.  ff.);  das  erste  strömende  Wasser,  dem  man 
begegnete,  seitdem  man  das  Thal  des  Rio  Chico 
verlassen.  Die  Gegend,  die  in  den  nächsten 
Tagen  durchzogen  wurde,  trug  einen  ähnlichen 
Character,  abwechselnd  Hügel,  die  überschritt 
ten  werden  mussten,  und  Ebenen.  Bisweilen 
kam  eine  Schlucht  von  grösserem  oder  geringe- 
rem Umfange,  so  z.  B.  die  S.  98  geschilderte, 
ausnehmend  wüste  von  düsteren  jähen  Klippen- 
wänden eingescblos8ene  Corrie  (d.  h.  Berg- 
schlucht), durch  welche  schäumend  ein  Giess- 
bach hindurch  eilte.  Der  Boden  schien  hier 
durch  vulkanische  Kraft  erschüttert  und  ge- 
sprengt worden  zu  sein,  auch  fehlte,  einige 
seichte  Lagunen  ausgenommen,  Wasser.  Ein 
weidereicher  Thalgrund  lud  zu  einer  dreitägigen 
Rast  an  einem  der  nächsten  Marschtage  ein. 
Am  27.  Septbr.  erreichte  man  einen  an  einem 
reissenden  Fluss  gelegenen  Ort  Namens  Gelgel, 
»einen  Punkt,  an  welchem  jede  Wanderhorde, 
die  auf  den  westlichen  Ebenen  jagen  will,  von 
dem  nach  Patagones  (Rio  Negro)  führenden  nörd- 
lichen Wege  abgeht«  (S.  102).  Der  Marsch 
ging  fortwährend  in  nördlicher  Richtung  weiter: 
am  3.  October  nach  dem  Hügel  Tele,  am  5., 
nachdem  ein  Fluss  überschritten  war,  nach 
Yölke,  auf  einer  Halbinsel  gelegen  (S.  106),  am 
9ten  nach  Yaiken-  Kaimak,  wo  in  der  Nähe 
einer  schönen  kreisförmigen  Quelle,  wie  solche 
in  Patagonien  häufig  Vorkommen,  die  Toldos 
aufgeschlagen  wurden  (ibid.).  Am  16ten  Octo- 
ber Abends  wurde  Pelmecken,  nahe  an  dem  be- 
waldeten Rio  Sengel,  erreicht.  Eher  kam  es  zu 
einem  Kampf  innerhalb  der  Horde,  unter  wel- 
cher Anarchie  herrschte , wodurch  auch  der 
Yerf.  an  seinem  Leben  bedroht  wurde.  Doch 


Musters,  Unter  den  Patagoniern.  781 

trat  wieder  eine  bessere  Stimmung  ein  und  man 
zog  weiter  nordwärts,  einer  Hügelkette  folgend. 
Die  Frauen  sammelten  eine  beträchtliche  Menge 
Kartoffeln.  Bei  dem  Sammelplatz  Henno  (am 
3ten  Novbr.)  erschien  ein  Haufe  der  nördlichen 
Indianer  oder  Tehuelchen,  die  unter  des  Häupt- 
lings Hinchel  Befehl  standen,  und  wurde  feier- 
lich bewillkommt.  Ein  Bild  zwischen  S.  118  u. 
119  veranschaulicht  diese  Ceremonie,  ein  mili- 
tärisches Reitermanöver.  Hinchel  war  ein  in 
jeder  Hinsicht  achtungswerther  Mann.  Ein 
durch  ihn  berufenes  Parlomento  (ein  Kriegsrath) 
ernannte  Casimiro  zum  commandirenden  Häupt- 
ling der  Tehuelchen  und  beschloss  den  Marsch 
nach  Teckel  und  von  da  nach  Las  Manzanas, 
um  sich  dort  mit  den  araucanischen  Indianern 
zu  vereinigen  (S.  121).  Zwei  Tage  später  tra- 
fen die  Indianer  vom  Rio  Chupat  ein,  70 — 80 
Männer  nebst  Frauen  und  Kindern,  kurze,  mus- 
kulöse Leute,  heller  von  Farbe  und  reinlicher, 
als  die  anderen.  Ihr  Häuptling  hiess  Jackechan, 
ein  höchst  intelligenter  Mann,  der  Spanisch, 
Pampa  und  Tehuelcbe  fliessend  sprach,  dessen 
Bekanntschaft  mit  dem  Verf.  zu  einer  festen 
gegenseitigen  Freundschaft  wurde.  Hier  in  die- 
sem geräumigen  grasreichen  Thale  (12  Meilen 
lang  und  4 Meilen  breit),  welches  von  Hügeln 
eingeschlossen  war  (nach  der  Karte  ein  wenig 
nördlich  vom  44°  süal.  Breite)  wurde  das  Wet- 
ter (im  Novbr.)  heiter  und  sonnig,  an  wind- 
stillen Tagen  auch  warm  und  war«  es,  da  es 
keinen  Regen  gab,  fast  wie  Sommer.  Der  West- 
wind aber  brachte  schneidende  Kälte.  Die 
Voraussicht  einer  Campagne  mit  den  nördlichen 
Indianern , deren  Gebiet  man  sich  näherte, 
machte  eine  längere  Ruhe  nöthig,  und  nachdem 
nun  alle  Zwistigkeiten  beigelegt  waren,  gestaltete 


782  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 


sich  das  Leben  friedlich  und  genussreich.  Der 
Verf.  war  jetzt  bereits  so  ganz  vertraut  gewor- 
den mit  der  Lebensweise  dieser  ruhelosen  No- 
maden, die  nirgend  eine  bleibende  Stätte  haben, 
sondern  sich  Jagd-  und  Weidegründe  suchen, 
wo  es  ihnen  gefällt,  dass  er  sich  unter  ihnen 
wohl  fühlte.  Am  18ten  Novbr.  brach  man  das 
Lager  ab  und  zog  weiter  nach  Chiriq  (S.  128). 
Hier  wurde  auch  jetzt,  wie  schon  früher  ge- 
schehen, ein  starker  Knall  gehört  und  Rauch- 
säulen gesehen,  wahrscheinlich  vulkanische  In- 
tonationen, wie  Hr.  Musters  muthmasste,  aber 
nach  der  Meinung  der  Indianer  entweder  von 
einem  noch  unbekannten  Stamme  oder  von  einer 
verborgenen  oder  verzauberten  Stadt  herrüh- 
rührend.  Dieser  Glaube  beruht  auf  verschiede- 
nen Sagen  von  dergleichen  Städten,  deren  der 
Verf.  hier  erwähnt  (S.  139  u.  ff.);  sie  hängen 
mit  der  Geschichte  der  Eroberung  durch  die 
Spanier  zusammen.  Bei  dem  Aufbruch  von 
Chiriq  marschirte  Hinchel  mit  seiner  Horde 
südwestlich,  der  Verf.  blieb  bei  der  anderen 
Horde,  die  gen  Nordwesten  weiterzog  (S.  147). 
Es  war  eine  wildreiche  Gegend,  die  Witterung 
stürmisch  und  kalt  (Ende  Novbr.).  Nach  eini- 
gen weiteren  Tagemärschen  traf  ein  Bote  aus 
Santa  Cruz  mit  Briefen  ein,  leider  auch  mit 
Rum,  was  zu  einem  Trinkgelag  Veranlassung 
gab.  Am  12.  Decbr.  bewegte  sich  der  Zug  über 
die  Ebene  Gisk.  In  der  Nähe  fand  der  Verf. 
eine  ausserordentlich  romantische  Gegend  (S. 
153),  aber  das  Wetter  blieb  sehr  stürmisch  und 
regnicht.  Weiterhin  waren  grasreiche  Weiden, 
im  Westen  lagen  die  waldbedeckten  Gebirge, 
deren  Gipfel  theilweise  in  Schnee  gehüllt.  Bei 
Gogomenykonik  ward  Halt  gemacht.  ZurOrien- 
tirung  auf  diesem  durch  Hügel  und  Flüsse  ver- 


Musters,  Unter  den  Patagonien).  783 

wickelten  Wege  dient  eine  kleine  besondere 
Kartenskizze  (S.  168).  Ein  Jagdausflug  auf 
wilde  Kinder  führte  in  die  Wälder  derCordille- 
ren.  »Die  Bäume  waren  an  verschiedenen  Stel- 
len abgestorben,  sie  waren  nicht  durch  Feuer 
geschwärzt,  sondern  standen  wie  geisterhafte 
gebleichte  und  nackte  Gerippe  da«.  Ein  solcher 
Gürtel  von  abgestorbenen  Bäumen  zieht  sich 
auf  der  Ostseite  der  Cordillera  am  Saum  aller 
Wälder  hin.  Darnach  kam  der  aus  lebenden 
Bäumen  bestehende  Wald,  das  Unterholz  Jo- 
hannisbeer-, Lorbeer-  und  andere  Büsche,  hie 
und  da  Beete  gelber  Veilchen  und  überall  die 
unvermeidlichen  Erdbeerpflanzen.  Ein  Fluss 
war  das  Anzeichen  einer  Wasserscheide.  »Die 
Landschaft  war  schön:  gerade  unter  uns  lag 
ein  Thal,  ungefähr  eine  englische  Meile  breit; 
am  südlichen  Rande  bezeichnete  eine  silber- 
farbene Linie  den  östlichen  Fluss  und  am  nörd- 
lichen Rande  eine  gleiche  Linie  denjenigen  der 
in  den  Stillen  Ocean  ausmündete,  während  über 
uns  auf  beiden  Seiten  hohe,  mit  Vegetation  und 
fast  undurchdringlichen  Wäldern  bedeckte  Berge 
sich  erhoben.  Auf  der  Westseite  des  Thaies 
nahm  ein  einsamer  Bulle  gemächlich  sein  Früh- 
stück zu  sich,  und  über  dem  Felsen,  auf  dem 
wir  standen,  schlug  ein  gewaltig  grosser  Condor 
träg  mit  seinen  Schwingen«.  Diese  Naturschil- 
derungen der  grossartigen  Wald-  und  Bergland- 
schaften setzen  sich  noch  einige  Seiten  fort. 
Die  Rinderjagd,  bei  welcher  der  Verf.  selbst 
noch  in  Gefahr  kam  und  zwei  Rippen  brach, 
auch  ein  Indianer  kopfüber  geschleudert  wurde, 
blieb  erfolglos,  daher  auf  dem  Weihnachtstisch 
das  Rindfleisch  fehlte:  »soviel  Hunger  habe  ich 
an  diesem  Feste  nie  gelitten  U ruft  der  Verf. 
aus  (S.  165).  Casimiro,  der  sich  entfernt  hatte, 


784  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 


kehrte  am  11.  Januar  1870  zurück  und  die 
Horde  verweilte  bis  zum  20ten  Januar  noch  in 
dem  nahe  dem  Rio  Chupat  gelegenen  Lager 
Teckel.  An  dieser  Stelle  unterbricht  Hr.  Muster 
seine  Erzählung  durch  eine  Schilderung  der 
Sitten  und  Gebräuche  der  Tehuelchen  oder 
Tsonekas,  wie  sie  sich  selbst  nennen,  Kap.  V, 
S.  171 — 201.  Darin  folgen  wir  ihm  nicht,  son- 
dern begleiten  den  Weitermarsch  der  Horden, 
die  200  Mann  stark  am  21.  Januar  sich  zum 
Vorrücken  anschicken,  um  sich  den  Araucanos 
anzuschliessen  (S.  202).  Man  näherte  sich 
einer  unter  dem  Häuptling  Quintuhual  stehen- 
den Horde.  Guanacos  waren  selten,  Strausse 
gab  es  viele  und  Armadille  in  Ueberfluss.  Der 
Lagerplatz  hiess  Woolkein  (S.  205).  Darüber 
hinaus  traf  man  mit  Araucaniern  (auch  Manza- 
neros  genannt)  zusammen.  Eine  Rathsversamm- 
lung brachte  Quintuhual  zu  dem  Entschluss, 
»seine  Horde  mit  den  Tehuelchen  zu  vereinigen 
und  unter  Casimiro’s  Banner  nach  Las  Manza- 
nas  zu  ziehen«  (S.  209).  Aus  Furcht  vor  einem 
feindlichen  Zusammenstoss  mit  den  Aurecanos 
zogen  am  5.  Februar  Jackechan  und  zwei  Tol- 
dos  nach  Nordosten  direct  in  der  Richtung  von 
Chupat.  Der  Verf.  mit  den  Uebrigen  zog  nord- 
wärts. »Hier  (auf  etwa  42°  südl.  Br.)  änderte 
sich  der  Character  des  Landes.  Wir  zogen 
nicht  mehr  über  Pampas  mit  ihrer  traurigen 
Einförmigkeit,  schreibt  der  Verf.,  sondern  rei- 
sten durch  ebene  Thäler  von  zwei  bis  drei  eng- 
lische Meilen  Breite,  die  von  Bächen,  an  wel- 
chen verkümmerte  Bäume  standen,  durchflossen 
und  reich  an  Wild  waren.  Die  allgemeine  Rich- 
tung der  die  Thäler  trennenden  Hügel,  die  runde 
Dünen  und  dann  und  wann  zerrissene  und  vom 
Wasser  ausgespülte  Klippen  bildeten,  war  von 


Musters,  Unter  den  Patagomera.  785 

Ost  nach  West;  es  schien,  als  wären  sie  als 
Ausläufer  von  der  Cordillera  entsendet,  von  der 
jedoch  ihre  westlichen  Fiisse  (?)  durch  ein  sich 
oft  zu  einer  Gebirgsschlucht  verengendes  ‘Thal 
getrennt  waren,  in  welchem  ein  Wasser  nach 
Norden  hinabfloss«  (S.  211  u.  f.).  Gelegentlich, 
als  es  an  Fleisch  mangelte,  lehrte  der  Verf.  die 
Tehuelchen  Fische  fangen  und  essen,  wogegen 
sie  bisher  grosse  Abneigung  gezeigt  hatten  (S. 
214).  Am  12ten  Februar  befand  sich  die  Horde 
wieder  auf  dem  Marsch  nach  der  Station  Billy- 
haik  (nördlich  von  Diplkaik,  die  aber  auf  der 
Karte  nicht  angegeben  ist) ; »die  herrlich  warme 
Witterung,  die  — es  war  ein  Wunderl  — fort- 
dauerte, machte  unseren  Aufenthalt  (auf  dieser 
Station)  höchst  genussreich  und  wir  schwelgten 
in  den  einfachen  Freuden,  die  der  Wald  bot«. 
(So  der  Verf.  S.  215).  Der  Ort  mit  seinen 
blumenreichen  und  schattigen  Plätzen  war  ein 
Paradies  (S.  217);  »ein  schönerer  Anblick  hat 
sich  meinem  Auge  noch  nirgends  geboten«, 
schreibt  Hr.  Musters.  Am  löten  Februar,  nach- 
dem das  Lager  abgebrochen,  zog  sich  der  Weg, 
als  man  jenes  reizende  Thal  verlassen  hatte, 
fiber  eine  Reihe  kahler  und  steiniger  Terrassen 
hin.  Aehnlich  blieb  das  Land  an  den  folgenden 
Marschtagen,  worauf  man  auf  das  Lager  des 
Häuptlings  Foyel  stiess.  Dieser  war,  freilich 
nur  um  des  eignen  Vortheils  willen,  gegen  Euro- 
päer (Christen)  friedlich  gesinnt  (S.  229).  West- 
lich von  der  Marschroute  lag  der  Na-huel-huapi- 
See  (ebendas.).  In  Geylum  kamen  Manzaneros 
vom  Norden  und  brachten  selbstbereiteten  Aepfel- 
wein.  Für  den  2.  April  war  der  Häuptling  der 
Manzaneros  Cheoeque  bereit,  die  Tehuelchen 
zu  empfangen  (S.  233).  Die  Gegend  war  steril, 
auch  arm  an  Wild,  man  litt  Hunger,  dazu  war 


786  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 

das  Wetter  kalt  und  nass.  Von  einem  etwa 
2000  Fuss  hohen  Berge  aus  sah  man  »einige 
30  Meilen  entfernt  eine  dunkle  Linie,  die  wie 
ein  tiefer  Durchstich  aussah  und  das  Thal  des 
Rio  Limay  bezeichnete,  das  auf  der  Westseite 
durch  hohe  bewaldete  Berge  mit  steil  abstürzen- 
den  Wänden  begrenzt  wurde.  Weit  nach  Nord- 
westen stand  ein  sehr  hoher  schneeumhüllter 
Berg,  den  die  Strahlen  der  uutergehenden  Sonne 
mit  rosenfarbigem  Licht  übergossen.  Zwischen 
letzterem  und  der  Linie  des  Flusses  erhoben 
sich  bewaldete  Hügelreihen , die  eigentlichen 
Aepfelhaine,  von  welchen  wir  soviel  gehört  hat- 
ten«. Dahinter  lagen,  aber  nicht  sichtbar,  die 
Toldos  des  Häuptlings  Cheoeque  und  seiner  In- 
dianer (S.  235).  Nach  zwei  Tagemärseben  be- 
fand man  sich  im  Lager  der  Las  Manzanas,  wo 
die  Friedensversicherungen  erneuert  wurden  (S. 
243).  Foyel  und  Quintuhuali  mit  ihren  Leuten 
zogen  südwärts  (S.  248).  Hr.  Musters  hatte 
Gelegenheit  sich  von  dem  grossen  Ansehen  zu 
überzeugen,  in  welchem  der  Cacique  Cheoeque 
bei  den  Aurecaniern  steht.  »Auch  war  die 
Ueberlegenheit  dieser  halbcivilisirten  Indianer 
über  ihre  südlichen  Nachbarn  in  jeder  Hinsicht, 
nur  die  Körperkraft  ausgenommen,  augenschein- 
lich. Ihre  festen  Wohnsitze  in  einer  frucht- 
baren Gegend  in  der  Nähe  der  Aepfel-  und 
Araucarienhaine  bieten  ihnen  über  die  nomadi- 
sirenden  Patagonier  grosse  Vorth  eile«  S.  253  u.  t). 
Der  Verf.  kehrte  nach  Verlauf  von  beinahe  14 
Tagen  nach  Geylum  zurück  und  ritt  von  dort 
am  17.  April  gen  Osten  ab  nach  Patagones; 
Casimiro  mit  seiner  Horde  begleitete  ihn.  Neun 
Tagemärsche  entfernt,  durch  eine  armselige  Ge- 
gend, lag  nach  der  Beschreibung  der  Indianer, 
die  erste  Station  Margenscho.  Allerdings  war 


Musters,  Unter  den  Patagoniern.  787 

die  Gegend  sehr  unfruchtbar,  zumTheil  felsigt. 
An  einer  Stelle  schien  die  Erde  in  Brand  zu 
stehen,  die  Pferde  traten  durch  die  erhitzte 
Oberfläche  ein  und  verbrannten  sich  die  Füsse. 
Da  es  in  der  Nähe  heisse  Quellen  giebt,  schien 
die  Ursache  eine  vulkanische  zu  sein  (S.  268). 
Lava  und  Bimsstein  von  nicht  gerade  hohem 
Alter  lagen  auf  den  Hügeln  umher.  Leider 
wurde  die  Reise  durch  eine  seuchenartige  Krank- 
heit, die  auch  den  Verf.  ergriff  und  alle  miss- 
müthig  stimmte,  sehr  erschwert  (S.  272  u.  f.). 
Auch  auf  die  Beobachtungen  des  Verf.  hatte  die 
Krankheit  einen  nachtheiligen  Einfluss : seine 
Erinnerungen,  schreibt  er,  waren  verworren, 
Notizen  machte  er  nur  wenige,  seinen  Compass 
hatte  er  dem  Häuptling  Foyel  geschenkt  u.  s.  w. 
Aber  er  erinnerte  sich  auch,  dass  dieser  Di- 
strict im  Aufträge  der  argentinischen  Regierung 
von  einem  gelehrten  Manne  durchreist  und  ge- 
nau vermessen  und  beschrieben  worden  sei  (S. 
272).  Es  genügt  daher  nur  noch  einiges  We- 
nige hier  zu  bemerken.  Die  Krankheit  dauerte 
ohne  Unterbrechung  fort  und  forderte  ihre 
Opfer,  namentlich  Kinder,  von  denen  bis  nach 
Margenscho  fast  die  Hälfte  starb,  dazu  mehrere 
ältere  Leute  (S.  276).  Die  Witterung  brachte 
reichlich  Regen.  Am  19.  Mai  endlich  kam  man 
in  Margenscho  an.  Von  hier  aus  zog  Hr.  Mu- 
sters nun  allein  weiter,  nur  von  zwei  Männern 
begleitet,  und  zwar  als  Chasqui  oder  Herold 
der  Häuptlinge,  deren  Aufträge  er  nach  Pata- 
gones  zu  überbringen  sich  erboten  hatte  (S. 
281).  Die  Reise  wurde  möglichst  rasch  fortge- 
setzt, man  ritt,  wenn  es  sich  irgend  thun  liess, 
in  Galopp  — ein  Chasqui  ist  verpflichtet,  so 
schnell  als  möglich  zu  reisen.  In  guter  Laune 
wurden  alle  Beschwerden,  die  der  Ritt  mit  sich 


788  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 

brachte,  ertragen;  selbst  salzfreies  Wasser 
fehlte.  Nach  einigen  Tagereisen  kam  man  ans 
einer  bewaldeten  Gegend  heraus  über  »eine 
Reihe  hoher  Pampas,  welche  voll  kleiner  Granit- 
blöcke lagen,  die  genau  wie  Pflastersteine  aus- 
sahen und  so  dicht  und  regelmässig  hingestellt 
waren,  als  ob  es  Pflasterer  gemacht  hätten*  (S. 
285).  Die  nächste  Station,  wo  man  auf  lagernde 
Indianer  traf,  war  Trinita;  die  Aufnahme  war 
zuvorkommend.  Kaum  eine  Tagereise  weiter 
liegt  Valchita.  Von  hier  ab  ging  es  aufwärts 
nach  der  Trevisia  oder  Wüste,  die  auf  einem 
Hochplateau  lag.  Sie  war  eine  grenzenlose, 
traurige-öde  Fläche,  voll  kleiner  Steine  und  mit 
4 bis  12  Fuss  hohen  Sträuchern  besetzt,  ohne 
alle  Lebenszeichen  (S.  292).  Noch  zwei  Tage- 
reisen und  es  zeigte  sich  das  Meer,  die  Gegend 
wurde  wellenförmig  und  ab  und  an  sah  man 
»die  Einfahrt,  die  den  Namen  Laco  de  San 
Antonio  führt«  (S.  294;  auch  Golf  San  Matias 
genannt,  s.  d.  Karte).  Die  Wüste  zwischen  dem 
Valchitas-Gebirge  und  dem  Rio  Negro  bildet 
die  Ostgrenze  von  Patagonien,  eine  Scheide 
auch  für  die  Flora  und  Fauna  (S.  294).  Am 
4ten  Tage  zeigte  sich  das  Thal  des  Rio  Negro, 
bestanden  mit  grossen  Weiden.  Welche  Freudei 
»Das  Gefühl , glücklich  aus  der  Wüste  heraus 
und  in  die  Ansiedelungen  gekommen  zu  sein 
versetzte  uns,  obgleich  wir  grossen  Hunger  hat- 
ten , in  die  heiterste  Stimmung«.  Aber  als  der 
Verf.  am  folgenden  Tage  bei  der  Guardia,  der 
eigentlichen  Ansiedelung,  ankam,  da  freilich  wa- 
ren seine  Vorstellungen,  die  er  sich  nach  den 
phantastischen  Beschreibungen  der  Indianer  ge- 
macht hatte,  verschwunden.  Ein  kleines  Fort 
mit  Einem  Geschütz , eine  Kaserne  und  einige 
Häuser , eine  unvollendete  Kirche,  das  ist  alles. 


Masters,  Unter  den  Patagoniern.  789 

Bie  Einwohner  waren  auch  nicht  liebenswürdig 
(S.  299).  Am  nächsten  Tage  Weiterreise  nach 
dem  noch  18  Stunden  entfernten  Patagones,  des- 
sen Anblick  doch  ziemlich  imposant  war.  Da 
die  Stadt,  wider  Erwarten  des  Verf.,  bisher  noch 
von  Keinem  ausführlich  beschrieben  worden,  so 
unternimmt  er  dies  im  letzten  (9ten)  Kapitel 
seines  Buchs  (S.  305  bis  337).  Er  berichtet 
aber  nur  nach  seinen  Erinnerungen,  jedoch  sind 
seine  Mittheilungen  in  Ermangelung  anderer, 
sehr  schätzenswerth.  Sie  beschreiben  die  Lage, 
die  Gründung,  die  Bevölkerung,  die  Geschichte 
der  Stadt,  ihren  Handel,  ihre  Zukunft  u.  s.  w. 
Dann  folgen  die  Berichte  über  die  Verabschie- 
dung des  Verf.  von  den  Tehuelchen,  seinen  bis- 
. herigen  Wirthen  und  Begleitern,  die  geselligen 
Unterhaltungen  (S.  335).  Der  Dampfer,  auf 
welchem  er  nach  Buenos-Ayres  fahren  will,  ge- 
räth  auf  eine  Sandbank;  erst  nach  mehrfachen 
Verzögerungen  bringt  ihn  ein  holländischer  Schoo- 
ner nach  einer  stürmischen  Fahrt  von  sechs  Ta- 
gen dahin.  So  endete  diese  kühne  Wanderung 
durch  einen  bisher  noch  unbekannten  Land- 
strich, die  Hm.  Musters,  der  sich  ganz  und 
gar  der  Lebensweise  der  nomadisirenden  Einge- 
bomen anzuschliessen  verstand,  reichlich  Ge- 
legenheit gab  sie  selbst,  ihre  Sitten  und  Ge- 
bräuche gründlich  kennen  zu  lernen,  die  er,  wie 
schon  erwähnt,  in  einem  eigenen  Kap.  (V.)  aus- 
führlich beschreibt,  während  auch  sein  Reise- 
bericht an  manchen  Stellen  von  dahin  gehöri- 
gen Schilderungen  durchflochten  ist.  Die  Wis- 
senschaft der  Ethnographie  hat  dadurch  eine 
willkommene  und  werthvolle  Bereicherung  er- 
fahren, sowie  auch  die  Sprachwissenschaft  den 
Inhalt  des  ersten  Anhangs  (S.  338—341)  »ein 
kurzes  Verzeichniss  von  Wörtern  aus  der 

50 


790  Gott,  geh  Abz.  1874.  Stück  25. 

Tsoneca-Sprache ; wie  die  nördlichen  Tehuel- 
chen  sie  sprechen«  nicht  unbeachtet  lassen  wird. 
Diesen  Wörtern  sind  S.  341  noch  einige  Sätze 
hinzugefügt.  Ein  zweiter  Anhang  enthält  die 
Zeugnisse  der  auf  einander  folgenden  Beisenden 
seit  1520  von  der  Körpergrösse  der  Patagonier 
(S.  342,  vgl.  auch  S.  169  u.f.).  Die  Einleitung 
S.  1 bis  6 gedenkt  kurz  der  früheren  nach  Pa- 
tagonien gemachten  Reisen  und  der  Versuche 
dort  Colonien  zu  gründen.  Der  Verf.  hätte 
hier  auch  noch  auf  das  Werk  von  W.  Parker 
Snow,  A two  years  cruise  of  Tierra  Del  Fuego, 
the  Falklands  islands,  Patagonia  and  in  the 
river  Plate.  Vol.  II.  London  1857  verweisen 
können.  — Jedem  Kapitel  ist  eine  kurze  Inhalts- 
angabe als  Ueberschrift  beigegeben.  Die  9 Illu- 
strationen sind  meistens  Darstellungen  land- 
schaftlicher Seen erien.  Das  Werk  reiht  sich  den 
übrigen  von  der  Verlagshandlung  bereits  seit 
mehreren  Jahren  herausgegebenen  neuen  wich- 
tigen Reisewerken  an  und  ist  wie  diese  ange- 
messen ausgestattet.  Die  Uebersetzung  liest  sich 
leicht  und  angenehm. 

Altona.  Dr.  Biematzki. 


Vielgewandts  Sprüche  und  Groa’s  Zauber- 
gesang. (Fiöls  vinnsmal- Grougaldr).  Zwei  nor- 

ränische  Gedichte  der  Saemunds-Edda  kritisch 
hergestellt,  übersetzt  und  erklärt  von  Dr.  Fried- 
rich Wilh.  Bergmann,  Prof,  an  der  philos. 
Facultät  in  Strassburg.  Strassburg,  Verlag  von 
Karl  J.  Trübner;  1874.  III  und  186  Seiten 
Octav. 

Unter  der  nicht  gar  zu  grossen  Zahl  der 


Bergmann,  Vielgewandts  Sprüche  etc.  791 

gründlichen  Kenner  der  nordischen  Sprachen 
und  Mythologie,  namentlich  aber  der  Eddafor- 
scher, nimmt  Bergmann  unbestreitbar  eine  her- 
vorragende Stelle  ein,  wie  aus  seinen  mehr- 
fachen Arbeiten  auf  dem  betreffenden  Gebiete 
hinlänglich  erhellt,  von  denen  ich  die  letzt- 
erschienene (Das  Graubartslied)  an  dieser  Stelle 
1872  S.  1851  eingehend  besprochen.  Was  die 
beiden  vorliegenden  Gedichte  betrifft,  so  be- 
merkt B.  zuvörderst,  dass  das  erste  derselben 
zu  den  mythologischen  Liedern  der  Sae- 
munds-Edda  gehöre,  diese  aber  in  zwei  Klassen 
zerfallen,  nämlich  in  solche,  die  allgemein  be- 
kannte Mythen  episch  erzählen,  und  in  solche, 
die  bei  dem  Volke  mehr  oder  weniger  in  Ver- 
gessenheit gekommene  mythische  Gegenstände 
von  neuem  lehren  und  didaktisch  vortragen; 
diesen  letztem  reihen  sich  auch  Fiölsvinnsmäl 
oder  Vielgewandts  Sprüche  an,  die  sich  nament- 
lich auf  den  Mytbencyclus  der  Göttin  Freyia 
beziehen.  Diese  war,  nach  B.’s  Ansicht,  ur- 
sprünglich die  Personification  des  zu-  und  ab- 
nehmenden Mondes  und  wurde  als  solche  später 
auch  einerseits  zur  Göttin  der  Entstehung,  des 
Wachsthums  und  des  Lebens,  andererseits  der 
Vernichtung  und  des  Todes.  In  ersterer  Eigen- 
schaft wurde  sie  auch  zur  Göttin  der  Liebe  und 
des  Heils  und  das  Symbol  und  Ideal  der  Frau 
(freyia)  und  der  Jungfrau  (mey).  Die  halbver- 
gessenen Attribute,  Anschauungen  und  Namen 
dieser  Göttin  nun  hat  der  Verf.  des  Gedichts 
zum  Gegenstand  seiner  mythologischen  Beleh- 
rung gemacht,  wobei,  wie  auch  sonst  in  didak- 
tischen Dichtungen  oft  geschieht,  die  ursprüng- 
liche Form  des  Dialogs  beibehalten  und  die 
darin  auftretenden  Persönlichkeiten  gleichsam 
als  geschichtlich  mit  Angabe  des  Orts,  der  Zeit 

50* 


792  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 

so  wie  der  Umstände  episch  vorgefuhrt  werden 
und  den  poetischen  Kähmen  bilden.  In  dem 
Folgenden  entwickelt  B.  die  oben  erwähnte  my- 
thologische Bedeutung  Freyia’s  (Menglöds)  des 
weitern  und  vergleicht  unter  andern  die  indi- 
sche Mondgöttin  Qiva-Käli , welche  zugleich  Göt- 
tin des  Lebens  und  des  Todes  ist,  wie  Artemis 
(Lucina,  Luna)  die  Gottheit  der  Geburt  und  der 
vernichtenden  Jagd.  Auch  sonst  stelle  der  Be- 
griff Natur,  welcher  ursprünglich  die  Ent- 
stehung der  Dinge  ausdrücke,  factisch  zugleich 
deren  endliche  Vernichtung  dar,  da  ja  alles 
Weltliche  entsteht  und  vergeht,  wobei  B.  auch 
auf  Aphrodite’s  Beinamen  Hades,  Skotia,  Epi- 
tymbia,  Tymborychos,  so  wie  auf  Venus-Libitina 
hätte  hinweisen  können.  Wenn  ferner  die  Mond- 
göttin Freyia  zugleich  als  Symbol  des  Frauen- 
und  Mutterthums,  sowie  der  Jungfräulichkeit 
erscheint,  so  war,  wie  B.  erwähnt,  auch  bei 
den  Indern  Bhaväni-Qivä  zugleich  Mutter  und 
Jungfrau  und  bei  den  Griechen  Artemis  sowohl 
die  jungfräuliche  Göttin,  wie  (in  Ephesus)  die 
vielerzeugende,  vielernährende  Mutter  (in  Betreff 
des  Wortes  amazon , welches  T5.  durch  »viel- 
brüstig«  erklärt,  vgl.  die  abweichende  Meinung 
Mordtmann’s  in  dessen  Amazonen.  Hannover 
1862  S.  59  f.  77  ff.).  Hierbei  will  ich  daran  er- 
innern, dass  auch  in  alten  babylonischen  Dar- 
stellungen die  jungfräuliche  Himmelskönigin  von 
dem  Monde  und  ihr  Gemahl  der  König  von  der 
Sonne  begleitet  und  damit  identificirt  ist,  so 
wie  auch  in  römisch-katholischen  Abbildungen 
die  säugende  Jungfrau  Maria  sich  von  Sonne 
und  Mond  umgeben  findet;  s.  Inman,  Ancient 
Faiths.  London  1873.  H,  259  f.  Weiter  bemerkt 
B.,  dass  in  dem  spätem  gotho-germanischen 
Mythus  der  ursprünglich  personificirte  Morgen- 


Bergmann,  Vielgewandts  Sprüche  etc.  793 

und  Abendstern  Brusi  (Zeugungslustiger)  hiess, 
dann  als  blosses  Gestirn  und  glänzende  Zierde 
des  Himmels  das  Geschmeide  (altn.  men, 
sanscr.  mani,  lat.  monile , hebr.  meni  Möndchen) 
der  Brusin ger  (Nachkommen Brusi’s)  genannt 
wurde,  welches  Freyia,  die  frühere  Geliebte 
Brusi’s,  als  Halsband  zum  Schmucke  trug  (Bri- 
singamen),  weswegen  sie  auch  den  epithetischen 
Namen  M engl  öd  (geschmeidefreudige)  erhielt. 
Eine  wichtige  Rolle  spielt  ferner  in  dem  vor- 
liegenden Gedichte  Svipdagr  (Schwipptag,  Schnell- 
tag); er  bezeichnet  den  schnell  tägigen,  lichten 
Sommer  und  ist  identisch  mit  OB r (Sommer- 
wind), dem  Sohne  SvasuBr’s  (des  Süsswindes). 
In  dieser  Beziehung  wurde  er  auch  als  der  Ge- 
liebte der  lichten  sommerlichen  Freyia  betrach- 
tet, wie  Osiris  (Sommersonne)  in  Aegypten  der 
Geliebte  der  Isis  (Mondgöttin)  war.  Der  Grund 
der  Trennung  der  beiden  Liebenden  durch  das 
Schicksal  lag,  nach  dem  ältern  symbolischen 
Mythus,  in  dem  naturgemässen  jährlichen  Ein- 
tritt des  Winters,  der  sie  auf  ein  Jahr  von 
einander  schied.  Dieser  ursprünglich  symbolische 
Naturmythus  wurde  immer  epischer  und  so  kam 
es,  dass  später  das  Sonnenjahr,  während  des- 
sen Svipdagr  und  Menglöd  von  einander  getrennt 
waren,  zu  einem  Weltjahr  der  Götter,  d.  h. 
zu  einem  langen  Zeitraum  ausgedehnt  wurde, 
welcher  die  ganze  erste  Jugend  der  Liebenden 
umfasste.  Da  der  Mythus  von  der  Trennung 
und  Wiedervereinigung  Svipdags  und  Menglöds 
von  dem  jährlichen  Verschwinden  und  Wie- 
derkehren des  Sommers  entnommen  war,  so 
pflegte  das  Volk  bei  der  Ankunft  des  Sommers 
(wie  B.  annimmt)  sprichwörtlich  Zusagen:  »OBr 
kehrt  zurück  (OBr  hverfr  aptr);  und  aus  die- 
ser kurzen  Redeweise  bildete  sich,  wie  aus 


794  Gott,  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 

einem  Keim,  der  epische  Mythus  der  Wieder- 
vereinigung 08rs  mit  Freyia,  so  wie  ja  auch 
ähnliche  Redeweisen,  wie  z.  B.  Skirnir  fährt 
(Skirnir  ferr),  Loki  hat  den  Thor  aufge- 
nalten (Loki  hefir  dvaldan  Thor),  Thor  hat 
den  Alvis  verspätet  (Thor  hefir  dvaldan  Alvis) 
die  epischen  Mythen  veranlasst  haben,  welche 
den  Gegenstand  der  eddischen  Lieder  Skirnis - 
/Sr,  Harbarfisliod  und  Almsmäl  ausmachen.  Die 
eigentliche  Hauptperson  des  in  Rede  stehenden 
Gedichts  ist  jedoch  der  Riese  Viel  ge  wandt 
(Fiölsvifir  oder  Fwlsvinnr  für  Fiölsvindr),  der 
wahrscheinlich  aus  der  mythologischen  Ueber- 
lieferung  herübergenommen  ist.  Ein  Jotne  aber 
war  hier  wegen  seiner  furchterregenden  Riesen- 
natur geeigneter  zu  einem  Burgwächter  der 
jungfräulichen  Freyia  als  ein  schwacher,  vor 
Riesen  zurückschreckender  Zwerg.  Zudem  wer- 
den die  Jotnen  ebensogut  und  noch  besser  als 
die  Zwerge  als  verständig  und  klug  ausgegeben 
und  heissen  geradezu  hundmss  (hundweise),  was 
ausdrückt,  dass  sie  die  umsichtige,  instinctive 
Spürkraft  der  Hunde  besitzen.  Was  indess 
noch  entschieden  dafür  spricht,  dass  Vielgewandt 
hier  zum  iotni  sehen  Geschlecht  gehört,  ist  der 
Umstand,  dass  er  den  aus  Jotnenheim  mit  Jot- 
nengefolge  kommenden  und  noch  in  Jotnenge- 
stalt  nahenden  OSr  (Svipdagr,  Vindkaldr)  aus 
der  Ferne  als  einen  iotnischen  Ankömmling  er- 
kennt (s.  Str.  1).  Was  die  Ueberschrift  des 
Gedichts  betrifft,  so  stammt  dieselbe  vom  Verf. 
selbst  her,  wie  daraus  erhellt,  dass  das  Gedicht 
mit  den  Worten  beginnt:  »Von  den  Zäunen 
draussen  sah  er  heraufkommen«,  wo  er  sich 
auf  Vielgewandt  bezieht,  den  bereits  der  Autor 
in  der  Ueberschrift  »Vielgewandts  Sprüche« 
hinlänglich  bezeichnet  hatte.  Bergmann  hätte 


Bergmann,  Vielgewandts  Sprüche  etc.  795 

eich  hierbei  auch  auf  SchiHers  Ring  des  Poly- 
. krates  berufen  können,  dessen  Anfangsvers  »Er 
stand  auf  seines  Daches  Zinnen«  sich  gleichfalls 
auf  die  Ueberschrift  bezieht.  Das  eddische  Ge- 
dicht stammt  nach  B.’s  Ansicht  wahrscheinlich 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  neunten  Jahr h.;  wenn 
er  jedoch  hinzufugt:  »Jedenfalls  gehört  unser 
Gedicht  einer  Zeit  an,  wo  man  schon  Burgen, 
vielleicht  sogar  Glasburgen  baute«,  so  würde 
dieser  Umstand  wenigstens  nicht  hindern  die 
Abfassung  desselben  in  eine  viel  frühere  Zeit 
zu  versetzen,  da  Burgen,  so  wie  Glasburgen 
d.  h.  Burgen  mit  verglasten  Mauern  (in  Schott- 
land vitrified  forts  genannt),  schon  in  ältester 
Zeit  und  in  fast  allen  Weltgegenden  Vorkommen; 
vgl.  zu  Gervasius  von  Tilbury  S.  151;  ferner 
Anzeiger  f.  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  1859, 
no.  1 — 8;  Ztschr.  f.  Ethnol.  Berlin  1870.  H, 
461  ff.  Auch  in  einem  lesgischen  Märchen  ist 
von  Burgen  die  Rede,  die  unten  von  Kalk,  oben 
von  Glas  waren ; s.  Awarische  Texte  herausgeg. 
von  A.  Schiefner  in  den  Mein,  de  PAcad.  Imp. 
de  St.  Petersb.  VII®  Serie.  Tome  XIX  no.  6 p. 
41,  womit  die  Nachrichten  der  Reisebeschreiber 
über  die  Trümmer  des  Belustempels  von  Baby- 
lon zu  vergleichen  sind.  Sie  fanden  dieselben 
bei  der  Stadt  Hellab  (Hillah)  noch  3 — 4 Stock- 
werke hoch  und  oben  verglast;  s.  v.  d.  Hagens 
German,  oder  Neues  Jahrb.  u.  s.  w.  Bd.  IX  S. 
21  f.  Anm.  Ebenso  ist  in  einem  Dardistani- 
schen  Märchen  von  einem  Schloss  aus  Glasstein 
die  Rede;  s.  Leitner,  Results  of  a Tour  inDar- 
distan,  Cashmere  etc.  Lahore  and  Lond.  1873. 
Part  HI  p.  4.  Der  Ort  der  Abfassung  der 
Fiölsvinnsmäl  ist  jedesfalls  ausserhalb  Islands 
zu  suchen  und  war  vielleicht  Schweden.  Weiter- 
hin äussert  B.  sich  dahin,  dass  das  Gedicht, 


796  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25« 


wie  fast  alle  Eddalieder,  eine  Tollständige,  dem 
Inhalt  nach  unversehrte  Rhapsodie  d.  h.  ein 
Spezialgesang  eines  Mythencyclus  sei , nicht 
aber,  wie  Sophus  Bugge  und  Svend  Grundtvig 
annehmen,  ein  unvollständiges  Fragment,  wel- 
ches ursprünglich  den  zweiten  Theil  von  Grou- 
galdr  und  mit  diesem  zusammen  ein  Ganzes  ge- 
bildet habe,  wie  es  sich  noch  in  dem  schwe- 
disch-dänischen Lied  von  Svedendal  (Svejdal) 
zeige,  wenngleich  allerdings  festzuhalten  ist, 
dass  letzteres  in  seinen  beiden  Theilen  eine  in- 
direkte, entfernte,  durch  Mittelglieder  vermittelte 
Nachahmung  des  Grougaldr  und  der  Fiölsvinns- 
mäl  sei.  Bergmann  stützt  seine  Ansicht  mit 
genügenden  Gründen  und  gibt  demnächst  eine 
kurze  gegen  verschiedene  Annahmen  Sophus 
Bugge’s  gerichtete  Zusammenfassung  der  Ge- 
schichte der  eddischen  Texte  und  der  für  die 
Kritik  derselben  daraus  zu  folgernden  Grund- 
sätze. Auf  den  von  B.  gegebenen  Text  und 
die  sich  daran  knüpfende  Textkritik,  Ueber- 
setzung  und  eingehende  Wort-  und  Sacherklä- 
rung der  Fiölsvinnsmäl  (und  Grougaldrs)  denke 
ich  an  anderer  Stelle  zurückzukommen;  nur 
eins  will  ich  hier  aus  der  Worterklärung  be- 
merken. Str.  36  heisst  es  nämlich:  »heil  verdr 
hver,  |>ött  hafi  Ars  sott  — ef  |>at  klifr,  kona«. 
Bergmann  ändert  ärs  wegen  der  fehlenden  Al- 
literation in  Mrs  und  erklärt  Mrs  sott  (Haar- 
krankheit) durch  »Weichselzopf«.  Jedoch  ist 
nicht  zu  läugnen,  dass  ärs  sott  (Jahreskrankheit) 
sehr  gut  »Schwangerschaft«  bedeuten  könnte, 
die  fast  ein  Jahr  dauert  (vgl.  isl.  »sink  of  manna 
völdum  d.  i.  schwanger),  wozu  kommt , dass 
heil  namentlich  von  Frauen  gebraucht  wird,  die 
nicht  schwanger  sind  (hun  svarar:  f>ü  veizt  at 
ek  em  eigi  heill  madr  [Var.  heil  kona],  ok  man 


Bergmann,  Vielgewandts  Sprüche  etc.  797 

Jat  vera  sveinbarn,  er  ek  geng  med«.  Ragnarss. 
iodbr.  c.  8),  und  also  in  jenem  Falle  Freyia 
(Menglöd)  als  Liebesgöttin  hier  ganz  passend 
den  zu  ihr  emporsteigenden  Weibern  eine  glück- 
liche Entbindung  verheisst.  Aus  der  Sacher- 
klärung hebe  ich  hier  nur  hervor,  dass  nach 
B/s  Ansicht  die  Vorstellung  von  der  Waberlohe 
dadurch  entstand,  dass  man  im  Alterthum  wie 
noch  heute  sich  gegen  Thiere  durch  einen  Kreis 
von  angezündeten  Feuern,  innerhalb  dessen  man 
sich  aufhielt,  zu  schützen  suchte,  wobei  die 
spätere  Poesie  annahm,  dass  die  Waberlohe 
gleich  andern  magischen  Waffen  Leben,  Selbst- 
bewegung und  Willen  besass  und  nur  die  Be- 
rufenen oder  Drinnenwohnenden  ein-  und  aus- 
liess,  weswegen  sie  in  Fiölsv.  Str.  31  kundig 
(vis)  genannt  wird.  In  Betreff  der  (S.  107). er- 
wähnten Sagen  von  den  Eselsfressern  will  ich 
bemerken,  dass  dieselben  wohl  mehr  als  blosse 
Sagen  sind  und  höchst  wahrscheinlich  auf  der 
Wirklichkeit  beruhen  mögen;  denn  Eselsopfer 
waren  im  Alterthum  nicht  ungewöhnlich;  s» 
Grimm  Myth.  43;  füge  hinzu  Strabo  p.  727 
(Karmanien);  Ovid.  Fasti  6,  345  (Lampsakos) 
u.  s.  w.,  und  bekanntlich  wurde  das  Fleisch 
der  geopferten  Thiere  bei  den  auf  das  Opfer 
folgenden  Schmäusen  von  den  daran  Theil- 
nehmenden  verzehrt;  so  auch  erklären  sich  die 
Spitznamen  »Kaibenfresser«,  den  sich  ganze 
Gegenden  und  Gemeinden  seit  alter  Zeit  einan- 
der zutheilen  (Rochholz,  Schweizersagen  aus 
dem  Aargau  2,  24  f.),  und  »Räpplesfresser«,  den 
die  Jesinger  führen,  weil  sie  einmal  einen  ge- 
fallenen Rappen  verzehrt  haben  sollen  (Ernst 
Meier,  Schwäb.  Sag.  no.  409).  — Ich  komme 
nun  zu  Groa’s  Zaubergesang,  gleichfalls  ein 
didaktisches  Gedicht,  welches  lehrt,  dass  es  für 


798  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stück  25. 


schwierige  Lagen  und  gegen  Todesgefahr  be- 
stimmte Zaubergesänge  gebe,  von  denen  aber 
nur  neun  (die  bekannte  mystische  Zahl)  zur 
Sprache  kommen,  deren  Rahmen  jedoch  nicht, 
wie  gewöhnlich  bei  den  mythologischen  Gedich- 
ten, einem  schon  vorhandenen  Mythus  entlehnt, 
sondern  frei  erfunden  ist.  Die  Abfassungszeit 
mag  wohl  nicht  über  das  11.  Jahrh.  hinauf- 
reichen; als  Ort  der  Entstehung  ist  wahrschein- 
lich Norwegen  anzusehen.  Da  ich,  wie  bereits 
erwähnt,  den  Text  und  die  Erklärung  auch  die- 
ses Liedes  anderwärts  eingehend  zu  besprechen 
gedenke,  so  bleibt  mir  hier  nichts  zu  bemerken, 
als  dass  die  Interpretation  beider  Dichtungen 
im  Allgemeinen  nur  wenig  zu  wünschen  lässt 
und  dass  verschiedene  Allotria  (z.  B.  der 
grösste  Theil  von  §.  46  über  Heilenberg)  als 
nicht  zur  Sache  gehörig  erscheinen,  obwol  auch 
sie  ebenso  wie  mehrfache  Wiederholungen  und 
eine  gewisse  Ueberfülle  des  Stils  dem  sich  in 
allen  Arbeiten  B’s  kundthuenden  Streben  nach 
grösster  Klarheit  und  Deutlichkeit  entspringen. 
Ueberall  aber,  auch  da,  wo  man  abweichender 
Meinung  sein  muss,  zeigt  sich  mit  welcher  Sorg- 
falt und  Gewissenhaftigkeit  B.  arbeitet,  wie  er 
stets  in  den  innersten  Sinn  seines  Gegenstandes 
einzudringen  und  keiner  Schwierigkeit  auszu- 
weichen sucht,  so  dass  selbst  durch  seine Fehl- 
schritte  nicht  selten  der  Weg  zum  Richtigen 
gewiesen  wird.  Man  kann  daher  nur  wünschen, 
dass  es  ihm  vergönnt  sein  möge,  auch  die  noch 
übrigen  Gedichte  der  Edda  auf  gleiche  Weise 
herausgeben  zu  können. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


Gravier,  Decouverte  de  FAmerique  etc.  799 

Decouverte  de  I’Amerique  par  les  Normands 
au  Xe  siede  par  Gabriel  Gravier.  Paris  et 
Rouen  1874. 

Dem  oben  genannten  Buche  fehlt  in  seiner' 
äus8ern  Ausstattung  und  Physiognomie  keine 
von  den  Eigenschaften,  mit  denen  sich  wissen- 
schaftliche oder  wissenschaftlich  sein  sollende 
Bücher  bei  Liebhabern,  Gelehrten,  Bibliotheken 
einzuschmeicheln  pflegen.  Es  ist  splendid  ge- 
druckt, auf  dauerhaftem,  solidem  Papier  mit 
vortrefflich  gewählten  und  für  einen  historischen 
oder  archäologischen  Gegenstand  und  Inhalt  sehr 
passenden  Typen.  Auch  gewahrt  man , wenn 
man  das  Buch  flüchtig  durchblättert,  dass  sein 
Text  auf  einer  bedeutenden  Masse  von  Gitaten 
aus  allerlei  gelehrten  (und  nicht  gelehrten)  Wer- 
ken schwimmt. 

Dies  ist  aber  auch  fast  Alles,  was  man  zum 
Lobe  des  Werks  sagen  kann.  Untersucht  man 
den  geistigen  Kern  und  Inhalt  etwas  näher,  so 
fühlt  man  sich  nicht  wenig  enttäuscht.  Der 
Yerf.,  obgleich  er  sich  als  Mitglied  verschiede- 
ner antiquarischer  und  historischer  Gesellschaf- 
ten ankündigt,  und  obgleich  er  allerdings  auch 
in  der  Literatur  seines  interessanten  Gegenstan- 
des, wie  schon  seine  vielen  Gitate  beweisen, 
ziemlich  bewandert  ist,  hat  offenbar  nicht  die 
kritische  Begabung  dazu,  um  sein  Material  ge- 
hörig zu  verarbeiten,  und  eben  so  auch  nicht 
das  schriftstellerische  Talent,  um  seine  Darstel- 
lung angemessen  und  würdevoll  oder  auch  nur, 
wie  die  Franzosen  dies  doch  meist  so  gut  ver- 
stehen, anregend,  elegant  und  angenehm  er- 
scheinen zu  lassen. 

Ich  will  mir  erlauben,  nur  einige  wenige  Be- 
merkungen über  das  Buch  zu  machen.  Zu  neuen 


800  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Stttek  25. 


Resultaten  über  ein  so  oft  behandeltes  Thema 
ist  der  Verf.  nicht  gekommen,  obwohl  er  sieh 
allerdings  manchen  anscheinend  sehr  phant&sfci- 
sehen  und  unbeweisbaren  Behauptungen  und  An- 
sichten überlässt.  Seine  Gläubigkeit  ist  ausser- 
ordentlich gross  und  weit.  In  Bezug  auf  die 
vorcolumbische  Zeit  Amerika’s  glaubt  er  ganz 
fest  an  Alles,  was  Andere  nur  als  eine  Hypo- 
these oder  Möglichkeit  angedeutet  haben.  Er 
nimmt  es  für  ausgemacht  an,  dass  Amerika 
schon  vor  Columbus  und  vor  den  Normannen 
mehrere  Male  von  der  alten  Welt  aus,  von  den 
Phöniziern,  Juden,  Egyptern  ete.  entdeckt  und 
bevölkert  worden  sei.  Und  er  thut  dies,  weil 
sich  unter  der  indianischen  Bevölkerung  Mexicos 
und  Centralamerikas  egyptische  und  jüdische 
Typen  von  vollkommenster  Reinheit  finden, 
»Typen,  welche  an  die  schönen  egyptisehen  Sta- 
tuen des  Museums  des  Louvre  erinnern  und  an 
das  Profil  von  Juda  (»le  profil  de  Juda«),  wel- 
ches man  noch  in  den  Ruinen  von  Karnak  sieht«. 
»Die  Reisenden«,  sagt  er,  »bewundern  in  den 
Dörfern  von  Guatemala  arabische  und  jüdische 
Costume  genau  so  wie  sie  Horace  Yernet  auf 
seinen  Gemälden  dargestellt  hat«.  Dieses  und 
dann  noch  vieles  dem  Aehnüche  über  Pytheas, 
über  Thule,  über  Scipio’s  Traum  etc.  findet 
man  in  der  langen  Einleitung  zu  dem  Buche 
(S.  I— XXXIX),  von  der  man,  glaube  icb,  nicht 
zu  hart  urtheilt,  wenn  man  sie  als  lauter  zu- 
sammengewürfelten und  nur  scheinbar  gelehrten 
Kram  bezeichnet. 

Auch  seine  Normannen  lässt  der  Verf. , in- 
dem er  sich  dabei  auf  ziemlich  schwache  Ben 
weise  stützt,  ausserordentlich  weitgehende  Ent- 
deckungen und  Wanderungen  ausführen.  Weil 
die  » tumuli «,  Befestigungen  und  anderen  alten 


Gravier , Decouverte  de  l’Amerique  etc.  801 

Erdwerke,  die  man  im  Ohio-  und  Mississippi- 
tbale  entdeckt  hat,  den  »Danish  Mounts«  in  Ir- 
land und  auch  denen  in  Dänemark  etwas  ähneln, 
so  hält  er  es  für  ausgemacht,  dass  »die  Söhne 
Odins«  von  Grönland  und  von  Canada  aus  ihre 
Colonien  auch  längs  des  ganzen  Mississippi  aus- 
gebreitet haben.  Vom  Mississippi  aus  sind  sie 
seiner  Meinung  nach  dann  auch  über  den  mexi- 
kanischen Meerbusen  nach  Südamerika  und  bis 
Brasilien  herabgekommen.  Dass  sie  hier  in 
Brasilien  waren,  wird , wie  der  Yerf.  annimmt, 
hinreichend  durch  eine  bei  Bahia  gefundene 
alte  Statue  bewiesen,  »welche  auf  einer  Säule 
steht,  den  rechten  Arm  aus  streckt,  und  mit 
dem  Zeigefinger  nach  dem  Nordpol  weist«. 
» Cette  statue,  qui  montre  au  doigt  une  patrie 
lointaine,  suffirait  ä prouver  le  sejour  d’une 
population  scandinave  dans  la  province  de 
Bahia.  — C’est  done  par  la  vallie  du  Missis- 
sippi et  la  region  isthmique  que  les  Normands 
vinrent  dans  la  province  de  Bahia,  comme  Tin- 
diquent  les  monuments,  qui  portent  leur  em- 
preinte«.  Man  findet  dies  und  noch  Anderes  in 
dem  letzten  Kapitel  des  Buchs:  »Preuves  ar- 
cheologiques  du  sejour  des  Normands  en  Ame- 
rique«.  Alle  diese  »preuves« , denen  zwar 
einige  in  vielfacher  Beziehung  sehr  beachtens- 
werthe  Fakta  und  Erscheinungen  zum  Grunde 
liegen,  sind  doch  wohl  noch  nicht  so  unwider- 
leglich spruchreif,  wie  sie  dem  Verfasser  er- 
scheinen. 

Was  das  eigentliche  engere  Thema  des  Bu- 
ches, die  Entdeckungsreisen,  Fahrten  und  Co- 
loniestiftungen  der  Normannen  auf  und  nach 
Island,  Grönland  und  zur  Ostküste  der  jetzigen 
Vereinigten  Staaten  Nordamerika^  betrifft,  so 
hat  der  Verfasser  dasselbe  trotz  seiner  regen 


802  Gott.  gel.  Anz.  1874.  Strack  25. 


Phantasie  entsetzlich  trocken  und,  — ich  glaube 
nicht  zu  viel  zu  sagen,  — ungeschickt  behan- 
delt. Das  zu  lesen  ist  eine  Pein.  Auch  ist 
nichts  Neues  darin,  nichts,  was  nicht  schon  oft 
und  besser  dargestellt  wäre.  Viel  interessanter, 
lehrreicher,  wahrer  und  charakteristischer  er- 
scheinen diese  Dinge  in  den  zahlreichen  Schrif- 
ten der  Dänen,  Engländer  etc.  über  diesen  Ge- 
genstand. Statt  sich  die  entsetzliche  Mühe  zur 
Composition  eines  neuen  Werks  zu  nehmen, 
hätte  der  Verf.,  wenn  er  seinen  Landsleuten  — 
die  übrigens  ja  selbst  auch  schon  vorher  treff- 
liche Schriften  über  die  Schifffahrten  der  Nor- 
mannen besassen  — noch  etwas  Nützliches  ge- 
ben wollte,  sich  wohl  mit  einer  Uebersetzung 
des  einen  oder  anderen  der  von  ihm  ausgezoge- 
nen und  zum  Ueberdruss  citirten  Werke,  z.  B. 
Rafn’s  »Antiquit&tes  Americanae«  begnügen 
können. 

Bremen.  J.  G.  Kohl. 


Fridankes  Bescheidenheit  von  H. 
E.  Bezzenberger.  Halle,  Verlag  der  Buch- 
handlung des  Waisenhauses.  1872.  — XIV  und 
469  SS.  gr.  8. 

In  der  Widmung  und  Einleitung  giebt  der 
schon  durch  seine  Ausgabe  des  Gedichts  vom 
heil.  Anno  (Quedl.  und  Leipzig  1848)  den  Ger- 
manisten als  Freund  altdeutscher  Studien  be- 
kannte Herr  Bezzenberger  den  Standpunct  an, 
den  er  in  dieser  Ausgabe  der  cBescheidenheit»