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A 5
/O-
Göttin ei sc Le-
gelehrte Anzeigen.
* '
• l.
Unter der Aufsicht
*
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
1894.
Erster Band.
G öttingen.
N. •
Verlag der Dieterichschen Buchhandlung.
1874.
i.
GSttingei,
Drnek der Dieterichschen UniY.-Bnchdn&ckerei.
W. Fr. Kleiner.
1
*
<1 fit t ingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 1. 7. Januar 1874.
Celsus’ wahres Wort. Aelteste Streitschrift
antiker Weltanschauung gegen das Christen-
thum vom Jahr 178 n. Chr. Wiederhergestellt,
aus dem Griechischen übersetzt, untersucht und
erläutert, mit Lucian und Minucius Felix ver-
glichen von Dr. Theodor Keim ord. Profes-
sor an der Universität Zürich. Zürich, Druck
und Verlag von Orell, Füssli et Co. 1873.
XV u. 295 S. in 8.
Ueber die Christlichkeit der heutigen Theo-
logie. Streit- und Friedensschritt von Franz
Overbeck, Dr. der Phil, und Theol. , ord.
Professor der Theologie an der Universität Ba-
sel. Leipzig, Verlag von E. W. Fritzsch. 1873.
VII und 103 S. in 8.
Indem der Unterzeichnete den ihm aufgetra-
genen Bericht über die erste Schrift mit dem
über die fast zugleich erschienene zweite ver-
bindet, ist es ihm als ob der Unterschied zwi-
schen jener ältesten und dieser allerneuesten
nur darin liege dass die Feindschaft gegen das
Christenthum in jener offen, in dieser halb ver-
I
2
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
deckt , und in jener von einem sich als solchen
laut rühmenden Heiden, in dieser von einem
solchen gepredigt werde der als öffentlich ange-
stellter Professor der Theologie sich nur nicht
offen als Heide bekennen könne. Einen andern
Unterschied zwischen beiden vermögen wir in
dem was hier allein wesentlich ist nicht aufzufinden,
wollen jedoch hier zuerst nur über Jene älteste
Schrift urtheilen, über welche man ja ganz ab-
gesehen von allem heutigen christlichen oder un-
christlichen Wesen in Deutschland abschliessend
urtheilen kann.
Des Celsus böses Buch gegen die von der
Römischen Staatsmacht mit gewaltsamer Vertil-
gung bedrohten Christen war schon um die
Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Chr. ver-
öffentlicht: allein die Christen hatten zu schwer
noch mit ganz anderen und quälenderen Wider-
wärtigkeiten zu kämpfen, als dass sie jedes der
tausend unaufhörlich und in jeder denkbaren
Gestalt gegen sie geschleuderten giftigen Worte
sogleich hätten ebenso öffentlich zurückweisen
können. So blieb dieses dickangesch wollene gif-
tige Buch, nach allem was wir jetzt wissen, zu
seiner Zeit unbeantwortet liegen; Celsus starb,
und sein Werk wäre wahrscheinlich völlig ver-
loren und vergessen, wenn nicht des Origenes
herrlicher Freund Ambrosios es fast ein Jahr-
hundert später irgendwo aufgefunden und diesen
gebeten hätte es öiner Widerlegung zu würdigen.
Der schon ins Greisenalter getretene grosse
christliche Gelehrte wollte dieser Bitte nicht
gänzlich widerstehen, und verfasste so seine ,,acht
Bücher gegen Celsus“ wollte aber auch da er
einmal seine Mühe darauf verwandte ein mög-
lichst vollkommenes Werk ausarbeiten. An Ge-
lehrsamkeit an Scharfsinn und an Schriftkunst dem
3
Keim, Celsus5 wahres Wort.
einstigen Philosophen Celsus völlig ebenbürtig,
hätte er von oben herab gegen ihn reden und
ein mehr rednerisch hinreissendes als genau in
alle die einzelnen Vorwürfe eingehendes Werk
veröffentlichen können: er that dies nicht, son-
dern ging in den gesammten Inhalt des bösen
Werkes mit voller Genauigkeit ein, und ver-
flocht so fast den ganzen Umfang der Worte und
Sätze desselben in sein Werk, um es hinreichend
klar und vollständig vor den Augen aller Leser
zu widerlegen; auch die bösesten Worte und
widerwärtigsten Gedanken des Philosophen ver-
steckte er nicht, etwa weil er nichts gesundes
und richtiges darauf hätte erwidern können,
oder weil er die zarten Ohren seiner christli-
chen Leser damit zu verletzen gefürchtet hätte.
Und so hat sein ausführliches Werk gegen den
Mann Celsus heute für uns einen doppelten
Nutzen. Es ist eine Fundgrube der mannichfal-
tigsten Gelehrsamkeit, wie man sie nur aus dem
dritten Jahrhundert nach Chr. erwarten kann,
und reicht uns viele und theilweise sehr wich-
tige Zeugnisse über Heidnisches und Christliches
aus dem Alterthume was man heute sonst nicht
findet. Aber es ist auch selbst ein gutes Zeug-
niss für die Selbstgewissheit und Herrlichkeit
des Christen thumes, so wie es in Männern wie
Ambrosios und Origenes lebte. Denn man
braucht ja nur die Geschichte der Entstehung
dieses Werkes anzuschauen, um sich davon zu
überzeugen.
Wenn nun Dr. Keim hier aus Origenes’
Buche das ursprüngliche Buch des Heiden Cel-
sus soweit es geht wiederherzustellen sucht, so
kann man das zunächst als ein rein wissen-
schaftliches Verfahren betrachten und schätzen.
Man sucht ja jetzt aus allen uns irgendwie zu-
1*
4
Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 1.
gänglichen Quellen die verloren gegangenen
Bücher des Alterthums aller Völker wiederher-
zustellen: warum sollte nicht auch der alte Phi-
losoph und Christenfeiud dieses Glück uud diese
Ehre heute unter uns finden ? Dieser Celsus ist
dazu unter allen alten Heiden welche das Chri-
stenthum schriftlich bekämpften nicht nur der älte-
ste uns bekannte, sondern auch der beste und in
seiner Art vollkommenste d. i. giftigste: warum
nicht am liebsten sogleich den ärgsten aller Feinde
kennen lernen, mit welchem man sie eigentlich
schon alle kennt? Zwar konnten alle Gelehrte
welchen es darum zu thun war, schon aus Mos-
heims 1745 erschienenen und in ihrer Art (wie
alle Werke Mosheim’s) ausgezeichneten Ueber-
setzung des grossen Werkes Origenes’ den In-
halt fast des ganzen Celsusbuches leicht über-
sehen, weil Mosheim alle Worte des Celsus mit
grossen Buchstaben hat drucken lassen: allein
warum sie nicht heute auch zu noch grösserer
Bequemlichkeit der Leser rein für sich zusam-
menstellen? Zwar standen dem heutigen Wie-
derhersteller keine neue gelehrte Hülfsmittel zu
dem Zwecke zu Gebote: allein wir beeilen uns
an dieser Stelle zu sagen dass die deutschen
Leser hier wirklich eine , so * weit das heute
leicht möglich ist, recht vollständige und zuver-
lässige Wiederherstellung der WTorte des Heiden
gegen die Christen finden. Man wird hier we-
nige Worte treffen die nicht deutlich und treu
genug Deutsch wiedergegeben wären : wiewohl
es an diesen nicht fehlt. So wird die Rede S.
137 f. wirkljch sehr verwirrt und unverständlich,
weil der Uebersetzer die Worte aus Celsus nach
8,09 nicht nur unmittelbar mit den anderen
nach 8,71 verbindet, sondern auch nicht be-
merkt dass der Sinn des Satzes sich mit seinem
5
Keim, Celsus’ wahres Wort.
du und ihr im Verlaufe dieser zweiten Stelle
völlig ändert. Auch der sorgfältigere Leser kann
sich hier nicht zurecht finden, weil ihm nicht be-
merkt wird dass die Haltung der Rede sich mit den
Worten pi%q^ndvtwv . . . aXufxopivuiv völlig ändert,
indem Celsus selbst die Rede oder vielmehr den
Gedanken den er eben einem Christen in den
Mund gelegt hat geradezu spottend umdrehet
und frägt wird nicht etwa irgend eine
Herrschaft ? Ein Fragwörtchen wie py mag
vor einem plans verloren gegangen und so für
äpa zu lesen seyn. Das Griechische Wortgefüge
des Buches ist in den bisherigen Ausgaben sehr
ungenügend, und wartet noch auf seinen sach-
kundigen und geschickten Hersteller. Allein in
solchen Fällen kann doch die Uebersetzung so-
gleich deutlich eingerichtet werden: während an
dieser Stelle der Sinn des verschlungenen lan-
gen Satzes auch deswegen dem Leser ganz un-
verständlich bleibt weil der deutsche Uebersetzer
den folgenden Satz wo Origines selbst von sei-
nem Standorte aus näher auf ihn eingeht und
ihn zu widerlegen sucht völlig auslässt. Den
Spott und Hohn (oder, wenn man es nach der
heutigen Sprache hören will, die Ironie)
in der Rede eines Heiden und dazu eines Phi-
losophen muss man richtig finden können, wenn
man einen Celsus verstehen will. Auch Mos-
heim hat freilich an dieser ganzen langen Stelle
den wahren Sinn nicht erreicht, trotzdem dass
er auch hier sehr frei zu übersetzen sich begnügt.
Allein es ist bekannt dass heute alle die
Schriften der ärgsten Christenfeinde sogar solchen
Deutschen welche Philosophen und Theologen
seyn wollen die liebsten sind ; und wie der Lud-
wigsburgische Strauss die christenfeindlichen
Schriften eines Reimarus mit Vorliebe betrachtet
6
Gott. gel. Adz. 1874. Stuck 1.
und sie neu herausgibt, ebenso hätte er wohl
auch den Celsus längst aus der Griechischen
Hülle des Origenes erlöst , wäre das nicht viel
schwieriger als etwa einen Reimarus herausge-
hen. Wir bemerken nun hier zwar mit Vergnü-
gen dass Dr. Keim auch in Sachen des Anti-
christen Celsus keineswegs mit Hu. Strauss, ja
auch nicht einmahl mit seinem einstigen Tübin-
gischen Lehrer Baur zu weit gehen will. Den-
noch erblicken wir ihn auch hier noch immer
von der Vorneigung jener grundverkehrten
Schule für die Gedanken und Werke der Chri-
stenfeinde nicht genug befreit. Seine Urtheile
über den Geist und Willen des Christenfeindes
Celsus wie er sie S. 257 f. auspricht, sind viel
zu günstig und eben deshalb für Bibel und
Christenthum viel zu ungünstig. Wir wollen
hier nur zweierlei hervorheben. Er meint »Cel-
sus* Kritik so mancher dogmatischer und noch
mehr geschichtlicher Partien des Judenthums
und Christenthums, insbesondere der Schöpfungs-
geschichte und der Sagengeschichte alter und
neuer Zeit überhaupt, habe schadhafte Inklina-
tionen und bedenkliche Schwächen der neuen
siegenden Religion aufgezeigt«. Allein Celsus
kommt zu Bibel und Christenthum gerade so
wie ein Bär mit seinen Tatzen über ein ihm
verhasst gewordenes sei es thierisches oder
menschliches Wesen herfallt: Bibel und Chri-
stentum sind ihm von vorn an verhasst, und er
redet und schreibt über sie ohne sie im gering-
sten zu verstehen nur um sie zu zerfetzen und
zu zerreissen, wenn’s gelänge! Und es muss uns
ernstlich leid thun dass Dr. Keim auch über
die Schöpfungsgeschichten der Bibel und die
»Sagengeschichten« derselben nicht besser ur-
theilt, Dinge die man ebenso leicht wie alles
7
Keim, Celsus’ wahres Wort«
andre übel anwenden kann und die in der
Kirche oder vielmehr von einzelnen Gliedern
der Kirche unendlich oft übel verstanden und
angewandt sind, ohne dass man deshalb auf
der einen Seite den unsterblichen Inhalt welchen
sie in sich tragen übersehen und auf der anderen
den zarten Duft des Geistes aller wahren Reli-
gion vergiften sollte welcher über sie ausgebrei-
tet ist. — Sodann meint er den Mann Celsus
insofern ungemein entschuldigen und empfehlen
zu können als er es mit den Christen doch un-
verkennbar gut gemeint und sie so geschickt
ermahnt habe sich doch dem Willen des Kaisers
zi^ unterwerfen. Allein wir bedauern auch die-
ses ganz anders betrachten zu müssen. Dass
ein Mann der gelehrter Philosoph seyn will und
mit Platon viel um sich wirft , nicht überall so
ganz offen die Keule schwingen wird, ist selbst-
verständlich. Allein statt der Keule steht ihm
ja die Zunge zu Gebote : und wer genau zusieht
wie dieser Epikureer diese schwingt, oder wer
auch nur die oben berührte Stelle 8,71 seines
Buches richtiger versteht als sie hier bei Dr. K.
wiedergegeben ist, der wird begreifen dass ein
Philosoph gar nicht giftiger und feindlicher schrei-
ben kann als dieser Celsus es sich gegen die (wie
er wusste und wie er spottet) völlig wehrlosen
Christen erlaubte. Man kann einem Tacitus der
in grossen Geschichtswerken nur ganz bei-
läufig die Christen berührt seine haarsträuben-
den Urtheile über sie eher verzeihen als einem
Philosophen Celsus der dicke Bücher über sie
allein schreibt ohne sie richtig zu kennen.
Letzteres führt uns dann auch auf den ein-
zig geraden Weg hin auf welchem Dr. Keim den
Celsus hätte richtig schätzen sollen. Wer als
Philosoph etwas öffentlich beurtheilen will, muss
8
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
offenbar den Gegenstand einer Lehre oder ei-
ner Schrift zuvor ganz genau kennen soweit er
nur gegenwärtig erkennbar ist, bevor er über
ihn zu reden oder gar in alle Welt zu schrei-
ben beginnt. Thut er das nicht, so ist er eben
keirf Philosoph, sondern man mag ihn sonst nen-
nen wie man will. Auch wäre es verkehrt
diese Forderung gegen einen Philosophen des
heidnischen Alterthums nicht aufstellen zu wol-
len: hatten Männer wie Sokrates und Platon
nicht umsonst gelebt, so hatten sie bei allen
Mängeln und Irrthümem wenigstens auf den
richtigen Weg hingewiesen, obgleich dann Ari-
stoteles weil er schon das ganze Gebiet alles
Forschens und Wissens umfassen wollte eben
deshalb im einzelnen doch nur weniges gründ-
licher erschöpfen konnte. Allein die Griechi-
schen Weisheitsschüler schritten auf dem allein
richtigen Wege zwar nach einigen Richtungen
hin wo es mehr auf die Betrachtung des Sinn-
lichen in der Welt ankommt herrlich voran,
verstanden aber das Geistige richtig zu begrei-
fen und zu beherrschen immer weniger, und
wurden ihrer grossen Menge nach ebenso blosse
redselige und schreiblustige Tagesdiener wie wir
dieses auch unter uns in unsern Tagen genug
vor Augen sehen. Sobald nun das Christen-
thum und schon früher das Judenthum da-
zwischen kam, vollzog sich unter ihnen die
mächtige Scheidung welche man heute endlich
einmal wieder genauer erkennen sollte. Die
ernster unter ihnen gestimmten bewunderten
schon vor Christus das A. T. , so weit sie es
verstanden; und wurden dann in grosser An-
zahl Christen. Die übrigen wurden mit ihrer
Kunst Spötter und Verächter des Christenthu-
mes bloss weil sie es nicht verstanden und die
Keim, Celsus’ wahres Wort. 9
Macht des Staates damals nicht auf Seiten der
Christen stand. Und Celsus ist in diesem sei*
nem Buche durchaus nichts als ein oberflächli-
cher gelehrter Schwätzer über Dinge die er zu
ergründen sich keine Mühe gibt. Seine Eitel-
keit gibt sich sogar schon in der Aufschrift die
er seinem Werke gab hinreichend zu erkennen:
er nannte es zwar nicht wie Dr. Keim meint
schlechthin Das wahre Wort oder wie ein
heutiger Buchmacher sagen würde Die Wahr-
heit; das ist bloss sein abgekürzter Name,
unter dem es von anderen Schriftstellern be-
zeichnet wird, und diese Aufschrift würde an
sich ganz unklar sein ; er nannte es Das
wahre Wort gegen die Christen. Allein
er machte es damit nur ebenso wie tausende
unserer heutigen Schriftsteller und Aufschriften-
macher.
Wir wünschten Dr. K. hätte an den Mann
diese allein für ihn passende Richtschnur ge-
legt: er hätte ihn dann gewiss weit treffender
und gerechter beurtheilt. Da er übrigens den
Gegenstand mit einem sehr gelehrten Fleisse
behandelt, so gelangt er dennoch wenigstens in
einer wichtigen Sache zu einem Ergebnisse wel-
ches ihn weit von dem Pfade der Strauss-Bauri-
schen Schule ablenkt. Er muss bei einer ge-
naueren Betrachtung der NTlichen Bücher welche
dem Celsus Vorlagen zugeben dass zu seiner
Zeit das Johannesevangelium längst mit zum
Kanon der Evangelien gezählt wurde. Dies
wussten zwar alle die längst welche von der
einen Seite dieses Evangelium von der anderen
die älteste Geschichte des Christenthumes bes-
ser kannten: allein welchen Schlag versetzt der
Verf. damit allen den Gelehrten welche heute
sich über alles steif eingebildet haben dieses
10
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
Evangelium sei nicht vom Apostel! Leider aber
greifen auch hier bei ihm, weil er dies Evange-
lium nun einmal verwerfen will, dennoch noch
immer wieder die alten Vorurtheile seiner
Strauss-Baurischen Schule ein: er will nun
solche Zeugnisse über das Ansehen dieses Evan-
geliums in der alten Kirche dadurch schwächen
dass er sie in so späte Zeiten herabsetzt als
ihm nur irgend nach seinen Voraussetzungen
möglich scheint. So will er S. 272 beweisen
das Sendschreiben an Diognetos sei erst zwi-
schen 177 — 180 nach Chr. geschrieben. Allein
der einzige Grund welcher dafür beweisend sein
würde, ist der dass er in C. 7 eine Anspielung
auf »zwei Kaiser, Vater und Sohn, M. Aurel
und Commodus« findet. Vergleicht man jedoch
die Worte in ihrem Zusammenhänge auf diese
Versicherung hin, so sieht man sofort wie grund-
los diese ist. Denn dort ist nur beispielsweise
von einem Könige die Rede der einen Sohn an
seiner statt wohin sendet: das geschieht aber
(sofern es überhaupt Sinn hat) zu allen Zeiten;
und man könnte mit demselben Rechte meinen
die in allen drei ersten Evangelien wiederhol-
ten Worte Matth. 21, 37 seien erst in dieser
Zeit geschrieben. Was aber Celsus selbst be-
trifft, so gibt der Verf. zu er sei derselbe Epi-
kureer welchen Origenes als den Verfasser die-
ses Werkes nennt; demnach müsste es also
mehr ein blosser Kunstgriff sein wenn Celsus
sich in diesem Werke am meisten auf Platon
beruft. Wir bedauern dabei nur dass der Verf.
S. 278 Origines’ Worte (4, 36 am Ende) über
Celsus als Epikureer mit seinem Lehrer Baur
unrichtig versteht und übersetzt: vergleicht man
diese Worte mit den andern 8, 76 wo Origenes
leider mehr nur kurz berichtet was er bei Cel-
Keim, Celsus* wahres Wort. 11
sus las, so kann man nicht zweifeln dass Cel-
sus am Ende seiner Schrift angekündigt hatte
er werde vermittelst eines späteren Werkes wel-
ches nur Origines hier (fvvtaypa nennt, in zwei
Büchern zeigen wie die Christen nach seiner
eignen (also der Epikureischen) Weise leben müss-
ten wenn sie ihm folgen 1) wollten und 2)
könnten. Wollte er hier zeigen wie man leben
müsse, so verstand sich von selbst dass er von
Herakleitischen und Platonischen Worten zu
Epikureischen übergehen musste; und in der
Lebensphilosophie standen damals (bevor die
Neuplatoniker mächtig wurden) nur Stoiker und
Epikureer einander gegenüber; dass Celsus aber
kein Stoiker war, ersieht man aus seinem er-
haltenen Buche deutlich. Auch diese zweite
Schrift in welcher demnach Celsus sich ganz als
Epikureer wie er auch am Ende dieser ge-
äussert hatte enthüllen musste, wollte Origenes
widerlegen, sobald sein Ambrosios wie er ver-
sprochen sie ihm brächte: und es lässt sich
leicht denken dass ihm hier die Widerlegung
noch viel leichter geworden wäre. Aber Am-
brosios hatte sie, als Origenes mit seiner uns er-
haltenen Schrift fertig war, noch nicht aufge-
funden. Dass jedoch Origenes sich ganz genau
erkundigt hatte dieser Epikureer Celsus den er
von einem andern gleichnamigen unter Nero
wohl unterscheidet habe zu Hadrian’s Zeit und
noch längen* gelebt, sollte doch niemand zu
läugnen noch heute so ungerecht sein. Und
die Gründe nach denen unser Verf. meint Cel-
sus habe erst 178 n. Ch. geschrieben, sind so
wenig beweisend dass man seine Schrift ebenso
sicher in die erste Hälfte der Herrschaft des
Antoninus Pius setzen kann. Der Zustand des
Römischen Reiches auf welchen sich Dr. Keim
12 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
beruft war schon damals der Art wie ihn Cel-
6U9 schilderte, und wie er sein musste seitdem
Hadrian durch das Aufgeben der Trajanischen
Eroberungsreichskunst aller Welt verrathen
hatte wie schwach das Komische Reich in der
That sei.
— Wollen nun heute in Deutschland neue
Celsusleute aufstehen, so ist wenigstens so viel
zu fordern dass sie offen auftreten und jenem
alten Heiden auch darin gleichen: man kann
dann leicht sehen ob sie neue Gründe gegen
das Christenthum vorzubringen haben, oder im-
mer nur das alte dürre Stroh uns wieder an-
bieten. Die Französischen Umsturzmänner vor
mehr als 80 Jahren hatten bekanntlich diesen
Muth und diese Folgerichtigkeit ihres Denkens
und Schreibens: die Geschichte hat gezeigt was
aus ihnen bis heute geworden ist. In Deutsch-
land hat endlich der Ludwigsburgische Strauss
vor einem Jahre vollkommen und vor allem
Volke enthüllt was, wie die besseren Kenner
wussten, schon vorher seit langen Jahren stets
in seinem Geiste verborgen lag : allein dass man
wissenschaftlich genommen heute gar keine so
lange Widerlegung wie sie einst Origenes schrieb
gegen solche Irrthümer und falsche Bestrebun-
gen nöthig hat, wurde damals alsbald in die- *
sen Gel. Anz. 1873 S. 136 — 149 bewiesen. Es
müsste ja sonderbar sein und wäre allerdings
ein Beweis gegen die Wahrheit Äs Christen-
thumes, wenn die Theologie d. i. die christliche
Wissenschaft von ihrem ersten grossen Vertre-
ter Origenes an bis heute nicht solche Fort-
schritte gemacht hätte welche der langen Reihe
der inzwischen verflossenen Jahrhunderte ent-
sprächen. Aber solche sind gemacht; und wis-
senschaftlich ist es uns daher heute noch viel
Overbeck, Ueb. d. Christlichkeit d. h. Theologie. 1 3
leichter als einst dem Origenes die Einwürfe
aller neuen Celsusleute sogleich vollkommen
zurückzuweisen.
Das ist wenigstens in Deutschland möglich:
aber das wahre Uebel ist dass es unter uns
heute so viele Gelehrte und sogar Theologen
giebt welche nicht offen aufzutreten wagen und
doch sich zu jener Seite hinneigen, als wä- .
ren sie wohl gerne wie Celsus und wie der
Ludwigsburgische Schriftsteller, fänden es aber
in eben dieser helldunkeln Gegenwart noch nicht
gerathen sich völlig zu enthüllen. Leider macht
die zweite der obengenannten Schriften ganz
diesen Eindruck, und wir müssen vor allem
hier bemerken dass sie das gar nicht enthält
was sie ihrer Aufschrift nach verspricht. Ob
»unsere heutige Theologie« christlich sei, also
aus den unwandelbaren Wahrheiten und uner-
schöpflichen Tiefen des Christenthumes ge-
schöpft oder von jenen mehr oder weniger ab-
gefallen und um diese unbekümmert sei oder
nicht, das ist eine Frage die sich heute sehr
wohl aufwerfen und nützlich beantworten liesse.
Man könnte dabei alle unsre heutigen theologi-
schen Parteien durchnehmen und jeder die Irr-
thümer nachweisen in welche sie entweder schon
gefallen sei oder zu fallen drohe, jeder auch die
Mängel aufdecken an denen sie zur Zeit leide.
Denn jede Partei; auch jede theologische, ist
solchen Irrthümern und Mängeln , auch nicht
etwa in einer sondern in allen Kirchen ausge-
setzt; und je deutlicher sich in Deutschland
gegenwärtig alles zu einem hohen kirchlichen
und demnach auch theologischen Kampfe zu-
spitzt, desto unterrichtender müsste es sein
jene Frage richtig zu beantworten. Wir kauf-
ten uns deshalb dieses Buch: sehen uns nun
14
Gott. gel. Anz. 1874. Stück I.
aber in jener Erwartung sehr getäuscht. Allein
der Verf. selbst scheint auch etwas ganz ande-
res mit seinem Buche gewollt zu haben: denn
die innere Seite desselben führt die Nebenauf-
schrift »Streit- und Friedensschrift« vielmehr
allein; und wenn der Verf. nichts als sie auf
das äussere Blatt gesetzt hätte, so würde er
keine solche Erwartung erregt haben. Wir hal-
ten uns aber bei unserer Beurtheilung eben des-
halb bloss an den Sinn dieser Aufschrift zwit-
terhaften Inhaltes.
Der obenerwähnte Hr. Strauss veröffent-
lichte einst »Streitschriften«: unser Verf. ist
noch heute, auch nachdem jener sich ganz ent-
hüllt hat, ein grosser Verehrer von ihm, und
veröffentlicht auch so eine Streitschrift. Er
streitet nun in dieser S. 70 — 78 wirklich auch
gegen die neueste Straussische Schrift: allein er
ist so weit davon entfernt die unheilbaren
Grundgebrechen der (wie er sie noch immer ge-
nannt und geehrt wissen will) »kritischen«
Theolologie deutlich einzusehen und gründlich
zu meiden, dass er sich nur die »Erlaubnisse
ausbittet »die Hast und Rücksichtslosigkeit
nicht zu theilen mit welchen der (von Strauss
sogenannte) neue Glaube (der aber gar kein
Glaube ist) uns die Bande des alten zu zer-
reissen lehrt«. Nichts ist für den Sinn und die
Zwecke des Verf. sprechender als dies: im
Grunde seufzt er nur dass jener Mann plötzlich
und vor der Zeit so rücksichtslos sich enthüllt
habe. Ein bekannter Seufzer welcher vielfach
in unserer Zeit und auch laut genug erschallt,
aber nirgends ein rechtes Verständniss und
noch weniger ein Erhören findet. Man ist ent-
setzt, man seufzt über zu grosse Hast und
Rücksichtslosigkeit, und will die Sache selbst
Overbeck, Ueb. d. Christlichkeit d. h, Theologie. 15
doch nicht gründlich von sich weisen, lässt sich
vielmehr (da beständiges Seufzen zu unangenehm
ist und man sie im Grunde billigt) bald genug
von ihr weiter und weiter ziehen. Wie die
Dinge vor jedes wissenschaftlichen Mannes Auge
längst klar lagen, hegte jener Sohn und zugleich
Vater der Tübingischen Schule theologischer
Philosophen schon seit über 30 Jahren nur et-
was versteckter ganz dieselben Gedanken und
Bestrebungen die er jüngst der günstigen Ge-
legenheit wegen völlig enthüllte: dass jemand
die günstige Gelegenheit am Zipfel festhält,
kann ihm an sich nicht zum Tadel gereichen;
und was ist da über Hast und Rücksichtslosig-
keit zu klagen? Fühlte jedoch der Verf. sich
wirklich durch die Veröffentlichung der paar
Bogen eines längst bekannten Schriftstellers so
übel berührt, so hätte er ja dadurch tief genug
über eine so unliebe rohe Sache nachzudenken
endlich Gelegenheit und Aufforderung genug ge-
habt. Statt dessen bleibt er noch immer ebenso
wie er es früher war der Anhänger und Be-
iober einer Schule die er die »kritische« nennt,
während längst bewiesen ist dass sie eine durch
und durch unkritische ist. Er bleibt wie bei
den eiteln Voraussetzungen so auch bei den
grundlosen Ergebnissen dieser durch die Wis-
senschaft ebensowohl wie durch die Christlich-
keit längst widerlegten Kirchenschule stehen,
und weiss sogar die Begriffe und Namen der
Dinge nicht anders zu stellen als wie sie diese
Schule gestellt und wie sie dazu die neueste
Zeit ihm geheiligt hat. So streitet er denn
zwar, wie eben gesagt, nur halb und etwas miss-
vergnügt gegen den »neuen Glauben« des Bü-
chelchens von 1872, mit vollem Vergnügen aber
gegen die beiden Parteien welche er die apo-
16 Gott, gel, Anz. 1874. Stuck 1.
logetische (als wäre es eine Dummheit oder
gar ein Verbrechen das Christenthum verthei-
digen zu wollen!) und die liberale nennt,
spricht bei dieser besonders auch gegen Dr.
Keim und die Schweizer und gegen Dr. Schen-
kel mit dessen heutigem Protestantenvereine.
Gegen diesen Verein hat zwar nicht bloss der
Verf. zu reden: allein das üble ist dass der
Verf. gerade das an ihm nicht tadelt was christ-
lich und kirchlich genommen am wenigsten zu
billigen ist.
Indessen will der Verf. seine Streitschrift ja
auch zu einer Friedensschritt machen: man
wird nur leider schon zum voraus ahnen dass,
wenn er so wenig richtig zu streiten weiss,
auch der Frieden welchen er bringen will so
gut wie gar kein Frieden sein kann. Und
wirklich trifft dies nur zu sehr ein. Er meint
man möge doch Christenthum und Theologie,
da Hr. Strauss gar zu heftig und rücksichtslos
gegen sie vorgehe, trotz ihrer grossen Mängel
nur noch ein wenig, nur eine nächste Zwischen-
zeit hindurch ertragen: also etwa so wie ein
Arzt das Leben eines zwar unrettbaren aber
langsam kranken Mannes durch milde Behand-
lung zu fristen und seinen demnächstigen Tod
zu erleichtern sucht. Und als das Hauptmittel
welches diesem Kranken Erleichterung und Trost
gewähren soll, räth er an man möge öffentlich
einen Unterschied zwischen esoterischem und
exoterischem Christenthum machen um die Geist-
lichen nicht auf jenes sondern auf dieses zu
verpflichten. Wäre nun letzteres wirklich so
nothwendig wie der Verf. meint, so könnte ja
das Christenthum keinen Augenblick weiter,
auch nicht einmal' auf jene Teufelsfrist hin be-
stehen die ihm der Verf. aus hoher Güte noch
Overbeck, Ueb. d . Christlichkeit d. h. Theologie. 1 7
gönnen will. Denn es ist bekannt dass ein
Unterschied zwischen öffentlichen und geheimen
Lehren wol einst von Griechischen Philosophen
gemacht wurde, im Christenthume aber von An-
fang an und durch sein Wesen unmöglich ist.
Auch die disciplines arcani im dritten Jahrh.
nach Chr. (auf welche Bich übrigens der Verf.
nicht beruft) hatte nur vorübergehende Bedeu«
tung, entsprang aus Zeitumständen welche das
gerade Gegen theil der heutigen sind, und sollte
nicht das Cbristenthum aufzulösen sondern seine
volle Kraft für bessere Zeiten aufzusparen die-
nen. Wenn also der Verf. keinen andern Frie-
den anzurathen weiss, so wäre es unstreitig bes-
ser er beredete alle heutigen Deutschen, Theo-
logen und Nichttheologen, sofort in den »neuen
(glaubenslosen) Glauben« des Ludwigsburgi-
schen Mannes einzutreten. Ja wer wie der
Verf. überzeugt ist das Christen thum könne und
werde bald vorübergehen, der hat überhaupt
keinen solchen Glauben mehr wie ihn ein Christ
haben muss.
Blickt man nun auf die Gründe welche den
Verf. in glatter Sprache so zu reden treiben,
so stösst man da nur auf die schweren Irrthu-
mer seiner verkehrten Kirchenschule, die aber
für ihn bereits zu Dogmen geworden sind, so
dass sich dabei nur der in unsern Tagen schon
alte Satz erneuert dass gerade die welche wie
der Verf. am meisten gegen Dogmen schreien
selbst nur in den Ketten ihrer eignen für sie
bereits ganz starr gewordenen Dogmen sich
bewegen. Zwischen dem christlichen Glauben
und der Wissenschaft sei unversöhnliche Feind-
schaft; das ist so ein erstes Dogma an welches
er von jener Schule her starr glaubt: alsob er
jucht wissen könnte dass von Origenes7 Tagen
2
18
Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 1.
an bis in unsre eignen Jahrhunderte herab ge-
rade die am meisten wissenschaftlichen Männer
und die strengsten Denker stets die besten
Christen waren 1 Wissen und Glauben sind
allerdings zweierlei höchst verschieden# Dinge,
allein nur so wie Vernunft und Einbildung sehr
verschiedene Geisteskräfte sind und doch in
demselben menschlichen Geiste Zusammenwir-
ken und sich gegenseitig tragen können; nur
üble Menschengeister bringen in Wissen und
Glauben oder in Vernunft und Einbildung oder
in Denken und Handeln Widerspruch und un-
lösbare Feindschaft. — Das Christenthum ver-
lange die Weltflucht: das ist so ein zweites
Hauptdogma für den Verf. ganz aus derselben
Quelle geschöpft, wobei wir nur bedauern dass
der Verf. als Theologe noch gar nicht weiss
was denn die Welt sofern man sie fliehen solle
im Sinne der Bibel und des Christenthumes sei.
Wenn der Verf. hier einmal wie zum Beweise
für sein Dogma auf die Stelle Matth. 19, 12
hinweist (die einzige Stelle der Bibel die er in
seinem Buche anfübrt), so können wir an die-
sem Orte nur kurz bemerken dass er sie nicht
verstanden hat.
Darum (um zum Anfänge zurückzukehren)
sei man nur nicht in ganz unrichtiger Weise
besorgt wenn in unsern Tagen die ganzen oder
die halben Celsusleute mit ganz neuer Gewalt
wiederkehren wollen. Es ist nicht die Wissen-
schaft welche gegen das Christen thum ins Feld
geführt werden kann, heute noch viel weniger
als einst zu Celsus’ Zeit, und am wenigsten in
der Evangelischen Kirche. Es handelt sich nur
darum ob man auch heute unter uns den Grund-
sätzen und Geboten des Christenthumes folgen
wolle oder nicht. Die Lage der Dinge ist die
I
Overbeck, TJeb. d. Christlichkeit d. h. Theologie. 1 9
dass diesen Grundsätzen und Geboten zu folgen
niemals nothwendiger und unausweichbarer war
als heute; und nur weil heute dies so viele ent-
weder nicht begreifen (was doch vor allen an-
deren die Theologen sämmtlich am vollkommen-
sten begreifen sollten), oder davor als ihrer
Meinung nach zu schwer zurückbeben (in der
Wirklichkeit aber trifft dieses beides bei den
einzelnen Menschen heute nur zu oft zusammen),
finden solche Bücher wie die des Ludwigsburgi-
schen Strauss und das vorliegende eine Mög-
lichkeit ans Tageslicht zu treten. Aber das
Tageslicht kann sie auch sofort noch schneller
als die Eintagsfliegen wieder verscheuchen; und
das wird auch den Schriften des Ludwigsburgi-
schen Gelehrten trotz ihrer wiederholten Auf-
lagen so gehen.
81. October 1873. H. E.
Debates in the house of Commons
in 1625. Edited from a Ms. in the
library of Sir Rainald K nightley, Bart.
By Samuel Bawson Gardiner. Printed
for the Camden Society. 1873. XXIV
und 190 SS.
Erst vor Kurzem ist in diesen Blättern (G.
G. A. 1872 S. 1964 ff.) der Camden-Society und
der unermüdlichen Thätigkeit, die sie seit fünf-
unddreissig Jahren entfaltet, gedacht worden.
Unter den neueren Beweisen dieses Schaffens-
Dranges verdient , um von den übrigen zu
schweigen, namentlich der uns vorliegende Band
eine Erwähnung. Auch diese Edition verdankt
man wiederum Herrn Rawson Gardiner, der so
glücklich war das schon von Bruce eingesebene
2*
i
20 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
Ms. von dem Besitzer, Sir Rainald Knightley
für den Druck zu erhalten.
Im Anhang wird ausser einigen lehrreichen
Briefen und Akten aus dem State Paper Office
ein unabhängiger Bericht der in Oxford fortge-
führten Parlaments-Debatten aus dem Harl. Ms.
5007 mitgetheilt. Er zeigt indes nicht nur
grosse chronologische Verwirrung, sondern ent-
hält auch ausserordentlich grosse Lücken. So
lässt er die grosse Rede von Sir Robert Philips
zum 5. August 1625 ganz aus, stellt zu dem-
selben Tage die Rede Sir Edward Cokes an den
Anfang u. s. w. Zu bedauern ist, dass gerade
die Debatte des 10. August in diesem Bericht
vollständig ausgefallen ist. — Der Herausgeber
spricht sich in der Einleitung klar und bündig
über den Werth dieser Publikation aus. Da
die Journale der beiden Häuser aus dieser Zeit
ausserordentlich fragmentarisch und sonstige
Berichte höchst mangelhaft sind, so war unsre
Kenntnis von den Debatten des ersten Parla-
ments Karls I. eine sehr dürftige, bis das Er-
scheinen von Forster’s ausgezeichnetem Werk
über John Eliot (London 1864) mehr Licht
über die parlamentarischen Vorgänge verbreitete.
Daselbst (s. namentlich Bd. I. p. 209 ff. II.
382 ff.) konnte nämlich ein äusserst interessan-
tes Ms. Eliots , von ihm selbst bezeichnend
»Negotium Posterorum« überschrieben, benutzt
werden. Diese kostbare Reliquie des edlen
Märtyrers der Englischen Freiheit, mit vielen
anderen wichtigen Papieren, im Familien-Archiv
des Earl of St. Germans vorgefunden, ein
Bruchtheil eines grösseren historischen Werkes,
welches Eliot plante, offenbar in der Einsam-
keit der Haft entstanden, ist ein förmliches,
fein ausgearbeitetes Memoire über das erste
Gardiner, Debates in the house of Commons etc. 2 1
Parlament Karls L, mit Wiedergabe der Reden,
Charakteristik der Hauptmitglieder der Ver-
sammlung , Einschiebung historisch-politischer
Betrachtungen : mithin eine Quelle ersten Ranges.
Ein grosser Theil des Interesse der vor-
liegenden Veröffentlichung liegt nun eben darin,
dass es möglich ist, die Aufzeichnungen des un-
bekannten Berichterstatters mit den erhaltenen
Notizen Eliots zu vergleichen, welche H. For-
ster dem Herausgeber vollständig zur Verfügung
stellte. So wird uns nicht nur die Handhabe
geboten, durch jene Aufzeichnungen den offi-
ciellen Text der Journale zu ergänzen (s. z. B.
S. 7 Anm. c. 71 Anm. b), sondern sie auch zu
einer Kritik Eliots zu benutzen. Es zeigt sich,
dass sein Parteieifer ihn doch mitunter zu fal-
schen Annahmen verleitet hat (s. S. V und 7).
Auch geht er in seinem Ms. ein Mal ganz kurz
über eine von ihm selbst gehaltene Rede hin-
weg, die sich in ziemlich erwünschter Ausführ-
lichkeit (S. 137) in dieser Publikation vorfindet.
Ich kann dem Herausgeber zwar in der Be-
hauptung nicht beistimmen, dass er sie ganz
und gar nicht erwähne (S. XIV: »which he did
not think fit even to mention«), denn bei For-
ster I. 387, der sich doch auf das »Negotium
Poster or um« stützt, findet sich eine Andeutung
davon, wenn schon die Inhalts- Angabe , ent-
sprechend der in den Journalen, nicht zu dem
vorliegenden Texte stimmt. Aber dass es bei
dieser Andeutung in Eliots Ms. geblieben ist,
dass er aus seiner Rede nicht ein Mal das
Wichtige hervorgehoben, lässt sich gewiss auf
die Gründe zurückführen, die R. Gardiner für
sein völliges Verschweigen annehmen zu müssen
geglaubt hat. »Man darf sich vielleicht nicht
darüber wundern, dass ihm nichts daran lag ins
22
Gott. gel. Anz. 1874. Stück i.
Gedächtnis zurückzurufen, was er an jenem
Tage gesagt hatte .... Es war sein letzter
Versuch zu vermitteln , der letzte Ausdruck
einer Art von Vertrauen zu Buckingham, und
Niemand liebt es an einen Versuch zu erinnern,
der völlig gescheitert ist, zumal wenn dieser
Versuch gemacht worden in Folge übel ange-
brachten Vertrauens zu einem Anderen«. Wenn
dieses schon im Stande ist den Glauben an die
unbedingte Autorität des Eliotschen Ms. zu er-
schüttern, so wäre ein noch wichtigeres Ergeb-
nis für die Kritik desselben, wenn wir bemer-
ken müssten, dass sich Eliot eine Rede in den
Mund gelegt hat, die er wohl ausgearbeitet,
aber höchster Wahrscheinlichkeit nach nie ge-
halten hat. Dies ist in der That die Ansicht des
Herausgebers mit Bezug auf die grosse Rede,
die sich bei Forster I, 414 ff. findet, und zu der,
sie mag nun gebalten sein oder nicht unzwei-
felhaft die Gelehrsamkeit Sir Robert Cottons
das Material geliefert hat. Die Frage ist nicht
leicht zu entscheiden. Dass nun auch in die-
ser Niederschrift der Debatten, wie in den Jour-
nalen das ganze Stück fehlt und statt dessen
eine Rede von Sir Francis Seymour erscheint,
fällt allerdings schwer ins Gewicht. Anderer-
seits braucht man noch nicht mit dem Heraus-
geber für entscheidend zu halten, dass in der
Rede Sir Richard Westons, die darauf, wie alle
Quellen übereinstimmend angeben, folgte, nicht
die mindeste Anspielung auf irgend eines der
Argumente zu finden ist, die Eliot vorgebracht
haben will, während sie die direkte Erwiederung
auf Seymours Worte enthält. Denn denkbar
wäre doch, dass beide hintereinander das Wort
ergriffen hätten, zuerst Eliot, dann Seymour,
den ja auch das »Negotium Post er or um«
i
Gardiner, Debates in the house of Commons etc. 2 3
(Forster I, 424) wenn schon an einer anderen
Stelle der Verhandlung an jenem Tage das Wort
nehmen lässt. Was mich bestimmt mich der
Ansicht des Herausgebers anzuschliessen, ist,
dass Sir Simonds d’Ewes in seinem Briefe (s.
p. XXIV das dort citirte Werk liegt mir augen-
blicklich nicht vor) es doch nicht hätte umgehn
können zu erwähnen, dass Eliot jene Rede ge-
halten habe, wofern es wirklich der Fall gewe-
sen. Wie kam aber Eliot dazu die Rede doch,
als sei sie gehalten, in sein Memoiren-Werk
aufzunehmen? Man mag geneigt sein anzuneh-
men, dass lediglich seine Phantasie ihm einen
Possen gespielt hat. Eine andere Erklärung
versucht H. Rawson Gardiner. Es sei wahr-
scheinlich — und dies ist es in der That schon
nach Sir Simonds d’Ewes Brief zu schliessen,
— dass der Entwurf der Rede, wenigstens in
der Form, die Cotton ihm gegeben, unter den
Mitgliedern des Hauses im Ms. circulirt habe,
womit Eliots Bericht, jene Argumente hätten
Eindruck gemacht, wohl vereinbar seien. Aber
die Worte: »that the affections of the house
were so far inflamed by what he had said« etc.,
welche nach Forster I, 422 doch wohl in Eliots
Werke Vorkommen, weisen allzudeutlicb auf
eine nach der Ansicht des Autors wirklich ge-
haltene Rede bin, als dass jener Erklärungs-
versuch zulässig erscheinen könnte. Sollte die
Annahme zu kühn sein, dass Eliot ein so schö-
nes Stück Rhetorik in seinem Werke nicht
missen wollte und für erlaubt hielt das Bei-
spiel der Alten nacbzuahmen: eine Rede einzu?
schieben, welche nicht gehalten ist, aber der
Situation angemessen, hätte gehalten sein kön-
nen, um so mehr, da sie wirklich in dieser
Form vorbereitet worden war? Die Treue sei-
24 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
ner Aufzeichnungen würde dadurch freilich noch
mehr verdächtigt, ich gestehe indes, dass ich
auch an anderen Stellen derselben, z. B. bei
Forster I, 298 in dem Bericht seiner Unter»
redung mit Buckingham etwas zu Viel von der
nachhelfenden Hand des künstlerisch gestalten*
den Memoiren-Schreibers zu finden glaube.
Die Fragen der Quellen-Kritik, zu denen
diese Berichte veranlassen können, werden indes
an Wichtigkeit noch weit überragt durch die
allgemeinen Fragen der damaligen Englischen
Politik, auf die sie einige ganz neue Streif-
lichter werfen. Die anwacbsende Verstimmung
zwischen König und Parlament, die Stellung
beider zu dem festländischen Kriege, die An-
näherung des offenen Bruches zwischen Buckingham
and Eliot, den H. Rawson Gardiner mit Grund
(und in Uebereinstimmung mit Rankes Engl.
Gesch. II, 177) erst iu’s Jahr 1626 setzt. Das
sind die Gegenstände, welche vor Allem durch
diese schätzbare Publikation neu beleuchtet
werden. Möchte der Herausgeber Müsse finden,
nachdem er sich in Besitz neuen Quellen-Mate-
rials gesetzt hat, uns auch mit einer Darstellung
dieser Epoche zu beschenken, welche sich un-
gezwungen an die beiden grösseren bistorio-
graphischen Werke anschliessen würde, die wir
Uim bereits verdanken! Erst nach vorbereiten-
den Arbeiten dieser Art kann man sich wieder
mit Erfolg der Geschichte der Englischen Revo-
lution selbst nähern, welche sich in den parla-
mentarischen Ereignissen dieser ersten Jahre
Carls I. bereits von Ferne ankündigt«.
Bern. Alfred Stem.
Richter, Annalen des Fränkischen Reichs etc. 25
Annalen des Fränkischen Reichs im Zeitalter
der Merovinger. Vom ersten Auftreten der
Franken bis zur Krönung Pippins. Mit fort«
laufenden Quellenauszügen und Literaturangaben.
Von Gustav Richter, Prof, am Gymnasium
zu Weimar. Halle, Verlag der Buchhandlung
des Waisenhauses 1873. X und 230 Seiten in
gross Octav.
(Auch unter dem Titel: Annalen der Deut-
schen Geschichte im Mittelalter. Von der Grün-
dung des Fränkischen Reichs bis zum ' Unter-
gang der Hohenstaufen. Mit fortlaufenden Quel-
lenauszügen und Literaturangaben. Ein Hülfs-
buch für Geschichtslehrer an höheren Unter-
richts-Anstalten und Studierende. 1. Abtheilung).
Fasst man das vorliegende Buch nach dem
hier vorangestellten Titel auf, so kann man ihm
nur in jeder Beziehung das beste Lob ertheilen,
während dies vielleicht zweifelhafter wird, wenn
man den andern Titel berücksichtigt, den Band
als Theil eines grösseren Ganzen, eines Hülfs-
buchs für Lehrer an höheren Unterichtsanstal-
ten zu beurtheilen hat. Ich bescheide mich
gern, nicht zu wissen, was diesen nützlich und
angenehm sein mag: die meisten, fürchte ich,
werden durch die Fülle des hier gebotenen
Stoffs mehr verwirrt als gefordert werden.
Aber auch davon abgesehen , scheint mir die
Durchführung der gestellten Aufgabe in dieser
Weise, in dem derselben gegebenen Umfang mit
nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Der
Verf. selbst deutet freilich an, dass er später
sich mehr zu beschränken haben werde, und
dass er nur aus besonderen Gründen geglaubt
in dieser Abtheilung etwas weiter gehen zu dür-
fen, wobei er besonders die »studierende Jugend
26
Gott. gel. Adz. 1874. Stuck 1.
auf den Universitäten« im Auge gehabt habe«
Meint er da die Studierenden speciell der Ge*
schichte, so wird man beistimmen: ihnen kann
ein solches Buch nur sehr nützlich sein. Ein
früher als Programm veröffentlichter Theil der
Arbeit, Annalen der Geschichte Ottos I., ist
mir nicht zu Gesicht gekommen, und so vermag
ich nicht zu sagen, wie der Verf. sich die
Weiterführung denkt, lasse das aber auch gern
dahingestellt und halte mich an den Band als
selbständiges Ganzes.
Da wird eine auf sorgfältiger Benutzung der
Quellen und der neueren Literatur beruhende
Uebersicht der älteren Fränkischen Geschichte
gegeben, genau und vollständig, wie man sie
nur wünschen kann. Der Text ist freilich sehr
knapp, ganz chronologisch, die Ereignisse kurz
andeutend; ihn begleiten aber doppelte Noten,
die regelmässigen, recht eigentlich zu dem We-
sen des Buchs gehörigen, welche die Nachweise
und meist auch die wichtigeren Worte der
Quellen geben, dazu Verweisungen auf neuere
Bücher, auch wohl einzelne kritische Erörte-
rungen, und ausserdem andere, welche noch als
weitere Zugabe erscheinen, bald auf Neben-
punkte eingehen oder speciellere Ausführungen
enthalten, mitunter aber auch mehr zusammen-
fassende Bemerkungen über einzelne Personen-
und Begebenheiten bringen. Gerade unter die-
sen verdienen einige besonders hervorgehoben
zu werden: sie bezeugen am besten, wie der
Verf. den Stoff vollständig beherrscht und gut
aufgefasst hat. Ueberhaupt ist von demselben
wohl die volle Arbeit gethan, die zu einer kri-
tischen Geschichte der Merovingischen Zeit er-
forderlich wäre, und man mag vielleicht be-
dauern , dass Hr. Richter sich nicht diese
Richter, Annalen des Fränkischen Reichs etc. 27
höhere Aufgabe gestellt hat. Auch den Ver~
fassungsverhältnissen widmet er volle Aufmerk-
samkeit und behandelt sie in eigenen Abschnit-
ten mit Rücksicht auf die neueren Darstellun-
gen sehr ausführlich (S. 27 — 32. 108 — 150).
Als selbst betheiligt kann ich nur sagen, dass
er, wenn auch im ganzen geneigt der letzten
Ausführung sich anzuschliessen , doch sich ein
eigenes Urtheil bewahrt, so z. B. das Bedenk-
liche in manchen von Sohms neuen Aufstellun-
gen wohl bemerkt und hervorgehoben hat; über
die Stellung des Majordomus, über die soge-
nannte Säcularisation des Eirchengutes vertritt
er eine selbständige Ansicht, die Beachtung ver-
dient.
Es liegt dieser Anzeige ferne auf solche strei-
tige Fragen näher einzugehen oder sonst hervor-
zuheben, wo ich von der hier vertretenen An-
sicht abweichen muss. Die Literatur ist sehr
vollständig, zum Theil noch in Nachträgen be-
nutzt; es fehlen auch die Schriften Dedericbs
nicht, der seine bekannten Ansichten über die
Entstehung des Frankenbundes eben in einer
neuen Schrift wiederholt und sich dabei beklagt,
dass dieselbe bisher keine Berücksichtigung von
Seiten der Geschichtsforscher gefunden, während
er selbst ohne alle Kunde von dem zu sein
scheint, was gegen die Existenz überhaupt eines
solchen »Bundes« der Franken gesagt ist. Ich
vermisse nur etwa Müllenhoffs Erläuterung zu
den Deutschen Völkernamen in dem Verzeich-
nis der Provinzen von 297, Leo über Beowulf,
der über die S. 229 erwähnte Zusammenstellung
der Chochilaichus und Hygelac ausführlicher
handelt (wie früher auch Dahlmann , For-
schungen I, S. 440), und eine Anzahl französi-
scher Schriften (wie Dom Pitra, Histoire de
28 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
St. Leger; Drspeyron, De Burgundiae historia
et ratione politica Merovingorum aetate u. a.),
die dem Verf. wohl unzugänglich waren; die
spätere Ausführung Dünzelmanns über die Chro-
nologie der Bonifazischen Briefe in Forschungen
Bd. XIV konnte ihm wohl noch nicht bekannt
sein; eine S. 104 angeführte Abhandlung von
Wauters über Thierri d* Alsace, wird sich nicht
auf den Austrasischen König, sondern den Nie-
derlothringischen Herzog beziehen.
G. Waitz.
Beitrag zur Kunde der norditalienischen
Mundarten im XV. Jahrhunderte von Adolf
Mussafia, wirkl. Mitglied der kais. Akademie
der Wissenschaften. Wien 1873. In Commis-
sion bei Karl Gerold’s Sohn. 128 Seiten Gross-
quart. (Separatabdruck aus dem XXII. Bande
der phil.-hist. Classe der kais. Akad. d. Wiss.).
Eine ganz vortreffliche Arbeit des ausge-
zeichneten Romanisten, auf die ich hier, wenn
auch zuvörderst nur mit wenigen Worten, hin-
weisen will, da sie dazu bestimmt scheint, eine
der wichtigsten Stellen auf dem betreffenden
Gebiete einzunehmen. Mussafia hat dabei
einige in Wien und München befindliche Hand-
schriften sowie Incunabeln und andere ältere
Drucke benutzt, welche italienisch-deutsche Glos-
sare des XV.Jahrh. und demgemäss eine grosse
Zahl Wörter und Wortformen enthalten, wie sie
um jene Zeit in einzelnen Theilen Norditaliens
in Gebrauch waren. Er giebt zuerst eine über-
sichtliche Zusammenstellung alles dessen, was
Mussafia,Beitr.z. Kunde d. nordital. Mundarten. 29
daraus in Bezug auf Laut* und Flexionslehre
hervorgeht, worauf dann das alphabetisch ge-
ordnete Verzeichniss sämmtlicher Wörter der
verschiedenen Quellen kommt, insoweit sie näm-
lich entweder rein mundartlich sind oder, ob-
wol auch der Schriftsprache eigen, doch hin*
sichtlich der Form oder der Bedeutung etwas
Bemerkenswerthes bieten, wobei jedes Wort, so-
weit dem Verf. möglich, in den andern Mund-
arten Italiens verfolgt wird. Die Vergleichung
mit denen anderer Gebiete ist bis auf einzelne
Fälle absichtlich unterlassen; dagegen sind ge-
legentlich mehrere kleine höchst schätzbare Ex*
curse über weitere Verbreitung einzelner Wör-
ter und über verschiedene Ausdrücke zur Be-
zeichnung einzelner Begriffe hinzugefügt. Der
Verf. wünscht eingehende Prüfung, Ergänzung
und Berichtigung seiner Erörterungen von Fach-
genossen; die sehr wenigen nachfolgenden Be-
merkungen können jedoch durchaus nicht als
von irgend welcher Bedeutung angesehen wer-
den und sollen zunächst nur zeigen, mit wel-
chem Interesse ich die so schätzbare Arbeit
durchgegangen ; ich hebe dabei nur die für mich
wichtigsten Stellen der betreffenden Artikel aus.
»Barbizuolo ‘kin’ . . . Auch die Crusca führt
ein Beispiel von ‘barba’ Kinn an«. Beide Be-
deutungen vereint uns das gr. y&veiov. — »JSa-
roero ‘scherg’, it. ‘berroviere, birr.7, zuerst Ge-
richtsdiener, Häscher .... Ueber das Etymon
Diez II, 222«, wonach es aus dem frz. ‘berruier’
stammt und eigentlich einen Bewohner von
Berry bedeutet , obwohl es keine Gewissheit
darüber giebt, aus welchem Grunde es zum
Appellativ geworden ist. Hierzu bemerke ich,
dass die römischen ‘Bruttiani’ gleichfalls als
Gerichtsdiener, Häscher u. s. w. fungirten und
30
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
zugleich einen Yolksnamen enthalten, wobei die
Frage entsteht, ob die von Gellius gegebene Er-
klärung über den Ursprung dieses Wortes die
richtige sei, was ich sehr bezweifle. — » Boldon
. . . (Anm. S. 35) ‘basoffia’ mundartl. . . . ‘vi-
yanda quasi liquid a composta di cose sozze’«.
Letzteres Wort findet sich auch mit derselben
Bedeutung in dem spanischen und portugiesischen
‘bazofia’. — » Destro ‘privet* . . . comsk. als Adj.
'schmutzig’ ... Für letzteres Wort stellt Bion-
delli ein deutsches ‘drist’ als Etymon auf ; es
ist aber leicht zu begreifen, dass sich diese Be-
deutung aus der von latrina entwickelte«. Ganz
richtig; man denke nur an das schlesische ‘be-
schissen’, welches ganz arglos für ‘schmutzig*
gebraucht wird; s. Grimm WB. 1, 1560, 2. —
*In pe ‘anstatt’ .. . (Anm. S. 71). Ferr. ‘impe’
bedeutet dagegen ‘neben, knapp an’, dann in
zeitlicher Beziehung ‘unmittelbar auf. ‘A pe'
in der erstem Bedeutung im ältera Venez.
Veron., bei Buzzante u. s. w.«. Ebenso port,
‘ao pe’. — »Lusene ‘pliczen’ . . . comsk. ‘sber-
lusciä, sberlus’«. Mail, ‘barluss’, welchem das
frz. ‘berlue’, Funke oder Blitz vor den Augen,
entspricht; s. Diez I, 220 s. v. Bellugae. —
» Mazaruol ‘schratel’ . . . (Anm. S. 78). Zu den
von Diez II, 371 angeführten Ausdrücken für
‘incubus’ möge folgendes Verzeichniss hinzukom-
men .... gen. ‘pantasma’. Wahrscheinlich von
‘fantasma’ mit Anlehnung an den Stamm ‘pant-'
drücken, das im ven. ‘pantezare’ com. ‘pantegih'
u. 8. w. vorkommt; s. Diez II, 396 s. v. pan-
tois . . . Folgende Ausdrücke sind mir dann
von Seiten ihres Etymons undeutlich : . . . gar-
fagnanisch ‘buffardello’ — neap, ‘monaciello’«.
Ueber ‘fantasma’ s. Grimm Myth. 450; ‘buffar-
dello’ bezeichnet wol eigentlich einen neckischen
Mussafia, Beitr. z. Kunde d. nordital. Mundarten. 31
Kobold; vgl. ebend. 478 und auch der ‘mona-
ciello’ ist kein Alp, sondern ein Nachtgeist, der
die Personen, welche ihm zu folgen den Muth
haben, zu verborgenen Schätzen führt und in
Mönchsgewand mit breitrandigem Hute erscheint,
woher auch sein Name (nach Keightley's Fairy
Mythol.); vgl. auch den von Grimm 479 ange-
führten span« Kobold! ‘era un frayle tomamto
y tenia un cucurucho tomano’; ferner die ‘moy-
nes bourez’ bei Delrius Disqu. Mag. L. H. Qu.
27. Sect. 2 p. 328a. Colon. 1657 und den
ebend. p. 342b erwähnten Schneebergischen
Berggeist (nigro cucullo vestitus’ ; ferner Mone’s
Anz. 3, 365 ff. — *Orbega ‘lorper’ ... bergam.
‘birimbaga’. Was ist der erste Theil des Wor-
tes?« Ich denke, es ist das deutsche Wort
‘Beere;’ über die Verwandlung des e in i s. S.
11 und m drängt sich oft vor b ein; vgl. Diez
WB. 1, 402 s. v. Strambo. Wir hätten hier
also eine tautologische Wortbildung , wie in
‘loup-garou, cormoran, Mongibello’; s. Diez 2,
363; füge hinzu das neap. Schimpfwort cane-
perro’ fern, ‘canazza perra’, wo das span, ‘perro’
das it. ‘cane’ wiederholt. Ganz ähnlich heisst
es in Florisende Blanceflor v. 618 ‘hondert
bliaude purpersanguine\ wo beide Theile des
letztem Wortes eben nur dasselbe besagen, und
auch in dem schwed. ‘plogärna* Bachstelze (eig.
Pflugpflügerim) scheint die nämliche Tautologie
eingetreten zu sein, weil die ursprüngliche Be-
deutung von ‘ärna’ vergessen war; vgl. Grimm
WB. 8. v. Ackermännchen. — » Quadorro (in
der Handschrift nicht ganz deutlich zu lesen)
‘eccket’. Ich verstehe das Wort nicht«. ‘Ecket’ ist
soviel wie ‘eckig*; s. Grimm WB. s. v. Sanders
WB. s. v. Ecken, und für quadorro’ lese ich
‘quadorno’ oder ‘quaderno’ mit adjectiver Be-
82 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1.
deutung ‘viereckig’, dann im Allgemeinen ‘eckig*.
» Remote ‘cleiben’. Meiner Ansicht nach von
‘re-’ und ‘molere’ also ‘remolo’ zu vergleichen
mit ‘amolum’ flos farinae bei Papias«. Letzte-
res Wort kommt in der Form ‘amylum, amu-
lum’ schon bei Cato vor; es ist das gr. äpvlo»
nnd mit ‘molere’ nur in der Wurzel verwandt.
— »Riale ‘getrewV Die für das it. ‘reale’ an-
geführte Bedeutung ‘wahrheitliebend’, churw.
‘real rechtschaffen’, hat auch im Deutschen das
Wort ‘reell’ z. B. »ein reeller Kaufmann.« —
» Siartifico ‘künftig’. Verschrieben für ‘siant’?
Oder steckt ‘arte’ darin?« Ist ‘künftig’ hier
verdruckt für ‘künstig’? oder doch nicht etwa
für ‘zünftig’, obwol ‘arte’ auch ‘Zunft’ heisst? —
» Squassacoa ‘wasserstelz’ ... (Anm. 1) • • • Sard,
‘madischedda’«. Letzteres Wort (— ■ edda be-
kanntlich ss ßlia) ist das lat. motacilla.
Die Arbeit, an welcher ausser der Gelehr-
samkeit und Sorgfalt auch noch ein hoher
Grad von Besonnenheit zu rühmen ist, schliesst
mit einem Literaturverzeichniss, das durch den
fast vollständigen Nachweis der die italienische
Dialektkunde betreffenden Lexika und sonstiger
Werke ebenfalls sehr willkommen sein wird.
Lüttich. Felix Liebrecht.
An die Abonnenten.
Um den bisherigen Preis der Anzeigen und
Nachrichten, der bei den bekanntlich sehr ver-
mehrten Kosten des Satzes und Papiers nicht
unbedeutend hätte erhöht werden müssen, bei-
behalten zu können, werden wöchentlich von den
Anzeigen in der Folge nur zwei Bogen er-
scheinen; der ausfallende halbe Bogen wird aber
durch den 6eit mehreren Jahren fast verdoppel-
ten Umfang der Nachrichten mehr als ersetzt.
33
Göttingi sehe
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 2* 14 . Januar 1874.
Monumenta Poloniae historica. Pomniki
dziejowe Polski wydat August Bielowski.
Lemberg. Verlag des Herausgebers. 1872.
XXVI und 998 S. gr. 8. (mit 8 facsimilirten
Tafeln)*).
Mit grösster Spannung sah man dem zwei-
ten Bande dieser für die polnische Geschichte
des Mittelalters so überaus wichtigen Publica-
tion entgegen. Die lange Frist von acht Jah-
ren, die seit dem Erscheinen des ersten Bandes
verflossen ist, sucht der Herausgeber (Director
der Lemberger Ossolinski’schen Bibliothek) durch
äussere, von ihm unabhängige Umstände zu
rechtfertigen. Und in der That wird man sie
begreiflich finden, wenn man bedenkt, dass er
diesem Werke nicht nur seine Mussestunden ge-
widmet, sondern auch, mit grösster Uneigen-
nützigkeit, die bedeutenden Kosten der Ver-
öffentlichung desselben bestritten hat.
*) Vgl. die Recenßion von H. Zeissberg in Sybels
Hist. Ztschr. 1873. 4. Heft. S. 403 ff.
3
84
Gott gel. Adz. 1874. Stück 2.
Vor Allem muss ein Umstand in Betracht
gezogen werden, der sich auf den allgemeinen
Plan der ganzen Publication bezieht. Man hat
oft an ihr auszusetzen gehabt, dass die Einlei-
tungen und zahlreiche kritische Anmerkungen
dem grössten Theile der fremden, der polni-
schen Sprache unkundigen Geschichtsforscher
unzugänglich sind. Man soll aber nicht ver-
gessen, dass fast sämmtliche in dieser Samm-
lung zu veröffentlichte Quellen sich auf eine
Periode der polnischen Geschichte beziehen, in der
Polen in der allgemeinen europäischen Geschichte
noch eine sehr unbedeutende Rolle spielte. Sie
kommen eigentlich fast nur für denjenigen in Be-
tracht, der sich speciell mit der polnischen Ge-
schichte beschäftigt; wenn man also den allge-
meinen Satz unangefochten lässt, dass derjenige,
der die Geschichte eines Volkes schreiben will,
auch der Sprache desselben mächtig sein muss,
wird man wohl gegen diesen Umstand nichts
einzu wenden haben. Bei Sammlungen von
Quellen, die keine universelle Bedeutung haben,
wie die SS. rerum Silesiacarum oder SS. rerum
Prussicarum, wird ja derselbe Grundsatz befolgt.
Der erste Band enthält zum grössten Theile
Auszüge aus fremden Quellen, die sich auf die
früheste Geschichte Polens (bis zum Anfänge
des XII. Jahrh.) beziehen. Diese Zusammen-
stellung von zerstreuten Stellen aus den aller-
verschiedensten Quellen war allerdings sehr
willkommen und für den Zweck der Monum.
Pol. hist, nothwendig, da die eigentliche polni-
sche Historiographie erst am Anfänge des XII.
Jahrh. beginnt. Etwas zu weit scheint der
Herausgeber in dieser Hinsicht gegangen zu
sein, wenn er die ganze Chronik Nestors in
seine Sammlung aufgenommen hat. Bei der
Bielowski, Äfonumenta Poloniae historica. 36
Dürftigkeit der Quellen zur frühesten Geschichte
Polens, war es auch zweckmässig, dass im er-
sten Bande neben historiographischen Quellen,
deren Veröffentlichung doch der Hauptzweck
der Mon. Pol. h. ist, auch das in dieser Zeit
noch überaus spärliche urkundliche Material
Aufnahme gefunden hat.
Man muss aber gestehen, dass diese beiden
Umstände eine gewisse Besorgniss über den
Plan der ganzen Publication erwecken konnten.
Der Herausgeber hat sich nicht klar darüber
ausgesprochen, wie er weiter in Betreff der
fremden Quellen und des urkundlichen Materials
zu verfahren gedenkt. Consequent musste man
erwarten, dass der für die polnische Geschichte
fast ebenso wie Nestor wichtige Cosmas, die
reichhaltigen russischen und preussischen Chro-
niken und andere auswärtige Quellen, in zweck-
mässigen Auszügen in folgenden Bänden Auf-
nahme finden werden. So erwünscht auch die
consequente Durchführung eines solchen Planes
war, erweckte derselbe andererseits die berech-
tigte Besorgniss, dass er eine kritische Edition
einheimischer polnischer Quellen bedeutend
verzögern wird. In dem jetzt vorliegenden zwei-
ten Bande hoffte man Aufschluss darüber zu
finden.
Derselbe enthält die wichtigsten Denkmale
der einheimischen polnischen Historiographie vor
Dlugosz; fremde Quellen werden hier nur durch
wenige Auszüge aus den Zwifaltener Kloster-
chroniken (Ortliebs und Bertholds) und aus den
Lebensbeschreibungen des Bischofs Otto von
Bamberg (von Ebbo, Herbord und dem Mona-
chus Prieflingen8is) vertreten. Der Heraus-
geber hat sich also durch den praktischen
Gesichtspunct leiten lassen, indem er auf den
3*
86 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 2.
ursprünglichen Plan verzichtete und vorläufig
dem Mangel an einer kritischen Edition ein-
heimischer Quellen abzuhelfen suchte. Um so
mehr muss es befremden, dass dennoch eine
Anzahl von Urkunden in diesem Bande abge-
druckt wurde. Gegen die Aufnahme von 13
Urkundenstücken, die, an verschiedenen Orten
dieses Bandes zerstreut, zur Erläuterung ein-
zelner Stellen der historiograpbischen Quellen
dienen sollen, lässt sich allerdings kaum etwas
einwenden. Ausserdem wurden aber noch 17
(zum grössten Theile in der Bibi, rerum germ,
von Jaffe herausgegebene) Urkunden in einer
besonderen Abtheilung des Bandes, als »Bullen
und Briefe, auf Polen bezüglich«, abgedruckt.
Die Aufnahme derselben kann weder durch den
Plan der ganzen Publication — da man sich
in dieser Hinsicht wohl auf die ältesten, auf das
XI. Jahrh. bezüglichen, im I. Bande abgedruck-
ten Urkunden beschränken konnte — noch durch
die praktische Rücksicht gerechtfertigt werden.
Mit einem Worte, kann dem Herausgeber der
Vorwurf einer gewissen Inconsequenz nicht er-
spart werden. Wenn vor Allem auf den prak-
tischen Zweck der Publication abgesehen wurde,
was sich durch factische Umstände vollständig
rechtfertigen lässt, so hätte auf die Aufnahme
jener Auszüge aus fremden Quellen und na-
mentlich jener 17 Urkunden, verzichtet werden
sollen. Dagegen wäre sehr erwünscht gewesen,
dass dafür der Rest von polnischen Annalen,
deren Ausgabe sich Herr B. für den folgenden
Band Vorbehalten hat*), schon in diesem Bande
*) Der Herausgeber wurde (Vorrede p. XXIII) dazu
eben durch den Umstand bewogen, dass sonst der
zweite Band einen zu grossen Umfang erreichen würde.
Bielowski, Mormmenta Poloniae historica. 37
veröffentlicht worden wäre. Forscher, denen es
die Umstände nicht erlauben, zum zerstreuten
handschriftlichen Material zu gelangen, müssen
jetzt geduldig auf das Erscheinen des nächsten
Bandes der Mon. Pol. h. warten; namentlich
wird die Brauchbarkeit der kritischen Ausgabe
der Chronik Boguphals und Godyslaws dadurch
wesentlich verringert, dass die mit derselben
im engsten Zusammenhänge stehenden gross-
polnischen Annalen in diesen Band keine Auf-
nahme gefunden haben.
Die Reihe der einheimischen Quellen wird
durch die Chronik Mierzwa’s eröffnet. Die Ein-
leitung zu derselben bildet unzweifelhaft die
schwächste Seite des ganzen Bandes. Der
Herausgeber hält hartnäckig an seiner früheren,
im eigentlichen Sinne des Wortes eigenthümli-
chen - — denn in der That von Niemandem
sonst getheilten — Ansicht fest, dass der An-
fang dieser Chronik (bis zum 23. Cap.) das äl-
teste Denkmal der polnischen Historiographie
und eine Quelle des Vincentius sei, wäh-
rend er doch offenbar, so wie die ganze Chro-
nik nur ein durch schlechte Zusätze bereicher-
ter Auszug aus Vincentius ist. Treffend wurde
einmal diese Ansicht als Vivisection des Vincen-
tius bezeichnet*). Glücklicherweise wird da-
durch die Ausgabe des Textes — so viel zu er-
sehen ist — gar nicht berührt; nur unnöthig
wurde der Anfang der Chronik von dem weite-
*) Ich verweise hier auf die oben angeführte Recen-
sion von B. Zeissberg, da es wirklich nicht der Mühe
werth ist, diese Frage weiter zu erörtern. Was den
Namen des Chronisten — Mierzwa oder Dzierswa — be-
trifft, so scheint Hr. B. Recht zu haben, wenn er die
erste Form vorzieht Vgl. Smolka, Polnische Annalen
(Lemberg, 1873) p. 24.
38 Gott. gel. Anz. 1874. StBck 2.
ren Theil e, der mit Vincentins zusammengestellt
ist, abge trennt. Auch drängt sich die Berner*
kung auf, dass der letzte annalistische Theil
der Compilation Mierzwa’s schon des Zusammen-
hangs wegen in den zweiten Band hätte auf-
genommen werden sollen.
Einen grossen Theil des Bandes (p. 194 —
453) nimmt die Chronik des Magister Vineen-
tius ein. Trotz einer Anzahl von Ausgaben der-
selben, deren zwei sogar im letzten Decennium
erschienen, hat es bisher an einer wissenschaft-
lichen, kritischen Edition gefehlt; als eine solche
kann man die vorliegende, von Hrn. B. selbst
besorgte, Ausgabe betrachten. Dem Heraus-
geber standen 10 Handschriften zu Gebote; die
Reconstruction des Textes stützt sich aber we-
sentlich auf die zwei ältesten und wichtigsten
derselben, die sog. Petersburger Kuropatnicki-
sche Handschrift (I) und die vom Grafen
Przezdziecki entdeckte und herausgegebene Wie-
ner Hs. (II). Das gründliche Buch von Zeiss-
berg über Vincentius ist dem Herausgeber lei-
der zu spät zugekommen, nachdem der Druck
der Chronik bereits beendigt war (p. 248) ;
doch hat er die Resultate der Untersuchungen
desselben über die Quellen der Erudition des
Chronisten in Randbemerkungen zu verwerthen
gewusst. Um so selbständiger erscheint die
werthvolle, 55 Seiten umfassende, kritische Ein-
leitung des Herausgebers, die, von Zeissbergs
Resultaten nicht selten abweichend, dieselben in
mancher Hinsicht ergänzt.
Manche Ansichten über diese Chronik, die
der Herausgeber vor mehr als zwanzig Jahren
in seiner »kritischen Einleitung zur Geschichte
Polens niedergelegt hat, erscheinen jetzt wesent-
lich modificirt. Früher hat er ganz entschie-
Bielowski, Monumenta Poloniae historica. 39
den die Ansicht , dass der Krakauer Bischof
Matthäus (1143 — 1165) der Verfasser der drei
ersten Bücner der Chronik sei, verfochten; jetzt
lässt er dieselbe fallen, indem er nur behaup-
tet, es sei möglich anzunebmen, dass es einen
Chronisten Matthäus gegeben habe, dessen Werk
Vincentius vorlag. »Wenn wir aber auch mit
Sicherheit behaupten könnten«, sagt er p. 229,
»dass Matthäus eine Chronik geschrieben habe,
wäre sie jetzt als verloren zu betrachten und
es wäre ein Irrthum anzunehmen, dass sie in
dem Werke des Vincentius erhalten sei«. Eine
solche Erklärung steht doch einer vollständigen
Waffenstreckung, die allerdings noch viel mehr
am Platze wäre, ziemlich nahe, was um so mehr
zu betonen ist, als Zeissberg in der oben ange-
führten Recension irrthümlich behauptet, dass
Bielowski noch immer die Ansicht aufrecht er-
hält, Matthäus sei der Verfasser der ersten drei
Bücher der Chronik.
In der allgemeinen Beurtheilung des Werths
der Chronik erscheint B. auch viel gerechter
als früher; er verkennt nicht die mannigfachen
Schattenseiten derselben. Ueberhaupt verdient
die Characteristik des Chronisten, die B. giebt,
Beachtung, indem sie auf manche wichtige Um-
stände aufmerksam macht, die Zeissberg ent-
gangen sind. Treffend beurtheilt B. den Unter-
schied zwischen der Auffassung des Gallus und
des Vincentius. »In einem und demselben
Jahrhundert haben Gallus und Vincentius ge-
lebt, der eine am Anfänge, der andere am
Schlüsse desselben. Beide schrieben selbster-
lebte Geschichte, der eine die des Vaters .(Bo-
leslaw III), der andere die der Söhne. Mannig-
faltige Umwälzungen, die sich dazwischen voll-
zogen, riefen eine wesentliche Veränderung in
40 Gott» gel. Anz. 1874. Stück 2.
«
den Auffassungen des Volkes hervor. Vincen-
tius ist der Repräsentant derselben, indem er
den Grundsätzen derjenigen, die in jenen Um-
wälzungen Oberhand gewonnnen, huldigt: da-
her rührt der Unterschied zwischen ihm und
seinem Vorgänger .... Die Verehrung der
Fürsten laus principum ist das Losungswort
des Gallus; bei Vincentius ist zu derselben Höhe,
ja sogar über dieselbe die Verehrung der
Grossen des Reichs erhoben. Im Prolog, wo er
die Wichtigkeit seiner Aufgabe darlegt, ruft er:
sacri senatus assistere tenemur suggestui, seine
Chronik beginnt mit dem Lobe der Senatoren,
der patres concripti , indem er sie mit Himmels-
lichtern, die das Reich (rempublicam) mit herz-
lichsten Thaten bestrahlen, mit goldenen Säu-
len, auf denen das Gebäude des Vaterlandes
ruht, vergleicht. Die Beachtung dieses Stand-
puncts des Vincentius erleichtert die Beurthei-
lung des Ganzen und zeigt zugleich die Schat-
tenseiten seines Werkes. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass die älteren Söhne Boleslaws HI.
sich gewisser Missbrauche schuldig gemacht har
ben; gewiss ist aber auch, dass bei den,.Ei>
hebungen gegen dieselben nicht minder wichtig?
Factoren im Spiel waren, die in persönliche!?
Eigensinn und Ehrgeiz der Grossen des Rei-
ches lagen .... Auf diese Factoren pflegt Vinr
centius keine Rücksicht zu nehmen; beredt,
wenn es sich um Missbräuche der Fürsten und
um das Lob der Magnaten handelt, wird ep
auffallend schweigsam, wo man erfahren möchte,
was für Rücksichten auf Jacob oder Gedeon
eingewirkt haben, bis es zur Bildung jener
Petarde kam, die den Thron Wladislaws II.
oder Mieszkos III. umgestürzt hat . . . Bei Gal*
lus wird die Herrlichkeit, die den Thron der
Btelowski, Monumenta Poloniae historica. 41
Monarchen umgab, denselben zu Ehren gerech-
net; von Vincentius wird sie streng getadelt,
mit Verachtung erzählt er ja vom Ehrgeiz und
der Prunkliebe Wladislaws II.; eine Ohrfeige,
die Kasimir II. einmal geduldig ertragen haben
soll, gilt in einer bei Vine, angeführten Rede
eines Grossen als die beste Empfehlung zum
Throne«.
Der wichtigste Punct, in dem die Ansichten
von Bielowski und Zeissberg divergiren, ist die
Frage nach der Abfassungszeit der Chronik.
Zeissberg erblickt in einer Stelle derselben eine
bildliche Andeutung darauf, dass sie im stillen
Cisterzienserkloster, in dem der Chronist die
letzten Jahre seines Lebens zugebracht hat, ent-
standen ist; interessant ist es, dass Gutschmidt,
auf ebenso metaphorische Interpretation einer an-
deren Stelle gestützt, die Abfassung der Chronik
in die Zeit versetzt, da Vincentius Bischof von
Krakau war,. Wenn man aber den panegiri-
schen Ton, in dem Vine, über Kasimir den Ge-
rechten (f 1194) spricht, so wie die mehrmalige
directe Anrede an diesen Fürsten bedenkt,
wird man die Ansicht Bielowski’s vorziehen,
dass er den Auftrag zur Abfassung seiner Chro-
nik von Kasimir erhielt, nicht erst von dessen
Sohne Leszko, von dem nur in den letzten Ca-
piteln des Werkes und bei weitem nicht in so
auszeichnender Weise die Rede ist. Es wäre
übrigens sonderbar, wenn Vincentius, nachdem
er auf seinen Bischofssitz verzichtet und sich in
die Stille des contemplativen Lebens zurückge-
zogen batte, mit höfischer Dienstfertigkeit auf
Leszko’s Wunsch seine Chronik zu schreiben
angefangen . hätte ; leichter ist dies von einem
Manne zu vermuthen, vor dem noch eine ehren-
volle Laufbahn offen stand und der durch seine
1
42 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 2.
Gelehrsamkeit die Aufmerksamkeit des die Wis-
senschaft liebenden Kasimirs leicht anf sich
lenken konnte.
Mehr aber als diese subjectiven Gründe
spricht dafür ein wichtiger Umstand, anf den
Bielowski zuerst aufmerksam geworden ist. Bis
zum 17. Gap. des IV. Buches weichen die Hss.
I und II mitunter beträchtlich von einander ab.
In II scheint der Text vollkommener ausgear-
beitet zu sein; in I fehlen die in II vorhande-
nen Aufschriften einzelner Bücher, auch ist
darin am Anfänge des I. Buches eine Auslas-
sung wahrzunehmen, aus der sich schliessen
lässt, dass an das Manuscript, von dem wir in I
eine Abschrift besitzen, noch nicht die letzte
Hand gelegt wurde*). In, den letzten Capiteln
des IV. Buches dagegen, vom Cap. 17 ange-
fangen, weichen die Hss. I und II viel weniger
von einander ab; in der Hs. I sollen diese Ca-
pital von einer anderen Hand, als der übrige
Theil der Chronik, geschrieben sein. Merkwür-
dig ist, dass diese beiden Handschriften I und
II in dem letzten Theile der Chronik eine
Eigentümlichkeit theilen, die bei den sonstigen
Abweichungen derselben höchst characteristisch
ist; nach den Worten consilium et auxilium
im 25 Cap. des IV. Buches folgt in ihnen ein
Absatz von 60 Zeilen aus dem folgenden Capi-
tel und erst nach demselben wird in der Fort-
setzung des Cap. 25 zurückgekehrt. Höchst
wahrscheinlich ist also die Vermutung Bie-
*) In II lautet der Anfang des I. Baches: Fuit,
fuit quondam in hac republica virtus, — in I finden wir
das unverständliche : Quondam in hac republica virtus.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die ersten beiden Worte
in der Vorlage der Hs. I nachträglich miniirt werden
sollten und deshalb vorläufig ausgelassen wurden.
Bielowski, Monumenta Poloniae historic*. 43
lowski’s, dass die Hs. I ursprünglich nur die
erste Redaction der Chronik, die bis zum 17.
Cap. des IV. Buches reichte, enthielt; erst spä-
ter wurden die folgenden 9 Capitel von einer
anderen Hand und zwar aus einer dem ms. II
nahe verwandten Handschrift zugesetzt. Diese
Annahme wird noch durch die Interpolation be-
stätigt, die sich in allen Hss. mitten im 17.
Cap. findet: »Vidit enim Vincentius, qui scripsit
hoc et 8cimus, quia verum est testimonium
ejus«. Hier endigte also ursprünglich die erste
Redaction der Chronik und zwar mit der Er-
zählung von der Versöhnung zwischen Kasimir
und Mieszko. Nach dieser Interpolation folgen
im Cap. 17 noch einige Phrasen über die Ver-
dienste des Vermittlers dieser Versöhnung, des
Erzbischofs Peter, woran sich ein Lobgedicht
auf ihn anschliesst; im folgenden Capitel wird
die Erzählung über die Regierung Kasimirs
fortgeführt. Die letzte directe Anrede des Chro-
nisten an Kasimir ist im 16. Cap. des IV. Bu-
ches zu finden, im 20 Cap. wird sein Tod be-
schrieben. Die Ansicht Bielowski’s, dass die
erste Redaction noch znr Zeit Kasimirs ent-
stand, wird durch diese Umstände nahezu zur
Gewissheit erhoben.
Höchst willkommen ist die neue Ausgabe der
zwei wichtigen Erzeugnisse der grosspolnischen
Historiographie aus dem XIII. und XIV. Jahrh.,
der Chroniken Boguphal-Godyslaws und Johanns
von Czarnkow. Bei der Ausgabe der ersten
Chronik, um die sich der Warschauer Rechts-
gelehrte W. A. Maciejowski verdient gemacht
hat, wurde allerdings, wie erwähnt, nicht alles
getban, was gethan werden konnte und sollte,
da man sich nicht bemüht hatte, das eigen-
thümliche Verhältniss zwischen der Chronik und
44
G5tt. gel. Am. 1874. Stack 2.
den grosspolnischen Annalen zn erklären. So
lange dies nicht geschehen ist, so lange jene
Annalen zur Herstellung des Textes der Chro-
nik nicht verwerthet wurden, kann keine Aus-
gabe der letzteren den Anspruch darauf erho-
ben, die wesentlichsten Anforderungen der hi-
storischen Kritik erfüllt zu haben. Damit soll
aber der vorliegenden auf genauer Vergleichung
von vier Hss. beruhenden Ausgabe nicht ein
grosses Verdienst abgesprochen werden; wenn
man sie aus angegebenen Gründen nicht als
vollkommen befriedigend bezeichnen kann, so
ermöglicht sie doch die wissenschaftliche Be-
nutzung dieser wichtigen Chronik, die bisher —
so wie die Chronik Johanns von Czarnkow —
nur in dem höchst fehlerhaften Abdrucke Som-
mersbergs (SS. rer. Siles. II. 1730) vorlag.
Musterhaft kann die von dem dazwischen
leider zu früh verstorbenen Krakauer Gelehrten
Szlachtowski besorgte Ausgabe Johanns von
Czarnkow genannt werden. Der Herausgeber
hat mit mannigfaltigen Schwierigkeiten zu käm-
pfen gehabt. Diese Chronik ist uns nämlich in
neun unter einander verwandten Handschriften
erhalten, die sämmtlich ausserdem auch die
Chronik Boguphal-Godyslaws und das eigen-
thümliche bisher noch nicht untersuchte Ge-
misch von grosspolnischen Annalen umfassen.
Die einzelnen Capitel der Chronik sind in ein-
zelnen Hss. verschiedenartig verschoben, einige
derselben waren sogar erst aus jenem losen an-
nalistischen Gefüge auszusondern. Die hand-
schriftliche Ueberlieferung ist im Ganzen sehr
fehlerhaft, es kommen mitunter Auslassungen
und Entstellungen vor, zu denen der Parteistand-
punct des Chronisten den Anlass gegeben hat.
Auch war man bisher noch uneinig darüber,
Bielowski, Moxmmenta Poloniae historica. 45
wo eigentlich die Arbeit J's v. Cz. beginnt.
Die dem Chronisten eigentümliche, memoiren-
artige Erzählung beginnt erst im (4) Capitel:
de morte regis Kazimiri Poloniae; der Heraus-
geber betrachtet mit Recht die in allen Hand-
schriften in verwickeltster Weise verschobenen
und in zwiefacher Redaction*) vorliegenden Ca-
pitel: »de morte Wladislai Lokyetk regis Po-
loniae«, »de coronatione Kasimiri regis Pol.«
und »Quomodo (Kasimir) regebat regnum et
populum« als eine Art Einleitung, die der Chro-
nist der Abrundung des Werkes wegen seinen
Memoiren vorgesetzt hat. Es scheint aber,
dass die kurze annalistische Compilation, die in
Sommersberg II. 94—96 unmittelbar vor dem
Capitel »de morte Wladislai« steht, auch für
Johann von Czarukow zu vindiciren ist. Den
Anfang derselben bildet ein Auszug aus den
Krakauer Capitelannalen ; der fremdländische
aus deutschen Quellen herrührende Stamm der-
selben**) wird fast vollständig in die Compila-
tion aufgenommen, die eigentlichen Krakauer
Aufzeichnungen dagegen nur sehr flüchtig ex-
cerpiert. Mit dem Jahre 1279 beginnt der
selbständige Theil dieser Compilation, ein kur-
zer Ueberblick über die wichtigsten Ereignisse
der polnischen Geschichte seit dem Tode Bo-
leslaws des Keuschen von Krakau, in dem die
Eigentümlichkeiten des Styls Johanns v. Cz.
*) Der Herausgeber betrachtet die kürzere Fassung
jener Capitel als ursprüngliche Entwürfe des Chronisten,
die später ausgearbeitet und dem Werke beigefügt wur-
den; man muss es bedauern, dass er sie in seiner Aus-
gabe nicht mitgetheilt hat.
**) Vgl. Waitz, Verlorene Mainzer Annalen in Nach-
richten von der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften u*
d. G.-A.-Univ. zu Göttingen. 1873. No. 15.
46
Gott. gel. Anz. 1874. Stüde 2.
nicht zu verkennen sind. Er schliesst mit dem
Berichte über den Krieg Wladislaw Lokieteks
mit dem Deutschen Orden im Jahre 1331; das
Capitel »de morte Wladislai« (f 1333) erscheint
somit als Fortsetzung dieser Aufzeichnungen.
Der Umstand, dass der Herausgeber dies über-
sehen hat, ist um so mehr zu bedauern, da der
Lubiner Codex (VII), der sonst der Sommers-
berg’schen Ausgabe ziemlich nahe steht, in Be-
treff dieser Compilation — wie wir p. 610 er-
fahren — von derselben beträchtlich abwei-
chen soll.
Einen höchst willkommenen Beitrag zur Kri-
tik polnischer Geschichtsquellen des Mittelalters
erhalten wir in der sorgfältigen und genauen
Beschreibung der neun die Chronik Johanns
enthaltenden Codices, namentlich des Römischen
Cod. Ottobonianus und des Pariser Cod. San-
divogii. Mit Hülfe derselben kann man sich
eioigermassen über die handschriftliche Ueber-
lieferung von grosspolnischen Annalen orientiren.
Der Herausgeber theilt diese Codices in zwei
Gruppen ein, deren eine die Codd. I — IV, die
andere V — IX umfasst. Diese Eintheilung ist
insofern richtig, als sie sich auf die hand-
schriftliche Ueberlieferung der Chronik Johanna
v. Cz. bezieht. In Betreff der Anordnung der
grosspolnischen Annalen ist das Verhältniss et-
was anders. Die Codd. II und III bilden in
dieser Hinsicht eine, die Codd. V — VHI eine
andere Gruppe, die mit dem Cod. I nahe ver-
wandt ist; die Codd. IV und IX kommen in
Betreff jener Annalen fast gar nicht in Betracht.
Das im II. Bande der Mon. Pol. h. heraus-
gegebene annalistische Material besteht wesent-
lich in den im XIX. Bande der Mon. Germ. h.
edirten polnischen Annalen; nur zwei neue
Bielowski, Monumenta Poloniae historica. 47
Denkmale ohne grosse Bedeutung sind hinzuge-
kommen: die Annales Sandivogii und ein Frag-
ment von Czerwinsk’er annalistischen Notizen.
Der Fortschritt der früheren Edition gegenüber,
besteht, von hie und da zerstreuten Einzelhei-
ten abgesehen, hauptsächlich in der sorgfältigen
Ausgabe der überaus wichtigen Krakauer Ga-
pitelannalen. Die genaue Beschreibung der
Handschrift liefert einen erwünschten Beitrag
zur Würdigung des Quellenwerthes derselben;
dem interessanten, von den früheren Editionen
ungemein stiefmütterlich behandelten Prolog,
welcher — wie es sich jetzt herausgestellt hat
— von dem im J. 1269 zum Krakauer Dom-
herr erhobenen Wisson stammt, hat Bielowski
die ihm gebührende Sorgfalt zugewandt. Auch
der am Anfänge der Capitelannalen befindliche
kurze Auszug aus dem lib. V cap. 39 der Isi-
dorischen Libri etymologiarum, den die frühe-
ren Editoren ausgelassen haben, hat B. mitge-
theilt. Mit Recht hat er mit den Capitelanna-
len anstatt der Ann. cracov. compilati, die in
den Mon. Germ, neben denselben abgedruckt
sind, die mit ihnen am nächsten verwandten
Ann. crac. breves zusammengestellt. Mit der
Veröffentlichung der kurzen am Anfänge der
letzten Annalen befindlichen Zeitberechnung
»secundum beatum Jeronimum« wird man wohl
einverstanden sein, zumal dieselbe eine Andeu-
tung darauf enthält, dass die Ann. crac. breves
in die späteren Ann. S. Grucis aufgenommen
worden sind. Gegen die Zusammenstellung je-
nes oben erwähnten am Anfänge der Chronik
Johanns von Czarukow aufbewahrten Auszuges
aus den alten Capitelannalen mit den späteren
Ann. capit. crac. wird man auch kaum etwas
einzuwenden haben, da dieselbe zur Kritik der
48 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 2.
letzteren beitragen kann; ganz entschieden muss
man sich aber gegen die jenem Ansznge von
Bielowski gegebene Bezeichnung »grosspolnische
Annalen« und seine damit zusammenhängenden
weiteren Schlüsse wenden. Ich verweise hier
auf meine oben angeführte Abhandlung über die
polnischen Annalen p. 66, wo ich diese Frag*
ausführlicher behandelt habe.
Ein wirklicher Rückschritt der früheren Aus-
gabe gegenüber ist leider in Betreff der Ann.
Polonorum wahrzunehmen. Wenn man einer-
seits die Zusammenstellung der Ann. Polonorum
mit den ihnen sehr nahe verwandten Ann.
cracov. compil. zweifellos billigen muss, so wird
andererseits durch die einseitige ausschliessliche
Berücksichtigung der I. Redaction der ersteren
die ganze Ausgabe vollständig unbrauchbar ge-
macht. Nur durch Vergleichung aller vier Re-
dactionen dieser Annalen bei einer jeden in Be-
tracht kommenden Stelle ist es möglich, sich
eine Vorstellung von der ursprünglichen Grund-
lage, deren Modificationen sie sind, zu machen.
— Die am Anfänge der Redactionen II— IV be-
findlichen Notizen über meist auswärtige Er-
eignisse der Jahre 899 — 964 wurden von Bie-
lowski abgesondert als älteste »kleinpolnische
Annalen« edirt. Unterdessen ist bereits in der
vor kurzem erschienenen »Polo. Geschichts-
schreibung« von Zeissberg gezeigt worden, dass
sie aus der Weltchronik des Martinus Oppav.
stammen. Sehr willkommen ist auch die neue
Ausgabe des wichtigen Krakauer Kalendars (und
Nekrologs), in den Eintragungen aus verschiede-
nen Jahrhunderten (dem XIII., XIV. und XV.)
durch verschiedenen Druck hervorgehoben sind.
Dr. Stanislaw Smolka.
Papers relating to the Treaty of Washington. 49
Papers relating to the Treaty of Washing-
ton. Geneva Arbitration. Washington:
Government Printing Office. 1872. 8°. Vols
I — IV (856 S. XVII und 604 S. XVI und 653 S.
XI und 573 S.)
Notes upon the Treaties of the United
States with other Powers; with references
to negociations preceding them; to their exe-
cutive, legislative or judicial construction; and
to the causes of the abrogation of some of
them. Preceded by a list of the treaties and
conventions with foreign powers, chronologically
arranged, and followed by an analytical index
and a synoptical index of the treaties. Washington.
Government Printing Office. 1873. Gross 8°.
(245 S.)
Es soll hier auf zwei auf Veranlassung der
Regierung der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika herausgegebene Werke hingewiesen wer-
den, die nicht nur für das öffentliche Recht der
grossen transatlantischen Republik, sondern für
die Literatur des allgemeinen Völkerrechts über-
haupt hervorragende Bedeutung haben. Ein
Verfasser ist weder auf dem Titelblatt noch
hinter der Vorrede genannt, aber zu ihrer
Herausgabe war ein in diesen Stücken beson-
ders befähigter Staatsmann autorisirt worden,
über den zunächst das Erforderliche bemerkt
werden mag. J. C. Bancroft Davis ist der
Neffe des durch sein treffliches Geschichtswerk
gleich sehr wie als Mensch und Gelehrter auch
unter uns Deutschen allgemein verehrten Ge-
sandten der Vereinigten Staaten in Berlin. Auch
der Name seines Vaters John Davis hatte in
der Heimath einen guten Klang; Mitglied des
4
50
Gott. gel. An z. 1874. Stück 2.
Senats der Union für Mass&chussets, gehörte er
der gegenwärtig verschwundenen Partei der
Whigs an, jener Gruppe besonnener Staats-
männer aus dem Norden, die sich vor dreissig,
vierzig Jahren um Daniel Webster scharten um
sowohl die Union drinnen gegen die drohende
Spaltung als ihr nach Aussen ein zuträgliches
Handelssystem zu sichern. Bancroft Davis hatte
die juristische Laufbahn ergriffen und unter-
brach dieselbe nur, als er 1850 auf einige Jahre
als Legationssecretär der Gesandtschaft in Lon-
don beigegeben wurde, von wo aus er sich viel-
fach auch auf dem Continent umsah. Später-
hin liess er die eigene glänzende Thätigkeit als
Anwalt erst wieder fahren, als ihn Präsident
Grant zum Unterstaatssecretär im auswärtigen
Amt zu Washington machte von vornherein in
der Absicht, sich die Dienste des in internatio-
nalen Angelegenheiten bewanderten Mannes za
sichern, sobald es die mit der grossbritanni-
schen Regierung seit dem vierjährigen Bürger-
kriege zwischen Union und Confederation (1861
— 1865) schwebenden Streitigkeiten zu -entschei-
den galt. Davis ist, was nicht sofort allgemein
bekannt geworden, der Verfasser der schneidi-
gen amerikanischen Anklageschrift, deren Publi-
cation wegen der hohen für die sogenannten
Indirect Claims beanspruchten Summen vor
zwei Jahren so grosses Aufsehn machte. Der
Präsident ernannte ihn alsdann zum Agenten
der Vereinigten Staaten beim Arbitrations Con-
gress in Genf, wo er im Jahre 1872 gegen den
britischen Agenten Lord Tenterden zwar nicht
jene indirecten Ansprüche im Werthe von Mil-
liarden, aber die Verurtheilung Grossbritanniens
für gewisse ihm nachgewiesenen Fälle des Neu-
tralitätsbruchs, eine namhafte Entschädigung
Papers relating to the Treaty of Washington. 5 1
von 15,500,000 Dollars und vorzüglich principiell
die gütliche Entscheidung eines solchen Streits
durch internationale Vermittlung durchfocht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Niemand
befähigter war die Actenstücke über so denk-
würdige Verhandlungen, ein vollständiges, na-
mentlich auch für die Weiterbildung der Prin-
cipien lehrreiches Urkundenbuch, herauszugeben
als gerade dieser Staatsmann.
Die vier mit der bekannten Opulenz der
Regierung von Washington ausgestatteten und
freigebig zur Verfügung gestellten Bände bergen
ein reiches Material zur Geschichte der nun
bald seit hundert Jahren getroffenen Entschei-
dungen für und wider die Krieg führenden Par*
teien so gut wie die Neutralen zumal nach der
seerechtlichen Seite. Um von der Fülle des
Inhalts einen Begriff zu geben, diene folgende
Aufzählung.
Der erste Band beginnt mit nochmaligem
Abdruck der von Davis verfassten, so allgemei-
nes Aufsehn erregenden Anklageschrift: The
Case of the United States laid before the Tri-
bunal of arbitration convened at Geneva, auf
Grund des zwischen den beiden streitenden
Mächten zu Washington am 8. Mai 1871 ge-
schlossenen Vertrags, wonach sie ihre Sache
durch ein internationales Schiedsgericht austra-
gen lassen sollen. Darauf folgt: Case presented
on the part of the Government of Her Britannic
Majesty, ein sehr umfangreiches Machwerk, dem
eine Menge officieller Schreiben und Gutachten
eingeflochten sind. Daran schliesst sich noch
umfangreicher: The Counter Case of the United
States, nach kurzer Einleitung eine vollständige
Sammlung officieller Correspondenz im ersten
Theil zu den verschiedenen internationalen Ver-
4*
52 Gott gel. Anz. 1874. Stack 2.
Wicklungen der Vereinigten Staaten von 1811
bis 1869, im zweiten Theil der Schriftwechsel
wegen Cuba von 1866 bis 1871 und die diplo-
matischen Erörterungen, zu denen die Ereignisse
des Bürgerkriegs mit anderen europäischen Staa-
ten wie mit Brasilien geführt haben, nebst Aus-
zügen aus dem geschriebenen Recht dieser Staa-
ten. Die Masse dieser, falls im Original wieder-
gegebenen meist auch mit Uebersetzung ver-
sehenen Documents reicht weit hinein in den
zweiten Band. Erst ü, 198 beginnt: Counter
Case presented on the part of the Government
of Her Britannic Majesty, eine Abhandlung,
welche nicht nur die Amerika zu machenden
Gegenvorwürfe aufführt, sondern fast doctrinäre
Zuflucht zu der völkerrechtlichen Literatur der
Deutschen und der Franzosen, der Italiener und
der Spanier nimmt. In den Beilagen finden
sich z. B. ganze Abschnitte aus Heffter, Das
Europäische Völkerrecht der Gegenwart, 3 Aus-
gabe, im Original ausgezogen. Hierauf folgen
die vom Staatsdepartement in Washington an
J. C. B. Davis als Agenten und an die ameri-
kanischen Anwälte ertheilten Instructionen, die
Briefe und Berichte zur Einsetzung des aus
Amerika und England, aus Sardinien, Schweiz
und Brasilien bestehenden Tribunals zu Genf
am 15. December 1871, zu dem Zusammentritt
desselben am 15. April 1872 und über einen
Zusatzartikel zum Vertrage von Washington bis
herab in den Juni.
Der dritte Band enthält die allgemeinen
Plaidoyers von amerikanischer und englischer
Seite abermals mit den erforderlichen Beilagen
und dann die besonderen Gutachten der An-
wälte beider Theile. Eine Menge Tabellen für
und wider die Schäden und deren Verhütung
Papers relating to the Treaty of Washington. 53
dienen zur Erläuterung der advocatorischen In-
terpretation. Im vierten Bande folgen auf den
Generalbericht von Mr. Davis an Mr. Fish, den
Staatssecretär in Washington, Paris September
21. 1872, die Protocolle der einzelnen Sitzungen
und p. 49 ff. der bekannte Spruch des Schieds-
gerichts. Daran schliessen sich die schriftlich
abgegebenen Vota von Graf Sclopis, Vicomte
d’Itajuba und Herrn Staempfli, die englische
Uebersetzung im Text, das französische Original
unter dem Strich. Eben so geschieht es mit
dem Votum des amerikanischen Schiedsrichters
Mr. Adams, aber nicht mit der höchst ausführ-
liehen, mit einem grossen Aufwand von Rechts-
gelehrsamkeit ausgestatteten Arbeit des Eng-
länders Sir Alexander Cockburn, die nur im
englischen Original abgedruckt ist. Sie strotzt
von Citaten, diplomatischen und völkerrecht-
lichen, doch erscheinen die Auszüge aus Heffter
und Bluntschli im französischen Gewände. Die
letzten Schriftstücke sind ein Schreiben von
Fish an Davis vom 22. October, worin er noch
nachträglich gegen gewisse Auffassungen Cock-
burn8 Verwahrung einlegt, und der Schlussbe-
richt der amerikanischen Anwälte vom 25. No-
vember. Am Ende des Bandes finden sich die
Aeus8erungen verschiedener Staatsmänner und
der Presse Grossbritanniens und des europäi-
schen Continents über die Ausführung des Ver-
trags von Washington übersichtlich ausgezogen.
Ein jeder Band ist zum Nachschlagen mit be-
quemen Inhaltsverzeichnissen versehn. Zu den
Raubfahrten der Alabama und der anderen Pi-
ratenschiffe finden sich mehrere treffliche Kar-
ten, in Band I von amerikanischer Seite der
mexikanische Golf mit scharfer Angabe aller
Inseln und Plätze unter britischer Flagge, in
54
Gott. gel. An z. 1874. Stück 2.
Band II von englischer Port Philipp Bay bei
Melbourne so wie in Band IV die Gewässer
zwischen Liverpool und der Insel Anglesea.
Von dem zweiten Werke, welches ursprüng-
lich ein Theil einer im Jahre 1871 für den Con-
gress veranstalteten Ausgabe von Staatsverträ-
gen bildet, sind nur wenige Exemplare abge-
zogen. Es bietet aber einen höchst werthvollen
Wegweiser zu der ganzen diplomatischen Ge-
schichte der Union von ihrem ersten Entstehen
bis zur Gegenwart, für den Historiker wie für
den Staatsmann gewissennassen den Schlüssel
zu sämmtlichen officiellen Ausgaben und zu der
ganzen Masse der im Gesammtarchiv registrir-
ten Verträge.
Im Anschluss an eine vollständige Liste
sämmtlicher mit auswärtigen Mächten geschlos-
senen Verträge und Conventionen, chronologisch
angelegt vom 6. Februar 1778 (Frankreich) bis
zum 7. Juni 1873 (Grossbritannien) handelt der
Verfasser in einer kurzen äusserst präcisen Ein-
leitung 1) über die diplomatische Entwicklung
der Unionsregierung von dem Aufstande gegen
Grossbritannien bis auf diesen Tag, 2) von der
Feststellung gewisser staatsrechtlicher Principien
aus einer Anzahl von Verträgen durch die
oberstrichterlichen Autoritäten der Union, 3)
über die Resolutionen des Congresses in Betreff
des Vertragsrechts zumal in solchen Fällen, wo
Legislatur und Executive entgegenstehender Mei-
nung waren, 4) über die Geschichte desStaats-
secretariats für auswärtige Angelegenheiten aus
den Acten desselben. Eine Liste aller Staats-
secretäre bis herab auf Hamilton Fish ist bei-
gefügt.
Hieran schliessen sich alphabetisch geord-
nete Bemerkungen (Notes) zu einzelnen Mate-
Not upon the Treaties of the United States etc. 5 5
rien und Staatsverträgen, eine Verbindung, die
bei der ersten Benutzung etwas Störendes hat,
denn mitten zwischen Staaten und Ländern, un-
ter denen Barbary States, Borneo, Madagascar
eben so wenig fehlen wie China und Japan, be-
gegnen Paragraphen über Claims, Commerce,
Consuls, Extradition, Naturalization, Neutrals,
Gleich der Anfang wird gemacht mit abrogirten
oder sonst ausser Kraft getretenen Verträgen,
besonders mit Staaten, welche seitdem in andere
aufgegangen sind wie die italienischen Einver-
leibungen seit 1860, die deutschen seit 1866.
Sehr bedeutendes Detail steckt in den Erläute-
rungen, welche der Geschichte der diplomati-
schen Beziehungen mit Frankreich und mit
Grossbritannien gewidmet sind. Aber auch auf
andere Paragraphen muss hingewiesen werden,
auf Spanien, Colombia, Mexico, Peru u. s. w.
wegen der Trennung der central- und südame-
rikanischen Colonien vom Mutterland, ihrer An-
erkennung durch die nordaroerikanische Union
und die gegenwärtigen Beziehungen zu dersel-
ben, auf Dänemark hinsichtlich der Aufhebung
des Sundzolls, auf Preussen, welches Friedrich
der Grosse noch durch den bekannten Vertrag
von 1785 auf gutem Fuss mit dem jungen Frei-
staat brachte, dann wegen der allemeusten Her-
gänge, der in Washington mit Freuden begrüss-
ten seerechtlichen Declaration vom Sommer
1870 und Bismarcks vor dem Reichstag abge-
gebenen Erklärung hinsichtlich der Wehrpflicht
in den Vereinigten Staaten sesshaft gewordener
Deutschen, auf Russland, von dem es kurz heisst :
seine ununterbrochen guten Beziehungen zu den
Vereinigten Staaten bieten glücklicher Weise
wenig Stoff zu »Bemerkungen«.
Den Schloss bilden zwei Verzeichnisse: ein
\ Gott. gel. Anz. 1874. Stflck 2.
inlytisches in Bezog auf die in den Verträgen
»-handelten Gegenstände, und ein synoptisches
it specieller Angabe der Titel der Verträge,
>r Daten ihres Abschlusses, der Verhandlung
l Senat, der Ratification durch den Präsiden-
m, Auswechslung der Ratificationen und Ver-
iindigung durch den Präsidenten. Beide Ver-
öchnisse sind alphabetisch angelegt, greifen
ichgemä88 in einander und liefern jeden wün-
:henswerthen Nachweis zu den gedruckten und
ogedruckten Acten. Ueber die Einzelverträge
er früheren Staaten des deutschen Bundes, der
ansestädte Bremen und Hamburg insbesondere
aterrichtet das letztere am Besten.
R. Pauli.
The successive visions of the Cherubim di-
dnguished, and newly interpreted; showing the
rogressive revelation through them of the
octrine of the Incarnation, and of the Gospel
f redemption and sanctification. By S. R.
osanquet, M. A. member of the Society of
rts. London, Hatchards, 1871. — VIH nnd
54 S. in 8.
Dieses uns zugesandte Buch behandelt einen
>wohl künstlerisch als christlich allerdings
benso wichtigen als schwierigen Gegenstand,
ber welchen beute recht wohl und recht nütz-
ch ein Buch von 162 Seiten veröffentlicht wer-
en könnte. Allein so wie der Verf. ihn hier
ehandelt, wird er uns weder gewisser undkla-
er noch fördernder und erspriesslicher. Wir
ahen in Deutschland jetzt hinreichend sicher
Bosanquet, The succes. visions of the Cherubim. 5T
erkannt dass die Kerftbe Saraphe und andere
solche himmlisch-göttliche Gestalten in der Ge-
meinde der wahren Religion wie sie seit Mose
besteht sich als Ueberbleibsel jener ältesten
noch äusserst bilderreichen und im Bilderreich-
thume mit allem Heidentbume wetteifernden Re-
ligion erhalten haben welche schon in den ent-
ferntesten Urzeiten die der Vorfahren des Vol-
kes Israel war; dass sie sich in der Gemeinde
zunächst nnr aus künstlerischen und dichteri-
schen Antrieben erhielten, aber je länger sie
sich in ihr erhielten, desto mehr von dem
höhern Geiste durchdrungen und wie wiederge-
boren wurden welcher der wahren Religion eigen-
tümlich ist ; und dass sie so schliesslich in ihr
eine Bedeutung empfingen vor welcher ihre ur-
sprüngliche immer mehr wie erblasste ohne doch
je sich vollkommen verlieren zu können. Diese
Gestalten göttlicher Einbildung (alle diese Worte
in ihrem entsprechend besten und reinsten
Sinne verstanden) versinnlichen uns demnach,
so wie sie zerstreut in der Bibel erscheinen,
von der einen Seite den Zusammenhang aller
wahren Religion wie sie seit Mose unter Men-
schen ist mit ihren frühesten und insofern bil-
derreichsten Anfängen in den Urzeiten, von der
andern die Möglichkeit wie weit Bilder über-
haupt in ihr gelten dürfen ohne gegen das
zweite der Zehn Gebote zu verstossen: und
wer kann läugnen dass sie nach beiden Seiten
hin noch heute ihre gute Bedeutung haben und
mannichfach lehrreich sein können?
Allein ganz anders betrachtet und behandelt
sie unser Verfasser. Er stellt sie nicht in das
geschichtliche Licht, in welchem sie doch in die
menschliche Welt eintraten und ohne welches
wir ihr Wesen nicht richtig schätzen können..
98
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 2.
Er fragt auch nicht was sie ursprünglich be-
deuteten, stellt die Kerübe den Saraphen gleich
von welchen sie gänzlich verschieden sind, sucht
und sieht sie auch sonst da in der Bibel wo
sie weder erwähnt sind noch auch nur gemeint
sein können, und bildet sich so aus allerlei fast
durchaus missverstandenen Stellen der Bibel
eine allgemeine Vorstellung über sie welche den
Worten nach sehr christlich klingt nur dass sie
leider in der Bibel selbst keinen Grund hat.
Er meint nämlich die Kerübe deuteten die Er-
lösung des menschlichen Geschlechts durch
Christus und den h. Geist an ; und möchte schon
in der Zweiheit der Kerübenbilder auf der Bun-
deslade gerne Christus und den h. Geist sehen.
Diese Bedeutung derselben nun, meint er wei-
ter, sei in der Bibel gerade in zehn Stufen im-
mer vollkommner enthüllt: 1) in der Erzählung
vom Paradiese Gen. 3, 24; 2) in der von der
Jakobsleiter; 3) in der von der Wolken- und
Feuersäule in der Wüste unter Mose ; 4) in den
Erzählungen Ex. 24, 1 f. 9 — 11; 5) in der von
der Bundeslade Ex. 25, 10—22; 6) in den Er-
zählungen von den Kerüben im Salomonischen
Tempel; 7) Jes. c. 6; 8) Hez. c. 1— 3; 9) Zakh.
c. 4; 10) Apok. c. 4. Allein schon aus der
Aufzählung dieser Biblischen Stellen kann man
sehen dass der Verf. theils viele Stellen hieher
zieht wefche weder von den Kerüben wörtlich
handeln noch auf sie anspielen; theils andere
ebenso wichtige willkürlich auslässt welche von
ihnen handeln. Schon hieraus erhellt hinrei-
chend wie grundlos die ganze obwohl sehr müh-
sam und in ihrer Art recht scharfsinnig aufge-
bauete Vorstellung ist welche der Verf. entwirft.
Sie beruhet im wesentlichen auf der allegori-
schen Erklärung der Bibel. Allein diese ist
Bosanquet, The succes. visions of the Cherubim. 59
wenigstens in ihrer künstlichen Durchführung
eine Erfindung der Alexandriniscb-Jüdischen
Schule, und spielt wol in ein paar Stellen des
Neuen Testaments ein, hat aber weder bei Chri-
stus selbst noch bei seinen unmittelbaren Schü-
lern eine solche Bedeutung, und hat in der
Kirche wo sie ernstlich genommen wurde, nir-
gends einen wahren Nutzen gestiftet, kann das
auch nicht weil sie ungeschichtlichen Wesens
und Strebens ist. Und am wenigsten kann sie
uns innerhalb des Christenthums heute etwas
niitzen, da sie nicht einmal vor dem Lichte der
Wissenschaft wie viel weniger vor dem christ-
lichen Gewissen bestehen kann, wenn man wirk-
lich mit ihr Ernst machen wollte. Der Schat-
ten aber welchen sie über einige Stellen der
Briefe des Apostels Paulus und noch etwas dich-
ter über den Hebräerbrief geworfen hat, erklärt
sich anderweitig sehr leicht, und berechtigt uns
in keiner Weise über die Kerube Sarapheu. 8. w.
so gänzlich ungeschichtlich und verkehrt zu ur-
theilen wie es der Verf. dieser Schrift thut.
In England aber gibt es noch heute eine
sehr weit verbreitete Menge welche aus einer
solchen Art die Bibel zu erklären ihr Glaubens-
zeichen und ihre Partei macht. Diese Partei
herrscht in der sogenannten Low church ebenso
wohl wie in der High church: während die
Broad church dort leicht nur zu leichtsinnig
über die Bibel urtheilt. Unser Verf. führt z. B.
S. 17 f. eine Schrift an unter der Aufschrift
An Inquiry into the Doctrine of the Cherubim,
critical, exegetical, and practical, and into the
symbolical character and design of the Cherubic
Figures of Holy Scripture, by Dr. George
Smith (London, Longman, 1850), welche etwa
ebenso ausführlich wie diese aber etwas ganz
60 Gott. gel. Anz. 1874. StSck 2.
anderes über die Cherübim beweisen will, näm-
lich sie seien »emblematical representation of
true believers in every dispensation of grace«
d. i. bildliche Stellvertreter treuer Gläubiger
im Alten und Neuen Testament; eine besondere
allegorische Erklärung welche ebenso richtig
und ebenso unrichtig ist wie die unsres Verf.s;
denn die allegorische Erklärung gebiert, eben
weil sie von vorne an willkürlich ist, tausenderlei
verschiedene immer aber nur solche Gedanken
welche entweder an sich völlig untreffend sind
oder doch nur unter gewissen Voraussetzungen
die man leicht übersieht nicht zum Untreffen-
den hinführen. Möchte man bald in England,
ohne irgendwie in die Netze der Strauss-
Baurischen Schule zu fallen, aus solchen Netzen
sich befreien welche christlich übertüncht sind
aber schliesslich mit jenen einen nur zu nahen
Zusammenhang haben, so dass wer in sie fallt
aus ihnen nur zu leicht auch wider Willen in
jene bineingleitet ! Dies ist das einzige was
sich schliesslich bei allen solchen Büchern wie
das vorstehende wieder eins ist, sagen und
wünschen lässt. H. E.
Charlemagne legislateur. Etude sur la le-
gislation franke par M. Fr. Monnier. Paris
Librairie academique Didier et C. (1873). ^82
Seiten in Octav.
Der Verfasser, der sich vor einer Reihe von
Jahren durch eine Schrift über Alcuin bekannt
gemacht, behandelt hier in einem Vortrag für
die Academie des Sciences morales et politiques
Monnier, Charlemagne legislates. 61
in Paris ein Thema, das, so oft es auch Gegen-
stand der Bearbeitung gewesen, doch keines-
wegs als erschöpft gelten kann, zu dem die Be-
trachtung wenigstens gern wieder und wieder
zurückkehren mag. Vor wenigen Jahren ver-
öffentlichte ein ausgezeichneter Forscher Deut-
schen Rechts eine Arbeit unter ganz ähnlichem
Titel: Karl der Grosse als Gesetzgeber, Vortrag
von Prof. Friedrich von Wyss (Zürich 1869),
die der Verf. schwerlich gekannt hat, von der
er auch in fast jeder Beziehung abweicht. Wyss
giebt eine kurze, die Resultate neuerer For-
schungen zusammenfassende Darstellung , die
keinen Anspruch macht neue Resultate zu lie-
fern, aber ein gutes Bild der ganzen umfassen-
den Thätigkeit Karls auf diesem Gebiet giebt
und seine Bestrebungen angemessen würdigt.
Dagegen will sich Hr. Monnier auf die Jahre
nach der Kaiserkrönung beschränken, die in die-
ser Zeit erlassenen Capitularien als ein in sich
zusammenhängendes Ganzes auffassen und die
in ihnen waltende Tendenz darlegen, gestützt,
wie er sagt, auf die verschiedenen Editionen in
Italien, Deutschland und Frankreich und auf
die Handschriften, ‘qui peuvent servir ä les cor-
riger et ä les completer’.
Was zunächst diese Hülfsmittel betrifft, so
sind S. 3 eine Anzahl Bücher aufgeführt, die
zum Theil mit den Capitularien und der Ge-
setzgebung Karls nichts zu thun haben, später
übrigens fast nur Baluze citiert , nur an
einer Stelle, so viel ich bemerkt, Pertz. Das
hat die Folge gehabt, dass die aus Benedict
entlehnten falschen oder interpolierten Capitu-
larien einfach als echte benutzt werden, nament-
lich die angeblichen des Jahres 803 aus Worms
über den Kriegsdienst der Geistlichen. Auf die
64 Gott. gel. An z. 1874. Stück 2.
excellence«, und er setzt hinzu: dont une partie
a ete appelee Baviere rhenane et Prusse rh6-
nane depuis 1815 , momentanement alienee,
comme l’Alsace et la Lorraine, de ce grand
corps indestructible qu’on appellä la France
physique (S. 15). Wir können uns gern ge-
fallen lassen, wenn man sich in Frankreich ge-
wöhnt die zuletzt zuriickgegebenen Deutschen
Lande nicht anders als Rhein -Baiern und
Preussen zu betrachten, möchten aber doch fra-
gen, was diese Bemerkungen mit Earl des
Grossen Gesetzgebung zu thun haben, und ob
man in der Pariser Akademie so wenig Ge-
schichte kennt, oder auf einem so sublimen
Standpunkt steht, dass man für einen Moment
erachtet, was seit tausend Jahren mit kurzen
Unterbrechungen Bestand gehabt?
G. Waitz.
Berichtigung.
Im letzten Stücke des Jahrganges 1873 der
Gel. Anz. S. 2046 letzte Zeile lese man secundo
in potestate regali ohne tum; S. 2060 vorletzte
Zeile streiche man zu. Die Verbesserung des
Wortes secundum in dem dort erläuterten Mu-
ratorischen Fragmente in secundo in ist am
leichtesten.
65
Gftttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 3. 21. Januar 1874.
Immigration into the United States. By
Edward Jarvis. M. D. Boston 1872. 15 S. 8.
The increase of human life. Bead before
the American Statistical Association, by Edward
Jarvis. M. D. Boston 1872. 55 S. 8.
Special Report on Immigration ; accompanying
Information for Immigrants relative to the
prices and rentals of land, the staple products,
facilities of access to market, cost of farm stock,
kind of labor in demand in the western and
southern states etc. etc,, by Edward Young.
Ph. D. Chief of the Bureau of Statistics.
Washington: Government Printing Office 1871.
XXVII und 231 S. 8.
Handbook for Immigrants to the United
States, prepared by the American Social Science
Association. With maps. New*York: published
for the Association , by Hurd and Houghton
1871. 217 S. 8.
Die in der Ueberschrift zuerst genannte
Schrift eines der eifrigsten und gründlich-
sten amerikanischen Statistiker, der sich seit
5
66
Gott. gel. Anz. 1874. StSck 3.
einer Reihe von Jahren sowohl durch selb-
ständige statistische Untersuchungen besonders
über die Mortalitäts-Verhältnisse in den Ver-
einigten Staaten , wie auch durch die Heraus-
gabe verschiedener Abtheilungen der officiellen
Statistik der Union und des Staats Massachu-
setts grosse Verdienste um die Statistik seines
Vaterlandes erworben hat, unternimmt es, eine
neuerdings mehrfach in den Vereinigten Staa-
ten erörterte interessante Streitfrage über den
Einfluss der europäischen Einwanderung auf
die Bevölkerung der Vereinigten Staaten in
exacter Weise durch statistische Deduction zum
definitiven Abschluss zu bringen. Angeregt
wurde diese Frage zuerst durch einen in der
Versammlung der Britisch Association for the
Advancement of Science im J. 1856 zu Chelten-
ham von Edw. Clibborn gehaltenen Vortrag
»über die Tendenz der Europäischen Racen in
den Vereinigten Staaten zu Grunde zu gehen«.
(Im Auszuge mitgetheilt im Report of the
twenty-sixth Meeting of the British Assoc. Lond.
1857 p. 136). Der Zweck dieses Vortrags war
der Nachweis der Wahrscheinlichkeit , dass
in den Vereinigten Staaten nicht bloss die cel-
tische oder irische Race, sondern alle europäi-
schen Racen aussterben würden, wenn alle Ver-
bindung mit Europa aufgehoben würde, und ge-
stützt wurde dies Argument auf ein wie es heisst,
in den Vereinigten Staaten allgemein zugestan-
denes Factum, dass die städtischen Bevölkerun-
gen ( town populations) dort gesunder und pro-
ductiver seien als die der ländlichen Districte
und dass, da in den Vereinigten Staaten ebenso
wie in Irland und anderen Theilen Europas das
Gesetz des Aussterbens der städtischen Bevöl-
kerungen existire (as the law of extinction of
Jarvis, Immigration into the United States. 67
town populations exists ) und da der jährliche
Bevölkerungs- Verlust nicht durch die ländlichen
Districte ersetzt werden könnte, welche im Ge*
gentheil gewissermassen durch die Städte Er«
Satz erhielten (are replenished) ; so folge, dass
im Laufe weniger Generationen sowohl die
Städte, wie die Landdistricte entvölkert sein
würden (would be left without inhabitants ) —
wenn der jährliche Abgang in beiden nicht
durch Einwanderer aus Europa ersetzt würde«.
Es ist nun zwar unbegreiflich, wie eine solche
auf lauter unerwiesenen und wir behaupten auch
unbeweisbaren Behauptungen beruhende Ar-
gumentation nur irgend welchen Eindruck hat
machen können auf Leute, die auch nur jemals
etwas mit Bevölkerungs-Statistik sich beschäf*
tigt haben; in Wirklichkeit hat aber die von
Glibborn aufgestellte These Beifall gefunden, so-
wohl in Europa, wo sie namentlich von einem
Engländer Knox in seinen Vorlesungen über
Anthropologie und von dem bekannten franzö-
sischen Ethnographen A. Garlier in seinem inter*
essanten Memoire sur V Acclimatement des Baces
en Amerique (in den Memoires de la Sodete
d’ Anthropologie de Baris . P. 1IL 1868) wieder-
holt worden *), wie auch in den Vereinigten Staa-
*) So behauptet der Verf. Garlier nimmt aber kei-
neswegs die Clibbornsche Theorie der Tendenz der Euro-
päischen Eacen, in den Vereinigten Staaten auszusterben
an. Er behandelt nur das von ihm allerdings irrthüm-
lich berechnete, aber als Factum constatirte allmähliche
Sinken der Zuwachsrate unter der Bevölkerung in den
Vereinigten Staaten seit 1790, was er dann geradezu
auf das seiner Behauptung nach in den Ver. Staaten in
erschrecklicher Weise verbreitete Verbrechen der procu -
ratio abortus zurückführt und wofür er denn auch einige
merkwürdige Zeugnisse von amerikanischen Professoren
der Medicin beibringt. Im Uebrigen tritt G. sehr ent-
5*
68
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
ten, hier jedoch, wie es scheint, nur hei Deutsch-
Amerikanern, was wohl auf nationale Gründe
zurückzuführen ist. Hr. Jarvis führt von den
letzteren namentlich zwei auf, Ludwig Schade,
der darüber ein eigenes Werk im Jahre 1856
in Washington publizirt hat, in welchem er so-
gar einen statistischen Beweis aufstellt und
Friedr. Kapp, der in einem vor der American
Social Science Association im Jahre 1870 gehal-
tenen Vortrage diese Doctrin warm vertheidigte
und »es als das grosse Verdienst Schade’s be-
zeichnet©, zuerst das wahre Princip zur Berech-
nung des Volkszuwachses angewendet zu haben«.
Wir bedauern sehr, das Werk des Hm. Schade
uns nicht verschaffen gekonnt zu haben, es
müsste ein wahrer Genuss für einen Statistiker
sein, an diesem Werk, in welchem dargethan
wird, dass der natürliche Zuwachs der bei der
Freiwerdung in den Vereinigten Staaten befind-
lichen Bevölkerung nur 1,88°/° P* Jahr betragen
habe, während der übrige Theil der Bevölke-
rungszunahme seit jener Periode den neuen
Einwanderern und ihren fruchtbaren Familien
zu verdanken sei, einmal wissenschaftliche Kri-
tik zu üben. Indess nothwendig ist das nicht,
um beurtheilen zu können, ob und wie weit Hr.
Jarvis recht hat, der nun nicht allein Clibborn
und dessen Nachfolger zu widerlegen unter-
nimmt, sondern auch statistisch beweisen zu
können meint, dass durch die fremde Einwan-
derung nicht allein die natürliche Zuwachsrate
der Bevölkerung der Vereinigten Staaten nicht
schieden gegen den allgemein verbreiteten Glauben an
die Entartung und den Verfall der Europäischen Race
in den Vereinigten Staaten auf. Vgl. auch seine Erör-
terung darüber in: Bulletins de la Soc . d’ Anthropologie
de Paris. T, VI. Annee 1865 p, 130 ff.
Jarvis, Immigration into the United States. 69
erhöht , sondern umgekehrt erniedrigt wor-
den ist.
Nach Schade und Kapp würden von der
gegenwärtigen weissen Bevölkerung ungefähr
zwei Drittheile aus Fremden und Kindern und
Nachkommen dieser Fremden oder früherer Ein-
gewanderten bestehen, und nur ein Drittheil aus
Amerikanern, d. h. aus Nachkommen der im J.
1790 in den Vereinigten Staaten befindlichen
Bevölkerung. Hr. Jarvis behauptet nun, dass
um dies möglich erscheinen zu lassen, man ent-
weder eine unglaublich grosse Einwanderung in
früherer Zeit oder eine unmögliche Fruchtbarkeit
der Eingewanderten annehmen müsse, und dass,
obgleich sich nicht nachweisen lasse, auf wel-
chem von diesen beiden Fehlern die Berechnung
des angenommenen fremden Elements von Schade,
die auch von Kapp einfach angenommen wird,
beruhe, da derselbe nicht unterscheidet, welche
Proportion dieses fremden Elements auf in an-
deren Ländern gebomene Einwanderer und wel-
che auf deren in den Vereinigten Staaten ge-
borene Kinder, Enkel u. s. w. kommt, Schade
und Kapp wahrscheinlich auch eine viel zu grosse
frühere Einwanderung, gewiss aber eine alle
menschliche Erfahrung übersteigende Frucht-
barkeit der eingewanderten Fremden anneh-
men. Was nun zuerst den Gewinn an Bevölke-
rung durch die Einwanderung betrifft, so lässt
sich dafür die Uebertreibung zwar nicht stricte
nachweisen, da erst seit 1820 officielle Erhe-
bungen über die Einwanderung angestellt und
veröffentlicht worden, doch glaubt Hr. J.
behaupten zu müssen, dass allgemein von den
Fremden in Amerika und in deren Mutterlän-
dern das fremde Element unter der amerikani-
schen Bevölkerung viel höher angenommen
7.0 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 3.
werde, als es möglich erscheint, wenn man nicht
die Zahl der vor 1820 Eingewanderten um das
mehrfache zu hoch schätzt. Und darin kann
man dem Verf. nur zustimmen. Der Unter-
zeichnete hat zwar nur einmal in den vierziger
Jahren über die Zahl der Deutschen in den
Vereinigten Staaten d. h. der deutschen Ein-
wanderer und der Nachkommen von solchen
eine Untersuchung angestellt und darnach ge-
funden, dass deren damalige vornehmlich auf
Friedrich von Räumers Angaben beruhende
Schätzung auf etwa 5 Millionen Seelen um we-
nigstens das doppelte zu hoch sei (s. Deutsche
Auswanderung und Colonisation. Leipzig. 1846.
S. 63) und eine gleiche Ueberschätzung erscheint
auch für alle andern Fremden sehr wahrschein-
lich, weil alle solche Schätzungen auf mangel-
haften Beobachtungen beruhen, wie sie sich dem
Fremden in einem Lande darzubieten pflegen,
in welchem er in einzelnen Theilen Landsleute
in grösserer Zahl zusammen findet, mit denen er
dann natürlich auch vorzugsweise in Berührung
kommt und deshalb leicht sich eine übertriebene
Vorstellung von ihrer Proportion zur Gesammt-
bevölkerung macht.
Viel bestimmter aber lässt sich der Irrthum
nachweisen, den Schade und Eapp in der An-
nahme der natürlichen Zunahme der Bevölke-
rung in den Vereinigten Staaten durch den
Ueberschuss der Geburten über die Sterbefälle
sich haben zu Schulden kommen lassen. Der
erstere berechnet diese Zuwachsrate, indem er
die in dem 7 Census der Vereinigten Staaten
S. XLI mitgetheilten Daten über die Gebur-
ten und die Sterbefalle des mit dem 1. Juni
1850 endenden Jahres vergleicht, zu l,ss % pr.
Jahr und Eapp folgert, diese Zunahmerate als
Jarvis, Immigration into the United States. 71
erwiesen erachtend, darnach, dass, weil bei
dieser Zuwachsrate die weisse Bevölkerung von
1790 bis 1865 nur auf 9,034,249 Seelen ange-
wachsen sein würde, dieselbe aber in Wirklich-
keit im Jahre 1865 30 Millionen (in runder
Zahl) betragen habe, der Unterschied, also fast
21 Millionen, durch die fremden Einwanderer
und deren Nachkommen bewirkt worden sei.
Selbst zugegeben auch, dass es erlaubt sei, die
für ein einzelnes Jahr aus der Vergleichung der
Geburten und der Sterbefälle berechnete Zu-
wachsrate als maassgebend für eine Periode von
75 Jahren anzunehmen — was beiläufig gesagt,
kein Statistiker thun würde, da bekanntlich die
Zahl der Geburten und Sterbefalle von einem
zum anderen Jahre sehr erheblich wechseln
können — würde jener Schluss doch schon des-
halb falsch sein , weil die Zunahme der Bevöl-
kerung in der angegebenen Periode keineswegs
allein durch den natürlichen Zuwachs und durch
die Einwanderung bewirkt worden , sondern
auch durch Einverleibung neuer Gebiete mit
ihrer Bevölkerung. Nun weist aber Hr. Jarvis
überdies noch nach, dass Schade bei seiner Be-
rechnung die Zahl der am 1. Juni 1850 ge-
zählten Kinder unter einem Jahr alt verwech-
selt hat mit der Zahl der in dem mit diesem
Datum abgelaufenen Jahre vorgekommenen Ge-
burten. Dieses Versehen ist aber um so un-
verzeihlicher, als unter der von Schade benutz-
ten Tabelle express bemerkt ist, dass die in
der Columne »births « angegebenen Zahlen von
den gebornen Kindern nur die am Ende des
Jahres noch am Leben befindlichen umfasse
(» include only those who where surviving at the
end of the year«) und diese Bemerkung nicht
allein bei den entsprechenden Tabellen für jeden
72 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
Staat d. h. im Ganzen fänfundvierzigmal wie-
derholt wird, sondern damit noch nicht zufrie-
den, der Superintendent des Census J. De Bow
auch noch p. XXXIX und ebenso in seinem die
Ergebnisse dieses Census zusammenstellenden
und mit denen der früheren Volkszählungen
vergleichenden Statistical View of the United
States etc . ( Washington 1854) p. 57 hervorhebt,
dass die Tabellen, welche die Geburten etc. an-
geben, nur sehr wenig Werth hätten,
weil sie nur die Zahl der unter einem Jahr al-
ten Bevölkerung angäben {»only those persons
horn within the year and surviving at the end of
it, where included in the table of births : in
other words it comprises the figures of the column
of population under one year of age*). Damit
fällt natürlich die ganze statistische Argumen-
tation von Schade und Kapp in sich zusammen
und hätte Hr. J. gar nicht mehr die Mühe
sich zu geben nöthig gehabt nun noch nachzu-
weisen, dass schon wegen der grossen Kinder-
sterblichkeit während des ersten Monates nach
der Geburt , die mitgetheilten Zahlen hin-
ter der Zahl der wirklichen Geburten im Jahre
1849/ßo weit Zurückbleiben mussten, um jeden
Statistiker zu überzeugen, dass dieser Versuch
einer statistischen Begründung der Clibborn’-
schen Theorie der »Tendenz der Europäischen
Bacen in denVereinigten Staaten auszusterben«
völlig verunglückt ist. Vielleicht indess war es
doch nicht überflüssig, seinen Landsleuten durch
Beispiele aus anderen Ländern noch den Unter-
schied zwischen der Zahl der Geburten und der
Untereinjährigen deutlich zu machen, da die von
Schade berechnete Zuwachsrate in den Ver.
Staaten grosse Autorität erlangt zu haben
scheint und auch dazu benutzt worden ist, za
Jarvis, Immigration into the United States. 73
zeigen, dass die Vereinigten Staaten darin gün-
stiger stehen als alle europäischen Staaten, was
eben kein günstiges Zeugniss für die statistische
Bildung der amerikanischen Publicisten ablegt.
S. National Almanac and Annual Record for
the yea/r 1864. Philadelphia p. 518.
Mit dieser Abfertigung von Schade und Kapp
hätte übrigens Hr. J. sich begnügen sollen. Denn,
wenn er nun weitergehend es unternimmt, nach-
zuweisen, dass im Gegentheilmit der Zunahme der
fremden Bevölkerung die natürliche Zuwachsrate
in den Vereinigten Staaten gesunken sei und dar-
nach annehmen zu können meint, dass nicht
die fremde, sondern eher die amerikanische Race
die fruchtbarere sei, so geräth er damit eben-
falls auf sehr unsicheren Boden. Durch eine
Zusammenstellung der Proportion der Fremden
unter den Weissen und der natürlichen Zu-
nahme der weissen Bevölkerung in einer Tabelle
S. 15 findet Hr. J. nämlich, dass die Zuwachs-
rate vonDecennium zu Decennium gesunken ist,
während die Proportion der Fremden zugenom-
men hat und meint Hr. J. daraus nun schliessen
zu können, dass der natürliche Zuwachs oder
die wirkliche Fruchtbarkeit unter den fremden
Familien geringer gewesen als unter den ameri-
kanischen. Nun ist allerdings gewiss, dass der
natürliche Zuwachs der Bevölkerung der Vereinig-
ten Staaten seit 1790 abgenommen hat und
zwar noch regelmässiger als aus der von Hr.J.
zusammengestellten Tabelle hervorgeht, wenn
auch nicht in den daselbst aufgeführten Maassen,
wonach der Zuwachs in der zehnjährigen Pe-
riode von 1790 — 1800 34,77% betragen hat,
und in den darauf folgenden sieben zehnjährigen
Perioden bis 1870 34,79, 35, 50, 28,99, 28, 66* 26,77,
26,31 und 15,97 %> so dass derselbe innerhalb 80
74
Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 3.
Jahren auf mehr als die Hälfte gesunken wäre.
Diese Zahlen sind schon deshalb ungenau, weil Hr.
J. bei seiner Berechnung des natürlichen Zu-
wachses aus der Vergleichung der Einwohner-
zahl nach zwei auf einander folgenden Zählun-
gen von der Differenz blos die während der
zehn Jahre zwischen den beiden Zählungen
durch die Einwanderung bewirkte. Zunahme ab-
gezogen, nicht aber in Rechnung gebracht hat,
dass wiederholt zwischen zwei Zählungen die
Bevölkerung auch vermehrt worden ist durch die
Bevölkerung gekaufter, annectirter oder erober-
ter Gebiete, welche ebenso wie die Einwanderer
in Abzug gebracht werden musste, um die na-
türliche Zunahme, d. h. die durch den Ueber-
schuss der Geburten über die Gestorbenen be-
wirkte zu finden. Bringt man dies nun in Rech-
nung, so findet man eine sehr merkwürdig regel-
mässige Abnahme der Zuwachsrate. Sie betrug,
wie wir in unsrer allgem. Bevölkerungsstatistik
(I. S. 124 f.) gezeigt haben, im Mittel jährlich
von 1790 bis 1800 2,89, von 1800 — 10 2,8s, von
1810 — 1820 2,74, von 1820 — 30 2,64, von 1830
— 40 2,52 % und eben so regelmässig hat seit-
dem, wie wir damals voraussagten, diese Zu-
wachsrate in ihrem Sinken beharrt. Sie betrug
ungefähr (d. h. nur die Zahl der Einwande-
rer zwischen zwei Zählungen nicht ihren Beitrag
zur Volksvermehrung durch ihre in den Ver-
einigten Staaten gebornen Kinder in Anschlag
gebracht, wodurch die berechnete natürliche Zu-
wachsrate noch um ein weniges erniedrigt wer-
den würde) von 1840 — 50 2,89, von 1850 — 60
2,80 und von 1860 — 70 1,48 °/o. — Die regel-
mässige Abnahme der jährlichen Zuwachsrate
ist also constatirt, daraus aber, wie Hr. Jarvis
es thut, auf eine geringere Propagationskraft der
Jarvis, Immigration into the United States. 75
Eingewanderten den Amerikanern gegenüber za
schliessen, weil mit dieser Abnahme der Zu-
wachsrate eine Zunahme der Proportion der
Fremden unter den Weisen parallel gegangen
ist, halten wir nicht für zulässig, weil dies Sin-
ken der Zuwachsrate nur dem allgemeinen sta-
tistischen Gesetze conform ist, wonach überall
mit der Zunahme der Dichtigkeit der Bevölke-
rung ihre natürliche Zunahme abnimmt, weil,
nach dem Ausdrucke Villermes »die Zunahme
der Bevölkerung auf die Ursachen reagirt, welche
sie hervorbringen«. Und darnach müssen wir
es auch für sehr misslich halten, wenn H. Jar-
vis schliesslich das fremde Element unter der
Bevölkerung der Vereinigten Staaten, d. h. die
Zahl der Fremden und ihrer Familien (nach
dem Census von 1870 5,566,546 Personen) und
der Nachkommen aller seit 1790 eingewander-
ten Fremden im Ganzen auf ungefähr IOV2 Mil-
lionen, also auf ungefähr ein Drittheil der ge-
8ammten weissen Bevölkerung (33,586,989 See-
len) berechnet und darnach annimmt, dass das
amerikanische Element (d. h. die Nachkommen
der Bevölkerung von 1790 und die noch aus der
Zeit Lebenden) i. J. 1850 80 und im J. 1860
71% der ganzen weissen Bevölkerung betragen
habe, wiewohl es uns keinem Zweifel zu unter-
liegen scheint , dass diese Berechnung der
Wahrheit näher kommt, als die , wie wir ge-
sehen haben durchaus unbegründeten Behaup-
tungen Kapps, wonach das amerikanische Ele-
ment in den angeführten Jahren nur reBp. 36
und *29% betragen haben soll. Immerhin geht
aber aus allen diesen Untersuchungen hervor,
dass, wenn die Einwanderung nach den Ver-
einigten Staaten noch ferner in der gegenwärti-
gen Höhe beharrt, dort unter der Bevölkerung
76
Gott. gel. An z. 1874. Stuck 3.
das amerikanische Element bald nur eine Mi-
norität bilden wird.
Die andere in der Ueberschrift genannte
Schrift des Hrn. Jarvis steht mit der eben be-
sprochenen insofern im Zusammenhänge, als sie
auch für die Bevölkerung der Vereinigten Staa-
ten eine günstige Veränderung der Mortalitäts-
verhältnisse und insbesondere für die anglo-
sächsische Race eine Abnahme der Kindersterb-
lichkeit nachzuweisen sucht, was dann allerdings
auch dem amerikanischen Elemente unter der
dortigen Bevölkerung in seinem Kampfe gegen
die Ueberhandnahme des fremden, und nament-
lich des irischen Elements zu Gute kommen
würde, doch verfolgt der Verf. diesen Punkt
nicht 8pecieller. Er fasst sein Thema allge-
meiner, indem er an die auch unter seinen Lands-
leuten schon vielfach gehörte Klage: »dass die
halcyoniscben Tage vorüber, und die gegenwär-
tigen Tage die der Degeneration seien« an-
knüpfend, die Beobachtungen über das mensch-
liche Leben, auf welche sich jene Klage am
meisten zu berufen pflegt, durch den Beweis des
Gegentheils zu widerlegen unternimmt. Als
solche vermeintliche Beobachtungen führt der
Verf. an, »dass gegenwärtig eine grössere Pro-
portion in der Kindheit und in der Jugendzeit
sterbe, und dass es von denen, welche das
zwanzigste Jahr überleben nur einer kleineren
Proportion gestattet sei, sich der vollen Periode
der nützlichen Thätigkeit zu erfreuen und in
einem guten hohen Alter zu sterben«. Alles
dies sagt der Verf., sei ohne Fundament; es sei
im Gegentheil nachzuweisen, dass das Leben
so wohl an Kraft wie an Dauer zugenommen
habe und gegenwärtig mehr zunehme, als je
auvor.
Jarvis, The increase of human life. 77
Um dies zu beweisen, bringt der Verf. nun
eine grosse Anzahl von Mittheilungen aus alten
Civilstandsregistern, aus Berichten von Tontinen
und Lebensversicherungsgesellschaften, über die
Wirkungen von sanitarischen Verbesserungen in
verschiedenen Städten und von Verbesserungen
in Wohnung, Kleidung, Nahrung, Unterrichts-
wesen u. s. w., die eine gute Bekanntschaft mit
der betreffenden Litteratur zeigen und auch im
Ganzen recht interessant sind. Auch beweisen
dieselben meistentheils , was der Verf. in dem
besonderen Falle bezweckt, nämlich eine Ab-
nahme der Sterblichkeit, obgleich freilich auch
Missverständnisse über die Bedeutung und Trag-
weite statistischer Zahlen Vorkommen, wie denn
z. B. die aus den alten Civilstandsregistern von
Genf für die Zunahme der menschlichen Lebens-
dauer hergeleiteten Beweise , auf welche ein so
grosses Gewicht gelegt zu werden pflegt, längst
von d’Ivernois bündig widerlegt sind (s. liiblio-
theque universelle de Geneve , Sept et Oct . 1833
und des Unterz. Allgem. Bevölkerungsstatistik
II S. 13). Untersucht man nun aber den sta-
tistischen Werth aller dieser Mittheilungen, so
reducirt sich derselbe auf die abermalige Be-
stätigung des zuerst von dem Statistiker J. G.
Hoffmann aufgestellten Theorems: »Wohlstand
und Sittlichkeit verlängern zunächst die Dauer
des menschlichen Lebens und sprechen sich da-
her in den Gesetzen der Sterblichkeit zählbar
aus« (Die Bevölkerung des Preuss. Staates u. s. w.
Berlin 1839. S. 39). — Dieser Ausspruch, der
übrigens nur eine schon von Süssmilch ge-
machte »überraschende Entdeckung« (s. die gött-
liche Ordnung in den Veränderungen des mensch-
lichen Geschlechts u. s. w. 2. Aufl. Berlin 1762
II. S. 287) verallgemeinerte und den wir jetzt,
78
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
«
wie wir in unserer allgemeinen Bevölkerungs-
statistik nachzuweisen unternommen haben, da-
hin präcisiren .können, dass Wohlstand und Sitt-
lichkeit die die Mortalität am meisten beherr-
schenden Factoren sind, ist allerdings von der
grössten statistischen Wichtigkeit, weil uns da-
mit nun in der Mortalität der sicherste Maass-
stab zur Bestimmung der Gulturstufe einer Be-
völkerung gegeben ist, und insofern Hr. Jarvis
dafür auch einige neue Belege beigebracht hat,
ist seine Arbeit auch für den Statistiker von
Werth. Ganz ohne Werth ist sie dagegen als
Beweis dafür, dass das menschliche Leben wirk-
lich zugenommen habe, d. h. dass die mittlere
Lebensdauer der gegenwärtigen Generation ge-
gen die der früheren (etwa in den letzten 100
Jahren) wirklich länger geworden sei. Um das
exact statistisch für die Bevölkerung eines Lan-
des zu beweisen genügt durchaus nicht der
Nachweis, dass hie und da, in einzelnen Loka-
litäten und in einzelnen Classen der Bevölke-
rung die Mortalität abgenommen hat, sondern
dazu ist durchaus erforderlich eine Berechnung
der wirklichen mittleren Lebensdauer oder der
Vitalität der Bevölkerung in den mit einander
zu vergleichenden Perioden und eine solche Be-
rechnung fehlt nicht allein in der vorliegenden
Arbeit, sondern sie ist überhaupt auch noch
gar nicht möglich, weil wir dazu noch für keine
Bevölkerung die unumgänglich nothwendigen
statistischen Beobachtungen besitzen. Nothwen-
dig namentlich sind zur Berechnung der wahren
mittleren Lebensdauer einer Bevölkerung ge-
naue und detaillirte Bevölkerungs- , Geburten-
und Sterbelisten, aus denen die Vertheilung so-
wohl der Lebenden wie der Gestorbenen nach
dem Alter, und zwar nicht blos nach' (3- oder
Jarvis , The increase of human life. 79
5- oder noch mehrjährigen) Alters classen,
sondern mindestens nach einzelnen Jahren und
für die Untereinjährigen auch nach Monaten, zu
ersehen ist. Solche Bevölkerungs- und Sterbe-
listen besitzen wir aber erst für die Bevölke-
rung zweier Länder, nämlich von Belgien und
den Niederlanden und auch für diese erst seit
ein paar Decennien. Somit ist bis jetzt auch
nur für diese beiden Bevölkerungen eine Be-
stimmung der gegenwärtigen wahren mittleren
Lebensdauer möglich und möglicherweise wird
in einigen Decennien für diese beiden Bevölke-
rungen die Frage, mit welcher unser Verf. sich
beschäftigt, wirklich exact statistisch zu beant-
worten sein. Für keine andere Bevölkerung lässt
sich aber bis jetzt die wirkliche mittlere Lebens-
dauer auch nur der gegenwärtigen Generation
genauer bestimmen und scheint es uns auch
noch sehr problematisch, ob die allerdings sehr
zu wünschende allgemeinere und jetzt auch wohl
für Deutschland zu hoffende Vervollkommnung
der Bevölkerungsstatistik, wie sie in Belgien und
den Niederlanden angebahnt worden, für die Zu-
kunft noch hinreichend sicheres und vollständi-
ges Material für eine exacte Beantwortung der
Frage über eine Veränderung der Lebensdauer
unserer Bevölkerungen zu liefern im Stande sein
würde, da dafür auch noch eine Voraussetzung
erfordert wird, nämlich die einer viel mehr
dauernden Unveränderlichkeit des Territorial-
bestandes unserer Staaten als in dem eisernen
Zeitalter, in welches wir eingetreten sind, wahr-
scheinlich ist.
Hiernach ist nun leicht einzusehen, was da-
von zu halten ist, wenn der Verf. seine Arbeit
mit der Bemerkung schliesst, dass, obgleich die
Civilisation so viel für das menschliche Leben ge-
80
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
than, sie ihre Aufgabe noch nicht gelöst habe,
weil die mittlere Lebensdauer statt 70 bis 80
Jahr, wie es sein sollte, jetzt in den verschie-
denen Staaten nur noch zwischen 24 und 37
Jahre betrage. Die dabei mitgetheilten Anga-
ben über die Lebensdauer unter den Bevölke-
rungen verschiedener Staaten haben gar keinen
statistischen Werth, weil sie allein nach Sterbe-
tabellen berechnet sind, und die so gefundene
Zahl derartig von der Geburtenziffer, die als
statistisches Moment gar keinen festen Werth
hat, abhängig ist, dass, wenn die Geburtenziffer
sinkt, diese Berechnung eine Verlängerung der
mittlern Lebensdauer ergeben muss, ohne dass
dieselbe wirklich irgend zugenommen hat. Des-
halb wird auch eine solche Berechnung der mitt-
leren Lebensdauer unserer Bevölkerungen fast
immer eine Zunahme ergeben, weil mit dem
Dichterwerden der Bevölkerung regelmässig die
Geburtenziffer sinkt und ebenso wird eine solche
Berechnung für Bevölkerungen mit niedriger Ge-
burtenproportion immer eine höhere Lebens-
dauer ergeben, als bei Bevölkerungen mit höhe-
rer Geburtenziffer, wenn auch die wirkliche Le-
bensdauer bei den letzteren gar nicht kürzer, ja
vielleicht sogar länger ist. Aus diesem Grunde
hat denn auch die Anwendung der so berech-
neten Lebensdauer als Maassstab der relativen
Prosperität verschiedener Bevölkerungen schon
zu ganz absurden Schlüssen geführt, wie dies
z. B. selbst dem angesehenen französischen Sta-
tistiker Benoiston de Ghateauneuf in einer Ar-
beit über die mittlere Lebensdauer in Frank-
reich und Preussen (in den Memoires de l’Aca-
demie des Sciences morales et politiques 1850) be-
gegnet ist, nach welcher dieselbe in Frankreich
38,77 und in Preussen 29,66 Jahre beträgt,
Jarvis, The increase of human life. 81
woraus dann der Schluss gezogen wird, dass
die Bevölkerung in Frankreich im Ganzen viel
prosperirender und glücklicher sein müsse, als
in Preussen, während es doch auf der Hand
liegt, dass der so berechnete Unterschied in der
Lebensdauer der beiden Bevölkerungen allein
darin seinen Grund hat, dass das Geburten-
verhältnißs in Preussen viel höher ist als in
Frankreich. (Vgl. Allgem. Bevölkerungsstatistik
II. S. 11 und Ueber den Begriff und die stati-
stisch e Bedeutung der mittleren Lebensdauer in
den Abhandlungen der K. Societät der Wissen-
schaften zu Göttingen Bd. 8). So gerne wir
deshalb auch den von dem Verf. auf seine Ar-
beit gewandten Fleiss anerkennen, so müssen
wir doch bedauern, dass sie wiederum nur der
allgemein verbreiteten Meinung Vorschub leisten
wird, dass die mittlere Lebensdauer unserer
Bevölkerungen gegen früher bedeutend zugenom-
men habe und mithin dadurch ein grosser wahr-
hafter Culturfortschritt auch statistisch consta-
tirt sei. Dass dies ein Irrthum ist, dass vielmehr,
soweit die vorhandenen statistischen Beobach-
tungen darüber ein annäherndes Urtheil ermög-
lichen, angenommen werden muss, dass in den
letzten 100 oder 150 Jahren in unseren Staa-
ten die wirkliche Lebensdauer der Bevölkerun-
gen sicherlich nicht erheblich, ja wahrscheinlich
sogar gar nicht zugenommen hat, glauben wir
ziemlich sicher nachgewiesen zu haben (Allgem.
Bevölkerungsstatistik I. S. 11). Mag man da-
gegen nun auch dies und das einwenden kön-
nen, weil eben die Daten, welche für unsere
Argumentation zu Gebote standen, zu einem
wirklichen Beweise unzureichend sind, so bleibt
doch wenigstens so viel gewiss, dass die Bevöl-
kerungsstatistik zum Zeugniss dafür, »wie herr-
6
82
Gott. gel. Ariz. 1873. Stuck 3.
Vv
lieh weit wir es endlich gebracht haben« bis-
lang keineswegs angerufen werden darf.
Wir benutzen diese Gelegenheit, um noch
auf zwei andere Schriften über die Einwande-
rung in denVereinigten Staaten aufmerksam zu
machen, die freilich nicht mehr ganz neu sind,
aber doch, wie wir glauben, bei uns noch nicht
die verdiente Beachtung gefunden haben. Das
von Hrn. Young herausgegebene Buch besteht
aus zwei Abtheilungen, einem Specialbericht an
den Staatssecretär der Finanzen Boutwell und
aus Informationen für Einwanderer. Der Be-
richt bringt uns zum ersten Male in 10 Tabel-
len eine Zusammenstellung der seit 1820 im
Statistischen Bureau von Washington gesammel-
ten statistischen Erhebungen über die Einwan-
derung in den fünfzig Jahren von 1820 bis
1870, d. h. von der Zeit an , wo eine officielle
Erhebung über die Einwanderung überhaupt an-
gefangen hat. — Tab, 1. stellt die Zahl der
Einwanderer nach Decennien und nach den Her-
kunftsländern zusammen, von denen im Ganzen
7 1 unterschieden werden. Wir wollen daraus nur
die Zahlen für Gr. Britannien und Irland und
für Deutschland, welche zusammen den bei wei-
tem grössten Theil der Einwanderer geliefert
haben, mittheilen und dazu zur Vergleichung
mit der neuesten Zeit die betreffenden Zahlen
für die Jahre 1871*) bis 1873 hinzufügen, wie sie
seit Veröffentlichung dieses Berichtes von dem
Hrn. Young in dem Monthly Report of the Chief
of the Bureau of Statistics . Treasury Depart-
ment ( 1871 June p. 396 , 1872 June p. 572 und
1873 November p . 481) mitgetheilt worden.
*) d. h. in dem mit dem 30. Juni 1871 endenden
fiscalischen Jahre, wogegen für die frühere Zeit theils
Young, Special Report on Immigration. 83
Decennien.
Or. Brit. u. Deutschland Oerter
Irland. incl. Prenss. reich.
fibrin
Länder.
tetal.
1820—30. 81827 7729 — 62268 161824.
1831—40. 283191 162464 — 163480 699126.
1841—50. 1,047763 434626 — 280862 1,713261.
1861—60. 1,338093 961667 — 308454 2,598214.
1861-70. 1,106976 822007 9398 553070 2,491451.
1820—70. 3,857850 2,368483 9398 1,318134 7,553865.
1870- 71. 142894 82554 4884 91018 821350.
1871- 72. 153626 141109 4182 105889 404806.
1872- 73. 166843 149671 5765 137524 459803.
1870—78. 463363 373334 14831 334481 1,185959.
Daraus geht hervor, dass in den 50 Jahren
von 1820 bis 1870 die Britischen Inseln (Gross-
Britannien und Irland) und Deutschland zusam-
men beinahe vier Fünftel der gesammten Ein-
wanderer geliefert haben und zwar die ersteren
allein reichlich die Hälfte (Irland allein über ein
Drittel), so dass die ausserordentliche Zunahme
der Bevölkerung der Ver. Staaten durch die
Einwanderung fast ganz allein dem Zuzuge aus
den genannten beiden Ländern zu danken ge-
wesen, wobei jedoch zu bemerken ist, dass die
Einwanderung aus Deutschland, wenn sie auch
die aus den Brit. Inseln noch nicht erreicht
hat, doch in einem höheren Maasse gestiegen
ist, als jene und dass speciell die aus Oester-
reich erst in dem letzten Decennium angefan-
gen, dann aber rasch zugenommen hat. Alles
dies ersieht man noch deutlicher aus der Tab. 2
(S. XII — XIX), die die hier nach Decennien ge-
gebenen Daten für die einzelnen Jahre specifi-
cirt. Eine genauere Betrachtung dieser Tabelle
nach fiscalischen, theils nach Kalendeijahren gerechnet
ist, welche doppelte Rechnung auch in den späteren Be-
richten beibehalten wird, und deren statistischen Werth
nicht wenig beeinträchtigt.
6*
84
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
ist sehr interessant, da es uns aber hier an
Baum für tabellarische Zusammenstellungen fehlt,
so wollen wir uns auf ein paar allgemeine Be-
merkungen darüber beschränken. Was zunächst
den Gang der Einwanderung im Allgemeinen
betrifft, so sehen wir fortwährende Zunahme,
doch ist dieselbe nicht regelmässig, sie geschieht
in Sprüngen und geht auch mehre Male wieder
etwas rückwärts. Die grösste plötzliche Zunahme
erfolgte im Anfang der dreissiger Jahre und im
J. 1847 und offenbar beidemale verursacht durch
ausserordentliche Notstände in Europa, die er-
stere durch die in Irland eingetretene Hungersnoth,
die andere durch die Missernte von 1846, deren
Wirkung in fast allen Staaten Europas sich
auch in der Bewegung der Bevölkerung so wie
in der Criminalstatistik so deutlich zeigte und
namentlich auch eine grosse Zunahme der deut-
schen Auswanderung zur Folge hatte (vgl. All-
gem. Bevölkerungsstatistik II. S. 247 ff. und S.
429). Von 1847, wo die Einwanderung gegen
das Vorjahr um 100,000 erhöht ward (sie be-
trug 234,968 gegen 132,393 im Mittel der Jahre
1845 und 46) steigt dieselbe fast regelmässig
bis 1854, wo sie ihr Maximum erreicht (427,833),
sinkt dann allmählig wieder auf ungefähr 92,000
(91,920 im J. 1861 und 91,927 im J. 1862),
fängt dann wieder an regelmässig zu steigen
und erreicht ihr zweites Maximum in dieser
fünfzigjährigen Periode im J. 1869 mit 395,922,
wovon sie im letzten Jahre dieser Periode auch
nur wenig herabsinkt, nämlich auf 378,796. —
Der Einfluss des Jahres 1866 zeigt sich im Gan-
zen wenig (1865 == 249,061; 1866 = 318,494;
1867 = 297,215); aber verhältnissmässig be-
deutend in der deutschen Einwanderung (1865
= 80,797; 1866 = 110,440; 1867 = 124,766).
Young, Special Report on Immigration. 85
Diese sinkt dann wieder anf 91,168 im Kalen-
derjahre 1870 (82,554 im fiscalischen Jahre
1870/7i), um dann in der neuen Periode wieder
rasch zu steigen (1871/72 = 141,109 ; 1872/78 =
146,671), wie aus den von uns für diese neue
Periode beigefügten Daten hervorgeht. Bemer-
kenswerth ist auch noch, dass die irische Ein-
wanderung, welche in der Periode von 1820 bis
1870 für den Gang der Einwanderung überhaupt
maassgebend gewesen und während dieser Pe-
riode die aus England und Schottland bedeu-
tend überstieg, in neuerer Zeit durch die aus
England überholt worden ist. Im Jahre 1869
waren unter den 147,716 Einwanderern aus den
Britischen Inseln noch 79,030 aus Irland, im
folgenden Jahre (fiscalisches Jahr 1870) bildeten
die Irländer fast genau die Hälfte (80,336 von
160,677) und von da an kommen dieselben in
die Minorität (187% 57,439 unter 142,894;
18772 68,732 unter 153,626 und 1872/s 77,344
unter 166,843). Und das ist beachtenswerth,
weil das eine vVerbesserung in der Qualität
der Einwanderer anzuzeigen und damit die
längere Zeit drohende Gefahr, dass das irische
oder celtische Element in der nordamerikani-
schen Bevölkerung ein bedenkliches Ueberge-
wicht erhalten würde, beseitigt zu werden
scheint, zumal wenn man hinzunimmt, dass ne-
ben der Einwanderung von Deutschen und Eng-
ländern auch neuerdings die aus Schweden, Nor-
wegen, Dänemark, Holland und der Schweiz so
wie die aus dem Britischen Amerika bedeutend
zugenommen hat und somit auch dahin wirken
wird, das irische Element mehr zurückzudrän-
gen. Diese zuletzt genannten Länder, aus de-
nen noch vor 10 Jahren kaum 6 — 7000 Perso-
nen jährlich einwanderten, haben in den letzten
86
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
3 Jahren 227,055 Einwanderer geliefert, wie die
folgende auch sonst interessante Zusammenstel-
lung zeigt.
Einwande-
rer ans
Schweden.
Nor-
wegen,
Däne-
mark,
Schweiz,
Hol-
land,
Brit.
Amerika.
1870 — 71 10,699. 9,418. 2,016. 2,269. 993. 47,082.
1871— 72 13,464. 11,421. 3,690. 3,650. 1,908. 40,176.
1872— 73 14,303. 16,247. 4,931. 3,107. 3,811. 37,871.
38,466. 37,086. 10,636. 9,026. 6,712. 125,129.
Wir müssen uns mit diesen wenigen Bemer-
kungen über diese Tabellen begnügen, obgleich
eine eingehendere Betrachtung derselben noch
vielfache interessante Belehrungen zu geben ge-
eignet ist, weshalb wir auch bedauern müssen,
dass der Herausgeber diese Tabellen ganz ohne
Gommentar gegeben und es nicht in seinen Plan
aufgenommen hat, die mitgetheilten Daten auch
statistisch, etwa im Anschluss an die Unter-
suchungen von G. Tucker (Progress of the Uni-
ted States in population and wealth in fifty
years as exhibited by the decennial Census , New-
York 1843) zu verwerthen.
Unter den übrigen Tabellen sind die inter-
essantesten N. 3, welche die Einwanderer nach
den beiden Geschlechtern und N. 5, welche die-
selben nach den Professionen unterscheidet.
Beide Tabellen umfassen jedoch von dem gan-
zen fünfzigjährigen Zeitraum nur das letzte
Jahr (das fiscaliscbe Jahr 1869/7o), so dass wei-
ter gehende Vergleichungen nicht möglich sind.
Und da auch die Gruppirung der verschiedenen
Professionen, (deren nicht weniger als 130 unter-
schieden werden), in 5 Classen uns zu wenig
rationellerscheint, um durch deren Mittheilung die
volkswirtschaftliche Qualität der Einwanderung
characterisiren zu können; zu erläuternden Ta-
Young, Special Report on Immigration. 87
bellen hier aber kein Raum ist, so wollen wir
nur die Proportion der beiden Geschlechter un-
ter der Einwanderung im Ganzen betrachten,
wie sie sich aus der angeführten Tabelle und
für die folgenden drei Jahre aus dem oben ci-
tirten Monthly Report ergiebt. Yon der Ge-
sammtzahl der Einwanderer waren
1869/7o 187%i 1771/t2 187*/78.
männl. GescH. 235,612 190,428 240,170 275,792.
weibl. - 151,591 130,922 164,636 184,011.
total 387,203 321,350 404y806 459,803.
Darnach war unter den Einwanderern der Be-
trag des männlichen Geschlechts im Jahre 1869/70
= 60,85; 1870/7t = 59,86; 1881/72 = 59, 84 und
1872/7s — 59,98 und im Durchschnitt dieser vier
Jahre = 59,88 %• Unter den Einwanderern aus
den Britischen Inseln und aus Deutschland für
sich genommen war das Verhältniss etwas nie-
driger, bei den ersten im Durchschnitt 57,58,
bei den Deutschen 58,65 %. Demnach ist im
Ganzen das Uebergewicht des männlichen Ge-
schlechts unter den Einwanderern gegenwärtig
geringer, als man vor etwa 20 Jahren an-
nahm und wohl annehmen musste (s. Tucker
p. 86) und geht daraus wohl hervor, dass mit
der Zunahme der Einwanderung auch das Ver-
hältniss der Einwanderung in ganzen Familien
gegen die Einzeleinwanderung sehr zugenommen
hat, wofür es auch spricht, dass unter der Mas*
seneinwanderung, wie die aus den Brit. In-
seln und Deutschland es gegenwärtig ist, das
Verhältniss des männlichen Geschlechts noch
unter dem unter der Gesammteinwanderung
zurückbleibt, folglich aus den Ländern welche
nur eine geringe Zahl von Einwanderern lie-
fern, mehr Einzeleinwanderung von Erwachsenen
88
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8.
stattfindet, wobei das männliche Geschlecht im-
mer in grösserer Ueberzahl sich betheiligt. Dies
ist am entschiedensten der Fall unter der Ein-
wanderung aus China. Von den 47,255 chine-
sischen Einwanderern während der letzten 4
Jahre waren 44,901 d. h. 95% männlichen Ge-
schlechts. Sehr interessant wäre es nun das
Verhältnis der beiden Geschlechter in den
verschiedenen Altersclassen und nach dem Ci-
vilstande zu erfahren, weil dies Verhältnis zur
genaueren Beurtheilung des Einflusses der Ein-
wanderung auf die Zunahme der Bevölkerung
in den Vereinigten Staaten und auf die Umge-
staltung des nationalen Elementes unter der-
selben durch die von den Einwanderern nach
ihrer Niederlassung zu erwartende natürliche
Vermehrung von grosser Bedeutung ist. Sehr
zu bedauern ist deshalb, dass die hier mitge-
theilten Tabellen über die Alters- und Civil-
standsverhältnisse der Einwanderer gar keine
Mittheilungen geben, so dass in dieser Beziehung
noch eine grosse Lücke in der Erhebung der
statistischen Daten auszufüllen sein wird. Ein
kleiner Anfang ist damit auch schon gemacht,
indem die neueren Publicationen in dem Monthly
Report unter den Einwanderern vom letzten
Quartal des fiscalischen Jahres 187%i an wenig-
stens 3 Altersclassen unterscheiden, unter 15
Jahr, von 15 bis 40 Jahr und 40 Jahr und
darüber, und nach diesen Mittheilungen waren
von 1,007,989 Einwanderern 222,857 unter 15
J., 650,312 zwischen 15 und 40 J. und 134,820
40 J. und darüber alt, es kamen mithin auf
diese drei Altersclassen resp. 22,*, 64,5 und
13,8%, was wohl als Mittelverhältniss ange-
nommen werden kann, obgleich die Registrirung
insofern ungenau ist, als nicht das Verhältnis
Young, Special Report on Immigration. 89
angegeben wird, wie es unter den wirklich an*
gekommenen bestand, sondern wie es unter den
Auswanderern mit Einschluss der unterwegs Oe-
storbenen, deren Zahl indess nur auf 1279
oder auf wenig über 1 pr. Mille angegeben
wird, bestanden hatte. Das hier ermittelte Ver-
hältniss ist noch etwas günstiger als das von
dem Herausgeber in seinen Erläuterungen zu
den Tabellen angenommene (25% unter Fünf-
zehnjährige, weniger als 15% Uebervierzig-
jährige und über 60% in der Periode der vol-
len Kraft stehende Individuen). Diese Verthei-
lung nach dem Alter unter den Eingewanderten
ist nun allerdings eine viel günstigere als die un-
ter der Bevölkerung in Nord- Amerika im Gan-
zen, bei welcher im Durchschnitt auf diese Alters-
classen resp. 41,8, 41, e und 17, x% kommen.
Es geht daraus hervor, dass durch die Einwan-
derung gerade die volkswirtschaftlich werth-
vollsten Altersclassen noch immer verhältniss-
mässig sehr viel Verstärkung erhalten und dass
mithin der volkswirtschaftliche Werth der Ein-
wanderung grösser ist, als er in der Zahl der
Einwanderer ausgedrückt erscheint. Mit diesem
Werth der Einwanderung hat neuerdings beson-
ders auch Hr. Friedr. Kapp sich beschäftigt und
auf Grund der bekannten Untersuchungen von
Engel in Berlin über den Preis der Arbeit den
Werth der Einwanderer zu durchschnittlich
1,125 Dollars pr. Kopf berechnet. Hr. Young,
der in seinen Erläuterungen ebenfalls auf diese
Frage zu sprechen kommt, wendet gegen Hr.
K. ein, dass er bei seinen Untersuchungen Pro-
ductionskosten mit Werth verwechselt habe; und
das ist vollkommen richtig. Wenn Engel durch
seine Berechnungen nach weist, dass jeder Mensch
während seiner Jugendperiode durch den von
90 Gott. gel. Anz. 1874. Stfick 3.
ihm verursachten Aufwand von Kosten für Er-
nährung, Kleidung, Erziehung u. s. w. eine ge-
wisse Erziehungsschuld bei der Gesellschaft con-
trahirt. die er während der Periode seiner Kraft
und Thätigkeit durch einen gleichen Aufwand
auf die Heranbildung der neuen Generation
wieder abtragen muss, wenn die Gesellschaft im
Ganzen nicht an Culturcapital Einbusse erleiden
soll, so ist das volkswirtschaftlich betrachtet,
vollkommen richtig, wenn aber diese abzu-
tragende Erziehungsschuld eines Menschen als
der wirkliche Werth desselben angenommen
wird, wie Hr. K. es thut, so ist das ebenso irrig
als wenn man jede Schuldforderung als wirk-
liches Vermögen des Gläubigers ansehen wollte,
während doch bekanntlich nicht jede contrahirte
Schuld auch wirklich abbezahlt wird, nicht zu
gedenken, dass der Werth des geistigen Capi-
tals, welches die Einwanderer den Vereinigten
Staaten durch ihre Erziehung, ihren ausgebilde-
ten Geschmack und ihr erfinderisches Genie zu-
geführt haben, und wovon wie Hr. Young sagt
auf jeden Schritt der Einfluss gefühlt werde,
gar nicht in Geld zu schätzen ist.
Zu Ende seines Berichtes wirft der Verf.,
nachdem er hervorgehoben , dass Reichthum,
Macht und Prosperität des Landes durch die
Einwanderung in grossartiger Weise gefordert
worden, noch die Frage auf, welche Pflichten
eine gesunde Politik der Regierung im Ange-
sichte eines Interesses von so grosser nationaler
Bedeutung auferlege. Zwei Dinge, sagt der
Verf., werden von der Regierung gebieterisch
erfordert: 1) Schutz und 2) zuverlässige Beleh-
rung der Einwanderer. Den nothwendigen Schutz
den Einwanderern zu gewähren, habe die Re-
gierung sich nun angelegen sein lassen durch
Young, Special Report on Immigration. 91
das Einwanderungsgesetz ( Passenger Act) von
1855 und obgleich dasselbe in der Praxis und
in der Auslegung, welche es gefunden, wohl sei«
nen Zweck nicht völlig erreicht habe, so sei
doch zu hoffen, dass die fortgesetzten Bemühun*
gen des Schatzdepartements, darüber eine über-
einstimmende Legislation von Seiten der leiten-
den Nationen Europa’s und der Vereinigten Staa-
ten zu Wege zu bringen erfolgreich sein wer-
den. Diese Hoffnung ist ja auch seitdem schon
zum Theil erfüllt worden, wobei jedoch noch zu
bemerken ist, dass auch* der Schutz der Ein-
wanderer nach ihrer Ankunft in den Vereinig-
ten Staaten gegen die Ausbeutung und den Be-
trug dortiger Commissionäre und Speculanten
aller Art, der bisher fast nur philanthropischen
Privatvereinen überlassen worden, noch der be-
sonderen Fürsorge der amerikanischen Regie-
rungs-Behörden bedarf. Ebenso obligatorisch
fährt der Verf. fort, sei aber noch die Samm-
lung und Verbreitung zuverlässiger Belehrung
für die Einwanderer. Denn obgleich allerdings
die Angehörigen fremder Länder nicht mehr
den übertriebenen Schilderungen glaubten, wel-
che ihnen von dem grenzenlosen Reichthume des
Landes durch interessirte Parteien gemacht
werden, so wären doch die Verhältnisse der
verschiedenen Theile des Landes und die Vor-
theile, welche sie den Einwanderern darbieten,
noch wenig bekannt. Um nun solche Beleh-
rung über die verschiedenen Staaten der Union
zusammenzubringen, und somit die Einwanderer
zur richtigen Wahl der ihnen zusagenden Nie-
derlassungsstätte zu leiten, hat unser Verf. eine
Reihe hierauf bezüglicher Fragen zusammenge-
stellt und dieselbe den Steuerbeamten (< assessors
of internal revenue) in allen Staaten im Westen
92
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
und Süden von Pennsylvanien zur Beantwortung
zugeschickt und die auf diese Frage eingelaufe-
nen Antworten zusammen mit einer Anzahl be-
sonderer selbstständiger Berichte werden nun
von dem Verf. in der 2. Abtheilung seines Bu-
ches mitgetheilt, welche auf 200 Seiten bei wei-
tem den grossem Theil desselben einnimmt.
Die Punkte, auf welche sich diese Fragen
beziehen, sind vollständig genug aus dem ange-
führten Titel des Buches zu ersehen, so dass
wir die einzelnen Fragen hier nicht aufzuzählen
brauchen, um darzuthun, dass sie zweckmässig
gewählt sind, um über die wichtigsten ökono-
mischen und volkswirtschaftlichen Verhältnisse
Aufschluss zu erlangen. Der Verf. hat es vor-
gezogen, die Antworten und Berichte so ab-
drucken zu lassen, wie sie eingelaufen sind, was
ihren unmittelbaren Nutzen für Einwanderer
wohl etwas beeinträchtigen möchte, ihren Werth
für den Statistiker aber nur erhöhen kann, denn
eine Verarbeitung derselben würde der Darstel-
lung doch auch eine mehr oder weniger subjec-
tive Färbung gegeben haben. So erhalten wir
hier in der That eine Enquete über die wich-
tigsten ökonomischen und volkswirtschaftlichen
Zustände des grössten Theils der Vereinigten
Staaten, die in Verbindung mit der 3. Abtei-
lung des Buches (S. 201 — 231, welche eine von
dem Census-Superintendenten Hr. Francis A.
Walker zusammengestellte Reihe von sehr inter-
essanten Tabellen über den durchschnittlichen
Wochenlohn fiir Manufactur-, Handwerks- und
Land- Arbeit, über die Preise von Lebensmitteln,
Material- und Manufacturwaaren und sonstige
Haushaltsbedürfnisse und über Hausmiethen in
den verschiedenen Manufacturdistricten des Lan-
des bringt), ein überaus reiches Material für
Handbook for Immigrants to the United States. 93
eine volkswirtschaftliche Statistik der Vereinig*
ten Staaten darbietet.
Dieselbe Aufgabe, welche Hr. Young in der
2. Abtheilung seines Buches verfolgt, hat sich
das zuletzt in der Ueberschrift genannte Hand-
buch für Einwanderer nach den Vereinigten
Staaten gestellt. Es hat dieselbe aber allgemei-
ner aufgefasst, indem es mit den Nachrichten
über die volkswirthschaftlichen Verhältnisse der
verschiedenen Staaten der Union auch eine
kurze geographisch-statistische Beschreibung der
Vereinigten Staaten und eine allgemeine Beleh-
rung für Einwanderer verbindet. Diese letztere
( Part 1. General Directions p. 1 — 23) bildet,
obgleich nur kurz gehalten, doch u. E. den werth-
vollsten Theil des Buches, indem sie mit voll-
kommener Kenntni8s der wirklichen Verhältnisse
darüber Auskunft giebt, was der Einwandererin
Nord-Amerika zu erwarten hat, für wen sich
die Einwanderung dahin schickt und nicht
schickt und wessen er sich dort nach seiner
Ankunft zunächst zu versehen hat, und dabei
auch keine Absicht verräth, den Einwanderer
vorzugsweise für die Niederlassung auf gewissen
zum Verkauf ausgebotenen Ländereien von Eisen-
bahngesellschaften zu gewinnen, wie auf den er-
sten Blick zwei der beigegebenen Charten wohl
argwöhnen lassen könnten. Die 2. Abtheilung
(S. 25 — 53) bringt eine kurze geographisch-
statistische Beschreibung des Landes mit Her-
vorhebung einiger die Einwanderer besonders
interessirenden Gesetze. Hierauf werden in
der 3. und 4. Abth. (S. 56 — 107) die einzelnen
Staaten und Territorien in ihren geographischen
und volkswirthschaftlichen Verhältnissen vorge-
führt, worauf in einer 5. Abtheilung (S. 108—
112) noch über die öffentlichen Ländereien und
94 Gott» gel. Anz. 1874. Stück 3.
die Erwerbung derselben einige Auskunft und
endlich in einem Anbange einige Mittheilungen
über Einwanderer-Unterstützungs-Gesellschaften
in verschiedenen Staaten, über die von der
Northern Pacific Raüroad zum Verkaufe ausge-
botenen Ländereien und über die auf Ward’s
Island bei New-York bestehenden wohlthätigen
Anstalten für Einwanderer hinzugefügt werden.
Das Ganze bildet zusammen mit den beigege-
benen Charten — einer allgemeinen recht gu-
ten Charte der Vereinigten Staaten aus der be-
kannten geographischen Anstalt von Colton in
New-York, einer kleinen Charte der von der
Burlington and Missouri River Raüroad Com-
pany in Nebraska und einer grösseren der von
verschiedenen Eisenbahngesellschaften in Jowa
zum Verkauf gestellten Ländereien — einen
wirklich praktischen Führer für Auswanderer
und wäre der Schrift wohl eine gute deutsche
Bearbeitung durch einen unparteiischen Sach-
verständigen zu wünschen. Sehr verlohnen
würde es sich aber auch das hier und beson-
ders das von Hrn. Young därgebotene reiche
Material zu einer Neubearbeitung der volks-
wirtschaftlichen Statistik der Vereinigten Staa-
ten oder auch zu solchen volkswirtschaftlichen
Monographien zu verwerten, wie sie von C. L.
Fleischmann in seinen beiden für Ansiedler in
den Vereinigten Staaten bestimmten Werken:
»der amerikanische Landmann« 1848 und »Er-
werbszweige, Fabrikwesen und Handel der Ver.
Staaten von Nordamerika« 1850 geliefert wor-
den, die ihrer Zeit eine sehr zeitgemässe Auf-
gabe vortrefflich lösten, gegenwärtig aber natür-
lich mehr oder weniger veraltet sind und eine
der Gegenwart genügende Neubearbeitung so-
de Carne, Voyage en Indo-Chine etc. 95
wohl im Interesse der deutschen Auswanderer
wie in dem . der nordamerikanischen Statistik
überhaupt sehr wünschenswerth machen.
Wappäus.
Voyage en Indo-Chine et dans l’empire Chi-
nois par Louis de Carne, membre de la
commission d’exploration du Mekong. Ouvrage
or ne de gravures et d’une carte. Paris 1872.
• Der Verf. des obigen Buchs, der junge Graf
Carne, wurde von der französischen Regierung
der im Jahre 1866 organisirten Expedition,
welche den Lauf und die Schiffbarkeit des
grossen hinterindischen Stromes Mekong und die
durch ihn und seine Thäler angebahnten Ver-
bindungen mit dem westlichen China erforschen
sollte, als Delegirter des Ministeriums der aus-
wärtigen Angelegenheiten und als Secretair bei-
gegeben und beauftragt, vorzugsweise die politi-
schen und Handels - Angelegenheiten Hinter-
indiens und West- Chinas zu studiren. Der Chef
dieser merkwürdigen, schon in vielen französi-
schen, deutschen und andern Blättern besproche-
nen Unternehmung, M. de Lagree, erlag unter-
wegs an der Gränze Chinas den Beschwerden
derReise und auch unser Verf. starb einige Zeit
nach seiner Heimkehr im Jahre 1870, nachdem
er kurz zuvor einen Bericht über seine Erleb-
nisse und Anschauungen in Hinter-Indien und
China abgefasst und vollendet hatte. Sein Va-
ter, Mitglied der französischen Akademie, hat
diesen Bericht in dem vorliegenden Werke als
ein Monument der Bestrebungen und des Fleisses
Beines Sohnes publicirt. — Dies ist wohl das
Beste, was man von dem unter* so rührenden
Verhältnissen und Umständen entstandenen Buche
96
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 3.
sagen kann. Die Rücksicht auf diese Umstände
hindert uns, die Unzulänglichkeit und Schwäche
der Arbeit in Bezug auf Anmuth und Klarheit
der Sprache, Anschaulichkeit der Darstellung,
Schärfe der Beobachtungen, Neuheit der Ideen
und Ansichten, so wie in Bezug auf die zu ihrer
Abfassung mitgebrachten Kenntnisse und ander-
weitigen Befähigungen näher zu beleuchten und
durch Beispiele zu begründen. Das Werk eines
Märtyrers, das von einem liebenden Vater dar-
geboten wird, im Detail zu zerlegen unterlässt
man lieber, wenn es nicht durchaus geboten ist.
Und es bei dem vorliegenden Werke zu thnn
ist um so weniger nöthig, da wir bald den
offiziellen Bericht über die Expedition erhalten
sollen. »Das gelehrte Europa«, so heisst es in
der Vorrede zu dem Buche S. XI, »wird im
Stande sein, über die Wichtigkeit der Arbeiten
der Commission des Mekong zu urtheilen, nach-
dem das Werk, welches vom Ministerium der
Marine und der Colonien vorbereitet ist, das
Tageslicht erblickt haben wird. Aufgehalten
durch die traurigen Ereignisse des Krieges, ist
diese Arbeit jetzt wieder aufgenommen und
wird unter der Direction des Marine-Offiziers
Garnier, mit dem Beistände des Schifislieutenants
Delaporte und der Doctoren Joubert und Tho-
rei ohne Unterbrechung fortgesetzt«. — Wenn
wir dieses Werk besitzen, wird es an der Zeit
sein, »die wichtigen Beobachtungen, die kost-
baren Sammlungen, die neuen Ergebnisse für
Geographie, Naturgeschichte und Völkerkunde«,
welche man dem Publikum verspricht, zu wür-
digen und herauszustellen, was unter der Füh-
rung des vorliegenden »Avantcoureur« zu thun
nicht sehr gedeihlich wäre.
Bremen. J. G. Kohl.
97
GSttingisehe
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 4. 28. Januar 1874.
D. Martini Lutheri Opera latina varii argu-
menti ad reformat] onis historiam imprimis per-
tinentia. Guravit Dr. Henricus Schmidt,
scholae latinae Erlangensis praeceptor. Yol. VU.
Francofurti a/M. Sumptibus Heyderi et Zimmeri.
1873. IV und 572 SS. in 8°.
Mit diesem Bande ist die Sammlung von
Luthers lateinischen reformationsgeschichtlichen
Werken, welche sich an die in gleichem Ver-
lage erschienenen lateinischen exegetischen und
an die deutschen Werke des Reformators an-
reiht, beschlossen, und es ist daher wohl ange-
messen, dieses ?on der Kritik allgemein sehr
willkommen geheissene und als höchst verdienst-
voll anerkannte Unternehmen auch in diesen
Blättern einer eingehenden Besprechung zu unter-
ziehen. Diese Besprechung soll sich allerdings
ausführlich nur mit dem letzten Band beschäf-
tigen, sie soll aber auch ein kurzes Wort über
die vorangehenden Bände sagen.
Die Sammlung wurde im Jahr 1864 begon-
nen und bildet nun, da sie vollendet ist, ein
7 - .
98
Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
gut abgeschlossenes Ganze , das freilich nur das
Bild eines kleinen Theiles der Wirksamkeit
Luthers gibt. Denn vom J. 1523 an sind die
meisten wesentlichen reformatorischen Schriften
L/s in deutscher Sprache abgefasst und daher
von unserer Sammlung ausgeschlossen, so dass
den schriftstellerischen Erzeugnissen fast eines
Vierteljahrhunderts (1523 — 1546) ein einziger
Band gewidmet ist, eben der vorliegende 7.,
während die 6 ersten für die Schriften aus den
Jahren 1517 — 1523 bestimmt sind.
Nur wenige gegen Luther, mehrere für Lu-
ther veröffentlichte Schriften und viele die Sache
Luthers und der Reformation betreffende Ur-
kunden und Aktenstücke sind aufgenommen,
den wesentlichen Inhalt bilden natürlich die
Schriften Luthers selbst. Aus diesen hebe ich
hervor: Die lateinischen Predigten; die Schrif-
ten, welche den Ablassstreit behandeln ; die
Acta Augustana; den Schriftenkampf mit Joh.
Eck und die durch die Leipziger Disputation
hervorgerufenen literarischen Erzeugnisse ; die
Schriften gegen die verdammenden Urtheile der
verschiedenen theologischen Fakultäten und ge-
gen die päpstliche Bulle ; die Appellation an
das Concil und die Erklärung über die Ver-
brennung der Bulle des Papstes; die Schrift
über die babylonische Gefangenschaft, die ver-
schiedenen Abhandlungen, welche der Wormser
Reichstag veranlasst, die Schriften über die Ab-
schaffung der Messe, über die Klostergelübde
und gegen König Heinrich VIII. von England.
So bildet die Sammlung ein stattliches
Ganze, von dem kein wesentlicher Theil fehlt.
Fügen wir hinzu, dass die Ausstattung des Wer-
kes würdig, der Druck recht correct und der
Preis mässig ist, so ist damit genug gesagt, um
Schmidt , D. Martini Lutheri Opera etc. 99
das Werk allen denen, die sich als Forscher
oder Liebhaber mit dem Reformationszeitalter
beschäftigen, dringend zu empfehlen.
Doch bei aller Anerkennung für das Aeussere
und den Plan der Sammlung erheben sich in
Betreff der Ausführung einzelne, mitunter schwer-
wiegende Bedenken.
Bei einer wesentlich historischen Sammlung,
wie der vorliegenden, in der häufig Personen
und Dinge genannt, Anspielungen gemacht wer-
den, welche einer Erklärung bedürfen, hätte den
sachlichen Anmerkungen ein grösserer
Platz eingeräumt werden müssen. Sie fehlen
nicht ganz, aber werden im Verlaufe des Wer-
kes immer geringer ; daher bleiben manche
Punkte unerledigt oder ganz unberührt, wäh-
rend es doch gerade Aufgabe dieser Sammlung
hätte sein sollen, die Resultate angestellter
Forschungen zusammenzustellen und die For-
schung über streitige Punkte abzuschliessen.
Auch die Einleitungen zu den einzelnen Schrif-
ten, welche in das Verständnis derselben durch
bibliographische und historische Angaben ein-
führen sollen, sind, wie ich an einzelnen Bei-
spielen zeigen werde, nicht immer mit der ge-
hörigen Sorgfalt gearbeitet.
Für den Text der einzelnen Schriften wäre
es nöthig gewesen, immer auf die ersten Drucke
zurückzugehn, ihnen im Wesentlichen zu folgen
und spätere Texte nur zur Controlirung dieser
Grundlage zu benutzen. Ein solches Verfahren
wird manchmal eingeschlagen, aber nicht oft
genug und ich habe unten bei der Mittheilung
der Resultate über die Durcharbeitung eines
Bandes manche Beispiele zusammengestellt, bei
denen diese Unterlassung den kritischen Werth
und die Vollständigkeit der Ausgabe geschädigt
7* .. .
c *
O * C W
.1 J
100 Gott. gel. Anz. 1874. StSck 4.
hat. Aber selbst wenn die ersten Drucke Vor-
gelegen haben, werden die Lesarten der Jenen-
ser Ausgabe der Opp. Luth. (15571 in den Text
aufgenommen oder in den Anmerkungen citirt,
ein Verfahren, das mir verfehlt oder überflüssig
zu sein scheint. Ein ähnlicher Fehler ist das
Citiren der Aurifaberschen Briefsammlung, wah-
rend de Wette’s Ausgabe in aller Händen ist»
oder das Verweisen auf Seckendorfs Historia
Lutheranismi, die reineren Quellen Platz ma-
chen könnte.
Ein anderes Erfordemiss, das man mit Becht
an Editionen stellt, die genaue Angabe nämlich,
wo Bibel- oder Classikerstellen, die im Wort-
laute oder dem Sinne nach angegeben werden,
sich finden, wird gleichfalls nicht erfüllt. Bei
Stellen alter Schriftsteller und Kirchenväter
wird überhaupt kein Versuch dazu gemacht, bei
Bibelstellen, für die Luther Buch und Kapitel
angiebt, nie der Vers, bei solchen, für die Lu-
ther keine Stellenangabe macht, nur in den sel-
tensten Fällen die Stelle citirt. So fehlt z. B.
Bd. VII, S. 64 (5 mal), 66, 79, 473, 482, 484,
486, 501, 513 jede Angabe, und dieses Ver-
zeichniss liesse sich bei Betrachtung der ganzen
Sammlung vielfach vermehren. Die Stellen-
angaben selbst sind auch nicht immer fehlerfrei,
so muss es VII, S. 54 statt Hebr. 3, : Hebr 4, 2
heissen.
Ferner scheint mir die chronologische
Ordnung nicht immer streng eingehalten wor-
den zu sein, obwohl der Herausgeber in seiner der
Sammlung vorausgeschickten kurzen Einleitung
die Wahrung einer solchen als erstes Erforder-
niss zur Erkenntniss der Wirksamkeit Luthers
hinstellt. So finde ich, dass bereits im 6. Bande
drei Stücke enthalten sind, welche dem Jahre
Schmidt, D. Martini Lutheri Opera etc. 101
1523 angehören , ohne dass eine genauere Da-
tirung möglich gewesen wäre, denen im 7. Bande
zunächst eine Okt. 1523 geschriebene folgt,
dann eine, die auf Grund einer nicht allzustich-
haltigen Vermuthung dem Jahre 1523 zugewie-
sen wird, während sie 15 3 1 zuerst gedruckt
wurde, dann eine Schrift aus dem Febr. 1523,
zuletzt eine Dec. 1523.
Bei der Durchnahme dieses Theils der Werke
Luthers fesselten mich zunächst die Bd. VI, S.
1—24 mitgetheilten Acta D. Mart. Lutheri in
comitiis principum Wormatiae 1521. Doch ward
ich in meiner Erwartung, hier eine Erwähnung
oder Weiterführung der von Waltz (Forsch,
z. d. Gesch. 1868) Burkhardt (Ztschr. f. hist.
Theol. 1869), Enaake (Zeitschr. f. luth. Theol.
u. K.) begonnenen Untersuchungen zu finden
getäuscht, — die betreffenden Arbeiten werden
nicht erwähnt, auch die Frage, ob die Schrift
denn überhaupt von Luther stammt, nicht be-
rührt. Zudem wird, obgleich der Herausgeber
die gleichzeitigen Drucke kennt, der Text nach
der Jenenser Ausgabe 1 5 57 gegeben, und
nur für Luthers Rede vor dem Kaiser die Ab-
weichungen der ed. princ. als Varian-
ten angeführt. Daher steht im Text: Hier
stehe ich, Ich kan nicht anders, Gott helff mir,
Amen, und in der Anm. heisst es: In ed. separ.
tantummodo legitur : Gott helff mir Amen ; selbst
offenbare Druckfehler der späteren Ausgabe wer-
den beibehalten, wie S. 13 Z. 7: timere Dei
st. timore; kleinerer Abweichungen, bei denen
eine tendenziöse Abschwächung in der späteren
Ausgabe leicht ersichtlich ist, ganz zu ge-
sch weigen.
Die Erkenntniss eines solchen , wie mir
scheint, nicht ganz kritischen Verfahrens veran-
102 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
lassten mich den letzten Band genau durcbzu-
gehn, und, wo es anging, Vergleichungen mit
dem Originaldruck anzustellen.
Der Band, welcher Schriften aus den Jahren
1523 — 44 enthält (1525 auf dem Titel ist einer
der wenigen Druckfehler, die ich bemerkt habe)
enthält zuerst die erste Mess- und Beichtord-
nung, dann das zuerst 1531 gedruckte Exem-
plum theologiae, über dessen Aufnahme an die-
ser Stelle schon oben gesprochen ist.
Dann folgt (S. 41 — 60) die Schrift gegen
Cochläus, bei deren Ausgabe nicht wenige Män-
gel bemerkt werden müssen. Zunächst sind die
bibliographischen Angaben nicht vollständig.
Unerwähnt bleibt folgende Ausgabe: Adversus
| armatum virum | Cokleum Mar | tinus Luther
(ein umgekehrtes Blatt) Wittembergae | Anno
MD | XXIII | (Alles mit grossen Buchstaben)
Colum mulierem decet | Et colus decet mulieres|.
Fängt auf der Rückseite des Titels gleich an:
Vilheyllo, wie dieser Name durchgehends ge-
schrieben wird und schliesst mit dem Worte
prorsus. 6 Bll. in 4°, letzte Seite leer. (Berl.
Bibi. Luth. 3061). Allerdings bietet die Aus-
gabe nur wenig Varianten S. 47: festina et fe-
stiva; 49: schneck; 52 charitas; S. 50: sola
fide nos justificari durch Druck mit grossen
Buchstaben hervorgehoben u. s. w.
Bedenklicher ist Folgendes. Der Schrift ist
vom Herausgeber eine Einleitung vorangesetzt
worden, in der nicht einmal die Schrift des
Cochläus genannt wird, gegen welche Lu-
ther seine Streitschrift gerichtet hat. Denn die
Bemerkung des Herausgebers: cum bullae Leo-
ninae defensionem edidisset C. passt nicht; ge-
meint ist ohne Zweifel C’s: De gratia sacra-
mentorum (Strassburg 1522 in 4°). Aus ihr hätte
Schmidt, D. Martini Lutheri Opera etc. 103
der Herausgeber gelernt, dass seine, Luther nach-
gesprochenen, Worte: *L. ei hunc librum opposuit,
quo gloriantem eum quod Lutherum Wormatiae
sermone suo ad laerimas redegerit, reprimit« nicht
ganz dem Sachverhalt entsprechend sind, denn
Cochl. sagt (a. a. 0. A2a) Ego vero ad redden-
dam studiis religionique ac reipublicae trän-
quillitatem , Lutherum pio studio adnumui pri-
mum literis ex Nurenberga, deinde precibus et
lachrymis Wormaciae. Er hätte ferner zur Er-
klärung der Stelle S. 48 fg., in der Luther er-
zählt, Cochläus habe ihm eine Disputation an-
geboten, unter der Bedingung, dass er (L.) auf
die fides publica des Kaisers verzichten solle,
die Worte des Cochläus anfiihren müssen:
provocans eum ad singulare sub judicibus cer-
tamen, primum quidem ad equale periculum
(d. h. wol unter der von L. erzählten Bedin-
gung, die sich vielleicht daraus erklärt, dass C.
meinte, auch keine besondere fides publica zu
besitzen) quo mox recusato, ab omni prorsus
periculo immunem obtuli ei congressum. Er
hätte endlich aus den Schlussworten der C’schen
Schrift: Viros arrna decent das seltsame Motto
der L’schen, und die Bezeichnung des C. als
armatus vir erklären können.
Aber auch sonst sind in der Ausgabe dieser
Schrift Mängel aufzuzeigen. Der Herausgeber
sagt, sie sei gewidmet Guilhelmo Neseno, ma-
gistro Lovaniensi qui tum Wittebergae comrao-
rabatur. Diese ungemein dürftige Angabe hätte
wol nach de Wette (Seidemann Luthers Briefe
VI, 564 fg., vermehrt werden können; aus Clas-
sen: Jakob Micyllus Fft 1859 S. 39—43 hätte
ferner entnommen werden können, dass H. sich
damals noch in Frankfurt a/M., nicht in Witten-
berg, aufhielt, nur dadurch werden L’s Worte
104 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 4.
erklärlich tuis Francofordiensibus (S. 47) ; testu-
dini tuae die (S. 60).
Auf die Streitschrift gegen Gochläus folgt
die Bulle des Papstes Clemens VII. vom 7. Dec.
1523, die vielleicht mit der römischen Bullen-
sammlung hätte verglichen werden können, dann
(aus dem J. 1524) zwei Schreiben deutscher Bi-
schöfe, eins für, eins gegen Luther, welche die-
ser mit Anmerkungen und einer Vorrede heraus-
gab. Die Originalausgabe lag dem Herausgeber
nicht vor, ich konnte sie aus der hiesigen kön.
Bibliothek (Luth. 3761) benutzen. Sie hat fol-
genden Titel: DVAE EPI | SCOPALES BVL
LAE, PRIOR PH | posterior papistici ponti-
ficis, super doctrina | Lutherans & | Romans.
| WITTEMBERGAE | mit hübscher Leisten-
einfassung. 0. J. Rückseite des Titels und
letzte Seite leer. 8 Bll. in 4°. Die Abweichun-
gen des Textes von dem hier gebotenen sind:
S. 64: exsecramur, extra synagogam efficimur
st. exsecratur ac diris nos devovet , S. 65 Z. 4 :
refarsit, Z. 14 perisomate, S. 66 Z. 5 : et luctum,
Z. 7. 8 fehlt das Datum, S. 69 Anm. c nach abo-
minabilem steht noch: qualis modo sacrificulorum
et Canonicorum et monialium est; S. 71 Anm. d:
tarnen st. tandem; S. 73 Anm. a: decretales.
Auf diese Schrift folgen zwei Schriften ähn-
lichen Inhalts, eine Vorrede Luthers ins alte
Testament und eine Rede über das Lesen der
mosaischen Bücher durch die Christen. Bei der
ersteren konnte ich das Original vergleichen (in
fol. Berl. Bibi. Bu 4230) und muss bedauern,
dass es dem Herausgeber nicht gleichfalls mög-
lich war. Denn er hätte in dieser vor der
eigentlichen Vorrede u. d. Aufschrift: Lectori
sfllutem eine Einleitung bemerkt, deren Mitthei-
lung durchaus gerechtfertigt gewesen wäre.
Schmidt, D. Martini Lutheri Opera etc. 105
Sechs Jahre, meint Luther darin, sei schon keine
ordentliche lateinische Bibelausgabe vorhanden,
und daher hätte er, vielen Bitten nachgebend,
trotz mannigfachster Beschäftigung, zur Heraus-
gabe einer neuen Bibelübersetzung sich ent-
schlossen. Aber es sei mit der Aenderung ein-
zelner fehlerhaften Stellen in den alten Aus-
gaben nicht gethan gewesen, sondern paulatim
crevit labor, et cum interpretatio plerisque locis
mutanda esset, nova propemodum translatio
nata est, ut per omnia responderet latina
lectio ebraicae. Er habe sich zwar die redlich-
ste Mühe gegeben, aber gerade bei einer sol-
chen Arbeit gelte der Satz: Unus vir, nullus
vir. Uebrigen8 solle seine Uebersetzung nicht
die alte allgemein angenommene in den Tem-
peln ersetzen, sondern sei nur zum häuslichen
Studium bestimmt, nam publice satius est ve-
terem et ubique similem lectionem retinere.
Und am Schluss heisst es: Sycophantae qui
odio nostri nominis etiam bene dicta reprehen-
dunt, ita laudem mereri queant, si meliora edant.
Vale. —
In der eigentlichen Lutherschen Praefatio
finden sich nun in dem Originaltext , der aller-
dings mit Druckfehlern überreichlich bedacht
ist, einzelne Abweichungen, die durchaus verdie-
nen angemerkt zu werden. S. 76 Z. 10 v. u.
stulti8 st. absurdis, S. 77 vorl. u. L Z. pecca-
tum ac mortem tolli st. unde — esset, S. 78
Z. 1 ullae tum st. tum datae, Z. 19 divinas st.
morales, Z. 26 denuo condit st. instaurat, Z.
39 sit nach legendus, S. 80 Z. 13 v. u. si quis
verbum sequatur st. quae — sequitur, Z. 8 vor
deum: quibusdam, S. 81 Z. 2 v. o. addiscere
st. sectari, S. 85 Z. 4 v. o. ratio peccata esse
judicat st. vere et sua natura peccata sunt,
106 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
Z. 6 nach peccata: quaeque ratio pro peocatis
non agnoscit, Z. 12 propria 8t. sua natura, Z.
13 esse judicantur st. fiunt, 1. Z. muss es na-
türlich exoptet heissen, S. 86 Z. 14 tales autem
st. quales, Z. 16 illuminet st. dignatur, vorl. Z.
perveniebat st. perferebat legem, S. 87 Z. 20
nach gratia: ad earn rem, Z. 15. 16 haec est
st. hie quidem sese exserit, S. 88 Z. 14 v. u.
terra st. hereditas.
Ausserdem aber fehlt in der neuen Ausgabe
der ganze Schlussabsatz und da derselbe mir
durchaus dieselbe Bedeutung zu haben scheint,
wie die übrige Vorrede, so wissen mir Freunde
der betr. Literatur vielleicht Dank, wenn ich ihn
hier folgen lasse:
Postremo hoc quoque restat ut omnes hujus
translations lectores Deo commendem et ad-
moneam quoque ut ipsi Deum orent quo coeptum
hoc a nobis opus foeliciter ad finem perducatur.
Fateor enim, me iniquum meis viribus pondus
suscepisse, nam cum Ebraea lingua adeo inter-
ciderit, ut ne Judaei quidem satis ipsam intelli-
gant, video quam non glossis illorum sit cre-
d end um. Si igitur aliquid lucis accedere veteris
Testamenti libris potest, necesse est id a Chri-
stianis fieri qui cognitionem Christi habent sine
qua linguarum quoque peritia parum est pro-
futura. Atque ea quidem causa est quod Hie-
ronymus aliique veteres interpretes tarn saepe
sint hallucinate Quanquam autem meum Stu-
dium quod in hanc tranßlationem posui com-
mendare ipse nec debeam nec velim, hoc tarnen
certo confirmare possum quod innumeris in locis
sententiam clarius et majore cum fide depen-
derim quam Hieronymus. Verum hujus rei
judicium penes Lectorem sit. Deus coeptum
opus feliciter absolvat. Amen.
Schmidt, D. Martini I^utheri Opera etc. 107
Einen grossen Theil, mehr als ein Drittel
des Bandes nimmt die Schrift de servo arbitrio
gegen Erasmus ein, welche auf die eben be-
trachtete folgt. In der Einleitung werden die
Ausgaben dieser und der Erasmischen Angriffs-
schrift kurz angeführt, der Erasmischen Ent-
gegnung: Hyperaspistes aber nicht gedacht«
Letztere hat Luther nicht beantwortet, obgleich
er sich sehr durch sie gekränkt fühlte. Wenig-
stens ist eine Antwort nicht bekannt und
Kesslers Bemerkung (Sabbata ed. Götzinger
I, 166) steht ganz vereinzelt da: »Erasmus ist
in aller unru uffgebrochen und wider den Luther
an buch gestelt, den fryen willen . . zu erhal-
ten; hatt Martinus geantwurt, er widerumb, ist
Martinus im nach mitt ainer antwurt
begegnet, durch welche (wie ich vernim)
Erasmus erinnert siner manung und kampfens
abgestanden ist«. Wol aber hat Luther einige
Jahre später (1534) nochmals das Wort gegen
Erasmus ergriffen, in einer in Briefform abge-
fassten Schrift (de Wette IV, S. 506 — 520) de-
ren Mittheilung ebenso gerechtfertigt gewesen
wäre, wie die der an Nesenus gerichteten Streit-
schrift wider Cochläus. (Eine Vorrede Luthers
wider Erasmus ist abgedruckt S. 526 — 531).
Wir übergehen die zwei folgenden kleinen
Schriften, und wenden uns zu der S. 434—451
mitgetheilten Schrift: Cur et quomodo christia-
num concilium debeat esse liberum 1537. Der
Herausgeber spricht nur von der Originalaus-
gabe, er erwähnt nicht folgende merkwürdige
Edition: CVR | ET QVO MODO | CHRISTIANVM
CON | cilium debeat esse | LIBERVM | ET DE
CONIVRA | TIONE PAPISTA | RVM. | Cum
praefatione Pauli Vergerii. Luc. XII | Re-
giomonti per Joan | nem Daubmannum | Anno
108 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
1557 A..E 16°. (Berl. Bibi. Luth. 7028). Das
Merkwürdige an dieser Ausgabe ist nämlich die
Vorrede des Vergerius, des Mannes, der im J.
1537 als Legat des Papstes Deutschland be-
reiste, um zum Besuch des damals nach Mantua
ausgeschriebenen Goncils einzuladen und der
nun, zwanzig Jahre später, zum eifrigen Prote-
stanten geworden, die Schrift, welche zur Ver-
nichtung seiner damaligen Wirksamkeit beige-
tragen batte, aufs Neue zum Druck befördert.
Die Vorrede ist Soldaviae 1. Jan. .. 1557 da-
tirt, an Joh. Aurifaber gerichtet und dazu be-
stimmt, die Reformation in Polen zu fördern.
Auf diesen ihren Inhalt einzugehn, ist hier nicht
der Ort; hier sei nur erwähnt, dass Vergerius
in der Vorrede zwar mehrmals von dem auctor
libelli und seinen Ansichten spricht, nie aber
einen bestimmten Namen nennt. Das hätte er
ohne Zweifel gethan, wenn er ihn gewusst und
er oder Aurifaber hätte ihn, so möchte ich wei-
ter schliessen, sicherlich gewusst, wenn Luther
der Verfasser gewesen wäre.
Wer ist nun der Verfasser unsrer Schrift?
Auf dem Originaldruck steht kein Name und
dieses Fehlen ist insofern ein bedenkliches Zei-
chen, als, soweit meine Kenntniss reicht, Luther
mit Recht kaum ein von ihm geschriebenes
Blättchen aus seiner Hand ausgehen liess, ohne
seinen Namen 9 oder die Initialen desselben
daraufzusetzen. Der Umstand aber, dass die
Schrift in die Jenenser Ausgabe von Luthers
Werken aufgenommen ist, ist, wenn er auch
unserm Herausgeber als vollwichtiges Zeugniss
für Luthers Autorschaft genügt, doch höchstens
ausreichend, zu zeigen, dass Luther damals als
Verfasser galt. Allerdings spricht Manches für
Luther: Die literarische Bewegung über und
Schmidt, D. Martini Lutheri Opera etc. 109
gegen das Concil war 1537 sehr stark und Lu«
ther, der schon in seiner hohen Stellung Ver-
anlassung zum Aussprechen fand, wurde noch
von Aussen dazu gedrängt (de Wette V, S. 45 fg.
Burckhardt, Luthers Briefwechsel S. 277); sei-
nen damals besonders heftigen Hass gegen das
Papstthum und seine Absicht, demselben öffent-
lich Ausdruck zu geben, zeigt die Stelle aus
seinem damals geschriebenen Testament (de
Wette -Seidemann VI, 186): Ego nunc paratus
sum mori, si Dominus vult. Veilem autem vel
usque ad Pentecosten*) vivere, ut bestiam illam
Bomanam et regnum ejus publico scripto gra-
vius accusem coram mundo; doch scheinen mir
diese Aeusserungen nicht genügend in einer
streitigen Sache die Entscheidung abzugeben.
Gegen Luthers Autorschaft spricht näm-
lich die Bemerkung, welche Schmidt in der
Münchener Ausgabe des Originalabdrucks ge-
funden hat: Huius libelli auctor est Urbanus
Rhegius und welche er leichthin mit der Be-
merkung abmacht: ex qua quidem nota conji-
cere licet, fuisse superioribus temporibus qui
hunc librum ab Urbano Regio compositum esse
crederent. Ein solches Verfahren wäre schon
durchaus unkritisch, wenn wirklich die Bemer-
kung bloss so lautete, wie Schm, angiebt, denn
man hat keinen Grund änzunehmen, dass ein
Zeitgenosse ohne positiven Anhalt einen belie-
bigen Schriftsteller als Verfasser bezeichnete;
es wird aber ganz unbegreiflich, da die Inschrift
nach den von Schmidt angegebenen Worten
fortfährt: qui meo hortatu hanc impiam juris-
jurandi Camerinam movere vexit. Hr. Director
*) Das Mantuaner Goncü war auf Pfingsten an-
gesagt.
110 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
Halm, dessen freundlicher Mittheilung ich die
Eenntniss dieser Inschrift verdanke, fügt hinzu,
dass die Buchstaben in dem lat. Inscript breit
auseinandergezogen sind, so dass die Schrift an
die von Heinr. Bullinger erinnert ; wie dem aber
auch sei, das Zeugniss scheint mir 60 unver-
werflich zu sein, dass nicht der geringste Grund
vorliegt, an der Autorschaft des Drbanus Rhe-
gius zu zweifeln. Zudem passt diese Annahme
vornemlich in den Rahmen des Lebens des Rhe-
gius. Er war 1537 mit den übrigen Theologen
in Schmalkalden, um die Artikel zu berathen,
welche auf dem Concil vorgelegt werden sollten,
war gerade damals von furchtbarem Hass ge-
gen das Papstthum erfüllt und auch sonst in
Angelegenheiten des Goncils schriftstellerisch
thätig, dass er überdies anonym oder pseudo-
nym Schriften veröffentlichte, ist durch seine
eignen Worte ausdrücklich bezeugt. (Vgl. Uhl-
horn U. Rh. Elberfeld 1860 S. 368fg.; S. 329,
S. 28 fg.).
An die eben ausführlich besprochene Schrift
schließt sich eng die folgende an: Capita fidei
chri8tianae, die, 1538 von Luther deutsch
geschrieben , als Grundlage für etwaige Verhand-
lungen auf dem Mantuaner Concil dienen sollte,
damals aber nicht gedruckt, erst 1541 (denn
die S. 452 Z. 7 nur einmal vorkommende
Zahl: 154,2 scheint mir ein Fehler des Original-
druckes zu sein) in der lateinischen Ueber-
sefzung des (mir sonst unbekannten) Petrus
Generanus veröffentlicht wurde. Wegen der
grossen Seltenheit und Wichtigkeit dieser
Uebersetzung hält der Herausgeber ihre
Mittheilung für gerechtfertigt.
Den Schluss des Bandes und der ganzen
Sammlung machen 28 in den Jahren 1518 — 1544
Schmidt, D. Martini Lntheri Opera etc. 111
von Luther geschriebene lateinische Vorreden,
theih zu eignen Werken, theils zu Arbeiten von
Zeitgenossen, theils zu neuen Auflagen älterer
Schriften. , Gerade bei diesem Tbeile wird das
Fehlen sachlicher Anmerkungen am meisten em-
pfunden werden. Es wäre, wie mir scheint,
durchaus Aufgabe einer solchen Sammlung ge-
wesen, mit kürzen Hinweisungen auf die Briefe
oder andre leicht zugängliche Quellen Veranlas-
sung und Geschichte dieser Schriften zu er-
zählen. Dagegen begnügt sich der Herausgeber
mit einer bibliographischen Beschreibung der
editio princeps, wenn sie ihm zugänglich war,
und einer Angabe der ihm bekannt gewordenen
Drucke; nur einmal (S. 492 fg.) gibt er eine
kleine Untersuchung, deren Resultat durchaus
beizustimmen ist.
Ich erachtete es keineswegs als meine Auf*
gäbe, alle die Schriften, denen Luther diese
Vorreden vorangesetzt hat, in ihren Original-
ausgaben, die zum Theil von grosser Seltenheit
sind, zu vergleichen. Bei der einen, der Vor-
rede zu dem exegetischen Werke des Joh. Brenz
p. 510 ff. stellte ich die Vergleichung an und
fand, dass die in den Noten mitgetheilten Les-
arten de Wettes auch die des Originals sind
und daher in, nicht unter den Text hätten
gestellt werden müssen, dass ferner S. 511 Z. 18
viderentur st. videntur zu lesen ist.
Mit diesen Bemerkungen und Ausstellungen
will ich durchaus nicht die vorliegende Aus-
gabe verurtheilen , sondern nur auf einzelne
Punkte hinweisen, deren Beachtung für die Be*
nutzer derselben erspriesslich , und für die
Herausgeber der noch folgenden Theile der Ge-
sammtausgabe vielleicht nicht ganz werthlos sein
möchte.
Berlin. Ludwig Geiger.
112 65tt. gel. Anz. 1874. Stuck 4.
Thet Oera Linda Bok, naar een handschrift
uit de dertiende eeuw. Met vergunning van den
eigenaar, den heer C. over de Linden aan den
Helder, bewerkt, vertaald en uitgegeven door
Dr. J. G. Ottern a. Te Leeuwarden, by H.
Kuipers. 1872. XXX und 256 SS. gr. 8°.
Dem genialen und scharfsinnigen Obbo Em-
mius (f 1625), der in seiner üistoria rerum
Friscarum*) seiner Heimat ein in mancher Hin-
sicht bis auf den heutigen Tag unübertroffenes
Denkmal setzte, traten vor allen die gelehrten
Westfriesen Suffridus Petrus (f 1597) und Bern-
hard Furmerius (f um 1616) entgegen. Der
Hauptgegenstand des Streites war die ältere
friesische Geschichte : während Emmius die zum
Teil schon im 10. Jahrhundert entstande-
nen Sagen über die Herkunft der Friesen zu
Schiffe aus Indien oder Persien unter dem See-
könig Friso und die sich anschliessenden Ge-
schichten vorchristlicher Friesenkönige aufs ent-
schiedenste zurückwies, boten jene Westfriesen
alles auf, die zerstreuten sagenhaften Erzählun-
gen zusammenzustellen, mit einander und mit
den Thatsachen der Weltgeschichte in Einklang
zu bringen; Lücken wurden durch die Phanta-
sie, auch wohl durch Beziehung auf erdichtete
Schriftsteller ausgefüllt, und so entstanden chro-
nologisch genau begrenzte Geschichten der alten
Friesen, die Emmius sehr richtig mit denen des
Trithem’schen Hunibald auf eine Linie stellt.
Die vorliegende Schrift überbietet alles, was
je friesische Patrioten zu Ehren unseres Stammes
gefabelt haben : wir würden dieselbe keiner Be-
*) Vollständige Ausgabe zusammen mit andern klei-
neren Schriften Lugd. Bat., Elzevir. 1616.
Ottern
rücksichtigung
einiger Staub
Dass hier eir
vorliegt, wird
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erwägt.
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bok thera Ade
ger Adela’s; n
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Jungfrauen (1
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rath (al go-re
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that wird)«,
lang Burgjung
ter erkoren is
weil eie A pol
aber dennoch
tet, ist hin ui
' *) Vgl. z. B
292, 19. Oct.: ,
114 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 4.
weiss deshalb, was geschehen ist. Die Stam-
mesgenossen jenseit der Weser sind nicht durch
Waffengewalt von dem Magy bezwangen, son-
dern durch arglistige Ränke und noch mehr
durch die Habsucht der Herzoge und Edelinge.
Frya hat gesagt, wir dürften keine Unfreien bei
uns dulden, aber sie haben die Gefangenen
statt sie zu tödten oder frei zu lassen zu Scla-
ven gemacht (to hjara släfonum). Daher das
Unglück. Die Kinder der freien Friesen spiel-
ten mit den Kindern der Finnen und lernten
ihre Unarten; später vermählten sie sich gar
mit ihnen. Als das der Magy merkte (onda
nös kryg), veranlasste er die schönsten seiner
Finnen und Magyaren (Finna and Magyara)
sich von den Friesen gefangen nehmen zu las-
sen; weiter liess er Friesenkinder aufgreifen
und in seinen verderblichen Lehren unterrichten,
um sie später zurückzusenden. Als die Schein-
Slaven (skin-slavona) die friesische Sprache ken-
nen gelernt, überredeten sie die Herzoge und
Edelinge sich ihnen zu unterwerfen, dann brauch-
ten sie für ihre Söhne nicht zu fürchten :
Volkswahl für deren Nachfolge wäre dann nicht
mehr nöthig. So sind die Friesen jenseit der
Weser heruntergekommen. Man soll sie sich
selbst überlassen und eine neue Volksmutter
wählen: dazu eignet sich von den vorhandenen
13 Burgjungfrauen besonders Tüntja, die Burg-
jungfrau zu Medenblick. Dann muss man zu
den Burgen gehen »und dort aufschreiben alle
Gesetze von Fryas Text (alle ewa fryas tex),
dazu alle die alten Geschichten , die an den
Wänden geschrieben stehen, damit dieselben
nicht verloren gehen«; von den Thaten und
fernen Seefahrten der heimischen Helden soll
man den Kindern erzählen.
115
Ottema, Thet Oera Linda Bok.
Der zweite Teil yon Adelas weisem Bath
wird befolgt. Fünf Männer besorgen die Samm-
lung der Inschriften von den Burgwänden, die
das erste Buch ausmachen, das Buch thera
Ad ela follistar. Es sind Apol, Adelas man,
der dreimal Seekönig war und nun Grevetman
ist über Ost-Flyland und über die Linda-Orte;
der Saxman Storo, Sytjas man; Enoch, Dywek
his man ; Foppa, man fon Dunros. Man sieht,
nicht blos als Volksmütter und Burgjungfrauen
oder -priesterinnen, sondern auch als Ehehälften
nehmen die Frauen eine bedeutende Stellung
ein. Das Buch beginnt sodann mit der Wand-
inschrift der Fryasburg auf Texland, enthal-
tend die Lehre von dem ewigen und unendli-
chen Wralda, später auch Alfodar genannt, und
die Entstehung des Menschengeschlechts, spe-
ciell der Friesen; dann folgen Gesetze, ein Be-
richt über die Entstehung des Königthums, und
Bestimmungen über die Grenzen der Macht der
Könige und Volksmütter, über die Seefahrer;
Geschichten von dem Friesen Minno, der den
Kretern Gesetze gab, von der Burgjungfrau
Min-erva, auch Nyhellenia, der die Griechen
göttliche Ehren erwiesen, und was dergleichen
mehr ist. Die Wände der Waraburg liefern
die eigenthümliche aus dem Julzeichen gebildete
Schrift, in welcher uns alle diese Nachrichten
überliefert sind; sie liegt der griechischen zu-
grunde und ist der Art, dass »wir unsere älte-
sten Schriften ebenso gut lesen können, als die,
welche gestern geschrieben sind«. Zum Glück
haben die Grevetmänner die Schriftzeichen selbst
ihrem Buche einverleibt, sodass dem Heraus-
geber, der zu der Stelle eine saubere Nach-
zeichnung liefert, die Entzifferung nicht schwer
wurde. Bald nachher wird eine neue Aera ein-
8*
116 Gott. gel. Asz. 1874. Stück 4.
geführt: 101 Jahr nach dem Versinken von At-
land = Altland = Atlantis; die Epoche fallt
nach dem an der Spitze des Codex stehenden
Briefe, geschrieben 1256 p. Chr. = 3449 post
Altl., auf 2193 a. Chr. Hier kommt uns also
zum Bewusstsein, dass die vorliegenden Be-
richte über das Jahr 2000 vor unserer Zeit-
rechnung hinausgehen, und Dr. Ottoma hat dem-
nach in der Einleitung berechnet, dass das
Buch ‘theraAdela folstar’ im Jahre 558 a. Chr.
geschrieben ist.
Der zweite Hauptteil des Werkes giebt sich
als geschrieben durch Adelas Kinder, Adelbrost
und Apollonia. Ein drittes Stück, etwa 250
Jahr später verfasst, schrieben Frethorik, Wil-
jow, seine Wittwe, ihr Sohn Konereed, dessen
Nelle Beeden und ein Unbekannter: »er wird
wohl ein Sohn von Beeden gewesen sein«, meint
Dr. Ottema. Auch das letzte Stück stammt
aus vorchristlicher Zeit. Fragen wir, auf was
für Stoll alle diese weisen Frauen und Män-
ner schrieben, so sagt uns das Werk selbst,
dass es ein gewisser ‘skriv filt’ war, den man
in Friesland fabricierte. Der Inhalt der beiden
letzten Teile des Werkes ist ebenso mannig-
faltig, wie der des ersten: »der Inhalt des Gan-
zen ist in jeder Hinsicht neu, namentlich steht
fast nichts darin, was wir sonst schon wüssten«,
meint der Herausgeber. Der Leser möge sich
selbst durcharbeiten, wir wollen ihm den Genuss
nicht vorwegnehmen. Er findet nicht nur höchst
erleuchtete religiöse Lehren über den »allein
guten« Wralda und das Gewissen als zuver-
lässige Richtschnur für alles Handeln, »sofern
es gut erzogen ist«, sondern auch in bunter
Fülle von: nachtule, vampyra, tohnekka (Tunica),
tot-horne (Tuthörner); in uralter Zeit giebt es
Ottema, Thet Oera Linda Bok. 117
hier schon die Wörter : salt&tha, scherke, slavona
(Sclaven), Swetsar — die friesische Colonisten,
welche die Pfahlbauten bewohnten — Franka,
Allemanna*). Neben Notizen über Handel und
Industrie, über Troja — Dr. Schliemann ist nicht
berücksichtigt — und den Kampf zwischen Rö-
mern und Puniern »um die Herrschaft über den
‘middelse’« hört er von Rheinreisen alter Frie-
sen und Friesinnen und der Entstehung des Na-
mens der Germanen, beglaubigte Geschichten
von den alten Königen Friso und Adel I. nebst
Nachkommenschaft, anschaulich wird ihm die
Entstehung der Landenge von Suez vorgeführt,
daneben Thiere und Pflanzen des Himalaja.
Gewis ist es interessant zu erfahren, dass die
Twisklandar = Deutsche, verbannte und wegge-
laufene Fryaskinder sind, die ihre Frauen von
den Tartaren raubten. »Die Tartaren sind ein
braunes Findasvolk, so genannt, weil sie alle
Völker zum Streit herausfordern (uttarta). Davon
sind die Deutschen ebenso blutdürstig geworden«,
S. 211. 212. Wahrscheinlich ist es auch auf die
bösen Twisklandar und ihren vorchristlichen He-
gel gemünzt, wenn es heisst, dass in Hindas
Volk »Wahnwitzige, wanwysa, vorhanden sind,
die durch ihre übergrosse Erfindungsgabe so
böse geworden sind, dass sie sich selbst weis
machen und ihr Innerstes überreden zu glauben,
dass sie das beste Teil sind von Wralda, dass
ihr Geist das beste Teil von Wraldas Geist ist,
und dass Wralda nur denken kann durch Hülfe
ihres eigenen Gehirns«. S. 250 sind die Twis-
klandar sogar ein »schmutziges Bastardvolk«;
etwas reiner erhielt sich nur der Stamm, der
*) Der Art sind die Wörter, um welohe der Sprach-
schatz der altfriesischen Gesetze vermehrt wird. Nach
dem Herausgeber, S. XV, konnten solche in neuerer Zeit
nicht erfunden werden.
118 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
sich selbst nannte »Thjoth-his suna, that is folk-
his suna «.
Doch warum den Leser noch länger mit all
dem Unsinn hinhalten? Die Handschrift will
aus dem Jahre 1256 p. Ghr. stammen und eine
Abschrift sein von einem uralten Skrivfilt-Codex,
dem ein unfreiwilliges Seebad seine Dauerbar-
keit genommen. Sie ist unzweifelhaft innerhalb
der letzten 20 Jahre angefertigt, wie es scheint
mit oberflächlicher Kenntnis mittelalterlicher
Texte. Die Sprache ist überall eine Rücküber-
setzung aus dem Holländischen ins Altfriesiscbe,
oder vielmehr der Versuch einer solchen in Be-
zug auf die Wortbildung und -biegung, denn
die Vocalisation ist keineswegs correct, und der
Satzbau womöglich noch moderner , als die
nebenstehende Uebersetzung. Dr. Ottema ist
ein guter Kenner des Altfriesischen und, wie
die vorstehende Tafel zu p. 8 zeigt, im Rück-
übersetzen geübt; von dem Alter der Hand-
schrift hat er sich merkwürdig rasch überzeugt;
in der Schrift selbst erkannte er sofort die von
dem Schreiber wohl beabsichtigte »halbgriechi-
sche« Schrift, die Cäsar bei den Galliern vor-
fand; er weiss alle Dunkelheiten aufs scharf-
sinnigste und treffendste aufzuhellen und findet
nirgends Anstössiges : es ist fast unglaublich, dass
er sich von einem Fälscher, der da rechnete auf die
‘dumhed thera manniska’, sollte haben ‘lik en buhl
by thera nose omme leidan’ lassen. Täuschen wir
uns, wenn wir dem Herrn Dr. Ottema zu Ehren
annehmen, dass er selbst sich diese sonderbare
Mystification erlaubt hat? Dass der Codex in
die Hand des jetzigen Besitzers schon im
August 1848 gekommen wäre, wie in der Ein-
leitung erzählt wird, würde man vielleicht noch
glauben können, wenn nicht die Pfahlbauten, die
darin hervortretende erst in neuerer Zeit bei einigen
Grill, Verhältniss d. indog. u. sem. Sprachw. 119
Holländern erstandene Angst vor dem deutschen
Mutterlande und ähnliche Eigentümlichkeiten
entgegenständen. Man wird wohl annehmen müs-
sen, dass die ‘Inleiding’ ein wesentlicher, nur
etwas später abgefasster Bestandteil des Werkes
selbst ist. Doch dem sei wie ihm wolle: ist
Dr. Ottema an dem Entstehen der Handschrift
unschuldig, so ist zu bedauern, dass er so viel
Zeit und Mühe auf ihre Herausgabe und Er-
läuterung verwandt hat.
Aurich. A. Pannenborg.
Ueber das Verhältniss der indogermanischen
und semitischen Sprachwurzeln. Ein Beitrag
zur Physiologie der Sprache. Von J. Grill,
(in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländi-
schen Gesellschaft 1873 S. 425 — 460).
Sind der Mittelländische und der Semitische
Sprachstamm mit einander verwandt? und
warum sind die Wurzeln nicht in jenem, wohl
aber in diesem nothwendig und (man kann sa-
gen) beständig dreilautig? Diese beiden aufs
engste mit einander verschlungenen Fragen sind
(um von den älteren Zeiten Europäischer Wis-
senschaft hier zu schweigen) seit dem letzten
halben Jahrhunderte stehend, und haben schon
sehr vielerlei gelehrte Federn beschäftigt. Die
erstere der beiden Fragen ist neuestens nament-
lich auch von dem vortrefflichen Kenner der
Deutschen Sprachen und Schriftthümer, Hrn.
Prof. Rudolf von Raumer in Erlangen, in
seinen » Gesamm eiten sprach wi ssenschaftlichen
Schriften« (Frankf. a. M. 1863) mit besonderem
Eifer verfolgt; und seit 1867 verfolgt er sie mit
demselben Eifer in einer Reihe von »Fort-
setzungen der Untersuchungen über die Urver-
wandtschaft der semitischen und indogermani-
schen Sprachen« (ebenda bei Heyder und Zimmer),
I
120 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
auf welche wir hier gelegentlich hinweisen. Inder-
that ist die Urverwandtschaft der beiden Sprach-
8tämme ebenso gewiss wie es z. B. unläugbar
ist dass der Begriff des Griechischen yQaip und
Lateinischen scnb sich im Semitischen ktab nur
lautlich etwas härter ausdrückt. — Die oben
bemerkte neue Abhandlung setzt die Verwandt-
schaft der beiden Sprachstämme ebenfalls voraus,
will aber über die Bildung der Semitischen Wur-
zeln etwas neues sagen. Der Verf. meint näm-
lich gefunden zu haben ein Hauptunterschied
zwischen dem Mittelländischen und dem Semiti-
schen Sprachstamme bestehe darin dass in je-
nem der »Formalismus«, in diesem der »Ma-
terialismus* alles beherrsche; und da dadurch
sogar schon der Wurzelbau in beiden verschie-
den bedingt sein soll, so würde dieser Unter-
schied so gut wie den ganzen Sprachenbau in
beiden bestimmen. Aber er will noch weit
darüber hinausgehen, und behauptet die Semiten
seien überhaupt von Anfang an blosse Materia-
listen, die Völker des Mittelländischen Sprach-
stammes seien dagegen von Geburt die aller-
besten Formmenschen, mit dem feinsten Sinne
für Form, Schönheit, Kunst, Wissenschaft, Phi-
losophie u. s. w. begabt; und das habe ja schon
der Pariser Renan gelehrt, dessen bekannte An-
sichten unser Verf. sich mit Freuden aneignet.
Dürfte man nun überhaupt (um von Völkern
und Volksstämmen hier zu schweigen) bei Spra-
chen und Sprachstämmen einen solchen Unter-
schied machen, so würden ja sicher gerade um-
gekehrt die Semitischen Sprachen im offenbaren
Vorzüge vor den Mittelländischen die Herrlich-
keit des »Formalismus« besitzen. Schon von
den Wurzeln an: denn was ist für Gleichmässig-
keit, Masshaltung und Schönheit sprechender als
Grill, Verhältnis d. indog. u. sem. Sprachw. 121
die vollkommen gleichmässige Weise in welcher
sie die Wurzeln wenigstens der Thatwörter (und
nur auf diese kommt es vor allem an) in nicht
zu kleinem und nicht zu grossem Umfange und
noch dazu so äusserst fügsam und bildsam aus-
gestaltet besitzen? Was entspricht ferner dem
schönen Bildungssinne mehr als die Ausbildung
des Semitischen Wortes, welches überhaupt wie
in keinem andern Sprachstamme bildsam und ins-
besondere dadurch so ausgezeichnet ist dass es
niemals zu einem so Ungeheuern Umfange an-
wachsen kann wie das Mittelländische? Letzte-
res gleicht darin sogar dem Nordischen (Tür-
kisch-Tatarischen) Worte: und wer wird jenen
rauhen Nordischen Sprachstamm für ein Muster
von Bildungsschönbeit halten? Kurz, es bedarf
im Grunde nur einiger etwas ausgebreiteter und
gründlicherer Sprachkenntniss um den Satz wel-
chen der Verf. als ein herrliches Kunststück ge-
funden zu haben meint, geradezu umzukehren»
Allein was heisst es ansich, die Sprachstämme
nach Formalismus und Materialismus unterschei-
den wollen? Es giebt allerdings Menschen die
bei allem was sie reden und was sie sind mehr
auf die blosse Form als auf die Wirklichkeit und
Wahrheit halten: meint man denn aber das sei
bei den Sprachen oder gar bei den Ursprachen
d. i. den Sprachstämmen ebenso? Vielmehr ist
ja das Eigenthümliche der Sprachen dass die
Stoffe nicht nur als die Gedanken und Begriffe
sondern auch als die Urlaute bei allen diesel-
ben, und nur die Art wie sie solche ausdrücken
verschieden ist ; diese Verschiedenheit zeigt sich
aber in ihrer wahren Bedeutung erst wenn man
alle Sprachen und Sprachstämme mit einander
genau vergleicht; und wer bloss von zwei Sprach-
stämmen etwas zerstreutes weiss, sollte hier
122 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 4.
besser schweigen. Wer nun aber noch dazu
solche zwar sehr wirkliche und wahre aber rein
urgeschichtliche oder vielmehr vorgeschichtliche
Dinge als den Ursprung der Sprachwurzeln und
Sprachstämme mit Dingen zusammenwirft wie
Wissenschaft, Bildkunst, Baukunst und anderen
' welche erst in kaum bemessbar späteren und
veränderten Lagen der Menschheit möglich sind,
der verwirrt ja nur alles in einander« Und wer
endlich in Deutschland noch immer auf die längst
verscheuchten träumerischen Einbildungen Re-
nan's über die Nationalitäten und die den Se-
miten angehornen geistigen Mängel eine neue
Weisheit bauen will, der begreift doch inderthat
kaum was Wissenschaft ist und sein soll.
Es schwirren in unsem Zeiten so unabsehbar
viele halbe Gedanken und verworrene Vorstel-
lungen durch die Lüfte dass nichts leichter ist
als dies oder jenes Dutzend von ihnen in einem
Hohlspiegel aufzufangen und im Blicke darauf
mit Hülfe bekannter Schulausdrücke immer neue
Abhandlungen zu schreiben. Man kennt und
benutzt dabei nicht die schon vorhandenen bes-
seren Einsichten und Schriften: aus untergeord-
neten Schriften halber oder gar keiner Sach-
kenner schöpft man, thut etwas vom eignen Be-
lieben hinzu, und rühmt sich dann Wunder was
neues und wichtiges entdeckt zu haben. Das
ist bei Wissenschaften welche Schwierigeres und
von unsem gewöhnlichen Kenntnissen oder Be-
strebungen weiter entfernt Liegendes behandeln,
noch ganz besonders gefährlich und schädlich:
und welche Forschungen gehören dahin mehr
als die über die Urstände aller menschlichen
Sprachen, Gedanken und -Wahrheiten einerseits
und die über Orientalisches andererseits? Allein
bis jetzt scheint man in Deutschland noch nicht
Milberg, Durch die Meanderbahnen etc. 12?
einmal so weit zu sein um in solchen Fächern
auch nur die Herrschaft solcher Franzosen wie
Renan von sich zu weisen. Wie Hr. Renan die
Köpfe unzählbarer Deutschen in theologischen
und kirchlichen zu verwirren mitgeholfen hat,
so soll er auch noch in Orientalischen und
sprachwissenschaftlichen Fragen gerade da wo
diese allgemein wichtiger aber auch schwieriger
sind, trotzdem dass in Deutschland längst weit
gründlichere Forschungen und bessere Ergebnisse
vorliegen, etwa ebenso fortherrschen wie im vori-
gen Jahrhunderte Voltaire die Geister unterjocht
hielt. Wir wollten das wenigstens bei dieser
Veranlassung noch einmal bemerken, ob viel-
leicht sich einige Deutsche heute finden welche
dies Uebel zu begreifen und abzuweisen ver-
stehen. H. E.
Milberg, J. H.: Durch die Maeanderbahnen
der Astronomie zur Philosophie und zum Chri-
stenthum. Hamburg, W. Maucke Söhne, 1873.
Es ist nicht zu zweifeln, dass der Verf. recht
ernstlich überzeugt ist, durch sein vorliegendes
Buch zur Förderung, wie der Astronomie, so auch
der Philosophie und der Erkenntniss des Christen-
thums nicht bloss etwas Tüchtiges geleistet, son-
dern sogar eine neue Aera auf den drei genann-
ten Gebieten menschlichen Forschens eingeleitet
zu haben. Kaum könnte der Ton, in welchem
er redet, zuversichtlicher und in Beziehung auf
seine Vorgänger wegwerfender sein, und selbst
Leistungen, wie diejenigen, durch welche unsere
heutigen astronomischen Anschauungen begrün-
det worden sind, bespricht er in einer Weise,
als ob wir deren Werth wenigstens für im höch-
sten Grade zweifelhaft zu halten hätten. Wenn,
um nur ein Beispiel anzuführen, Newton vorge-
124 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 4.
worfen wird, dass er »sich in die gehaltlosesten
Theorien verloren« habe, und wenn von seinem
Systeme weiter gesagt wird, dass es »eine ge-
haltlose Verirrung des menschlichen Geistes sei,
wie eine grössere nie dagewesen«, ja, wenn es
in Beziehung auf Newton’s Theorie als »eine alte
Erfahrung« bezeichnet wird, das9, »je dümmer
eine Lehre, sie desto mehr Gläubige finde« und
wenn es dann heisst, dass eben »so in die des
Newton sehr Viele hinein gefallen, die ihren
Scharfsinn in dieselbe begraben hätten«, so ist
das denn doch wirklich eine Sprache, die nicht
selbstbewusster sein könnte; und — jedenfalls
berechtigt uns ein solches Auftreten von Seiten
• des Verf., nun von ihm Etwas zu erwarten, das
ihn als den Meister über seine so schwer ge-
scholtenen Vorgänger zeigte. Allein ob man
nun dies wirklich von seiner Leistung werde be-
haupten können, das ist eine Frage, die wir denn
doch unsrerseits sehr in Zweifel ziehen möchten,
auch auf die Gefahr hin, von ihm auch zu denen
gezählt zu werden, die »sich nur auf die Triumphe
der Principien und der erstarkten Wissenschaft
stützen, ohne selbst zu denken, und die nichts
Anderes thun , als mit ungeheuerer Gelehrtheit
die alte Lehre, die sie selbst nicht verstanden,
nachbeten, obgleich dieselbe wegen ihrer Unfass-
lichkeit jeden Denker dazu führen muss, Rich-
tigeres zu suchen«.
Allerdings wollen wir nicht in Abrede stel-
len, dass mit der Newton’schen und den an sie
angeschlossenen Theorieen auch die letzten Räth-
sel noch nicht gelöst sind, wie nicht leicht Je-
mand bestreiten wird, der sich auf dieselben
ernstlich eingelassen hat, aber — löst denn nun
des Verf. Theorie diese Räthsel in einer besse-
ren Weise? Er beklagt sich, dass die Astrono-
Milberg, Durch die Maeanderbahnen etc. 125
men vom Fach bisher so überaus spröde gegen
seine Aufstellungen gewesen sind. »Die gelehrten
Herren Astronomen«, sagt er in dieser Beziehung,
»können gegen mich keinen Beweis liefern, sie
können es nicht möglich machen, gegen meine
Behauptung, dass die Maeanderbahnen das wahre
Sonnensystem, zu Felde zu ziehen, und da sie
sich nicht von Jemandem belehren lassen dürfen,
der nicht Astronom, sondern Naturphilosopb, so
ist ihnen die ganze Sachlage eine höchst unbe-
queme, Niemand will anerkennen und die alten
Bahnen der Ellipsen vertheidigen, noch die
Maeanderbahnen angreifen, Keiner will sich bla*
miren, deshalb giebt es nur ein Mittel, todt-
schweigen«. Aber abgesehen von dem ganz Un-
geeigneten solcher Auslassungen in einer Schrift,
in der man es mit der ruhigen Erörterung des
Thatsächlichen zu thun haben sollte, batten wirk-
lich die »gelehrten Herrn Astronomen« nichtRecht,
eine Schrift nicht zu beachten, die weder den
Nachweis der Richtigkeit ihrer Behauptungen in
der nun einmal hergebrachten wissenschaftlichen,
d. h. auf Thatsachen gegründeten Weise unter-
nimmt, .noch auch in dem, was sie behauptet,
mit einer ganzen Reihe von Thatsachen, die zu
den wissenschaftlich begründetsten gehören, in
Einklang gebracht werden kann? Jedenfalls hat
der »gelehrte Astronom« Recht, wenn er natur-
philosophische Phantasien, so lange dieselben
nichts Anderes, als nur dies sind, nicht be-
achtet, da es auf keinem Gebiete mehr, als auf
dem der Astronomie, darauf ankommt, das, was
man behauptet, auch zu beweisen, und da aller
Fortschritt auf diesem Gebiete doch wohl haupt-
sächlich nur in der genauen Beobachtung und
Feststellung der Thatsachen und in der Art und
Weise bestehen kann, wie diese Thatsachen für
126 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
die allgemeinen Theorien verwerthet werden.
Mit Machtsprüchen ist hier am Allerwenigsten
Etwas gethan, und selbst wenn diese Macht-
sprüche mit der Versicherung begleitet sind,
dass »todtschweigen nicht helfe«, dass »die Wahr-
heit wie der Lichtstrahl durch Wolken brechen«,
dass »das Volk die neue Lehre verstehen lernen
und dann auch die Theorie, die Herren der al-
ten Lehre (siel), hinterherschwanken werde und
sie nachbeten müssen, denn — weil es so ist, so
ist es so!« Das klingt sehr selbstgewiss, aber —
mit dem blossen »So ist es« richtet man hier
wirklich nicht viel aus. —
Und nicht besser, wie mit dem, was der Verf.
in Beziehung auf Astronomie vorbringt, steht es
mit seinen Auslassungen in Hinsicht auf das
zweite grosse Forschungsgebiet, auf das er eich
begeben, in Hinsicht auf die Philosophie. Auch
hier dieselbe Erhabenheit des Standpunktes, die
über das, was auf diesem Gebiete bisher gelei-
stet worden ist, nur ein absprechendes Urtheil
hat. Kant z. B., der »um die Welt mit Ge-
lehrtheit zu beglücken«, die Newton’sche Theorie
»als begriffen weiter erzählt und anerkannt hat«,
wird einer »traurigen Philosophie« geziehen, »die
den arithmetischen Satz annimmt, dass 2 mal 2
gleich 4 ist, aber nicht erlaubt, diesen Satz weiter
zu führen«, und ganz und gar verhehlt es uns
der Verf. nicht, dass diese Philosophie eigent-
lich nur »für den, der nicht denkt, genügt«. Und
so geht es dann fort: mit unsrer heutigen Phi-
losophie liegt es so sehr im Argen, dass wir
nicht bloss hinter den Griechen, sondern auch
hinter den Chinesen zurückstehen. »Wo sind
denn, ruft er aus, »die Errungenschaften des
Edlen, Hohen, der geistige Thron, auf dem wir
zu stehen träumen? Sind es die Principien, der
Milberg, Durch die Maeanderbahnen etc. 127
Triumph der erstarkten Wissenschaften?« Weit
gefehlt! Die Wissenschaften haben auch schon
die Alten gehabt, aber »unsre Lehrer umhüllen
die Wahrheit mit Begriffslehren, und Alles, was
sie erreichen in ihren Burgen, ist ihrer Eitelkeit
zu dienen, ist, in fernen Weltregionen ein neues
Atom zu finden«. Eine ganze Reihe von Seiten
hindurch ergeht sich der Verf. in solchen An-
klagen, eine wegwerfender, als die andere, und
fragt man, was er selbst denn nun eigentlich
will, so erhält man denn doch nur sehr geringen
Aufschluss in allgemeinen, doch gewiss schon
hinreichend genug gehörten Phrasen. Man lese
nur von S. 43 an und man wird staunen, wie
der Verf. rein banale Redensarten für neue Er-
kenntnisse auszugeben wagt, und — wie er dann
schliesslich bloss gegen einen Artikel des Brock-
hausischen Conversationslexikons und dessen Be-
griffsbestimmung der Philosophie zu Felde zieht,
in der Meinung, damit das ganze heutige philo-
sophische Denken in seinem Kernfehler getroffen
und als rein verfehlt zurecht gewiesen zu haben.
»Ich habe«, heisst es zum Schluss dieser viele
Seiten füllenden »Beleuchtung der im Brockhaus'-
schen Lexikon enthaltenen Ansichten über Leh-
ren der Weisheit zu zeigen mich angestrengt,
dass die augenblicklich geltenden Bestimmungen
der sogenannten Philosophie über Gedanke, über
Begriff und Wissenschaft ein ungeheurer Wirr-
warr sind, von dem sich Jeder überzeugt hat,
der mit dem von mir gegebenen Schlüssel mir in
meinen Auseinandersetzungen gefolgt«, und »man
kann sich daher nicht wundern, dass es Men-
schen gegeben hat, die aus diesem Wirrwarr in
ihrem Irrthum Lehren zusammen fügten und Ge-
setze zu geben es gewagt (sic!), die sie selbst
nicht verstanden!« Aber wenn man nun sagen
128 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 4.
soll, was er selbst denn an die Stelle der heuti-
gen Philosophie setzen will, Bef. muss beken-
nen, dass er es aus allen Redensarten des Verl
doch eigentlich nicht hat abnehmen können. —
Endlich das über das Christenthum Beige-
brachte : es ist das, mit einem Worte gesagt, der
reine Gallimathias! Wie wenig der Verf. »be-
rechtigt ist, in den Kreis der wissenschaftlichen
Betrachtungen der Astronomie und Philosophie
auch die christliche Lehre hineinzuziehen€, geht
schon daraus hervor, dass er in den Grundquel-
len christlicher Erkenntniss, in der Bibel, nicht
einmal recht zu Hause ist. Allerlei Schriftstellen
sind ihm wohl noch vom Schulunterrichte her
im Gedächtniss, aber wie wirft er die Worte
Christi und der Apostel bunt und ohne Unter-
scheidung durch einander, dem Einen in den
Mund legend, was doch dem Anderen gehört, ja
wie geht er sogar so weit in dieser Vernachlässigung
aller Genauigkeit, dass er (S. 76) schreiben kann:
„der Mensch ist seines Glückes Schmied, sagt der Apo-
stel, und das Sprichwort: Prüfet Alles und wählet das
Beste“. Unter solchen Umständen kann denn freilich
von wirklicher Erkenntniss auch auf diesem dritten For-
schungsgebiete, die der Verf. darböte, nicht die Rede
sein. Alles kommt auch da in ein blosses Deklamiren voll
hochtönender, aber sehr allgemeiner Phrasen hinaus, von
denen wohl nur der Verf. nicht weiss, dass sie längst in
aller Munde sind, und — schliesslich läuft Alles in die
doch kaum mehr als ein Lächeln verdienende Behaup-
tung aus, dass Christus ein Repräsentant deijenigen Art
von „Naturphilosophie“ gewesen sei, die den Fleischge-
nuss verabscheut, des „Vegetarianismus“.
ln einem Schlussäbschnitte meint der Verf.. „die
Herren Angestellten hätten sich jetzt ihrer Haut zu wäh-
ren (sic!), wenn ein Fremdling ihnen den alten, gedan-
kenlosen Weg verlegen wolle, auf dem sie so gemüthlich
umher geschaukelt“, Ref. möchte jedoch glauben, der
Kampf würde den „Herren Angestellten“ nicht eben
schwer werden. Schliesslich noch die Bemerkung, dass
das Buch von Druckfehlern und Sprachschnitzern über-
füllt ist. Brandes.
129
■Gift f n g f s ehe
9
gelehrte Ansteigen
/ '
nutet der Aufsicht
l
9
♦ 1
dpt Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Sttlök 5. 4. Februar 1874,
Reisen nach dem Nordpolarmeer ih
den Jahren 1870 nnd 1871 von M. Th. von
Heuglin. In zwei Theilen und einem wissen-
schaftlichen Anhang. Mit drefcOriginalkarten,
zwei Farbendruck-Bildern, zahlreichen Illustra-
tionen nnd Vorwort von Dr. A. Petermann.
Erster Thefl: Reise in Norwegen und Spitz-
bergen. Braunschweig. Georg Westermann,
1872. 828 Seiten Mittel-Octav.
Obgleich der Verf. des vorstehenden Werkes
in seinen ersten Briefen an Dr. Petermann in'
Gotha schrieb, dass seine Reise nicht die Prä-
tension habe; eine wissenschaftliche Expedition'
zu sein, denn dazu hätte er ganz anders Vor-
bereitet und ausgerüstet sein müssen, so hatte
er sich dock einen Plan gemacht und hatte be-
stimmte Ziele im Auge. Diese nennt er eben-
daselbst (Oebgr. Mitth. 1870, S. 341) und sie
sind erreicht worden. Die Reise hat für die
Geologie , die Sinologie und Botanik der Polar-
gegenden anetkennenswerthe Resultate geliefert;'
9
130 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
ebenso wurden reiche Sammlungen mitgebracht,
yon denen leider eine fünf Centner schwere Kiste
mit Mineralien und Petrefacten heim Verladen
i
des Gepäcks io Bergen in Verlast gerathen war«
Alle Bemühungen sie wieder zu erlangen blie-
ben erfolglos« Dem eignen Reiseplan diente zu
grösserer Klarheit das S. 4 bis 10 abgedruckte
Schreiben von Dr. Petermann an den Verf., der
hiebei in einer Anmerkung S. 5 wiederholt, dass
Entdeckungen »»ausser seiner Absicht lägen, viel-
mehr er sich auf wissenschaftliche Sammlungen
und Beobachtungen beschränken werde««. Der
eigentliche Urheber des Reieeplans wer der W ür-
tembergische Oberlieutnant Graf Waldburg-Zeil-
Trauchburg, der dem Verf/, im März 1870 jden
Vorschlag machte, gemeinschaftlich . mit ihm,
eine Fahrt nach dem Norden zu unternehmen
(S. 1). Alle Vcjfbereitungen wurden ,rascb.b$T
trieben. Am 4. Juni fuhren die Reisenden von
Hamburg nach Norwegen auf dem Dampfer
»Hakon Jarl« und von hier an beginnen die
Beobachtungen des Verf., welche sich vorzugs-
weise auf die Geologie, die Fauna und die Flora
der erforschten Gegenden erstrecken. Die Fahrt
nach Tromsö» . . von , yro aus die j Polarreise auf
dem dort gecharterten Schuner »Skjön Valborg« .
beginnt, dauerte 15 Tage. Der »Hakon Jarl«
läuft aber auch viele Häfen an: Christiansand
(S. 14 ff.), Clere (S. 10), Farsund, Ekesund (S.
17), Stavanger (S. 17 u. 18), Bergen (8. Juni*
S. 19 u. ff.), Aalesund Hl. Juni S. 23), Molde, .
Trondbjem (S. 23 ff.). Von hier besteigen die
Reisenden den »Tordenskjöld«, landen am 16..
Juni für einige Stunden in Namsos, passirpn an
demselben Tage Nachmittags, 3 Uhr die.Grepae
des Nordlands, an} folgenden Tage den Polar*,
kreis und die ungefähre Grenze des Nadelholzes
Heuglin, Reifen hach dem Nordpolarmeer. 131
in der NÜhe der Küste (6. 28 u. f.), kommen
dann nach Bodö, Stoekmarknes auf Ulsö (S. 30),
Trane (8. 84)* Maalnes (ebdas.), endlich nach
TrömsS (19. Juni S. 35). Bis hierher ward vom'
Verf. die Meerfarbe der Nordsee — tiefblau im
Skager Rack, — die Meerestemperatur an eini-
gen Stellen (8. 13) und manches andere beob-
achtet. Die Domkirche zu Trondbjem ist in
einem feinen Holzschnitt abgebildet (S. 24).
Von hier an bietet sich Gelegenheit, Bekannt-
schaft mit den nordischen Seevögeln zu machen,
die sehr zahlreich auf den Klippen und Inseln
vertreten sind (8. 27). Das Bild eines Fischers
von den Lofoten (S. 82) bezeugt, dass der Verf.
sich im Bereich dieser Inselgruppe befindet, die
er kurz skizzirt (8. 81 bis 34). Der für die
Nordfahrt bis zum 15. October gemiethete
Schuner bot wenig Bequemlichkeit für die Rei-
senden (8. 88), die ihren Aufenthalt in Tromsö.
zur Besichtigung 'der gleichnamigen Insel be-
nutzten. Auf wenig Beiten bringt der Verf. ein
anschauliches Bild der Waldungen , Wiesen-
grunde, Gärten, erster© belebt1 von weissen Ha-
sen, Mootschheehühnenr, Wacholderdrosseln*
u. & w. An den Gewässern fand er Colymbus
septemtrionalis brütend und Phalaropus eine-
rius (den niedlichen Lappenfuss); am Strande
kleine Regenpfeifer, Meerstrandläufer, Austern-
fischer ; auf der See Lummen und Alken in
ziemlich dicht geschlossenen Gesellschaften,,
mehrerlei* Möwen; auf dem Wiesenlande die
Rauchschwalbe, die Sumpfrohreule. >Der Strand
der Insel ist an. einigen Orten bedeckt von einer,
wahren Musterkarte von plutonischen Gesteinen,
als Granit, Glimmerschiefer, Chlorit, Gabbro,
Horablendefels und Granatit ; auf der Westseite
> steht ein geschichtetes Gestein an, das häufig
9*
12 Gott get Anz. 1874. Stick &
s Baumaterial augewendet wird« (S. 41). Dar'
erf. hielt es für dolomitischen Kalk und ver-
utbete, derselbe ruhe auf Glimmerschiefer,
as Thermometer stieg nicht selten auf 20 — 22
rad R. im Schatten (S. 42). Ein Ausflug ward
ich dem nahen Tromsdal am Festland, einem
»n hohen Bergwänden eingeschlosseaen Thal-
888el, in dem eine Lappenfamilie (wovon 2 Ab-
ildungen) mit ihren ßennthierheerden wohnt,
ämacht (S. 43 u. ff.). Am Vormittag 3. Juli
chtete die Skjön Valborg die Anker (damit be-
nnt Kap. 2 S. 49 bis 93, welches die Fahrt
sn Norden bis zur ersten Landung in Spitz-
er gen beschreibt). Unter widrigen Winden
langte man nach zwei Tagen bis in den en-
en Kanal/ von Skorö, von wo in einem Bar-
unierboot ein Abstecher nach der von male-
schen und gewaltigen Felsmassea erfüllten In-
;1 Fuglö (70° 10' Nördl. Br.) gemacht wurde.
iie Felsen, aus verschiedenen Urgebirgsarten be-
lebend, sind 2* bis 3000 Fuss hoch, zum Theil
lit üppigem Grün bedeckt. Zahllose Vogel-
ihaaren nisten an den Abhängen; die jährliche
agdausbeute liefert 30 — 40,000 Vögel und viel-
licht doppelt so viele Eier (S. 57). Am 8. Juli
■üh fuhr der Schoner weiter, das Wetter blieb
•übe und neblig, am 11. meinte der Kapit&in
abe der Bäreninsel zu sein, was dem Verf. Ge-
igenheit giebt, diese Insel nach Keilhau und
ieopold v. Buch und anderen S. 64 bis 68 zu
eschreiben. An ebendemselben 11. Juli pas-
irte man auf 18 Grad Oestl. Länge v. Gr. den
5. Grad Nördl. Breite und gerieth bald in
'reibeis (S. 69). Die Temperatur war 4*2*/*°
L, das Meerwasser — 0,5°. Die Eismassen wur-
en dichter, undurchdringlicher; gegen den ur-
prUuglicheu Plan ward beschlossen, >um das
Heuglin, Reisen nach den Nordpolanneer. 133
Sftdcap von Gross-Spitzbergen hemm Kings der
Westküste desselben hinznsegeln nnd hier
einen passenden Hafen zn erreichen« (S. 71),
Das Erscheinen von Finwalen veranlasst den
Excars über den längst ans den Spitebergiscben
Gewässern verschwundenen grönländischen Wal
S. 74 bis 88, dem sich einige Bemerkungen
über den Fmfisch anfügen (8. 88 — 90). Das
Eis nötbigte zeerst eine rückgängige and dann
eine Bewegung nacfa Westen zu machen; am
IS. Juli befindet man sioh dem Südkap südlich
gegenüber, Mitternacht kommt der 4500 Fuss
hohe Horn-Suud-Tind in Sicht; am 16. wird
ans Land zu geben beschlossen und ausgeführt.
Damit beginnt Kap. 3 (S. 94 — 155), die Landung
südlich von Rotjes Fell. Die Schilderung der
Gegend ist hier besonders detaillirend : der
Strand mit Geröll bedeckt, am Ufer ruinen-
artige Klippen, die Brutplätze der Bürgermeister*
möven, ein um das Gefelse herum sich schlei-
chender Eisfuchs, der sich einen jungen Vogel
fängt, Flüge von Eidervögeln und Grasgänsen,
in der Ferne um die Berge undeutliche nebel-
artige Streifen, die sioh als8chaaren von Krab-
bentauchern ausweisen. Die eisumstarrte Oede
gewinnt Leben durch des Verf. malerische Dar-
stellung. Der Rotjes Fell besteht aus soge-
nannten Hekla-Hook-Bildungen, die glasklingend,
diebt, spröde und brüchig sind (3. 97). Allo
Felsblöcke sind dicht besäet mit Brntstellen.
Ein Krabbentauoher ist hier abgebildet (8. 96);
»Hebe Geschöpfe« nennt sie der Verf., sie Bind
die kleinsten der in Europa heimischen Schwimm-
vögel. Der Schoner wird in den Hafen der
Dunen-Inseln bugBirt, auf welchen die Zahl der
Eiderenten bedeutend abgenommen bat (S. 102^.
Die Naturgeeohiohte dieses Vogels, von dem hiev
134 Gott. geL Apz. 1874. Stück 8.
eine Abbildung, folgt ausführlich, darnach Wör-
den der Praohteidervogel oder die Königsente
(Somateria spectabilis) und die Eisente {der
Verf. schreibt Eisschellente, Harelda glacialie)
beschrieben, letztere hauptsächlich auf Süss*
wasserteicben anzutreffen nnd sich im Sommer-
kleide fortpflanzend. Die Sohneeammer ist der
einzige hier lebende Singvogel (S. 108 n. f.),ein
Wandervogel, der im Mai anlaogt; die kleine*
ren Süsswassertümpel bevölkert der breit*
8chnäbelige Wassertreter (Phakropus) ; Laras
ist mehrfach vertreten, anch die arktische See*
schwalbe nnd die Ringelgans (Bernicla brenta
oder bei Linnee Anas bernicla). Während des
Aufenthalts bei den Dunen-Inseln machte der
Verf. nachfolgende Beobachtung, die als jenen
Polargegenden eigentümlich beachtet zu. wer-
den verdient. »Am Morgen des 19. Juh zwi-
schen 6 und 8 Uhr wüthete auf offener See ein
rasender Sturm, es dröhnte und schnaubte wild
durch einander wie viele Dampfmaschinen, die
Wogen brachen sich mit unglaublicher Gewalt
an der langen Klippenbarre im Westen und
stürzten und rollten schäumend über die Felsen
herein, während Luft und See im Hafen selbst
ziemlich ruhig blieben. Solche isolirte.Luft- und
Gegenströmungen kommen in Spitzbergen über-
haupt sehr häufig vor. In einem Fjord, kann
vollkommene Windstille herrschen, während auf
eine Entfernung von wenigen, hundert. Schritten
flraussen entsetzliches Unwetter, tobt; andrer-
seits fegt die durch Verdampfung, des eisigen
Schnees der Berge erkältete Luft mit grosser
Gewalt über die Gletscher weg zu Thal, in » die
Lnftschichten der Buchten des Westlandes, die
durch die warmen Gewässer der aozseraten Ver-
gweigungen des Golfstroms beständig und^tetohr
Heuglin, Reisen nach dem Nordpolarmeer. 195
ibäsefger erwärmt sind« (S. 114). Am 21. Juli
wendete das Schifl' wieder nach Süden, gegen
den Wünsch dösVerf., der übrigens nicht bloss
hier, sondern öfter es durchfühlen lässt, wie
wenig planmässig die Fahrt durchgehalten
wurde; man folgte, wie es scheint, mehr der
augenblicklichen Laune, und von einem sicheren
Commando des Schiffsführers sowie von einer
strengen Disciplih war kaum etwas vorhanden.
Dem Leser begegnen derartige Andeutungen ge«
nug, wir brauchen sie nicht besonders hervor-
guheben. So kehrte man denn jetzt das Steuer
nach Süden, nicht nach Norden, wie der Verf.
wünschte, der es vorgezogen hätte, Spitsbergen
von Westen und Norden aus zu umschiffen (S.
216). Am Abend des 22. Juli befand man sich
auf der Höhe des Süd-Cap bei fürchterlichem
Sturm, in folgender Mitternacht wurde das Süd-
Cap umsegelt und das Schiff steuerte in Wybe
Jans Water, den Stör Fjord der Schweden, hin-
ein. Die dem Buch beigegebenen 2 Karten, die
erste * über Spitzbergen und Nowaja-Semlja, die
zweite von Ostspitzbergen allein, sind die ur-
sprünglich in den Geogr. Mitth. veröffentlichten,
eritere 1872 Heft VH. Taf. 14, letztere 1871
Heft V. Taf. 9. Die letztere tragt 118 neue
Namen, die Dr. Petermann, ’der beide Karten
gezeichnet, runter Rücksprache und Genehmi-
gtiftrg der Herren v. Henglin und Graf Zeil«
eingetragen hat (Geogr. Mitth. 18T1 S.' 182.
Sie gewährt eih sehr dedtlich es Bild der vor-
liegenden Reisb zwischen West- und Ostspitz-
Uergen; Wählend die erstgenannte Karte, des
sähr verkleinernden Massstabes wegen (1 : 800,000),
nur Vreflig Nataen enthält. Sonst aber veran-
äehäniiciit Sie dfese Fahrt nach Spitzbergen, so»
W&4& später • von Heuglin und Rosenthal ans-
136 GqtjL gd. Ans. 1874. St&* #.
geführte oach NowajarSaralja d«rcb genaue Ver-
zeichnung der Schiflsknree, denen zahlreiche An-
gaben der Meeres« und Lufttemperatur biuzst-
Sefügt sind.. Conträre Winde und Eis machten^
ass die Beisenden, wie der Verf. sagt S. 121,
»tagelang im Stör Fjord nach allen Lichtungen
hin und her segelten und trieben«. Am 28»
Juli yertbeilte sich das Eis und das Schiff ging
auf der Höhe vor dem Gap Agardh vor Anker
(S. 129). Die am Land gelegenen. Berge wur-
den, bestiegen, ausgezeichnet durch die Lage-
rungsverhältnisse grosser Findlinge (davon eia
Bild S. 132), deren seltsame Lagerung der Verf.
ans der schnell verwitternden Oberfläche der
terrassenartig aufgebauten Mergelschiehten za
erklären versucht. Die Absicht nach Ostspitz-
bergen hinüberzusegeln misslang, der Schuaer
musste wieder zurück und ankerte am 31. Juh
in der Duner-Bai. Hier wie an der Agardh-
Bai wurden Bene erlegt (S. 141). Das Sueben,
n»ch Versteinerungen war hier von reichem Er-
folg; einiges von dem mitgebrachten hat Dr.
Frsas in Stuttgart untersucht und bestimmt
(VgL Geogr. Mittb. 1872 S. 275—277). Dia
geologische Beschreibung der Gestade der Du-
ner-B&i jst ausführlich, wie dies überall der
Fall ist, wo der Verf. das Festland selbst be-
treten; so gleich hernach die Umgehung der.
Mohn-Bai, . in welcher das Schiff nach vergeh*,
liebem Versuch nordostwärts durch das Eis zu
dringen am 1. August vor Anker ging (S. auch
die Abbildung zw, S. 144 u. 145)« Das merk-,
würdigste hier- ist der nördlich gelegen« m einer
Breite von etwa zwölf. Meilen dm Küste bep,
deckende Negri-Gletscher, der »nogh weit ins,
Meer vorspringt, wo er in mächtigen Wänden,
senkrecht abstürzt« (S. 14&); Er 1st .WähWfheiU'»,
Heuglin, Reken nach dem Nordpolarmeer. 487
liefe kn Verrücken begriffen und dürfte bereit*
Wallrosaen-Eiland, ine auch einen Theil dar
Wbales*Wicbes-Bai der alten Karten gänzlich
bedeckt haben.- -Ein Bild »Schuner mit an*
setzendem Treibeis« veranschaulicht die Lage
des Scbifls- am 5. Aegnet (8. 152). Ein Ver»
such, am 7. nach Barents Eiland an gelangen«
missglückt ; man steuert an der Ostköate sndt
lieb und am 5. August früh wird bei Gap. Lee
Anker geworfen (8. 155). Der Verf. untersucht
zunächst die Umgegend des genannten Gaps;
das Bach bringt 8. 158 eine V ogelperspecti ve
dieses Vorgebirges. Er fand Trümmer mehret
rer Russenhüitten , noch ein grosse» mit starken
Pieten bedecktes Grab, in dessen Nähe siob
Polarfüchse angesiedelt hatten. Das PHaniem
sammeln ergab eine reiche Ausbeute, namantr
lieh stand der nordische Mohn (Papaver nudi-*
eaule) wenn auch licht ge säet, oft anf gronea
Strecken. Anf diesem Ausflug gelangte Hr.
t. Heuglin Ins au die Walter Tbymens-Strasse,
hier 3 bis 4 nautische Meilen breit, gegenüber
mit Eis. dicht' besetzt* an der Histe diesseits
ziemlich eisfrei (8. 165h an der Kante ein hon
rigontalea Lager von Hyperit (vgl. die Abbild
düng 8. 166). Bei einem zweiten Ansfluge be*
sachte der Verf. das wohl 25 Fuss hohe raseW
sehe Votivkreuz, von dessen Fuss eine wahrhaft
grossartige Fernsicht bis zum Südcap, Hora«
snndptind, Wbalesfcaad, der Agardh-Bai und date
Negri-Gletscher. Ein Bild 8. 171 zeigt ein; Hy«
perit-Lager an der steilen Küste, hoeh eiben im
Hintergrund das Russenkreuz. Der Verf. flukl
0. a. die1 wohleihgltenen Rippen eines SaArien*
hatte abac keine Öeräthschaft, weiten Nach*
gr&bungen anansteUen. Dn. Fraas erklärt. die
Rippen fiir solche ton Ichthyosaniüs (Qeogi'T
188 8Mt gek'Ans. 1874. 6töcfc Ä.
Mittb. 1872 S.276). DerselbeGelehrteglafäbt
naieh den ibmvon Hrn. v. Hennin Torgelegten
Fänden an der tradischen Natur des Cap Lee
bescheidene Zweifel hegen zu müssen. Dies«
Ansicht waren n&mHch die schwedischen For-
scher Lindström und Nordenskiold, die wie Dr.
F. meint, »augenscheinlich jurassische Fossile
für triadi8cbe genommen haben« (ebendas. 8.
277). Hr. v. Hewglin hält auch die LindStröm’-
Ache Hallobia für identisch mit Monotis substriata
(8. 168). Am 14. August Abends unternahm er
seine grössere Expedition nach der Walter Tby-
metis-Strasse (S.175). Das Bemerkenswertbeste
war auf dieser Fahrt die Besteigung des Mid-
dendorff-Berges (S. 178 u. ff.), dessen Gipfel
(etwa 1200 Fuss hoch) in einer Stunde erreicht
wurde. Derselbe ist ganz mit Ge6teinstrümmern
bedeckt. Die Aussicht war überraschend, be-
sonders die auf das östliche, gf ossenthei Is mit
schwimmenden Eisflarden erfüllte Eismedr, über
welches hinaus der Yerf. in einer Entfernung
won gegen 60 Meilen am fernen Horizont in N.
66V4 Grad O. (magnetischer Meridian) eine
hohe tafelförmige, wie es schien, ganz schnee-
freie Bergmasse erblickte. Dies Land ist Ähr
einen Tbeil eines grösseren Continents gehalten
worden und wurde vom Verf. König Karls Land
genannt. Dass an dem Vorhandensein einet
solchen Festlandes nicht zu zweifeln, beWfefeett
Wahrnehmungen aüs älterer und neuerer Zelt,
die der Verf. S. 180-^186 zusamUretmtellt. nAtrf
der bdigegebeneu Karte ist die Küste Nibses
Festlandes fast um einen Längengrad zü irrt!
nach Westen gezeichnet (S. 185). — Nirgends
in ganz Spitzbergen wurde eine so* grosse Masse
▼on Treibholz angetroffen, als ah diesem Walter-
Thynsdns Fjord* am Strande sowol, wie difeh
Henglin, Reisen nach dem Nordpolarmeer. ttl
iMt landeinwärts, Stämme Von 80 bis 60 Fush
Länge (Lärchen, ' Birken, Wachholder etc.), each
Walfischknochen und Sehifbtrtimmer. Dos In-
nere der Niederung zeigte eine reiche Vegeta-
tion, darunter bunte, namentlich hochrotbe Blatt«
moose, nicht selten mehr als einen Fuss lang
(S. 167). Hier wurden auch Renthiere erlegt
Das naoh dem Verf. benannte änsserste Cap der
Strasse besuchte er von seinem Rastplatz aas
und nahm dort eine Anzahl Azimuth-W inkel (S.
190). Die Boots man DBcbaft litt sehr unter dem ,
erschlaffenden Einfluss der Temperatur. Ein Ex-
ears über das Spitzbergische Aen, die Beobach-
tungen Anderer mit den eigenen zusammen*
«teilend, findet sich S. 193 — 202. Es herrsch-
ten häufig dichte Nebel — es war Mitte Angnst.
Der Verf. glaubte verschiedene periodische Ver*
änderungen des Bodens an diesen Ufern nach-
weisen au können, ebenso meint er, dass hier
in früherer Zeit stattliche Bäume und Wälder
gestanden (S. 204). Am i8. Angnst trafen sie
wieder bei dem Schuner ein. Zum ersten Mal
konnte .man den Mond deutlich am Südhinnnel
sehen und Monddistanzen aufnehmen (S. 206).
Die Weiterfahrt geschah leider ohne die rechte
Energie Seitens des Schiffsführers: es ging nord-
wärts nach dem Verwechselungs-Cap (22. Angnst).
Das Eis war hier in erschütternder Bewegung,
j&cbrese' graste Berge kippten ganz iu detr Nähe
des Bootes und stürzten unter bettabendem
Erachten zusammen, das Wasser weithin in wir-
belnde Brandung setzend (S. 210). Am Gestadte
war Hyperii das : vorherrschende Gestein. Eine
Bootfahrt brachte den Verf. längB der Nord-
küste von Barents Land durch die Ginevra-Bed
Ins <an den Hslissund, wozu S. 212 eine land-
sokafUrähe Abbildung, der sich eine kleinere 8.
U$ QM. Ans. 1878. Stück 8.
217 anscbbesst. Die Mannschaft zeigte sieh
tfiederholfc sehr nnlnstig zur Arbeit, er nennt
sie eine »faule Bande« (’S. 218); um so be-
wundernswürdiger ist die unablässige Tbätigkeit,
die der Verf. entwickelte. Nahe am Eingang
des Helis-Sundes auf einer Eisbärffihrte erstieg
er auf einem bodenlosen Wege die Uferterrasse
ostwärts, um einen Ueberblick über den Sund
und dessen nächste Umgebung zu gewinnen.
»Es ist die wildeste unwirklichste Gegend, die
ich je gesehen«, schreibt er. »Die Meerenge
gleicht einem felsigen Katarakten-Land, durch
das brausend sich ein Strom Bahn gebrochen
hat« (S. 221). Im östlichen Eismeer sah er
nnr loses Treibeis, überall freie Wasserftden
und Kanäle zwischen den Flarden. Eine Durch*
fahrt, durch den Helis-8and nach der- Ostküste
zu gelangen, wäre ausführbar gewesen (S. 222).
Am 25. August früh traf der Verf. wieder an
Bord des Schuners ein, der sogleich umkehrte
und in südlicher Richtung zurüekfuhr, um zwi-
sehen der Anderssen-Insel und dem Duckwitz-
Gletscher zu ankern. Von hier unternahm er
eine Bootfahrt, um das Cap Barkham zu be*
suchen (8. 228). Der Zweck ward des Unwet-
ters und morastigen Bodens wegen nicht voll-
ständig erreicht; die Peilungen und Terrain-
skizzen blieben ungenügend. Kein lebendes We-
sen war hier zu sehen (8. 226). Die Rückfahrt
des Schuners ging rasch von Statten, am 26.
August Mittags befand man sich der Disko-
Bueht gegenüber, am 27. trieb das Fahrzeug »mit
fauler Brise und widrigem Wind au der Mün-
dhng' des Stor-Fjord zwischen Whales- Bead und
Wbales-Point umher«. Letzteres (s. das Titel*
bild) »bietet ein Bild abschreckendster arktft*
scher WilÜhiss« (8 .288). Der Verf. ächattot hier
i
Heuglin, Reisen nach dem Nordpolartneer. 14£
eine Beschreibung dieser Landspitze nich den
Mistheilungen der ersten Schwedischen Expedi-
tion ein (8. 229 — 234), Er selbst besuchte die-
Tausend-Inseln: Hyperit-Terraesen, mit rauch'*
schwanen Flechten bewachsen und mit zahl-,
reichen Brutstätten von Seeschwalben, Bürger-1
meistern! öwen, Eiderenten, Teisten u, s. w. be*;
deckt (S. 236). Er zählte 15- Inseln, die eine
Gruppe bilden und auf der Karte König Lud-'
wigs Inseln genannt sind. Leider ist die 'Insel, -
welche der Veri Russö nennt, von wo er sein»
Beobachtungen machte, nicht namentlich be-r
zeichnet (wahrscheinlich die Arendts-Insel ge-
nannte). Hier ward eine Bartrobhe erlegt (8J
238 n. ff.). Am 80. August lawirte der Schu-
ner in dis Dei crow- Bai hinein und warf unter
dem Schutz der ZieglerJnsel Anker. Walrosse
wurden gesehen, aber nicht erbeutet. Oie Bai'
war eisfrei, die genannte Insel und die 'benach-
barte Delitsch-Insel ebenfalls, einige Schluch-
ten ausgenommen, schneefrei. In den folgenden
Tagen wütbete ein heftiger Storm, dabei durch-
dringende Kälte (S. 263). Die Mund- «ad
Feaernngs-Vorrätbe gingen bedenklich -auf die
Neige ; Steinkohlen waren schon verbraucht, man'
heizte' nur noch mit schlechtem Treibholz. Auch'
da« Trinkwasser war verdorben (S. 254). Am
7. Septbf. wurde die Rüokreise angetreten, Ver-'
geh lieh suchte man Wbales-Point an erreichen,
die hoebgehende See machte es unmöglich (5tes
Kapitel S. 259). »Oie Zeit war verbummelt
und unwiederbringlich verloren«. Man fuhr nun'
noch einmal wieder nm Spitzbetgen herum bis
hinauf zum Eis- Fjord, in diesen hinein, ankerte
in der Advent- Bucht (S. 268), wo man mehrere
andere Schiffe antraf und die ersten Nachrich-
ten von dem Kriege mit Frankreich hörte - (S.
142 0Stb g»L Anz. 1674. Stück 5;
248). : Der rastloee Verf. lies» ffich hier ans»
Land aetaen. Unter anderen fand er anchf.
einige von Lemmingen gegrabene, aber unbe--
wobnte Baue; diese Thiere wandern wahrschein,
lieh auf dem Eise so weit nordwärts, fallen aber,
der Kälte, dem Eisfuchs und anderen Raub-
thieren znr Beate. Ein Sandsteinlager in der;
Advent-Bai ist S. 275 abgebildet. Auf mehre«
ren Wanderungen am Lande fand der Verf.
Sparen älterer Niederlassungen. In. der Bai
zeigten sieb Weiss-: Wale, die man vergeblich,
verfolgte (S. 282). Graf Zeii fahr inzwischen
nach der Sassen-Bai, wo er mehrere Schnee«
bUhner (Tetrao hemileucurus, : Gray) erlegte (s.
die Abbildung S. 288). Auch den Safe-Hafen:
besuchte derselbe und bestieg eine Anhöhe am
Gletscher des Alkboras (S. 289). Am 17. Sept
befand sieb der Schuner vor der Mündung, dea
Is-Fiord ; die Temperatur des Meers betrug
-fr 1, 2° R. , am folgenden. Tage weiter • südlich,
— eine nähere Angabe fehlt t (S. 292) — schon
-f- 4,7°. »Es ging langsam gegen Süd, in ewi-
gem Kampf, mit Gegenwind und den rollenden.
Wogen«. ■ Die Fahrt i war - höchst nnbehaglieh.
Der .heftige anhaltende Sturm versetzte das Fahr**,
zeug, io beständig rollende Bewegung; diet
Pumpen mussten in steter Bewegung gehalten*
werden. In der Kajüte des Kapitains stand das
Wasser oft fast fnsshoeb. Dazu kam Holz- und
Wassermangel. Am Morgen, des 23. Septbr.
war man der Bären^Insel gegenüber. Am 24.,
trieb das Schifi sehr weit nach Ost ab, daher
es gewendet werden musste. Endlich am 26.
sah man zuerst die Norwegische Küste und fol-
genden Tags lief der Schuner in den Hafen von
Hammerfest ein. Die Schlussbemerkungen des.
Yerf. über Yerwerthung der Ladung, Begegnung
Heuglin, Betten nach dem.Nordpolanaeer. 142
rnftitfersehiedeBeui Kapibsindn eta. werden. .duBofa,
eine längere . Darstellung der . älteren Nordpol-,
führten $* 304 bis 320 unterbrochen, denen sieht
eine kurze Erwähnung der -neuesten Schwedin
sehen Expeditionen seit 1861 anschliesst. In
Thron dhjew besutibte der Verl. einige höher ge-
legene Punkte der .Umgegend. Nach, zwei Pho-
tograpbien entworfene landschaftliche Ansichten,
von - Romsdal enthält des Buch S. ; 394. - - Am-
23. October kam der Verb .nach Bergen, vo&
wo er nach Hamburg mit. dem Oampder Bergern
fuhr. . .Wir glauben .au dem Urtheil berechtigt
zu sein, dass Br. v. Heuglin das, was bei so.
mangelhafter- Ausrüstung, ungeschickter Schifft«-;
führung, entschiedenem Widerstreben des Kapi*>
tains und dgl. ,m. ein sterblicher Mensch hat
leisten können, wirklich geleistet hat Die aehr
splendide Ausstattung des Buchs, das auch für*
den nur allgemein Gebildeten eine lehrreiehei
and. angenehme Lectüre ist, ist wphl angebracht..
Einige . Druckfehler sind uns nicht entgangen,;
z. B. S. 71 iZ.ll •?.. u. Studeu/ statt- Stunden,.
S. 221 Z. 6 .7/0, Katarkten. statt- Katarakten ;i
auch ist die .Schreibart einiger: Heimen : nicht:
gtum : gleichmöasig. .
. Altona. . Dr. Biernateki. . /
Eutropi bfeviarinm ab urbe condita. Guilel-.
mos Bartel recognovit - Beirblini apud Weid-*
mannos 1872. ’ 84 und VIII S.
Eutropius und Panins 1 Diaconns von Prof.
Drj Wilhelm Hartei, corresp. Mitgliede deh
k. k. Akademie: der Wissenschaften. Wien 18-72
in, Qammi8spen bei Karl Gerold’s Sohn. Aua.
144 Gftt g*l. An». 1874« Stflek 4,
dem Aprilbefte dee Jahrganges 1872 der Sitzung»-
berichte derphil.-hist. Classe der kam. Akademie
der Wissenschaften (LXXI. Bd., Seite- 227) be-
sonders abgedraekt. 86 S»
So wären wir endlioh im Besitz eines rieh*
tigen Entropiusl Während die bisherige Vulgata
auf ganz falscher und schlechter Grundlage auf*
gebaut dar und die Herausgeber einem will-
kürlichen Eklektirisitras huldigten, hat Härtet
nunmehr den allein richtigen Weg gezeigt und
singeechlagen , auf welchem man za einem *•-
gefälschten Eatroptexte gelangen kann. Die
Hes. theilen sich nämlich in zwei scharf einan-
der gegenüberstehende Familien: 11 in die äch-
ten Eutropiusbss. und 2) in die interpolierten
Hss., welche auf eine Becenmon des Paulus Dia«
conus znrickgehen. Das Verhältnis beider hat
Harte! in der oben genannten interessanten
Schrift »Entropius und Paulos Diacoaus« aus-
führlich nnd klar dargelegt. Die reine Ueber-
lieferaag gibt vor allem der aus Fulda stam-
mende cod. Oetbanus 101 saec. VI1I1, hei Har-
tei mit F bezeichnet. Diesem nahe verwandt
ist die Leydener Hs. Lugdun.- ftatav. 1 , deren
Varianten aber hei der nothwendigen Knappheit
des kritischen Apparats weggelassen werden
mussten: der Herausgeber verbreitet sich über
diese Hs. in der citierten Abhandlung S. 61 —
65 nnd gibt ihre Varianten zum 1. Buch ganz
ausführlich auf S. 84 nnd 86. Aus einer 'an-
dern verwandten Hs. von noch grösserem Werth,
dem cod. Burdegalensis, stehen S. 66 und 67:
nicht unwichtige Materialien. — Die andere
Hss.familie stammt von Paulus Diaconus* der
Zwischen 766. nnd 762 im Auftrag der Herzogin
Adalperga von Benevent den Eutrop durch da
Hartei, Eutropius and Paulus Diaconus. 145
und dort angebrachte Modificationen zu einem
nützlichen Lehrbuch der römischen Geschichte
umzuformen bestrebt war; bei lobenswerther
Schonung des Urtextes hat er doch allerlei sti-
listische und sonstige Aenderungen und zwar
ganz systematisch darin vorgenommen, ja er hat
sogar aas Werk des Börners in 6 weiteren Bü-
chern bis Valentinian fortgesetzt. Diese That-
sache, die in der neuesten Zeit bezweifelt wurde,
hat Hartei auf das evidenteste bewiesen und
die merkwürdige Urkunde aus dem Frühjahr
oder Sommer 763 bestehend in dem Gedichte
A principio seculorum beigezogen, sowie in kri-
tisch gereinigter Form einen Brief des Paulus
Diaconus über seine Bearbeitung des Eutropius
S. 69 — 71. Paulus leitete von 763 an mehrere
Jahre hindurch die Studien der Herzogin, einer
Tochter des Desiderius, und gab ihr die Ge-
schichte Eutrops zu lesen, die sie aber wegen
ihrer Kürze und, weil sie als zu specified* rö-
misch-heidnisch ihrem christlichen Sinne misfiel,
unbefriedigt zurücklegte. Paulus suchte durch
eine neue Bearbeitung diesen Mängeln abzuhel-
fen und überreichte diese seiner Gönnerin mit
dem eben erwähnten Briefe. Für das Verhält-
nis des Paulus zu seinem Original ist die Zu-
sammenstellung einiger Puncte in der Abhand-
lung H S. 50. 51 instructiv. Spätlateinisches
wie desperare mit blossem Infinitiv, ad Siciliam
fugit, ad Africam profecti sunt, postquam mit
Plusquamperf. wird von Paulus in das gewöhn-
liche classische Latein umgesetzt; das inschrift-
lich durch einen Scipionensarkophag bezeugte
Asiagenus wird in Asiagenis (oder Asiagenes)
verwandelt, statt des im Glassischen weniger ge-
bräuchlichen, bei Eutropius aber stehenden ad-
versum regelmässig adversus vorgezogen u. s. w.
10
146 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
Hartei hat mit richtigem Takt in allen solchen
Fällen die paulinischen Lesarten verworfen.
Dennoch wollte er — und auch dies ist sicher
nur zu billigen — der paulinischen Recension
bei der Herstellung seines Textes im allgemein
nen nicht entrathen. Ist doch bei manchen
corrupten Stellen der Ffamilia eben der paulini-
sche Text die natürlichste und beste Ressource.
Ein hübsches Beispiel, in welcher Weise oft das
Richtige zwischen beiden Classen getheilt ist,
bieten die Varianten für das Wort Pantica-
paeum (dies würde ich aufgenommen haben statt
der gräcisierenden Form Pan tica paeon bei H.)
VII 9. Hier hat F antecapeum, also eine sinn-
lose Verschreibung, P dagegen pdnti cappadocem
also einen mehr als kühnen Versuch, die über-
lieferte unsinnige oder für Paulus unverständ-
liche Lesart zu emendiren: aus beiden Varian-
ten zusammen erhalten wir den richtigen Na-
men, wie er im Archetyp stand. ' Am meisten
in Acht zu nehmen hat man sich also vor den
speciosen LA. der paulinischen Recension , da
Paulus gerade in dieser Weise sein Original
geändert hat. Als Repräsentanten der paulini-
schen Klasse (bezeichnet mit P = A -f- B) hat
H. die Hss. A = cod. Mopac. 8516 saec. X und
B *= Bamberg. G. E. III 4 Nr. 6 saec. VIIII
gewählt. Mit der ihm eigenen höchst aner-
kennenswerthen Offenheit gibt er übrigens selbt
zu (S. 75 — 77), dass der sehr alte Ambrosianus,
wenn einmal eine genaue Collation vorliege, den
Vorzug vor dem Monacensis verdienen dürfte;
und so bleibt uns denn eben in diesem Stück
noch ein Wunsch übrig, dessen Erfüllung der
gelehrte Herausgeber gewiss bei der 2. Auflage
des Buches nicht versäumen wird. Und eine
solche wird ja schwerlich lange auf sich warten
Hartei, Eutropius und Panins Diaconus. 147
lassen. Für diesen Fall möchte ich noch anf
eine Handschrift aufmerksam machen, von der
ich nicht weiss, ob ihre Existenz den bisherigen
Herausgebern überhaupt bekannt ist. Sie be-
findet sich auf der Bibliothek des Arsenals zu
Paris. Ein anderer Codex ist zü Strassburg
verbrannt. Ob wohl auch in den künftigen
Kriegen wissenschaftliche Sammlungen so der
Zerstörung ausgesetzt sein werden? oder ob
bis dahin das internationale Hechts- und Sitt-
lichkeitsgefühl soweit gekommen ist, dass man
auch solche Schatzkammern des menschlichen
Geistes mit ihrem oft unersetzlichen Inhalt
durch ein weisses Fähnlein schützen kann? Es
ist fast unglaublich, dass Manuscripten- und
Kunstsammlungen nicht längst durch derartige
völkerrechtliche Abmachungen geschützt sind!
Möge mir der Leser diese Abschweifung ver-
zeihen, aber die Sache ist auch heut noch
ausserordentlich wichtig, da eine bedeutende
Zahl der reichsten Sammlungen gerade in den
Festungsstädten sich befindet, ich erinnere nur
an die Kunstsammlungen von Paris und Cöln,
an die Bibliotheken von Metz, Strassburg, Pa-
ris, an das römisch-germanische Centralmuseum
in Mainz, an die naturhistorischen Sammlungen
des Jardin des Plantes. — Ausser den Hand-
schriften des Eutrop haben wir noch weiteres
sehr schätzbares kritisches Material zur Her-
stellung des Textes und auch dieses sehen wir
vom Herausgeber in umfassender Weise ausge-
beutet und doch wieder so, dass die Durchsich-
tigkeit seines Apparats nicht nothleidet. Wie
wir nemlich bei Vergilius, Horaz u. a. an den
alten Scholien höchst wichtige Zeugen für die
wahre Gestalt des Textes besitzen, so existiren
10*
148 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
für Eutrop zwei griechische Uebersetzungen, die
eine ganz, die andere fragmentarisch. Die Bruch-
stücke der letzteren, die aus dem VI. Jahrhun-
dert stammen und aller Wahrscheinlichkeit nach
auf einen gewissen Gapito aus Lycien (zwischen
491 und 580) zurückgehen, hat Hartei S. 14 ff.
zuerst aus Johannes von Antiochien, Suidas und
Planudes zusammengelesen und für die Kritik
des Eutrop nutzbar gemacht. Ein Beispiel der
Wichtigkeit dieser Quelle ist in der Abhandlung
S. 25 ausgeführt. — Hinsichtlich der erste-
ren, noch vollständig erhaltenen Uebersetzung
des Paeanius fehlt es leider bis heute an einer
erträglichen Ausgabe, so dass H. nicht den Ge-
brauch von ihr machen konnte, den er vielleicht
später noch davon machen wird, wenn einmal
eine ordentliche Edition des Paeanius vorliegt.
Der grosse Werth dieses Zeugen springt an
einer Menge von Stellen in die Augen, wo er
bessere Lesarten bietet, als der Archetyp von
FP noch be6ass. So z. B. hat Paeanius V 1, wie
mir scheint, ganz richtig das B im Eigennamen
Teutobod erhalten, während FP ein M statt des
B setzen; ebenso hat V 4 Paeanius allein den
nothwendigen Vornamen Lucius gerettet gegen
FP, die ihn weglassen. Paeanius ist schon we-
gen seines hohen Alterthums von ganz beson-
derem Werth (Abhandl. S. 9). Nur wenige
Jahre nach der a. 369 erfolgten Ausgabe des
Breviarium8 durch Eutrop selbst hat Paeanius
seine Uebersetzung angefertigt, und es lag ihm
somit ohne Zweifel ein unverfälschter lateini-
scher Text vor. Eine baldige kritisch brauch-
bare Ausgabe dieses Schriftstellers, wie sie von
Schulze in Aussicht gestellt ist, wäre daher im
Interesse der Eutropiuskritik dringend zu
wünschen.
Hartei, Eutropius und Paulus Diaconus. 149
Wir wollen nun die einzelnen Bücher mit
Rücksicht auf einige Stellen durchgehen, wo es
sich um Aenderungen des überlieferten Textes
handelt. I 5 verbessert H. das überlieferte:
»Aventinum montem civitati adiecit et Janicu-
lum, apud Hostiam civitatem supra mare sexto
decimo miliario ab urbe Roma condidit« durch
Einfügung der Worte ostium Tiberis vor Ostiam
(wie statt des allseitig, auch vom Burdegalensis
Abhandl. S. 66 und vom Leydensis S. 85 über-
lieferten hostiam von H. geschrieben wird).
Diese einfache Zurückführung des handschrift-
lichen Fehlers auf das bekannte Ueberspringen
des Abschreibenden von einem Wort zum näch-
sten ähnlichen wird jedem als gelungen ein-
leuchten.
H 9 scheint mir einen noch nicht berück-
sichtigten Beweis zu liefern, dass auch die pau-
linische Glasse in manchem Detail das richtige
hat, wo F einen Fehler zeigt. Schon c. 8 und
9 init. wird nemlich von Eutrop der Nominativ
Samnites vom Accusativ Samnitas äusserlich
auseinandergehalten. Wir haben apud Samnitas,
Samnitas delevit, Samnites Romanos vicerunt,
de Samnitibus triumfavit , Samnites vicerunt.
Nun hat zwei Zeilen nach diesem letzten Nomi-
nativ Samnites P folgendermassen : et Samnitas
vicit, F dagegen: et Samnites vicit. Hier halte
ich die paulinische Recension für unbedingt
richtiger. Ebenso unterscheidet Eutropius auch
den Accusativ Arabas vom Nominativ Arabes.
— Im gleichen Gapitel haben wir allerdings
eine ganz deutlich erweisbare Interpolation des
Paulus. In dem Satz: Postea Samnites Roma-
nos Tito Veturio et Spurio Postumio consulibus
[apud Caudinas Furculas angustiis locorum cod-
150 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5«
clusos] ingeuti dedecore vicerunt et sub iugum
miserunt stehen die eingeklammerten Worte
bloss bei Paulus, sie fehlen in F und schon bei
Paeanius. Hier begegnen wir also einem jener
Zusätze, wie sie Paulus, der eben ein Compen-
dium der Geschichte hersteilen wollte, in gar
nicht unpraktischer Weise da und dort ange-
bracht hat. Es ist das Verdienst des neuesten
Herausgebers, diese fremden Zusätze, die wie
Kletten Jahrhunderte lang am Eutroptexte haf-
teten , principiell erkannt und losgelöst zu
haben.
II 23 hat der Herausgeber sehr mit Recht
die handschriftlich verbürgte LA. geschützt:
decrevit senatus ut a maritimiß proeliis recede-
retur et tantum sexaginta naves ad praesidium
Ifcaliae salvae essent. Er erklärt die letzten
Worte: »nur 60 Schifie sollten im Stand erhal-
ten werden, während man die übrigen zu Grund
gehen liess« (Abhandl. S. 86). Ein Recensent
des Hartelschen Eutropius wollte salvae als un-
passend streichen. Abgesehen von der Stelle
IX 9, wo vielleicht doch mit Päanius und jenem
Recensenten iam zu lesen ist, sind wir über-
haupt ganz einverstanden mit den Ausführungen
Harteis Abhandl. S. 89, wo er die einzelnen
Ausstellungen jenes Recensenten und die Emen-
dationen Eussners bespricht.
IV 3 haben die Hss. einen, unleugbaren
grammatischen Fehler. Sie lesen : ipse .postea
Antiochus circa Sipylum Magnesiam (so auch
der Burdegalensis, Abhandl. S. 66) Asiae civi-
tatem a consule Cornelio Scipione ingenti proe-
lio fusus est. Es handelt sich hier bloss um
Aufnahme einer reinen Conjectur oder um An-
schluss an einen alten Uebersatzer. Nun liest
Härtel, Eutropius und Paulos Diaconos. 151
Paeanios: iv Mayvtjöiqc tfj tiqö$ JStvtfAqt
*A<tiaq, woraus schon Geliarius machte : circa
Magnesiam ad Sipylum, und dies scheint mir
auch bei Vergleichung von dem ohne Zweifel
der Darstellung Eutrops zu Grunde liegenden
Livius das nichtigste. Livius spricht nemlich
36, 43 von Magnesia quae ad Sipylum est; für
die knappe Ausdrucksweise des Epitomators
schrumpft diese Phrase von selbst zusammen zu
Magnesia ad Sipylum, und ad ist demnach bei
Sipylum einzufiigen. Hartei hat die Gonjectur
des Glareanus in den Text gesetzt: circa Sipylum,
ad Magnesiam, was freilich den Handschriften
nach noch näher liegt.
Viele überflüssige ‘est* z. B. IV 12: iuvenis
adhuc consul est factus et contra Carthaginem
est missus hat der Herausgeber vielleicht mit
Recht vertilgt; z. B. ebenso c. 20 Anmerkung:
est expunxi, c. 26 missus est F missus Text.
Uebrigen8 haben auch Horazscholiasten, die von
Eutrops Zeit nur wenig abliegen mögen, einen
auffallenden Ueberfluss an solchen ‘est’. An
manchen Stellen, wie Text S. 61 Z. 27 ist auch
ein solches anstossiges est ruhig im Texte be*
lassen worden, und nur im kritischen Apparat
steht ein bescheidenes frest fort, de 1.’. Dies
kommt mir in den meisten Fällen als das rich-
tigste vor. Man vgl. die höchst auffallende
Wiederholung der Worte Syllae dictatoria filius,
worüber S. 24 und 25 der Abhandlung vom
Herausgeber selbst in seiner lobenswerth offe-
nen, so recht objectiv wissenschaftlichen Weise
gehandelt wird. Er steht nicht an, eine eigene
ähnliche Conjectur (wornach an einer Stelle
die Worte getilgt werden) wieder zurückzu-
nehmen; und gewiss mancher Leser hätte diese
152 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
Conjectur sehr gebilligt, schwerlich sie einer
ernstlich angefochten.
V 1 ist wieder für das Verhältniss von Pau-
lus zu Eutropius interessant. Hier liest F : ne
iterum Galli Romam redirent ; Paulus hat dafür
venirent corrigiert. Die ganz gleiche Variante
findet sich bei Hör. epist. II 2, 22 : beidemal ist
sicher redire vorzuziehen. —
V 8 kommt mir die in den Text gesetzte
Form Praenestem zu unsicher vor. Die Hss.
haben an dieser Stelle einstimmig praeneste und
an der Stelle, um welcher willen geändert wurde
(II 2), bietet der Burdegalensis ebenfalls das
richtige praeneste. An solchen Stellen wäre es
nicht unwichtig, auch die LA. des Leydensis
kennen zu fernen.
VI 16 hat sich ein offenbarer Druckfehler
eingeschlichen. Die Hss., auch der Burdegalen-
sis (S. 67), haben sämmtlich ganz richtig De*
cimo Junio Silano: im Text steht Decio.
VIII 21 treffen wir bei Eutrop, wie nach
Eyssenhardt praef. ad Ammian. p. VIIII sq. bei
Ammianus, Apulejus , den scriptores historiae
Augustae, der historia miscella und Isidor, die
vulgäre oder spätlateinische Genetivform men-
suum von mensis. Sie ist in F und P bezeugt
und ohne Zweifel in den Text zu setzen.
IX 2 wird man zweifelhaft bleiben, ob nicht
die LA. von F an einer Stelle gegen Paulus zu be-
vorzugen war. Es heisst nemlich : Gordianus
... ad Orientem profectus Parthis bellum intu-
lit, qui iam moliebantur erumpere . quod qui-
dem feliciter gessit proeliisque ingentibus Par-
thos (so F, persas P und Hartei) adflixit. re-
diens haud longe a Romanis finibus interfectus
68t fraude Philippi, qui post eum imperavit . mi-
Hartei, Eutropius und Paulus Diaconus. 153
les ei tumulum vicensimo miliario a Gircesso,
quod Castrum nunc Romanorum est, Eufrati
imminens aedificavit. Wenn zwei Zeilen vorher
Parthis bellum intulit unangefochten bleibt, so
ist bei proeliis ingentibus Parthos adflixit nicht
wohl einzusehen, warum Parthos in Persas sollte
verwandelt werden.
IX 13 stos8en wir wieder auf eine vortreff-
liche Verbesserung Harteis: Aurelianus suscepit
imperium ... vir in bello potens, animi tarnen
immodici et ad crudelitatem propensioris. is
quoque Gothos strenuissime vicit. Diese Ein-
fügung von is, was nach dem vorhergehenden
propensioris aufs leichteste ausfallen konnte, ist
gewiss wieder eine ebenso einfache als über-
zeugende Emendation. Und so können wir über-
haupt das ganze System des Herausgebers nur
billigen, dass er von allzu kühnen und geist-
reich glitzernden Emendationen bei dem verhält-
nismässig gut überlieferten Autor sich fern
hielt, dass er so viel wie möglich an den in
F überlieferten Text sich anschloss , dabei
auch P nicht geringschätzig verachtete , und wo
es durchaus nöthig war zu emendieren , auf
die leichteste und einfachste Operation sich be-
schränkte.
Zum Schluss möchte ich noch einiges Ortho-
graphische berühren. Im Allgemeinen schliesst
sich auch in diesem Stück H. mit Recht an F
an, aber durchaus nicht sklavisch. Die Ortho-
graphie des Fuldensis ist »ein Gemisch von
hoher Alterthümlichkeit und junger Barbarei«
und H. verbreitet sich darüber ausführlich in
der Abhandl. S. 52 — 58. Wir bemerken viel
Aehnlichkeit mit der Orthographie des Avianus,
vgl. die Ausgabe von Fröhner. Bei Eutrop
154 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
treffen wir: adqne, capud, reliquid, haut, trieiens,
Marcomanicum, Brittania, Bosphorus, apellare,
mille und milia (aber nie caussa), Sylla, inclytus,
tyro, adulescens, epistula, Vulsci, Ptolomeus.
»Sylla« wird S. 57 als Barbarismus bezeichnet,
was mir nicht ganz richtig erscheint, da in-
schriftlich nachweisbar schon zu Sullas Zeit und
wahrscheinlich vom Dictator selbst diese gräci-
sierende Form gebraucht wurde. Auch Vulsci
— wie F und P und der Burdegal. und der
Leyd., also die gesammte beigezogene Tradition,
schreiben — würde ich im Texte belassen ha-
ben, so unbeanstandet als Vulso, welche Form
mit vollem Recht II 21 Aufnahme gefunden hat.
Sollte nicht auch überall mit F septuagensimus,
quinquagensimus u. dgl. zu schreiben sein ?
II 21 würde ich mit FP das H in Amilcarem
weggelassen haben. Es hat doch unzweifelhaft
Zeiten und Schriftsteller gegeben, von denen
diese Eigennamen Annibal und Amilcar ohne
H geschrieben wurden. Ebenso wird das über-
lieferte Eliogabalus VIII 22 seine Vertheidiger
gegen die Aspiration finden. Bedenklicher steht
es III 6 mit dem Namen des gallischen Königs.
Der Burdegalensis hat den Accusativ Viriodo-
marum (Abhandl. S. 66), F hat Virodomarum;
damit stimmen ziemlich A und B, welche vitro-
domarum und vitro dominarum bieten. Danach
wäre es vielleicht am gerathensten gewesen, den
von sämmtlichen Hss. beglaubigten O-laut zu
lassen und etwa Virodomarum in den Text zu
setzen. Hartei hat sich auch sonst bei kelti-
schen Wörtern sehr enge an die handschriftliche
Ueberlieferung angeschlossen, z. B. IX 20 bei
dem Namen Bacaudae. Hier aber hat er die
Form •Viridomaruß vorgezogen. Möglicherweise
Der Staat trad das allgemeine Concil. 155
ist dies freilich auch das echte und richtige,
vgl. Glück, die bei Cäsar vorkommenden kelti-
schen Namen S. 77 und Bacmeister, keltische
Briefe S. 2, wo beidemal nur von gallischen
Compositen mit Virido-, Virdo- gehandelt wird:
Viridomärus wird aus Cäsar, Florus II 4 u. a.
angeführt, Virdomärus aus Orellis Inschriften-
sammlung nr. 3582 und aus Propertius IV
10, 41 mit Verkürzung des a durch poetische
Licenz.
Freiburg i. B. 0. Keller.
Der Staat und das allgemeine Concil.
Leipzig , Verlag von Duncker und Bumblot,
1873. 52 Seiten gr. 8. Preis 15 Sgr.
Der Verf. will mit seiner Arbeit sich aus-
drücklich »nicht an das gelehrte Publicum wen-
den«, er hat sich im Gegentheile bemüht, »in
gemeinverständlichem Sinne zu schreiben«, über-
zeugt, dass der Gegenstand, den er behandelt,
nicht bloss die Gelehrten, sondern das ganze
deutsche Volk angeht. Doch lässt sieb nun
auch nicht verkennen, dass überall die »wissen-
schaftliche Grundlage« vorhanden ist, dass der
Verf. keinen Satz geschrieben hat, zu dem er
nicht durch urkundlichen Nachweis berechtigt
gewesen wäre, und wenn es auch nur eine ge-
schieh tliphe Uebersicht ist, was er hinsichtlich
des von ihm dargestellten Verhältnisses giebt,
so doch eine solche, wie sie nur dem möglich
ist, der sich im Besitze des vollen gelehrten
156 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 5.
Apparates befindet. Wir müssen diese Arbeit,
was Form und Inhalt angeht, als eine ganz
vortreffliche Arbeit bezeichnen, wo nicht mehr
gegeben worden ist, als der Zweck erforderte,
aber dies auch in voller Anschaulichkeit und
in der rein objectiven Haltung, wie sie dem
Historiker geziemt, und — dass es verdienst-
lich gewesen ist, gerade diesen Gegenstand in
dieser Form zu behandeln , das braucht wohl
kaum erst noch gesagt zu werden.
Wirklich 6ind ja die Verhältnisse, deren Ge-
schichte der Verf. darstellt, in der neuesten
Zeit in eine Verwirrung gekommen, die mehr
als bedenklich genannt zu werden verdient.
Ohne jede Betheiligung oder auch nur Ver-
ständigung der europäischen Staatsregierungen,
ja ohne dass dieselben über die conciliarischen
Vorgänge auch nur Mittheilungen erhielten,
hat der Papst allein von sich aus ein »allge-
meines Goncil« berufen, und zwar ein Concil,
auf welchem es sich nicht bloss um Regelung
dogmatischer Fragen handelte , sondern auch
geradezu um die Fixirung kirchenpolitischer
Grundsätze, welche die Staaten nicht minder
angehen, als die Kirche, ja, welche auf das
Tiefste in das Leben des Staates eingreifen
müssen: wie aber wäre man nun da nicht be-
rechtigt, ein solches Verfahren zum Mindesten
bedenklich zu finden? Auf diese Weise wird
nicht bloss eine völlige Trennung zwischen
Kirche und Staat vollzogen, sondern es erhebt
sich dadurch die Kirche und ihr Haupt , der
Papst, zum höchsten Souverän über alle Staa-
ten auf Erden und die letzteren werden da-
durch wirklich in eine Lage versetzt, »voll-
kommen passiv hinnehmen zu müssen« , was
Der Staat und das allgemeine Concil. 157
die Kirche auch in allen, das staatliche Leben
auf das Tiefste berührenden kirchenpolitischen
Fragen beschliesst: ein Zustand, der denn doch
in Wahrheit sehr wenig erträglich sein würde.
Aber — eben das zeigt nun der Verf. an der
Hand der Geschichte, dass der Staat, wenn er
sich dies Verfahren auf die Dauer gefallen
lassen wollte , sehr werthvolle und von ihm bis-
her stets auch behauptete und ausgeübte
Hechte preisgeben würde, und zwar in einer
Weise zeigt er dies, die an Bündigkeit, Deut-
lichkeit und Ueberzeugungskraft Nichts zu wün-
schen übrig lässt.
Die Behauptung der Clericalen, als sei der
Papst die allein competente Instanz und als
habe mit der Berufung und Leitung eines all-
gemeinen Concils der Staat ganz und gar
Nichts zu thun, erscheint hier als eine völlige
Neuerung, wenn auch als eine solche, deren
Durchführung schon Jahrhunderte Tang in der
Tendenz des »heil. Stuhles« gelegen hat, und
überhaupt wird kein Zweifel darüber gelassen,
dass die angeblichen geschichtlichen Stützen,
auf welche die Oberherrlichkeit des Papst-
thums hat basirt werden sollen, nichts Ande-
res, als die ärgsten Fälschungen sind, die nur
jemals sind begangen worden. Der Verf. führt
uns zunächst in die Zeit der ersten grossen
Concilien ein, aber da leidet es denn gar kei-
nen Zweifel, dass es damals nicht die Päpste,
sondern die Kaiser gewesen sind, welche die
Concilien berufen und ihren Beschlüssen Ge-
setzeskraft gegeben haben, eben so wie es kei-
i ' nem Zweifel unterliegt , dass von Seiten der
Kirchenhäupter dies Verhältnis auch als das
richtige anerkannt und von ihnen keine» An-
*
158 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 5.
Spruche dagegen erhoben worden sind. Erst
zur Zeit der pseudoisidorischen Dekretalen und
in Folge derselben wurde das Verhältniss ein
anderes , aber wenn es dann auch für einige
Jahrhunderte dahin kam, dass der Papst sich ,
als den Universalmonarchen über alle anderen
Autoritäten hinausstellen konnte, so war dies
doch nur für eine Zeit lang und ohne dass
diese Umkehr der Verhältnisse zu wirklich
dauernder und rechtlicher Geltung gekommen
wäre. Die Berechtigungen des Staates auch in
Beziehung auf die kirchlichen Dinge und na-
mentlich auf die Goncilien wurden doch bald
genug wieder geltend gemacht, und wenn dies
auch nicht in dem Umfange geschah, wie zur
Zeit Constantins des Grossen und seiner Nach-
folger, so war der Einfluss, den die »welt-
lichen Mächte« zur Zeit der grossen Concilien
am Ausgange des Mittelalters und zwar kraft
anerkannten Rechtes übten, doch keineswegs
ein geringer: von dieser völligen Unabhängig-
keit des Papstes in Beziehung auf Berufung
und Leitung der Concilien, wie sie jetzt in
Anspruch genommen ist , war auch da ganz
und gar nicht die Rede, und auch zur Zeit der
Reformation zweifelten die deutschen Stände
und auch Karl V. selbst nicht, dass der Kai-
ser wohl berechtigt sei, ein Concil zu berufen,
sogar gegen den Willen des Papstes. Und da-
bei ist es bisher, wenn auch nicht praktisch,
doch theoretisch geblieben. Die Jesuiten
(Bellarmin) vertraten freilich »den Satz, dass
das Concil lediglich unter dem Papste stehe
und der Staat gar keine Gewalt über das Con-
cil habe«, aber es waren eben auch nur die
Jesuiten, welche diesen Satz vertraten, während
Der Staat und das allgemeine Concil. 159
ifan weder die Vertreter der Staatsgewalt selbst,
noch auch die unabhängigen Kirchenrechts-
lehrer anerkannt , ' sondern stets die Rechte
des Staates in Beziehung auf die Concilien be-
hauptet und vertheidigt haben. Der Verf.
führt dies Alles kurz, aber doch in genügender
Weise in das Einzelne gehend, aus, und —
aus Allem wird zur Genüge klar, dass der Zu-
stand, den das Verhalten des Papstes bei Be-
rufung und Leitung des letzten Goncils hat
schaffen wollen , eine unberechtigte Neuerung
ist, die abzuwehren dem Staate völlig zusteht,
sowohl aus historischem Rechte, wie auch um
der Natur der Verhältnisse selbst willen.
Möge das gute Wort, das der Verf. hier
gesprochen, denn die Wirkung thun, die da-
mit beabsichtigt ist, und möge es namentlich
von den Mitgliedern der römisch-katholischen
Kirche recht beachtet und bedacht werden, da-
mit sie nicht immer von Neuem eine Beute
jener Geschichtsentstellungen werden, die mit
Pseudoisidor begonnen haben und leider in
ihren Kreisen noch immer ein sehr unheimliches
Wesen treiben.
Es ist ganz und gar nicht zu leugnen, dass
die jetzigen Wirren, welche so tief den Frie-
den in Deutschland gestört haben, den Frie-
den zwischen Staat und Kirche nicht bloss,
sondern auch den im Inneren des Volkes, den
Frieden zwischen den Confessionen und den in
der »katholischen« Kirche selbst bis in den
Schooss der Familien hinein, dass diese Wir-
ren ihren Grund nur darin haben, dass von
Seiten der römischen Kirchenoberen die alt-
hergebrachten und im Wesen der Sache be-
gründeten Rechte des Staates in Beziehung auf
160 Gott. gel. Ans. 1874. Stück 5.
die kirchlichen Angelegenheiten ganz und völlig
missachtet worden. Nicht etwa, wie eine mo-
derne Devise lautet, um »eine freie Kirche im
freien Staate« ist es ihnen zu thun, nicht die
natürlichen Freiheitsrechte der Kirche , die
etwa vom Staate bedroht würden, suchen sie
zu vertheidigen , sondern was sie erstreben, das
ist eine Kirche, die vom Staate frei wäre, ja
die über dem Staate stände als die höhere
und höchste Autorität , befugt, schliesslich auch
die Angelegenheiten des Staates kraft göttlichen
Rechtes zu richten und zu ordnen. Aber dass
diese Ansprüche von dem heutigen Staate, der
ein so ausgeprägtes Bewusstsein seiner eigenen
Souveränität hat und haben darf, in keiner
Weise geduldet und zugestanden werden dür-
fen, ist wohl jedem Unbefangenen deutlich ge-
nug. So lange die römischen Kirchenoberen
ihre Ansprüche nicht aufgeben, wird und kann
der Frieden, den sie gestört haben, nicht zu-
rückkehren , aber eben deshalb wäre es wün-
schenswerth , dass die vorliegende Schrift ge-
rade unter den Mitgliedern der »katholischen«
Kirche Verbreitung und Beachtung fände.
F. Brandes.
T
iei
G $ t f i n g 1 s c h e
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsiebt
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück /. 11* Februar 1874.
Segesta pontificum Romanorum inde ab anno
post Christum natum MCXCVI1I. ad annum
MCCCIV. edidit Augustus Potthast. Fasci-
culus IV. V. Berolini (Decker) 1873. Fasci-
culus VI. 1874. p. 481 — 942. 4°.
Nachdem Anlage und Ausführung des um-
fangreichen Regestenwerkes schon wiederholt in
diesen Blättern (s. G. G.A. 1873 Stüde 28.43)
einer eingehenden Beurtheilung unterworfen wor-
den sind, kann ich mich bei der Anzeige- der spä-
teren Lieferungen kürzer fassen. Mit der sechsten
Lieferung schliesst der erste Band, welcher inll075
Nummern die Regesten der Päpste InnocenzIII.
(mit 5316 Nr.), Hdnorius III. (2545 Nr.) und
Gregor IX. (3212 Nr.) bringt. Von Coelestin ULI.
sind niemals Urkunden bekannt geworden, we-
nigstens nicht solche, welche mit Sicherheit ihm
zugeschrieben werden können; aus der langen
Vakanz nach seinem Tode hat endlich Herr P.
noch zwei Urkunden des Kardinalkollegiums
beizubringen gewusst, so dass der erste Band
11
t
1«2 Gott. gel. Anz. 1874. StSck 6.
der Reg. pout, nns gleich bis ins Jahr 1243
fuhrt. Die erste Lieferung des zweiten Bandes
wird also mit der Wahl lnnocenz IV. anheben,
dieser selbst aber an Umfang kaum hinter dem
vorliegenden Zurückbleiben, besonders da die
sehr nothwendigen Nachträge einen ziemlichen
Raum beanspruchen dürften. Herr P. weist
nämlich in nr. 11062 zum ersten Male auf
»Addenda« hin und in der Hoffnung, dass für
diese, resp. für die ebenso nothwendigbn ‘»Cor*
rigenda«, dem Verf. auch die Bemerkuiqjen will-
kommen sein werden, welche in diesen Blät-
tern ausgesprochen wurden und zu welchen
auch jetzt wohl Veranlassung gegeben ist, be-
ginne ich zunächst mit den Addenda, d. h. mit
den Hinweise atif solche in Abdrucke oder im
Auszuge mir bekannt gewordene Urkunden,
welche ich in den Reg. pont. vermisse oder
vielleicht nur nicht habe auffinden können.
flonoriss lil.
1217 April 14 P. nr. 5520 auch bei Peruzzi,
Storia d’Ancona I, 365.
— » 21 P. nr. 5528 bei Shirley, Royal
letters I, 529.
— * 25 für den Propst von Salzburg.
Wiener Sitzuugsber. 1858. Bd.
XXVH, 31.
— Juli 8 an den Kardinallegaten Gualo.
Shirley I, 532.
S.ept. 7 an Cremona. Ficker, Forsch.
z. Reichsgesch. Italiens IV, 307.
1218 März 15 wegen Ungebührlichkeiteu izh
Kapitel von Lausanne. Notioes
et extraits XXI b, 166.
— April 4 für die Domherren von Faemuu
Mittarelli, Access, p. 471.
/
Potthast , Regesta pontificum Romanorum. 168
1219 Jan. 30 belobt Cremona. Acta impern
nr. 1140.
— März 20 Mon. hist patr. Chart. II, 1292
falsch zu 1218.
— Mai 14 an Cremona. Ficker, Forschun-
gen IV, 310.
— > 18 an die deutschen Kreuzfahrer.
Raumer, Hohenstaufen (2. Ausg.)
III, 175.
1220 Jan. 3 Ficker, Forschungen IV, 311.
— März 16 nimmt Friedrich II. u. 8. w. in
seinen Schutz. Huill.-Bieholles
I, 747.
— April 28 Privileg für Morimund. Ughelli
IV, 253.
— (Mai) an Friedrich II. (entsprechend
P. or. 6244). H. B. I, 783.
1221 Jan. 26 wegen Bischof Sifrid von Hil-
desheim. Leibniz, Script. II, 154.
— Mai 14 an Friedrich II. wegen Benevent.
Aus Hon. Regist. lib. V nr. 639 :
.H. B. I, 882 not., extr.
— Juni 26 an die Justitiare T. de Amiterno
und 11. de Ofenis. Thein er, Cod.
dipi. dom. temp. I, 67 (ent-
sprechend P. nr. 6695).
1222 Juli 13 Privileg. Ughelli i, 379.
1223 Fehr. 13 Pirrus, Sicilia sacra p. 805.
— März 22 (Laterani) ibid.
— April 4 Mittarelli, Access, p. 476. (Ob
diesem Honorius angehörig?)
— * 7 an den Bischof von Carlisle.
Shirley I, 537.
— »17 für die Halberstädter Kirche.
Archiv f. Kiedersachsen 1656.
II, 194.
— >18 P.nr. 6997 auch bei Shirley 1,538.
11*
164 Gött. gel. hm. 1874. Stock 6.
1223 Mai 29
- Juli 26
— Dec. 13
1224 Mai 18
— » 24
— Aug. 3
— Not. 12
— » 22
1225 Febr. 12
— Mai 28
— Sept 3
— * 10
— Oct. 19
— Nov. 19
— * 28
1226 Oct. 11.
1227 Jan. 28
P. nr. 7032, auch bei Siena,
Storia di Sinigaglia p. 334.
Mon. hist. patr. Chart II, 1321
falsch zu 1224.
P. nr. 7 1 1 8, auch bei Shirley 1, 539.
befielt allen in der Mark Ancona
die Besitzungen der Ravennater
Kirche zu restituiren. Fantuzzi
VI, 69.
erlaubt dem Erzbischöfe von Ra-
venna den Verkauf eines Kastels.
ibid. I, 350.
P.nr. 7294, auch bei Sbirley 1, 541.
Notices et extraits. XXI b, 195.
ibid.
bestätigt einen Vertrag zwischen
dem Erzbischöfe von Ravenna
und dem Stifte in Porto. Fan-
tuzzi II, 198.
Notices et extraits XXI b, 199.
an den Erzbischof von Neapel
Ughelli VI, 302.
Notices XXI b, 195.
an den Erzbischof von Ravenna
wegen des Kreuzzugs. Fantuzzi
VI, 45.
an den Bischof von Modena we-
gen des livländischen Erzbis-
thums. Rayn. Ann. eccl. 1225
§. 16.
an den Bischof von Fossombrone.
Peruzzi, Storia d’Ancona I, 373.
an den Erzbischof von Mainz.
Würdtwein, Nova subs. IV, 131.
an Orvieto, Vetralla u. s. w.
wegen der Einsetzung des Kö-
nigs Johann zum Rektor des
Fotthast , Regesta pontificum Romanorum. 165
tuscischen Patrimoniums. Thei-
ner I, 82.
flregor IX.:
1227 April 28 für den Patriarchen Gerold von
Jerusalem. Huill.-Brdh. IIP, 69
not. 1.
— Mai 27 Privileg für S. Maria de Ferraria.
Ugbelli VI, 719.
— Juni 12 Meibom III, 435.
1228 März 22 Notices XXI b 215.
— Nov. 5 im Streite des Erzbischofs von
Ravenna mit den Söhnen Gui-
dos von Polenta. Fantuzzi UI, 78.
1229 Nov. 9 Notices XXI b, 218.
— Dec. 21 Privileg für S. Maria de Monti-
cello. Sbaralea, Bull. Francisc.
I, 56.
1230 Jan. 18 Priv. für das Bisthum Gubbio.
Ugbelli I, 687.
1234 Febr. 1 Notices XXI b, 225 extr.
— > 15 P. nr. 9408, gedruckt: Livl.
Urkbch. I nr. 99 falsch zu 1228
und ebenso schon P. nr. 8130).
— Dec. 15 Notices XXI b, p. 235.
1235 Sept. 28 an den Kaiser. Huill.-Bröh. IV,
776 not. 1, extr.
— — an Hermann von Salza, ibid.
— » 26 an die Rektoren des Lombar-
denbundes. H.-B. IV, 780 extr.
1236 Febr. 11 Verhandlung am päpstlichen Hofe
/ zwischen Modena und Bologna
vor namentlich aufgefiihrten Kar-
dinälen. Savioli III, 2 p. 161;
Murat. Antiq. Ital. IV, 389.
— » 19 an den Präceptor des Deutsch-
ordens in Accon. H.-B. IV, 808.
not. l.; extr.
166 Gott. gel. Anz. 1874. 8tü<& 6.
1236 März 18 P. nr. 10121 , gedruckt: Neu-
gart, Epüc. Const. I, 2 p. 533.
— * 27 an Hermann von Salza. H.-B.
IV, 826 not. 1., extr.
— April 2 an Podesta und Gemeinden der
Lombardei, ibid. IV, 827 not.,
extr.
— » 5 an Bitter und Volk von Pia-
cenza. ibid.
— Juni 10 an den Klerus der Lombardei
(entsprechend nt. 10184). H.-B.
IV, 871 extr.
— — ebenso an Edle und Kommunen
der Lombardei, ibid.
— Aug. 17 an den Legaten Bischof von
Praeneste. H.-B. IV, 904 not.,
extr.
— » 19 an den Erzbischof von Mailand
(entsprechend nr. 10228). H.-B.
IV, 904.
1237 Okt. 18 merkwürdiger Brief eines Kar-
dinals über die Verhältnisse am
päpstlichen Hofe. Matth. Paris;
H. -B. V, 124.
1238 Marz 30 Privileg für Eberbach. Rossel,
Urkbch. der Abtei Eberbach
I, 318.
— April 30 an Agnes Herrin von Torre.
H.-B. V, 1221.
— - Mai 4 an einen sardiniscben Abt we-
gen der Vermählung der Agnes.
V, 1222.
— »13 an den Bischof von Praeneste.
H.-B. V, 270 Dot., extr.
— »26 Notices XXI b, 212 extr.
— Jani 17 ibid. p. 245.
— »25 ibicL p. 245 extr.
— Aug. 6 zeigt den Lombarden u. s. w.
Potthast, Begesta pontifical» Bomanorum. 167
an, dass er Gregor von Monte»
longo za seinem Nuntius ernannt
habe. Cacciaeenti, Summ. mon.
Vercell. p. 190.
123§ Not. 80 Vertrag im Lateran zwischen
Venedig and Genna gegen Frie-
rich IL
1289 Mära . . Notices XXIb, 212 extr.
— Juli 26 an Ravenna. H.-B. V, 374 not.
extr.
— ... zu Gunsten Bolognas. Forsch.
a. deutsch. Gesch. XII, 291.
1240 (o. Febr.) an Albert , Archidiacon von
Passau. ibid. 292.
1241/3 .. Das Kardinalkollegium während
der Vakanz an den König von
Ungarn, ibid. 642. Ob echt?
An nngedrnckten Urkunden and Briefen,
aas deren Nicbtaafnahme selbstverständlich Herrn
P. kein Tadel erwachsen kann, mag gleich
bei dieser Gelegenheit notirt werden , was mir
gerade vorliegt:
1218 Sept. 28 Honoring HI. an den Prior von
Colnmberia eto. in Sachen des
Abtes von S. Sisto in Plaoenza
gegen Cremona.
1219 Mai 18 —-an Friedrich IL, ähnlich
wie an die deutschen Kreuz-
fahrer von diesem Tage.
— (c. Oct. 1) — maebt bekannt , dass zur
Ueberfabrt der Kreuzfahrer der
Tag des h. Benedikt bestimmt sei/
1220 Mai 1 — beauftragt genannte Achte
den Streit zwischen S. Sisto und
Cremona za entscheiden.
1222 Febr. 28 •— an den Bischof von Piacenza
etc. in derselben Sache, mit aas-
r r
168 . G6tt. gel. Anz. 1874. Stück 6. -
führlicher Erzählung des ganzen
Streites.
1222 Mni 8 — in seinem Aufträge verhan-
delt Cardinal Johann von Co-
lonna mit den am päpstlichen
Hofe erschienenen Parteien.
Not.-Instr.
' 1224 Mal 30 1 — befielt dem Dogen von Ve*
, : ’ nedig den Verkehr taitCremona
abzubrechen. ..
. — — t — ebenso an Genua. . .
— . Nov. 26 — befielt den Bann gegen Cre-
mona zu erneuern -and nun auch
Bologna, Parma und Reggio zu
bannen.
1227 Sept. 27 Gregor IX. befielt Cremona, ihm
Guastalla und Luzzara zu über-
geben.
— — — > befielt dem Bischöfe von
Modena diese Güter zu über-
nehmen, dann sie aber für 3000
Mark an Cremona zurückzugebes
und dieses vom Banne zu he*
freien.
1230 April 2 — straft Cremona wegen der
Schädigung des Abtes von S.
< Michael de Brembio.'
— erbittet vom Kaiser die
Freilassung des Jacobus de
Castello. i
Von den »Addenda« will ich auch dies Mal
wieder zu den »Corrigenda« übergehen, muss
aber vorher bemerken, dass ich mich ans einem
Grunde, der weiterhin deutlich werden wird, da-
bei vorläufig auf Fase. IV und V beschränke. In
diesen scheint mir Folgendes einer Verbesserung
oder nochmaligen Erwägung .zu bedürfen:
Potthast, Regesta piontificmn Romanorum. 189
-■ nr. 5496 vom 14. März 1217 ist die Bestä-
tigung einer Schenkung Friedrichs II. an den
Propst von Selbold. Diese Schenkung ist aber
erst am 15. August gemacht worden (Huill.-
Breh. I, 522), so dass jenes Jahr der päpstli-
chen Bestätigung (pont. anno 1) unmöglich rich-
tig sein kann. In der That registrirt P. nr.
6007 dieselbe Bestätigung aus derselben Quelle
nochmals zum Jahre 1219 ein, dies Mal aber
mit pont. a° 3. Was ist nun das Richtige?
nr. 5508, die Belehnung Aszo’s v. Este mit
der Mark Ancona, ist angesetzt 1217 »ante
aprilem«. Dieselbe Urkunde kehrt aber auf der
nächsten Seite wieder nr. 5520 nach einem an-
deren Drucke und dieses Mal mit der Note:
(14. apr.), und dies Letztere ist richtig.
nr. 5653, undatirt, würde ich unbedenklich
zu nr. 5503 vom 21. März 1217 setzen. Denn
hier bestätigt Honorius den Schiedsspruch von
1206 zwischen den Grafen von Looz und Hol-
land, um dort Fürsorge zu treffen für die Be-
seitigung der Streitigkeiten, welche aus jenem
Schiedssprüche entstanden sind.
nr. 5694, aus Lugdunum datirt, ist natür-
lich keine Urkunde des Papstes Honorius III.,
sondern gehört dem 5. Febr. 1245 und Inno-
eenz IV. an.
nr. 5734; S. Stephani de Vosco, wohl nur
Druckfehler statt Bosco.
hr. 5771 für B. Christian von Preussen, soll
unecht sein , ist aber in dieser Eigenschaft nicht
durch das sonst gebrauchte Kreuz gekennzeich-
net. Die Zahl der so gekennzeichneten Stücke
ist nach wie vor auffallend klein; in den drei
vorliegenden Heften finden sich derer nur drei,
auf 8; 549. 607. 715, während — um das gleich
hier abzumachen — nr. 10806 sicherlich ge-
170 Giitfc. gel. Aas. 1874. Stick I.
fälscht ist, aber in dieser Eigenschaft nicht her-
vorgehotben wurde.
nr. 5807 nach Wilhins Concilia I, 580 ist
nichts anderes als nr. 6067 nach Dugdale, Mob.
Anglic. II, 269. Dasselbe Privileg steht dort
unter 1218, hier unter. 1219: welches Jahr ist
nun richtig?
er. 6118 ist bei Sohiavina, Arm. Alexandr.
p. 178 vom 22. August.
nr. 6137 für den Seloniensfa epise., statt
Seloviensis, wie wiederholt bei P. steht.
er. 6162 für deu Bischof von Tusculum vom
13. Kal. Dec. &• 4 nach Ughelli und TomassettL
Aber unter nr. 6185 lesen wir ganz dieselbe
Verleihung nach denselben Quellen, doch au->
geblich mit 13. Kal. Jan. Welches Datum ist
nun richtig? Ich hatte diese Urkunde zum
19. Nov. notirt.
nr. 6174: es ist statt apost. sedis eleeto Mr
türllch »legato« zu lesen.
nr. 6196 ist vom 21. Febr. 1220.
nr. 6214 universo populo Maiorici erklärt
P. mit »Madrid«; sollte nicht vielmehr Mallorca
zu verstehen sein?
nr, 6272 steht auch Leibn. Sor. rer. Bnmsvio.
II, 279.
nr. 6352: Alatrino (?) capellano. Das Frage*
Zeichen steht sehr überflüssig. Alatrin ist ein
ganz bekannter Mann s. Forsch, z. deutsch«
Oescb. X, 253 und wurde wirklich zu den betr.
Verhandlungen mit Friedrich II. gebraucht s.
Geseh. Friedr. II., Bd. I. S. 141 u. ö.
nr. 6358 ein uudatirtes Schreiben an Fri*»
rich II., musste, da et der Anweisnng an Alatrin
vom 4. Sept. entspricht, unmittelbar auf 6S&2
folget*. Es ist kein Grund vorhanden, um es
mit P. etwa zum 20. Sept. zu setsen.
nr. 6528 gehört, wie P. selbst p. 569 ver-
Potihast , Regesta pontificnm Romanoruin. 171
bessert hat, zum Jahre 1120 (vgl. p. 541) ; ebenso
aber auch nr. 6529, wo die Corrector verges*
sen worden ist.
nr. 6591 Privileg für den Bischof von Fertno,
nach P. vom 15. Mars 1221. Da non P. selbst
p. 679 die Kanzlei Honorias zusaromenstelH und
ganz richtig angiebt, dass schon am 10. Dec.
1219 ein Privileg gegeben ist per mannm Ray«
nerii patriarchs© Antioch, cancellarii vicem
agentis, hätte er wohl darüber stutzig werden
können, dass nr. 6591 die Bezeichnung trägt:
per roan. Raynerii s. B. E. vicecancellarii, die
auf 1219 hinweist. — Ferner kommt unter den
Subskribenten Aldebrandinus diac. s. Eustachii
vor und P. verzeichnet demgemäss denselben p.
679, seinem Irrthum getreu, zum 15. März 1221.
Und doch weiss er p. 678, dass dieser Aide*
brandin schon am 3. März 1221 presbyter tit.
s. Susannae war! Es kann keinem Zweifel un-
terliegen, dass das Privileg für den Bischof von
Fermo von dieser Stelle der päpstlichen Rege«
sten gestrichen und vielmehr zum 15. März
1219 gesetzt werden muss.
nr. 6609: Engelberto electo Coloniensi, an-
geblich mit pont. a. 5. Herrn P., der ja die
deutschen Bischofsreihen selbst herausgegebea
hat, sollte es nicht unbekannt sein, dass En-
gelbert 1221 längst nicht mehr eleotus war.
Er hat dieses Regest nach Fickers Engelbert«
S. 330 gearbeitet, aber übersehen, dass Ficker
schon bemerkte: »Vielleicht ist das Pontificats*
j&hr verkehrt angegeben«. Ganz gewiss; es
muss pont. a. 1. gelesen und die Urkunde zum
8* April 1217 statt 1221 gesetzt werden.
nr. 6675: (Romano) Portuensi episoepo.
Einen solchen hat es 1221 nicht gegeben. In
der folgenden Ar. 6676 strikt denn auch richtig:
i
172 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 6.
Conradus Port, episc., aber unter nr. 6698 wie«
der falsch: 'R(omano) episcopo und unter nr.
7432 zur Abwechslung : (Cinthio) Port, episcopo.
nr. 6681 zum 4 13. Juni 1221: Ostiensi
epißcopo. Dieselbe Urkunde ist nochmals un-
ter nr. 6857 a zum 13. Juni 1222 verzeichnet
und zwar wieder aus denselben Quellen. Wie
ist das Räthsel zu lösen?
nr. 6700 ist nichts als die undatirte Ab-
schrift einer der vielen Ausfertigungen von nr.
6599, brauchte also nicht besonders verzeichnet
zu werden.
p. 596 zu der chronikalischen Notiz über
die Krankheit des Papstes wäre auch Chron.
Montis Sereni p. ISO anzuziehen gewesen.
nr. 6896: einen G. presb. s. Anastasiae hat
es nicht gegeben, es ist G(regorius) zu lesen,
s. Pottb. p. 678.
nr. 6969 regi Francorum angeblich c. März
1226. Derselbe Brief aus derselben Quelle steht
nochmals nr. 7035 angeblich vom Ende des
Mai. Uebrigen8 sind auch nr. 7131 und 7132
nur andere Ausfertigungen desselben Briefes an
andere Adressaten und es hätte genügt, diese
unter' nr. 6969 kurz anzumerken, wo schon
einige der Art stehen.
nr. 7038 hat in der anderen Ausgabe des
Ughelli VII, 453 die Ortsangabe: Rome apud
P. Petrum.
nr. 7244. Es wäre der Mühe werth gewe-
sen, dass das namentlich aufgezäblte Kardinals-
collegium am 27. April 1224 diese Bitte unter-
stützte. Recueil XIX, 752 note.
nr. 7289. Ebenso an Podesta und Volk von
Fermo. ♦
nr. 7562: Fridericum imp. increpat, angeb-
lich April 1226, nach HuilL-BrehoUes II, 552
Potthast , Begesta pontificnm Romanorom. 179
\
und mit der dieser Aasgabe entnommenen Note :
Licet haec epistola in impresso tribuatur papae
Innocentio, non dubium est, quin hoc nomen in
codice perperam pro »Honorius« irrepserit.
Genau dasselbe Stück findet sich jedoch schon
einmal nr. 4133 zum November 1210: Ottoni
imp. opprobrat etc. und da hat P. bemerkt:
ubi inscribitur mirabile dictu Friderico Rom.
imp., quod iam monuit v. Raumer Hohenstau-
fen Ul, 162. Diese von Herrn P. geflegte Zwei-
Seelentheorie dürfte ein mirabile dictu in noch
höherem Masse verdienen. Aber sie erklärt sich
aus der Unbefangenheit, mit welcher er seinen
Quellen nachschreibt. In nr. 4133 ist er näm-
lich Böhmer, Reg. imp. p. 55 gefolgt, dem wie
in den meisten Fällen, so auch hier bewährten
Führer; in nr. 75G2 aber bat er sich in glei-
cher Unfreiheit des Unheils Huillard-Breholles
hingegeben, ohne zu bemerken, dass er durch
die Annahme der falschen Bemerkung desselben
in einen schreienden Widerspruch mit sich selbst
gerieth. Vgl. übrigens Gött. gel. Anz. 1873
Stück 43 S. 1692.
nr. 7788 ist vor August 1220 abgefasst, da
Pandulfus Norwicensis electus seitdem den Titel
eines päpstlichen Kämmerers nicht mehr führt,
nr. 7794: episcopo Calmensi, lies Calinensi.
nr. 7813 aus der Zeit vor Dec. 1219, denn
in diesem Monate wurde der electus Mediola-
nensis geweiht.
nr. 7876: iusticiarium imperii supremum ro-
gat — unmöglich, da ein solcher nicht vorhan-
den war. Es ist vielmehr der Grosshofjustitiar
des Königreichs Sicilien gemeint.
nr. 7894 für die conversi (in . partibus Li-
voniae?). Bunge hat in seinem Livländischen
Urkundenbuch diesen Schutzbrief auf Livland
174 Oött. ge L Anz. 1874. Stück 6.
bezogen, und P. ist ihm gefolgt, aber wohl mit
Unrecht. Denn die Vergleichung mit den an-
deren Briefen von demselben Tage nr. 7891 ff.
zeigt ganz deutlich, dass Bekehrte in Preussea
gemeint sind.
nr» 7913: Der französische König, an dea
dieser Brief gerichtet ist, ist nicht Ludwig VUL,
sondern Ludwig IX., der Vater des Königs also
nicht Philipp August, wie P. angiebt, sondern
Ludwig VUL, der im November 1226 gestor-
ben war.
nr. 7966: Doarinis deSompnino. Sollte nicht
de Supino gelesen werden müssen?
nr. 8044. Hier und an anderen Stellen d-
tirt P. erst Matth. Paris. Hist, maior und dann
Rogen de Wendover Flores. Die Reihenfolge
muss jedoch die umgekehrte sein, da Matth, die
betr. Urkunden aus und mit Roger in sein eige-
nes Werk übernommen hat, vgl. Potthast, BibL
hist. p. 438.
nr. 8222 ist dasselbe Privileg wie nr. 8241,
so dass in einem der beiden benutzten Ab-
drücke das Datum falsch wiedergegebeu sein
muss. Das in 8222 angenommene Datum: IV.
Kal. Julii findet sich auch bei Lami, Delic. II,
248; das aber in 8241 stehende: XIV Kai. Julii
würde die Urkunde jedenfalls nicht an den
Platz verweisen, wohin P. sie gesetzt hat, näm-
lich zum 19. Juli.
nr. 8254 ist auch an Andere gerichtet ge*
wesen, s. Archiv d. Gesellsch. X, 549.
nr. 8376 kehrt wieder nr. 8528. Welches
Datum ist nun richtig: 16. April 1229 oder 15.
April 1230?
nr. 8444. Der hier genannte C. «ubdiac. et
cap. rector Carfannani, dessen Namen P. als
Cencius ergänzt, dürfte eher der 1228 bei Huill.»
Potthttt, Rfegeuta pontificum Rmatarim. I7t
Brih. UI, 81 verkommende Cinthias «eia. Ein
Ssbdmkon Cencius ist mir ans den Zeiten Gre-
gors IX. nicht bekannt
nr. 8566 ist die Anzeige von der Ernennung
des Ardinghns zum Bischöfe von Florenz, aus
UghelK entnommen und wegen des Datums: Non.
Junii pont. a. 4., richtig zum 6. Juni 1231 em*
gereiht. Sie findet eich aber auch bei Lami,
jedoch mit Nonis Mart. a. 4« und demgemäss
hat P. sie nochmals unter dem 7. März 1281
nr. 8676 verzeichnet. Wieder wird man fern-
gen, welches Datum denn das richtige sei, und
wünschen dürfen, dass P. sich nach einer Enrt»
Scheidung um gesehen hätte, welche hier doch
wie in vielen anderen Fällen ganz gewiss in
den Bereich »seiner Aufgabe fieL
p. 737, iuli 23 apud S. Germanum —könnte
leicht zu der Meinung veranlassen, als ob Gne»
ger selbst auch in S. Germano gewesen wäre.
Gregor blieb aber in Anagni , während die Ycr*
handlangen mit dem Kaiser 1230 in S. Germane
gelahrt wurden.
nr. 8666 ist identisch mit nr. 8675 ; es hätte
aber, da P. selbst die Identität andeutet, -zwi-
schen ihren abweichenden Datirungen eine Ent-
scheidung getroffen, die Urkunde nur au einer
8telle verzeichnet werden müssen.
nr. 8764: Frid. imp. monet, nt ausus teme-
rarios Raynaldi in ecclesiam Rom&nam ulmoa-
tur. Der Inhalt ist aber der entgegengesetzte,
wie der Verf. schon aus nr. 8749 hätte wissen
müssen: Gregor bittet den Kaiser vielmehr um
Gnade für Rainald.
'nr. 8834 vom *26. Nov. 1231 enthält Auf-
träge angeblich gegen Herzog Ludwig von
Saiern. Dieser war jedoch schon am 16. Sept.
ermordet worden und dass man am päpstlichen
i
176 Gott gel Asz. 1874. Stock 6, -
Hofe wenigstens am 29. Not. schon davon
Eenntniss hatte, zeigt nr. 8835. Ebensowenig
durfte in nr. 8866 vom 4. Febr. 1232 der Na-
men des Herzogs von Baiem mit Ludwig er-
gänzt werden.
nr. 9114 ist an den Erzbischof von Magde-
burg gerichtet.
nr. 9271. Hier war zu erwähnen, dass in
der gleichen Angelegenheit auch der Erwählte
Bainald von Ostia dem Kaiser schrieb. Huill.-
Rröh. IV, 450.
nr. 9333 bezieht sich, wenn ich nicht irre*
auf die Aebtissin von Quedlinburg.
Das vorstehende Verzeichniss der bedeutend-
sten Errata hat schon verschiedene Male Anlass
zu der Bemerkung gegeben, dass der Verf. aus
einer Urkunde zwei gemacht hat, indem er ent-
weder versäumte, abweichende Daten zu unter?
suchen oder zu berichtigen, oder Ausfertigungen
an verschiedene Adressaten, die er in den frühe-
ren Heften unter einer Nummer zusammenzu-
fassen pflegte, jetzt unter verschiedenen Num-
mern eintrug. Ich glaube nicht, dass er sich
dabei von dem Ehrgeize hat leiten lassen, die
Zahl seiner Nummern recht hoch zu bringen;
vielmehr suche ich den Grund dieses nicht zu
billigenden Verfahrens, das der Uebersichtlich-
keit stark Eintrag thut, einfach in: seiner etwas
flüchtigen Arbeitsweise, in welche besonders die
oben besprochene nr. 7562 einen eigentümli-
chen Einblick eröffnet. Er findet ein Stück in
einem beliebigen Drucke und verzeichnet es ge-
wissenhaft auf einem loseh Zettel. Später fin-
det er, ohne sich des ersten Fundes zu erinnern,
nochmals dasselbe Stück in e'inem zweiten
Drucke und schreibt es wieder auf einen Zettel
u. a. w.f und ist dann zur chronologischen Ord-
Potthast, Regest» pontificum Romanorum. 177
nung dieser vielen Zettel geschritten. Ich
wüsste nicht, wie es anders zu machen gewesen
wäre. Aber nnn hätte nachträglich eine syste-
mati8cbe Sichtung des Materials vorgenommen
werden müssen und diese scheint der Verf. sich
leider etwas zu leicht gemacht zu haben. Es
fehlt seiner Arbeit, und ich kann, um Missver-
ständnisse zu vermeiden, es nicht oft genug be-
tonen, nicht sowohl an Fieiss, als an der gleich-
massigen Durcharbeitung, durch welche die Re-
gestenarbeit sich erst aus dem Bereiche des
Randwerkspässigen in die Sphäre des Wissen-
schaftlichen emporhebt. Denn dieses ist nicht
möglich ohne eigenes Urtheil. Ob der Verf.
dieses Urtheil besitzt oder nicht, das kann aller-
dings hier nicht ausgemacht werden und ich
will auch nicht anderes, als eben nur consta-
tiren, dass er es wenigstens nicht in allen Fäl-
len, wo es nötbig gewesen wäre , wirksam ge-
macht bat. Mit einiger Aufmerksamkeit hätte
ihm gewiss nicht die Identität entgehen können,
abgesehen von den schon berührten Urkunden-
pgaren, auch noch bei nr. 5475 und 5477, nr. 5478
und 5479, nr. 5562 und 5579, nr. 5688 und 5691,
nr. 5860 und 5861, 6090 und 6092, 6633 und 6635,
7139 und 7150, 7212 und 7214, 8292 und 8295
u. s. w. und dass z. B. nr. 8430. 8431. 8432.
8433 sämmtlich Ausfertigungen eines und des-
selben Stückes an verschiedene Adressen sind.
Wenn der Verf., wie es sich gehörte, bei der
Durcharbeitung des gesammelten Materials sich
ein Register derjenigen angelegt hätte, für
welche' die einzelnen päpstlichen Urkunden und
Briefe bestimmt waren oder von welchen sie
handeln, und ebenso ein Register der Eingangs-
worte, dann wären jene Nachlässigkeiten nicht
leicht möglich geworden.
12
178 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 6.
Jedes Heft der Beg. pont. bestätigt das
früher ausgesprochene Ortbeil über die Arbeits-
weise des Verfassers und die Fase. IV. und V.
sind nur geeignet, es zu verschärfen, da die ge-
rügten Mängel, weit davon entfernt, allmählich
zu verschwinden, sich hier in erhöhtem Maasse
breit machen. Ich hatte in der Besprechung
des zweiten und dritten Heftes (1873 Stück 43
S. 1687), es getadelt und, wie ich meine, es
ziemlich mild als eine Unregelmässigkeit be-
zeichnet, dass der Verf. von Zeit zu Zeit Rege-
sten, die er in fremden Sprachen vorgefunden
haben mag, in diesen Sprachen seinem Werke
einverleibte, für welches er doch selbst die la-
teinische Sprache gewählt hat. Aber was ich
dort tadelte, war zusammengehalten mit dem,
was die folgenden Hefte in dieser Beziehung
sich erlauben, nur ein schwacher Anfang, eine
Ankündigung des babylonischen Sprachengewirrs,
wie es sich besonders im vierten, etwas weniger
allerdings im fünften Hefte findet. Diese ent-
halten, wenn ich recht gezählt habe, 72 Rege-
sten in französischer Sprache (fase. I nur 1,
fase. II und III schon 14) und in buntem Wech-
sel mit dem lateinischen Grundstock und der
französischen Verbrämung noch 3 deutsche
(8819a, 8907, 9110), 1 niederländisches (8310),
1 englisches (5925), 1 dänisches (5656), 6 ita-
lienische (6131. 6172. 6714. 6886. 8309. 8570)
und 2 spanische Regesten (5493 und 6859).
Wie soll man nun diese Regellosigkeit erklä-
ren? Es mag sein, dass Herr P. in guter Ab-
sicht gerade so verfuhr und in der Meinung,
eine gewisse Abwechslung der Sprache würde
1 den Benutzer seines unvermeidlich trockenen
Werkes wohlthuend berühren. Vielleicht war
auch ein bischen Eitelkeit mit im Spiele: wer
Potthast, Begesta pontificum Romanorum. 179
will das ausmachen? Wenn ich aber den gan-
zen Charakter der Arbeit ins Auge fasse, dann
wird es mir am Wahrscheinlichsten, dass der
Verf. bei der Ordnung seiner Zettel einfach ver-
gessen hat, dasjenige ins Lateinische zu über-
tragen, was er sich vorher aus französischen,
italienischen und anderen Büchern ausgeschrie-
ben batte.
Wir können uns nicht recht auf ihn und er sich
nicht auf sich selbst verlassen; heute macht er
es so und morgen anders. Das im 3. Hefte
gebotene Verzeichniss der Eardinäle und der
Kanzleibeamten aus der Zeit Innocenz III. taugte
zwar nicht viel, aber es zeigte wenigstens den
guten Willen, indem P. sich bemühte, das jedes-
malige Vorkommen eines Kardinals oder eines
Kanzlers mit der Nummer und den Daten der
betr. ‘Urkunden zu belegen. Das erleichterte
die Controlle ungemein. Nun wird Niemand an-
nehmen, dass der Verf. gerade deshalb, um sie
zu erschweren, sich bei dem Verzeichnisse der
Kardinäle aus der Zeit des HonoriusIII. p. 678.
679 bloss auf die Angabe der Nummern be-
schränkt hat, — aber das Ergebniss aus dieser
Abkürzung seiner Mühe ist in der That eine so
grosse Erschwerung der Gontrolle und der Be-
nutzung , dass man es mir verzeihen wird, wenn
ich nicht mit derselben Ausführlichkeit dieses
zweite^ Verzeichniss prüfen mag, welche mir je-
nes erste Mal nothwendig erschien. Ich will
nur Weniges bemerken, was mir gerade aufge-
stossen ist. Es ist P. entgangen z. B., dass
sein Guido episc. Praenestinus aus zwei ver-
schiedenen Persönlichkeiten zusammengesetzt ist,
nämlich aus Guido U. (de Papa), der nach einem
Menologium Gasinense bei Ughelli I, 236 am
16. August 1221 gestorben sein soll, und aus
12*
180 Gott. gel. Adz. 1873. Stück 6.
Guido III. (Petri Leonis), der vorher Diakon
von S. Nicolaus in carcere Tulliano war und
dessen Weibe P. selbst p. 582 erwähnt. Er
hat übersehen, dass Aldebrandin, welcher am
3. März 1221 als presbyter S. Susannae vor-
kommt, unmöglich am 15. März noch diaconus
s. Eustachii gewesen sein kann (vgL oben zu
nr. 6591). Ebenso unmöglich ist es, dass am
10. Okt. 1217 Petrus noch presb. s. Laurentii
in Damaso und Cinthius noch presb. 8. Laurentii
in Lucina waren, wenn jener schon im Aprjl den
Titel eines Bischofs der Sabina, dieser schon
vor dem April den des Bischofs von Porto ge-
führt haben soll. Aldebrandin war noch 1222
Juli 13. Sabinensis episcopus und ein Aegidius
schon 1217 April 13. diaconus ss. Cosmae et
Damiani. Als presb. ss. Johannis et Pauli
weiss P. einen Johannes zu nennen, aber aus
der einzigen Urkunde, in der er Vorkommen
soll, vom 18. Jan. 1217 Ughelli (1. edit.) I.
Append, p. 204 habe ich mir einen Robertas
notirt, was ohne Zweifel für Bertrandus verle-
sen ist. Bei dem Verzeichnisse der Kanzlei-
beamten des Papstes p. 679 ist P. auf die nahe
liegende Annahme gar nicht verfallen, dass der
Raynerius prior s. Fridiani von 1216 bis an-
geblich 1217 Nov. 16. und der Raynerius s. R.
E. vicecancellarius von 1217 März 4. bis an-
geblich 1221 März 15. (s. o. zu nr. 6591) und
endlich Raynerius patr. Antioch, von 1219 Dec.
20. eine und dieselbe Persönlichkeit darstellen.
Zu seiner Entschuldigung mag das angeführt
werden, dass er die Titel, deren Rainer sich
nach der Reihe bedient hat, nicht zeitlich aus-
einander zu halten vermocht hat. Ebenso selbst-
verständlich ist die Identität von Wilhelmu*
vicecanc. 1220 — 1222 Apr. 3, Wilhelmus cancel!.
Potthast, Regesta pontificum Romanornm. 181
1221 — 1222 Febr. 27 und Wilhelmus notarius
1216, der sonderbarer Weise hier nachhinkt.
Wäre es nicht, belehrender gewesen, einfach sich
an die chronologische Reihenfolge der Personen
und ihrer Titel anzuschliessen, welche ein vor-
treffliches Hilfsmittel für die Kritik der Dati-
mngen gewährt ? Es hätten also nach der Reihe
terzeichnet werden müssen:
Wilhelmus notarius 1216.
Raynerius prior s. Fridiani Luc. vicecanc.
1216; ohne den Titel als prior 1217; patr.
Antioch, cancellarii vicem agens 1219.
Wilhelmus vicecanc. 1220; cancellarins 1221,
und auf diesen wären dann die späteren Leiter
der Kanzlei Mag. Guido 1222—1226 und Mag.
Sinibaldus 1226 gefolgt. Ein Blick genügt bei
dieser Anordnung, um die sämmtlichen Wand-
lungen der päpstlichen Kanzlei zu übersehen,
die in der Anordnung des Verf. ganz versteckt
sind und erst mühsam herausgesucht werden
müssen.
Der Verf. scheint das allmählich erkannt zu
haben; wenigstens hat er sich in Fase. VI p*
939 bei den Kanzleibeamten Gregors IX. von
seiner bisherigen Anordnung losgesagt, um der
von mir empfohlenen Weise zu folgen. Und
das ist nicht das Einzige, wodurch sich diese
letzte Lieferung des Bandes vortheilhaft von den
früheren unterscheidet. Die Schwächen derseL
ben, welche mich hie und da zu scharfem Ta-
del berechtigten, sind noch nicht ganz abge-
streift, aber man erkennt doch, dass der Verf.
bemüht und auf dem besten Wege ist, sie zu
überwinden, sei es dass er selbst auf sie auf-
merksam wurde, sei es, dass die in diesen Blät-
tern gebotenen Besprechungen, die, Einzigen,
welche meines Wissens bis dahin erschienen
182 Gott« gel« Anz. 1874. Stück 6.
waren, ihn zu erneuerter Prüfung seiner müh-
seligen Arbeit veranlassten. Das Verzeichniss
der Kanzler und der Kardinale, welche den Pri-
vilegien Gregors IX. als Zeugen dienen, ist, so-
weit ich vorläufig zu urtheilen vermag, voll-
ständig und genau. Die Ausfüllung der Adres-
sen ist seltener vorgenommen, aber meist rich-
tig getroffen worden*). Die Sprachverwirrung
in den Regesten nimmt allmählich wieder ab,
obwohl leider noch immer 19 französische und
2 deutsche Regesten untergelaufen sind. An
sachlichen Irrthümern fehlt es nicht ganz — '
aber wo wären diese bei solchem Werke ganz
zu vermeiden? Mit einem Worte, die Arbeit
nähert sich in diesem Schlusshefte demjenigen
Grade der Sorgsamkeit und Genauigkeit, den
man billiger Weise beansprnchen darf und den
der Verf. ihr auch ganz wohl durchgehends
hätte verleihen können, wenn er nicht anfangs
die Drucklegung zu eilig betrieben hätte. Möge
er mir gestatten, seinem jetzt deutlich hervor-
tretenden Streben nach Vollendung im Einzel-
nen meinen Glückwunsch mit derselben Offen-
heit auszusprechen, mit welcher ich aus wah-
rem Interesse an der Sache über ihre bedenk-
liche Seite mich glaubte äqssern zu müssen.
Vielleicht findet er in den wenigen Bemerkun-
gen, zu welchen Fase. VI mir Anlass giebt, den
Beweis dafür, dass dieses Interesse an seiner
Arbeit eben es ist, welches mich bestimmt, un-
gefragt gewisser Massen sein Mitarbeiter zu wer-
den, so weit ich es ohne seine reichen Hülfs-
mittel vermag.
*) Fraglich sind mir die Ergänzungen in 9488.
9842. 9884. 9969. 10111. 10176. 10443. 10504. 10646.
10647. 10764. Das Fragezeichen ist überflüssig in
10245.
Potthast , Regesta pontificom Romanorum. 183
nr. 9400: der Bischof yon Merseburg heisst
Eckhard, s. nr. 9410.
nr. 9408 ist = .8130, welches aber unrich-
tig zu 1228 gesetzt worden ist.
nr. 9500: der B. von Castello hiess Marcus,
nr. 10268: der Patriarch von Grado heisst
Angelus (cf. nr. 10483), der Erzbischof von Ra-
venna Theodericus.
nr. 10336: der Bischof von Lucca heisst
nicht Lucas, sondern Guercio (cf. nr. 10275).
nr. 10536: (Ludero) epo- Yerdensi.
nr. 10778: es ist hier nicht Heinrich Haspe
gemeint, sondern sein Bruder Konrad, der nach-
malige Hochmeister des deutschen Ordens.
nr. 10808 ist identisch mit nr. 10830, gehört
in der That zum 19. Dec. 1239 und ist gedruckt
bei Ughelli (1. edit.) V, 89.
nr. 10889 an electus Gradensis, also kann
in nr. 10882 zwölf Tage vorher derselbe noch
nicht patriarcha sein.
nr. 10898 und 10901 sind identisch, zu zwei
Urkunden geworden durch Verwechslung von
XH. und VH. I£al. Julii bei den Abdrücken.
nr. 10929 an den Erzbischof von Mainz, je-
doch mit dem von P. übersehenen bezeichnenden
Zusatze: >consilium Spiritus sanioris« als Gruss.
nr. 11038: die Ausfertigung Priori provin-
ciali fratr. pred. Teutoniae ist nach Archiv X,
633 vom 22. Juni.
Wiederholt sind auch hier, was ich, wie ge-
sagt, durchaus nicht billigen kann, verschiedene
Ausfertigungen eines und desselben Stückes und
unter dem gleichen Datum als mehrfache Ur-
kunden aufgefiihrt und gezählt worden, z. B.
10927. 928. 929. 930, dann 10945. 946. 947,
ebenso 10949. 950. 951 und 11015, welches
nichts anders ist als 11017. Endlich: wie die
I
184 Gott. gel. Anz. 1874. ßtüd t 6.
den Urkunden der einzelnen Päpste vorausge-
schickten Biographien derselben durch gehende
sehr mangelhaft sind, so gilt das besonders von
der Coelestins IV, die nach sehr spaten Hülfe*
mittein gearbeitet scheint und ganz ungenügend
ist. Ebenso aber auch, was über seine Wahl,
die angebliche Weihe und seinen Tod gesagt
wird. Es hätte einer solchen Unmasse ton Be*
legstellen gar nicht bedurft, wenn nur die wirk-
lich entscheidenden recht hervorgehoben Wäret!»
Aber was hilft es, dass p* 940 das schwer wie-
gende Zeugniss des Nicolaus deCurbio: »munus
consecrationis non habuit neque bnllam« fett ge«*
druckt wird, wenn unmittelbar vorher aus einer
abgeleiteten Quelle der 28. Oct. 1241 als Tag
der Weihe Coelestin’s verzeichnet ist. Es hätte
auch wohl angeführt werden können, dass nach
Archiv XII, 207 die päpstlichen Registerbücher
gar nichts von Coelestin IV. enthalten. Indessen
sollen diese Ausstellungen der Anerken&ubg, zu
welcher ich dem Fase. VI gegenüber mich ver-
pflichtet glaube, keinen Abbruch thun. Bleibt
der Verf. hinter dem in der letzten Lieferung
geleisteten nicht zurück, so kann man wohl mit
einiger Zuversicht dem noch ausstehenden zwei-
ten Bande allgemeinen Dank von Seiten deref
in Aussicht stellen, welche sich eingehend mit
dem 13. Jahrhunderte beschäftigen müssen.
Heidelberg. W inkelmann.
/
f
Henszlmann, 1). Grabungen d. Erzbischofs etc. 186
Die Grabungen dee Erzbischofs von Kalocsa
Dr. Ludwig Haynold. Geleitet, gezeichnet und
erklärt von Dr. Emrich Henszlmann, Re-
ferent der Landescominission der Ungarischen
Denkmäler und Professor der Kunstgeschichte
an der Landesuniversität. Leipzig, in Commis-
sion bei C. A. Händel. 1873. IV und 222 Sei-
ten mit 2 Tafeln und 114 Fig. in Holzschnitt.
Iü 4°.
Die mittelalterliche Architectur Ungarns ist
ZWar im Ganzen der des abendländischen Europa
verwandt und zum grössten Theil von ihr ab-
hängig, aber sie bietet doch manches Beisondere
dar, und ist daher immer unsrer Aufmerksamkeit
Werth. Die Beachtung derselben datirt erst von
dem J. 1846, und Henszlmann ist es hauptsäch-
lich gewesen, der ihre Erforschung und Bearbei-
tung angeregt und gefordert hat. Manches ist
seitdem auch bei uns bekannt geworden und
keineswegs unbeachtet geblieben, aber leider ist
ein grosser Theil der Arbeiten, die sich mit die-
sem Gegenstände beschäftigt haben, durch die
ungarische Sprache, in der sie geschrieben sind,
für uns so gut wie unzugänglich. Um 'so er-
wünschter ist die vorliegende deutsche Publica-
tion, in der einleitungsweise auch die Resultate
del* ältern Untersuchungen mitgetheilt sind. Wir
gewinnen dort einige neue Ansichten, durch
welche das, was sonst, namentlich durch Eitel-
befger in Deutschland bekannt geworden ist, er-
gänzt und zum Theil modrficirt wird. Ich will
hier nur einige Hauptpunkte hervorheben.
Der erste grosse Monumentalbau Ungarns ist
König Stephan’s Basilica in Alba oder Stuhl-
treissenburg, vön der 1862 bei einem Hausbau
Kapitelle und Mosaikstifte zu Tage kamen und
dann durch systematische Nachgrabungen von
186 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 6.
Henszlmann Theile des Hauptschiffs und der süd-
lichen Nebenscbiffe blossgelegt wurden. Diese
Kirche, die lange Zeit einzig in ihrer Art blieb,
da die übrigen Bauten jener älteren Zeit unbe-
deutend waren, ist dann das Vorbild für die Ka-
thedralen noch in einer Zeit gewesen, als andre
Kirchenbauten schon ganz andern Vorbildern
folgten. Das eigentümliche dieser Bauten be-
steht darin, dass sie kein Querschiff, dagegen an
den vier Ecken Thürme enthalten, welche sich
unverkennbar als Befestigungen darstellen. Ueber
den Zweck der Kirchthürme ist bekanntlich ge-
stritten und es leidet wohl keine Frage, dass
die verschiedenen an den Kirchen vor kommenden
Thürme nicht aus derselben Idee hervorgegangen
sind. Die älteste Nachricht von Thürmen an
christlichen Kirchen findet sich beiChoricius im
6. Jahrhundert. In dem ersten Briefe an Bi-
schof Marcion heisst es von der Apostelkircbe zu
Gaza : Sanfte Lüfte durchwehen die in Sicherheit
befestigte Wache, indem zwei Thürme sicher
den Eingang begränzen, der durch die Schönheit
des Vorhofes geziert ist u. s. w. Hier war also
der Eingang in den Vorhof befestigt. Anders er-
scheinen jedoch die vierthürmigen Kirchen in
Ungarn. Sie bilden wirkliche Kastelle mit Eck-
thürmen und ihre Form schliesst sich damit der
Anlage alter Römischer Standlager an, von de-
nen sich in Ungarn Ueberreste nachweisen lassen.
Bei den Klosterkirchen wird nun aber diese
Bauart verlassen. Im 13. Jahrhundert erheben
sich diese in den romanischen Formen des We-
stens. Man hat früher geglaubt, dass bei den
romanischen Bauten Ungarns allein deutscher
Einfluss massgebend gewesen sei, und Henszlmann
selbst hat dies noch 1865 in der österreichischen
Revue ausgesprochen. Allein nach neuern Beob-
Henszlmann, D. Grabungen d. Erzbischofs etc. 187
achtungen behauptet er, dass sich die französi-
schen und deutschen Bauschulen ziemlich gleich-
mässig in den Einfluss auf die Bauten in Ungarn
theilen. Ohne Zweifel war dafür die Filiation
der Orden von hauptsächlicher Bedeutung, und
es erklärt sich so, dass die älteste datirte Kirche,
die von Leiden (Ledeny) von 1207 schon Spitz-
bogengewölbe mit vollkommenen Uebergangs-
Eippen aufzuweisen hat, während in der 1256
erst eingeweihten Kirche von Jäk noch aus-
schliesslich Rundbogen Vorkommen.
Vor dem Einbrüche der Tartaren 1 waren die
Kathedralen und die meisten Klöster der be-
güterten geistlichen Orden monumental neugebaut.
Nach diesem Einbrüche aber herrscht der gothi-
sche Styl, der sich daher auf die Klosterkirchen
der Bettelmönche und die Pfarrkirchen der neuer-
dings durch Einwanderer bevölkerten königlichen
Freistädte beschränkt. Auch hierbei machte
sich meist der Einfluss der Gegenden geltend,
aus welchen einerseits die Ordensgeistlichen,
andrerseits die neuen Colonisten in den Frei-
Städten eingewandert waren.
Diese Bemerkungen mögen genügen, um auf
die Bedeutung des vorliegenden Buches aufmerk-
sam zu machen. Auf die Ergebnisse der einzel-
nen Grabungen, die sich auf die Metropole von
Kalocsa, die Abtei zu Batbmonostor und die
Burg von Bäcs beziehen, einzugehen, würde hier
zu weit führen. Doch kann ich nicht unterlas-
sen, noch eine Theorie zu berühren, welche der
Verf. bei dieser Gelegenheit ausführlich darlegt,
nachdem er sie früher schon für die antike Ar-
chitectur in einer französischen und für die mit-
telalterliche in einer ungarischen Schrift aus-
einandergesetzt hat. Es- betrifft dies die Ver*
hältnissbestimmung für die architektonischen For-
»
188 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 6.
men. Es ist ein vollkommen richtiger Gedanke,
dass die Formenschönheit auf Proportionen be-
ruhe, welche sich durch Zahlen ausdrücken las-
sen, und die Versuche, welche man verschiedent-
lich gemacht bat, ein Gesetz und einen einfa-
chen Ausdruck für die als sehön und anwendbar
anzuerkennenden Proportionen aufzufinden, wer-
den immer einen Anspruch auf Beachtung be-
halten. Der Verf. hat aber von einer solchen
Theorie eine Vorstellung, der Ref. auf das ent-
schiedenste entgegentreten muss. Er sagt dar-
über S. 79: »Es ist diese Theorie ein Erbtheil,
welches die antike Welt von den alten Aegyptern
überkommen und einerseits durch die Byzantiner,
anderseits durch die altchristlichen Bauten den
Meistern des Mittelalters überliefert hat, jedoch
nicht in ihrer ursprünglichen Reinheit und Folge-
richtigkeit, sondern mit einer Modification, wel-
che, so gering sie auch erscheint, doch eine
scharfe Scheidegrenze zwischen beiderlei An-
wendungen zieht«. Diese Meinung von der Ver-
erbung einer Theorie, die von den Aegyptern
oder irgend einem andern Volke erfunden und
überliefert sei, ist jedoch ein Traum. Wenn ir-
gend eine solche Theorie Wahrheit enthält, so
beruht sie in der Natur des menschlichen Gei-
stes und muss in den Kunstwerken aller Volke*
ihre Bestätigung finden. Nur in der Anwendung
derselben können Eigenthümlichkeiten Vorkom-
men, die durch eine gewisse Tradition und Schu-
lung von einer Nation zur andern verpflanzt
werden. Wenn aber vollends der Verf. meint,
dass die Baumeister mit Bewusstsein nach seine*
Theorie gearbeitet hätten, so beruht das auf
einem gänzlichen Verkennen der Art und Weise
des künstlerischen Schaffens. Auch der Musiker
componirt nicht nach dem Generalbass, obgleich
Henszlmann, D. Grabungen d. Erzbischof etc. 189
ihm dieser als ein Hülfsmittel dienen kann, seinq
Ideen in der Ausführung zu berichtigen. Er ist
ihm gleichsam die Grammatik, die doch niemand
als das Mittel ansehen wird, um einem Gedichte
oder einer Bede ihre künstlerische Form zu geT
ben. Ref. hat schon in seinem Buche, »die bil-
dende Kunst« g. 244 u. 275 vor dieser verkehr-
ten Auffassung der Proportionslehre gewarnt.
Eben dort hat er sich auch gegen .solche Künste*
leien erklärt, wie die, welche die Theorie des
Verf. enthält. Derselbe geht nämlich von einer
einzigen Proportion aus, welche er als die Grund-
lage aller anwendbaren Proportionen betrachtet,
ein ähnlicher Fehler, wie der, in welchen auch
Zeising mit seiner Lehre von dem sog. goldnen
Schnitt verfallen ist. Jene Proportion ist aber
die der Kathete eines Quadrats zur Hypothenuse,
eine Proportion, die einmal Vitruv in einem ein-
zelnen Falle für das Verhältnis der Länge und
Breite eines Zimmers empfiehlt. Stieglitz hatte
ein rechtwinklichtes Dreieck gebildet, dessen
beide Katheten in diesem Verhältnis stehen, und
dessen drei Seiten also das Verhältnis von
1 : j/~2 : J/"3 haben, was Henszlmann gleicht setzt
dem Verhältnis 1 ; 1,41421 : 1,73205, und in die-
sen Verhäl tniszahlen glaubte jener die Grundlage
für den Aufbau der gotbischen Kirchen zu finden.
An dieses Würfeldreieck — so genannt, weil die
dritte Seite die Hypothenuse des Würfels ist —
knüpft der Verf. eine weitere Construction, wel-
che ihm eine ins unendliche fortzusetzende Reihe
von Verhältnisszahlen liefert, die er an antiken
und mittelalterlichen Bauten innegehalten zu
sehen glaubt. Doch soll das Mittelalter von einer
Construction ausgegangen sein, die von der dar
antiken Architectur in einem Punkte abweicht.
Das Einzelne lässt sich hier nicht weiter in der
190 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 6.
Kürze darstellen. Die Zahlen, welche seine Rei-
hen bilden, liegen aber so nahe bei einander,
dass es in der That leicht ist, von jedem mög-
lichen Verhältnisse zu behaupten, dass es an-
nähernd mit irgend einer Zahl seiner Reihe zu-
sammentreffe.
Ref. hat in der vorhin erwähnten Schrift da-
gegen geglaubt, das Gesetz der musikalischen
Harmonie zu einem Gesetze aller künstlerischen
Harmonie erheben zu müssen, indem er jedes
Verhältniss für harmonisch erklärte, welches sich
durch kleine Zahlen ausdrücken lässt, jedes andre
dagegen für unharmonisch oder dissonirend. Da-
bei hat er aber auch nicht ausser Acht gelassen,
dass dissonirende Verhältnisse daneben als be-
lebende Contraste, Uebergänge u. dgl. m. Vor-
kommen können, und dass es Umstände giebt,
welche den Künstler veranlassen können, auf ir-
gend etwas anderes grösseres Gewicht zu legen,
als auf die Harmonie der Form. Mit dieser
Grundlage wird man jedenfalls leichter operiren
und ohne Zweifel weiter kommen als mit Henszl-
manns Reihen, die meist Zahlen mit mindestens
4 Decimal stellen enthalten. In einzelnen Anwen-
dungen kommt er aber auch selbst schon auf die
musikalischen Verhältnisse. Er findet z. B. am
Parthenon, dass »das Verhältniss der Haupt-
höhen im Sinne des einfachen grossen Accordes
bestimmt wurde« ; indem sich nämlich die Breite
des Säulenstandes zur Länge desselben verhalte,
wie die Einheit zur Doppelquinte, nämlich genau
wie 4 : 9, und die ganze Höhe des Gebäudes zur
Breite des Säulenstandes annähernd, wie die Ein-
heit zur Doppelterz, nämlich wie 5 : 8. Daraus
sei »ersichtlich, dass das Verhältniss der Haupt-
maasse des Parthenon im Sinne des doppelten
grossen Accordes bestimmt wurde«. Ueberdies
Spach, Moderne Gnlturzustände im Eisass. 191
findet der Verf. selbst das Ergebniss seiner
Construction aus dem Würfeldreieck nicht ge-
nügend, sondern sieht sich genöthigt, dasselbe
dnrch Halbirung und Verdoppelung einzelner Po-
sitionen zu ergänzen. F. W. Unger.
Moderne Culturzustände im Eisass von Lud-
wig Spach. Strassburg. Verlag von Karl J.
Trübner 1873. 2 Bände.
Ein trefflicher Elsässer, Hr. L. Spach, früher
Archivar in Strassburg (>Archiviste du Bas-
Rhin«), ein gründlicher Kenner seiner Heimath
und deren Geschichte, die er schon in mehreren
andern soliden Werken4') behandelt hat, giebt
in dem vorliegenden Buche eine Uebersicht der
Culturgeschichte unseres alten Reicbslandes wäh-
rend der letzten siebenzig Jahre. Dasselbe be-
steht aus einer Reihe von lose an einander ge-
fügten »Essays«, von denen jeder einen besonderen
cnlturgeschichtlichen Gegenstand behandelt und
durchführt. '
Einige dieser Skizzen beschäftigen sich mit
umfangreichen Themas: mit den modernen alsa-
tischen Historikern, mit der Geschichte der fran-
zösischen und der deutschen Dichter im Eisass,
mit den katholischen Zuständen, und mit der
protestantischen Kirche im Eisasse während der
ersten Hällte dieses Jahrhunderts.
Andere behandeln speciellere Dinge: dieAca-
demie von Strassburg, einzelne wissenschaftliche
Gesellschaften, die naturwissenschaftliche Gesell-
schaft von Strassburg, die Ackerbaugesellschaft
des Niederrheins, die literarische Gesellschaft von
Strassburg, die »bisherige Akademie von Strass-
burg«.
*) z. B. „Histoire de la Basse-Alsace“ und „Intro-
duction historique ä la description du departement du
Bas-Rhin“.
J02 Gott. gel. Anz. 1874. JStiick 6.
Noch andere endlich sind sogar nur^erKri*
tik einzelner Bücher oder Personen gewidmet,
z. B. dem Statistiker Schnitzler, dem elsässischen
Philosophen Alfred Weber, dem Buche von Franz
von Löher »aus Natur und Geschichte von Eisass-
Lothringen«, oder dem Werke von Charles Ge-
rand »über die Fauna des Elsasses«, oder dem
Aufenthalte Goethe’s in Strassburg.
Da der jetzt in hohem Alter stehende Verfas-
ser, den man »den Veteran der deutsch-elsässi-
schen Schriftsteller« genannt hat, fast die ganze
von ihm geschilderte Periode der elsässischen
Geschichte mit erlebt hat, da er bei den auf-
tretenden Erscheinungen vielfach als Augenzeuge
redet, die von ihm characterisirten Männer sel-
ber kannte und an den wissenschaftlichen Ver-
einen persönlichen Antheil nahm, zum Theil ih-
nen präsidirte und ihre Unternehmungen leitete,
so kann man« der Entwickelung seiner Ansichten
wohl ein ganz besonderes Gewicht beilegen.
Uebrigens giebt er uns mehr Fakta und Data,
als Ansichten und Meinungen über die elsässi-
schen Lebensfragen. Er zeigt, was dort bisher
auf den verschiedenen Feldern des Strebens ge-
schah, damit man ersehe, auf welchem Grunde
und in welcher Weise in der jetzt eingetretenen
Uebergangsperiode weiter gebaut werden solle.
Der Verf. befleissigt sich einer gerechten Unpartei-
lichkeit in Bezug auf beide beim intellectuellen Leben
des Elsasses betheiligte Nationalitäten. Er ist uns Deut-
' sehen zqgeneigt, aber auch den Franzosen nicht abhold
und erkennt das Gute auf beiden Seiten willig an. Er
will ausgleichend und versöhnend wirken. Auch ist
Beine Sprache eine einfache, schlichte und würdevolle.
Seine Schrift wird jedem Deutschen eine angenehme und
interessante Lektüre sein und die, welche im Elsasse
reisen oder sich daselbst etabliren und orientiren wollen»
werden dieselbe gar nicht entbehren können.
Bremen. J. G. Kohl«
193
Gffttingisclte
gelehrte Anzeigen
/
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Btlick 7. 18. Februar 1874.
La Cour litteraire de Don Juan II roi de
Castille, par le C*0 de Puymaigre. Paris 1873.
Zwei Bände. '234 und 223 Seiten Octav.
Der Verf. der vorliegenden Arbeit ist, abge-
sehen von andern sehr schätzbaren Publicatio-
nen, besonders auf dem Felde der spanischen
Literatur durch seine Vieux Auteurs Castilians
(Paris 1862) und die zusammen mit dem Gra-
fen von Circourt unternommene Uebersetzung
von Gutierre Diaz de Gamez5 Victorial (s. GGA.
1867 S. 2021 ff.) auf das vorteilhafteste be-
kannt, so wie er auch durch mehrfache in ver-
schiedenen Zeitschriften erschienene und hier
theil weise eingefügte Einzelabhandlungen seine
Forschungen in genannter Richtung bethätigt
hat. Das neu erschienene Werk soll eben eine
Fortsetzung jenes erstangeführten bilden, ist
aber in seiner Darstellung der übergrossen Fülle
des Stoffes wegen gedrungener und nur die be-
deutendsten Schriftsteller der betreffenden Pe-
riode sind eingehender behandelt, obwol stets
so weit wie möglich der Inhalt der literarischen
13
IW Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 7.
Erzeugnisse mitgetbeilt und durch Proben in
Original und Ueberse&ung veranschaulicht ist.
Der Verf. hofft so seine Arbeit selbst ' für ein
grösseres Publicum anziehend gemacht zu haben,
wenngleich dieselbe unläugbar auch Fachmännern
nicht minder willkommen sein dürfte, um so
mehr, als sie aus früherer Erfahrung wissen,
dass der gelehrte Graf stets nach den Quellen
arbeitet, und daher seiner jetzigen dahin bezüg-
lichen Versicherung leicht Glauben schenken
werden. Was die Anlage und den Gang des
möglichst chronologisch geordneten Werkes be-
trifft , so werden sie aus der hier folgenden
kurzgefassten Uebersicht erhellen, die auch des-
halb nicht unwillkommen sein wird, weil der
^Verf. unterlassen hat demselben ein Inhalts*
verzeichniss beizufügen.
Er beginnt mit einem Rückblick auf die äl-
testen Erzeugnisse der castilischen Literatur bis
aiif Juan II. und giebt dann von dessen Regie-
rung (1418 — 1454) folgende lebendige Schilde-
rung. »Es war dies eine absonderliche Regie-
rung voller Kriege, Feste, Empörungen, Tur-
niere, die aber zugleich eine wahrhafte Renaissance-
epocbe bildete, wo das gleichzeitige Bekannt-
werden mit den Werken der Alten, der Nord-
und Südiranzosen, sowie der Italiener eine Art
Rausch erzeugte, der sich der ganzen Nation be-
mächtigte. Alle Welt machte Verse; Bischöfe,
hochgeborene Herren, Ritter, Kaufleute, Hand-
werker und wer nicht? Wen hierbei der Er-
folg begünstigte, der trat den höchsten Classen
näher, und Prinzen von Geblüt entzogen sich
nicht t den literarischen Berührungen mit Juan
dem Kummetmacher, Juan dem Possenreisser
und Älontoro dem getauften Juden und Trödler.;
es herrschte eine wahrhalte poetische Epidemie.
de Puymäigre, La Coer litt 6raire de D. Juan II. 196
Siebt man diese zahllosen Lieder, diese friedli^
oben Dichterkämpfe, diese kleinen Liebesgedichte,
diese mit grösster Gednld zurechtgefeiiten Tän-
deleien, sieht man wie ein ganzes Volk an der-
gleichen Geistesspielen Theil nimmt, so sollte
man glauben, dass Spanien damals eine lang-
andauernde glückliche Mussezeit, eine Aera des
tiefsten Friedens und gedeihlichsten Wohlergehens
genoss. Wie sehr aber würde man sich täu-
schen I Denn you der Wiege bis zum Grabe
lebte Juan II. mitten unter stets sich erneuern-
den Aufständen und Empörungen, und wenn
wirklich der innere Krieg einen Augenblick nach«
Hess, so wurde alsbald der Kampf gegen die
Maaren aufgenommen, der nur neuen Aufstän-
den Platz machte. Und während dieser unheil-
vollen, länger als dreissig Jahre sich hinziehen-
den Periode fand gleichwohl der unruhige hän-
delsüchtige Adel die Zeit, um Verslein aller
Art zu dichten und bei Turnieren seine Cour«
tornie zu zeigen I« Demnächst spricht der Verf.
von der durch die Ritterbücher bewirkten Um-
gestaltung in den Sitten des spanischen Adels
und in der Stellung der Frauen, so wie von dem
Einfluss der galicischen, provenzalischen, nord-
französischen und italienischen Dichtung nebst
dem der klassischen Literatur auf die castili-
sche. Bei dieser Gelegenheit geht er auch
näher auf den Oancionero de Baena ein, der
einen so tiefen Einblick nicht nur in die Poesie,
sondern auch in das Leben des damaligen Spa1
niens gewährt, und spricht auch von den ältern
darin enthaltenen Poesien, namentlich hält et
sich länger bei Macias el Enamorado auf, ob-
woL derselbe mehr durch seinen Tod als durch
seine Gedichte berühmt ist, und stellt alles zu-
sammen, was man über ihn weiss, so wie er
13*
196 Gott. gel. Anfc. 1874. Stock 7.
auch die Uebersetzung einiger der letztem mit-
theilt. Eine ausführlichere Darstellung wird
auch dem Freunde, Landsmann und grössten
Bewunderer des Macias zuTheil, dem Juan iZo-
driguez de la Camara , gebürtig aus Padron in
Galicien, deshalb auch gewöhnlich del Padron
beigenannt, der ausser verschiedenen mehr oder
minder grossen Dichtungen auch zwei Werke in
Prosa verfasste, nämlich El siervo libre de Amor
(auch unter dem Titel Ardanlier y Liessa be-
kannt) und den Triunfo de las mugeres , in wel-
chen beiden wie bei vielen andern Productionen
seiner und der spätem Zeit die Allegorie eine
Hauptrolle spielt. Wir können unter den vom
Verf. besprochenen Dichtern und Prosaisten aus
der Zeit Juan’s II. natürlich nur die wichtig-
sten namhaft machen; so Puy Paez , der mit
ergreifender Wahrheit die Leiden der Armuth
schildert; Ferran Sanchez de Calavera , einer
der ausgezeichnetsten Dichter seiner Zeit, der
mit vielen religiösen Zweifeln zu kämpfen hatte ;
Alfonso Älvares de Villasandino , ein sehr ge-
schickter sprachgewandter und fruchtbarer Poet,
dessen Feder jedoch jedermann gegen Lohn zur
Verfügung stand, und deren sich vielleicht auch
Pero Niüo Graf von Buelna zum Behuf verschie-
*
dener Liebesgedichte bediente, jener Graf näm-
lich, der seine Berühmtheit hauptsächlich der
Chronik verdankt, die sein treuer Diener und
Fahnenträger, Gutierre Diaz de Gamez, überdas
Leben und die Thaten seines Herrn schrieb
und welche er Victorial nannte, wie’ bereits
oben angeführt. Wir kommen nun zu dem be-
rühmten Connetable von Castilien unter Juan II.,
berühmt durch seine hohe Stellung, mit der er
staatliche Allgewalt verband, durch sein un-
ruhiges wechselvolles Leben, das er auf dem
de Pnymaigre, La Cour litteraire de D. Juan II. 197
Scbaffot beschloss, und endlich auch durch die
trefilich geschriebene anonyme Chronik, deren
Gegenstand er bildet, weniger dagegen durch
die Erzeugnisse seiner eigenen Feder; denn er
verfasste einige Liebeslieder und ein Werk in
Prosa »De las claras y virtuosos mageres«,
wozu ihn wahrscheinlich Boccaccio's De Claris
muiieribus veranlasste, obwohl er dabei einen
andern Gang befolgte. Gleiches lässt sich in
Bezug auf Boccaccio’s Gorbaccio sagen, der ge-
gen die Frauen gerichtet war, zugleich aber
einen moralischen * Zweck haben sollte und in
beiden Beziehungen dem Martinez de Toledo
bei seinem gleichbetitelten Buche El Corbacho
(welches Wort aber im Span, eine andere Be-
deutung hat) vielleicht vor den Augen schwebte,
wenngleich der spanische Schriftsteller seinen
Zweck auf ganz verschiedene Weise zu erreichen
suchte. Hierauf bespricht der Verf. den Genton
Epistolario , der von einigen dem Leibarzt
Juan’s II., Feman Gomez de Cibdareal , zuge-
schrieben, von Andern aber für untergeschoben
erklärt wird, welcher letztem Ansicht sich auch
Pnymaigre anscbliesst, wobei er bemerkt: »Je
n*y retrouve pas du tont l’esprit de l’epoque.
Gontre les habitudes du temps, il n’y a nulle
pedanterie dans le Centon , je ne me rappelle
pas y avoir vu invoquer Seneque, Boece, Cice-
ron; c’est ä peine, si les livres saints 'y sont
nommes; pas de dissertations subtiles, pas de
citations erudites, rien enfin de ce qui se trou-
vait cbez les ecrivains du XV® siede et qui, il
le 8emble, aurait du surtout remplir des pages
ecrites par un savant medecint Cibdareal ne
me parait pas avoir pense comme on le faisait
ä Pepoque oü Pon place son existence etc «.
Ist dies richtig, so müsste, wie mir scheint, die
£98 Gott. gel. Anz. 1874. Stftek 7.
Abfassung dieser apokryphen Briefe bis splt ins
XVII. Jahrh. hinabgerückt werden; denn noch
an Cervantes9 Zeit stimmte die in der Literatur,
wenigstens der prosaischen, herrschende Manier
ganz genau mit der so eben geschilderten über*
ein, wie man aus der Vorrede zum Don Quijote
ersieht. — Wir gelangen nun zu einem der er-
lauchtesten Schriftsteller dieser Periode, der
von väterlicher Seite dem aragonischen, von
mütterlicher dem castilischen Königshause ent-
stammte, nämlich Don Enrique de ViUena (ge-
wöhnlich, obwohl mit Unrecht; Mevrqme de Vil-
len a genannt), »welcher in der politischen Welt
eine grosse Rolle zu spielen bestimmt schien;
allein er glich nicht dem gleich zu erwähnen-
den Marquez de Santillana, und erwies sich nur
als ein Mann des Denkens, nicht des Handelns,
so dass in ihm der Gelehrte den hochgeborenen
Herrn vollständig verschwinden liess und sein
Leben lediglich den Studien geweiht bliebe.
Kein Wunder also, wenn er gleich so vielen an-
dern Gelehrten der frühem Jahrhunderte in der
Meinung seiner Zeitgenossen sich mit den Ge-
heimwissenschaften beschäftigt haben sollte und
für einen Zauberer gehalten wurde, weshalb
auch König Juan n. nach dem Tode Enrique’s
die Bibliothek desselben nind seine Schriften ver-
brennen liess, so dass nur der kleinste Theil
der letztem auf uns gekommen ist. Jedoch
sind unter diesen nur die Uebersetzungen aus-
zuzeichnen, da sie zur Ausbildung der castiliani-
schen Sprache ein Bedeutendes beitrngen; er
übersetzte nämlich die Aeneide, einige Werke
Cicero’s, Dante’s Divina Commedia und noch
Anderes. Von seinen eigenen Arbeiten ist bloss
das Prosawerk* Las Fasanas de Hercules von
einigem Wer the. Ein anderer erlauchter Schrift*
i
de Paymaigre, LaConrlfttärairedeD.JnanlL 198
steiler ist Fernem Perea de Gtumann, dessen
frühere Dichtungen der provenzaliaohea Schate
angehören, während die spätem aui philosophi-
sche Tendenzen hraweieen, indem er auch die
Briefe des Seneca übersetzte und aas der ahea
Philosophie eine Blumenlese unter dem Titel
Flores de los philosophos znsammenstellte. Um
sich über den Sitten verfall seiner Zeit za trö-
sten, schrieb er >Los daros Varones en Espe&a*
in 409 Octaven, unter denen sich eine grosse
Zahl ganz vortrefflicher befinden, sowie er denn
überhaupt als Dichter in der spanischen. Lite»
ratur eine angesehene Stelle einnimmt, eine
noch angesehenere jedoch als Geschichtschreiber*
Zwar ist er nicht der Verfasser der ihm bisher
zugesebriebenen »Chronik Don Joans II.«, wohl
aber des Mar de histories und der noob viel
vortrefflicheren Fortsetzung desselben, nämlich
der Generadones y Semblamas, »welche sich
nicht mehr, wie das erstere, auf alte leichte
gläubige Chronikenschreiber stützt, sondern sieh
auf seine Zeitgenossen bezieht, auf Männer, die
er gesehen, gekannt, geliebt, gehasst hat und
die er so zeigt, wie sie leibten und lebten* Er
bietet keine eigentlichen Biographien, keine zu-?
sammenhängenden Lebensbeschreibungen der be*
rühmte8ten Männer seiner Zeit, sondern schil-
dert ihr Aeusseres und ihre Charaktere, nicht
aber ihre Handlungen; er zeichnet ihre Bilder
und zeichnet sie vortrefflich«. Beispiele aus
dem in Bede stehenden Werke, die der VerL,
wie überall, so auch hier zur Bestätigung sei*
ner Ansichten giebt, zeigen das Treffende sei*
nes eben mitgetheilten Ausspruchs. In den
letzten. Seiten des ersten Bandes beschäftigt
sieh Graf Puymaigre mit dem Erzbischof von
Borgos Dom Alfonse de Santa Maria, dem Sohne
200 . Gott. gel. Abz. 1874. Stück 7.
des Don Pablo, den diesem seine Frau gebar,
ehe er in den geistlichen Stand trat, in welchem
er, der früher der jüdischen Religion angehört,
gleichfalls bis zum Bischof von Burgos empor-
gestiegen war. Don Alfonso war der Freund
des Fernan Perez de Guzman und ein tüchtiger
Gelehrter; er verfasste ausser andern Schriften
auch einige moralphilosophische und theologische
Abhandlungen, aber auch, in Folge der tyranni-
schen Mode seiner Zeit, Liebesgedichte, frei-
lich höchst platonische, bei denen ihm Petrarca
als Muster vörschwebte.
Der zweite Band beginnt mit einer eingehen-
deren Schilderung der wissenschaftlichen und
poetischen Wirksamkeit jenes Don Inigo Lopes
de Mendoza, Marques de Santälana , welcher in
der spanischen Literaturgeschichte der in Rede
stehenden Periode eine sehr hervorragende Stelle
einnahm, trotzdem er zugleich ein sehr beweg-
tes- politisches Leben voller Kämpfe, bald für,
bald wider seinen König führte. Er war ein
grosser Bewunderer des Alterthums und liess,
da er selbst sich nicht des Lateinischen hin-
länglich mächtig fühlte, mehrere Werke der
Glassiker, wie die Aeneide, Ovid’s Metamor-
phosen und verschiedene Schriften Seneca’s
übersetzen, erfuhr aber auch zugleich den Ein-
fluss der nord-und südfranzösischen so wie der
italienischen Dichter, namentlich Dante’s und
Petrarca’s, und all’ diese verschiedenen Einwir-
kungen lassen sich in seinen zahlreichen poeti-
schen und prosaischen Werken deutlich erken-
nen. Aber auch nur die wichtigsten derselben
hier anzuführen und zu charakterisiren gestat-
tet der Raum nicht, und müssen wir deshalb
auf die eingehende Darstellung Puymaigre’s ver-
weisen , ebenso wie in Betreff Juan de Mena's,
de Puymaigre, La Cour iitteraire de D. Juan II. 201
welcher der gelehrteste seiner Zeitgenossen war
und durch das Studium der klassischen Dichter
auch der spanischen Poesie einen höhern Schwung
verleihen wollte (er verfasste nach einer lat.
Uebersetzung Homer’s einen Omero romanzado),
obwohl er allerdings , auch wie Santillana und
die meisten seiner Zeitgenossen sich der Ein«
Wirkung der Provenzalen so wie Dante's nicht
entziehen konnte und in seiner bedeutendsten
Dichtung, dem Ldbemito , worin er, in der
Weise seiner Zeit allegorisirend, die Unbestän-
digkeit Fortuna’s zu schildern unternahm, eben-
sowohl letztem wie Lucan (gleich ihm selbst
aus Corduba gebürtig) zum Vorbild genommen
hat. Er war neben Santillana die wichtigste
Erscheinung seiner Zeit auf literarischem Ge-
biet, daher auch genau befreundet mit ihm ; der
Infant von Portugal, Don Pedro, sandte ihm eine
von ihm im Stil des Laberinto verfasste grössere
Dichtung und sogar König Juan erwies ihm die
Ehre mit ihm zusammen den Frieden von Ma-
drigal (1446) in einem Gedichte zu feiern, worin
auf jede Stanze Mena’s eine andere des Königs
mit denselben Reimen wie die vorhergehende
folgt. Da Mena in Spanien sich als den eigent-
lichen Vorläufer, der Renaissance und als Grün-
der einer neuen Dichterschule erweist, wobei er
bei nicht gewöhnlicher Gelehrsamkeit eine eben-
solche poetische Unabhängigkeit an den Tag
legt, so hat Graf Puymaigre ihm eine sorgfäl-
tige Untersuchung gewidmet, wie sie ihm bisher
noch nicht zuTheil geworden ist. Der folgende
Abschnitt handelt eigentlich von keinem litera-
rischen Gegenstände, indem er sich mit dem
berühmten Waffengang ( paeo , franz. pas d armes)
beschäftigt, welchen Don Suero de Quinones im
J. 1434 mit seinen Gefährten bei der Brücke
202 Gött. gel. Am. 1874. Stflck 7.
von Qrbigo (auf dem Wege von Astorga nach Leon)
gegen jeden eich meldenden oder sonst vorüber*
ziehenden Bitter hielt und wobei in wenigen
Wochen in 727 Rennen gegen 68 Gegner 160
Lanzen gebrochen wurden. Da dieses Ereigniss
jedoch im Aufträge Don Suero’s von dem Schrei«
ber des Königs Juan und Notarius publicus an
dessen Hof, Rodriguez de Lena, in dem Paso
honroso ausführlich beschrieben worden ist und
im Verein mit den dabei gelegentlich angefiihr-
ten Nebenum8tänden einen wichtigen Beitrag
zur Sittengeschichte jener Zeit gewährt, auch
mehrere der dort tumiereuden Ritter so wie
Don Suero selbst als Dichter bekannt sind, so
hat Graf Puymaigre diesem Ereigniss eine sehr
anziehende Schilderung gewidmet, einem Ereig^
niss, welches auch Cervantes im Don Quijote
erwähnt (P. I c. 149: »digan que fueron barks
las justas de Suero de Quiftoues del pasoU).
Die bei Gelegenheit des eben besprochenen Waf-
fenganges erwähnten Sinnsprüche der dabei
kämpfenden Ritter geben dem Verf. Veranlag*
sung auch noch einige andere der Art so wie
überhaupt verschiedene kleinere Gedichte, wie
Motes, Villancicos u. s. w. aus dem Cancianera
general anzufübreu und diese Gattungen zu be-
sprechen; denn diese flüchtigen Poesien de arte
menor bilden eigentlich die am meisten charak-
teristische Schöpfung aus der Periode Juan’s IL,
und obwol sie ursprünglich von den galicischen,
nord- und südfranzösischen so wie den italieni-
schen Dichtern hergeleitet sein mögen, so ha-
ben sie doch diesen fremden Originalen eine
neue und wahrhaft nationale Gestalt verlieben
und ihren Einfluss sogar noch nach der Zeit des
Garcilaso de Vega und über die spanischen
Grenzen hinaus geltend gemacht, ja selbst ihn
de Pnymaigre, La Cour litteraire de D. Joan II. 203
vielleicht jetzt noch nicht ganz verloren. Dem»
nächst und zuletzt spricht Pnymaigre von jenen
Volksdichtern aus den untersten Ständen, die
wir bereits erwähnt, wie Juan der Possenreisser,
Montoro der Trödler, Martin der Marktschreier
b. s. w., charakterisirt ihre Productionen und
zeigt, in welch’ naher Verbindung dieselben mit
den Dichtern aus den erlauchtesten Häusern
standen, so dass Montoro gegenüber dem Gra-
fen von Cabra, dem Don Buy Diaz de Mendoza,
dem Don Alvaro de Velasco frei von der Leber
weg spricht und sie auf dem Gebiet der litera-
rischen Republik ganz wje seines Gleichen be-
trachtet. Juan der Possenreisser, der Sohn eines
Scharfrichters, wechselte Epigramme mit den
vornehmsten Edelleuten, und Don Juan Alvarez,
den man wegen seiner poetischen Beziehungen
zu Leuten so niedern Schlages durchhechelte,
antwortete mit einigen Versen, in deren Prosa-
einleitung er erklärt, man müsse die Menschen
nach ihrem Verdienst beurtheilen, nicht nach
ihrem Range; ein Ansspruch, den man von
einem stolzen spanischen Edelmann und zumal
zu jener Zeit kaum erwartet haben sollte! An-
deres übergehend, kommen wir nun zu den
Schlnssbemerkungen des Verfassers, welcher mit
Rücksicht auf die als Dichter oft unbedeuten-
den Schriftsteller, die er besprochen, einen Ge-
danken des Marquez von Pidal wiederholt, wo-
nach man bei der Beschäftigung mit der Lit*»
ratur des Mittelalters mehr Befriedigung von
dem erwarten muss, was sie in sittengeschicht-
licher und physiologischer Beziehung bietet, als
von den poetischen Schönheiten , denen man
darin begegnet. Aber auch in letzterer Hin-
sicht wird der Forscher bei dem spanischen
Schriftthum des XV. Jahrh. nicht leer au*.
204 Gott, gel A nz. 1874. Stück 7.
gehen ; es steht, vielleicht höher als das gleich-
zeitige in Italien, geht aber ganz gewiss dem
französischen um ein Jahrhundert voraus. Je-
doch war es freilich erst eine Zeit des Rin-
gens und der Vorbereitung, in welcher Mittel-
alter und Renaissance ohne Uebergang nahe
nebeneinander standen : auch unter Enrique und
Isabella zeigte sich nur die Fortsetzung dessen,
was man unter Juan II. gesehen, und erst im
XVI. Jahrh. trat das goldene Zeitalter der spa-
nischen Literatur ein, welches die allbekannten
grossen Geister hervorbrachte.
Das im Vorhergehenden nur kurz Zusammen-
gefasste wird den materiellen Inhalt der For-
schungen Puymaigre’s annähernd erkennen las-
sen, während allerdings die fliessende und fes-
selnde Darstellung nicht wiedergegeben werden
konnte, die von der in Rede stehenden Litera-
turperiode um so mehr ein lebendiges, anschau-
liches Bild gewährt, als dasselbe, wie bereits
angeführt, trotz dem knappen Rahmen möglichst
viele der betreffenden Züge in Original und
Uebersetznng enthält, welche letztere GrafPuy-
maigre sich 'eifrig bestrebt hat mit grösster
Treue in Worten und Versmassen, so weit dies
irgend erreichbar war, wiederzugeben, weil dies
bei lyrischen Dichtungen unerlässlich schien,
und man wird bei der sehr bequem gemachten
Vergleichung leicht wahrnehmen, dass er den
Zweck, die Schönheit oder die Eigenthümlich-
keit der Originale nachempfinden zu lassen, fast
stets erreicht hat.
Noch muss ich bemerken, dass der Verf. sich
nicht, wie fast alle andern französischen Gelehr-
ten, für zu geistreich gehalten hat, jedem der
beiden Bände seines Werkes ein sehr sorgfälti-
ges Wort- und Sachregister beizugeben und so
Whitney, Oriental and Linguistic Studies. 205
den Werth und handlichen Gebrauch desselben
bedeutend zu erhöhen und zu erleichtern.
Lüttich. Felix Liebrecht.
W. D. Whitney: Oriental and Linguistic
Studies. New-York 1873. (8°, VII, 416 S.).
Als ich im yorigen Jahrgang dieser Blätter
(G. G. A. vom 12. März 1873) auf »Ayuso’s
Estudio de la filologia en su relacion con el
Sanskrit«, das interessante Erstlingswerk der
spanischen Sprachwissenschaft, hinwies, machte
ich zugleich auf das rasche Emporblühen dieser
Disciplin in Nordamerika aufmerksam. Als Be-
leg hiefür führte ich die trefflichen, in Deutsch-
land bis jetzt zu wenig gekannten »Lectures on
Language and the Study of Language« von Pro-
fessor Whitney in Newhaven an, der wohl ohne
Frage der bedeutendste amerikanische Vertreter
der Sanskrit- und linguistischen Studien ist.
Zwar fehlt es ihm auch in seinem Vaterlande
nicht an einer Reihe tüchtiger Mitforscher, wie
deutlich erhellt, wenn man die Proceedings der
American Philological Association und diejeni- .
gen der American^ Oriental Society vom letzten
Jahre mustert. Bei den ersteren fällt schon in
quantitativer Beziehung auf, ein wie ansehnli-
cher Theil von den Vorträgen dieser »philolo-
gischen« Gesellschaft auf die linguistische Sparte
entfällt; unter denen der letzteren erwähne ich
folgende: »on the so-called Vowel-Increment,
with special reference to the views of Mr. J.
Peile«, by Prof. W. D. Whitney, of New Haven
(gegen die von dem englischen Sprachforscher
206 Gatt. geL Adz. 1874. Stück 7.
vertheidigte Schleicher’scbe Annahme einer or*
ganiscben, doppelten Vocalsteigerung im Indo*
germanischen gerichtet); Statistics of Sanskrit
Verbal Forms in the Mala and Bhagavad-Gitä«,
by Prof. John Avery, of Grinnell, Jowa; »On
the Vedic Style«, by Dr. Easton of Hartford ;
»On the Assyrian Inscription at Andover«, by
Bev. Selah Merrill; »on the Han-lin Yuan, or
Chinese Imperial Academy«, by Martin, D. D.
of Peking; »On the work of the American Pa-
lestine Exploration Society« by Bev. Ward of
New-York; »On some of the relations of Isla-
mi8m to Christianity«, by Prof. Salisbury of
New Haven. Der letzte Vortrag ist wieder von
Whitney, er führt den Titel »On Johannes
Schmidt’s new Theory of the Belationship of
Indo-European Languages« undx dürfte, da
Schmidt's bekanntlich zuerst in derindogerman.
Section der Leipziger Philologenversammlung
von 1872 mitgetheilte geographische Theorie
einiges Aufsehen gemacht hat, das Interesse der
deutschen Sprachforscher in besonderem Masse
> erregen. Jetzt ist diese die Ausbreitung der
indogermanischen Sprachen analog den concen*
trischen Wasserringen um einen Mittelpunkt der
Bewegung herum erklärende Hypothese, diese
, »Auflösung des Schleicher 'sehen Stammbaums in
Wellen« in Deutschland wohl allgemein als auf-
gegeben zu betrachten ; es genügt in dieser Be-
ziehung auf Fick'8 »Spracheinheit«, auf die bez.
Aeusserungen von G. Curtius in der eben er-
schienenen zweiten Auflage seiner Chronologie
und auf die im vorigen Jahrgang der »Gott.
Gel. Anz.« enthaltene Kritik des Schmidt'schen
Schriftchens von L. Meyer zu verweisen (vgl.
auch meinen Aufsatz über den Stammbaum der
indogermanischen Sprachen in der Zeitschr. f.
Whitney, Oriental tafrd linguistic Studies. 307
Völkerpsych. und Sprachw. VIII, 1B ff.). Auch
ein hervorragender französischer Linguist, Havet,
batte sich schon in der Revue critique vom 22.
November 1872 dagegen erklärt, nun sehen wir
auch Whitney in dieses Verwerfungsurtbeil sehr
entschieden einstimmen. Nachdem er vermit-
telst einer graphischen Darstellung gezeigt hat,
dass »the family arrangement of languages a
necessary result of the like derivation of com-
munities« ist, bemerkt er, dass specielle Ueber-
einstimmnngen, wie sie zuweilen zwischen zwei
verwandten Sprachen stattfinden, sich stets ent-
weder aus reinem Zufall oder aber aus Ent-
lehnung erklären Hessen. Tertium non datar,
nur gewisse seltene Fälle ausgenommen, in de-
nen eine schon in der Grundsprache im Keime
vorhandene Entwicklung von zwei oder mehre-
ren unter sich nicht näher verwandten Einzel-
sprachen zur volleren Entfaltung kommt, wäh-
rend sie in den übrigen Schwestersprachen
spurlos verschwindet. Dagegen hätten die geo-
graphischen V erhäitni886 d er Sprachen * mit - ih-
ren linguistischen nicht das allergeringste zu
thun, ausser insofern sie den Eintritt von Ent-
lehnungen beförderten. Die Annahme, dass
die Idiome zweier verschiedensprachiger und
gar nicht oder nur gelegentlich mit einander
verkehrender Völker sich einander annähern
werden, sobald sie in räumliche Berührung mit
einander gebracht werden, erklärt Whitney für
»little short of absurd«. Dies wird näher an
dem Hauptargument ausgeführt, welches Schmidt
aus der ähnlichen Behandlung des ursprachlichen
K't&utes in gewissen Wörtern der arischen
Sprachen einerseits, der slavolettischen andrer-
seits entnehmen zu dürfen glaubte. Ascoli’g
and Fick’s Erklärungen dieser Erscheinung
208 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 6.
(ganz wie letzterer habe ich dieselbe in meinem
angeführten, gleichzeitig mit Fick’s Buche er-
schienenen Aufsatze aufgefasst, a. a. 0. 29, wo nur
bei Besprechung der Spaltung des K in Europa
sich der Druckfehler ho statt hv eingeschlichen
hat) werden besprochen: sie gehöre zu den1 ver-
einzelten Fällen, wo eine schon in der idg. Ur-
sprache vorhandene Lautneigung zufällig nur in
zwei sonst sich ganz entlegenen Sprachen wei-
ter ausgebildet, von den übrigen dagegen wie-
der aufgegeben wurde. Schmidt hatte diese
Erklärung als »unwissenschaftlich« verdammt,
weil sie mit der Annahme eines zufälligen Zu-
sammentreffens operirt; Whitney bemerkt ihm,
diesen Vorwurf gegen Schmidt selbst wendend,
sarkastisch, er verfahre damit ebenso wie Einer,
der um das zweimal wiederholte Auffallen der
Sech8e beim Würfeln nicht dem Zufall beimes-
sen zu müssen, es dem Einflüsse der Sterne zu-
schreibe. Und wie das erwähnte Argument
Schmidt’s und viele der übrigen von Fick wider-
legt, andere Schwierigkeiten von mir in meiner
Geschichte des Infinitivs beseitigt seien, so wür-
den sich mit gesunder Methode auch alle noch
restirenden Fälle dieser Art erklären lassen,
und die vergleichende Sprachwissenschaft sei
dadurch noch lange nicht so sehr in die Enge
getrieben, um sich nur so durch gewaltsame
Annahmen wie die Schmidt’sche einen Ausweg
daraus bahnen zu können. Auch gegen die von
Max Müller in seiner Strassburger Antrittsvor-
lesung gegen die Stammbaumtheorie erhobenen
Einwendungen wendet sich Whitney in diesem
Vortrag, doch ich darf bei demselben nicht
länger verweilen, da es vielmehr eine neue und
viel umfassendere Arbeit des fruchtbaren ameri-
Whitney, Oriental and Linguistic Studies. 209
ksnischen Gelehrten ist, auf die ich hier auf»
merksam machen will.
Auch diese »Studies« sind grossentheils aus
dem lebhaften Antheil hervorgegangen, welchen
der Verfasser seit Jahren an den Verbandlun-
gen der philologischen und der morgenländi-
schen Gesellschaft seines Vaterlandes und' an
dem Journal, welches die letztere herausgibt,
genommen hat; anderntheils waren sie zuerst
in geachteten Zeitschriften Nordamerikas er-
schienen. Sie machen zusammen einen statt»
liehen Band aus, der dreizehn Essays sehr man-
nigfaltigen Inhalts und von sehr verschiedener
Tendenz enthält. Whitney selbst führt sie uns
unter dem Titel »orientalische und linguistische
Studien« vor, wobei die erstere Bezeichnung in
dem beschränkteren Sinne zu verstehen ist, dass
sie sich nur auf solche Stoffe bezieht, die in das
Gebiet der Sanskrit-, noch genauer vedischen
und Zendphilologie fallen. Man könnte sie auch,
je nach dem grösseren oder geringeren Vor-
herrschen einer kritischen Tendenz — die nur
in dem letzten Essay über »Sprache und Unter-
richt« ganz znrücktritt — in Studien und Kri-
tiken eintheilen. Auch qualitativ sind Whitney’s
kritische Leistungen in diesem Buche am be-
deutendsten ; die »nüchterne Strenge«, die man •
seinen »Lectures« unter ihren sonstigen Vor-
zügen besonders nachgerübmt hat, ich möchte
lieber sagen die Uebersicht und Beherrschung
Wh.’s finden gerade nach dieser Seite hin Ge-
legenheit, sich im günstigsten Lichte zu zeigen.
Zwar ist auch der orientalische Tbeil des Essays,
in dem das kritische Element mehr zurück und
die Absicht, das grosse Publicum auf die er-
staunlich raschen Fortschritte hinzuweisen, web
che die indische und iranische Alterthumskunde
U
210 Gott. gel. Anz. 1874. StSck 7.
in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, in
den Vordergrund tritt, von hohem Interesse,
besonders durch den inhaltreichen Aufsatz über
den Zendavesta, indem die geschickte und tref-
fende Darlegung der Bedeutung und Stellung
der zoroastrischen Literatur in der Literatur-,
politischen und Religionsgeschichte überhaupt
gut darauf berechnet ist, das Interesse des ge-
sammten gebildeten Publicums an den For-
schungen der Zendphilologen anzufrischen, wäh-
rend die Besprechung von Max Müller’s History
of Ancient Sanskrit Literature, die den Verdien-
sten dieses Werks ihr volles Recht widerfahren
lässt, durch die interessanten Ausführungen, die
Wh. daran knüpft, für den Fachmann unter den
über ein sehr mannigfaches Gebiet sich verbrei-
teten Essays vedistischen Inhalts das meiste
Interesse darbieten dürfte, ln dem Aufsatz
über den Avesta hätte übrigens nicht gesagt
werden sollen, dass die Etymologie des Namens
Vispered zweifelhaft und unklar sei; jeder
Kenner der Zendsprache sieht leicht, dass der-
selbe, wie auch längst allgemein anerkannt ist,
auf vl$pe ratovö «alle Herrn« d. h. zoroastrische
Gottheiten zurückgeht — eine Bezeichnung, die
für eine liturgische Sammlung wie der Vispered
sehr geeignet war. Auch die Erklärung der Be-
nennungen, welche die verschiedenen Entwick-
lungsstufen ihrer .alten Sprache bei den Parsen
zu führen pflegen (p. 171): Zend,Pä-Zend u. s. w.
lässt an Schärfe Manches zu wünschen übrig
und wäre nach der klaren und wie mir scheint
abschliessenden Auseinandersetzung, welche jetzt
hierüber in Dr. West’s Ausgabe des Mainyö-i*
Khard (Stuttgart 1871) vorliegt, anders zu fas*
sen gewesen. Für den Fachmann bieten aber
die linguistischen Essays das grösste Interesse
Whitney, Oriental and Linguistic Studies. 211
dar, und unter diesen ragen wieder — da der
Essay über Language and ' Education ein spe-
cielleres Eingehen auf die Leistungen der mo*
dernen Sprachwissenschaft, insbesondere Cur*
tins’, auf dem Gebiete des sprachlichen Ele-
mentarunterrichts vermissen lässt und der Essay
über das Yerhältniss der indogermanischen
Sprachwissenschaft zur Ethnologie seinem we-
sentlichen Inhalte nach den Kennern der
»Lectures« bereite aus dem mittleren Theil der
sechsten Vorlesung bekannt ist — jene am mei-
sten hervor, in denen der Verfasser seinen wis-
senschaftlichen Standpunkt, wie er ihn schon in
dem öfter erwähnten älteren Werke dargelegt
hat, gegen entgegenstehende Ansichten verthei-
digt und die principiellen Grundanschauungen
der namhaftesten deutschen Sprachforscher, ins-
besondere Max Müllers, Schleichers und Stein-
thals ausführlich kritisirt. Sie sollen, soweit
der Raum es noch gestattet, im Folgenden et-
was näher besprochen, zuvor aber Whitney’s
allgemeiner Standpunkt in Kürze mitgetheilt
werden, wie er ihn selbst in dem Essay » on
the present state of the question as to the
origin of language« dargelegt hat.
Von vorne herein verwahrt sich Whitney ge-
gen das Missverständniss, als könne es seine
Absicht sein, eine neue Auffassung betreffs des
Ursprungs der Sprache, dieser Haupt- und
Grundfrage der Sprachwissenschaft, zu begrün-
den, die aber nach so vielem leeren Gerede
darüber nun unter nüchternen Forschern fast
verrufen sei; bei der Gründung der französi-
schen Society de Linguistique ist es daher als
ein Grundgesetz der Gesellschaft ausgesprochen
worden, dass in den Verhandlungen und Vorträ-
gen derselben niemals die Frage nach dem Ur-
14*
212 Gott. gel. A&z. 1874. Stuck 7.
sprung der Sprache berührt werden dürfe.
Durch ein solches Verbot wird nun freilich diese
Frage nicht leicht aus der Welt zu schäften
sein, und im vorliegenden Falle hat man sich
schon jetzt mehr als einmal einfach über das-
selbe hinweggesetzt; auch kann es bei einem
Problem, das von den Zeiten der ältesten grie-
chischen Philosophie an nicht aufgehört hat,
alle denkenden Köpfe zu beschäftigen , sich
offenbar nicht darum bandeln, ihm vorsichtig
ganz aus dem Wege zu gehen, sondern vielmehr
nur darum, die Fragstellung darüber dem un-
aufhörlich wechselnden wissenschaftlichen Ge-
sammtbewusstsein- stets aufs Neue anzupassen.
Dies ^cheiDt denn auch die Absicht zu sein,
welche Whitney zur Aufstellung folgender Sätze
veranlasst , die den Beifall aller besonnenen
Sprachforscher verdienen: erstens, die Frage
nach .dem Ursprung der Sprache ist eine rein
wissenschaftliche. Hieraus folgt nicht nur, dass
weder die biblischen noch irgend welche andere
traditionelle Vorstellungen das Geringste damit
au schaffen haben , sondern es wird dadurch
auch jede solche Lösung unstatthaft, welche den
ersten Sprachbildtiern andere Kräfte und Ta-
lente zuschreibt, als wie sie jeder beliebige
Mensch des löten Jahrhunderts besitzt; m. a.
Worten Max Müller ’s »Kling*klang-theorie«, wo-
nach die ältesten Wörter vermöge eines
später, nach Erfüllung seiner Function, wie-
der erloschenen Instinctes aus der
Menschenbrust hervorgeströmt wären, wird hie-
durch als unwissenschaftlich entschieden abge-
wiesen. Zweitens ist auf das Strengste die
Grenze zwischen den Tbatsachen der Sprach-
geschichte und den . Hypothesen der Sprach-
philosophie festzuhalten; darin tritt, wie übrigens
Whitney, -Oriental end Linguistic Studies. 213
schon II. Mittler betont hat, am deutlichsten
der Fortschritt der Linguistik zu Tage, dass
jede Untersuchung über die Entstehung der
Sprache jetzt nicht mehr nach der Genesis der
Wörter, sondern der durch die historische For-
schung sicher ermittelten Wurzeln zu fragen
hat. Darüber hinaus bat man sich zwar noch
nicht geeinigt und wird vielleicht auch nie zu
einer Einigung gelangen, doch ist es süchtig
sich wenigstens klar zu machen, worin die
Haupt8treitpunkte bestehen. Whitney stellt da-
her drittens als ersten Streitpunkt die Frage
nach dem Verhältnis des Denkens zum Spre-
chen, des Begriffs znm Wort, und viertens
als einen kaum minder wichtigen, wenn schon
oft übersehenen Differenzpunkt die Frage hin,
ob der Impuls zum Sprechen von innen oder
von aussen kommt, d. h. ob das Sprechen eine
nothwendige, organische Verrichtung des Men-
schen, oder oh es nur das Bedürfnis nach Mit-
theilung ist, was ihn dazu antreibt. Und so er-
geben sich als die Hauptkriterien Air jede Un-
tersuchung, die sich heutzutage auf das mehr*
erwähnte Problem einlässt, folgende: werden
einerseits religiöse Vorstellungen dabei herein*
gezogen oder Annahmen, die den Erfahrungs-
tatsachen widersprechen, zu Hülfe genommen;
werden andrerseits die Wörter, wie sie jetzt
sind, nicht wie sie in der geschichtlich vorlie-
genden Wurzel periode beschaffen waren, zur
Basis der Untersuchung gemacht, so stellt sich
damit dieselbe auf eineu von der heutigen
Sprachwissenschaft überwundenen Stand punkt.
Aber auch dann, wenn man es unterlässt, sich
über das Verhältnis des Sprechens zum Den-
ken und über die Natur des Triebs, welcher
zur Sprachbttdung den Anstoss gibt, eine be*
214 G6tt. gel. Anz. 1874. StBck 7.
✓
stimmte und mit Gründen der Philosophie oder
Psychologie zu verteidigende Ansicht za bil-
den, wird man zn einem irgend gedeihlichen
Resultat nicht gelangen.
Legt man diesen Massstab an die von Whitney
selbst in seinem früheren Werk über das frag-
liche Problem entwickelten Ansichten an, so
wird man anerkennen müssen, dass dieselben
— Hypothesen, wie sie sind und der Natur der
Sache nach sein müssen — ihn vollkommen aus-
halten. Eine andere Frage ist es, inwieweit es
ihm gelungen ist, das Nichtvorhandensein die-
ser Kriterien in den theoretischen Grundansich-
ten der erwähnten anderen Forscher nachzu-
weisen. Nur eine ins Detail gehende Nach-
prüfung seiner Essays über »Bleek and the
Simious Theory of Language, Schleicher and
the Physical Theory of Language, Steinthal and
the Psychological Theorie of Language« würde
dies zu zeigen im Stande sein. Da jedoch ein
solcher Versuch die Grenzen eines Referats weit
überschreiten würde, ziehe ich es vor, zum
Schluss noch einige Proben aus den kritischen
Bemerkungen mitzutheilen , mit denen Whitney
in seinen beiden Beurtheilungen der zweiten
Serie von Max Müller's »Vorlesungen« dieselbe be-
gleitet; abgesehen von dem sachlichen Interesse
sind sie auch, da \ sie ein so viel gelesenes und
gepriesenes Buch betreffen, besonders geeignet um
erkennen zu lassen, wie geschickt Wh. zu po-
lemisiren versteht.
Im Allgemeinen urtheilt Whitney über die
zweite Serie der Müller’schen Vorlesungen, sie
hätten mit denen der ersten Serie, die bei ihrem
ersten Erscheinen allgemein ein so grosses Auf-
sehen gemacht haben, die gleichen glänzenden
Vorzüge sowohl als auffallenden Mängel gemein
Whitney, Oriental and Linguistic Studies. 215
bei einer glänzenden Darstellungs- und Popula-
risirungsgabe, die namentlich in seinen reichen
und ebenso geschickt gewählten als anziehend
und treffend ausgeführten Beispielen aus der
Geschichte selbst der entlegensten Sprachen
hervortrete, lasse er es doch überall an syste-
matischer Anordnung, an logischer Entwicklung
und Durchführung seiner Gedanken fehlen. Da-
her kommt es, und diese Bemerkung Wh.’s
scheint mir besonders zutreffend, dass der An«
langer, der aus der Lectüre dieser »Vorlesungen
über Sprachwissenschaft« ein Bild von dem Um-
fang und Inhalt, von dem Stoff, den Zielen und
der Methode dieser Wissenschaft mit fortzuneh-
men hofft, zwar durch das mancherlei Wissens-
wertste, das er darin mitgetheilt erhält, unter-
halten und durch die anmuthige Form, in der
es ihm entgegengebracht wird, sogar hingerissen
wird, schliesslich aber doch ein Gefühl der Un-
befriedigung nicht unterdrücken kann. Zwar
wird im Beginn des Buches eine Art von Pro-
gramm aufgestellt, wonach es in seinem ersten
Theil von dem Aeusseren oder der Lautform der
Sprache, im zweiten von der Innenseite oder
Seele der Sprache, d. h. von dem Entstehen
und Vergehen der Begriffe handeln soll. Allein
. schon in der ersten oder »einleitenden« Vorle-
sung »über neues Material und neue Theorien«
begegnet zunächst eine nicht unverdiente, doch
gar zu weitschweifige Lobpreisung der Ent-
deckungen, welche die Sprachwissenschaft in un-
serem Jahrhundert auf dem Gebiete der Keil-
schriftentzifferung gemacht hat, sodann eine zu-
treffende und witzige Abfertigung der übertrie-
benen Resultate, welche einige Kenner der afri-
kanischen und polyne8ischen Sprachen von dem
fortgesetzte!! Studium dieser Sprachen für das
216 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 7.
gesummte Sprachstudium überhaupt sich ver-
sprechen wollten — und endlich, nachdem ihm
der Leser in diesen durch viele Seiten sich
beziehenden Ausführungen mit Aufmerksamkeit
zwar, aber doch mit einer Empfindung von ge-
täuschter Erwartung gefolgt ist, wirft der Ver-
fasser die Behauptung hin : »dass das Vor-
stehende als Beleg für die Hauptgrundsätze der
Sprachforschung genügen müsse, dahin gehend,
dass das, was in späteren Formationen that-
sächlich vorliege, für die älteren Sprachnieder-
setzungen als möglich zugegeben werden müsse,
und was im Kleinen richtig sei, sich auch im
Grossen bewähren könne«. Das ist also das
ganze Resultat, bemerkt Whitney mit Emphase,
das bei all diesen Erörterungen herauskommt:
»was hier Hauptgrundsätze der Sprachforschung
heisst, würden wir vielmehr als naheliegende,
kaum einer weiteren Ausführung Bemerkungen
bezeichnet haben«. Wenn dann in der nämlichen
Vorlesung ferner noch eine Schutzrede zu Gun-
sten des »turanischen Sprachstamms« folgt (in
seinen eben ihrer ersten Hälfte nach erschiene-
nen Vorlesungen über vergleichende Religions-
wissenschaft hat jetzt übrigens Max Müller diese
ungeheuerliche Hypothese von einem Complex
von Sprachen, der sich über alle Welttheile hin-
gezogen und alle bekannten Sprachen, mit Aus-
nahme der indogermanischen und semitischen
umfasst haben sollte, so gut wie zurückgenom-
men), die in der Frage gipfelt, ob man denn
das Bestehen einer Verwandtschaft zwischen den
»turanischen« Sprachen blos daraufhin in Abrede
stellen solle, dass sie nicht eben solche Kenn-
zeichen dafür aufzuweisen haben, wie Französich
und Englisch, Latein und Griechisch, Celtisch und
Sanskrit« — so verdient diese Frage Muller's
Whitney, Oriental and Linguistic Studies. 91?
In der That keine andere Antwort, als die, wel-
che ihm hier sein Kritiker darauf ertheilt, der
mit einem unbedenklichen »Ja« erwidert: man
soll and muss sie so lange für unverwandt er-
klären, bis andere gleichwertige Merkmale der
Verwandtschaft an ihnen nachgewiesen sind. Aus
dem Umstande, dass diese Sprachen veränder-
licher, unstäter in ihrem Character sind als an-
dere, folgt natürlich noch lange nicht, dass sie
deshalb von ein und derselben Ursprache her-
kommen müssen, sondern nur soviel, dass es
gewagt wäre, allzu apodiktisch die gegenteilige
Annahme anszusprechen. In ähnlicher Weise
wie die erste durchgeht Wh. auch die folgenden
Vorlesungen: er nimmt sich Locke’s gegen die
in der zweiten enthaltenen Angriffe Max Mül-
lers an, indem er zeigt, dass dieser hier
eigentlich gegen ein Trugbild streitet und seine
Identification der Sprache nnd Vernunft in ein-
gehender, übrigens dem Wesen nach später in
seinen Lectures on Language wiederholter Ar-
gumentation widerlegt; er macht an der Dar-
stellung des natürlichen Lantsystems in der drit-
ten mehrere einzelne Verstösse namhaft , die
ihm zu seinem verwerfenden Urtheil über das
' Ganze jedoch kaum das Recht geben; er wen-
det sich endlich mit Recht gegen den Erklä-
rungsversuch der Lautverschiebung und den die
Kritik gar zu sehr provocirenden Versuch, die
drei von den Anthropologen ermittelten Perio-
den der Stein-, Bronze- und Eisenzeit an ' ein
ganz vereinzeltes Factum aus der Sprachge-
schichte der indogermanischen Sprachen Euro-
pe's anzuknüfen, wie sie in der fünften Vor-
lesung vorliegen — während dagegen an der
vierten, die vom Lautwechsel handelt , der
reiche Inhalt gerühmt und die späteren mytho-
218 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 7.
logischen Vorlesungen als die originellsten und
wertvollsten der zweiten Serie, wenn nicht
beider Serien bezeichnet werden. Schliesslich
verwahrt sich Whitney gegen die Angriffe, die
ihm der allerdings herbe Ton dieser Kritik ein-
getragen hat, mit einem Hinweis auf das
»noblesse oblige«: die grosse Gunst, deren sich
Max Müller beim grossen Publicum erfreut,
hätte ihn zu recht sorgfältigem und wiederhol-
ten Durchdenken der wichtigen Fragen, in die
er es einzuführen gedachte, auffordern sollen;
statt dessen habe er durch Vertretung irriger
Auffassungen der Anbahnung eines allgemeine-
ren richtigen Verständnisses für die Probleme
der Sprachwissenschaft ebenso sehr geschadet,
als seine Gabe populärer Darstellung der Ver-
breitung eines gewissen Interesses dafür dienlich
gewesen sei.
Dieses Urtheil lässt an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig, und es wird überhaupt nicht
an Lesern fehlen, denen der Ton von Whitney’s
Kritiken allzu polemisch und absprechend er-
scheinen wird. Es ist aber dabei zu bedenken,
dass wenn irgend ein Vertreter der allgemeinen
Sprachwissenschaft ein Recht zur Anlegung eines
strengen Massstabs an die Leistungen Anderer
auf diesem Gebiete hat, es der amerikanische
Linguist ist, der uns in seinen »Lectures« ein
Werk geliefert hat, wie es noch keine andere
Literatur aufzuweisen hat: eine gemeinfassliche
und höchst anziehend geschriebene, zugleich aber
ebenso gründliche als durchdachte Darstellung
aller Hauptlehren dieser Wissenschaft.
Würzburg. Julius Jolly.
Kradolfer, Die altchristliche Moral etc. 219
Kradolfer, J., Prediger in Bremen: Die
ftltchri8tliche Moral und der moderne Zeit-
geist. Berlin, 1873. Lüderitz’sche Verlagsbuch-
handlung.
Die vorliegende Abhandlung ist, wie sie selbst
deutlich zu verstehen giebt, auf Veranlassung des
neuesten Strauss’schen Buches »der neue Glaube«
entstanden. War in diesem gesagt, dass »wie es
einen neuen Glauben gebe, dessen Inhalt ein
wesentlich anderer sei, als derjenige des Christen«
thums, dass es eben so gut auch eine neue Mo-
ral gebe, welche mit der altchristlichen so wenig
verwandt sei, wie der neue Glaube mit dem al-
ten«, und war Strauss dort zu dem Resultate
gekommen, dass »die moderne Cultnr, auch ganz
abgesehen von dem religiösen Gehalte derselben,
weder als eine christliche zu bezeichnen sei,
noch die Hoffnung gewähre, dies jemals wieder zu
werden«, dass es mit einem Worte »keine Ver-
söhnung zwischen Cultur und Christenthum gebe«,
so ist derVerf. keineswegs geneigt, diese »noth«
wendige Consequenz des neuen Glaubens« ohne
weiteres zuzugeben. Er meint »unsere Cultur
doch immer noch als eine christliche bezeichnen«
und »eine allmälig fortschreitende Versöhnung,
eine immer innigere Durchdringung von Cultur
und Christenthum« nicht bloss wünschen, son-
dern auch in bestimmte Aussicht stellen zu dür-
fen, und um dies darzuthun, ist seine Abhand-
lung geschrieben. Er »prüft hier die Frage
näher, wie sich moderner Zeitgeist und alt-
christliche Moral zu einander verhalten«, aber
was er, Strauss gegenüber, da mit aller Zuver-
sicht aufrecht erhält, ist die Ueberzeugung, dass
»die urchri8tliche Moral die Lebensessenz ist und
220 Gott. gel. Anz. 1878. Stück 7.
bleibt, trotz des entschiedenen Uebergewichtes,
welches andere Bestandteile des modernen Zeit«
geistes besitzen«, dass dieselbe *in der geisti-
gen Atmosphäre der modernen Welt ungefähr
die Bedeutung babe, wie der Sauerstoff oder
das Ozon in der atmosphärischen Luft«, und
überhaupt sind es tröstliche Aussichten in Be-
ziehung auf die Zukunft, die der Verf. am
Schluss seiner Abhandlung eröffnet, wenn auch
ganz und gar nicht auf einen neuen Sieg des
kirchlichen Christenthums oder gar der altkirch-
lichen Moral, so doch darauf, dass »der Mittel-
punkt der Lehre und des Lebens Jesu, die.
Liebe, vermöge der Expansivkraft und der Weite
des Herzens und Horizonts, welche sie dem
christlichen Princip giebt, sich immer fähig er-
weisen werde, neue Züge in sich aufzunehmen
und neue Culturperioden sich dienstbar zu
machen«.
Auch darf nun gesagt werden, dass der Verf.
im Ganzen recht überzeugend seine Anschauung
von der noch fortdauernden Berechtigung des
christlichen Princips dargethan hat. JEr beginnt
damit, den modernen Zeitgeist zn analysiren,
und weist eine ganze Anzahl von überaus mäch-
tigen Bestandtheilen desselben nach, welche nicht
ans dem Christenthum stammen, sondern theils
aus dem vorchristlichen und zwar heidnischen
Alterthum in unsere Zeit übertragen sind, theils
aber recht eigentlich als die Producte und trei-
benden Mächte des gegenwärtigen Zeitalters an-
gesehen werden müssen. Der ersteren Art sind
nach dem Verf drei: »die Kunst, worin die
' Griechen, das Rechtsgebiet, worin die Römer,
und die humane Wissenschaft, worin Beide un*
sere Lehrmeister gewesen sind«, während zu der
Kradolffer, Die altcbristUche Moral etc.
letzteren Art hauptsächlich unsre moderne clas-
gische Literatur und namentlich auch die Natur«
Wissenschaften und auf ihrem Grunde der In-
dustrialismus, das mechanische Könnet), die
Macht über die Naturkräfte gehören, und es ist
nun nicht zu bezweifeln, dass das Christenthum
zunächst mit allen diesen in unserer Zeit so
mächtigen Factoren Nichts zu thun hat. »Es
ist«, sagt der Verf., »eine durchaus ablehnende
Stellung, welche das Christenthum in seiner ur-
sprünglichen Gestalt zu den Culturmächten der
alten Welt eingenommen hat«, und wenn das-
selbe auch Berührungspunkte mit der vorchrist-
lichen Weltweisheit, namentlich mit der Ethik
und zwar sowohl der Stoiker, wie der Epicu-
räer zeigt, so »dürfen uns diese Berührungs-
punkte doch über die prindpielle Verschieden-
heit zwischen altchristlicher und antiker Moral
nicht täuschen«. »Die Kardinaltugenden des
Cbristenthums sind doch andre als die bekann-
ten antiken, nicht Tapferkeit und Gerechtigkeit,
Beharrlichkeit und Besonnenheit, sondern Glaube,
Liebe, Hoffnung«, nnd wie sehr dieser Unter-
schied durchgreifend ist, wird in sehr bezeich-
nender Weise ans Licht gestellt.
Vollends aber »die sittlichen Factoren, wel-
che, der modernen Cultur eigentümlich, zu
cons tituiren den Elementen des modernen Zeit-
geistes geworden sind«, so lässt sichern Wider-
spruch, in welchem sie mit dem Ghristenthume
stehen, nicht verkennen. Wohl giebt es bei
den grossen Vertretern der modernen Welt-
literatur auch Berührungspunkte mit dem Chri-
stenthum und seiner Moral — der Verf. weist
dies bei Lessing, Goethe und Schiller besonders
nach — aber »doch macht Keiner von den
£22 Gott. gel. Anz. 1874. StÖck 7.
Dreien den Eindruck, als ob es gerade die alt-
christliche Moral gewesen, welche die Form
oder gar den inneren Gehalt ihrer Sittlichkeit
wesentlich bestimmt hätte, und Goethe’s Wider-
wille gegen das Kreuz war nicht bloss ein
ästhetischer, sondern eine principielle Opposi-
tion des Naturalismus, der gesunden Sinnlich-
keit, gegen eine Heilsordnung , welche vom
Standpunkte der Natur aus wie eine Tortur,
wie eine Verrenkung der natürlichen Glieder,
wie eine Knickung der dem Menschen eigenen
Kraft und seines Selbstgefühls erschien«. Und
dies Beruhen auf der eigenen Kraft ist dann
namentlich die Seele der weiteren sittlichen
Factoren des neuen Zeitgeistes: der Naturwis-
senschaften und der Industrie, und es ist ge-
wiss sehr leseDS- und beachtens werth, was der
Verf. gerade hier in eingehender Weise übe?
den Riss ins Licht stellt, der auf diesem Ge-
' biete zwischen dem heutigen und dem altchrist-
lichen Bewusstsein entstanden ist. Kaum kann
die Kluft noch grösser gedacht werden, und
»wenn es noch Solche giebt, welche hier die
Differenz unsrer Anschauung von der altchrist-
lichen nicht zugeben oder an der absoluten
Giltigkeit dieser um jeden Preis festhalten wol-
len, so thun sie es nur in der Theorie, nicht
aber in der Praxis: sie denken wie Niemand
und handeln wie Alle«. Besonders die Stellung,
welche unsere Zeit zu dem irdischen Besitz und
Erwerb einnimmt, ist nach dem Verf. eine we-
sentlich andere geworden, als in der altchrist-
lichen Zeit, ui\d wenn wir auch den Auffassun-
gen des Verf. hinsichtlich neutestamentlicher
Stellen hier nicht in allen Stücken beistimmen
können, so ist doch im Ganzen das Charakter-
Kradolfer , Die altchriatliche Moral etc. 223
bild richtig, das er nach dieser Seite hin von
dem Geiste unserer Zeit entwirft: bei dem Ur-
christenthumf auf »das Trachten nach dem
Reiche Gottes« alles Gewicht gelegt und des-
halb dort auch eine heroische Sorglosigkeit in
Beziehung auf den irdischen Besitz und Erwerb,
in unsrer Zeit dagegen der Erwerbstrieb vor
allem lebendig und sich oft auch mit einer
Rücksichtslosigkeit und Einseitigkeit geltend
machend, die keine Schranke mehr kennt und
gleichgiltig ist, wie gegen die höheren Lebens-
güter, so auch gegen das Geschick und geistige
Gedeihen des einzelnen Menschen«. Anch diese
letztere, nicht eben erfreuliche Seite unseres
modernen Lebens wird von dem Verf. gebührend
hervorgeboben.
So ist denn aber nicht zu leugnen, dass der
moderne Zeitgeist und das alte Christenthum
auch auf dem Gebiete des sittlichen Lebens in
Gegensatz gerathen sind, wenigstens ein har-
monisches Verhältnis zu einander noch nicht
gefunden haben, und nun ist es dann weiter
des Verf. Aufgabe, zu zeigen, dass hier gleich-
wohl eine höhere Einheit vorhanden ist, dass
namentlich die moderne Zeit auch das christ-
liche Grundprincip der Moral noch keineswegs
entbehren kann. Dies geschieht denn in den
noch folgenden Abschnitten, indem zunächst,
und zwar in Berufung auf den neuerdings von
Strauss aufgestellten Kanon der Moral, nach-
gewiesen wird, dass bei aller Divergenz im Ein-
zelnen doch das Princip der Moral im Chri-
stenthum und in dem modernen Zeitgeiste das-
selbe sei, dass die wesentlichsten Grundsätze,
welche aus dem altchristlichen Moralprincip ab-
fliessen, z. B. Feindesliebe etc. etc., durchaus
224 GStt. gel. Anz. 1874. Stück 7.
in den Geist der Neuzeit eingedrungen sind,
und dass der Trieb in unserer Zeit doch eigent-
lich darauf hinausgeht, nicht das christliche
Moralprincip abzuwerfen, sondern es zu säcula-
risiren, es zu entkirchlichen, aber damit in das
Leben des Volkes erst recht einzuführen, und
indem dann weiter nachgewiesen wird , wie
wirklich der moderne Zeitgeist des christlichen
Lebensprincips auch auf dem Gebiete der Mo-
ral bedarf, wenn er selbst nicht den schlimm-
sten Verirrungen verfallen soll. Was der Verf.
nach dieser Seite hin herauszustellen sich be-
müht hat, nämlich die Insutficienz der moder-
nen Weltcultur ohne Christenthum, ist so durch-
aus begründet und trifft so sehr die tiefsten
Bedürfnisse unserer Zeit/ dass es ein Schaden
ernstester Art sein würde, wenn es nicht be-
achtet werden sollte.
Möge die Abhandlung denn nicht nutzlos
publicirt worden sein: sie hält uns in nüchtern
Klarer Weise die nöthigen Zielpunkte unseres
Strebens vor Augen.
F. Brandes.
225
CSSttingische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 8. 25. Februar 1874.
Die preus8ische Expedition nach Ost-Asien.
Nach amtlichen Quellen. III. Band. Mit einer
Karte. Berlin 1873. Verlag der königl. ge*,
heimen Ober-Hofbuchdruckerei. (ß. v. Decker).
Der zweite Theil des officiellen Werkes über
die preussische Expedition nach Ost- Asien er-
schien im Jahre 1866 und wurde im 30. Stück
der G. G. A. vom 4. Juli 1867 Seite 1161 —
1173 aDgezeigt. Erst im Jahre 1873 trat in
dem oben genannten Buche der dritte Band des
genannten Werkes an’s Licht. Diese bedeutende
Verzögerung wird in der Vorrede durch den
Umstand erklärt, dass nicht nur die künstle-
rische, sondern, auch die schriftstellerische Ar-
beit bei dem ganzen Unternehmen , welches
ausser dem hier vorliegenden Oktav-Bande von
454 Seiten auch noch ein» grosses Folio-Pracht-'
werk: »Ansichten aus Japan, China und Siam«
umfasst, einer und derselben Person, Herrn A.
Berg, übertragen wurde. Für das grosse Pracht-
werk hatte derselbe 60 grosse Blätter und für.
das vorliegende Oktav- Werk 48 kleinere Blätter
15
/
226» Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 8.
herzustellen. Auch diese letzteren 48 sind die-
sem dritten Bande, zu welchem sie gehören,
noch nicht beigefügt. Sie sollen erst mit dem
vierten Bande, der das ganze Werk abschliessen
wird, nachfolgen.
Der frühere zweite Band des Werks schloss
mit allgemeinen Betrachtungen über Japan und
mit der Schilderung der Ankunft der preussi-
schen Schiffe Arkona und Thetis in der Mün-
dung des Yaotsekiang. , Der vorliegende Band
beschäftigt sich bloss mit China. Er besteht
in der Hauptsache aus einer umständlichen hi-
storischen Abhandlung ȟber die Beziehungen
China’s zum Westen bis 1860« (S. 1 — 375) und
dann . aus einem kurzen »Reiseberichte« über
den Aufenthalt der Preussen in Shang-hae und
ihre Abfahrt vom Yantsekiang nach dem
Süden.
Die grosse historische Schilderung des Ver-
kehrs der Europäer in China behandelt zuerst,
die älteren Berührungen und Handelsbeziehun-
gen der Europäer mit China bis zum Erlöschen
des Monopols der Englisch-Ostindischen Com-
pagnie (1834), dann die Geschichte des Opium-
handelsund des Opium-Krieges (bis 1842), ferner
den Lorcha-Krieg (bis 1858) und endlich den
englisch -französischen Feldzug gegen Peking
(1860). Auch sind zwischendurch der Geschichte
der chinesischen Rebellion oder »der Tae-ping-
Bewegung« zwei umständliche Capitel gewidmet.
Das Material zu diesen Darstellungen ist
durchweg »aus zuverlässigen Quellen geschöpft«.
Für die letzten ereignisreichen 20 Jahre boten
die in den Archiven von Kanton, Peking etc.
erbeuteten chinesischen Dokumente, die der
Verfasser in den von den Engländern entworfe-
nen Uebersetzungen benutzte, ein reiches Ma-
D. preussische Expedition n. Ost- Asien. 3.Bd. 227
terial dar. Für die chinesische Bebellion »hielt'
sich der Verfasser an die zuverlässigen engli-.
sehen Berichte und Werke von Meadows,
Lindesay-Brine und Andrew Wilson«, nament-
lich an die von Herrn Meadows, den er wieder-
holt als den besten Kenner Chinas bezeichnet.
Der Verf. widmet dem chinesischen Verkehr
jedes europäischen Volks einen kleinen Ab-
schnitt und führt sie der Reihe nach so auf,
wie sie in der Zeitfolge in China auftraten, zu-
erst die Italiener, dann die Portugiesen und
Spanier, die Engländer und zuletzt die Russen
und Deutschen, welche letzteren dort erst in
diesem 19. Jahrhundert wichtig wurden. Er
schildert die Art und Weise des Handelsbetriebs
in verschiedenen Zeiten, die von den Chinesen
beliebten Beschränkungen, welche aus den eigen-
tümlichen politischen Anschauungen der Chinesen
von der Bedeutung und Stellung ihres Landes,
»des Reichs der Mitte der ganzen Welt« hervor-
gingen, — die verschiedenen berühmt geworde-
nen europäischen Gesandtschaften und Unter-
handlungen zur Beseitigung oder Erweiterung
dieser Beschränkungen , das Institut der privi-
legirten sogenannten Hong-Kaufleute, den durch
die Beschränkungen hervorgerufenen Schleich-
handel, namentlich den mit Opium. Den Opium-
handel und den durch ihü yeranlassten berüch-
tigten Opium-Krieg behandelt der Verf. auf bei-
nahe 100 Seiten besonders umständlich bis zum
Friedensschluss von Nan-king im Jahre 1849.
Dieser Opium-Krieg und die dem Kaiser von
China durch ihn aufgedrungenen Friedensbe-
dingungen erschütterten die Autorität der
Mandschu-Regierung in ihren Grundfesten. Der
Verfasser weist aus chinesischen Dokumenten
nach, wie die »Reichs-Censoren«, (Staatsdiener
lb*
228 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 8.
vom höchsten Bange, die durch ihr Amt dazu
verpflichtet sind, die öflentlichen Handlungen
der Regierung zu kritisiren), den Kaiser heftig,
tadelten, wie auch im Innern des grossen stol-
zen Reichs Niemand begreifen konnte, dass
ohne Verrätherei der Regierungsbeamten ein
Häuflein fremder Barbaren (der Engländer) den
strahlenden Himmelssohn habe bezwingen kön-
nen, wie damals ein Schrei der Entrüstung
hierüber durch alle Provinzen Chinas ertönte,
wie das chinesische Volk zugleich in Folge des
Opium-Krieges die Schwäche der Herrschaft
der Mandschu- Tataren erkannte, und wie so
durch diesen Krieg mittelbar die sogenannte
Tae ping-Bewegung herbeigeführt wurde, welche
fünfzehn Jahre lang den Kaiserthron bedrohte
und über den grössten Theil des Reichs unsäg-
liches Elend und wilde Zerstörung brachte.
Die Geschichte dieser furchtbaren Rebellion
verfolgt der Verfasser immer an der Hand jener
chinesischen Dokumente und englischen Bericht-
erstatter von ihren ersten Quellen und Anläs-
sen und steigt dabei in die Zeiten der Erobe-
rung China’s durch die Mandschu hinauf, indem
er die Eigenthümlichkeiten des von diesen Ta-
taren tbeils überkommenen, theils reformirten
Regiments schildert, Eigenthümlichkeiten , die
ganz mit den Anschauungen und Gewohnheiten
des chinesischen ' Volks verwachsen waren, und
die ohne das Volk zu empören nicht so rauh
aDgetastet werden durften, wie dies durch einige
verkehrte Massregeln der letzten chinesischen
Kaiser, namentlich des vorletzten Kaisers Tau-
kwang (1820—1850) geschah.
Als eine der verkehrtesten und unheilvoll- *
sten Verordnungen dieses Kaisers Taukwang
hebt der Verfasser die hervor, durch welche er
D. preussische Expedition n. Ost- Asien. 3.Bd. 229
den Stellenverkauf sanctionirte. Seit den ältesten
Zeiten waren die Beamtenstellen in China nur
den gebildeten nnd gelehrten Unterthanen durch
Bestehung eines rigorosen Examens erreichbar
gewesen. Da nun aber der kostspielige Opium-
Krieg die Finanzen zerrüttete — 27 Millionen
Dollars mussten den Engländern bezahlt wer-
den und noch viel grössere Summen verschlan-
gen die Rüstungen und Unterschleife — so ver-
fiel der besagte Kaiser, um sieh Geld zu ver-
schaffen, auf jenes revolutionäre Mittel des
Stellenverkaufs. Neben der tiefen Wunde, wel-
che diese Neuerung der gesammten Classe der
Studierten schlug, erzeugte sie als nächste Folge
auch eine schwere Bedrückung des Volks, an
welchem der durch Geld zu Amt und Würden
gelangte Mandarin sich durch Erpressungen
schadlos hielt. — Für die gesitteten Chinesen
verlor das käufliche Amt jeden Nimbus der
Autorität. Die besseren Volkskiaasen verachte-
ten den neuen Beamtenstand. Die Regierung
musste an Ansehen einbüssen, was sie an Geld
gewann. Verdiente Männer, welche ihre Aemter
d$r eigenen Arbeit, Wissenchschaft und Redlich-
keit verdankten, wurden ungerecht daraus ver-
stossen. Als die Käuflichkeit der Stellen auf-
kam, drängte sich eine Ueberzahl von Candi-
daten herzu. Die Regierung nahm das Geld
derselben, konnte aber doch auch diese Drän-
ger nicht befriedigen. Denn die Anwartschaft
auf ein Amt, die sie ihnen dafür gegeben hatte,
konnte sie kaum in zehn Jahren realisiren, und
musste, um dies zu thun, um Platz für die Un-
geduldigen zu schaffen, hochverdiente Beamte
% unter nichtigen Vorwänden entlassen.
Eben so tief wie durch den Stellenhandel
wurde das chinesische Volksgefühl durch die
230 Gott. ge!. Anz. 1874. Stück 8.
von demselben Kaiser Taü-kwang eingeführten
Geldstrafen verletzt. Der alte dem Volke allge-
mein bekannte und gewohnte chinesische Criminal-
Codex war zwar hart, drohte mit grausamen
Leibeä-, Freiheits- und Todesstrafen. Aber er
wurde doch vom Volke verehrt, weil er unparteiisch
war und Alle, Reiche wie Arme, vor dem Ge-
setz gleich machte. Einige frühere Mandschu-
Kaiser hatten schon hie und da etwas an die«
sem 2000 Jahre alten Codex geändert. Aber
Tau-kwang’s Geldnoth war so gross, dass er
gebot, fortan sollten alle Strafen abgekauft wer-
den können. Durch diese Neuerung regte er
die Armen, die Masse der Nation, gewaltig auf,
und da dem Volke nun noch, wie gesagt, durch
die Siege der Engländer im Opiumkriege die
Hinfälligkeit der militärischen Einrichtungen
ihrer Kaiser offenbar wurde, so war eine allge-
meine Empörung des Volkes gegen die revolu-
tionäre und doch schwache Mandschu-Regierung
im Namen ihrer alten chinesischen Institutionen
eine sehr natürliche Folge.
Der Ausbruch des Aufstandes wurde jedoch
zunächst noch durch andere Impulse, durch re-
ligiösen Gährungsstoff veranlasst und gefördert.
Ein chinesischer Schulmeister Hung-siu-tsuen
war mit christlichen Missionären in Berührung
gekommen, hatte von diesen eine Sammlung von
Aufsätzen mit dem Titel: »Gute Worte zur Er-
mahnung des Zeitalters« erhalten, welches einige
Capital aus den heiligen Büchern der Christen
und Betrachtungen über dieselben enthielt. Er
war dadurch mit Eifer für die christliche Reli-
gion oder doch für einige Grundsätze derselben
entzündet worden, die er als wahrhaft volks- *
freundliche Ansichten proklamirte, und die bei
der bedrängten und aufgeregten Mehrheit der
D.preussischeExpöditionn. Ost-Asien. 3.Bd. 231
chinesischen Bevölkerung bald populär werden
mussten.
Der Verfasser giebt uns die Geschichte die-
ses merkwürdigen Schulmeisters von seiner Ge-
burt an, seine Erziehung, sein Missgeschick mit
der chinesischen Regierung, bei der er verge-
bens eine Anstellung nachsuchte, seinen Verkehr
mit den Christen, sein Zusammentreffen mit den
Bauern und Hirten seines Dorfes, denen er auf
ihren Weideplätzen Abschnitte aus dem Alten
und Neuen Testamente der Christen vorlas,
und die seinen Lehren mit Spannung horchten.
Die Gemeinde von »Gottesverehrern«, welche
Hung-siu-tsuen und sein Jünger Fung-yun-san,
auch ein Dorfschulmeister, in der Provinz
Kuang-si stifteten, wurde einer der vornehmsten
Kerne der grossen politischen Bewegung, welche
über ganz China wie ein gewaltiger Orkan da-
hin wirbelte.
Der Verfasser hat sein Mögliches gethan,
uns ein übersichtliches Bild von den Wirren und
Verwüstungen, die dieser Orkan während seiner
langen Dauer anrichtete, von den verschiedenen
andern Unruhen und Revolten, welche ihn be-
gleiteten und verstärkten, von den verschiede-
nen Mittelpunkten, in denen er sich festsetzte,
und um die er wirbelte, namentlich von dem
längere Zeit dauernden Regimente der Rebellen
in Nan-king, so wie von ihren von diesem ihrem
Centrallager aus unternommenen Kriegsopera-
tionen und ihren Kämpfen mit den kaiserlichen
Feldherren zu geben. Er schildert die anfäng-
lich nicht sehr tadelnswerthen Absichten und
den mehr oder weniger gerechtfertigten that-
kräftigen Widerstand der Aufständischen und
darnach ihre allmähliche Ausartung. Er zeigt,
wie nach und nach ihre dem Christenthum zum
232 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8.
Theil entlehnten Lehren in dem Gehirn der
Schwärmer sich zu grobem und sinnlichem Aber-
glauben verzerrten, die von Vielen gehofite Be-
kehrung des chinesischen Volkes zum Christen-
thum gänzlich vereitelt wurde, wie die Führer
der Rebellen in Nan-king, ähnlich wie einst in
Deutschland in Münster die Anführer der Wie-
dertäufer, in wahnwitzige Selbstvergötterung ver-
sanken und ihre Heere sich zu wilden Räuber-
banden auflösten, wie alsdann ihre endliche Be-
siegung im Jahre 1864 mit Hülfe der Englän-
der und Franzosen erfolgte und hinterdrein
furchtbare Blutgerichte über sie ergingen.
Eine eben so umständliche Darstellung und
Beleuchtung, wie der Taeping-Bewegung giebt
der Verfasser (auf S. 285—375) dem diese be-
gleitenden englisch-jfranzösischen Feldzuge gegen
Peking im Jahre 1860, der in vieler Beziehung
interessant war, für die Freunde der Wissen-
schaft und Kunst aber in keiner Hinsicht denk-
würdiger und zugleich beklagenswerter gewor-
den ist, als durch die von den Befehlshabern
der Truppen der beiden gebildetsten Völker
Europa’s angeordnete und ausgeführte barbari-
sche Zerstörung und Plünderung des grossen
kaiserlichen Sommerpalastes Yuang-ming-yuang
unweit Peking, seiner grossartigen Kunstschätze
und reichen Bibliothek, welche unheilvolle Hand-
lung in einem Blatte wie die G. G. A. noch
ein Mal wieder besonders hervorgehoben zu
werden verdient. »Diese Bibliothek«, sagt un-
ser Verfasser (S. 366 — 367), »war die reichste
und berühmteste Büchersammlung von ganz
Asien. Sie soll den grössten Schatz, ungedruck-
ter Manuscripte und viele Unica enthalten ha-
ben, welche nicht bloss für die Geschichte von
China, sondern auch für die des ganzen Welt-
D. preossiflche Expedition n. Ost- Aaien. S.Bd. 288
theili wichtig sind und deren Verlust für die
Wissenschaften unersetzlich ist«. — »Der Chi-
nese redet von dem Verluste dieser Schätze,
etwa wie bei uns von der Zerstörung des Vati-
cans geredet werden würde. Die Verbrennung
dieser Bibliothek hat die Europäer in den Au-
gen jedes gebildeten Chinesen zu rohen Barba«
ren gestempelt«. Zwei Tage lang wütheten die
Flammen in den Büchern und Kunstschäteen
tou Yuang-ming yuang und ein leichter Wind
blies den Rauch und die glimmenden Funken
ober die Hauptstadt, deren Häuser und Strassen
sich mit der feinen Asche der Schriften be-
deckte. Dies traurige Capitel schliesst der Verf.
mit einer Angabe über die Bedingungen des
den grausamen Krieg beendigenden Friedens
von Peking und über die Räumung dieser
Stadt von Seiten der Engländer und Franzosen
(Oct. 1 860).
Das Schluss-Capitel des ganzes Bandes, der
»Reisebericht über Shang-hae« enthält dann
noch manche interessante und mehr oder weni-
ger neue Bemerkungen über die grossartigen
reichen und luxuriösen europäischen Colonien
in dieser Stadt, die Art ihres Handels und ihre
Sitten und Zustände, so wie auch noch einige
recapituürende Bemerkungen über die Chinesen
selbst, von denen der Verfasser wiederholt die
Ansicht äussert, dass »ihre Gesittung alters-
schwach, verknöchert und ohne treibende Kraft
sei«, indem er aber dabei doch, wie er sagt,
»weit entfernt ist, solchen Kennern der Chine-
sen, wie es der Engländer Meadows ist, welche
mit Bewunderung von den sittlichen Eigenschaf-
ten dieses Volkes reden, geradezu widersprechen
zu wollen«. »Allerdings«, sagt er, »muss eine
Cnltur, die ein so ungeheures Volk zusammen-
234 ' Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8.
kittet, m solcher Höbe der Bildung und des
bürgerlichen Lebens erhoben hat, in welcher
zum grössten Theile das Bewusstsein des sitt-
lichen Gesetzes, Recht und Ordnung, den Staat
und die Familie erhält und sichert, auf be-
wundernswürdig fester Grundlage ruhen. Aber
dem Eindruck kann sich doch kein Unbefange-
ner entziehen , dass der heutige Chinese etwas
Fertiges, Selbstgeniigsames, ja Abgelebtes und
Würdeloses hat und dass seine Gesittung jetzt
nicht mehr schöpferisch wirkt« (S. 385 — 386).
— »Nichts desto weniger kann, seitdem die
Tae-ping vom Erdboden verschwunden sind und
die Auflösung China’s nicht eingetreten ist, doch
der abgelebte Stamm an Asiens äusserstem Ende,
eben so wie »der kranke Mann« an Europa’s
Gränze auch ohne Blüthen zu treiben, aber
auch ohne zu verdorren immer noch weiter ve-
getiren. Ein * siecher Körper lebt oft eben so
lange wie ein gesunder« (S. 400 — 401).
Bremen. J. G. Kohl.
Hirsche, Karl: Prologomena zu einer
neuen Ausgabe der .Imitatio Christi nach dem
Autograph des Thomas von Kempen. Zugleich
eine Einführung in sämmtliche Schriften des
Thomas, sowie ein Versuch zu endgültiger Fest-
stellung der Thatsache, dass Thomas und kein
Anderer der Verfasser der Imitatio ist. Erster
Band. Berlin, 1873. C. G. Lüderitz’sche Ver-
lagsbuchhandlung, Carl Habel. XL1II und 522
Seiten gr. 8.
Der Verf. will eine neue Ausgabe der Imi-
Hirsche, Prolog, z. e. n. Ausg. d. Imitatio Ghr. 238
tstio Christi veranstalten und die vorliegende
Arbeit soll ein Vorläufer dieses Unternehmens
sein. Daher ist es denn auch zunächst das Be«
muhen, das Erforderniss einer neuen Ausgabe
nachzuweisen, und zwar aus den Mängeln der
bisherigen, wie sie seit der von dem Jesuiten
Sommalius (1600) veranstalteten Gesammtaus*
gäbe der Werke des Thomas von Kempen er*
schienen sind. Der Verf. ist ein grosser Ver-
ehrer dieses nächst der Bibel am weitesten ver-
breiteten und am meisten gelesenen Erbauungs*
buchs und hat dasselbe seit langen Jahren zum
Gegenstände eines eingehenden Studiums ge-
macht, after da denn auch bald entdeckt und
immer mehr bestätigt gefunden, dass der von
Sommalius eingeführte Text der Imitatio im
höchsten Grade verderbt sei. Schon die herge-
brachte Eintheilung in Kapitel und Verse hat
sich dem Verf. als eine durchaus verfehlte mehr
und mehr herausgestelit, und was er ganz be-
sonders zu entdecken meinte, das war, dass wir
es in der Imitatio mit einem poetischen, sich in
Rhythmen und Reimen bewegenden Werke zu
thun hätten, eine Entdeckung, die ihm dann zur
Gewissheit wurde, als er das von der Hand des
Thomas geschriebene Exemplar des Buches, wel-
ches die Bibliothek zu Brüssel aufbewahrt,
näher einsah und untersuchte. Hier fand er
nämlich eine eigene, auch in anderen Hand-
schriften des Thomas vorkommende Interpunc-
tion mit grosser Sorgfalt und Genauigkeit chirch-
gefübrt, die freilich von Sommalius und dessen
Nachfolgern ganz und gar nicht beachtet wor-
den war, die aber, genau in Betracht gezogen,
ganz und gar nur eine Bestätigung der Vermu-
thung des Verf. gab, dass hier ein Rhythmus und
ein Wechsel von Reimen vorliege, wie derselbe
236 Gott» gel. Anz. 1874. Stück 8.
auch sonst bei Thomas nicht ungewöhnlich ist.
Der Verf. hatte die Freude, zu sehen, wie die
Interpunction von der Hand des Thomas mit
der Art , wie er selbst bereits die Sätze und Ab-
schnitte des Buches sich neu construirt hatte,
ziemlich genau zusammenstimmte und wie das
Buch, nach der Anweisung gelesen, wie die
Interpunction des Thoraas-Autographs sie an
die Hand gab, ein eigenthüraliches, bisher nicht
erkanntes Leben gewann, eine harmonische Be-
wegung, welche die Schönheit des Werkes erst
recht und in ungeahnter Weise* hervortreten
liess. Aber eben diese Entdeckung schien ihm
nun auch Aufschluss über den eigentlichen Ver-
fasser der Imitatio zu geben, nämlich den, dass
es wirklich kein Anderer, als Thomas von Kem-
pen, der Schreiber jenes brüsseler Exemplars
selbst sei, nicht aber, wie namentlich französi-
scher Seits behauptet worden ist, der Kanzler
% Gereon; eben der Umstand, dass die in dem
Thomas- Autograph angewandte Interpunction der
Schrift erst ihr eigentliches Leben gebe und
dass diese Interpunction sonst nirgends, als in
diesem Exemplar und in anderen von Thomas
oder doch aus seinem Kreise stammenden
Schriften sich vorfände, schien diese Annahme
durchaus zu bestätigen; und um die hier ob*
waltenden Verhältnisse vollends klar zu stellen,
hat der Verf. die ganze Thomasliteratur einem
Studium in so eingehender Art unterworfen, dasf
der Fleiss des Verf. in der That unsere Bewun-
derung erregt und wir jetzt erst von einer ge-
sicherten literarischen Grundlage reden können,
wie dieselbe nöthig ist, um die die Imitatio be*
treffenden Streitfragen zu entscheiden, ja, dass
überhaupt auf das Schriftthum aus dem 16.
Jahrhundert, besonders wie es im Kreise des
Hirsche, Prolog, z. e. n. Ausg. i. Imitatio Chr. 237
Thomas, im Kreise der Bruder des gemeinsamen
Lebens gepflegt wurde, ein neues Licht fällt
und dass namentlich auch die übrigen Schriften
des Thomas in der eingehendsten und aufheilend-
sten Weise beleuchtet werden.
Zuvörderst theilt uns der Verf. eine Reihe
von Proben mit, wie nach der Interpunction des
Thomas-Autographs die ursprüngliche Gestalt
des Textes sich ergiebt und zwar Proben aus
vier Büchern der Imitatio in aller wünschens-
werten Ausführlichkeit. Aber was sich aus
ihnen allen ergiebt, das ist denn in der That
die Ueberzeugung, nicht nur dass wir es seit
Sommalius wirklich mit einem in Verwirrung ge-
ratenen Texte zu thun gehabt haben und der
eben deshalb in diese Verwirrung geraten ist,
weil Sommalius auf die Interpunction der Tho-
mas-Handschrift ganz und gar nicht geachtet
bat, sondern in dieser Beziehung lediglich nach
seinem eigenen oft sehr unbegründeten Ermes-
sen verfahren ist, sondern auch, dass der von
dem Verf. vermutete Rhythmus und Reim in
Wahrheit rorliegt. Allerdings bekennt Ref.,
dass ihm der Verf., was den Reim betrifft, hier
und da zu weit zu gehen scheint. Die blosse
Gleichheit des Endconsonanten, z. B. eines »s«
am Ende der Silbe, bildet noch keinen Reim,
dazu dürfte unter allen Umständen doch der
Gleichklang des Vokals und zwar auch nicht
des Vokals in einer tonlosen Endsilbe, sondern
in* derjenigen Silbe des Endwortes gehören, auf
welche der letzte Ton fällt. Aber wenn denn
auch eine Anzahl von den vom Verf. als solche
angegebenen Reimen abgesetzfc werden muss,
als zum wenigsten unsicher und zweifelhaft, so
bleibt doch eine so grosse Anzahl übrig, dass
an der Absicht des Verfassers der Imitatio, in
238 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8,
Reimen zn reden, nicht gezweifelt werden kann/
zumal auch der sonstige Bau der Rede darauf
führt und es an manchen Stellen sogar ersicht-
lich ist, wie eine sonst ungewöhnliche Wortstel-
lung zu Gunsten des Reimes gewählt worden
ist. Und eben so verhält es sich mit dem
Rhythmus. Nicht zwar hat sich der Autor lin-
gers Erbauungsbuches jener strengen Gebunden-
heit befleissigt, wie sie genau nach metrischen
Gesetzen gebaute Verse uns zeigen: der Rhyth-
mus, der hier vorliegt, ist ein sich freier er-
gehender, wie auch sonst die Schriften des Tho-
mas ihn zeigen, aber doch auch kein bloss ora-
torischer, sondern ein poetischer, und bei dem
doch immer auch ein Metrum, nämlich das tro-
chäische, durchklingt; und wenn es auch ganze
Stellen in dem Buche giebt, wo es wenigstens
schwer fällt , den beabsichtigten Rhythmus
heraus zu finden, so doch auch wieder genug
andre, wo er ganz augenscheinlich und zwar als
in der Absicht des Autors liegend sich geltend
macht. Aber dies Alles führt nun doch wenig-
stens auf einen Autor in dem Kreise des Tho-
mas, und kaum auf einen anderen, als ihn
selbst, da die eigenthümliche Behandlung des
Reinis und Rhythmus, wie sie hier vorliegt,
wohl auch in anderen anerkannt ächten «Schrif-
ten des Thomas sich findet, sonst aber doch
eigentlich in der ganzen lateinischen Literatur
des Mittelalters ohne Beispiel ist. Es findet
sich, so zeigt es der Verf. in eingehendster
Weise, mit Ausnahme des Thomas von Kempen
kein Schriftsteller in der lateinischen Literatur
des Mittelalters, der »durch poetisch-rhythmische
Gestaltung der Darstellung, durch immer wie-
der sich erneuernde Durchbrechung des gewöhn-
lichen und oratorischen Prosa-Stils mit den
Hirsche, Prolog« z. e. n. Ausg« d. Imitatio Ohr. 239:
schwingenden Rhythmen der Poesie dem Ver-
fasser der Imitatio sich näher verwandt zeigte,
und namentlich von dem Kanzler Gereon muss
gesagt werden, dass seine zahlreichen Werke*
ein von der Imitatio und ihrem poetischen An-
hauch durchaus verschiedenes Gepräge zeigen,
so dass denn bei der Frage, welchem von bei-
den die Autorschaft unsers Buches zuzoschreiben
sei, die Entscheidung sich jedenfalls auf die
Seite des Thomas neigen muss. Wenn unter
den uns bekannten Schriftstellern des 15. Jahr-
hunderts einer die Imitatio geschrieben hat, so
ist es Thomas, der die meiste Anwartschaft
darauf hat, als Verfasser anerkannt zu werden,
und dem widerspricht auch nicht, dass er sich
in dem von ihm geschriebenen Exemplar nicht
geradezu als Verfasser nennt. Thomas bat sich
nur mit einem »scripsit«, nicht aber mit einem
»compilavit« unterzeichnet, und das erste be-
deutet denn freilich nur den Abschreiber; aber
auch in anerkannt ächten Werken des Thomas
unterzeichnet er sein Autograph nur mit der
zuerst genannten Formel, und unser Verf. zeigt
uns auch, mit welchem Grundsätze des Thomas
und seines Ordens dies zusammenhängt, nämlich
mit dem, überhaupt die eigene PersoiT im Ver-
borgenen zu lassen und keinen persönlichen
Ruhm zu suchen, und so würde denn das Feh-
len des »compilavit« unter dem brüsseler Auto-
graph ohne alle Bedeutung sein und keineswegs
gegen die Autorschaft des Thomas angewandt
werden können. —
So hängt die Entscheidung über die Autor-
schaft des Thomas denn nun zum grossen Theile
an der Uebereinstimmung der Imitatio hinsicht-
lich der erwähnten inneren Merkmale mit den
sonst lür äclit gehaltenen Werken des Thomas, .
240 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 8.
aber eben deshalb ist es nun nöthig, diese
Ueberein8timmung näher festzustellen und des*
halb vor allen Dingen nun weiter die Frage zu
erledigen, welche unter den dem Thomas zuge-
schriebenen Werken denn wirklich als ächte Er-
zeugnisse seines Geistes zu betrachten seien.
Es ist dies ganz besonders deshalb nöthig, weil
auch gegen manche der übrigen hierhergehöri-
gen Schriften und zwar gegen solche, auf die
es bei der gesuchten Entscheidung hauptsächlich
ankommt, da sie die oben genannten Merk-
male zeigen, von verschiedenen Seiten Beden-
ken hinsichtlich der Autorschaft des Thomas
erhoben worden sind. Und eben deshalb geht
der Verf. denn nun zunächst weiter dazu fort,
diese Bedenken zu würdigen und zu zeigen,
Was sie werth sind, nämlich dass sie in Be-
ziehung auf die Mehrzahl gerade der für den
vorliegenden Zweck wichtigsten Schriften ganz
und gar ohne Bedeutung sind und die Verfasser-
schaft des Thomas nicht zu erschüttern vermö-
gen. Nachdem er zuvörderst die bisher als von
Thomas herrührend bezeichneten Schriften, na-
mentlich die der Sommal’schen Ausgabe aufge-
zählt und auch eine Reihe anderer zeitgenössi-
scher Zeugnisse für die schriftstellerische Thä-
tigkeit des Thomas aufgeführt und ausführlich
besprochen hat, geht er zu den Zweifeln über,
wie sie von dem Franzosen Vert in seinen
»&tude8€ ( 1 856) und von dem Deutschen Mooren
in seinen »Nachrichten über Thomas von Kempis
(1855) vorgebracht sind, aber es wird da allerdings
nicht schwer, die Oberflächlichkeit und den Mangel
an aller Kritik, womit die beiden Gegner zu
Werke gegangen sind, an das Licht zu bringen.
Namentlich auch von Mooren wird* gezeigt, dass
er eigentlich ganz und gar nur grundlose Ver-
Hirsche, Prolog, z.e.n. Au sg.d. ImitatioChr. 241
mnthungen aufstellt und Dinge behauptet, von
denen bei näherer Betrachtung geradezu das
Gegentheil wahr ist oder doch keine Spur in
den in Rede stehenden Schriften sich findet, so
dass man denn allerdings zweifeln muss, ob
Mooren sich überhaupt auch nur einigermassen
eingehend mit den Werken beschäftigt habe,
über die er redet, und dass denn allerdings
seine Einwendungen eine Bedeutung durchaus
nicht haben können. # Und in demselben Lichte
des alleroberflachlichsten und eine völlige Un-
kenntniss verrathenden Geredes zeigt uns der
Yerf. dann weiterhin noch eine Anzahl anderer
Franzosen, welche den Ruhm, der Verfasser der
Imitatio zu sein, ihrem Landsmanne Gerson und
damit ihrer Nation vindiciren möchten. Diese
Partie der vorliegenden Arbeit ist voll der
schärfsten literarischen Polemik, aber sie zeigt
uns den Verf. auch als einen Mann, der die
einscblagende Literatur, namentlich auch die er*
bauliche Literatur des 15. Jahrhunderts genau
und bis auf das Titelchen studiert hat, und
wenn auch einzelne Partieen Vorkommen, die
wegen des nothwendigen Eingehens in die man*
nigfaltigsten Einzelheiten ermüdend sind, so ist
es doch auch eine Freude, zu sehen, wie auch
auf diesem Gebiete deutsche Tüchtigkeit der
grundlosen Eitelkeit der Franzosen gewachsen
ist. Besonders die Schrift de Larroque’s »Preu-
ves, que Thomas a Kempis n’a pas compose
rimitation (Paris 1862)« darf der Verf. nicht
bloss der grössten Unkunde zeihen, sondern er
zeigt auch, wie sie in Wahrheit »ein Inbegriff
der verwegensten Leichtfertigkeiten und boden-
losesten Unwahrheiten« ist, »die unter dem Vor-
geben, das Resultat der gewissenhaftesten und
unparteiischen Forschung darzubieten, im Tone
16
242 Gott, gel« Anz. 1874« Stück 8;
hochmüthiger Verhöhnung gegen diejenigen,
welche Thomas für den Verfasser der lmitatio
halten, vorgetragen werden«, und das Resultat
der ganzen Untersuchung unseres Verf. ist, dass
die Behauptungen des Franzosen geradezu in
ihr Gegentheil Umschlägen : die »trennende
Kluft«, welche angeblich zwischen den ächten
'Werken des Thomas und der lmitatio bestehen
soll, wird zur »verbindenden Brücke«, und es
ist weder ein Grund vorhanden, dem Thomas
die lmitatio, noch die ittr ähnlichen übrigen
Werke abzusprechen , jedenfalls aber ist es
nicht mehr möglich, dem Kanzler Gerson ein
Werk zuzuschreiben, das in einen wesentlich
anderen Gedankenkreis gehört, als in welchem
sich dieser bewegte, und das von der bekann-
ten Geistesart des Kanzlers durchaus sich unter-
scheidet.
Den Beweis, dass an der Aechtheit der übri-
gen Hauptwerke des Thomas nicht zu zweifeln
ist, sowie den anderen, dass die bisherigen Be-
denken, eine Uebereinstimmung zwischen diesen
und der lmitatio ihren characteristischen Merk-
malen nach anzunehmen , unbegründet seien,
hat der Verf. in schlagender Weise erbracht;
aber eben so dagegen dann auch weiter noch
den, dass eine Anzahl von Schriften , angeblich
aus dem 15. Jahrhundert, welche man neuer-
dings dem Thomas hat zuschreiben wollen und
die ein wesentlich anderes schriftstellerisches
Gepräge zeigen, als die lmitatio, dem Thomas
nicht vindicirt werden dürfen. Es sind dies
drei Schriften, weiche in der zweiten Hälfte un-
sere Jahrhunderts publicirt worden sind, näm-
lich 1) Alphabetum Fidelium auctore pioThoma
Malleoli etc. , herausgegeben von d’Angl&rs
(Paris 1837), 2) Thomae a Kempis Capita quin-
Hirsche, Prolog, z. e. n. Ausg. d. Imitatio Chr. 243
decim inedita etc., herausgegeben von J. F. E«
Meyer (Lübeck 1845) and 3) Liber qaidam se*
cundus tractatus de imitatione Christi, heraus-
gegeben von Th. A. Liebner (Göttingen 1842),
aber keine von diesen drei Schriften kann die
Probe bestehen. Die erste ist wohl kaum für
etwas Anderes, als für eine Fälschung gröbster
Art zu halten, mit der vielleicht der Heraus*
geber selbst betrogen ist, die aber eben wieder
die Leichtfertigkeit characterisirt, welche unser
Verf. auch sonst bei französischen Schriftstellern
hat aufdecken müssen. Aber auch die beiden
anderen sind nur sehr irrthümlicher Weise dem
Thomas zugeschrieben worden, wenn dieser Irr-
thum auch bei den Herausgebern wegen allge-
mein vorhandenen Mangels an kritischem Appa-
rat entschuldigt werden darf. In Betreff der
Schrift Nr. 2, nach einem Manuscripte der Gym-
nasial-Bibliothek zu Eutin pnblicirt, zeigt der
Verf., dass wir es da nicht etwa, wie der
Herausgeber gemeint, mit einem ersten Entwürfe
der Imitatio zu thun haben, sondern mit einer
späteren »aus subjectiven Gesichtspuncten her-
vorgegangenen Bearbeitung des gewöhnlichen
Textesc von fremder Hand; und was Nr. 3 an-
geht, so ist es eine Freude, zu sehen, wie der
Verf. durch eine Vergleichung der von Liebner
edirteü Quedlinburger Handschrift mit vier an-*
deren Handschriften desselben Werkes nicht nur
nachweist, dass Thomas nicht der Autor sein
kann, sondern es auch wenigstens wahrschein-
lich macht, dass diese Schrift ein Werk des
Harthäusers Galcar sei, des Mannes, dem »vor
allen Anderen das Verdienst gebührt, durch
Beine Mahnungen und Unterweisungen die Wen-
dung in dem Leben Gerhard Groot’s her-
beigeführt zu haben, welche ihn zu seiner spä-
16*
244 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 8.
teren grossartigen reformatorischen Thätigkeit
vorbereitete« und zur Stiftung der Genossen-
schaft führte, der Thomas a Kempis als eins
ihrer bedeutendsten Glieder angehörte. Wäre
dies wirklich so, wie unser Verf. vermuthet,
und Ref. sieht nicht, was dagegen spräche,
dann hätten wir in der von Liebner edirten
Schrift denn freilich ein Werk von grossem
geschichtliche^ Interesse, und dann würde viel«
leicht eine neue Ausgabe mit den Verbesserun-
gen erwünscht sein , welche der Liebner’sche
Text augenscheinlich bedarf.
Mit diesen kritischen Auseinandersetzungen
schlie88t der vorliegende Band, und der nächste
soll zunächst eine eingehende Vergleichung der
Imit&tio mit den übrigen Schriften des Thomas
bringen, die der ersteren verwandt sind, um zu
zeigen , dass wir es hier mit durchaus congenia-
len Werken zu thun haben und um die Frage
nach dem Verfasser der Imitatio zur Spruch-
reife zu führen. Ref. bekennt, auf diese weite-
ren Mittbeilungen in hohem Grade gespannt zu
sein, und fasst sein Urthfeil zum Schlüsse dahin
zusammen, dass wir es hier mit einer reichen
Ausbeute wissenschaftlichen Fleisses zu thun ha-
ben und dass diese Schrift wie auf die Werke
des Thomas, so auch auf die Literatur des 15.
Jahrhunderts und selbst des ganzen Mittelalters
ein in vieler Beziehung neues Licht wirft.
> F. Brandes.
_ ♦
de Tassy, La Langue et la Litterat. Hindoust. 245
La Langue et la Litterature Hindoustanies
en 1873. Revue annuelle par M. Ga rein
de Tassy, Membre de l’Institut etc. Paris.
Librairie Orientale de Maisonneuve et C1#- 1874.
86 Seiten Grossoctav.
Auf meine voijährige Anzeige (GGA. 1873
S. 261 ff.) fiber die rubricirte Publication mich
beziehend, fahre ich fort, einige der wichtigsten
und anziehendsten Angaben aus dem heurigen
Berichte mitzutheilen, dem zweiundzwanzigsten!
den der berühmte Orientalist erscheinen lässt.
Wie immer, ersehen wir auch jetzt wieder, dass
in Indien der Kampf zwischen Hindustani
(Urdu) und Hindi, zwischen persischer Schrift
und Devanagari noch immer lebhaft fortgeführt
wird, obwohl Tassy an seiner Ueberzeugung
von dem endlichen Siege des ersteren uner-
schütterlich festbält, welche auch von Beames,
dem Verfasser der vortrefflichen Comparative
Grammar of the modern Aryan Languages ge-
theilt wird, der unter anderm sagt: »Das so
klare, einfache, liebliche, geschmeidige Urdu,
worin man alles mit Leichtigkeit ausdrücken
kann und das schon jetzt die lingua franca
eines grossen Theils von Vorderindien abgiebt,
auch bei den europäischen Gebietern des Lan-
des in besonderer Gunst steht, dürfte wohl
dazu bestimmt sein, früher oder später die mei-
sten, wenn nicht alle Provinzialdialekte zu be-
seitigen und dem ganzen arischen Indien
eine homogene und gebildete Sprache zu ver-
leihen. Der englischen Regierung scheint frei-
lich an dieser dereinstigen Spracheinheit ihrer
indischen Besitzungen nicht viel zu liegen; denn
sie legt der Entwickelung einer solchen , wie
man aus verschiedenen, Massnahmen ersieht,
246 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8.
mancherlei Schwierigkeiten in den Weg, wenn
sie auch sonst die Ausbildung des einheimischen
Schriftenthums sich angelegen sein lässt und in
dem Schuljahre 1872 — 3 neunundzwanzig der
besten hindustanischen Werke durch öffentliche
Belohnung ausgezeichnet hat. Von diesen sind
acht der Sittenlehre gewidmet, zwei dem Unter-
richt im allgemeinen, zwei dem der Frauen,
zwei der Mathematik, zwei der Sternkunde,
zwei der Physik, zwei der schönen Literatur,
vier der Geographie und Geschichte, eines der
Gesundheitslehre und eines der Naturgeschichte;
drei dieser Werke sind aus dem Englischen,
zwei aus dem Sanscrit und eins aus dem Persi-
schen übersetzt , die übrigen sind Original-
arbeiten. Im nächsten Jahre sollen fünf Preise,
jeder von tausend Rupien (ä 20 Groschen) ver-
theilt werden. Auch die eigentliche National-
literatür erfreut sich fortgesetzter Pflege und
die zahlreich erscheinenden Diwans (Gedicht-
sammlungen) gemessen andauernder Gunst. Von
sonstigen Werken sind noch bemerkenswerth der
in Lahore zu drucken begonnene Tafsir-i Curän
von dem Molläh Seid Imad-Ali, der erste eigent-
liche Commentar des Korans auf Urdu, so wie
ein Bericht der bekannten Begum von Bhopal
über ihre Rundreise in ihren Staaten zum
Zweck der Verbesserung der Verwaltung dersel-
ben gleichfalls auf Urdu, in welcher Sprache
sie auch bereits früher ihre Pilgerfahrt nach
Mekka beschrieben hatte. Unter den Hindi-
werken nennt man mit besonderm Lobe eine
»Vollständige Abhandlung über alle in Indien
gebrauchten Arzneimittel« , so wie den dritten
und letzten Theil der Geschichte von Indien
Itihäs. tinir nagak (Geschichte , welche die Un-
wissenheit vernichtet), von dem Babu Siva-
de Tassy, La Langue et la Litterat. Hindoust. 247
pra$ad zu Benares nach indischen Quellen und
mit Benutzung der europäischen Kritik. Auf
Urdu wieder^erschien ubter den Auspicien der
Abtheilung für den öffentlichen Unterricht im
Pendschab der zweite Band der Geschichte In-
diens von dem Mollah Muhammad Hassein.
Auch eine im Juni v. J. verstorbene berühmte
Dichterin aus Madras wird angeführt; sie war
die Tochter einer eingeborenen Christin und
übertrug mehrere Stellen des neuen Testaments
in Urduverse, in welcher Sprache sie auch an-
dere Dichtungen verfasste. Der Curiosität we-
gen erwähne ich, dass unter dem Titel »Die
Moral Gottes« (Aschla^-i Bari) der Mollah
Schivah Dayal Singh eine arabische Grammatik
hat erscheinen lassen, die sehr ausführlich und
nicht minder schätzbar sein soll. Eine der
wichtigsten Unternehmungen jedoch ist die be-
gonnene Herausgabe der berühmten Reimchro-
nik, welche im eilften Jahrh. n. Chr. noch vor
der muselmännischen Eroberung von dem Bar-
den (bardai) Tschand in der alten Hindisprache
verfasst wurde und den Titel führt PritM-rajä
Ragau »Geschichte des Prithi-Raja« (Königs
von Ajmir und Delhi, geb. 1050 n. Chr.). Mit
dieser wichtigen Arbeit ist der oben genannte
Indianist Beames betraut worden, der bereits
den ersten Gesang hat erscheinen lassen; er
umfasst 66 Seiten und das ganze Werk enthält
69 Gesänge, von denen einige stärker sind als
der erste. Auch bei Tschand wie bei vielen an-
dern der berühmtesten Hindudicbter finden sich
bereits persische und arabische Ausdrücke in
stehendem Gebrauch, und man kann also, wie
Beames bemerkt, unmöglich einräumen, dass es
je ein Hindi ohne Beimischung von Wörtern je-
ner Sprachen gegeben habe. Ein gleich gross-
248 Gott» gel. Anz. 1874. Stack 8.
artiges Unternehmen, wie das berührte, ist die
von der Gelehrtengesellschaft zu Lahore be-
schlossene Herausgabe des vollständigen Granth
der Sikhs durch Dr. Trumpp. — Was das in-
dische Theater betrifft, so hat Tassv die ge-
legentliche Aufführung alter Sanscritaramen in
der Originalspracbe oder in Uebersetzung be-
reits mehrmals erwähnt; jetzt jedoch existirt
sogar ein stehendes Nationaltheater zu Calcutta
mit einem regelrechten Orchester einheimischer
Instrumente, wobei jedoch die Frauenrollen
durch Jünglinge gespielt werden. In einem der
Stücke will ein alter Brahmane , der Vater
zweier jungen Wittwen, sich wieder verheirathen,
und zwar mit einer Frau aus einer niedrigen
Kaste; auch haben seine Töchter gegen dieses
liberale Projekt trotz der Missheirat nichts wei-
ter einzuwenden, als dass sie eben vor einer
Stiefmutter Furcht habep; schliesslich jedoch
nach mancherlei Zwischenfällen giebt der Brah-
mane seine Absicht auf. Seine Töchter haben
inzwischen (was man kaum erwarten sollte) die
von den Engländern erwirkte Aufhebung der
Sutti schwer beklagt, da diese ihrer Ansicht
nach viel besser ist als der Wittwenstand, eine
Ansicht, die sich übrigens unter den Hindu-
wittwen vielfach wiederfindet. So z. B. wollten
sich unlängst beim Tode des Baja von Judhpur
ein Dutzend seiner Wittwen und viele Concu-
binen desselben durchaus mitverbrennen lassen;
allein zu ihrem grössten Missvergnügen (wie die
Zeitungen meldeten) gestattete der durch die
europäischen Ideen »verdorbene« neue Baja ih-
nen dies nicht und die Schönen mussten wider
ihren Willen leben bleiben. Ausserordentlicher
noch ist der folgende Fall. Vor kurzem starb
nämlich zu Tamara in Tonk ein Brahmane und
de Tasay, La Langne et la Litterai Hindoust. 349
die durchaus auf der Sutti beharrende Frau
wurde auf Veranstaltung der Regierung streng
bewacht. Trotzdem aber fand sie Mittel zu
entkommen, und schon war sie nahe daran, sich .
auf den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Ehe-
genossen zu stürzen, als ein gegenwärtiger
Muselmann sie bei der Hand ergriff und fest-
hielt. Da geri^th sie in den grössten Zorn,
hob den andern Arm zum Himmel empor und
rief aus: »0 Bhagavat, dieser Bösewicht will
mich ungerechterweise meiner Tugend berauben
und mich hindern, meinem Gatten zu folgen!
Vergilt ihm seine Missethat, und da du mein
Opfer billigst, so gestatte auch meine Wieder-
vereinigung mit meinem Manne!« Bei diesen
Worten sank sie leblos zu Boden und erlangte
so was sie wünschte (Panjabi vom 14. Juni
1873). — Was die Journale betrifft, so be-
stehen nicht bloss viele von Eingeborenen heraus-
gegebene englische Blätter, welche von Tausen-
den der dieser Sprache kundigen Landesbewoh-
ner der obern und mittlern Klassen gelesen wer-
den, sondern fast jede irgend bedeutende Stadt
hat ihr Localblatt in der Landessprache. In
den nordwestlichen Provinzen erscheinen achtzig
Blätter ein- oder zweimal wöchentlich ; in Oude
allein 25 auf Urdu mit 5709 Abonnenten und
es tauchen dort und anderwärts immer neue
auf. Von den bereits vorhandenen sind Tassv
34 bekannt geworden, die er sämmtlich namhaft
macht und charakterisirt und unter denen ich
besonders den Tahäb ulahläc (Die Sittenreform)
mit dem englischen Nebentitel »Mohammedan
social Reformer« hervorhebe, den der Moliah
Seid Ahmad Khan seit seiner Rückkehr aus
Europa (1870) auf Urdu zu Aligarh herausgiebt
und worin die Grundsätze einer sich mit dem
250 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 8.
Namen ihrer Zeitschrift nennenden Reformge-
sellschaft verfochten werden, zu der die ange-
sehensten Mitglieder der liberalen Schule des
hindostanischen Islams gehören. — Was den
öffentlichen Unterricht in den Staatsschulen be-
trifft, so gewinnt er von Jahr zu Jahr an Aus-
dehnung, sogar auch unter dem weiblichen Ge-
schlecht, obwol die höhern Klassen desselben
den Privatunterricht in den Zanänas (Harems)
vorziehen. In Bengalen empfingen denselben in
dem Schuljahre 1871 — 72 fünfzehnhundert weib-
liche Zöglinge, meist Frauen und Töchter der
in den Regierungs- oder Missionsschulen unter-
richteten Eingeborenen. Besonders sind es die
Muselmänner, welche sich zu unterrichten stre-
ben, so dass z. B. in Oude deren 13,918 auf
40,355 Hinduschüler kamen, obwohl jene kaum
ein Zehntheil der Bevölkerung bilden. In die-
ser Provinz hatte die Regierung in dem ge-
nannten Jahre 233,343 Rupien auf die Schüler
aller Grade verwandt, in denen man, was die
Sprachen belangt , Urdu,* Hindi , Persisch und
Englisch lehrt. In der Residentschaft Bombay
war in derselben Zeit die Zahl der Schulen um
640, die der Zöglinge um 28,187 gewachsen;
auf eine Bevölkerung von vierzehn Millionen ka-
men 3676 Unterrichtsanstalten mit 198,970 Zög-
lingen. Ueberhaupt wurden seit dem J. 1870
die Regierungsschulen in ganz Indien jährlich
von einer Million Zöglingen besucht, was aller-
dings eine bedeutende Zahl ist, wenn man be-
denkt, dass dreiviertel der eingeborenen Bevöl-
kerung zu arm ist, um ihre Kinder entbehren
und in die Schule schicken zu können. Noch
ist zu erwähnen, dass der Bahradja von Bal-
rampur beschlossen hat, zur Errichtung einer
xnedicinischen Schule bei dem Balrampur-Hospi-
de Tassy, La Langue et la Litterat. Hindoust. 25 t
tal zu Luknow einen jährlichen Zuschuss von
12,000 Rupien beizusteuern , und dass zwei
junge Muselmänner aus den angesehensten Fa-
milien an der medicinischen Schule zu Hydera-
bad glänzend promovirt haben, woselbst der Mi-
nister des Nizara ihnen in feierlicher Sitzung
am 14. Februar 1873 das Doctordiplom über-
reichte. In Bareilly hat sogar ein eingeborener
muhamedanischer Bankier eine medicinische
Schule für Frauen gegründet, an der ein Eng-
länder, Dr. Corbyn, die Chirurgie lehrt. Ander-
wärts sind von den Muhamedanern auch ohne
Zuthun der Regierung sogar Seminare zur Aus-
bildung von Lehrerinnen gestiftet worden. —
Die öffentlichen Bibliotheken sind gleichfalls in
steter Zunahme begriffen; in der Präsidentschaft
Bombay giebt es deren jetzt 116; zu Benares
haben einige vornehme Eingeborene eine solche
errichtet, und der Maharadja von Vizianagram
6000 Rupien (15.000 Franken) dazu beigetragen.
— Auch die Zahl der gelehrten Gesellschaften
nimmt unter den Muhamedanern wie unter
den Hindus fortwährend zu. Gleiches ist in
Betreff der hinduischen Reformpartei Brama
Samaj der Fall, von der schon im vorigen Jah-
resbericht die Rede war und die bereits in Ben-
galen, Bombay, im Penjab, Oude und Madras
Tempel und Tausende von Anhängern zählt.
Dass die orthodoxen Hindus gegen diese Re-
formbewegung mit aller Macht ankämpfen, ver-
steht sich von selbst; sie behaupten, dass ein
guter Hindu ein wahrer Christ sei, wenn er
auch nicht an die Persönlichkeit Christi glaube,
und in einer ihrer Controversschriften steht so-
gar zu lesen, dass Christus die Hindus vor
Augen hatte, als er sprach: »Viele werden
kommen vom Morgen und mit Abraham und
252 G8tt. gel. Abz. 1874. Stück 8.
Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen«.
(Matth. 8, 11). Hatte nun wohl Werenfels Un-
recht, als er sein berühmtes Distichon auf die
Bibel verfasste: »Hic liber est in quo quaerit
sua dogmata quisque — Invenit et pariter dog-
mata quisque sua«? — Gelegentlich der christ-
lichen Missionsgesellschaften erfahren wir, dass
sich unter den Eingeborenen Vorderindiens un-
gefähr eine Million Katholiken finden und im
J. 1872 die Bekenner anderer christlicher Con-
fessionen sich auf 318,363 beliefen (darunter
8000 zur Berliner Mission gehörige). Auch die
Bekehrungen von Hindus zum Islam sind fort-
während sehr zahlreich , und ganz besonders
bemerkenswerth ist die des Raja von Radjgarh,
der mit allen seinen Unterthanen zu demselben
übergetreten ist. In Bangalore hat sich sogar
eine muhamedanische Gesellschaft gebildet, nicht
nur zur Vertheidigung ihrer Religion gegen die
Missionare, sondern auch zu ihrer Verbreitung
unter den Christen. Controversschriften von aller-
lei Art werden gewechselt, und die muhamedani-
schen Vorkämpfer suchen die von ihren Geg-
nern gelehrten Doctrinen aus den christlichen
Schriften selbst zu widerlegen. Der Panjabi
vom 14. Juni v. J. bemerkt in der Besprechung
einer Schrift des grossen Controversisten Moliah
Seid Muhammad Abu’lmansur , welche gegen
das Werk zweier christlicher Missionare gerich-
tet ist: »Dieselben behaupten mit Unrecht, dass
unter den muhamedanischen Secten deren acht
Gott , vierzehn den Propheten , fünfzehn den
Koran läugnen und also ganz ausserhalb der
muhamedanischen Religion stehen. Dagegen hat
der Mollah nachgewiesen, dass es achtundaoh-
zig christliche Secten giebt und von diesen
sechs den heiligen Geist, fünfundzwanzig die
de Tassy, La Langue et Ja Litterat. Hindoust. 253
Gottheit Christi, acht dessen Krenzignng und
sechszebn die Inspiration des alten so wie des
neuen Testamentes läugnen, diese fünfundsechzig
Secten auch unter einander verschieden sind.
Der Verfasser beweist seine Behauptungen durch
zahlreiche, in verschiedenen Sprachen abgefasste
Werke von anerkannter Autorität, die er unter
genauer Angabe des Titels, des Jahres und des
Druckortes nach Seite und Zeile anführt, was
seine Gegner unterlassen haben«. So weit der
hindustanische Referent ; und ein berühmter
muhamedani8cher Prediger, der Mollah Hadschi
Muhammad Siradscbuddin hat neulich in Bom-
bay sich mit solchem Erfolg hören lassen, dass
in Folge dessen drei Europäer zum Islam über-
getreten sind, so wie auch ein anderer vorneh-
mer Engländer, der stellvertretende Commissar
von Sirsah, den gleichen Schritt gethan, wozu
ihn freilich eine Heirath veranlasst haben soll.
Heirathen wirken allerdings Wunder und so
haben im vorigen Jahre sechs englische Damen,
und unter diesen zwei Töchter eines Obersten,
sich mit Parsis vermählt. — Der Jahresbericht
schliesst wie gewöhnlich mit einer Nekrologie,
aus der ich nur den Tod eines deutschen Ge-
lehrten, Heinrich Kurtz's in Aarau, hervorhebe,
und zwar deswegen, weil letzterer in Deutsch-
land wohl nur sehr Wenigen als Orientalist, da-
gegen in viel weitern Kreisen als tüchtiger Li-
terarhistoriker bekannt war.
Hiermit verlassen wir dankbar die Mitthei-
lungen des ausgezeichneten Veteranen, der in
diesem Jahre, irre ich nicht, seinen achtzigsten
Geburtstag feiern wird, und drücken zugleich
den Wunsch aus, dass es ihm vergönnt sein
möge, dieselben noch manches Jahr zu wiederholen.
Lüttich. Felix Liebrecht.
254 Göti gel. Anz. 1874. Stack 8.
Charitas Pirckheimer, Aebtissin von
St. Clara zu Nürnberg. Von Franz Binder.
Freiburg i. Br. Herdersche Verlagsbuchhand-
lung 1873. 196 SS. in 8°.
%
Es würde ungerecht sein zu glauben, dass
diese Schrift, die einem in einzelnen Bändchen
erscheinenden Sammelwerke: Sammlung histori-
scher Bildnisse, Zweite Serie, II, angehört, das
nur der Schilderung katholischer Männer und
Frauen gewidmet ist und in seiner Darstellung
sich an das grosse Publikum wendet, keine Er-
wähnung in einem gelehrten Blatte verdiene.
Vielmehr ist in vorliegendem Buche die Schreib-
weise eine solche, die sich von confessioneller
Einseitigkeit möglichst fern zu halten sucht* die
Darstellung einfach und geschmackvoll, die Be-
arbeitung mit umsichtigster Benutzung der vor-
handenen älteren und neueren Literatur und mit
gründlichster Berücksichtigung der Quellen, ja
selbst Benutzung bisher noch ungedruckter, in
der Nürnberger Stadtbibliothek aut bewahrter
Briefe ausgeführt, so dass das Buch sich sehr zu
seinem Vortheil von den zahlreichen Publika-
tionen ähnlicher Art unterscheidet.
Auf die würdige Frau, welcher diese Schrift
gewidmet ist, ist schon einmal in diesen Bll.
(1871 St. 51 S. 1039 fl.), bei Besprechung einer
Dissertation Loose’s, hingewiesen und auch ge-
zeigt worden, dass trotz mancher Vorarbeiten
und Einzelleistungen eine angemessene Biographie
der Aebtissin des Claraklosters noch vermisst
wird. Diese Lücke ist nun in ausreichendster
Weise ausgefüllt. Denn die vorliegende Schrift
wird der zu Schildernden nach allen Beziehungen
gerecht.
In einer Einleitung werden einige Bemerkun-
Binder, Charitas Pirckheimer. 255
gen über Charitas Pirckheimer und ihr Geschlecht,
ihre Vaterstadt und ihre Zeit gegeben, dann in
einzelnen Capiteln (unter den Ueberschriften:
Bei St. Clara ; die neue Aebtissin, die Geschwi-
ster; die Freunde in der Stadt und im Reich;
die Tage des Kampfes; die Märztage 1Ö25; Ver-
handlungen mit dem Pfleger; die Passionszeit
der Clarh'Sinnen ; Rückblick; das Jubiläum der
Aebtissin ; letzte Lebensjahre) alle Lebensverhält-
nisse eingehend und anschaulich geschildert.
Angehängt sind dann Anmerkungen und Beleg-
stellen, die in durchaus genügender Weise für
jeden Punkt der Darstellung die Quellen angeben«
Besonders rühmend hervorzuheben ist noch
die geschmackvolle Uebertragung der vielfach
mitgetheilten Briefe, vor Allem einer von Celtis
an Charitas gerichteten schönen Ode (S. 74 fg.);
vermisst wird ein Capitel, in welchem der Verf.
in zusammenhängender Weise über Charitas als
Schriftstellerin spräche, wie sie nicht nur in den
Briefen, an ihren Bruder Willibald,' den berühm-
testen Träger des Pirckheimerschen Namens,
an Dürer, Scheurl, Celtis, Hieronymus Focher,
ein Brief, der bekanntlich zu vielfachen unge-
rechtfertigten Schmähungen der Aebtissin An-
lass gegeben hat, u. A., sondern namentlich in
den von Höfler herausgegebenen Denkwürdig-
keiten der hochberühmten Cb. P. (Bamberg
1852) sich zeigt.
Das eigentlich Neue, das in der Darstellung
geboten wird, liegt in der Schilderung des Con-
flicts, welchen Charitas als Vorsteherin ihres
Klosters in dem ersten Jahrzehnt der Reforma-
tion mit den Stadtbehörden Nürnbergs hatte,
welche, eifrig der neuen Lehre ergeben, in einer
selbst von eifrig protestantischen Geschichts-
schreibern nicht gebilligten Weise von den
256 Gott, gel. Anz. 1874. Stück 8.
Klosterfrauen sofortigen Austritt oder Annahme
des evangelischen Bekenntnisses verlangten, ein-
zelne Töchter angesehener Bürger sogar gewalt-
sam dem Kloster entrissen. Als Quelle dieses
Abschnittes, in welchem besonders das Auftreten
Melanchthons, dem, z. Th. nach ungedruckten
Berichten, eine eingehende Schilderung zu Theii
wird, höchst merkwürdig ist, haben die eben
erwähnten Denkwürdigkeiten, welche den frühe-
ren Biographen unzugänglich gewesen waren,
und die Briefe der Clara P., einer jüngeren
Schwester der Charitas, welche einen regen Brief-
wechsel mit ihrem Bruder Wilibald unterhielt,
Vorgelegen.
Auch die beiden letzten Abschnitte, welche
die Feier des seltenen Festes, der fünfundzwan-
zigjährigen Amtsdauer der Aebtissin, und ihre
letzten Lebenstage schildern, sind nach Briefen,
die entweder vor wenigen Jahren gedruckt und
daher noch für keine Schilderung benutzt wor-
den waren oder noch unbenutzt in Bibliotheken
lagen, gearbeitet und darum doppelt werthvoll.
Für die Beurtheilung des Nürnberger Predi-
gers Andreas Osiander hätte die Biographie von
Möller (Elberfeld 1870) benutzt und dadurch
das Urtheil über denselben, das mir etwas zu
hart erscheint, modificirt werden können. Diese
Beurtheilung und einzelne wenige andere Stellen S.
133, 193, 44 sind Zeichen der streng katholischen
Gesinnung des Verfassers, die, im Allgemeinen
dem wissenschaftlichen Werth der Schrift kei-
nen Eintrag thuend, einzelne zu starke Aus-
drücke hervorgerufen hat.
Berlin. Ludwig Geiger.
857
GStt in gische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 9. 4. März 1874.
Der Mönch von Montaudon, ein pro*
venzalischer Troubadour. Sein Leben und seine
Gedichte, bearbeitet und erläutert mit Benutzung
uuedirter Texte aus den vaticanischen Hand*
Schriften Nr. 3206, 3207, 3208 und 5232, so
wie der Estensischen Handschrift in Modena*
von Emil Philippson. Halle a. 8. 1873.
Lippert’sche Buchhandlung (M. Niemeyer). 99
SS. 8.
Es hat in den letzten Jahren eine erfreu-
liche Regsamkeit auf dem Felde der provenza-
lischen Lyrik sich kund gegeben; eine Anzahl
Ton Troubadours sind mit mehr oder weniger
günstigem Erfolge zum Gegenstände besonde-
rer Behandlung gemacht worden; so Folquet
de Lunel von Eichelkraut, Jaufre Rudel von
Stimming, Bernart de Ventadorn von Bischoff.
In diese Reihe gehört auch die vorliegende Be-
arbeitung des Mönchs von Montaudon. Die* Aus-
gabe beginnt mit einer Darstellung des Lebeds
des originellen Mannes (S. 1 — 3), dessen Klo*-
ster Montaudon S. 3 als (Berg des Aldufci’
17
258 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 9.
gedeutet wird. I n “der Tb at weist die Form
Montaldon, die in einer Reihe yon Hss. vor-
^onynt, darauf hin, dass u aus l aufgelöst ist;
aber nicht Aldus ist als Namensform anzu*
setzen, sondern Aldo, gen. Aldonis; es ist der
deutsche Name Aldo (Förstemann, altd. Namen-
buch I, 45), zu dem als Femin. Aida (Förste-
manp I, 45 f.) gehört, der Name, den Rolands
Braut Aide , Aude trägt. Befremden kann es,
dass die provengalische Biographie, auf -der doch
zunächst unsre Kenntniss des Lebens des Mön-
ches beruht , in die im übrigen vollständige
Ausgabe nicht aufgenommen ist.
Für die Lieder stand dem Herausgeber ein
ziemlich umfassender kritischer Apparat zu .Ge-
bote, wenngleich derselbe, wie ein Blick auf
meinen Grundriss S. 163 L zeigt, keineswegs
vollständig ist. Eine Ausbeutung der noch na*
benutzten Pariser Handschriften (so. weit sie
nicht durch Publication anderer zugänglich wa-
ren),; ist auf einen späteren Nachtrag versobo*
ben. Man kann bedauern, dass dieselben nicht
schon jetzt herangezogen worden sind, zumal
da sich ergibt, dass der kritische Gewinn doch
nicht so ganz unbedeutendest In der Bezeich-
nung der Handschriften hat der Herausgeber
eich mir angeschlossen, in den Lesarten folgt
er hauptsächlich der Classe, die durch AB DIR
vertreten ist, und stellt als kritischen Grundsatz
auf: die Lesart der genannten Hss. ist aufge-
nommen, und nur wo sie unter rinander variL
reu oder einige mit den Lesarten der anderen
Classe (hauptsächlich GR} stimmen, ist von
ihnen ahgewioiven. Gelegentlich wird .him: auf
die Nothwendigkeit und das W ünBchenswerthe
einer Classificirung der Hsa : bfogewiesem Ohne
Zweifel ist diese Arbeit eine grundlegende Vor*
arbeit für alle derartigen kritischen Versuche;
i
Philipp«©!*, Der Mooch von Montaudon. 259
sie kann aber rinr gemacht werden von dem,
dear sämmtliche Handschriften . verglichen bati
and nicht bloss für einen oder ein paar Dich«*
ter. Denn es stellt sich heraus, dass nicht im-
mer dieselben Handschriften bei dem einen
Dichter stimmen, die bei dem andern zoaem*
mentreften, ja selbst bei den Liedern eines und
desselben Dichters ist die Harmonie der glei->
chen Hs 8« nicht durchgängig. Der Grund da-
von liegt in der Entstehung der Liederhand-
schriften aus einzelnen kleinen Liederbüchern;
eine Entstehungsart, die bei manchen Hss. wie
B noch ganz besonders deutlich ist. Die Unter*
Buchung muss also vom einzelnen Dichter be*
ginnen, für jeden einzelnen besonders gemacht
werden, und dazu eignen sich Specialausgaben
ganz besonders. Im Allgemeinen wird man die
Richtigkeit jenes kritischen Grundsatzes zugeben,
und es wird darauf ankommen, inwieweit der
Herausgeber ihm treu geblieben ist. Auch dass
er sich das Recht der Conjecturalkritik wahrt,
ist ganz in der Ordnung.
ln der Schreibung der Texte schliesst sich
Ph. der Orthographie von AB DI an, und setzt
demgemäss durchgängig ill für Ih , ign für nh;
auch in Liedern, welche nur in G sich finden, -
hat er diese Schreibung durchgeführt. Allein
dann hätte dies auch auf andere Punkte aus-
gedehnt werden müssen. Es war dann II, 7.
XX, 3 nicht cfcma, sondern dotnna zu schreiben ;
die Schreibungen mit y, rey7 vey (XV, 17 — 19.
XVI, 32) waren in i zu verwandeln ; auch das
spätere y für inlautendes (croyas XVI, 18;
guayeea XX, 1) in j zu ändern. Ferner musste
XV, 10 so das bs. erquelh nicht in ergoitt, son-
dern in orgoill verwandelt werden, , wie II, 54
ergülhos nicht in erguiUos , sondern in org&iUo &
17*
260 Gött. gel. Anz. 1874. 'Stück 9«
Da cä, wo es aus et entstanden, durchaus in
it verwandelt worden ist, so durfte coichos XII,
84 nicht bleiben, sondern musste coitos ge*
schrieben werden. Auch war, der Zeit des
Mönches entsprechend, nicht uo mpuosc, luoc ,
nicht ieu in sieu, tnieu , nicht iei etc« zu setzen.
In XIX, wo ihm der Text meiner Chrestomathie
vorlag, steht auch überall das richtige; auch
durchgängig enoja , während in XVI — XVIII
enueja gesetzt ist. In der Behandlung des in-*
lautenden j zeigt sich keine Consequenz; meist
schreibt er richtig, so enoja, enueja , enojar
XIII, 21, majer I, 60, ajatz XV, *55; cuja XVI,
11, j oelej* XH, 20 (== Chrestom., aber daneben
soräeiate statt sordejatz X; 28. Unrichtig ist
die theil weise Behandlung des v, deslivrar VIII,
8. 10 muss desliurar geschrieben werden, der
bekannte Dichter heisst nicht Arnaut de Mer-
voill X, 49, sondern Maroill, die Schreibung
MeruoiU in A. meint kein v , sondern hier steht
ebenso wie in den andern Beimworten uo für
o, was DL auch wirklich, und richtig, haben.
Die Anmerkungen sind theils erklärender,
theils die gewählte Lesart rechtfertigender Art;
ausserdem enthalten sie, was sehr zu loben,
eine Darlegung des Gedankenganges der einzel*
nen Lieder, und Bemerkungen über den strophi«
sehen Bau. Aus den 'letzteren allerdings ist
nicht viel zu lernen, sie haben auch in solcher
Vereinzelung keinen Werth , sondern können
ihn nur durch zusammenhängende Forschung
auf dem ganzen Gebiete erhalten. So hätte bei
L. XIV darauf hingewiesen werden müssen, dass
die Strophenform desselben eine uralte volks-
inässige sei, die in verschiedenen Variationen
bei den Troubadours wie in der altfranzösischen
Lyrik vorkommt: vgl. Jahrbuch XII, 8— 6. Es
Philippsön, Der Mönch von Montaudon. 261
würde aas solcher Betrachung sich auch ergeben
haben, dass der Wechsel des Refränreims im
zweiten Theile des Gedichtes (welcher Refrän-
reim übrigens nicht, wie S. 88 angegeben ist,
bis Str. 8, sondern bis Str. 9 inclus. durch*
geht) sicherlich nicht das ursprüngliche ist. Ich
glaube daher, dass die Strophen von V. 46 an
(S. 44) bis zum Schlüsse nicht vom Mönch von
Montaudon herrühren , sondern Zusatz eines
Andern sind, wenigstens diejenigen, die im Re-
* fränreim abweichen. Dazu kommt, dass in
diesen Schlussstrophen auch sprachlich einiges
auffallende begegnet ; die Participialformen
anei , charzi V. 81, 82, an denen der Heraus-
geber gar keinen Anstoss genommen zu haben
scheint, und die unrichtige Betonung compressun
(: an) V. 88 haben nichts analoges in den ech-
ten Liedern. In gleicher Weise hätte die sel-
tene Versform des XV. Liedes (8. 46) ein-
gehender als S. 93 geschieht, besprochen zu
werden verdient. Ich habe davon ebenfalls
Jahrbuch XII, 12 ff. gehandelt. Wenn übrigens
S. 93 meine Vergleichung des Versmasses die-
ses Gedichtes mit dem einer Balade in meinen
Denkmälern gerügt wird, so ist das völlig un-
begründet. Habe ich denn von gleicher Stro-
phenform gesprochen ? Ich behauptete die
Gleichheit des Versmasses und das behaupte
ich auch jetzt. Schreibt man mit der, wie ich
Slaube, richtigeren Versabtheilung die Strophe
er Balade so:
Ailas! que farai? e voletz m’aucire?
c’ab un dous esgar m’avetz dat consire,
e faitz gran peoat quar tan greu martire
mi faitz esparar, sius tenetz tan.cara,
so frage ich, worin der Unterschied dieses Vers-
massea von dem des Mönchs in den Versen
262 Gott« gel. Anz. 1874. Stück 9.
Manen 8 escomes lo frairi premiers,
. per ergoill d’aver quar si sent sobriers.
- fräiris, dis manens, trop vob faitz parliera
besteht. Denn dass die Reime beim Mönche
nur männlich sind, die Cäsuren zwischen männ-
lichem und weiblichem Ausgange wechseln,
macht doch so wenig einen Unterschied der
Versgattung aus, wie dieselben Eigenschaften in
dem zehnsilbigen epischen Verse. Auf welcher
Seite also das ‘Irren’ ist, wird Hr. Pb. jetzt
wohl einsehen. Ich f&ge den im Jahrb. gege- ’
benen Belegen noch eine zweite Balade hinzu,
die in meiner Gbrestom. 237 gedruckt ist. Hier
sind ebenfalls vier solcher Zeilen zu einer
Strophe verbunden:
Qu’eu non trob conseil s’eu de li non l’ai;
per qu’eu joinchas mas denant li venrai,
prejant humilment, quant far o poirai,
quem ‘facha socors sevalsd’un dolz bai.
■, In Bezug auf die Anordnung der Verse ist
als auflällig noch zu bemerken, dass die Zehn~
silbler mit einem Spatium nach der Casur ge*
druckt sind. Ich kann das nicht billigen; denn
rückt man bei reimloser Gäsur ab , welches
Mittel der Bezeichnung bleibt dann, um innere
Reime kenntlich zu machen? Hier ist das Ab-
rucken am Platze; beim gewöhnlichen Zehn silb-
ler um so weniger, als ja in der Lyrik keines-
wegs wie im Epos die Gäsur eine ganz fest-
stehende ist, sondern, wenn auch selten, ihre
Stelle wechselt. Ein paarmal ist übrigens, wohl
durch Versehen, die Cäsur falsch gesetzt: so
I, 38. II, 27. VH, 49.
In Bezug auf Echtheit und Unechtheit der
Lieder hätte es sich empfohlen, die zweifelhaf-
ten in einen Anhang zu stellen. Es handelt
sich hier um die Echtheit der Lieder VII— -IX
Philippscm , Der Mönch von JCentaudon. 283
und des SirventeS XI, die in verschiedenem Grade
angefochien werden kann. Ich babe VII (Ades
m plus viu tnais apren) in meinem Grundriss
S. 138 Gui von Uisel zugetheilt* dem CH PB
das Lied beilegen, während AIKd es dem
Mönch . yon zuschreiben. Zunächst ist . zu
beachten, dass AIKd nur Handschriften einer
Klasse sind, die Zeugen für Gtti dagegen ver-
schiedenen KUssen angehören; die Ueberein**
Stimmung verschiedener Klassen aber ist in sol-
chem Falle ebenso wie bei der einzelnen Les-
art von grosser Bedeutung* Auch ist der
ganze 8til nichts* weniger als der des' Mönchs;
ein Gedanke wie in V* 15 • dass Gesang
nichts taugt, wenn .er nicht von Liebe eingege*
ben ist, liegt gar nicht in seinem Charakter«
Auch der Stropbenbau, achtsilbige Verse, denen
am Schlüsse ein Beixnpaar von Zehnsilblern hei-r
gefugt ist, bat nichts analoges bei iheou
Bei VIII iBt : die Autorschaft des Mönchs
ebensowenig gesichert« D*IK nennen $eren*
guier von Palazol, - 0; Guillem von Berguedan,
E Guillem. Magret, f Aimeric de Belenoi, das
Register von C und R endlich; den Mönch als
Verfasser. DaIK haben hier allerdings nur den
Werth einer Hs., aber ebenso R und Register
von C, denn R ist eine der Quellen, die selbst
oder deren Vorlage von C benutzt, wurde. Es
kommt also auf andere Gründe an: Pb. macht
den Vergleich» im Eingänge geltend ; allein Lie-
der, die .mit Vergleichen und den Worten
jiissi com beginnen, sind auch sonst sehr häu-
fig, ich kenne mehr als 20 Lieder, die diesen
Anfang haben. Es lag nahe gerade dem Mönche»
bei dem die Vergleiche im Eingang verhältniss-
mässig am häufigsten sipd, ein solches Lied,
das namenlos überliefert sich fand, beizulegen«
264 Gött. gd. Anz. 1874. Stück 9.
Stil und Strophenbau (Zehnsilbler, am Schlüsse
der Strophe zwei achtsilbige Verse) sind hier
ebenso wie bei VII gegen den Mönch. Bei Nr.
IX erkennt der Herausgeber selbst an, dass die
Autorschaft des Mönchs auf schwachen Füssen
steht (Da gegen HIKd); warum also, muss
man fragen, ist das Lied überhaupt aufgenom*
men, und wie kommt Ph. dann dazu, unter den
Maria von Ventadom gewidmeten Liebescanzonen
auch Nr. IX anzufuhren (S. 5), wenn dies Lied
eben nicht von ihm ist? Auch bei XI gibt der
Herausgeber zu, dass die Zeugenschaft von CR
gegen A DIE, die es Gausbert von Poidbot
beilegen, nicht viel wiegt; und doch steht
dies Sirventes mitten unter den unzweifelhaft
echten I
In Bezug auf Autorschaft hatte auch bei den
entschieden echten Liedern erwähnt werden
müssen, wo etwa einzelne Hss. einen andern
Verfasser nennen; so war bei I zu erwähnen,
dass P dies Lied Raimon Jordan beilegt, um
so mehr, als diese Hs* mit benutzt ist; II steht
in N unter dem Namen von Arnaut deMaroill;
IV in ü unter Cadenet.
Gehen wir nun zu der Kritik der einzelnen
Lieder über. I, 3 ist bei den Varianten über-
sehen, dass E statt ni mes liest ni fes ; 12, dass
E ebenfalls gran paar hat; 54, dass auch D
las follas liest. Wichtiger ist, dass V. 70 — 72
keineswegs in E fehlen, wie in dem Abdruck
bei Mahn der Fall ist, sondern in ES
(ausserdem in C) sich finden. — V. 58 ist die
aufgenommene Lesart quar genser eie e plus
fresca color (aus E), sicherlich nicht die echte;
sie hätte wenigstens die Nachbesserung de plus
f. c. verlangt. Die Lesart von S e de major
honor, und U maior honors wird aber1 gestützt
Philippsön, Der Mönch tod Montaudon. 285
durch CDEM, welche e de major honor (valor
M) haben. — V. 60 ist zunächst unrichtig als
Lesart yon E angegeben d m. prez, während E
bat d mager bes; prez ist Lesart Yon S. Die
Nominative sind hier ebenso anstössig wie in
V. 58 M hat hier wie V. 58 das richtige, den
Genetiv; die richtige Lesart wird die Ton 0
sein: dds mayors bes , de las majors beutatz. —
V. 65 ist, wie der Herausgeber S. 57 bemerkt,
die Reimbindung gestört , 65 muss auf . . en
reimen. Der Fehler ist übrigens alt, denn er
steht gemeinsam in EIKMU; ihn vermeiden C
und S auf verschiedene Weise, was freilich
nicht beweist, dass ihre Lesart die echte ist.
Diese kann verloren sein, und CS enthalten
zwei Besserungsversuche des wahrgenommenen
Fehlers. Für die Echtheit der Strophe spricht
übrigens ihr Vorkommen in verschiedenen Hand*«
Schriftenklassen. — V. 70 — 72 ist der Lesart
von S gefolgt, da der Text von E, bei Mahn
fehlend, demnach auch Ph. unbekannt war; V.
70 und 72 erfahren durch CE eine Verände-
rung: 70 qfu’om ms n’aperceubes, und 72 ses cor
que ja re no vos en (no von E) dieses. Aber
auch wer nur S vor sich hatte, durfte die un-
provenzalische Form nus für nuls nicht stehen
lassen. Das zweite Geleit, welches nur S hat,
ist wegen der persönlichen Beziehungen doch
wohl nicht anzuzweifeln; auch hier war die
Schreibung von S mehrfach zu ändern : 73
VAvergnatz in VÄlvergnatz, Ih Petaus in Peitaus,
76 Vans für Van zu schreiben; denn wenn in
77 das hs. nesci in nesds verändert wurde,
musste das nomin. Zeichen auch hier gesetzt
werden.
Das zweite Lied ist uns nur in C erhalten:
hier hat der Herausgeber von der Conjectural*
366. Gott. geh Abe. 1874. Stückifl.
Kritik einen zu freien Gebrauch gwnRCht. So
igt V. 6 o plait in ab plait geändert Es ist
aber zu ' verbinden per far bm acofdier o plait
d’atnor, et ieu fauc atretal. plait d’amor bedeu-
tet ‘gütliche Beilegung’ und ist synonym: mit
hon aeordier, im Gegensatz zu plait mal e soo*
brier, in V. 1; et steht am Anfänge des Nach-
satzes wie oft. — V. 8 ist pregui in preguei ver-
ändert; auch das ist unnöthig, Und die Bemer-
kung auf S. 60» die diese Aenderung rechtferti-
gen soll, dass die an sich schon ‘ungewöhnliche’
Form pregui vor dem vokalisch anlautenden et
kaum zu dulden sei, ganz irrig; denn wir wer-
den sehen, dass der Mönch den Hiatns unbe-
denklich duldet, und auch Ph’s Text hat ihn
mehrfach sonst. — V. 11 de lai in de lei zu
ändern ist gar kein Grund vorhanden; de lai on
bedeutet ‘von der Seite her wo’ d. h, von Sei-
ten derjenigen , bei welcher. Ebenso steht en
tal be don VI, 2. 3, gleichfalls mit Bezug auf
die Geliebte, de tod loc don X, 40, wie bei Ber-
nart de Yentadorn (Chrestom. 50, 9) quant eu
parti de lai, von dort, wo die Geliebte, ist d. h.
von ihr. — V. 12 ist die Aenderung noch stär-
ker. Die Hs. überliefert mos pua de re ng la
prec ni l’enguier , quem en val drege, ni que
vatic plus languen, pus etc. . Ph. schreibt tnas
per que ges no li prec* Die hs. Lesart gibt
gang guten Sinn : was nützt mir mein Recht,
da ich sie um nichts bitte? und warum
also schmachte ich noch länger, da sie mir doch
kein Unrecht thut etc. Eine unnöthige ortho-
sranbische Aen ierung ist tont für tan der Hs,
in Vi . 16. während quatt V. 26 unangetastet
blieb. V. 17 muss geschrieben werden qu’ill
not honre, dass sie ihn .nicht ehre. — Eine un-
nötige Aenderung findet sich ferner in V. 25,
Philippaon, Der Mönch von Montaudon. 26t
wo die Hs. liest per dim, sim feme , que guess
im n/i<m dizen, que re nom fcdU ; Pb. schreibt
stn fauc, quez ieu eis vau dizen que re nom faül,
und übersetzt ‘so verfahre ich in Bezug darauf,
dass ich Belbst (mir) immer wieder und wieder
sage’. Allein fmc vertritt hier wie so häufig
das vorausgehende Verbum; vorausgeht e co*
nose be que fdl sen e Imgier cd sfcib aitan nom
m tenc per manen , ‘ich bin ein Thor, wenn ich
damit mich nicht für reich haltet Nun fährt
er fort: ‘Bei Gott, so thue (= halte) ich mich,
was immer ich auch sagen möge, denn nichts
fehlt mir’ etc. — Wieder überflüssig ist die
Aenderung von non Vms in noül aus V. 27,
da derDat. des Femin. des pron. conjoint auch
li, angelehnt l, lautet. — Falsch ist V. 32 ge«
schrieben s’ill camge mas razos statt sil (*= si
U ), ‘wenn ich ihr meine Bede ändere’. — > Eine
ebenso starke wie verkehrte Aenderung findet
sich V. 46. Die Hs. liest V. 45 f. e tenra vos
per son mortal guerrier: e non (wen mais de
guna gen. Die erste Zeile schliesst sich an die
vorige Strophe an, in der gesagt war, dass
herzliche Liebe von den Frauen mit Schlechtem
vergolten wird. ‘Sie (die von euch geliebtb
Frau) wird euch für ihren Todfeind halten.
Und das kommt doch sonst nirgend auf der
Welt vor9. Denn nehmt, fährt er fort, einen
Juden oder Sarrazenen oder Wucherer, wenn
ihr ihn liebt, er wird euch wieder lieben9. Was
ist da zu ändern? Aber Herr Ph. schreibt'
statt e non aven — et omJauzcm (!}. Auch in
den folgenden Zeilen ebenso unberechtigte Ver-
änderungen ; V. 50 qu'el mens nous am die Hs.,
‘dass er (der Jude, Sarrazene, Wucherer) euch
nicht lieben sollte (Ph. schreibt qu'itt mais ncl
am ), com que sia de Val , ‘wie es auch im übr**
268 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 9.
gen stehen möge' (PI*, com que sia de mal), e
nous n’aja solatz plus cominal ‘und dass er
euch nicht deswegen freundlicher sei’ (Ph. e
noü n’aja). Aenderungen, die sich durch eine
Reihe von Versen hinziehen, sind immer bedenk-
lich, hier aber gänzlich verkehrt. V. 52 steht
in der Hs. nous o tenra a be, ‘wird es (dass
ihr sie liebt) euch nicht als Gutes anrechnen';
Ph. ändert ohne jeden Grund o in lo. Ob dig-
rams V. 5? (2silbig gelesen) provenzalisch
möglich i6t, bezweifle ich sehr; es wird zu le-
sen sein, wenn man dir aus nicht beibehalten
will, e dirai vos per que. In der Schlusszeile
(V. 55) ist überliefert que Vamassetz mais d? autre
qu’mc fos , um eine Silbe zu kurz. Ph. schreibt
ePautra que anc fos; ich glaube, einfacher als
die doppelte Aenderung ist d’autra^ re qu’anc
fos ; in der Vorlage stand dauere quanc fos , der
Schreiber übersah das Abkürzungszeichen für ro.
In Nr. III ist bei den Lesarten ubersehen,
dass V. 8 in D fehlt, und dass diese Hs. V.
34 statt e liest o. Die grösste kritische Schwie-
rigkeit machen hier die Verse 43 — 45. Hier
folgt der Herausgeber der Lesart von U, also
der schlechteste^ Hs., gegen ABD, und, will
ich hinzufügen, auch gegen C G I K R , also ge-
gen Handschriften ganz verschiedener Klassen.
Sehen wir uns die aufgenommene Lesart an,
so bietet sie zu grossen Bedenken Anlass.
Dass es V. 43. 44 tods nescies ni tods voters
heissen müsste, versteht sich von selbst, ist
aber hier unerheblich; aber sehr anstössig ist
ai omat de fes (= de fe), das durch den Ver-
weis auf merces (IV/ 36) kaum gerechtfertigt
wird und wo sicherlich nicht, wie S. 69 ge-
schieht, das s als Rest des d (» s) in fidem
betrachtet werden darf, Noch anstössiger ist
Philippson, Der Mönch tob Mantaudon. 989
tes cor felos im Heime der letzten Zeile; denn
die Verweisung auf Honnorat hilft nichts, da
wahrscheinlich Honnorat die oblique Form def
plor. felos irrig für rin adj. auf oa (ostu) ge-
nommen hat; es musste also erst ein besserer
Beweis beigebracht werden als die Stelle hier
in U. Die erwähnten Verse (43 — 45) stehen in
unverkennbarem kritischem Zusammenhänge mit
V. 52 — 54; auch hier schlisset, sich Pb. der
Lesart von U, daneben S an. Vergleicht man
abpr die andern Hss., so sieht man leicht, dass
zunächst V. 53 ein Fabrikat des Schreibers von
S ist, denn diese Zeile fehlt in ABDGIK, C
hat leeren Baum dafür gelassen', B wiederholt
aus Strophe 5, U endlich setzt wie S einen
Vers eigner Erfindung hinein. Daraus geht
hervor , dass schon die Originalhandschrift
lückenhaft war, und dass wir durch nichts be-
rechtigt 6ind, den Ergänzungsrersnoh junger
und schlechter Handschriften in den Text auf-»
zunehmen. Das . Geleit, welches sicher ebenso
echt «ist, wie, das von S in Nr. I, und .ebenfalls
auf den Grafen von Angouleme sich bezieht, steht
nnr . in C, Pb. bat es aus. Rayn. entnommen;
aber er durfte nicht dl pros comte schreiben,
sondern musste pro setzen. LuneiUs in den
Schlusszeile ist falsche Schreibung; allerdings
setzt C Lunelhs, aber C schreibt auch elh (ille),
belh, belha (bellum, bella), wo die alten Hss.
nur l kennen ; so ist auch hier Lwnels zu setzen.
ln Nr. IV ist als kritischer Grundsatz zu
betrachten, dass die Uebereinstimmung von IB,
welche verschiedenen Klassen angehören, ent-
scheidet. V. 4 gehen die Lesarten auseinander:
I hat quela sap, RU quela sap be, S gar il sap
be, C qucar elä sap; he fehlt also in CI. Es ist
aus der Zusammenstellung ersichtlich, dass die
270 . Gott. get. Auk. 1674. Stack 9.
originale Lesart war que da sap; der Hiatus
veranlasst« tbeils die Verwandlung von que in
quar (G S), theils die Hinznfugnng von be (RSU).
— Den gleichen Hiatus zeigt V. 8 per que ten
chant, wo CSD daher andern: C per qtter*
chant, S per que m’esforts, U e per so chant. —
Auch V. 15 können wir das gleiche beobachten :
die echte Lesart war hier que en un loc, welche
RO hier bewahrt haben; CS setzen e qu’en un
loc , I quxen un sei loc: e und sol sind; interpo-
liert. — Noch an einer vierten Stelle scheint
mir der Hiatus beseitigt: hier haben IS penri’eu
eissamen ; dagegen EU, was in den Lesarten
nicht angegeben ist, penria eissamen, auch G
liest so, und mir ist nicht zweifelhaft, dass die
Einschiebung des Pronomens durch den Hiat
veranlasst wurde. — Endlich erklären sich auch
V, 49 die abweichenden Lesarten durch das
Streben, den Hiatus zu beseitigen. ABR ha-
ben richtig: mas quant de vos, que en cor vos
meets, dagegen DFI mos de vos domna, qu’en
cor v. m •
Auch in Nr. V muss die Uebereinstimmung
von Hss. verschiedener Klassen entscheiden. V.
16 ließt nicht bloss I que für qu’ieu, sondern
auch, was nicht angegeben ist, DR, und, will
ich hinzufügen, auch G; es stehen also AB
gegenüber DI CR; die Entscheidung muss
daher für letztere ausf&llen. Ebenso verhält es
sich mit dem folgenden Worte hi (es ihr), wo-
für nur AB loü; i steht in diesem Falle für
den Dativ des Pronomens. — In V. 19 f. eine
Anspielung auf eine uns unbekannte Thatsache
zu erblicken ist ganz unbegründet. Der Dich-
ter sagt: 4ch fürchte, wenn ich mich erkläre^
ihre Huld zu verlieren; geschieht das, dann
braucht sich kein Priester um mich zu be-
Philipp&n, Der Mooch von Montau&n. 47 1'
mühen (um wir die letzte Oelurig *zu geben) f
denn er würde mich nicht mehr am Leben tref*
fen\ ich würde auf der Stelle sterben.
Nr. IV* 13 ist von der Lesart aller Hss. ab«'
gewichen, wieder ohne Noth. Die Hss, haben
li la sua gram ricors va&- tni noil äessovonta o
fne letn forses amors (Ph. equdl ntfn f. ö.),
4 wenn sie ihren hohen Adel mir gegenüber nicht
vergäsee, und zwar dass die Liebe sie dazu
zwänge’. — Zn V. 32 f. führen die Anmerkun-
gen Sl 86 die Uebersetzung von Raynonard ‘par
amour da paiefroi, dbnfc ainsi eile me iaissft
descendre” an and halten sie, wie es scheint;
für richtig. Sie ist es aber nicht, man muss
übersetzen ‘von welchem sie sich mir (in meine
Arme) herabgleiten liess’. Die uns ‘unbekannte
Thatsaebe’ besteht also darin, dass sie beim
Absteigen sieb von dem Mönche helfen liess
und er dabei das * Glück hatte, sie vorüber«
gehend im Arme 7zu halten. — Wie diese Stelle,
so sind die folgenden Verse vom Herausgeber
gänzlich missverstanden und falsch interpretiert
worden. Er schreibt
doncs noi ac pro al mieu par*
non. qu’amors fai l’uzurier,
qu’ades on mais a, plus quier ;
für non que schlägt er S. 66 f. vor mos que nnd
erklärt: ‘da gab es kein dem meinen gleiches
Glück, nur dass die Liebe den Wucherer spielt,
welcher, je mehr er hat, desto mehr verlangt’.
Es ist aber zu schreiben:
doncs noi ac pro? ai mieu par
non, qu’amors fai l’uzurier etc.
‘War es damit (mit dieser Ounst) nicht genug?
Noch meinem. Bedünken nein, denn Liebe- spielt
den Wucherer’* etc. — . V. 42 ist wieder ohne
Grund von der Hs» abgewichen ; dieselbe bat
272 Qött. gfll. Anz. 1874. Stück 9.
allerdings nicht, wie Mahn angibt, mcdegret,
sondern nudegrd; es ist also zu lesen m’ale-
gr’d sieu voter ‘ich erfreue mich in ihrem An-
blick’. Das von Ph. gesetzte m’aiegrcd sieu vo-
ter legt die unrichtige Form statt eiern veters
hier dem Dichter unnöthig zur Last, wenn
wir auch sehen werden , dass Verletzungen
der Grammatik bei ihm Vorkommen. Statt len
in der folgenden Zeile würde ich nicht leu, son-
dern ben schreiben. — V. 52 , wiederum ganz
überflüssige Aenderung: ‘es gibt auf Erden kei-
nen Herzog und König, um . dessen sämmtliche
Lehen ich nicht ihr (der Geliebten) Haus ver-
tauschen würde, wenn • es mein wäre’ ( lo sieu
ostaL, s’ era miens) : Ph. setzt eü sieus ostals fora
tmeus.
Zu VU bemerke ich nur, dass nach dan
(V. 18) natürlich ein Semikolon stehen muss und
dass V. 63 statt vos zu lesen ist fos.
In dem Sirventes auf die gleichzeitigen Trou-
badours (Nr. X) ist V. 7 die Lesart aller Hand-
schriften, ausser AL, lo primiers es, also CMB
4- D1K, sie wird also wohl die echte sein. Die
drei letzten Zeilen dieser Strophe erkläre ich
anders als S. 74 geschieht: ‘aber weil er den
Gegenstand seiner Sehnsucht nicht verlangt, so
will ich sein Geschäft nicht haben, .denn er
wird (oder: man wird dabei) sohlecht aufgenom-
men’. Auch V. 40 |f. erkläre ich anders: ‘er
dichtet seine Lieder über eine solohe Stelle, wo
er nicht allein, sondern mit 80 Genossen ist’,
wobei de teil loc auf die von ihm besungene
Dame (die sich also wahrscheinlich nicht des
besten Bufes erfreute) ebenso geht wie in VI,
2 (vgl. oben zu H, 11). — In V. 46 f. weicht
der Herausgeber von A ab, ebenso von AL V.
76 f.), und rechtfertigt dies in den Anmerkungen.
I
Philippsüll , Der Mönch von Montaudon. 273
Aber wenn die beiden Hss. (mp. A allein) hier
so offenbare .Fehler haben, dann verdienen ne
überhaupt nicht den Vorzug, der A hier gege~
ben ist, wenigstens nicht gegenüber der Har-
monie vonD mit Raynouards Texte, der haupt-»
sächlich G folgt. — V. 54 ist mcüles nicht ‘bes-
8er’, sondern (mehr’, wie das altdeutsche baz
auch beides bedeutet. — V. 80 fehlt En in A
([auch GR) ganz mit Recht, denn Moyses wird
immer dreisilbig gebraucht. Wenn übrigens
Raynouard diesen Guillem als ‘Marquis’ bezeich-
net, so beruht das auf der Lesart von G. —
V. 84 haben wir wieder einen Fall von besei-
tigtem Hiatus: die echte Lesart war donzels
vteäls barba ab lonc gren , wo barba in absolu-
ter Construction steht ‘einen Bart habend’, we-
gen des Hiatus und vielleicht auch wegen der
Construction schreibt A barbutz für barba; D
I barbag lonc gren, und fügen vorn con hinzu;
R lässt ab aus; M entfernt sich am meisten
und schreibt (=k Rayn.) ez es veils ab barb 9 ez
ab gren . — V. 103 — 106 müssen, wie die Reime
beweisen, in zwei Geleite von je zwei Zeilen
zerlegt werden.
XI, 6 haben CI übereinstimmend si tu ver
dir en (direm G) sofers; da sie verschiedenen
Classen angehören, werden wir dieser Lesart
den Vorzug geben müssen, auch R hat dieselbe.
Der gleiche Fall kehrt V. 26 wieder, wo GDIR
haben pois tan gram paubr eirat sec; paubreitatz,
wie A hat, (sollte nicht paubreiratz stehen?), ist
nicht einmal eine richtige Form.
XU, 4 halte ich die Lesart tot auch jetzt
noch für die richtige, denn es ist. Neutrum,
näher erläutert in der folgenden Zeile.
In XIII fehlt bei den Lesarten die Angabe^
dass nach V. 15 in A sich Raum für eine Zeile
18
2T4 G m. geK Anz. 1874: Stück ft.
findet; V. 34 hat A nicht sin lets, sondern*
sintetz. V. 47 ist statt qu’el wähl za keen
quel; V. 68 statt mais 1. mas.
XIV, 23 hat nicht nur D, sondern alle Hs».
cPiütraSj und ganz richtig; es ist terras zu er*
ganzen» — V. 48 muss statt ae gelesen werden -
am. Bemerkt hätte werden sollen , das» diese'
zehnte Strophe, die nur in D (IK) steht, nn->
vollständig abbricht, so dass wenigstens zwei
Zeilen fehlen. Offenbar wurde sie von den
Schreibern als Geleit aufgefasst und daher mit
der nächsten Strophe ein neues Gedicht be-
gonnen.
Im zweiten TheiJe V 13 f. hat der Heraus*
gober sich von den Hss. mehrfach entfernt; ich
glaube nicht, dass etwas zu ändern ist ‘e vos
smblatz majestcA Ae pont . de faissos, cant röbe-
gatZy 4hr scheint am Anssehen gleich einer
Brückeninajestät (d. h. einem auf der Bräche
stehenden Heiligenbilde), wenn ihr euch roth
schminkt9. V. 22 sehe ich auch keinen Grund
esfachatz auf rua zu beziehen, und deshalb la
rua in lo ron zu vor ändern-» -*• Y. 28 halte ich
für besser statt so zu schreiben r'o. — V. 59
las ich in I tirant carton (D ctrton) ; freilich
ist auch damit noch nichts anzufangen. Viel-
leicht ist die fehlende Silbe durch plus vor ti-
rant zu ergänzen* — Y. 68 lese ich statt c&n-
vers ~~ oonques ( : es) und erkläre es als Ab-
leitung von conca (es ense), lo irieül conques,
‘das alte Gehäuse9.
XY, 3 ist unnöthig geändert; mesdos de
temo , gerathen mit einander in Streit, ist ganz
unanstössig. — Auch Y. 7 ist nichts zu ändern,
nur muss man in der folgenden Zeile -die weg«
geschnittene Silbe* nicht durch as sondern
durch la ergänzen : ‘nicht wird ihre Gesellschaft;
Philippsbn, Der Mönch tob Sföntaudon. 275
eine Zeit? grosser Liebe haben", d. ft. sie wer-
den sich bald veruneinigen. Warum steht statt
lor in Z. 8 die jüngere Form lur, die doch G
hier gar nicht hat? — V. 10 zieht man per
ergoitt <Faver besser zur vorigen Zeile und inter-
pangiert vor quar . — V. 38 ist avers in (wer
za verändern, denn dass es singul. ist, beweist
das lo der folgenden Zeile. — V. 63 schreibt der
Heniusg. cuidatz statt des hs. atjatr, während
er XVI, 1 1 ctt/tt beibehält. — V. 55 trifft die
Ergänzung non nicht das Richtige: pensarias
hm que vos sen ajatz, qui nous conoissia wird
za lesen sein : ‘man könnte denken, dass ihr
Verstand habt, wenn man euch nicht kennte’,
j — Die letzte (8.) Strophe ist vielmehr in zwei
j Geleite zu zerlegen , von denen jedem der
Sprechenden eins zufällt. Daraus erklärt sich
auch, dass nur zwei Langzeilen statt drei
stehen; daher ist nach V. 58 und 62 keine
Lücke anzunebmen. — V. 61 muss ebenso wie
in andern Fällen die Form frairis gesetzt wer-
den; V. 62 würde ich nicht tot streichen, son-
dern schreiben en dreit d’amor.
XVI, 28 ist die* var. leet. falsch angegeben ;
die in den Text gesetzte Lesart ist die von C,
E aber liest m’encja e tirop cobeitos. Letzterer
Lesart ist unbedingt der Vorzug zu geben; die
Einschiebnng von hom in G ist wieder durch
den Hiatus veranlasst. — V. 27 statt enuegos
ist mvejos zu lesen; denn abgesehen davon, dass
die Zusammenstellung von cel qui es trop en -
ugos m’enucja ziemlich abgeschmackt wäre, wei-
sen auch die Worte hom trqp retenens (V. 28)
auf invidiosus, neidisch, hin. Auch ist zu be-
merken, das» in der unbetonten mittleren Silbe-
nicht Diphthongierung' eintreten kann, sondern
18*
/
276 Gott, gel. Anz. 1874. Stttck 9.
das Wort nur enojos oder (jiinger) emyos lau-
ten kann.
XVII, 2. Die . Aenderung von enuqja in
enuejan ist überflüssig; es kann recht gut bei
nachfolgendem Plural das Verbum im Singular
Stehen. Auch in V. 6 ist' so der Hs. unnöthig
in cd verwandelt. — V. 12 hat allerdings der
Mahn’8che Abdruck estar, allein schon der Sinn
musste diese Lesart anstössig erscheinen lassen ;
die Anmerkungen gehen über die Stelle still-
schweigend hinweg. Die Hs. hat aber das rich-
tige escas für estar. — V. 15 hat die Aende-
rung der Schreibung tracher in traire den
Herausgeber zu einem metrischen Fehler veran-
lasst; denn traire ist immer dreisilbig, wie die
Stellen im Lex. Rom. 5, 397 beweisen. Es ist
also tradier nicht zu verändern. — V. 19 ist
die Ausdrucksweise vai fen en ta via , wobei die
Präposition en Ergänzung ist, nicht gut proven-
zalisch; die fehlende Silbe ist besser zu ergän-
zen, indem man schreibt messatgier, vai t’en ,
\ten] ta via, wodurch sich auch der Ausfall auf
die natürlichste Weise erklärt.
In XVIII geben die Hss. allerdings die Stro-
pheneintheilung in der vom Herausgeber befolg-
ten Weise; allein es ist zu beachten, dass von
den sechs* Strophen drei weiblichen, drei männ-
lichen Reim haben, und dass die mit männli-
chem Reime alle drei anfangen mit et enuejam ,
die mit weiblichem mit Be (Molt 3) m’enueja.
Daraus ergiebt sich mit grosser Wahrschein-
lichkeit, dass die sechs Strophen sich in drei
gliedern, deren zweiter Theil immer mit et e -
nuejam anfängt und männlichen Reim hat. Den
ganz gleichen Fall haben wir in XIX, wo jeder
zweite Theil der Strophe gleichfalls männlichen
Reim bat (während der erste weiblichen) und
Philippson , Der Mönch von Montaudon. 277
regelmässig mit et enojam beginnt. Man braucht
daher nur Str. 4 und 5 umzustellen, dann ist
alle6 in Ordnung. — V. 11 ist raubaire nicht
gegen die Hss. (auch E liest so) in ranbador zu
verwandeln; manen steht des Keimes wegen für
rnnens, wie XIX, 61 dezacort für dezacortz im
Reime steht,, und umgekehrt XVIII, 1 u. 3, XIX,
46 die Nominativformen salvaire, predicaire für
die obliquen Formen Salvador , predicador . — V.
20 ist peills wiederum eine falsche Bezeichnung
für pelhs in C, die jüngere Form für pels. —
V. 28 ist statt o' ten zu lesen aten (von alendre.
Denn wenn auch der Beim ten (tenet) auf:
-men nicht ganz unerhört ist, so hat er doch
beim Mönch v. M. nichts analoges. — Nach
V. 33 muss eine Lücke von einem Verse ange-
nommen werden, nicht nur wegen der gleichen
Yerszahl der übrigen Strophen, sondern auch
weil niemals et enuejam in zwei unmittelbar auf
einanderfolgenden Versen vorkomm t.
XIX, 3 8tösst die von Tobler vorgeschlagene
und von Pb. aufgenommene Aenderung auf zu
grosse kritische Bedenken, um bestehen zu kön-
nen. C hat emtr 9 assire, die übrigen, DIK -f- R
autr* andre , also Hss. verschiedener Klassen,
die Lesart von C (aus welcher T. aut assire
macht) kann daher nur als eine Conjectur be-
trachtet werden. — V. 39 ist gegen meine Er-
klärung von cazerna eingewendet, dass die ‘alte
Hure’ schon V. 31 dagewesen sei; allein auch
V. 65 kehrt vdlla gazals wieder. Das wäre
also kein Beweis; mir ist die Erklärung ‘Sol-
datenhütte’ deswegen anstössig gewesen, weil
dann schwerlich ab, sondern en stehen würde;
denn ab kann kaum bedeuten ‘in der Nähe von*.
Auch ist bedenklich , dass bei der Toblerschen
Erklärung in der folgenden Zeile gegen alle Hss.
278 Öött, gel. Anz. 1874. Stick 9.
me in m’en geändert werden soll. Dazu kommt,
dass die Lesart cum für ab in DI gleichfalls auf
eine Person, nicht auf eine Oertlichkeit weist.
Mag man daher dem unerklärten gaierna in DI
oder der Lesart caserna den Vorzug geben, im-
mer wird man in dem Worte eine Person su-
chen müssen. Auch in V. 42 kann ich die
künstliche Aenderung Toblers nicht billigen; ee
wird hier vielmehr besser der Lesart von DIK
zu folgen sein, und man lese daher:
et enojam, quar m’es de fer,
avols horn qu’a bella m oilier
e per gelosia la fer,
e fai o ben qui la enquer,
e no lo lais per marit fer.
In XX hat man nicht nöthig, am Schlüsse
eine Lücke anzunehmen; diese letzte Strophe ist
als Geleit aufzufassen, das in diesem Falle, da
jede Strophe neue Reime hat, sich nicht an die
Reime der letzten Strophe anschliesst; derselbe
Fall wie in XV (s. S. 275). *
In XXI fehlt offenbar der 1. und 5. Zeile
eine Silbe; denn es ist ganz unglaublich, dass
zwischen die Achtsilbler ganz willkürlich zwei
siebensilbige Verse eingerückt sein sollten. Man
wird daher zu lesen haben si aguessets und ni
nous auria tant honrat .
Nicht zu loben ist die grosse Zahl von Druck-
fehlern auf den 46 Seiten Text: ich habe mir
folgende angemerkt. I, 61 1. ab statt ob; 66 I.
enques st. enquer; I, 70 s’ieu; II, 19 E für Et;
II, 73 Punkt hinter vos ist zu tilgen; III, 19 1.
qu’el für qu’al; 26 nach el ein Komma; IV, 6 1.
chaueimen; VI, 24 1. nien für men; 40 aquesf
f. aquest; VII, 59 1. chausitz; 63 L fos f. vos;
VIII, 2 1. ses f. s' es; IX, 36 L dons' f. dous;
X, 9 1. chantat f. ckantar (?) ; 4Q 1. sos für ses;
Necrdißkt Medicinskt Arkir. 279
52 1 not f. nel; 68 L d’mtrm t d’a/utriu ; 71
IN f. JP; XII, 24 ein Punkt; 42 fehlt ein
Komma; XIII, T 1. fant L font ; 27 1. la f, ja;
33 fehlt Komma nach seigner; XXI, 4 1. tanf
f. tmt.
Wenn wir von den juvenil raschen Urtheilen
in manchen Punkten absehen wollen, so hätten
wir namentlich die Neigung, der Conjecturallust
die Zügel acbiessen zu lassen , und die Nicht-
beachtung der aufgestellten kritischen Grund-
sätze auszusetzen. Uebrigens zweifeln wir nicht,
dass Hr. Pb. bei fortgesetztem Studium und
grösserer Reife recht trefiliohea auf dem pro*
renzalischen Gebiete leisten wird.
Heidelberg K. Bartsch»
0
Nordiskt Medicinkt Arkiv under medverican
af Dr. G. Asp, Prof. Dr. J. A. Estländer, Prof.
Dr. 0. Hjelfc, i Helsingfors. — - Prof. Dr. H. Hei-
berg, Prof. Dr. J. Nicolaysen, Prof. Dr» E. Winge,
i Kristiania. — Prof. Dr. P. L Paüum, Prof.
Dr. C. Rehz, pir. F. Trier, i Köbenhavn. —
Prof. Dr. G. Ask, Prof. Dr. G. Naumann, Adj.
Dr. V. Odenius, i Lund. - — Adj. Dr. B. Bruze-
lius, E. o. Prof. Dr. C. RoBsamder, E. o. Prof.
Dr. E. Oedmansson, i Stockholm. — Adj. Dft
J. Björken, Prof. Dr. P. Hedeniue, Prof. Dr. Fr.
Helmgren, i Upsäla. Redigerat af Dr. Axel
Key, Prof, i Patolog. Anat. i Stockholm. Femte
Bandet. Med 10 Tailor och 10 Träsnitt. 1878.
Stockholm. Samson & Wallin.
Die hervorragende Bedeutung des Nord. Med.
Ark* ergiebt fcich auch aus deui eben abgeschlos1*
*
280 Gott, gel* Adz. 1874. Stick 9.
senen fünften Bande, welcher sich wie die frühe-
ren Jahrgänge durch Reichhaltigkeit, Mannig-
faltigkeit und Gediegenheit des Inhalts auszeich-
net. Ueber die hauptsächlichsten Aufsätze,
welche sich darin finden, möge uns eine kurze
Notiz an dieser Stelle verstattet sein.
Das erste Heft wird mit einem Aufsätze von
Prof. A. Drachm an n in Kopenhagen über
Arthritis deformans eingeleitet, worin die Be-
deutung und das Wesen dieser Affection, ihre
Beziehungen zu Rheumatismus und Gicht, ihre
Ursachen und ihre Therapie erörtert werden.
Dracbmann bezeichnet die Arthritis defor-
mans als eine fast ausschliesslich heim weibli-
chem Geschlechte vorkommende fieberlose Af-
fection, bei welcher die Anschwellung der Ge-
lenke sich stets mit Knochenauftreibung verbin-
det, ohne dass eine Inflammation den äussern
Tegumente und ein Ergriffensein der Muskeln
vorhanden ist. Drachm a nns Darstellung be-
ruht auf 28 Fällen eigener Beobachtung, von
denen nur 9 höheren Altersdassen angehörten
und in welchen die Affection meist an den klei-
nen Gelenken begann. Mit Charcot im Ein-
klang steht die Beobachtung Drachmanns
über die Verminderung der Phosphate im Urin ;
ausserdem fand er, dass die chemische Zusam-
mensetzung der Concremente an <Jen afficirten
Gelenken identisch mit denjenigen der Knochen
ist, nur dass die Menge des Kalks bei ersteren
bich etwas grösser berausstellt, womit ein cha-
racteristischer Unterschied von den barnsauren
Ablagerungen hei Gicht sich ergiebt. Die Be-
handlung mit den verschiedensten Mitteln ergab
im Allgemeinen mittelmässige Resultate, insofern
in der Regel die Deformität der Gelenke da-
durch nicht verhütet wurde; relativ aut besten
Nordiskt Medicinskt Arkiv. 281
whiten römische Bäder, Teplitz, Kalibäder trad
Flectricität , bei gleichzeitig vorgenommfcnen
Frictiouen und leichten passiven Bewegungen.
An diese Arbeit schliessen sich zunächst Mit-
teilungen von M. V. Odenius aus dempatho-
logischen Institut von Lund. Dieselben betref-
/ fen Geschwülste, besonders mit Rücksicht auf
deren Metastase und sind mit 5 Abbildungen
begleitet. Es folgt dann ein von Franklin
Nyrop mitgetheilter interessanter Fall von In-
! versio utere bei einer Jungfrau in Folge eines
Sarcom8 , welcher sich von den bisherigen Beob-
achtungen analoger Art von Spiegelberg,
Rheineck und Langenbeck durch ihr ra-
| aches Auftreten unterscheidet. Hierauf folgt
eine Arbeit von Ghr. F enger in Kopenhagen
über Stenose des Ostium pulmonale und der
Arteria pulmonalis, verursacht durch Vegetatio-
nen auf den Pulmonalklappen und im Innern
der Arterie , im Anschluss an eine eigene Beob-
achtung. Diese Abhandlung enthält eine aus-
führliche pathologisch-anatomische Darstellung
i der Krankheiten des Ostium pulmonale nna
der diesem zunächst gelegenen Partien, unter
besonderer Berücksichtigung der hei Lebzeiten
I Yorkommenden Entzündung des Ostium pulmo-
! nale, worüber Fenger die einschlägige Litera-
tur gesammelt und um einen neuen Fall be-
reichert hat, in welchem die Diagnose der Ste-
nose auscultatorisch nicht mit Sicherheit ge-
stellt werden konnte. Weiter bringt dies Heft
eine im Ludwigschen Laboratorium gemachte
Arbeit von Georg Asp über die Endigung der
Nerven in den Speicheldrüsen, woran sich ein
weiterer histologischer Aufsatz über den Bau
des Sehnengewebes nach den Ergebnissen der
Behandlung mit Goldchlorid von J. G. Dit-
282 Gott. gel. Ans. 1374. Stück 9.
levsen ftähliesst. Den Schluss des ersten Hef-
tes bildet eine Arbeit von G. Berghm&n und
D. Helleday über die Mezger’scbe Methode
der Massage nach Beobachtungen, welche sie
nach einem mehrmonatlichen Aufenthalte in
Amsterdam Gelegenheit zu machen hatten.
Das zweite Heft beginnt mit einem Aufsatze
von Prof. J. Rossander in Stockholm über
Cataracta infantilis, welche Bezeichnung von
dem Verf. statt des gebräuchlicheren Cataracta
congenita angewendet wird, weil die in den er-
sten Lebenswochen entwickelten Staare in vie-
len Beziehungen und besonders in Bezug auf
ihren Effect auf die Sehschärfe mit den ange-
borenen völlig identisch sind. Auf Grundlage
zahlreicher Beobachtungen bei Operirten fand
Rossand pr, dass kurz nach der Operation
dais Sehvermögen keineswegs glänzend sich
herausstellt, vielmehr als Folge der parpetuirli-
chen Entziehung der Retinabilder und der Uebung
das Gesichtsfeld sehr beschränkt ist und Distan-
ces u. 8. w. nicht erkannt werden, was sich
freilich im Laufe der Zeit bessert, jedoch nur
bis zu einem gewissen Grade und in sehr lan-
ger Zeit. Der hauptsächlichste Theil dieser
Arbeit ist den Operationsmethoden gewidmet,
welche bei der verschiedenen Form der Cataracta
x infttntilis indidrt erscheinen. In dem folgenden
Aufsätze bespricht Prof. J. A. Estländer den
gerichtsärztlichen Begriff der lebensgefährlichen
Verletzungen unter Berücksichtigung der Gesetz-
gebung der neuesten Zeit in den verschiedenen
Ländern und sucht die in der schwedischen Ge-
setzgebung unterschiedenen 3 Classen deg Ver-
letzungen nach der Dauer der Affection, nach
der Intensität der Gefahr und nach ihren Fol-
gen zu definiren. Besonders ausführlich wird
283
Nordfekt Medicinfct Arkiv.
dabei der Einfluss der chirurgischen Operationen
nach Verletzungen auf die Gefahr derselben be*
sprechen. Hierauf folgt eine Arbeit von C. R.
Fenger über partielle Hydronephrose mit Rüde*
sicht auf eine eigene Beobachtung eines Falles,
welcher eich von den übrigen bisher bekannten
Fällen durch die Ursache deB Leidens unter*
schied. Dieselbe war nämlich eine in der Mitte
des Nierenbeckens bestehende Klappe, welche
offenbar durch Compression des Ureter durch
einen perityphlitischen Abscess entstanden war,
wahrend sonst das Leiden aus dem Bestehen
ron doppelten Ureteren, von denen einer in sei-
ner Entwicklung gehemmt, durch Narben obli-
terirt, oder durch einen Stein verstopft wurde,
oder durch Verstopffing eines der Nierenkelche
bedingt wird. Weiter findet sich in diesem
Hefte eine Abhandlung von Curt Wallis über
die Winterstationen auf Sicilian, welche auch
noch im 4 ten Hefte des vorliegenden Jahrgangs
fortgesetzt wird und worin namentlich die kü-
mati8chen Verhältnisse von Catanea, Syracus
und Palermo zum Theil auf Grundlage noch
nicht publicirter meteorologischer Beobachtungen
genauer geschildert werden. Nach Wallis
können Catanea und die Ostküste von Sicilian
ebenso wie der Süden des Aetna hinsichtlich ihrer
klimatischen Verhältnisse und ihrer Indicatiouen
bei bestimmten Krankheiten mit der Riviera
gleichgestellt werden, unterscheiden sich aber
ron letzteren durch eine unr mehrere Grade
höhere Temperatur, wodurch namentlich Nord-
länder, welche in Folge der Winterstrenge in
ihrer Heimat an besser geschlossene Wohnungs-
räume gewöhnt sind , das siciüanische Klima
besser ertragen als das der Riviera, wo die
häufig eintretenden Perioden des Frostes den.
264 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 9.
Comfort sehr beeinträchtigen. Die grossere
Stabilität der Temperatur und die Abwesenheit
der Ostwinde im Frühling gestatten dem Arzte
nach Sicilien auch erethische Kranke zu senden,
welche das Klima der Riviera nicht ertragen.
Die für Palermo allgemein in Anspruch ge-
nommene grosse Feuchtigkeit beruht nach Wal-
lis auf einen Irrthum und glaubt er, dass Ca-
tanea durch den helleren Sonnenschein und
durch die geringere Zahl von Regentagen prak-
tische Vorzüge von Palermo besitze, das seiner-
seits wieder vor den Riviera durch grössere
Wärme ausgezeichnet sei. Nach Wallis ist
der Aufschwung der Krankenstationen Siciliens
vorwaltend bedingt durch die Errichtung einer
Sommerstation, um die lästigen und angreifen-
den Reisen nach Norden im Beginn des Früh-
lings zu vermeiden und eignen sich hierzu be-
sonders die Abhänge des Aetna nach Nordo6t
oder Ost in einer Höhe von 3000 — 4000 Fuss
über dem Meeresspiegel, wo eine angemessene
Temperatur im Sommer existirt, die Nähe des
Meeres Kühlung verschafft, die höheren Berg-
partien frühzeitig des Abends Schatten bedin-
gen und die reiche und gut cultivirte Land-
schaft die Niederlassung gestatten.
Das zweite Heft wird durch eine Arbeit von
J. Heiberg über die Krankheiten der Cornea
beschlossen. Im dritten Hefte treffen wir zu-
nächst auf eine statistische Arbeit von C. An-
d er s 8 on in Stockholm über die puerperalen
Entzündungen des Uterus und seiner Adnexa
nach Beobachtungen im Stockholmer Entbin-
dungshause während der Jahre 1866—70, welche
ausserdem den Zweck hat, die periuterinen Ent-
zündungen in Hinsicht auf ihre Symptomatologie
und Diagnostik ausführlicher zu betrachten, als
Nordiskt Medidnskt ArkiV. 285'
dies in den pynakologischen Handbüchern ge-l
schieht Die Zahl der Fälle betrag 303, van
denen 79 tödtlich endeten. An diese sehr le-
senswerthe Abhandlung schliesst sich ein von
Chr. F enger gearbeiteter Bericht übex* 422
Sectionen im Commiinehospital in Kopenhagen,
welche in dem Jahre vom 1. Sept. 1871 ausge-
führt warden. Die darauf folgende Arbeit von
i Adam Oe wie in Christiania behandelt die
hereditäre Syphilis in Bezug auf ihre Abstammung
von Vater und Mutter. Daran schliesst sich ein
Aufsatz von E. J. Bonsdorff in Helsingfors über
die Behandlung des Croups, wobei der Verf. zur
Herabsetzung der Plasticität des Blutes kleine, aber
häufig wiederholte Dosen von Brechweinstein
mit oder ohne Jodkalium und zur Entfernung
der Croupmembranen Brechweinstein in emeti-
scher Dosis anwendet. Im Falle Erbrechen
nicht eintritt, ätzt Bonsdorff mittbist eines
in trockenes Pulver von Argentrum nitricum
getauchten Pinsels die hintere Pharynxwand,
die Epiglpttis und die benachbarten Theile, so«
wie das Gaumensegel, welches Verfahren unter
Umständen wiederholt werden muss und stets
i die Tracheotomie überflüssig macht, wie er auf
Grundlage von 70 Fällen zu behaupten sich ge-
traut. Auch bei Diphtheritis hält er die energi-
sche Cauterisation mit einer concentrirten Höl-
lensteinlösung für ein sicheres Mittel.
Im vierten Hefte finden wir einen Aufsatz von
Axellversenin Kopenhagen über die operative
Behandlung der Gelenkmäuse, worin der Verf. sich
für die Excision derselben unteor Anwendung der1
Lister ’sehen antiseptischen Methode ausspricht.
Von grossem Interesse ist eine Arbeit von Chr.
Lov.en in Stockholm über die Lymphb&hnen
der Magenschleimhaut, deren Existenz durch
28Ö GotL gel. Aim. 1874. Stück 9.
Love n »Untersuchungen sowohl bei Menschen
als auch bei verschiedenen Säugethieren zum
ersten Male sicher gestellt wird. Die Abhand*
lang ist durch 3 vorzüglich ausgeführte Tafeln
begleitet und bildet einen würdigen Anschluss
an die in früheren Jahrgängen enthaltenen Ar-
beiten von Key und Ketzins. Hiernächst
bringt das 4te Heft einen Aufsatz von Chr.
F enger über die Behandlung chronischer Go-
norrhoe und des Rheumatismus gonorrhoicus
mit Hülfe des Endoskops, worin der Verl drei
Formen der Urethritis chronica unterscheide!
nnd die Behauptung aufstellt, dass der gonorrhoi-
sche Rheumatismus am häufigsten die Folge-
einer Urethritis chronica localis sei und erst
durch die Heilung des örtlichen Leidens der
Harnröhre beseitigt werden kann. Auf eine Ai>
beit von J. A. Florin in Helsingfors über die
Lebensgefährlichkeit der Verletzungen vom ge*
richtlich-medicinischem Standpunkte folgt eine
Arbeit von Estländer über spontane Septi-
cämie, worin er seine zu verschiedenen Zeiten
gemachten Beobachtungen über das Auftreten
von Septicämie in Krankensälen bei nicht ver-
wundeten Patienten mittbeilt, wodurch analoge
frühere Angaben von Roser ihre* Bestätigung
finden.
Auch der vorliegende Jahrgang bringt, wie
die früheren, vortrefflich gearbeitete Referate
über die in andern scandin arischen Zeitungen
erschienenen medicinischen Arbeiten , 60 dass
wir dadurch eine vollständige und allen Anfor-
derungen genügende U eher sicht über die medici-
nkcheo Leistungen der drei nordischen König-
reiche und Finnlands erhalten. Wer dieselben
durchmustert, wird nicht umhin können, dem
Holm, Om koloxidförgiftaiing. 287
Heisse und dem Wissen der Aerate dieser Län-
der die verdiente Anerkennung zu sollen.
Die in diesem Bande begonnene! Neuerung,
darin bestehend, dass über die im Archiv er-
schienenen Originalaufsätze am Schlüsse jedes
Heftes ein von dem Verfasser oder der Redaction
verfasster kürzerer Auszug in Französischer
Sprache erscheint, wird den Romaniseben Völ-
keratämme» nicht eben unwillkommen sein. Für
die sehr witoechenswerthe Verbreitung der Kennt-
nis der Sprache der in wissenschaftlicher Be-
ziehung so hochstrebenden SeandinaTischen Volks-
stämme ist dadurch allerdings ein Hinderniss
geschaffen. Theod. Husemann.
Om boloxidförgiftning. Akad. AfhandL I
Emil Holm. Helsingfors 1872. 68 Seiften in
Octav. *
i
Diese kleine Schrift bandelt in gediegener
Weise das Kohlenoxyd in chemischer und toxi-
kologischer Beziehung ab und bespricht nament-
I lieh die Symptomatologie und den Leichenbe-
fund bei den durch bohlenoxydhaltige Gasge-
menge hervorgerufenen Intoxicationen. Die
Veranlassung zu denselben scheint namentlich
das Vorkommen mehrerer Leuchtgas Vergiftun-
gen in Helsingfora gewesen zu sein, welche,
wie dies ja auch an andern Orten häufig beob-
achtet wurde, in der Weise entstanden, dass,
das aua beschädigten« Gasleitungsröhren gedrun-
gene Gas sich durch den Erdboden hindurch
einen Weg in bewohnte Häuser bahnte. Nach
den von 1808—1871 vorliegenden Aufzeichnun-
gen der Geistlichkeit über die Mortalität Finn-
288 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 9.
lands sollen daselbst jährlich im Durchschnitt
12 Personen der Vergiftung durch Kohlenoxyd
zum Opfer gefallen sein, doch scheint diese Art
der Intoxikation in den letzten Jahren verhält-^
nissmässig häufiger den Tod veranlasst zu .ha-
ben. So kamen in den Jahren 1867 und 68
nicht weniger als 34 und 25 Todesfälle ans
dieser Ursache vor. Was Holm zur Erklärung
dieses Zuwachses anführt, dass die betreffenden
Jahre Hungerjahre waren und die von der Ver-
giftung betroffenen Personen in Folge ihrer ge-
schwächten Constitution dem giftigen Gase eher
erlagen, als in normalen Jahrgängen, ist eine
Hypothese, die sich zwar wohl hören lässt,
welche aber doch nur dann Vertrauen ver-
diente, wenn die Zahlen selbst grössere wären,
aus denen die Ableitung statistischer Schlüsse
statthaft erschiene und wenn auch in andern
Hungerjahren ein constantes Plus' der Todes-
fälle aus dieser Ursache sich nachweisen liesse.
In Hinsicht auf Casuistik theilt die kleine
Schrift zwei neue Beobachtungen nebst dem
Befunde bei der Obduction auf dem Helsinfor-
ser pathologischem Institute mit.
Schliesslich findet auch die Theorie der
Vergiftung mit Kohlenoxyd, welche bekanntlich
in neuerer Zeit wiederholt den Gegenstand ein-
gehender Discussion gewesen ist, ihre Bespre-
chung in der vorliegenden Arbeit, die wir als
eine finnländische Beisteuer zur toxikologischen
Literatur nicht ganz mit Stillschweigen über-
gehen mochten.
Theod. Husemann.
289
Gffttingische
gele hrte Anzeigen
j
unter der Aufsicht
I
der König!. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 10. 11. März 1874.
i— ^ mm mmm m
|
Dr. Ed. Kammer, die Einheit der Odyssee,
nach Widerlegung der Ansichten von Ltfch-
mann-Steinthal, Koechly, Hennings und Kirch-
hoff dargestellt. Anhang: Homerische Blätter
von Prof. Dr. Lehrs. Leipzig. B. G. Teubner*)
1873. VI und 806 S. 8.
Wenn der Verfasser dieses Buchs in der
) Vorrede über die Gleichgiltigkeit klagt, die in
! der homerischen Frage eingetreten sei, so hat
\ er, wie uns scheint, doppelt Unrecht: einmal
weil die zahlreichen Erscheinungen, die jedes
| Jahr zu Tage fordert, düs Gegentheil beweisen,
i dann aber, weil es in der That nur wünschens-
werth wäre, dass die allgemeinen Untersuchungen
eine Zeitlang ruhiger, bescheidner Einzelforschung
Platz machten, um dann frisch und mit geläu-
*) Die Ausstattung ist von bekannter Gediegenheit,
| auch Druckfehler sind im Ganzen selten und, soweit sie
den Sinn stören, meist p. 805 f. berichtigt: aber S. 376
Z. 3 y. o. soll es wohl heissen ‘natürlich die mit ge-
I rechnet* st. . ‘nicht ger.\
! 19
i
290 Gott, gel Anz. 1874. Stück 10.
terter Einsicht wieder anfgenommen zu werden.
Aber auch wer nicht gleicbgiltig dem Kampf
der Meinungen gegenübersteht, wird nicht ohne
einige Ueberwindung an das Studium eines Wer-
kes gehn, welches das vielfach besprochene Thema
über die Einheit der Odyssee in solchem Um-
fang behandelt, wie das vorliegende. Der Verf. hat
dies selbst gefühlt und schliesst seine Vorrede
p. VI mit dem Bedauern, dass dem Buche lei-
der nicht die Empfehlung habe mitgegeben wer-
den können, dass es — ein kurzes sei. Wir
müssen es aber scharf und geradezu ausspre-
chen, dass dieses ‘leider nicht können9 seinen
Grund lediglich in dem Unvermögen des Ver-
fassers hat, den Stoff zu beherrschen und za
bewältigen, nicht in der Natur der Sache.
Dies beweist zunächst die unglaubliche Wie-
derbolungsseligkeit, die sich in dem Werk breit
macht. So wird gleich nach den ersten 50 Sei-
ten, in denen Lachmanns und Steinthals, oder,
wie die Ueberschrift sagt, ‘Lachmann-Steinthals*
Ansichten über das Epos besprochen werden,
ein ausführliches Resume gegeben mit vollstän-
diger Wiederholung der Gitate und der Ein-
wände; ähnliches findet sich bei ‘Köchly* p. 96
= 130, bei ‘Hennings* p. 190 = 219 und, um
noch einige Proben zu geben, p. 16 = 346,
180 = 361, 255 = 292, 257 und 262 = 281,
269 = 404 u. s. w. u. s. w. Wie weit dies
selbst im Kleinsten geht, dafür nur ein Bei-
spiel. p. 301: ‘Wol wissend, dass es hier nicht
der Ort und die Gelegenheit sei, die kummer-
volle Frau mit erdichteten Abenteuern zu unter-
halten, sie mit einem Mährchen zu belustigen,
wie er es dem guten Alten, dem gut erzählten
Geschichten gern lauschenden Hirten aufgebun-
den hatte, beginnt er etc.*, p. 644: ‘Hier
Kammer, Die Einheit der Odyssee. 291
konnte es sich nicht darum handeln, durch ein
gnt erfundenes Geschichtchen die trauernde
Frau zu unterhalten, wie das in des Eumäus
Hatte dem Geschichten und Abenteuern gern
zuhörenden Alten gegenüber so wohl angebracht
war etc.’.
Eine unnöthige Breite zeigt sich ferner darin,
dass häufig wörtlich angeführte Stellen noch
paraphrasirt werden, ohne dass dies die Auffas-
sung förderte, oder dass, wie p. 206, eine Aus-
führung des Gedankenzusammenhangs steht, die
mit der speciellen Frage gar nichts zu thun
hat, oder endlich, dass Citate aus lateinischen
Abhandlungen zugleich übersetzt werden, wie
p. 128 gar jedenfalls lässt sich mit Wahr-
scheinlichkeit vermuthen (satis probabiliter coni-
cere licet)’. Vollends die ewig wiederkehrende
Leier, mit welcher der Verf. Kirchhoff und den
Anhängern, der Liedertheorie überhaupt vor-
wirft, dass sie für ‘das Gemüthvolle so gar kei-
nen Sinn hätten’, dass sie die Gedichte ‘geist-
und seelenlos’ behandelten, dass ihnen ‘der
Quell der Poesie vergebens rausche’ und wie
sonst dies Thema fast bei jeder Einzelheit va-
riirt oder auch nur repetirt wird, ist auf die
Dauer kaum erträglich. Sachlich sind seine
Vorwürfe häufig nicht unbegründet, aber die
Art, wie er sie ausführt und auch dadurch sein
Buch anschwellt, ist ermüdend und geschmack-
los. Noch mehr ermüdet aber den Leser die
kritiklose Gleichmässigkeit, mit der E. die ver-
schiedensten Meinungen vorführt und durch-
nimmt: Steinthals unklares Gerede und Kirch-
hoffs durchdachte Arbeit, Lachmanns scharf-
sinnige Betrachtungen und Rhodes oder Jacobs
u. A. philiströse Anmerkungen, Köchlys ein-
seitige, aber entschiedene Aufstellungen und
19*
292 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
Düntzers Salbaderei, Alles wird in gleichet*
Weise herangezogen, in gleichem Stile behan-
delt; ja einmal (p. 351) stellt K. sogar die
arge Zumuthung an — Benicken zu denken;
und über ‘Düntzers Stellung zur homerischen
Frage’ hat er sich vorgenommen (p. 95) beson-
ders zu schreiben, obwohl er ihn schon hier
eingehend berücksichtigt. So wird auch die
schülerhaften Versuche Brausewetters (p. 483 ff.)
und die dilettantischen Paradoxieen des Rhap-
soden W. Jordan (p. 227 ff. 486 ff.) so ausführ-
lich nur besprechen, wer sich eben gar so gerne
reden hört*). Mit dieser sehr hervortretenden
Eigenschaft hängt zusammen, dass E. fast im-
mer seine Person, nicht die Sache reden lässt;
daher alle Augenblicke Wendungen, wie ‘ich
wenigstens muss gestehn’, ‘ich meinestheils
glaube zuversichtlich’, ‘meiner Empfindung nach’
(p. 83 sogar: ‘meiner Empfindung nach
— ich bin jedoch weit entfernt damit auf
Steinthal irgend welche Pression ausüben zu
wollen5). Ferner gehören hieher die ge-
dehnten Ankündigungen und Uebergänge, wie
‘wir können damit durchaus nicht übereinstim-
men, sondern haben eine ganz andere Ansicht',
p. 510: Um gleich meine Ansicht gegenüber zu
stellen, die ich aus der Lektüre gewon-
nen habe1, p. 640 : ‘Das Folgende aber hängt
mit dem voran gegangenen in gar keiner Weise
mehr zusammen, hier eine Verbindung finden
zu wollen, scheint mir ganz unmöglich zu sein;
ein ganz anderer Gedankenkreis, der mit den
von Telemachos vorher aufgezählten Gründen in
Widerspruch steht, ist angefügt worden. Diese
Schwierigkeit zu lösen , spreche ich folgende
*) Beiläufig: den Namen des mit Recht gerühmten
Recensenten in den Gott. Gel. Anz. konnte K. ans Dis-
sens Kleinen Schriften S. 267 ff. erfahren.
Kammer , Die Einheit der Odyssee. 293
Vermuthung ans9, p. 685 ‘Ich verstehe, die
bier gemeinte Situation nicht, bin aber so an*
massend den Grund darin zu finden, dass der
Dichter dieser Partie selbst sich die Sache nicht
klar gedacht hat; denn das muss ich im Voraus
sagen, dass wir es hier mit einem ganz ausser*
ordentlich confusen Dichter zu thun haben9.
Auch die Versicherungen, dass es K. persön-
lich unangenehm sei sich mit den Ansichten
seiner Gegner zu befassen, dass er es aber um
der Sache willen thun müsse, werden zum Ueber-
druss wiederholt.
Wir sagten oben, K. behandle Alles in ‘glei-
chem Stile9: und zwar besteht dieser Stil we-
sentlich in endlos gehäuften rhetorischen Fra-
gen und Ausrufungen. Ein Buch von achthalb-
hundert Seiten, das — man überblicke nur
durchblätternd die Interpunktionen — zum bei
Weitem grössten Theil sich in diesen beiden
Satzformen bewegt, dürfte zu den kaum erhör-
ten Geschmacklosigkeiten gehören. Es liegt auf
der Hand, wie sehr auch dadurch die Breite
der Darstellung vermehrt werden, und wie tödt-
lich in derselben solch unwissenschaftlicher Ton
auf die Geduld wirken muss. K.’s Vorliebe für
Frage- und Ausrufungszeichen geht aber so
weit, dass er auch die Gitate aus Köchly, Kirch-
hoff u. a. nach Art der Zeitungsschreiber mit
denselben spickt, was um so massiger ist, da
er kaum je verfehlt, diese Zeichensprache noch
in einen Schwall von Worten zu übersetzen.
Diese Manier hat aber noch eine ernstere
Seite; sie legt den Verdacht nahe, K. möge
bisweilen die Gedanken seiner Gegner nicht mit
der gehörigen Ueberlegung verfolgt und geprüft
haben. Und dieser Verdacht bestätigt sich.
Kan traut seinen Augen kaum, wenn manp. 361
294 Gött. gel. Anz. 1873. Stück 10.
liest: ‘Spohn macht zu diesen Versen folgende
Bemerkung: quamobrem quo pado .... Pene-
lopes recensio eorum, quae proci fecersnt, et
haec Ulixis tarn ingens et praegrandis narratio,
ut apud Phaeaces magnam noctis partem poster d,
quantumvis hie contrada, congruae et tempori
aptae videri possint sane non video. Es ist dies
hier wieder bezeichnend, dass Odysseus in den
ersten Stunden des Beisammenseins mit Pene-
lope ganz in derselben Weise, wie er
vor den Phäaken gethan, auch seiner Frau von
seinen Reiseerlebnissen erzählt haben soll!’
p. 276 sagt Kirchhoff von den Versen a 374 —
80, nachdem er ausdrücklich hervorgehoben,
wie in denselben Telemachos vorschnell seinen
Zweck enthülle u. s. w.: ‘die Auffassung
des ersten Buches ist demnach berechnet
u. 8. w.’, K. polemmirt dagegen ‘der Tele-
machos hat gar nichts berechnet u. s. w.’
p. 584 Kirchhoff: ‘eine Ungehörigkeit, die dem
unbefangenen Gefühl, wie schon dem Auge des
Lesers, sich aufdrängen muss’. Hier sieht Je-
der, dass die Worte ‘wie schon dem Auge des
Lesers’ eben nur als eine Parallele für uns ge-
sagt sind; K. jedoch sieht sich zu der ebenso
wohlfeilen als unpassenden Polemik veranlasst:
‘Ich hatte geglaubt, dass die Sänger für ein
hörendes Publicum, nicht für ein lesendes schu-
fen, «fa«« sie darum auch nicht darauf kommen
konnten, nach einer Gleichmässigkeit der Be-
handlung aller Theile an sich und im Verhält-
niss zu einander zu streben, damit das Auge
des Lesenden nicht verletzt werde’. Dass sich
aber viel tiefgreifendere Missverständnisse finden,
dafür sei auf die Partie 599 — 602 hingewiesen,
deren irrthümliche Auffassung K. seihst p. 806
sammt den Folgerungen, die er nicht ohne Gewicht
Kammer, Die Einheit der Odyssee. 295
auf sie gebaut, zurücknehmen muss. Wer aber
einen Forscher von so musterhaft einfacher
Klarheit wie Kirchhofi so missverstehen kann,
der zeigt, dass es ihm an Ernst und Ruhe ge-
bricht, Anderer Ansichten zu würdigen. Noch
| einige Proben, wie K. seine Gegner interpretirt!
p. 21 citirt er aus Lachmanns Briefen 4 In den
Nibelungen sind einzelne Lieder verschiedener
Dichter, gewiss meistens aus einer Gegend und
selten mehr als 20 Jahre in der Zeit auseinan-
der, zusammengefügt, die Fabel in einem Sinn
auffassend, sich beziehend aufeinander
oder auf Lieder ähnlichen Inhalts, interpolirt
im Volksgesang und bei der Aufzeichnung, die
ohne sonderliche Kritik geschah, zwei vorn ver-
kürzt etc.\ Während hier die Stellung im
Satze sowie die nachher folgende ausdrückliche
Hervorhebung der Interpolationen bei der Auf-
zeichnung, endlich der Zusatz ‘oder auf Lieder
ähnlichen Inhalts’ gar keinen Zweifel lassen,
! dass die Worte ‘sich beziehend aufeinander’,
auf die Thätigkeit der Dichter gehn, will sie K.
[ auf den Aufzeichner und Zusammenfüger deu-
! ten und kommt auf diese Missdeutung p. 61,
136, 384 als auf einen unzweifelhaften Nach-
weis zurück mit Tadel gegen Steinthal und
Köchly, welche den Worten den einzig mögli-
chen Sinn geben, p. 60 handelt es sich um
Lachmanns Worte: ‘Wer vor der attischen
Sammlung derselben Meinung war, schrieb die
Stücke, die er kannte und sich selbst in seinen
Gedanken in Zusammenhang brachte, dem Ho-
mer zu, gewiss nicht mit der schärfsten Kritik’.
‘Wir sehen’, sagt K., ‘die Stelle ist Steinthal
nicht klar gewesen, wir müssen sie ihm inter-
pretireni’ Und was folgt auf diese anmassliche
Ankündigung? ‘Vor Pisistratus konnten nur
296 Gott» gel. Anz. 1874. Stuck 10.
Kritik* und Gedankenlose in den einzelnen Lie*
dern einen Zusammenhang sehen und finden
und ohne jedes Nachdenken für den Verfasser
derselben Homer halten’. In all solchen Fällen
kann, da K. seine Gegner wörtlich citirt, von
einer absichtlichen Verdrehung und Entstellung
nicht die Rede sein, wohl aber zeugen sie von
einer bedauerlichen Unfähigkeit oder Leichtfer-
tigkeit der Auffassung gegnerischer Ansich-
ten. Zu der Meinung aber, der Verf. möchte
seine Aufsätze, wie er sie eben hingeworfen,
veröffentlicht haben, fuhren nicht bloss die
Wiederholungen, die rhetorische Breite und die
mannigfachen Missverständnisse , nicht bloss
Aussprüche, wie p. 322 ‘dem wir ein neues
hoffentlich viel kürzeres Kapitel noch wid-
men müssen’, sondern vor Allem spricht dafür
die unverzeihlich saloppe Behandlung des Stils.
Die folgenden Bemerkungen machen wir nicht
aus Kleinmeisterei, sondern weil sie in der
That den Charakter des Buches kennzeichnen
und um so mehr zu rügen sind, da der Verf.
sich fortwährend auf Geschmack und poetisches
Gefühl beruft und wiederholt seinen Gegnern
vorwirft, dass Goethe und unsre classische
Litteratur ohne Wirkung an ihnen vorüberge-
gangen sei.
p. 90: ‘Wir können nicht schliessen, ohne
den unerquicklichen Eindruck zu verschweigen9
p* 310 ‘auch Kirchhof! kann nicht umhin, die-
ser Scene sein Lob vorzuenthalten9, p. 254
‘A. Kirchhoff spricht in der Vorrede p. VII sei-
nes Werkes ‘die Composition der Odyssee’ die
Ueberzeugung aus, ‘dass ein Jeder, der den
Thatbestand, welchen ich in demselben zu er-
mitteln mich bemüht habe’ u, s. w«, wo ‘in denv*
selben9 bei Kirchhoff auf den ersten Au&at^
Kammer, Die Einheit der Odyssee. 297
geht. p. 121 Tragt man nun, ob die beiden
Stellen, da wo wir sie lesen, passender sind,
man wird, ist man vorurtheilsfrei, dies bejahen
müssen’, p. 424: ‘Was berechtigt den Nestor,
wenn er aus der Frage merkte »Telemachos
‘ möchte gern den ganzen Hergang wissen«, dies
zu verschweigen ? Etwa die Erwägung: »Seit-»
Bamer Mensch, dieser Telemachos! er weiss die
Art des Todes und will trotzdem das auf die
Ermordung bezügliche noch einmal hören? Nun
da werde ich ihm doch lieber nur auf die eine
Frage antworten, das, was er noch nicht wissen
kann, wo Menelaos vor seiner Heimkehr umher
geirrt?« Oder überliess er dem Meergreise das
Nähere zu erzählen? Was wusste Nestor aber
vom Meergreiße? und wenn er etwas wusste,
wie konnte er in diesem Stadium der Handlung
i auf den Meergreis verfallen als denjenigen, der
[ das gut machen würde, was er selbst aus die*
sen oder jenen Gründen in der Beantwortung
übergangen hatte?’ Hieher gehört auch die
übermässige Anwendung der banalsten Phrasen
und Vergleiche; p. 122 f. wird sogar der ge-
schmackloseste aller Feuilletonvergleiche, ästhe*
tische Genüsse mit einem ‘Diner’ zusammenzu-
stellen, auf Homer angewandt. Noch mehr aber
zeigt sich dasselbe in der unablässigen Wieder-
kehr derselben Ausdrücke, wie ‘gemüthvoU’,
‘stimmungsvoll’ u. dgl.. m. K. macht es seinen
Gegnern wiederholt zum Vorwurf, dass man bei
ihnen so wenig Begeisterung für den Dichter
fände. Aber diese mochten sich sagen, dass
mit Ausdrücken wie: ‘ich finde diese Partie
durch und durch poetisch’, wie sie bei K. alle
paar Seiten Vorkommen, wenig gewonnen sei.
Selten kommt K. über die allgemeinsten Prän
dic&te hinaus. Nur einige Beispiele mögen zei-
298 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
gen, dass er Ausdrücke, wie die obigen, oft
ganz verkehrt anbringt, p. 101 ‘Dieses so
schöne Lob, das von der Königin des Landes
der Fremde auf der Strasse vernahm, für ihn
gewiss so trostreich und zugleich stimmungs-
voll*. p. 580: ‘Dass Athene bei dieser Arbeit
ihrer Schützlinge gegenwärtig ist, war das nicht
für die beiden Männer, die unter dem Ernst
der hereinbrechenden Katastrophe stehen, stim-
mungsvoll ?’ p. 303 ‘das ist ausserordentlich
meisterhaft und für die Frau sehr psycholo-
gisch9. p. 272 von der zornigen Rede des
Telemachos ß 139 — 145 im (Asydgiov ‘Das
gemüthvoll aus dem Herzen dringende poC9.
p. 215 bei der Erwähnung, dass die homeri-
schen Gesänge einzeln vorgetragen seien, was
doch einfache Thatsache ist, ereifert sich K., dass
man ‘diese Geistlosigkeit der Sänger9 annehme.
Bekkers allerdings recht überflüssige Bemerkung,
wie Dolio8 einen so schlechten Sohn haben könne,
findet K. ‘höchst sentimental9 p. 399. Auch
‘Scenerie9 gehört zu diesem ‘Apparat9 in Wen-
dungen, wie p. 329 : ‘Diese grossartige Scenerie,
da der Dichter seinem Helden das Wort abtritt
zur Selbsterzählung9. Für all diese stereotypen
Ausdrücke, wie überhaupt für die, wir möchten
sagen, individuellsten Züge liesse sich mit leich-
ter Mühe nachweisen, dass sie Lehrs entlehnt
und nachgeahmt sind; während K. den Lach-
mannianern das Breittreten von Lachmanns An-
sichten vorwirft (p. 351 u. ö.), wissen wir unter
diesen keinen nennenswerthen Vertreter, der
seines Meisters Spuren so im eigentlichsten
Sinne des Worts ‘breit9 träte, wie K. Was
aber bei Lehrs individuell ist, das ist hier scha-
blonenhaft geworden ; und schablonenhaft — ge-
Rummer, Die Einheit der Odyssee. 299
rade das, was E. der Liedertheorie vorrückt —
ist die ganze Art der Behandlung.
Es gilt K. für unumstösslich, dass der Plan
der homerischen Gedichte ans einem Kopf ent-
sprungen sei. Dieser hervorragende Geist ent-
warf gewissermas8en ein ‘Programm’, das er
auch in den Hauptpartieen selbst ausführte, das
aber ‘durch das Mithineinsingen auch anderer
poetischer Genies und Talente’ theils vollendet,
tbeils auch gestört wurde. Für die Weiterbil-
dung aber legt E. einen besonderen Nachdruck
auf die Improvisationen der epischen Zeit; eine
solche frische Improvisation ist ihm — die
Dolonie, p. 38: ‘Keinen weiteren Zweck hat
dies Lied für die Handlung des Gedichts, es ist
nichts weiter als eine prachtvolle Einlage
in die Stimmung im Allgemeinen, die aber
ohne weitere Folgen bleibt für die weitere
Entwicklung der Handlung, sie ist ein Stim-
mungsbild, das mit dem Gang der Begeben-
heiten nichts weiter zu thun hat, eine frische
Improvisation, zu der sich der Sänger begeistert
fohlte, der nicht ängstlich auf Folge
und engen Zusammenhang bedacht ist,
nur angeregt durch die obwaltende Situation
seinen Gesang, der zwar lose für ein kri-
tisches Auge sich einfügt, aber nur
für diese Stelle passend ist, einlegt,
einen Gesang, den wir um keinen Preis ver-
missen möchten, bei dem für uns die Frage, ob
acht oder unächt, eine völlig überflüssige ist,
genug, dass er da ist und uns ausserdem noch
über den lebendigen, mit frischer Improvisations-
kraft hier und da einsetzenden epischen Sang
jener Zeit belehrt’. Wir haben diese längere
Stelle heraü8gehoben , weil sie in jeder Be-
ziehung, nach Form und Inhalt für den Geist
300 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
des Bqches charakteristisch ist. Wie K. solche
Ansichten mit der festen Tradition der homeri-
r
sehen Gedichte vereinigt , das sagt er nirgends,
sondern er ergeht sich wieder und wieder in
begeisterten Tiraden über diese herrliche Kraft,
und wie diese erst uns das Verständnis Homers
erschlösse. Eine ernste Widerlegung verdienen
diese Trogramm’- und Improvisationsansichten
(NB. in solcher Uebertreibung) ebensowenig, als
sie eine ernste Begründung erfahren. Auch die
Folgerungen, die K. aus dem Wesen der Poesie
iür die Einheit des Dichters macht u. ä. sind
durchaus oberflächlich und namentlich ist das
wiederholte Verweisen auf Goethe als den, an
welchem wir uns die Entstehung der homeri-
schen Gedichte klar machen sollten, ganz ver-
kehrt (übrigens stammt auch dies von Lehrs).
Dass die Uebung der Dichtkunst in homerischer
Zeit — ganz abgesehn . von den verschiedenen
Culturbedingungen — gar nicht mit der eines
modernen Dichters zu vergleichen ist, dafür lie-
fert den Beweis die homerische Sprache, und
was wir aus dieser erkennen, findet seine hi*
storische Begründung in der unschätzbaren No-
tiz über die Homeridenzunft auf Chios. Von
diesen für die Geschichte der homerischen Ge-
dichte wichtigsten Momenten nimmt E. gar
keine Notiz; seine moderne Betrachtungsweise
zeigt sich aber nicht nur darin, dass er Homer
wiederholt für den Goethe seiner Zeit erklärt,
sondern auch darin, dass er p. 374 gegen die
Liedertheorie allen Ernstes geltend macht, dass
Uhlands und Schillers Balladen doch einen ganz
änderen Ton hätten , als Odysseus bei den Phäa-
ken u. ä.
Von solchen Grundanschauungen aus hält E.
nicht an der absoluten Einheit der homerischen
Eatnmer , Die Einheit der Odjssee. 801
Gedichte fest, sondern — um einen köstlichen
I Ausdruck von Lehrs zu gebrauchen p. 783 —
au ‘der dennoch Einheit9. Viele Wider-
sprüche und Unebenheiten erkennt er an, aber
er hofft — und darin spricht er seine Scha-
blone offenaus — mit Athetesen und dgl.
auszukommen. (p. 209, 255 u. ö.). Bei
anderen, besonders chronologischen Widersprü-
chen fragt er auch, ‘ob das Publicum, das die-
ses Lied hörte, auch die Entdeckung machte9
(p. 181 u. ö.) und meint, dass sie ‘aus dem
ganzen Charakter jener epischen Poesie, die nur
für Zuhörende berechnet war9 fliessen (p. 234
u. ö.). Das sind Redensarten, wie sie auf ver-
schiedenen Gebieten immer wieder einmal auf-
treten und keiner Antwort bedürfen. Ich kann
nun unmöglich K * in den hundert einzelnen
; Fragen begleiten, in welche sich die Unter-
suchung auflöst, und in denen er durch Um-
stellung, Athete8e, Annahme von Conjekturen
und Lücken, bisweilen Alles auf einem Fleck,
zu helfen sucht; ich kann weder auf die man-
, cherlei richtigen und feinen Bemerkungen im
Besonderen binweisen, noch das vielfach Boden-
lose und Widersprechende eines Verfahrens zei-
gen, das es dem Gegner leicht macht ihn oft
| mit seinen eigenen, oft mit anderen Waffen zu
schlagen. Dies könnte nur in ausführlicher Dar-
legung geschehen, die den Rahmen einer Recen-
sion überschreitet; so will ich hier nur Weni-
ges herausheben, das sich kurz erledigen lässt
und doch für das Buch charakteristisch ist.
Wie K. die einfachsten Motive verkennt,
weil er überall Plan und Einheit sehen will*
zeige das Urtheil über Odysseus9 Gang^ durch
die Phäakenstadt. (p. 105). Dass ihn Athene
in Nebel hüllt py ttg . . i&Qeoi& Sng hin (q, 17)
302 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
zeigt, dass in des Dichters Phantasie ‘bereits
der ganze Gang bis Schluss # und von da bis
in v hinein in unmittelbarer Folge gegenwärtig
sein musste. Denn so war ja des einen Dichters
Plan angelegt, Odysseus ungekannt und ungefragt
eine Zeit lang bei den Phäaken weilen und erst,
nachdem in der nöthigen Weise das Interesse
für seine Persönlichkeit wachgerufen war, ihn
vortreten zu lassen mit Nennung von Namen
und Schicksalen. Wie schön, ich möchte sagen,
wie feierlich oft ist dies nun vorbereitet von
dem Augenblick, da er das Land betritt, bis
zu dem Moment, der ihn den Phäaken sichtbar
zeigt. Wenn Athene auf dem Wege des Odysseus
zu ihm nun die Worte spricht v. 30 — 33, so
lasse ich mir durch einen etwaigen Widerspruch
— den ich freilich überhaupt nicht finden kann
— das Verständniss der ganzen Scene nicht
trüben, sondern ich glaube, dass diese Worte
hier nur die nöthige Stimmung in uns erwecken
sollen, dass sie ein nothwendiger Zug in der so
feierlich gehaltenen Scene und sie so wol auch
von den Zuhörern des Sängers aufgenommen
und genossen worden sind*. Aber jenes Um-
hüllen des Odysseus entspringt unmittelbar aus
der Situation : nach der wirren Fahrt, im frem-
den Gewand durch die Strasse schreitend,
mochte er natürlich nicht angeredet sein; man
beachte auch die Worte x€QTop£ot inieccw xai
i&QtoifP etc. ; jener Einheitsgedanke mag einem
das Ganze überschauenden Aesthetiker kommen,
dem Hörer jener Verse könnte er es nicht
und er ist nicht homerisch; übrigens, was den
vermeintlichen tieferen Zweck betrifft, was hin-
dert denn den Odysseus, wenn er noch unbe-
kannt bleiben sollte, ‘den vom Verkehr mit den
Menschen abgeschlossenen, aufmerksam lauschen-
Kfuümer , Die Einheit der Odyssee. 303
k
den Phäaken’ — so charakterisirt E. p. 194
d&s schifffahrende Volk — ein Mährchen aufzu-
binden, wie er es — u. 8. w. (s. o.)*
p. 394 fuhrt E. als Beweis für den ‘eminen-
ten Knnstinstinkt’ Homers an, dass Telemachos
auf die Heise grosse Vorräthe mitnehme, ohne
dass man nachher höre, wie sie gebraucht oder
verbraucht worden seien. Das ist eine Bemer-
kung ganz von der philiströsen Art, wie sie E.
vielfach bei seinen Gegnern gefunden und, mit
Recht, lächerlich gemacht hat.
p. 441 wirft E. Köchly vor, er nehme eine
Allwissenheit der Götter an, wie sie Homer
nicht durchführe u. s. w. Aber Eöchly hatte
gar nicht von Allwissenheit gesprochen, sondern
nur gesagt ‘Calypsonem deam Mercurio deo
äddu xai avTtS de sua conditione exposituram’
etc. Wohl aber hätte E. die Belehrung an
seine eigne Adresse richten können, da er p.
261 (vgl. 267) sagt: ‘Man wird doch anzuneh-
men haben, dass die die Zukunft kennenden
Götter, die also auch wussten, wie speciell die
Ereignisse auflthaka sich gestalten würden, die
Intention der Athene verstanden’.
p. 107 tadelt E. Eöchly« dass er u. a. die
Worte der Nausikaa £ 257 fallen lasse (ßv&a .
(fi ffniu navTtov Oanjxcov eidfjcdfbsv öaaoi
ÜQHfTot) und p. 108 motivirt er die Reden in
der Volksversammlung damit , bei Alkinoos seien
nicht alle Fürsten zugegen gewesen, p. 207 f.
! erklärt er die Worte Ttjli^axov d’otfy invog
0%* ylvxvg d, 7 ‘Telemachos aber wachte auf
. .. Was ist hiebei auffallend oder unsinnig
ausgedrückt ?’ Aber diese prägnante ßedeu-
i tung ist — worauf noch kürzlich Herzog in
Fleckeisens Ibb. aufmerksam gemacht hat —
unter-, nicht ausgelegt. Ebenso wird p. 226
304 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 10.
(vgl. 230 u. 232) mit grossem Gewicht ein*
Erklärung von im$ta <*, 84 vorgetragen, ohne
dass diese weiter gerechtfertigt würde, p. 446
soll ein Bhapsode y, 417 etwas ‘ausgeplaudert’
haben vom Plane des Gedichtes, was K. streicht;
nur schade, dass dadurch statt der vom Rhap-
soden mit ‘ausgeplauderten’ einzig möglichen
Beziehung nopnijy d'ig %66' iyw TsypatyofLct* —
avQtov eg, die unmögliche von ig tod1 auf ä<fQJ
Sv txfjcu etc» eintritt. p. 693 f. übersetzt K.
(mit Düntzer u. a.) (pd'SYyop&VQV däqa toß ye
xctqt] xovlrfihv ‘ihn, als er noch redet’
und da Leiodes vorher nicht redet % 310 ff.,
so ist ihm dies ein Argument, das einzige, der
Nachdichtung. tpxMyyst r£a* heisst bei Homer
nur an einer, offenbar unechten Stelle ‘reden’,
sonst kann es nicht nur, sondern muss von
(unartikulirten) Lauten, hier also vom letzten
Todesschrei verstanden werden.
Wie gesagt, müssen wir durchgreifendere
Einwendungen übergehen ; um so freudiger wol-
len wir aber nach so vielen Ausstellungen das
Gute anerkennen, das XL’s Buch unzweifelhaft
enthält, wenn es auch zu dem Umfang und
Anspruch, mit welchem dasselbe auftritt, in
* keinem Verhältniss steht. Wir haben schon
wiederholt anerkannt, dass seine Polemik viel*
fach durchaus berechtigt ist; aber auch in sei-
nen positiven Aufstellungen findet sich neben
vielem Yagen und Subjektiven, vielem, was nur
Zugeben kann, wer auf seinen Voraussetzungen
? steht, auch nicht Weniges, was beachtenswerth,
ja schlagend ist. So gehören seine Untersuchun-
gen über das elfte Buch der Odyssee zum Be-
sten, was darüber, ja über Homer überhaupt
geschrieben ist. Freilich steht diese Unter*
suchung auf einer Höhe, wie sie kaum in einem
Kammer, Die Einheit der Odyssee. 305
anderen Abschnitt des Buches wieder erreicht
wird: hier herrscht nicht, wie so häufig, sub-
jektive Verschwommenheit, sondern wir haben
mit feinem Sinn und methodischer Kritik be-
gründete Beobachtungen.
Ueberhaupt, hätte K. sein Buch besser ge-
sichtet, geordnet und durcbgearbeitet, so würde
er zwar schwerlich Andersdenkende für seinen
nnitarischen Standpunkt gewonnen haben, aber
er würde durch Widerlegung ungegründeter Auf-
stellungen der Kritik — die sich freilich in
ihrer ebenso grossen Subjektivität als Ent-
schiedenheit oft selbst richten — sowie durch
manche treffende Bemerkungen und richtig em-
pfundene Auffassung sich um Homer noch weit
mehr verdient gemacht haben. Denn dass unsere
oft allzu nüchterne Homerkritik einer Ergän-
zung namentlich von Seiten eines unbefange-
nen poetischen Gefühls bedarf, steht ausser
Frage. Aber auch hier lässt sich anwenden, was
Goethe als allgemeine Lebensmaxime aufstellt,
und was wir K. zum Schluss noch ans Herz
legen: ‘Viel denken, mehr empfinden
und wenig redenl’ — -ch— %
Etude hi8torique et therapeutique sur le
bromure de potassium par A. Voi sin. etc. Paris.
ABselin 1873. 38 Seiten in Octav.
Die Behandlung der verschiedenen Nerven*
krankheiten mit Bromkalium ist in der neueren
Zeit eine so ausgedehnte geworden und ist in
vielen Fällen eine so fruchtbringende, dass eine
Schrift über die Anwendung des in Bede stehen*
20
306 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
den Mittels Anspruch auf allgemeine Aufmerk-
samkeit machen kann. Es ist dies um so mehr
der Fall, wenn diese Schrift (wie die vor-
liegende) eine von der Pariser Academie de
medecine mit einem Preise bedachte ist und
wenn ihr Verfasser, wie dies A. Voisjn ge-
than, sich durch frühere Arbeiten über "den in
der Schrift behandelten Gegenstand einen Na*
men gemacht hat. In der That ist es Voisin
gewesen , welcher die von dem Engländer L o-
cock eingeführte Behandlung der Epilepsie mit
Bromkalium in Frankreich zuerst in grossem
Massstabe versucht hat und er ist es, dem wir
die ersten ausführlichen Mittheilungen über die
Einwirkung des Medicaments in grösseren Do*
sen auf den menschlichen Organismus verdan-
ken. Er hat uns zuerst eine genaue Beschrei-
bung der bei fortgesetzter Anwendung grösserer
Dosen Bromkalium resultirenden chronischen
Vergiftung gegeben. Er hat uns die Effecte
des Mittels zuerst genau geschildert, obschon
bei den früheren Versuchen von Huette schon
manche physiologische Wirkungen des Mittels
zu Tage getreten waren. Er hat uns zuerst
genauer das Bromexanthem oder richtiger ge-
sagt die Bromexantheme beschrieben, die durch
ihre Eigenartigkeit neuerdings auch die Auf-
merksamkeit der Dermatologen auf sich gelenkt
haben.
Die vorliegende Arbeit giebt nach einem
historischen Abschnitte über die Entdeckung
des Broms und Bromkaliums und über die An-
wendung desselben in der Therapie in gedräng-
ter Kürze die Resultate der eigenen Erfahrung
über das Mittel und ist im Wesentlichen eine
Ausführung und Vervollständigung der bereits
im Jahre 1866 von Voison pubßcirten Arbei-
Voisiu, £tude historique et therapeutique etc. 307
ten fiber Bromkaliumtherapie. Der historische
Abschnitt kann zwar keineswegs den Anspruch
auf vollständige Erschöpfung des Gegenstandes
erheben; nicht einmal alle französischen Arbei-
ten sind genannt, geschweige denn Alles, was in
Deutschland über das Mittel erforscht und ge-
schrieben wurde. Indessen ist etwas durchaus
Wesentliches nicht vergessen und als einen kur-
zen historischen Abriss der Bromtherapie können
wir diesen Abschnitt der Voi sin ’sehen Schrift
immerhin mit Dank annehmen.
Was den Gebrauch des Bromkaliums anlangt,
so besteht der Verf. auf der Darreichung eines
reinen Präparates, weil chemisch-reines Brom-
kalium die Heileffecte viel rascher und sicherer
bedinge als jod- und chlorhaltiges. Es ist dies
eine Anschauung, welche freilich im Gegensätze
zu der neuerdings in Deutschland viellach ver-
fochtenen Ansicht steht, dass das Bromkalium
nur als Kalisalz wirke und das Chlorkalium ge-
rade so gut wie Bromkalium Epilepsie zu curi-
ren im Stande sei. Ob letzteres wahr ist, muss
freilich so lange dahin gestellt bleiben, ehe nicht
mehrjährige Erfahrungen über die Wirksamkeit
des Chlorkaliums vorliegen und die wirkliche
Heilung der damit behandelten Fälle verbürgen,
wie solches ja in Bezug auf das Bromkalium
in Wirklichkeit der Fall ist. Voisin wird den
bis jetzt vorliegenden Notizen (so dürfen wir ja
sagen) über den Nutzen des Chlorkaliums gegen
Epilepsie absolut keine Bedeutung beimessen,
denn er fordert eine zehnjährige Beobachtung
als Minimum, um wirkliche Heilung zu consta-
tiren und er spricht sich dahin aus, dass die-
ser Zeitraum es sei, innerhalb dessen die Kran-
ken constant unter dem Einflüsse des Mittels
j gehalten werden müssten. Ist letzteres in der
i 20*
308 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
That die conditio sine qua non, so wird man
freilich wenige Kranken dahin bringen können,
sich dieser Behandlung zu unterwerfen, zumal
wenn sie dabei von dem drohenden Gespenste
des Bromismus chronicus und der Bromkachexie
etwas in Erfahrung gebracht haben.
Eigenthümlich ist Voisin ein Moment, wel-
ches er für die Prognose bei der Behandlung
der Epilepsie mit Bromkalium verwendet.
Da nach Voisins Theorie das Wesen der
Wirkung des Bromkaliums bei Epilepsie in einer
Herabsetzung der Reflexerregbarkeit des ver-
längerten Markes und des Rückenmarks besteht,
glaubt erv dass dem Organismus so lange Brom-
kalium zugeführt werden müsse, bis hochgradige
Herabsetzung erreicht sei und er constatirt dies
in der Weise, dass er einen Löffel bis an die
Basis der Zunge und an die Epiglottis einführt,
um zu consta tiren, ob dadurch’ reflectorisch
Brechbewegungen und Hustenreiz ausgelöst wer-
den. Lässt sich das Fehlen dieser Reflex-
erscheinungen durch Anwendung des Brom-
kaliums in steigender Gabe nicht erreichen, so
ist dies nach Voisin ein ungünstiges Zeichen
in Bezug auf diese Prognose, während der Ein-
tritt der Aufhebung der Sensibilität im Pha-
rynx, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, eine
günstige Prognose involvirt. Von 40 Epilepti-
schen, welche Voisin in der angedeuteten Ma-
nier prüfte, waren nur drei, darunter ein Ge-
besserter , bei welchen diese Wirkung des Brom-
kaliums nicht erreicht wurde; von den übrigen
37, bei welchen die Reflexnausea nicht mehr
hervortrat, wurden 15 geheilt (bei denselben
sind seit 4 Jahren keine Anfälle mehr hervorge-
treten), 17 gebessert und nur 2 blieben ohne Besse-
rung. Diese Prüfungsmethode von Voisin ist,
Voison, lÜtude historique et therapeatique etc. 309
wie er mittheilt, von dem berühmten Physiolo-
gen Claude Bernard gebilligt und auch von
See und dessen Schüler Besson adoptirt.
In Bezug auf die chronische Bromvergiftung
unterscheidet Voisin zwei Formen, eine acut
auftretende und eine langsam auftretende, von
denen er die letztere wiederum in gewöhnliche
und cerebrospinale abtheilt. Alle diese Formen
dürfen nicht mit der Bromkachexie verwechselt
werden, bei welcher die Patienten nach zuvori-
gem Eintreten von Blässe und gelblicher Fär-
bung der Haut, Abmagerung und Abnahme der
Körperkräfte plötzlich einem acuten Leiden zum
Opfer fallen. In den von Voisin beobachte-
ten Fällen war die Todesursache entweder ein
Carbunkel im Nacken oder Erysipelas migrans
oder Pleuropneumonie oder eboleriforme Darm-
entzündung, die sämmtlich unter typhösen Er-
scheinungen dem Leben ein Ende machten.
Nach Voisin 8 Erfahrungen tritt der Bro-
mismus chronicus oft erst mehrere Monate nach
täglich dargereichten 4 — 10 Gm. auf, kann aber
auch schon hei schlecht genährten Patienten bei
Gebrauch von 1,5—2 Gm. im Tage sich zeigen.
Jahrszeit und Temperatur scheinen ohne Ein-
fluss auf die Entstehung zu sein. Die rapide,
ohne Vorläufer auftretende Form beobachtete
Voisin bei Individuen, welche schon 3 — 4
Jahre lang täglich 6 — 10 Gin. des Medicaments
nahmen; die Erscheinungen bestanden in einem
schwankenden Gange, Ptosis, Schläfrigkeit, Kopf-
weh und Durchfällen, dabei zeigte sich beson-
ders grosse Schwierigkeit sich auszudrücken,
zugleich wurde die Schrift schlecht, die Hand
zitternd, der Sinn der geschriebenen Sätze un-
verständlich, es fehlten darin entweder Theile
von ganzen Wörtern, oder es waren darin auch
310 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 10.
ganz anrichtige Wörter and Bachstaben ange-
bracht. Voisin hat hierfür einen interessan-
ten Brief als Beleg mitgetheilt, der von einem
ausserordentlich unterrichteten Kranken her-
rührt and die betreffenden Symptome beschreibt :
»Je suis alle damir par cette grante chalenr
rue ru faubg Poiss. et de la rue Basse du Rem-
part. En revenant il m’a pris an tel mal tete
que j’allais tont branlant et qu’arrive au tunle-
ries j’ai dte tres fontint de m’arrenr sur an in-
stant snr an totoir. Apres pis tons mes effons
pour arw chez Gaiffer ä laquelle je racontai
tont et qui ne m’aurut pas fait donner nn
verrebeau ; j’allai en treibuchant jusqu’ä la mais
ou je me nus au bot, lä on me mit des sis nas-
pimes de soldes d’eau sedative dar le front,
pais ä mesur que cela n’au n’arrue, je buvais,
j’allais ä la seile jusqu’ä ce matin«. In allen
diesen Fällen schwanden die Erscheinungen un-
ter der Anwendung von Dampfbädern, schwar-
zem Kaffee, Abführmitteln, harntreibenden Ge-
tränken und nahrhaften Flüssigkeiten innerhalb
einiger Tage.
Von der langsam eintretenden Form des
Bromismus trägt die gewöhnliche den Character
der Adynamie und zeigt als Hauptsymptome
schmutziggelbe Gesichtsfarbe, Abmagerung, stu-
piden Gesichtsausdruck, Schwäche des Gesichts
und Gehörs, stockende Sprache, heisere Stimme,
schwierige Perception, Abnahme des Gedächt-
nisses, Schmerzhaftigkeit und zuweilen Röthang
und Schwellung des Zahnfleisches, fadenziehende
Beschaffenheit des Mundschleimes, Verstopfung
der Nasenlöcher durch dicken Schleim und gelb-
liche Krusten, Zittern der Zunge und der Hände
bei willkürlichen Bewegungen, wankenden Gang
und Diarrhoe. Auffallend ist es, dass sich in
Voisin, Etude historique et therapeutique etc. 311
diesem Zustand eine Verminderung der Sensibi-
lität der Haut nicht findet. Die Behandlung ist
im Wesentlichen die nämliche, wird aber durch
Störungen im Schlucken sehr erschwert. Ge-
nesung tritt nach mehrtägiger Schlafsucht und
Stumpfsinnigkeit in den meisten Fällen ein; bei
I Verschlimmerung kommt es zu Coma von massi-
ger Intensität, Fieber und Lungenkatarrh, manch-
mal mit tödtlichem Ausgange.
Die Symptome der cerebrospinalen Form
des Bromismus chronicus bilden allgemeine Deli-
rien mit Hallucinationen, Verfolgungswahn und
Gewaltthätigkeitsausbrüchen , gleichzeitig mit
Storungen der Sprache und Ataxie der Ex-
tremitäten und der Zunge. Was diese letztere
Form anlangt, so bin ich freilich der Ansicht,
dass sie schwerlich als chronische Bromvergif-
tung aufzufassen ist, sondern dass es sich um
einen vorübergehenden maniakalischen Anfall
handelt, wie solche ja bei Epileptikern nicht
gerade selten Vorkommen, der das Bild des ge-
wöhnlichen Bromismus chronicus complicirt. In
dieser Anschauung werden wir durch den von
Voisin mitgetheilten Fall geradezu bestärkt.
Mit der sogenannten chronischen Bromver-
giftung und der Bromkachexie ist aber die Reihe
der Nebenerscheinungen bei Anwendung grösse-
\ rer Dosen des Bromkaliums noch keineswegs
! geschlossen, Voisin hat ausserdem keuch-
hustenähnliche Hustenparoxysmen , namentlich
bei Frauen, Kindern und Jünglingen beobachtet,
alle zwei Stunden etwa auftretend und beson-
| ders Abends beim Liegen sich manifestirend,
| meist auch mit Erbrechen sich verbindend,
i Endlich' ist auch noch das Bromexanthem da,
welches nach Voisin sich unter 4 verschiede-
nen Formen darstellt, von welchen indess die
312 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 10.
ekzematöse und einfach erythematöse selten vor-
zukommen scheinen, während am häufigsten
Akne, die sich vorzugsweise an den Schultern
und im Gesicht, hier besonders an Nase, Nasen-
flügeln und Stirn sich entwickelt, offenbar die
häufigste ist, während die Akne e bromio kaum
etwas Characteristisches, welches sie von Akne
simplex unterscheidet, hat, es 'sei denn das in ein-
zelnen Fällen vorkommende lange Stehenbleiben
der Pusteln. Dagegen ist die vierte Form des
Bromexanthems, welche namentlich an den Wa-
den, aber auch am Vorderarm vorkommt ganz
eigenartig. Was Voisin als im Allgemeinen
rothe, aber an einzelnen Stellen gelblich durch-
scheinende Plaques mit warzigen Protuberanzen
am Rande und im Centrum beschreibt, ist offen-
bar derselbe Ausschlag, welchen in neuester
Zeit Isidor Neumann (Wien. med. Wochen-
schrift 1873, Nr. 6 und 49) gesehen und anato-
misch untersucht hat. Es handelt sich auch
hier, wie bei der Akne, um eine entzündliche
Affection der Drüsen, in denen eine Vermehrung
der zelligen Elemente und theilweise Eiterbil-
dung stattfindet, gefolgt von einer Irritation der
Cutis und namentlich einer Wucherung der Pa-
pillen. Man sollte unseres Erachtens diese Tu-
meurs, wie sie Voisin nennt, als das eigent-
liche Bromexanthem bezeichnen, das freilich sel-
ten isolirt auftritt, sondern meist gleichzeitig mit
Akne vorkommt, wie dies Voisin und Neu-
mann in gleicher Weise hervorheben.
Was uns Voisin im weiteren Verlaufe sei-
ner Schrift über die Heilwirkung des Brom-
kaliums in verschiedenen Krankheiten mittheilt,
ist zwar zum Theil schon aus früheren Publica-
tionen des Verf. bekannt, immerhin aber beach-
tungswerth und lesenswerth. Seine Theorie der
f
Voisin, fifcude historique et thfirapeutique etc. 313
Wirkung des Mittels ist höchst einfach ; es unter-
drückt einerseits die Reflexfunction im Rücken«
mark und in der Medulla oblongata und ande-
i rerseits bedingt es eine Verengung der Capilla-
ren und in Folge davon Verminderung des Blut-
mchthums innerer Organe. Das sind die bei-
den Factoren, aus denen Voisin die therapeu-
| tischen Effecte des Salzes hervorgehen lässt.
Aus der erstgenannten Wirkungsweise leiten sich
die Erfolge bei Epilepsie, Chorea, verschiedenen
vom Rückenmarke abhängigen peripherischen
Nervenleiden und beim Tetanus ab. Aus der
zweiten die günstigen Effecte bei Hyperämien
verschiedener Organe, z. B. der Meningen, wäh-
! rend es bei wirklicher Meningitis mit plastischem
Exsudate nichts leisten soll, ferner bei Sperma-
torhoe und Leukorrhoe, bei welcher letzteren
Affection nach Voisin schon die mehrmalige
Darreichung von 1 Gm. Bromkalium vollkommen
curativ wirken soll, wogegen wir allerdings einen
gelinden Zweifel auszusprechen uns unterfangen.
Ueberraschend sind Vöisins Erfolge beim Te-
tanus traumaticu8, wovon er drei Fälle wäh-
rend der Belagerung von Paris in der Salpetriere
durch combinirte Anwendung grosser Dosen von
Bromkalium und subcutaner Morphininjectionen
heilte, nachdem vorher Chloral ohne Erfolg an-
gewendet war. In der That sind vom physio-
logischen Standpunkte aus Bromkalium und Ca-
labarbohne die einzigen rationellen Mittel hei
Steigerung der Reflexaction des Rückenmarks,
nicht aber Chloral, Nicotin, Curare und was die
moderne Therapeutik sonst noch auf den Schild
gehoben hat.
j Am ausführlichsten verweilt Voisin natür-
lich bei der Behandlung der Epilepsie, wo er
»ich zu dem Ausspruche berechtigt hält., dass
S14 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
fast ein jeder Fall von idiopathischer Epilepsie
durch Bromkalium heilbar sei, in welchem noch
nicht mehr als 50 epileptische Anfälle vorge-
kommen seien und dass weder die Erblichkeit
noch eine ausserordentlich lange Dauer des Lei-
dens selbst von 15 Jahren und darüber die
Möglichkeit einer Heilung durch Bromkalium
aus8chlie8se. Ohne uns auf die völlig beweis-
kräftige Statistik V o i s i n s näher einzulassen,
die in Wirklichkeit von Heilungen Kunde giebt,
welche 5 — 8 Jahre lang anhielten, ohne dass
weder ein epileptischer Anfall noch Schwindel
oder Aura sich zeigten, wollen wir lieber zum
Schluss uns noch gestatten, auf die bestätigen-
den Erfolge hinzuweisen, welche in hiesiger Po-
liklinik mit dem Bromkalium bei Epileptikern
erhalten sind. Die darüber in der im vorigen
Jahre erschienenen hiesigen Inaugural-Dissertation
von A. Michaeli 8 veröffentlichten Mittheilun-
gen bestätigen viele von Voi sin’s Angaben
vollkommen, namentlich die ausserordentlich
rasche Heilung in einzelnen Fällen und lassen
die. Bromkaliumtherapie im günstigsten Lichte
erscheinen, wenn man sich nicht vor grossen
Dosen und hinreichend langer Gebrauchszeit
scheut. Theod. Husemann.
Der schwäbische Humanist Jakob Locher
Philomusus (1471 — 1528) eine cultur- und lite-
rarhistorische Skizze. Erster Theil. Von Pro-
fessor Dr. Hehle. Tübingen. Fues 1873. 42
SS. in 4°.
Jakob Locher gehörte bisher zu den wenigst
bekannten Humanisten des 15. und 16. Jahr-
Hehle, D. schw. Human. J. Locher Philomusus. 315
hunderte. Der Grund dieser unverdienten Ver-
nachlässigung liegt vielleicht in der ungemeinen
Seltenheit der Locherschen Schriften; vielleicht
in dem Umstande, dass er in den beiden Bewe-
gungen, welche faßt alle geistig begabten Zeitge-
nossen zu aktiver Betheiligung aufriefen, dem
Reuchlinschen Streit und der Reformation, durch-
aus keine nennenswerthe Rolle spielte; vielleicht
aber auch in einer von den Zeitgenossen ver-
schuldeten, von den Späteren zu leicht gebillig-
ten Verdrängung seines Namens.
Auf Letzteres hat zuerst Zarncke in der
Einleitung zu Sebastian Brants Narrenschiff
(Leipzig 1854) hingewiesen, indem er den sonst
wenig bekannten Streit zwischen Locher und
Wimpheling als ein Vorspiel des Kampfes zwi-
schen Reuchlin und den Dunkelmännern hin-
stellte und L. als den von den conservativ-or-
thodoxen oberrheinischen Humanisten verfolgten
und dadurch einigermassen der Vergessenheit
überlieferten Vertreter neuer Ideen pries; wäh-
rend Wiskowatoff, der Biograph Wimphe-
ling8 (Berlin 1867), dem ganzen Streite seine
Wichtigkeit und dem hochgepriesenen Locher
seinen Ruhm zu nehmen versuchte. Es wäre
nun von höchstem Interesse gewesen, wenn der
Verf. einer Specialschrift über Locher über die-
sen Streit das entscheidende Wort gesprochen
hätte. Statt dessen zieht es der Verf. unsrer
Schrift vor, streng nach den Quellen das Leben
Lochers zu erzählen und seine schriftstelleri-
schen Leistungen zu würdigen, und wird, dem
chronologischen Gang folgend, erst in der zwei-
ten Abtheilung seiner Schrift zur Besprechung
dieses Streites kommen.
Während so durch unsere Schrift die Er-
füllung des Hauptwunsches, den Forscher über
316 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
die Humanistenzeit in Betreff derselben vielleicht
gehegt hatten, nicht gewährt wird, ist die Schrift
in alle dem, was sie gibt, eine lohenswerthe Lei-
stung. Freilich ist sie durchaus eine Specialstudie ;
sie will keine umfassende Biographie, kein gross-
angelegtes Zeitgemälde sein und deshalb dürfen
an sie keinerlei Ansprüche gemacht werden, de-
ren Befriedigung von jenen verlangt werden
könnte. Nur das erste Capitel scheint einen
Anlauf dazu zu nehmen, aber diese Bemerkun-
gen reichen doch wol nicht aus zur Erkenntniss
der Zeit und genügen nicht zur Würdigung Lo-
chers, setzen überdies heim Leser Kenntnisse
voraus, die er doch erst aus der Lektüre der
Schrift erwerben soll, und nehmen sein Urtheil
im Voraus gefangen.
Die übrigen neun Capitel zeigen in vortreff-
licher Weise die gründliche Vertrautheit des
Verfassers mit seinem Gegenstände, sein ge-
sundes unbestechliches Urtheil über seinen Hel-
den, und gewähren werthvolle Aufschlüsse über
bisher wenig bekannte Thatsachen und Schriften.
J[akob Locher (mit dem Beinamen Philomu-
sus, den er erst später bei seinem Aufenthalt in
Italien annahm) wurde Juli 1471 in Ehingen
geboren, besuchte die Schule in Ulm, dann in
noch jugendlichem Alter die Universität Basel,
wo Sebastian Brant der hauptsächliche Leiter
seiner Studien wird, später Freiburg, Ingolstadt,
wo er, Jahrelang ohne rechten Führer, 1492 in
Conrad Celtis ein herrliches Vorbild seiner eig-
nen literarischen Bestrebungen erlangt, und lebt
zum Abschlüsse seiner Studien mehrere Jahre
in Italien, dessen Hauptstädte er theils allein,
theils im Gefolge des Markgrafen Jakob von
Baden betritt. In die Heimath gelangt, folgt
er 1495 einem Rufe nach Freiburg, wo er vom
Heble, D. schw. Homan. J. Locher Philomusns. 317
Kaiser Maximilian I. den poetischen Lorbeer er-
hält, 1497 nach Ingolstadt und wirkt an beiden
Orten, die selbst seine Lernstätten gewesen, in
segensreichster Weise. Seine Wirksamkeit aber
beschränkt sich nicht auf das lebendige Wort,
sondern zeigt sich ausserdem in einer Anzahl
grösserer und kleinerer Schriften. Von diesen
werden von unserm Verf. streng nach chronolo-
gischer Ordnung die erotischen Gedichte, die
Lobgesänge auf Kaiser Maximilian, dann einzelne
kirchliche Hymnen besprochen; ferner vier Dramen,
▼on denen das eine, Comödie, das Misslingen des
Znges des Königs von Frankreich nach Italien ver-
spottet, zwei andere, Tragödien, die deutschen
Fürsten zum Türkenkriege ermuntern sollen, die
vierte die Fabel vom Apfel des Paris behandelt
(eine fünfte, ganz kurze und unbedeutende Nach-
ahmung des Plautus, mag unbeachtet bleiben).
Neben den eigenen dichterischen Werken
werden dann die lateinischen Uebersetzungen
z. B. die des Lehrgedichts des Pseudophokylides,
namentlich aber die des Narrenschiffs von Se-
bastian Brant besprochen, in Betreff deren der
Yerf. trotz der vorzüglichen Leistung Zarncke’s
selbstständig zu Werke geht und manches Neue
über Werth und Wesen der L’schen Uebersetzung
vorbringt, die Ausgaben der Glassiker, besonders
die des Horaz — die erste in Deutschland —
ausführlich betrachtet, kürzer über seine ande-
; ren prosaischen Schriften, theils humanistischen,
j theils patriotischen oder theologischen Inhalts
gehandelt, andre nicht erhaltene Schriften L’s,
wie seine Grammatik, wenigstens angedeutet.
Gerade die hierher gehörigen Bemerkungen
des Yerf., die den Haupttheil unsrer Schrift
ausmachen , sind natürlich das Werthvollste
318 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
an derselben: der Inhalt jedes einzelnen Wer*
kes wird in knapper, aber genauer Fassung an-
gegeben, und die kritischen mit ruhiger Ob-
jektivität gegebenen Urtheile werden gern überall
Zustimmung finden.
Es würde zu weit fuhren, wenn ich Alles
anführen wollte, worin der Verf. Licht über un-
bekannte Dinge verbreitet oder frühere An-
nahmen verbessert; ich will vielmehr nur einige
Punkte hervorheben, bei denen die Behauptun-
gen des Verf. mir einer Ergänzung oder Be-
richtigung bedürftig erscheinen.
S. 5. Agrikola und Rudolf von Langen sind
wol schwerlich auf Antrieb des Thomas a Kempis
nach Italien gegangen; das.: die Bezeichnung:
»feine Hof- und Weltmänner« für Agrikola und
Reuchlin passt durchaus nicht. S. 10. zum drit-
ten Mal Agrikola. A. ist, soweit bekannt, nie
in Basel gewesen, ebensowenig Johann Wesel;
bei letzterem liegt wol eine leicht erklärliche
Verwechselung mit dem berühmteren Johann
Wessel vor, der allerdings A.’s Lehrer, aber
nicht in Basel, sondern in Paris war. Zu S. 11
hätte bemerkt werden können, dass der Zusatz
bei Locher’s Namen in den Annales Ingoist. von
Mederer z. J. 1489: notum Musis nomen ent-
weder vom Herausgeber herrührt, oder in die
Akten später eingetragen ist, denn auf den
18jährigen passt er nicht; dass Mederer will-
kürliche Zusätze macht, zeigt S. 11 A. 8.
S. 14 A. 19 liegt ein komischer Irrthum vor,
der allerdings nicht allein Schuld unseres Verf.,
sondern der von ihm citirten Gewährsmänner j
Günthner und Fabricius zu sein scheint. Hehle j
führt nämlich aus diesem das Distichon :
Tale tuum, Philomuse, decus, tua barbita fertur
Bembus, ut audiret, deposuisse lyram. <
Hehle, D. schw. Human. J. Löcher Philomusus. 319
und die folgenden Worte an : Philomusum Pisau-
rensem (Ehingensem) nobilem poetam Beinbas
suspexit, autor est Iovius, bezieht sie auf Jakob
Locher and schliesst daraus, »dass der berühmte
Dichter und nachmalige Cardinal Petrus Bern-
bus, der vielleicht zu Padua oder in seiner Hei-
mat Venedig mit Locher bekannt wurde, den
Dichtungen desselben Bewunderung gezollt habe«.
Nun ist allerdings bekannt gewesen, dass Pisau-
rum: Pesaro, nach Grässe (Orbis latinus, Dres-
den 1S61 S. 158) auch Foglia bedeute, nicht
aber, dass es die Latinisirung von Ehingen sei,
und das wird wol auch schwerlich erwiesen wer-
den können. Daher ist mir ganz klar, dass
diese Verse sich gar nicht auf Locher beziehen,
der sich gewiss einer solchen Bekanntschaft
auch wohl einmal gerühmt haben würde, son-
dern auf Johannes Franciscus Philo-
musus Pisaurensis, der 1490 eine Horazaus-
gabe dem Joh. Sforza widmet (s. Hain, Reper-
torium bibliographicum III, S. 90 Nr. 8887;
die Horazausgabe Lochers das. S. 91 Nr. 8898).
Damit fällt denn auch die Annahme einer Be-
kanntschaft zwischen Locher und Bembus.
Die S. 17 ausgesprochene Meinung, dass der
Massstab der antiken fabula an Reuchlins Sce-
nica progymnasmata nicht angelegt werden
dürfe, kann ich nicht billigen. Der S. 31 er-
wähnte Italiener heisst wohl Nicolaus Perottus.
S. 33 A. 2: »Da ich die Briefsammlung des
Celtis nirgends aufzutreiben vermochte« ; sie be-
findet sich bekanntlich handschriftlich in
der k. k. Hofbibliothek in Wien. Zu S. 37
batte eine eventuelle Benutzung des griechischen
Textes an Beispielen erwiesen werden sollen;
übrigens passt der Vergleich mit Celtis, der
auch nicht viel griechisch verstanden habe,
320 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 10.
nicht ganz: C. unterrichtete z. B. den Trithe-
mius in dieser Sprache. Zu S. 39: Die Exi-
stenz einer sodalitas Philomusea als eines ge-
schlossenen Kreises neben der Donaugesellschaft
ist mir trotz der Ausführungen H’s zweifelhaft;
zu den nachweisbaren Mitgliedern der späteren
sodal. liter. Angilost. gehört L. sicherlich nicht
(.Vgl., das Verzeichniss bei Dittmar, Aventiny
S. 146). Zu S. 40: Für die Feststellung des
Todesjahrs der Hedwig, Gemahlin Georgs des
Reichen von Baiern, 1502, bedarf es woi eines
andern Beweises, als einer Combination aus
einem Locher’schen Gedicht; Aventin (Bairische
Chronik 20. Geschlechtstafel) sagt: Hedwig auss
Polen, sein Gemahel + 1504.
Bei der Schrift: Rosarium caelestis curiae
(S. 34) ist eine Ausgabe Nürnberg 1517 (Berl.
Bibi. Xc 6972) nachzutragen.
Die Schrift Hehles ist eine hübsche Berei-
cherung unsrer Literatur über Geschichte des
deutschen Humanismus und es ist sehr zu wün-
schen, dass dem Verfasser bald die erforderliche
Müsse gegönnt sei, um dem wohlgelungenen An-
fang den würdigen Abschluss folgen zu lassen«
Berlin. Ludwig Geiger.
321
Gffttingische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stuck 11. 18. März 1874.
Unedirte antike Bildwerke, beschrieben und
erklärt von Rudolph Gaedechens. Heft I, Jena
1873 (0. Deistung’s Buchhandlung), mit 4 Kupfer-
tafeln und 22 S. Text in Folio.
Wir begrüssen mit lebhafter Freude und
Anerkennung den vorstehenden Anfang eines
Werkes, in welchem Professor Gaedechens inter-
essante Griechische und Römische Denkmäler,
die bisher noch nicht durch den Stich veröffent-
licht oder nur ungenügend abgebildet waren,
und die er in Zeichnungen, Durchpausungen
und Original - Photographien während seines
Aufenthalts in Italien und Griechenland in den
Jahren 1870 — 72 gesammelt hat, zu publiciren
unternimmt. Das ganze Werk ist auf sechs
Hefte mit 25 Tafeln berechnet, von denen das
etwa zu Ostern des laufenden Jahres zu er-
wartende zweite Sculpt uren aus dem Mu-
seum des Peiraieus (einen Amazonenkopf,
eine Statue des Kaisers Balbinus, eine archai-
stische Mädchenstatue und drei Grabreliefs), das
dritte Stuccor eliefs aus den vom Vesuv
21
822 Gott* gel. Anz. 1874. Stück 11.
verschütteten Städten Gampaniens
(ygl. einstweilen Gotting. Nachrichten 1871, S.
370fg.), das vierte Bildwerke aus Atheni-
schen öffentlichen und privaten Samm-
lungen, das fünfte Pompejan ische Fres-
ken, das sechste Bronzen und Terraco tten
enthält. Möge dem aufopfernden Streben des
Herausgebers, dessen Werk, so viel wir wissen,
ohne besondere pecuniäre Unterstützung er-
scheint, eine Theilnahme zugewandt werden, wie
sie wünschenswerth ist, damit dasselbe nicht in
Stocken gerathe ! Es ist aber einer solchen
Theilnahme durchaus ‘werth.
Das erste Heft bringt auf Taf. I ein auf
Europa bezügliches Pompejan. Wandgemälde,
auf den folgenden dreien Bildwerke dreifach
verschiedener Art , welche der Herausgeber
sämmtlich auf Theophane deutet mit Ausnahme
des letzten, und zwar auf Taf. II und III je ein
Pompejan. Waldgemälde, auf Taf. IV ein von
dem Herausgeber aus Athen mitgebrachtes Ter-
racottarelief, zwei kleine Bronzen, zwei Pasten
und einen Cameo. Die Darstellung auf dem
letzten, ein Weib auf einem Bock, der durch
das Meer schwimmt, wird von dem Verfasser
nicht nur nicht auf Theophane bezogen, sondern
auch für modern erklärt. Das Erstere ist —
wie auch schon Andere erkannt haben — ohne
Zweifel mit Recht geschehen. Hinsichtlich des
Anderen hat Hr. Gaedecbens übersehen, dass
ein Kenner wie Stephani im Compte rendu de
la commiss. imp. arch, de St.-Petersbourg pour
1869 p. 85 jenen Cameo als »augenscheinlich
antik« bezeichnet und in Anm. 5 eine sehr
ähnliche Darstellung auf einem anderen »eben-
falls wohl antiken Cameo « anführt. Schade,
dass Hr. Gaedechens die von ihm S. 21, n. 14
i
Gaedechens , Unedirte antike Bildwerke. 323
zuerst signalisirte Münze von Alos nicht hat ab-
bilden lassen können, weil ein ihm von Hrn.
Possalacqua (soll heissen: Postolaka) vermittel-
ter Staniolabdruck auf der Reise zu undeutlich
geworden ist. Auch ich habe die betreffende
Münze in der Sammlung der Universitätsbiblio-
thek zu Athen kennen gelernt und von dem
freundlichen und zu jeder wissenschaftlichen
Unterstützung bereiten Conservator derselben
zwei Abdrücke erhalten. Auch mir scheint die
von dem Widder getragene Figur nach Weiber-
art zu reiten. Sämmtüche Stiche sind genau
und wohlgelungen; von den Wandgemälden und
den (im Neapolitan. Mus. aufbewahrten) Bron-
zen hat der tüchtige disegnatore di Pompei Ge-
remia Discanno die Zeichnungen geliefert. Der
Text, »Europa und Theophane« überschrieben,
zeichnet sich durch Gründlichkeit und Belesen-
heit, methodische Forschung und warme Em-
pfänglichkeit für Kunst aus. Das Material für
die Untersuchung über Theophanedarstellungen,
welche den hauptsächlichsten Vorwurf der Schrift
büdet, ist so vollständig zusammengebracht,
dass auch Ref., der doch seit beiläufig einem
Menschenalter den Widderreiterinnen auf Bild-
werken seine besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt hat, nur sehr Weniges nachzutragen
wüsste, wie z. B. die von Ch. Newton A Guide
to the Bronze Room (of the Brit. Mus.) London
■ 1871, p. 53 angeführte Bronze »Helle on a ram.
Height 2s/s in. Chiusi« und die (sehr missliche)
von J. de Witte in der Gaz. des Beaux- Arts
1866, XXI p. 107 erwähnte von Fr. Lenormant
aus Griechenland mitgebrachte Terracotta.
An die Beziehung bildlicher Darstellungen
eines auf dem Widder reitenden Weibes auf
Theophane haben in neueren Zeiten zuerst ge-
21*
324 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 11.
dacht Panofka in der Arch. Ztg. 1845, S. 37,
und, unabhängig von ihm, derRef. ebda. 1846,
S. 212 fg., wo S. 214 die Deutung des von Hm.
Gaedechens S. 19, n. 10 behandelten Vasenbil-
des auf Theophane als die wahrscheinlichste
bezeichnet ist (was Hrn. G. entgangen zu sein
scheint), und zwar ohne Kunde des Umstandes,
dass schon Italinsky diese vermuthet hatte. Seit
der Zeit ist die Kunde einschlägiger Denk-
mäler bedeutend gewachsen. Unter den neu
hinzugekommenen befinden sich grade diejeni-
gen, welche die Frage, ob Theophane überall
dargestellt sei oder nicht, möglicherweise zur
Entscheidung bringen können. Eines derselben
hat zuerst Welcker signalisirt und dabei sehr
passend für die Deutung auf Theophane den
Umstand veranschlagt, dass es sich um ein
Gegenbild zu einer Europadarstellung handele,
vgl. jetzt A. Denkm. IV, S. 108 fg. Herr Gae-
dechens hat noch mehrere von solchen Bildern
und von diesen einige genauer zur Kunde ge-
bracht und dazu auf die Stelle Ovid's Metam.
VI, 103 fg. als eine solche aufmerksam gemacht,
aus welcher sowohl hervorgehe, dass die Sage
von der Theophane zu des Dichters Zeit genauer
bekannt war und öfters bildlich dargestellt
wurde, als auch, dass Poseidon sich, um die
Theophane zu berücken, in einen Widder ver-
wandelte, »dem sich die Jungfrau, wie Europa
dem Zeusstier, von seiner Schönheit betrogen,
anvertraute«. Hr. G. glaubt also, dass Ovid
auf die Entführung der Theophane durch den in
einen Widder verwandelten Poseidon hindeute.
. Aber das können wir ihm nicht zugeben. Der
Zusammenhang führt mit Entschiedenheit zu der
Annahme, dass Ovid nur daran dachte, Posei-
don habe in Widdergestalt der Theophane bei-
I Gaedechens, Unedirte antike Bildwerke. 325
gewohnt, so dass man nicht nöthig hat voraus-
zusetzen, er kenne eine Version der Sage, welche
von der bei den anderen betreffenden Schrift-
stellern vorkommenden abweiche. Indessen
halten wir es keineswegs für zu grosse Kühn-
heit, anzunehmen, dass bildende Künstler, zu-
nächst solche, welche die Sage von der Theo-
phane als Pendant zu der Sage von der Europa
darstellen wollten, jene nach Analogie dieser
auffassten. So wird es wesentlich darauf an-
kommen, zu untersuchen, ob die betreffenden
bildlichen Darstellungen nur unter der Voraüs-
setzung der Theophanesage erklärt werden
können.
Zu den in Frage kommenden Pendants von
Wandgemälden gehören zwei Bilder aus den
Thermen des Titus zu Rom, welche nach Zeich- .
nungen von Beilori durch Turnbull A curious
collection of ant. paintings, London 1744, pi.
11 und 13 publicirt sind. Die Darstellung der
Europa ist in neueren Zeiten wiederholt als
nicht antik betrachtet worden, frageweise von
0. Jahn »Europa« S. 46, Anm. 1, mit aller
Entschiedenheit von Overbeck Griech. Kunst-
mythol. I, 1, S. 590 fg., Anm. 175. Gaedechens
bemerkt gegen Jahn — denn Overbecks hat er
sich nicht erinnert — mit Recht, dass die Echt-
heit doch wohl durch die genaue Angabe der
i Provenienz verbürgt werde. Der Umstand, dass
Europa nach Männerweise reitet, hängt sicher-
lich damit zusammen, dass sie so sicherer sitzt,
zumal da ihr offenbar besonders daran liegt
nicht vom Wasser benetzt zu werden. Die
Haltung der Beine entspricht durchaus der auf
dem eingewirkten Bilde der Arachne bei Ovid
Metam. VI, 107 fg., auf welchem Europa so
dargestellt sein sollte, dass sie tactum vereri
i)
i
>
326 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
assilientis aquae timidasque reducere plantas
schien, wie ich mir schon vor Jahren, als das
Bild bei Turnbull zuerst meine Aufmerksamkeit
erregte, notirt habe. Das Bild auf TurnbulPs
pl. 13, welches Hr. Gaedechens auf Theophane
bezieht, stellt eine weibliche Figur dar, die
ruhig, die Hechte in den Schooss gelegt, auf
einem galoppirenden Widder sitzt, indem sie
auf eine Amphora, die auf dem Hintertheile des
Thieres steht, ihre linke Hand legt. Die Am-
phora bezieht Hr. G. auf eine Version der
Sage, nach welcher Theophane etwa beim Ba-
den oder Wasserschöpfen entführt sein sollte.
Das Zweite scheint in der That sehr plausibel.
Man könnte annehmen, dass die Wendung etwa
aus der Amymonesage entlehnt sei. Doch han-
delt es sich immer nur um eine weiterer Be-
stätigung bedürftige Vermuthung. Wir wollen
ausdrücklich bemerken, dass Beroe, die in
Münztypen von Berytos auch beim Wasser-
schöpfen von Poseidon geraubt vorkommt, kei-
nen neuen Pendant bietet, da dieselbe mit der
Amymone identificirt wurde (Nonnus Dion. XLI,
453). Beachtet man nur den von Hm. Gaede-
chens selbst bemerkten Umstand, dass eins von
den Bildern, welches bei Erklärung des jetzt in
Rede stehenden ebensowohl in Betracht gezogen
werden muss als das mit der Darstellung der
Europa, das von Turnbull auf pl. 12 mitge-
theilte, eine auf einem Seepferde sitzende Ne-
reide mit einem Krug in der Rechten zeigt, und
erwägt man, dass das Attribut des Wasserge-
fasses auch sonst bei Nereiden vorkommt (0.
Jahn Ber. d. K. S. Ges. d. Wissensch. 1854,
S. 181), so wird man sich vielleicht gedrungen
fühlen, hier nicht sowohl eine Nereide voraus-
zusetzen, da es schwerlich erlaubt ist, derselben
anstatt eines Seewidders einen Landwidder als
I
‘ Gaedechens , Unedirte antike Bildwerke. 327
Beitthier zuzuschreiben, als eine Gottheit, die so-
wohl auf dem Lande als auch in dem Wasser
verkehrte, wie Aphrodite Pontia, wenn es auch
I anderweitig nachweisbar ist, dass diese zu Widder
über das Meer hinreitend gedacht wurde, woran,
i nach unserem Dafürhalten, nicht gezweifelt wer-
| den kann. Mehr wollen wir an dieser Stelle
i über den betreffenden Gegenstand nicht bemerken.
; Viel grössere Wahrscheinlichkeit hat Theo-
phane auf dem Wandgemälde in der Casa di
I Saliustio, welches Hr. Gaedechens auf Taf. II
j in Abbildung bringt. Ob aber die bisher für
I Helle gehaltene Figur eine Gespielin der Theo-
phane darstellen soll, »welche den Raub zu
hindern suchend, kühn sich ihr nach ins Meer
gestürzt hat, von zwei in seinem Liebeswerk
den Gott fordernden Eroten aber zurückgehalten
wird«, wie Hr. G. will, das bezweifeln wir sehr.
Wir wollen nicht sagen, dass die Eroten ihre
Mühe sparen konnten, da das Weib, wäre es
eine Sterbliche, doch nichts ausrichten, sondern
bei weiterem Fortschreiten unfehlbar ertrinken
würde. Die Hauptsache ist, dass man vom Ufer
nichts sieht und deshalb zunächst auf die An-
sicht geführt wird, die Handlung gehe mitten
im Meere vor sich. Dazu kommt eine von dem
Herausgeber wohl angedeutete, aber gar nicht
weiter erklärte Eigentümlichkeit in der Tracht
; des Weibes. Sein Kopf »ist mit einer gelben
halbeiformigen Mütze bedeckt«. Man wird
schwerlich sagen können, dass es sich um eine
Thrakisch-Makedonische Nationaltracht handele.
Aber auch unter den weiblichen Meergottheiten
wird man, soweit meine Kunde der Bildwerke
I reicht, vergebens nach einer mit gleicher Kopf-
bedeckung versehenen suchen. Ich schweige von
ähnlichen Kopfbedeckungen der Aphrodite, da
328 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
die betreffenden Bildwerke diese keinesweges als
Pontia angehen. Auch liegt es zu klar zu
Tage, dass Aphrodite Pontia nicht gemeint Bein
könne. Es giebt unter den Meeresgottheiten
weiblichen Geschlechts nur eine, welcher man
die Kopfbedeckung , wenn sie überall bedeutsam
sein soll — und das ist doch wohl anzunehmen
— zuschreiben kann : Amphitrite, den weiblichen
Poseidon, die Gemahlin des Meergottes, dem
grade auf Pompejanischen Bildern wiederholt die
Schiffermütze gegeben ist. Man vergleiche zu-
nächst den geschnittenen Stein in den Denkm.
f. a. Kunst II, 57, 125, auf welchem unter den
drei Chariten Aglaia als Gemahlin des Hephä-
stos durch die halbeiförmige Mütze dieses Got-
tes gekennzeichnet ist. Dann die bisher nicht
beachtete Darstellung der Venus auf dem Wie-
ner Silbergefässe in dem bekannten Arneth’-
schen Werke, Taf. S VII, n. 90, welche mit der
sogenannten Phrygischen Mütze versehen ist, wie
ich meine als mater Aeneadum, genetrix Aeneia.
Auch in anderer Hinsicht passt Amphitrite bes-
ser als jede andere Meeresgöttin. Ihre Eifer-
sucht auf den Gemahl ist auch sonst aus spä-
terer Sage bekannt. Aus dem Meere auf-
tauchend, wie Wassergottheiten mehrfach bei
Schriftstellern und auf Bildwerken Vorkommen,
sei es zufällig, sei es, weil sie von dem Atten-
tat auch aus der Ferne her Kunde hatte
(xXvsi xai jiQoöm&sv c Sv #srfg), bemüht sie
sich in höchster Betrübniss die Schmälerung
ihrer Rechte zu verhindern. Trifft diese Deu-
tung der betreffenden Figur das Richtige, so
steht die Beziehung des Bildes auf die Theo-
phanesage wohl so gut wie sicher.
Auch für das auf Taf; IH abbildlich mitge-
theilte Wandgemälde dürfte, soweit sich überall
Gaedechens, Unedirte antike Bildwerke. 329
fiber dasselbe urtheilen lässt, keine der mögli-
chen Erklärnngsweisen so gut passen wie die
ans der Theophanesage.
Unter den Bildwerken aus anderen Gattun-
gen der Kunstübung, welche Hr. Gaedechens
auf diese Sage zurückgefiibrt hat, sind aber
einige, die sicher nicht die Theophane angehen.
Wer wird nicht annehmen wollen, dass das
anf dem Widder sitzende Weib der Münze oder
der Münzen von Alos Helle sei, zumal wenn er
die gewöhnliche Ansicht theilt, dass die auf dem
Widder sitzende männliche Figur der Münzen
dieser Stadt Phrixos ist, wie doch Hr. Gaede-
chens thut? Wie wohl diese Deutung zu den
Sagen und Religionsgebräuchen der Stadt passe,
hat auch 0. Jahn Annali d. Inst. arch. T.
XXXIX, p. 89 bemerkt, dabei freilich — um
das gelegentlich hier zu erwähnen — in Betreff
der Stelle Hygin. astron. I, 20 : »hunc (arietem)
antem nonnulli dixerunt in oppido Orchomenio,
qnod est in Boeotia, natum; alii dicunt in Sa-
lonum Thessaliae finibus procreatum«, sich ge-
irrt, indem er behauptete, die letzten Worte
beziehen sich auf Halos. Dagegen spricht schon
die geographische Lage dieser Stadt. Ohne
Zweifel ist an die später Minya, früher Hal-
monia, Halmon und Salmon genannte Stadt zu
denken, die bekanntlich im äussersten Norden
Thessaliens an der Makedonischen Gränze lag
und auch in anderer Beziehung durchaus passt,
vgl. K. 0. Müller Orchom. u. d. Min. S. 244
und Bursian Geogr. von Griechenland I, S. 51.
Hygin schrieb entweder: Salmone in Thes-
saliae finibus, oder: in Salmonio (sc. oppido)
in The8s. fin.
Ferner streitet Hr. Gaedechens , wie ich
meine, sehr mit Unrecht hinsichtlich des Cypri-
330 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
sehen Münztypus der an einem Widder über
das Meer hinschwimmenden Frau zu Gunsten
der Theophane gegen die allgemein angenom-
mene Deutung auf Aphrodite. Er erinnerte sich
dabei, wie ich sehe, weder der schon in der
Arch. Ztg. 1862', Taf. CLXVI herausgegebenen
Bronzeplatte noch der im Bullett. d. Inst. arch.
1869, p. 131 von Helbig erwähnten Spiegel-
kapsel, auf welchen beiden jüngst von Stephani
im Compte r. p. 1869, p. 87 fg. besprochenen
Monumenten die auf dem Widder reitende
Aphrodite mit Sicherheit zu erkennen ist. Frei-
lich handelt es sich hier nicht um einen Ritt
durchs Meer. Aber wer wird in Abrede stellen
wollen, dass, wenn der Landwidder als heiliges
Thier der Göttin galt und sie darauf reitend
gedacht wurde, derselbe auch der Aphrodite
Pontia bei ihrem Schweifen durchs Meer gege-
ben werden konnte (ganz abgesehen von den
oben erwähnten Cameen mit der Aphrodite
Epitragia) ?
Weiter kann ich mich schwer dazu ent-
schliessen, anzunehmen , dass die Bronzestatuet-
ten, welche ein auf einem kauernden Widder
bequem lagerndes Weib darstellen, die Theo-
phane im Moment vor der Meerfahrt angehen,
in welchem die Geliebte Poseidons, »der Europa
gleich, von Zuneigung zu dem schönen Widder
bewogen, sich auf den Rücken desselben, der
sich niedergelassen, gelagert hat« (Gaedechens
S. 19), obgleich es auf der Iland liegt, dass
diese Auffassungsweise ungleich passender ist,
als die Annahme, in diesen Fällen »sei Helle
gebildet, in welchem sie das Thier, welches sie
retten soll, besteigt« (Stephani S. 111). Die
betreffenden Bronzen stellen, meine ich, ent-
Gaedechens, Unedirte antike Bildwerke. 331
weder die Jahreszeitengöttin des Frühlings oder
Aphrodite dar.
Ueberall dürfte von den beiden Erklärungs-
weisen des auf dem Widder reitenden Weibes,
welche als zunächst zulässig betrachtet werden
können, der auf Helle und der auf Aphrodite,
die letztere in den meisten Fällen den Vorzug
vor der ersteren verdienen. Diesen Gedanken
an Aphrodite sprach ich schon vor dem Er-
scheinen der »Angebl. Argonautenbilder« von
Flasch in dem Text zu den Denkm. d. a. Kunst
II, n. 85, b aus. Flasch hat grade die von mir
zur Begründung angeführten Cyprischen Münzen
znr Grundlage seiner Beziehung aller betreffen-
den Bildwerke auf Aphrodite gemacht. An
Helle darf meines Erachtens nur da gedacht
werden, wo, bei sonstiger Zulässigkeit dieser
Beziehung, die Möglichkeit der Annahme eines
Pendants zu einer Darstellung des Phrixos vor-
handen ist. Man vergleiche die bekannte Roma-
büste, die an beiden Seiten des Helmes je einen
der Zwillinge unter der Wölfin zeigt. Dass da-
hin die Münztypen der allein auf dem Widder
sitzenden Helle gehören, ist von mir schon in
der Arch. Ztg. 1845, S. 213 angedeutet. Ueber-
all kann ich mich, was Helle betrifft, auf die
an diesem Orte mitgetheilte Auseinandersetzung
noch jetzt beziehen. Seitdem ist ein Vasenbild
bekannt geworden, welches vielleicht zeigt,
dass Phrixos auch bei dem Anfang der Farth
allein auf dem Widder dargestellt werden
konnte (Ann. d. Inst. arch. XXXIX, tav. d’agg.
C, vgl. 0. Jahn p. 91 fg.), ohne dass dadurch
die Wahrscheinlichkeit der Annahme einer be-
liebig allein auf dem Widder sitzenden Helle
vergrössert würde* Durch die Bekanntmachung
eines zweiten Melischen Reliefs von Seiten Hrn.
332 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
Gaedechens’ kann die Deutung auch des schon
früher bekannten auf Helle an Wahrscheinlich-
keit zu gewinnen scheinen , da das neu bekannt
gewordene Wasser unter dem Widder andeutet
und »Darstellungen des Phrixos auf ähnlichen
Melischen Reliefs Vorkommen, so dass man sich
veranlasst fühlen könnte, an Pendants zu den-
ken. Aber wer bürgt dafür, dass die allerdings
gewöhnlich angenommene Erklärung des männli-
chen Widderreiters als Phrixos das Richtige
trifft? Neben diesem kann ja auch an Hermes
gedacht werden, vgl. einstweilen die von Jahn
a. a. 0. p. 90 behandelten Bildwerke. In die-
sem Falle wird aber die Widderreiterin, auch
bei Voraussetzung der gegenseitigen Bezüglich-
keit der beiden Darstellungen, die erst genauer
nachzuweisen sein wird, am Wahrscheinlichsten
auf Aphrodite bezogen werden.
Hienach müssen wir wohl unser Endurtheü
dahin abgeben, dass, auch wenn das Wandge-
mälde in der Casa di Sallustio, rücksichtlich
dessen wir unsere Auseinandersetzungen gern
weiterer Prüfung anheimstellen, und vielleicht
auch das andere, auf Taf. III herausgegebene,
auf Theophane zu beziehen ist, es doch gerathen
sein dürfte, diese Deutungsweise auf die Pom-
pejanische Wandmalerei zu beschränken, da in
Betreff der anderen von Hrn. Gaedechens be-
handelten Bildwerke für ein paar die, Deutung
auf Helle, für die Mehrzahl aber die auf Aphro-
dite grössere Wahrscheinlichkeit hat.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass uns Hrn.
* »
Gaedechens’ Erklärung S. 7 fg. des auf den
Wandgemälden der Städte Campaniens- wieder-
holt vorkommenden , aber bisher räthselhaft ge-
bliebenen Geräthes., welches Eros auf dem
Europabilde Taf. I auf seiner linken Schulter
Gaedecbens , Unedirte antike Bildwerke. 333
I '
tragt, als kurzes Scepter, entschieden gelungen
erscheint. Allein wir können nicht glauben,
dass die in den Pitt. d’Ercolano III, p. 279 und
an der Candelaberbasis des Vatican bei Gerhard
Ant. Bildw. Taf. LXXXIII vorkommenden Ar-
temissymbole in dieselbe Kategorie gehören. Hr.
6. bemerkt selbst, dass dieselben dem als Agyi-
| eus erkannten Typus Thrakischer und Illyri-
scher Münzen gleichen. Artemis galt aber ja
| auch als äyvtaTg inioxonog (Callimach. Hymn.
I in Dian. 38).
I Friedrich Wieseler.
i
i
Baron Carl Claus von der Deekens Reisen
in Ost- Afrika in den Jahren 1859 — 1865.
Herausgegeben im Aufträge der Mutter des
Reisenden, Fürstin Adelheid von Pless. — Er-
zählender Theil. Mit zahlreichen Abbildungen,
gezeichnet von C. Heyn, E. Heyn, G. Sundblad
und Anderen und Karten von B. Hassenstein.
Zweiter Band. Leipzig und Heidelberg. C. F.
Winter’sche Verlagshandlung 1871,
mit dem besonderen Titel:
Baron Carl Claus von der Deekens Reisen in
Ost-Afrika in den Jahren 1862 bis 1865. Nebst
Darstellung von R. Brenners und Th. Kingel-
bachs Reisen zur Feststellung des Schicksals
der Verschollenen, 1866—1867. Bearbeitet von
Otto Kersten, früherem Mitgliede der von der
Decken’schen Expedition. — Neue Reisen im
Innern und an der Küste. Die ostafrikanische
Inselwelt (Madagaskar , Seschellen , Reunion,
Nossibe und Komoren. Reisen in den Ländern
der Galla und Somali. — Erläutert durch 15
334 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 11.
Tafeln, 16 eingedruckte Holzschnitte und 8
Karten. Leipzig und Heidelberg. C. F. Winter-
sche Verlagshandlung. 1871.
Die Geschichte der Entstehung und Redak-
tion, der Zweck und Umfang des Deckenschen
Reisewerks, so wie auch der I. Band des »Er-
zählenden Theils« sind in einer früheren An-
zeige dieses Blattes (1869, Stück 50 S. 1987 ff.)
kurz besprochen worden. Der 1. Band endigte
mit der Schilderung eines nicht geglückten
Unternehmens zur Besteigung des Berges Kili-
mandscharo, bei dem Decken und sein Beglei-
ter Thornton damals nur eine Höhe von 8000
Fuss erreichten, und mit der Rückkehr des Rei-
senden zu seinem Hauptquartier Sansibar am
Ende des Jahres 1861.
Der vorliegende II. Band enthält die Be-
schreibung der ferner von Sansibar aus unter-
nommenen Reisen Deekens 1) an der Küste und
im Innern Ost-Afrikas, 2) in der Ostafrikani-
schen Inselwelt, 3) im Lande der Galla und
Somali bis zu seinem im Jahre 1865 erfolgten
Tode, nebst den angehängten Berichten einiger
anderer Reisenden, die ausgegangen waren, um
die nähern Umstände von Deekens letzten
Schicksalen an Ort und Stelle festzustellen.
Zunächst im Sommer des Jahres 1862
wandte sich Decken wieder denselben Gegenden
Ost-Afrika’s zu, aus denen er 1861 in Folge
von Krankheiten und andern unangenehmen
Verhältnissen hatte weichen müssen. Seine Ab-
sicht war, abermals über den Hafenplatz Mom-
bas (etwas nördlich von Sansibar) ins Innere
einzudringen, womöglich den grossen Ukerewe-
See zu erreichen und von da über den durch
y. d. Deekens Reisen in Ost-Afrika. II. Bel. 335
den deutschen Missionar Erapf bekannt gewor-
denen hohen Kenia-Berg zurückzukehren.
Aber auch dies Mal trat ihm ein feindliches
Geschick entgegen. Er und sein Begleiter Dr.
Kersten gelangten westwärts nur bis an die
Grenzen des wilden Nomadenyolks der Masai,
die ihnen die Weiterreise wehrten. Um nicht
ohne alle Resultate zurückzukehren, entschloss
Decken sich zu einem abermaligen Besuche und
Besteigung des Kilimandscharo, der 20 d. Mei-
len südwärts vom Kenia sich erhebt. Die
I Schneeregion des genannten Berges wurde auch
dies Mal nicht erreicht. Doch kam man 6000
Fnss höher als im Jahre 1861 bis zu einer
Höhe von 14,043 Fuss. Hier, wo sich die Rei-
senden schon oberhalb der Vegetationsgränze
befanden, konnten sie wenigstens so viel deut-
, lieh erkennen und festsetzen, dass der Rest des
, Berggipfels, dessen Höhe sie auf 18,800 Fuss
bestimmten, in der That ganz mit Schnee be-
deckt sei, was zwar schon von Anderen behaup-
tet, aber von englischen Geographen auch wie-
! der bezweifelt worden war. Die Leiden ihrer
schwarzen Diener und Begleiter von der Kälte,
der dünnen Luft und Mangel an Lebensmitteln
waren auf der angedeuteten Höhe sogross, dass
! sie ihren Plan, die Schneeregion selbst zu be-
i treten aufgeben mussten (S. 51 ff.). — Während
! der Kilimandscharo und seine Nachbarberge
von den friedfertigen Dschaggas und anderen
ihnen ähnlichen in gewissem Grade fortgeschrit-
tenen, industriösen und friedlichen Völkern be-
wohnt werden, streifen in den weiten gestreck-
ten Ebenen, aus denen jene Gebirge sich er-
heben, jene äusserst wilden und kriegerischen
Masais, die weit und breit die Sicherheit und
den Handelsverkehr bedrohen und ihre räube-
/
336 Gott. gel. Anz. 1874. Stüde 11.
rischen und zerstörenden Ausflüge aus dem In-
nern oft bis an die Küsten und die Hafenstädte
ausdehnen. Diesen Masai ist in unserm Buche
ein eigenes Gapitel gewidmet (S. 22 — 37).
Obgleich die Hauptzwecke dieser Expedition
nicht erreicht wurden, so hat sie doch vielfach
unsere geographischen Kenntnisse der besuchten
Gegenden vermehrt und berichtigt. Das Kili-
mandscharo-Gebirge und seine Nachbarschaft
wurde noch nie zuvor von so tüchtigen Beob-
achtern und mit so zahlreichen wissenschaftli-
chen Instrumenten untersucht. »Die Gegend
gehört jetzt zu den am besten astronomisch
und geodätisch festgesetzten Ost- Afrikas«. Ba-
ron Decken erhielt daher auch für diese Unter-
nehmung die goldene Medaille der geögraphi-
schen Gesellschaft von London. Mit Recht mag
man aber wohl mehrere Beobachtungen anderer
Art, die unsere Reisenden auf diesen Ausflügen
machten und über die sie nur gelegentlich ein
Wort fallen lassen, eben so hoch, wo nicht
höher anschlagen, als jene geographischen Re-
sultate. Mehrfach fand der Berichterstatter (Dr.
Kersten) Veranlassung, die guten moralischen
Eigenschaften der oft sehr verschrieenen Einge-
bornen zu loben. »Immer mehr«, sagt er, »er-
kenne ich mit wahrem Vergnügen, dass auch
die Dunkelfarbigen Afrikas, so wenig Manche
dies zugeben wollen, den meisten guten Re-
gungen des Herzens zugänglich sind«. Auf dem
Wege zum Kilimandscharo fand er auch einen
Volksstamm von nicht geringer technischer oder
industrieller Begabung, bei dem das Schmiede-
handwerk bedeutend entwickelt war, und bei
dem dien Eisenschmiede mit den rohesten Hülfs-
mitteln ganz bewundernswürdige Kunstprodukte
zu Stande brachten.
d. Deekens Eeisen in Ost- Afrika. IT. Bd.
337
Auch die Schönheit des Menschenschlags bei
manchen dieser ostafrikanischen Völker ist sehr
bemerkenswerth' So zeichnen sich die Mädchen
und Frauen der Dschaggas, der Umwohner des
Kilimandscharo, »durch vortheilhafte Körperbil-
dung, Ebenmas8 des Wuchses, anmuthige und
= stolze Haltung der Art aus, dass es ein wahrer
Kunstgenuss ist, ihre glänzendbraunen Gestalten,
ihren leichten schwebenden Gang zu betrachten.
£in Dschagga- Mädchen, in einer ihrer anmuthi-
| gen Stellungen modellirt, würde in den Museen
| Europas sicherlich die Bewunderung aller Ken-
| ner auf sich ziehen« (S. 42).
Am Ende 1862 kam Decken mit Kersten
von dieser seiner zweiten Kilimandscharo-Reise
wieder mach Sansibar zurück. Da seine Märsche
zu Fuss ins Innere von Afrika zwei Mal auf
dieselbe Weise vereitelt waren, so dachte er nun
darauf, eine fernere Expedition anders zu or-
ganisiren. Er beschloss, die Küstenflüssä Ost-
Afrikas zu erforschen, auf einem derselben mit
j 7
einem wohl armirten Dampfer so weit als mög-
lich vorzudringen, und dann erst vom äussersten
| Punkte der Schifffahrt aus die weiteren Fuss-
märsche ins Innere zu beginnen. Er beorderte
! daher in Europa den Bau eines geeigneten Fluss-
dampfers. Die Zeit bis zur Ausführung dieses
Auftrags und bis zur Ankunft des bestellten
s Dampfers wurden von ihm und Dr. Kersten mit
einigen Zwischen- und Erholungsreisen übers
Meer zu den afrikanischen Inseln, den Seschellen,
den Maskarenen, den Komoren und Madagaskar
ausgefüllt. — Zum Besuche dieser Inseln wur-
den verschiedene Reisegelegenheiten benutzt:
englische Regierungsschiffe, die zwischen den
verschiedenen Inseln Aufträge zu besorgen hat-
ten, auch englische und französische Postdampfer,
22
i
i
338 Gott. gel. An z. 1874. Stuck 11.
die auf ihren Reisen zwischen Indien, Aden,
Sansibar etc. in den Häfen dieser Inseln vor-
sprechen, und endlich auch arabische Handels-
schiffe, die von dem ostafrikanischen Handels-
centrum Sansibar aus ihre Unternehmungen bis
zu den Komoren und Madagaskar ausdehnen.
Madagaskar und die Seschellen wurden nur
flüchtig besucht, eben so auch die Insel Mauri-
tius (oder Isle de France), die »Heimath von
Paul und Virginie«, obwohl wir in unserem
Buche en passant auch über sie manche will-
kommene Belehrung erhalten.
Desto länger und ergiebiger war der Auf-
enthalt auf der reizenden französischen Insel
Bourbon (oder »Reunion«) vom Mai bis August
1863. Und so wie diese Insel die Perle aller
französischen Colonien in der Tropenwelt ist,
so ist ihre umständliche Schilderung (von Seite
125 bis 197) 'das hübscheste Gapitel in unseren
Buche. — Baron Decken und sein Begleiter
Dr. Kersten umfuhren und durchwanderten die
Insel in allen Richtungen, besuchten ihr vulka-
nisches Innere, bestiegen ihre höchsten Berge,
beobachteten ihren schönen Anbau und kamen
mit allen Classen ihrer liebenswürdigen Bewoh-
ner in so vielfache Berührung,., dass ihr er-
schöpfender Bericht über dieses nicht ganz 40
Quadratmeilen grosse Land mit nicht ganz
200,000 Einwohnern jedenfalls eine äusserst be-
friedigende und interessante Lektüre gewährt.
— Nach diesem Berichte scheint es, dass die
in ihrem Mutterlande jetzt so wenig gut geord-
neten Franzosen dort in jenem Tochterlande
das Muster eines kleinen blühenden Staatswesens
geschaffen haben. Man ist in der That erstaunt
über alle die heilbringenden Einrichtungen und
Institute, welche den uns vorliegenden Berichten
r
i
y. d. Deekens Reisen in Ost-Afrika. II. Bd. 339
zufolge die französischen Golonisten auf jener
entlegenen einsam im grossen Ocean schwimmen-
den Insel gestiftet haben.
Rings um das Eirund yon Reunion herum
ist eine vortreffliche Küstenchaussee ausge-
fnhrt, mit der weiter binnenwärts ein zweiter
Bahnkreis parallel läuft (erste und zweite
»Route de Ceinture«). Auch ist das gebirgige
Innere überall von vortrefflichen Wegen für
Fuhrwerk und Reiter durchzogen« »Seit man
die Nothwendigkeit guter Verkehrswege er-
kannte, hat man die für die kleine Insel gewiss
ungeheure Summe von mehr als 25 Millionen
Franken auf Strassen- und Brückenbau verwen-
det, ohne das Land mit Schulden zu belasten
und ohne die Hülfe der Regierung in Anspruch
zu nehmen« (S. 146).
Die ganze Insel ist bis i p das Innerste ihrer
Bergthäler und vulkanischen Schluchten gut an-
gebaut und mit Zucker- und Kaffeeplantagen
und anderen Anpflanzungen versehen, und der
Bodenbau macht noch immer Fortschritte. Auch
hat man prächtige Heilquellen in den vulkani-
schen Thälern entdeckt, deren Bade- und Trink-
Anstalten sich jährlich bessern und deren Ruf
bei dem trefflichen Klima der Insel sich schon
so verbreitet hat, dass gewiss bald Genesung
Suchende aus entlegenen Regionen, namentlich
auch aus Indien herbeiströmen werden (S. 168).
Die zahlreichen kleinen Küstenstädte sind
freundlich gebaut, mit guten Hafenanstalten,
Hotels etc. versehen. Die Hauptstadt St. Denis
bietet so viele Ressourcen dar, wie sie sich
selbst in kleineren Residenzen und Mittelstädten
in Europa kaum finden, eine Bank, einen Bazar,
ein Theater, einen botanischen Garten, Kam-
mern für Ackerbau und Handel, ein vortreff-
22*
340 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
liches Museum mit ansehnlichen naturhistori-
schen Sammlungen, Ausstellungen, Bibliotheken,
wissenschaftliche Gesellschaften , in denen fast
jeder Zweig der Naturwissenschaften seine be-
deutenden Vertreter (Kreolen, Eingebome der
Insel) bat. Einer derselben, der Ingenieur Mail-
lard, hat »diese reichste und schönste aller
französischen Colonien« in einem ausführlichen
Werke meisterhaft geschildert.
Auch für den Unterricht der Jugend sorgt
man in Reunion auf vorzügliche Weise, und in
diesem Punkte kann manche Behörde einer
europäischen Stadt und Landschaft an dem, was
auf dieser Insel geschieht, sich ein Beispiel nehmen
(S. 131). — In der Hauptstadt bestehen mehrere
höhere Lehranstalten, ein Lyceum, ein Kolleg
der Jesuiten mit ausgezeichneten Hülfsmitteln
und Sammlungen aller Art ausgestattet, eine
Ackerbau- und Gewerbschule mit Eisengiesserei
und anderen Werkstätten für die Schüler, und
im ganzen Lande sind zahlreiche Volksschulen
vorhanden, in denen unentgeltlicher Unterricht
ertheilt wird. »Weit mehr noch wurden wir
durch die Wohlthätigkeitsanstalten gefesselt, die
Hospitäler, Waisen- und Rettungshäuser, in de-
nen .wir die Aufopferung und Hingebung der
katholischen Gesellschaften in ihrer ganzen
Grösse kennen lernten« (S. 133). Namentlich
preist der Verf. »die viel geschmähten Jesuiten,
denen entgegen zu treten in Europa gerathen
sein mag, die aber in den Kolonien und Län-
dern der Barbaren sich als Culturbringer und
Missionäre ersten Ranges erweisen«.
Leider ist es mir hier nicht möglich, den
Reisenden zu allen den Thälern und hohen Vul-
kanen, die sie erklommen und in ihrem Berichte
v. d. Deekens Beisen in Ost* Afrika. XI. Bd. 341
%
so gut beschreiben, zn folgen. Aber in Summa
ist dieser Bericht wohl die eingehendste und
lehrreichste Beschreibung dieser interessanten
Insel und Colonie, welche unsere deutsche
geographische Literatur darbietet.
Einen grossen Contrast zu dieser hübschen
Episode von Reunion bildet der Besuch, den
Dr. Kersten der Insel Nossibe und dem Archi-
pel der Comoro-Inseln zwischen Madagaskar
und Afrika abstattete, und wo er sich von In-
sel zu Insel, von einem kleinen einheimischen
Insel-Despoten (Sultan) zum andern auf kleinen
arabischen Fahrzeugen und mit unzuverlässigen
arabischen Schiffscapitänen hindurcharbeitete,
wo ihm aber doch die Empfehlungen des weit-
hin respectirten Sultans von Sansibar und die
Creditive des grossen und berühmten Sansibar-
Handelshauses O’swald und Co. stets hülfreich
zur Seite waren. Die Abenteuer und Zu*
stände, die er schildert, sind besonders deswe-
gen so interessant, weil es wahrscheinlich in
das höchste Alterthum hinaufreichende Verhält-
nisse sind. Er durchpilgerte und erforschte
auch das Innere der meisten dieser von Deut-
schen so selten besuchten Eilande und unter-
suchte namentlich auch ihre vielen Vulkane,
weil die Eenntnissnahme von allen ostafrikani-
schen Feuerbergen ein Hauptzweck seiner Reise
war. Er fand bei seinen Ausflügen zu diesen
Gegenden unsere kartographischen Bilder der-
[ selben, die grösstentheils auf englischen Auf-
I nahmen beruhen, vielfach unzuverlässig undem-
pfielt der jungen deutschen Kriegsmarine eine
Berichtigung dieser Karten anzustreben. »Da
wir Deutschen«, sagt er (S. 248), »in entlegenen
Meeren und Ländern bisher fast nur die Karten
\ anderer Nationen benutzt haben, so wäre es
342 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
wohl Zeit, dass auch wir in dieser Hinsicht et-
was für das allgemeine Beste thäten, um so
mehr, da unser Handel jetzt in Ost- Afrika so
stark vertreten ist. Sicherlich können Kriegs-
schiffe, abgesehen von ihrer Aufgabe, den Han-
del zu schützen, im Frieden nichts Besseres
thun, als Karten viel besuchter Küsten aufzu-
nehmen und die Gefahren zu erforschen, welche
den Kauffahrteischiffen durch mangelhafte Kennt-
niss des Fahrwassers drohen«.
Nach den verschiedenen Fahrten zum Kili-
mandscharo, zu den kleinen ostafrikanischen In-
seln und Madagaskar (in den Jahren 1861 — 63)
ging Decken nach Europa, um den Bau seines
Flussdampfers zu betreiben und sich neue Hülfs-
mittel und noch einige Beißegefährten und Mit-
arbeiter zu verschaffen. Mit diesen kehrte er
Ende 1864 nach Sansibar zurück, wo der Ex-
plorationsdampfer, zu Ehren des Königs von
Hannover (Deekens Landesfürsten) »Welf« ge-
nannt, zusammengesetzt wurde. Mit ihm fingen
unsere Beisenden nun ihre speciellen Unter-
suchungen der Küsten im Norden von Sansibar,
der Länder der Galla und der Somali und meh-
rerer ihrer kleinen Flüsse und Inselgruppen an.
Zuerst wurden die Formosa-Bai und die Flüsse
Osi und Dana und der in der Nähe ihrer Mün-
dungen liegende von alten Zeiten her im ara-
bischen Handel berühmte Archipel der Witu-
Inseln untersucht und beschrieben.
Dann kam weiter nordwärts der Juba-Fluss
im Lande der Somali, der grossen langgestreck-
ten nordöstlichen Halbinsel Afrikas, an die Beihe.
Aber an diesem unheilvollen Flusse sollten die
ganze Unternehmung und ihre Leiter plötzlich
ein tragisches Ende finden. Die Somali, wie
es scheint, ein Mischlingsvolk von Negern und
y. d. Deekens Reisen in Ost-Afrika. II. Bd. 343
Arabern oder doch ein Typus, der zwischen
beiden in der Mitte steht, sind grösstentheils
Nomaden und sind bei den Europäern als krie-
gerisch, räuberisch und von unbändigem Cha-
rakter in bösem Rufe. Schon am Ende des
vorigen Jahrhunderts begingen sie Mord und
andere Unthaten an der Mannschaft englischer
Schiffe. In den fünfziger Jahren dieses Jahr-
hunderts wurden die Nilquellen-Entdecker Speke
und seine Begleiter bei ihnen überfallen und
ansgeplündert, wobei Speke selbst nur mit ge-
nauer Noth aus eilf Wunden blutend entkam.
»Nichtsdestoweniger«, sagt Dr. Eersten, >giebt
es unter den Somalis zwar wie überall Schelme,
doch auch viele äusserst höfliche, feingesittete,
gutmüthige, ja gebildete und gelehrte Leute«
(8. 321).
Noch schlimmer als dem Engländer Speke
erging es bei den Somali oder vielmehr bei
einer Schelmenbande von Somali unsern deut-
schen Reisenden. Sie brachten zwar die Auf-
fahrt und Erforschung des Juba-Flusses in ih-
rem kleinen Dampfer Welf innerhalb 18 Tage-
reisen glücklich zu Stande aufwärts bis zu ge-
wissen Stromschnellen , welche einige Meilen
nordwärts von einer kleinen Ortschaft, Namens
Bardera (unter 2° 30' N,B.), der Schifffahrt ein
Ziel setzen. Bei einem Versuche, diese Strom-
schnellen zu überwinden, blieb der kleine Dam-
pfer Welf Anfangs October 1865 auf den Fel-
sen sitzen und wurde der Art beschädigt, dass
man alle Waaren, Gerätschaften, Instrumente,
Waffen ans Ufer schaffen musste. Weil sie bis-
her ohne Anfeindung durchgekommen waren, wur-
den unsere Reisenden auch bei dieser Gelegen-
heit nicht ängstlich, liessen ihre Waaren und
ihre neben diesen aufgeschlagenen Zelte ohne
344 Gott. gel. Anz. 1874. Stüek 11.
Verschanzung und Befestigung und Baron Decken
ging sogar mit seinem Begleiter Dr. Link nach
Bardera zurück, um sich dort neue Hülfs- und
Lebensmittel zu verschaffen. Aber jene am Ufer
ausgepackten Schätze der Europäer waren für
die in der Nachbarschaft hausenden Kablallah,
einen Somali-Stamm, eine zu grosse Verlockung.
Sie fielen plötzlich über die kleine beim Wrack
des Schiffes und seiner Ladung Wache haltende
Mannschaft der Deutschen und ihrer sehwarzen
Diener her, um sie zu plündern. Die ersteren
vertheidigten sich tapfer, tödteten einige der
zahlreichen Plünderer und* schlugen den Rest
freilich nicht ohne den Verlust einiger der Ihri-
gen in die Flucht, ergriffen aber in der berech-
tigten Erwartung, dass die Somalis mit noch
grösseren Haufen zurückkehren würden, auch
selbst die Flucht und eilten in einem übrig ge-
bliebenen Boote den Fluss Juba zur Küste
hinab. Die Räuber und Mörder, die durch den
Tod der Ihrigen nun auch zur Blutrache aufge-
regt waren, kehrten allerdings zurück, nahmen
Alles, was die Europäer zurückgelassen hatten,
zu sich, und wandten sich dann wutschnaubend
nach dem benachbarten Bardera, wo sie den
Rest der Deutschen, den Baron Decken und
seinen Freund Dr. Link, trafen und ebenfalls
ums Leben brachten, indem sie ihre Leichname
in den Fluss warfen.
Da bei der Eile, mit welcher die überleben-
den Begleiter Deekens den Fluss Juba hinab
bei Bardera vorbei und dann nach Sansibar
hatten flüchten müssen, noch viele Punkte über
das letzte Schicksal des Reisenden zweifelhaft
blieben, — Manche stellten sogar die Vermu-
tung auf, dass Decken und sein Begleiter Dr.
Link noch lebten und vielleicht nur in Sklaverei
y. d. Deekens Reisen in Ost-Afrika. II. Bd. 345
abgeführt seien, — so unternahmen im Aufträge
der Decken’schen Familie zwei mit dem Orient
und Afrika vertraute Deutsche, die Herren Ein-
zelbach und Brenner, ersterer ein früherer Be-
gleiter Heuglins und dieser ein Gefährte
Deekens auf seinen letzten Reisen, im Jahre
1866 eine Forschreise zur völligen Aufklärung
des Endschicksals der deutschen Expedition.
Beide besuchten von Sansibar aus die Mündungs-
gegenden des Juba-Flusses, verhörten mehrfach
die dortigen Häuptlinge und mehrere mit
Decken in Berührung gekommene Eingeborne.
Keiner von beiden aber erreichte den Schauplatz
des Trauerspiels, Bardera am oberen Juba.
Kinzelbach erkrankte an der Küste und wurde
ebenfalls ein mit Recht beklagtes Opfer seines
Forscheifers. Brenner unternahm von Sansibar
aus mehrere Ausflüge zu den Küstenflüssen
Dana und Osi im Süden des Juba, erreichte
aber auch die obere Partie dieses Flusses nicht
gleich wieder. Man hätte in das durch den
Raubmord Decken’s in grosse Aufregung ver-
setzte Somali-Land, das nun die Rache der
Europäer fürchtete, nur mit Hülfe eines Kriegs-
zuges eindringen können. — Wir erhalten in
unserm Buche detaillirte Berichte über alle die
von Kinzelbach und Brenner hervorgelockten
Aussagen der Eingebornen, zum Theil Augen-
zeugen der Ermordung (S. 346 — 367), und wenn
auch manche Incidenzpunkte derselben dadurch
noch nicht ganz sicher gemacht wurden, so
leuchtet doch so viel mit Bestimmtheit ein, dass
die oben gegebene kurze Schilderung der Vor-
gänge in der Hauptsache richtig ist.
Mit dem Tode des Anführers Decken, der in
so vieler Beziehung, — durch seinen männli-
346 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 11.
chen Charakter, seine Erfahrung, seine bedeu-
tenden und gros8müthig gespendeten Geldmittel
etc. — die Seele des ganzen so grossartig an-
gelegten Unternehmens war, erreichte dieses
sein Ende. Doch sind die Handelsexpeditionen,
die sein Gefährte Richard Brenner im Jahre
1870 im Aufträge mehrerer Schweizer Häuser
zum Galla- Lande im Süden desJuba unternahm
und über die bereits in andern Schriften be-
richtet ist, als eine weitere Folge des Decken-
Schen Unternehmens anzusehen.
Eben so wie der erste Theil des Werkes ist
auch wieder der vorliegende zweite von einer
Reihe ganz vortrefflich und sauber ausgefuhrter
General- und Specialkarten begleitet, die wie
die früheren gleichfalls von der bewährten Hand
des Herrn Bruno Hassenstein auf Grund des
werthvollen vom Baron Decken und seinen Mit-
arbeitern gesammelten Materials ausgeführt sind.
Sie geben uns ein kartographisches Bild vom
Kilimandscharo und Nachbarschaft, eine sehr
schöne und detaillirte Darstellung der Insel
Reunion, ferner Aufnahmen der kleinen Inseln
Nossibe, Angasija, Moali und anderer Komoren,
verschiedene Punkte, Flussläufe und Abschnitte
der Ostküste Afrikas und endlich eine General-
karte des mittleren Ost- Afrika vom Somali-
Lande bis Madagaskar und landeinwärts bis zu
dem Quellengebiet des Nil, die zugleich eine
Uebersichtskarte aller von Decken und seinen
Begleitern unternommenen Ausflüge und verfolg-
ten Reiserouten ist. — Ich brauche es kaum
zu erwähnen, dass auch die dem Bande einge-
fugten Tafeln und Holzschnitte, welche land-
schaftliche Scenen, afrikanische Thiere und Por-
traits von Eingebomen, so wie der unglückli-
San Marte, Wilhelm von Orange. 347
i chen Reisenden darstellen, schön ausgeftihrt and
I werthvoll Bind.
Bremen. Dr. J. 6. Kohl.
i
I Wilhelm von Orange. Heldengedicht
I von Wolfram von Eschenbach. Zum ersten Male
ans dem Mittelhochdeutschen übersetzt von San
Marte. (A. Schulz.) Halle, Verlag der Buch-
! handlung des Waisenhauses. 1873. — 398
SS. gr. 8.
Herr San Marte' der früher den Artus- und
Galgedichten sein hauptsächlich auf Inhalt
; und Composition gerichtetes Interesse zugewandt
hatte, unternahm vor wenigen Jahren das Ver-
hältniss von Wolframs Willehalm zu den alt-
franz. Gedichten gleichen Inhalts zu erörtern*),
Mid an diese mehr für gelehrte Kreise be-
stimmte Arbeit schliesst sich eine Uebersetzung
des Wolframschen Werkes nun in der Weise
an, dass durch eine kurze Einleitung, einige er-
läuternde Anmerkungen und namentlich durch
die üeberführung in die heutige Schriftsprache
dem gebildeten Publicum das Verständniss die-
ses in mancher Hinsicht bedeutenden Gedichts
erleichtert wird. Bei der Uebersetzung ist —
. und dies völlig mit Recht in diesem Falle —
I .
*) Vgl. San Marte : Ueber Wolframs von Eschenbach
Rittergedicht Wühelm von Orange (Qaedl. 1871), und
darüber Germ. XVII, 248. — Ueber das Verhältniss von
Ulrichs von dem Türlin Einleitungswerke (zu Wolframs
Willehalm) zu den franz. Quellen hat neuerdings H. Su-
chier eine eingehende Untersuchung geliefert (Ueber
die Quelle Ulrichs u. s. w. Paderborn, Schöningh. 1873.).
348 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 11.
mehr auf Treue gegen das Original als auf die
Eleganz der Form Rücksicht genommen. Ge-
rade Uebersetzungen aus dem Altdeutschen in
das neuere Deutsch sind, wenn sie getreu sein
wollen, nicht allzuleicht, und unbillig wäre es,
hier jene Reinheit des Reims, wie sie damals
im dreizehnten Jahrhundert herrschend war und
seit Platen und Rückert mit Recht auch yon
den Neueren wieder erstrebt wird, oder gar
eine durchgängige schwungvolle Behandlung des
Styk erwarten zu wollen. Genug, wenn ein
Buch wie das vorliegende dem Publicum ein
correctes Verständniss eines bis dahin wol mehr
genannten als gekannten, und auch von Fach-
männern kaum nach Gebühr gewürdigten, poe-
tischen Meisterwerks, das dem Parziväl Wolframs
keineswegs so unbedingt nachsteht, wie bisher
wol gemeint wurde*), in .lesbarer Form ermög-
licht, wobei einzelne Härten oder bedenkliche
Formen nicht sehr in Betracht kommen. Auch
scheint uns die Uebersetzung im weiteren Ver-
lauf noch etwas fliessender und gewandter ge-
worden zu sein; zu Anfang sind Wendungen,
wie 1, 28:
Du bist Christ, so bin ich christen —
dem Gebildeten unverständlich**), dem Fach-
Gelehrten aber peinlich, und wer kann (3, 8):
Landgraf Hermann von Thüringen machte /
ohne Anstoss***) als Vers lesen? — Die An-
*) Zu den im Vorbericht S. IV. berührten Puncten
kommt noch die einfachere und darum ansprechendere
Stylgattung, die im Willehalm herrscht, vgl. Zeitschr. für
deutsche Philol. V, 33, 34 fg.
**) Die alte Sprache unterscheidet Krist = Christus,
kristen = Christianus.
***) „Von Thüringen Landgraf Hermann machte“ Hesse
sich schon eher hören.
Schellenberg, Ueb. d. Einführung d. Civilehe. 349
merkungen hätten hier und da ohne Mähe
mehr geben können: dass Agley (247, 1) =
Aquileja ist, weiss wol nicht Jeder.
E. Wilken.
Schellenberg, Dr., E. 0., Dekan: Ueber
die Einführung der Civilehe. Vortrag gehalten
auf dem siebenten deutschen Protestantentage
zu Leipzig. Leipzig, 1873, Verlag von Joh.
Ambr. Barth.
Der Gegenstand, den diese Gelegenheitsrede
behandelt, ist eine Frage, die in dem gegenwär-
tigen Augenblicke eine unmittelbar practische
Bedeutung gewonnen hat und von der man, je
mehr nun eben dies der Fall ist, um so mehr
auch wünschen muss, dass diejenigen, die darüber
öffentlich reden, sich auch den unbefangenen
Blick für diese noch immer so viel umstrittene
Frage bewahrt haben und die verschiedenen
Momente, auf die es dabei ankommt und um
die die Parteien sich streiten, in ihrer richtigen
Bedeutung zu würdigen wissen. Denn so ver-
halt es sich auch hier, wie bei den das practi-
sche Leben überhaupt betreffenden Fragen, dass
die volle Wahrheit in der Regel nicht bloss auf •
einer Seite ist, dass im Gegentheil die sich ent-
gegenstehenden Parteien eine jede für sich ein-
zelne Momente betonen, die denn freilich nicht
ausser Acht zu lassen, aber auch nicht einseitig
und isolirt zur Geltung zu bringen sind, und
der Fehler ist da so oft der, dass eben dies
letztere geschieht und dass die Parteien, von
S50 Gott. gel. Am. 1874. Stück 11.
ihren einseitigen Interessen geleitet, die richtige
Stellung der von ihnen geltend gemachten Mo-
mente nicht zu finden wissen. So wird, um gleich
bei der vorliegenden Frage zu bleiben, von den
Einen leicht die bürgerliche, von den Andern
die religiöse Seite der Ehe mit grosser Ein-
seitigkeit geltend gemacht, und was daher vor
allen Dingen nothwendig ist, wenn das Wort,
das Jemand über den Gegenstand redet, ein
Wort zum Frieden sein soll, das ist hier, dass
der Redende beiden Seiten gerecht zu werden
weiss und es versteht, das Eine wie das Andre
an seinen richtigen Ort zu stellen.
Aber eben das darf nun auch von dem
Verf. gesagt werden. Zunächst verkennt er,
jeden einseitig kirchlichen Standpunkt ver-
schmähend, keineswegs die Berechtigung des
Staates, die Eheschliessung seinerseits in die
Hand zu nehmen und durch seine Beamten
eine vor seinem Forum durchaus gütige Ehe
schliessen zu lassen, und zwar so, dass er auch
der Kirche die Pflicht zuerkennt, dies Recht des
Staates anzuerkennen und eine vor dem Forum
desselben geschlossene Ehe als eine völlig legi-
time gelten zu lassen. Die Einführung der
»Civilehe« erkennt er nicht bloss als durch die
augenblicklichen Verhältnisse geboten, er er-
kennt sie auch als principiell gerechtfertigt an
und weist namentlich auf guten geschichtlichen
Grundlagen nach, dass die bürgerliche Ehe-
schliessung keineswegs etwas Neues und bisher
Unerhörtes, dass sie vielmehr das Altherge-
brachte und eigentlich erst seit dem Tridenti-
num Alterirte ist und dass auch die Ehe-
schliessung vor dem Geistlichen doch in der
That nur im Namen und Aufträge des Staates,
wenigstens was die Knüpfung des Bandes selbst
Schellenberg, Ueb. d. Einführung d. Civilehe. 35 1
nnd dessen bürgerliche Bedeutung angeht, bis
diesen Tag geschehen ist. Doch wie sehr nun
auch der Verf. der Einführung der Civilehe
und zwar der obligatorischen das Wort redet,
so verkennt er auf der anderen Seite auch nicht
die hohe Wichtigkeit, wie der sittlichen, so
auch der religiösen Seite der Ehe, und hier
nun ist es, wo er der Kirche auch ihre be-
rechtigte Stellung, d. h. ihre Verpflichtung vin-
dicirt, wie einesteils für das rechte christliche
Verständniss der Ehe zu wirken, so anderen-
teils bei ihren Gliedern darauf hinzuwirken,
dass sie die Ehe nicht anders schliessen, als
mit dem Segen der Kirche, der aber willig ge-
währt werden soll und nicht zu willkürlichen
Eingriffen in die persönliche Freiheit der Ehe-
gatten missbraucht werden darf. Mit grossem
Emst hebt der Verf. hier Recht und Pflicht der
Kirche hervor, und was er auch in dieser Be-
ziehung beibringt, trifft so durchaus den Kern
der Sache, dass man nur wünschen kann, es
möge von den verschiedenen Parteien beachtet
werden, sowohl von der »kirchlichen«, die doch
einsehen dürfte, dass durch die bürgerliche Ehe-
schliessung der Kirche ihre berechtigte Wirk-
samkeit nicht verkümmert werden wird, als
auch von Seiten der »Politiker«, die erkennen
mögen, wie sehr wünschenswerth es ist, dass
das eheliche Leben im religiösen Grunde wur-
zeln bleibe und dass die Kirche das rechte
Maass für ihre Wirksamkeit finde.
Ueberhaupt dürfte dieser Vortrag geeignet
sein, Verständigung wenigstens bei Allen, die
derselben überhaupt noch fähig sind, zu schaf-
fen und namentlich auch in einem grösseren
Leserkreise die mancherlei Vorurtheile zu zer-
streuen, welche da in der einen oder anderen
352 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 11.
Weise gegenüber der behandelten Frage noch
herrschen. Für die Wissenschaft dagegen ist
noch von besonderem Interesse, was der Verf.
über Erfahrungen aus solchen Kirchengebieten
beibringt, in welchen die Civilehe bereits einge-
führt ist, namentlich aus seiner eigenen baden’-
schen Heimath. Durch die hier mitgetbeilten
Daten, wie sie auf den Berichten von Mitglie-
dern der verschiedensten Parteien beruhen, dürf-
ten die Vorurtheile gegen eine Einrichtung, die
unerlässlich geworden zu sein scheint, vollends
zerstreut werden. Durcbgehends lauten die Be-
richte aus dem Baden’schen über die Folgen,
welche die Einführung der Civilehe dort gehabt
habe, günstig. »Anfänglich«, heisst es da,
»nahm unser Volk die neue Einrichtung mit
Befremden und Misstrauen auf, es war dies aber
vorübergehend : die christliche Sitte bricht je
länger je mehr durch, und der sittlich religiöse
Begriff der Ehe steht im Volke so fest, dass er
durch die Civilehe nicht alterirt worden ist«.
Wir lesen da, wie Geistliche, die Anfangs Be-
denken gehabt und wenigstens die obligatorische
Civilehe nicht haben billigen mögen, bekennen,
»durch die Erfahrung« zu der letzteren »be-
kehrt« worden zu sein, wie sie es »entschieden
verneinen«, dass »das Ansehen und die Würde
der Kirche durch die neue Einrichtung geschä-
digt, leichtsinnige Eheschliessung, Ehebruch und
Ehescheidung befördert worden sei, wie sie es
anerkennen, dass die Kirche sogar durch die
Einführung der Civilehe »gewonnen« habe.
F. Brandes.
353
l
Cottiiigische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 12. 25. März 1874.
A Grammar of the Hindustani or Urdu Lan-
guage by John T. Platts. London, Wm. H.
Allen & Co., Waterloo Place. 1874. X und
399, octavo.
Je mehr das Hindustani oder das soge-
nannte Urdu*) (die Lagersprache), sich in In-
dien verbreitet und nicht nnr in den Regierungs-
bureaux und in den Gerichtshöfen, sondern auch
in den Schulen als medium des öffentlichen
Unterrichts gebraucht wird, desto mehr ist auch
diese Misch-Sprache Gegenstand der Unter-
suchung nicht nur unter indischen , sondern
auch unter europäischen, besonders englischen
Gelehrten geworden.
Das Urdü ist eine verhältnissmässig junge
I Sprache. Sie hat sich erst, im Gegensatz gegen
das Hindi (oder richtiger Hindu!) durch die
*) Der frühere Name, mit dem das Urdü ebenfalls
bezeichnet wurde, rejftah (zerstreut), wird jetzt
leiten oder fast gar nicht mehr gebraucht.
23
L
354 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
bleibenden Eroberungen der Muhammedaner in
Indien gebildet und ist, wie ihr Name (o C)
urdu zabän) besagt , im Lager der Eroberer
entstanden.
Abgesehen von den Eroberungen, welche die
Araber schon im Jahre A. D. 711 unter Qäsim
in Sindh machten, war es zuerst Mahmüd (997
— 1186), welcher von Ghazni in Afghanistan aus
nicht nur Indien wiederholt angnff und ausi-
plünderte, sondern dort auch bleibend festen
Fuss fasste. Nachdem die Dynastie der Ghazni-
viden durch das (afghanische) Haus Ghör ge-
stürzt worden war (A. D. 1186), eroberte Sahäb
ud-din Indien und brachte fast das ganze eigent-
liche Hindustan (mit Ausnahme von Mälva) un-
ter * seine Botmässigkeit. Nach seinem Tode
(A. D: 1206) herrschten die sogenannten (Tür-
kischen) Sclaven-Könige in Indien (1206— 1288),
die wieder durch das afghanische Haus Ghilzi
(1288 — 1321) verdrängt wurden. Das Haus
Töghlak, das nach der Vertilgung der Dynastie
der Ghilzis ans Kuder kam (1321 — 1421), kann
schon als eine halb indische Familie betrachtet
werden, da Töghlak der Sohn eines türkischen
Sclaven von einer indischen Mutter war. Mit
dem Hause Lödi kam die Herrschaft in Hin-
dustan wieder an die Afghanen (1450), bis die-
selbe nach dem Siege Bäbars über den letzten
König Ibrahim dauernd auf das Haus Timür
übergieng (1526).
Alle diese fremden Eroberer brachten mit
ihren Heeren ein Gemisch von allerlei Nationa-
litäten und Sprachen nach Indien. Die Heer-
führer und . obersten Beamten waren meistens
Türken, die Soldaten und der Tross Türken,
Perser und Afghanen. Durch den Verkehr die?
Platts, A Grammar of the Hindustani. 355
ser bunt durch einander gewürfelten Heere mit
der sesshaften Hindu-Bevölkerung entstand nach
und nach die Lagersprache, die, wenn auch
anfänglich nur ein in engen Grenzen verständ-
liches Patois, nach und nach festere und be-
stimmtere Formen annahm und durch die sich
immer mehr ausbreitende Herrschaft des Islam
einen festen Boden auch im Volke gewann, bis
sie endlich unter Akbar (1556—1586) zur Hof-
Sprache erhoben wurde.
Merkwürdig bleibt dabei, dass von den ver-
schiedenen Sprachen, die in den Lagern der
Eroberer gesprochen wurden, eigentlich nur das
Persische, als die gebildetste Sprache, einen
bleibenden Einfluss auf die neue Sprachentwick-
lung ausgeübt hat; das Türkische ist nur noch
durch wenige Worte vertreten und das Afgha-
nische ist spurlos 1 verschwunden, obschon die
Afghanen so lange Indien beherrscht haben und
unmittelbare Nachbarn der Inder bis auf den
heutigen Tag geblieben sind.
Im übrigen sehen wir in Indien dieselben
Gesetze walten, wie bei der Verschmelzung des
Normannisch-Französischen mit dem Sächsischen
auf den britischen Inseln. In der Grammatik
hat das alte Hindul den Sieg davon getragen
und die wilden Eroberer mussten sich seinen
Flexionsregeln unterwerfen; es ist eigentlich nur
das Vocabular, das sich durch das Eindrängen
des Arabisch-Persischen, vermittelt durch die
neue Religion, gründlich umgestaltet hat und
worauf das Urdu seinen Anspruch, als neue
Sprache zu gelten, stützen kann.
Obgleich das Urdü nunmehr als eine vom
Hindi abgesonderte Sprache betrachtet und be-
handelt werden muss* so ist es noch keineswegs
23*
356 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
in sich abgeschlossen, sondern mehr oder min-
der noch im Fluss begriffen.
Wie viel aus dem Arabisch-Persischen Voca-
bular (nebst ganzen Phrasen) geborgt werden
darf, hängt fast noch ganz von den Kenntnissen
des jeweiligen Autors ab, denn die Literatur
ist noch jung und der Geschmack sehr ver-
schieden. Wer als gelehrt gelten will, darf es
an zahlreichen Arabisch-Persischen Worten (und
theilweise ganzen Phrasen) nicht fehlen lassen.
Anders freilich verhält es sich mit der Volks-
sprache der Muhammedaner in Indien ; sie
variirt nach den Localitäten und unterscheidet
sich oft kaum von den Landessprachen der übri-
gen Hindü-Bevölkerung; nur diejenigen, die im
eigentlichen Hindustan (in den nord-westlichen
Provinzen) wohnen, sprechen das Urdü mit einer
gewissen Gleichmässigkeit und ihre Sprache
wird jetzt als Muster betrachtet , besonders
das Idiom der Bewohner von Dill! und
Lakhnau.
Ziemlich verschieden, auch in grammatischer
Hinsicht, von der Sprache der nördlichen Pro-
vinzen ist das Idiom, das die Muhammedaner
in den südlichen Provinzen Indiens reden
und das darum die Benennung o dakhni (seil.
,W boll, Sprache) südliche Sprache, erhal-
ten hat. Dieser Dialect hat bis jetzt wenig
Beachtung gefunden und wird von seiner glück-
licheren nördlichen Schwester immer mehr in
den Hintergrund gedrängt und zum Patois ge-
stempelt; nur Shakespear hat einen kleinen
Abriss des Dakhni-Idioms gegeben , aus dem
man zur Genüge sehen kann, dass es wohl einer
gründlichen philologischen Bearbeitung werth wäre.
Platts, A Grammar of the Hindustani. 357
Ueber die frühere Entwicklung des Urdu
wissen wir nur wenig. Garcin de Tassy- sagt
zwar in seiner Histoire de la literature Hindoui
et Hindustani, dass sich schon gegen das Ende
des 13ten oder den Anfang des 14ten Jahrhun-
derts' Gedichte von musalmanischen Autoren
vorfinden, ohne sie jedoch näher zu bezeichnen.
Es wäre von ihm überhaupt recht verdienstlich
gewesen, wenn er die Autoren in seiner er-
wähnten Literatur-Geschichte nach der Z e i t-
folge (soweit sie sich noch ermitteln lässt),*
statt nach dem Alphabete, geordnet hätte; da-
durch könnte man sich leicht einen Ueberblick
über die Entwicklung der Sprache verschaffen.
Mit Sicherheit lassen sich Urdü-Schriftstücke
erst aus dem 18ten Jahrhundert nachweisen.
Denn obschon das Urdu wohl schon vom 12ten
Jahrhundert an, wenn auch noch auf besondere
Localitäten beschränkt, gesprochen wurde, so
wurde doch von den Muhammedanern zu allen
Regierungsgeschäften und Literaturzwecken die
persische Sprache verwendet, da das Urdü
kaum anders denn als ein Patois betrachtet
wurde.
Erst mit dem Beginn der englischen Herr-
schaft in Indien wurde das Urdü, abgesehen
vou einer Anzahl älterer Volksgesänge und
Balladen, zu einer Literatur- Sprache erhoben
und die Werke, die jetzt als Muster eines gu-
ten Urdü-Styles gelten, sind alle neueren Da-
tums.
Aus dem Gesagten ergibt sich nun mit Noth-
wendigkeit, dass wenn das Urdü gründlich in
seinen grammatischen Formen und Flexionen
erforscht werden soll, man auf das alte Hindul
zurückgehen muss, das uns allein bis ins 13te
Jahrhundert hinauf in ziemlich zahlreichen
358 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
Schriftstücken erhalten ist. Bis jetzt ist die
Grammatik des Urdu nur empirisch behandelt
worden, da fast alle englischen Grammatiker
einen practischen Zweck dabei im Auge hatten,
die aber ohne Ausnahme des älteren Hindu!
gang unkundig waren, somit auch gar nicht in
der Lage waren, den grammatischen Bau des
Urdü durch das Hindu! auf das Präkrit, resp.
Sanskrit zurückzuführen und zu begründen.
Ich habe in einer dem Urdu verwandten
Sprache, dem Sind hi, den ersten Versuch ge-
macht, durch Zurückführung aller grammatischen
Formen auf das Präkrit Licht in die Entwick-
lung der neueren Sprachen Nordindiens zu
bringen*).
Die Hindüstän! Grammatik von Herrn Platts
hat den grossen Vorzug vor den früheren, dass
sie theilweise die von mir bezeichnete Richtung
eingeschlagen und so weit das Urdü davon be-
troffen ist, die von mir gewonnenen Resultate
verwendet hat, wodurch viel alter Schutt weg-
geräumt und Klarheit und Deutlichkeit über
manche Puncte verbreitet worden ist, die noch
in Grammatiken neuesten Datums ganz falsch
aufgefasst worden waren. Seine Arbeit bietet
daher einen entschiedenen Fortschritt auf die-
sem Gebiete dar.
Gehen wir auf den Inhalt der Urdu Gramma-
tik von Platts etwas näher ein.
Das Alphabet nebst den übrigen orthogra-
phischen Zeichen ist klar dargestellt, nur ver-
misst man eine wissenschaftliche Beschreibung
der dem Urdü eigenen Laute; nicht einmal eine
*) VergL meine SindhI Grammar, compared with
the Sanskrit Präkrit and the cognate Indian Veraacn-
Platts , A Grammar of the Hindustani. 359
übersichtliche Zusammenstellung nach Laut-
gruppen ist gegeben, was doch für den ganzen
phonetischen Character einer Sprache Von
grosser Bedeutung ist. Das Urdü selbst ist
zwar dem Lautwechsel nicht viel unterworfen,
aber für die Zurückführung der einzelnen Bil-
dungen und Formen auf die vorhergehenden
Sprachstufen (das alte Hindu! und Prakrit) ist
eine eingehendere Entwicklung des Lautsystems
und gleichzeitige Ausscheidung der fremden, in
die Sprache erst von aussen eingedrungenen Ele-
mente von Wichtigkeit, zumal bei einer so ge-
mischten Sprache, wie das Urdu ist.
Die Geschlechtsverhältnisse, die im Urdü
ziemlich verwickelter Natur sind, sind eingehend
erörtert, auch die Ausnahmen mit Fleiss ge-
sammelt. Etwas unbegreiflich ist es freilich,
wenn man p. 23, in der Anmerkung die Worte:
nicht nur als Urdü-Text, sondern
auch noch mit »ghar ke ädmiyäri« umschrie-
ben findet. Die Worte sind falsch und ver-
stossen durchaus gegen die Grammatik, da es
unter allen Umständen: heissen
muss.
Die Bildung der Zahl und des Casus hat
mit der bisherigen empirischen Darstellung ge-
brochen, wodurch die ganze Sache an Einfach-
heit und Klarheit gewonnen hat. Dass die
ganze Urdü Declination durch den sogenannten
Normativ und die Hilfe von Postpositionen her-
gestellt wird, wie ich diess schon in meiner
SindhI Grammatik dargestellt hatte, ist aner-
kannt. Wenn er jedoch p. 43, Anm. d. sagt,
dass von eine Rupee, der Formativ ent-
360 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
weder ^ rüpa-e oder rüpai laute, so
möchte ich letzteres beanstanden. Dem Ohr
kommt wohl die Aussprache wie rupai vor, allein
es handelt sich hier nicht um einen Diphthong
ai, sondern um einen getrennten Laut a-i, da
am Ende eines Wortes i und e kaum in der
Aussprache unterschieden werden. Ein eigent-
licher Diphthong ist der ganzen Bildung dieser
Formen widersprechend.
Wenn er bei Darstellung des Comparativ
und Superlativ-Verhältnisses (p. 48, Anm. a.)
bemerkt, dass diese Methode aus den semi-
tischen Sprachen geborgt worden sei, so
möchte ich jetzt diess doch bezweifeln, obschon
ich selbst früher derselben Ansicht war, wie
der Herr Verfasser, und diess auch in meiner
Sindhl Grammatik ausgesprochen habe. Meine
Alt-Hindu! Studien haben mich inzwischen über-
zeugt, dass die Art und Weise, wie der Com-
parativ (und Superlativ) im Hindu! ausgedrückt
wird, nicht aus den semitischen Sprachen her-
zuleiten ist, sondern aus dem Sanskrit, wie ich
diess in meiner demnächst erscheinenden Gram-
matik des alten Hindu! darzuthun hoffe.
Neben der Declination s-Methode des Urdü
hat nun der Verfasser auch eingehend die per-
sische Declination abgehandelt; und nicht nur
diese, sondern auch die persische Comparation,
die Bildung der Participien, der Adjective und
theilweise der Substantive und der Nomina
composita beigefügt, so dass man sich auf ein-
mal in eine Persische Grammatik versetzt fin-
det. Ob er hier des guten nicht zu viel ge-
th$n hat, ist sehr fraglich. Allerdings ist es
zum richtigen Verständniss des Urdü unum-
gänglich nothwendig, eine Kenntniss der persi-
Platts , A Grammar of the Hindustani. 361
sehen Sprache und Grammatik zn haben, aber
es ist dabei doch nicht zu übersehen, dass per-
sische Worte und theilweise Phrasen dem Urdu
nnr äusserlich einverleibt sind und streng ge-
nommen mit seiner Grammatik nichts zu schaf-
; fen haben. Aber wenn auch, um des practi-
ßchen Nutzens willen, die persische Grammatik
so in die Urdü Grammatik hineingezogen wird,
so ist es immer wieder fraglich, wie weit diess
gehen soll und ob diess wirklich allen Anfor-
derungen entspricht ? Ich kann mich nicht über-
zeugen, dass dadurch das Studium der persi-
schen Grammatik für den überflüssig gemacht
wird, der jedes persische Wort oder Phrase,
die er in Urdü Schriften finden mag, ver-
stehen will.
Wir können jedoch nicht umhin, einzelne
seiner Aufstellungen zu beanstanden. Wenn er
z. B. p. 65 (82) sagt, dass die Wurzel des per-
sischen Verbums (welche auch die Form des
Singulars des Imperativs sei) gewöhnlich als
ein Nomen actionis oder als ein abstractes
Substantiv gebraucht werde, so ist das letz-
tere entschieden unrichtig. Der Imperativ für
sich kommt nie als ein abstractes Substantiv
im Persischen vor, sondern nur in gewissen
Zusammensetzungen, wie: die Unter-
suchung, dieünterredung,
das Hin- und Herzerren etc. Wenn er aber p.
66, Anm. bemerkt, dass ^^«3, Freund (in
Khoräsän immer noch döst gesprochen),
Glück, «££**»*, trunken, ursprünglich wohl Par-
ticipia praet. gewesen seien, so können wir
L
362 Gott. gel. Anz. 1874. Stock 12.
diese Etymologie nur bestätigen, denn
„ 9
ist wirklich gleich ursprünglichem Zend
zushta und Sansk. gw (beliebt) ; ebenso ist
= Zend bakhta, Sanek. ^ (das zuge-
theilte); ov«.* ist das Sansk. (Altpersisch
mastük, mit angefugtem Adjectiv-Affix).
Hie und da begegnen wir einzelnen Unrich-
tigkeiten; so z. B. p. 67 (unten) ist ^
nicht als Ablativ - Verbindung zu . erklären ;
denn man sagt im Persischen (in der Äccusativ-
Unterordnung) ;***+£; das Schwert schla-
gen, wie aSj {jßt, einen Ball schlagen, etc. —
0
Die Ableitung von 0U*T, Himmel, #von
Mühlstein und 0L* gleichwie (wie ein Mühlstein)
wird bei uns, trotz der Auctorität der einge-
bornen Gelehrten (die auch Shakespear in sei-
nem Hindustani Wörterbuch anfuhrt) nur wenige
Gläubige finden; Vullers hat in seinem Pers.
Wörterbuche schon’ längst das richtige darüber
angegeben. (Vergl. auch Justi, Alt-Baktr. Wörtb.
S. 38). . -
Ueber die Aussprache des Persischen
müssen wir noch hier bemerken, dass der Ver-
fasser der Gewohnheit der indischen Maulavis
gefolgt ist, die Endsilben än (wie im Plural und
den Affixen än, gin, gän, man etc.) als Nasal-
Laute (durch Anusvära nasalirt) zu bezeichnen.
Dies ist durchaus unrichtig; das Persische kennt
den indischen Nasal-Laut gar nicht, werde er
Platts, A Grammar of the Hindustani.
363
mm im eigentlichen Iran oder in Khoräsän ge-
sprochen. Die Aussprache e und o (statt des
Iranischen i und ü) hat in gewissen Worten
i seine Berechtigung, auch die persische Bevöl-
kerung von Khoräsän und Afghanistan unter-
scheidet noch streng zwischen diesen Lauten,
aber eine Nasalisation im angegebenen Sinne ist
ihr durchaus fremd. Der Europäer, der in In-
dien von den eingeborenen Gelehrten Persisch
lernt, hat sich davor zu hüten, damit er sich
nicht in den Augen der Perser und Afghanen
lächerlich macht.
Nachdem er auf diese Weise die persische
Grammatik hereingezogen hatte, so musste er
nothwendigerweise dasselbe mit der arabi-
schen thun. Die Bildung der Nomina (Sub-
stantiva sowohl als Adjectiva), ihre Flexion etc.
ist eingehend erörtert. Die eigentliche Urdü
Grammatik ist durch diese zwei Excurse auf
53 Seiten^ unterbrochen, was für den Zusammen-
hang störend ist. Nach unserer Ansicht hätte
der Verfasser besser gethan., wenn er diese
zwei Abhandlungen in den Anhang verwiesen
hätte; die Grammatik hätte dadurch an Ueber-
sichtlichkeit gewonnen.
Neu ist, was der Hr. Verfasser unter den
Demonstrativa über den Instrumentalis Sing,
dieser Pronomina anführt (p. 117, sqq.) und
was bis jetzt in keiner Hindustani Grammatik
(Forbes, Shakespear, Arnot) berührt war. Bis
jetzt galt als Instrum. Sing. £ der
Verfasser dagegen fahrt daneben auch die For-
men j, 0\ und j, 0I an, die nicht zu bezweifeln
sind. Seine Erklärung dieser Formen jedoch,
dass dae s von is und us durch Assimilation
364 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
mit dem n der Postposition ne in n verwandelt
worden sei, müssen wir ab weisen. Es sind viel-'
mehr die alten Hindu! Instrumentale dieser Pro-j
nomina, die in alten Hindu! Schriften ganz ge-^
wohnlich sind, z. B. im Sikh Granth, wo und*
als Instrum. Sing, ohne ^ (das erst später
aufkam) gebraucht werden. Ich verweise ferner "
ganz einfach auf das Panjäb! und Sindh!,j
in denen der Instrum. Sing, dieser Pronomina *
bis auf den heutigen Tag in (ina) und un'
(una) lautet (ohne die Postposition ne); vonj
einer Assimilation kann also keine Rede sein.'j
Die Instrumentale Sing, dieser beiden Demon- j
strativa werden in der Form in und un (ne)
auch hauptsächlich im nördlichen Urdü gebraucht,
von wo aus sie in die Sprache eingedrungen
sind. Es wäre überhaupt sehr wünschenswerth
gewesen, wenn der Hr. Verfasser sich die Mühe
genommen hätte, solche und andere Angaben
durch Citate aus Schriftstellern (mit Angabe
des Ortes) zu belegen und zu begründen, was er
zum grossen Nachtheil seines Werkes überall
unterlassen hat.
Unklar ist ferner, wie (p. 120, Anm. b) £
der Accusativ des Sansk. firnr sein soll? (Es
soll doch wohl heissen gre und wir hätten das
ohne weiteres angenommen, wenn nicht die la-
teinische Transcription Kim dabei stände).
Ebenso unklar ist seine Bemerkung (ibid.),
dass die Formative etc. die Prakrit
m *
' Genitive mit der feminin Basis sein sollen,
also = Präk. aw, = mni- Das Fe-
* *
mininum kommt hier gar nicht in Betracht und
würde im Prakrit §rcsrT Singular sein , wäh-
Platts, A Grammar of the Hindustani. 365
rend der Genitiv Plur. mui generis communis
ist) und erklärt keineswegs den Uebergang von
a in i, sondern im alten Hindu! wird das kurze
S&nsk. a (besonders vor einem Doppel-Conso-
nanten) schon häufig in i verflüchtigt.
Dass das Wort ferner (p. 123, Anm.)
zugleich eine negative Partikel und ein negatives
verbum substantivum sei, müssen wir ebenfalls
in Abrede stellen. ist nur ein negatives
Adverb und bedeutet nicht, aber nie ist es
gleich g *i, es ist nicht. Das Sindhi, das er da-
für anfiihrt, hat er missverstanden ; denn dort
ist ^6 eine Contraction aus *3, das verbum
substant. ist also ähe, wie soll aber das in
nah! stecken? Die alten Formen von
indessen, die das Hindu! uns erhalten hat, zei-
gen deutlich genug, dass in nah! keine Con-
traction des verbum substant. enthalten ist :
wir finden dort na (q), nab und nahi Gtffj),
auch näbi geschrieben; die Form nahi (qfif) ist
späteren Ursprungs. »
Hie und da ist der Verfasser etwas zu präg-
nant, was leicht zu Missverständnissen führen
muss. So sagt er z. B. p. 125 (oben), dass
in persischen Phrasen im Sinne von
»eigen« gebraucht werde und führt an:
waser: »mit meinen eigenen Augen«
*) Ueber die Aassprache von mochte ich be-
merken, dass die Perser es jetzt nur £Üd (kurz) aus-
sprechen , wie Ofüsh).
366 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
übersetzt. Das ist jedoch zu viel gesagt; wie
übersetzt werden muss, hängt ganz von
dem Subject ab, auf das es sich bezieht; es
kann also ebenso gut dein, sein etc. bedeuten.
Das Verbum und seine Flexion ist gut dar-
gestellt und mancher Irrthum, der bisher in
den Hindustani Grammatiken noch mitgeschleppt
wurde, ist glücklich beseitigt. Nur hätten wir
gewünscht, dass er die hergebrachte Termino-
logie beibehalten hätte, da er in der Wahl neuer
Ausdrücke nicht sehr glücklich gewesen ist. So
kann man z. B. nicht einsehen, warum das Par-
ticip des Praesens nun Imperfect Particip heissen
soll? Diess bringt nur Verwirrung in die Sache,
da nun auch das Praesens, das mit dem Parti-,
cip des Praesens gebildet wird, Praesens Im-
perfect genannt wird.
Dass der Subjunctiv oder Potentialis von
ihm Aorist genannt wird, ist ebenfalls ein
übel gewählter Ausdruck.
Ebenso ist es zu missbilligen, wenn er yon
einem Particip des Perfects redet; das Hin-
dustani, wie seine Schwestersprachen, kennt nur
ein Particip des Praeteritums oder des Aorists.
Hr. Platts gibt uns eine nähere Beschreibung
des sogenannten Precativs im Urdu, der bis-
her ein crux, für alle Hindustani Grammatiker
gewesen ist. So lucid auch der Gebrauch des-
selben entwickelt wird, so müssen wir doch
den Schlussfolgerungen, die er zieht, ein Be-
denken entgegenstellen. Man sieht auch wieder
hier, wie man eben ohne Eenntniss des alten
Hindui nimmermehr auf die rechte Fährte
kommt. Hr. Platts behauptet, dass die Endung
iyö (wie gehet) ursprünglich der Plural
sei und beruft sich dafür auf das Panjäbi und
j
Platts , A Grammar of the Hindustani. 367
Sindh!. Wir können aber diese Berufung nicht
ganz zugeben. Der Sindhi Precativ auf ijö *)
stimmt wohl mit der Prakrit Endung ija oder
! ijja, die zwischen die Wurzel und die Personal-
Endungen im Praesens und Imperativ einge-
schaltet wird, da wir auch für den Singular die
Endung ije (iju) haben, was sich auch vom
Gujarati sagen lässt (Sing, aje, PI. ajö). Mit
dem Panjäbi jedoch und dem Urdü verhält sich
die Sache anders, wie ich mich durch meine
Studien über das alte Hindu! überzeugt habe.
Im alten Hindu! finden wir die Endungen iai
und iahu (= !a-u), wie z. B. wftur oder
im jetzigen Urdü karie und kariö.
Es kann nun nicht der geringste Zweifel obwal-
ten (wie das meine Grammatik des alten Hindu!
darthun wird), dass kariai das Praesens des
Passivs ist, das im alten Hindu! auch schon als
‘ Potentialis oder Sub junctiv**) gebraucht
wird, ja nach und nach ganz in diesen Modus
übergegangen ist. Eine andere Form ist gprftuy
(oder die sich schon im Präkrit als III.
Sing. Imper. Pass, findet. Dass diese beiden
Endungen dem Passiv Praesens (resp. Imperativ
Pass.) angehören, kann durch zahlreiche Bei-
spiele aus dem Granth erwiesen werden. Zur
weiteren Bestätigung aber will ich die zwei an-
dern Formen anführen, die im Urdü jetzt statt
karie und kariö im Gebrauche sind , nämlich
kijiye und kijiyö (oder kijiö).
Man sagt nun zwar (wie auch Herr Platts
*) Vgl. meine* Sindbi Gram. p. 268.
**) Das zugleich den höflichen Imperativ vertritt.
368 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
thut) in den Urdu Grammatiken, dass wenn die
Verbal-Wurzel auf i endige, der Buchstabe j
zwischen die Wurzel und die Endungen des
Precativs eingeschoben werde. Aber warum ge-
schieht das und sogar bei der Wurzel \*S
' kar-nä, aus der kijie oder kijiö gebildet wird?
Die Ursache ist einfach die, dass in diesen For-
men uns ein Ueberrest des alten Passivs erhal-
ten worden. Wie aus kar-nä im Sindhi (wel-
ches die Präkrit Passiv-Bildung erhalten hat)
das Passiv kijanu gebildet werde, ist schon in
meiner Sindhi-Grammatik p. 260 gezeigt wor-
den*). Ganz ähnlich verhält es sich mit den
andern erwähnten Formen, die alle Passiva sind.
Das alte Hindul nämlich hatte auch noch eine
regelmässige Passiv-Bildung, die aber im spä-
teren Hindi und Urdu in Abgang gekommen
ist. Hr. Platts führt mit Recht an (p. 137),
dass man statt pijiye auch pije und pijö sagen
könne. Wir möchten aber noch erläuternd hin-
zufugen, dass die Formen pije und pijö die
ursprünglichen sind (alt Hindu! uro und
qfcr s), ersteres das Praesens (oder Potential»)
des Passivs, letzteres die HI Pers. Imper. Pass.,
während die Formen pijiyö und pijiyö eigent-
lich ein doppeltes Passiv-Affix enthalten,
weil die Sprache nach und nach das Bewust-
sein verloren hatte, dass das j schon das Passiv-
Affix enthält; im alten Hindu! kommen daher
*) Wir brauchen daher kaum zu bemerken, dass es
unrichtig ist, wenn Hr. Platts, p. 138, Anm.a sagt, dass
die Form der Wurzel, die im Preoativ gebraucht werde,
gewöhnlich die sei, die im Particip des Perfects vor-
komme. Diess ist nur ein Schein bei dem Precativ
kijiye, durch den man sich nicht tauschen las-
sen darf.
Platts, A Grammar of the Hindustani. 369
diese Formen noch nicht vor, sondern wir fin-
den constant und
Wir müssen daher den eingebornen Gelehr-
ten Hecht geben (denen auch H. Etherington in
seiner Hindi Grammatik gefolgt ist), dass der
Bedeutung nach die Endungen des Precativs
iye und iyö im wesentlichen nicht verschieden
sind, dass also iyö auch kein Plural ist, son-
dern die HI. Pers. des Imperat. Pass., indem
a*u ganz gewöhnlich zu ö contrahirt wurde.
Die Sprache hat freilich nach und nach die ur-
sprüngliche Bedeutung dieser Formen aus den
Angen verloren , so dass man jetzt sagt :
u> b mögen Sie gehen 1 aber schon das
Sanskrit gebrauchte in ähnlichen Fällen für
eine höfliche Bitte den Imperativ des Passivs;
der ganze Unterschied ist nur der, dass im
Urdu das Subject nicht mehr im Instrumen-
talis, (wie im Sanskrit), sondern im Nomina-
tiv beigefügt wird.
Was noch die Fermen hüjiye (hujiyö) und
müjiye (müjiyö) betrifft (jw 138), so ist zu be-
merken, dass wir für erstem im alten Hindul
sehr häufig dem Passiv (es wird) und für
letzteres dem Passiv (es wird gestorben)
begegnen , obschon die andere Form
auch im Gebrauch ist.
Wir können daher dem Hrn. Verfasser nicht
beistimmen, wenn er in der Syntax (p. 345,
Anm. 2) versucht, eine Differenz zwischen dem
Precativ und Aorist (Subjunctiv) zu statuiren,
unter Hinweisung auf Varar. Präkrita Prakäsha,
VII, 20. 21. Das dort erwähnte Affix ija oder
jjä findet sich nachweislich nur im SindhI,
im alten Hindu! aber kommt es gar nie vor
24
370
Gott. gel. Adz. 1874. Stück 12.
und wo auch immer das Affix ij sich findet, ist
es immer eine Passiv-Bildung. Aber auch
im Prakrit selbst ist das in Varar. VII, 20. 21
erwähnte Affix nur höchst selten im Gebrauch,
hauptsächlich aber in Formen, die dem sanskri-
tischen Potentialis und Precativ entsprechen;
seine allgemeine Anwendung wäre erst noch zu
beweisen. Jedenfalls lässt sich daraus für das
alte Hindul, das für das Urdü und Hindi allein
massgebend ist, kein Schluss ableiten. In
Sätzen, wie der von H. Platts (p. 137) ange-
führte: ist nicht
die II. Person des Sing. Aorist, sondern die III.
Pers. Plur., was allerdings, streng genommen,
grammatisch nicht richtig ist, da auf ^£0 nur
bezogen werden könnte (die HI. Pers.
Sing.). Aber wir haben schon bemerkt, dass
der Sprache das Bewustsein der ursprünglichen
Bedeutung dieser Form zurückgetreten ist und
dass diese ganze Bildung jetzt mehr activisch
aufgefasst und behandelt wird. Die Ueber-
setzung dieses Satzes würde daher lauten: möge
der Befehl des Tödtens ausgesprochen werden!
So erklären sich auch andere Bildungen
(über die sich, so viel ich weiss, noch kein
Urdü Grammatiker ausgesprochen hat) ganz
leicht, z. B. öähie, was jnan allgemein
*
mit: »es ist nöthig« übersetzt. Im alten Hindul
lautet diese Form u* und bedeutet wörtlich:
es wird gewünscht, es ist wünschenswerth (Pan-
jabi jetzt noch mit der Passiv-Bildung: cähidä
hai). Durch den Uebergang des alten Praesens
in die Bedeutung eines Potentialis oder Sub-
| Platts, A Grammar of the Hindustani. 371
! juncture erklärt es sich einfach, dass diese For*
men auch in Wunsch-Sätzen gebraucht werden,
i vie: Cb* J&qfr, wörtlich : möge im Ge-
strüppe geblieben werden! was so viel ist als:
lasset uns im Gestrüppe bleiben oder: bleibet
ihr im Gestrüppe (je nach dem Zusammenhang
der Rede).
Was aber unsere Erklärung dieser Bil-
dungen über allen Zweifel erheben muss, ist der
Umstand, dass auch eine Futur-Form davon
sich vorfindet. Dieses Futurum Passivi ist im
alten Hindu! noch etwas ganz gewöhnliches
und wird als Indicativ gebraucht; im Urdu
dagegen haben sich nur wenige Bildungen er-
halten und werden, ähnlich wie im Praesens,
mehr im Sinne eines Potentials (oder Optativs,
der einen gelinden Befehl impliciren mag) an-
gewendet.
Ein sehr verdienstvoller Theil seiner Gram-
matik ist die Darstellung der Bildung der Cau-
sativa, die in den bisherigen Urdu Grammatiken
viel zu wünschen übrig liess. Zur Bildung der
Cansativa durch das Affix lä (p. 167), wollen
wir hier noch hinzufügen , dass diese im alten
Hindu! die gewöhnliche ist (nur mit Ueber-
gang von 1 in r (är), wie auch im Sindhi), ob-
schon die jetzt mehr vorherrschende (mit dem
Affix ä) sich auch vorfindet. Da das Präkrit
von einer solchen Causal-Bildung noch keine
Spuren zeigt, so ist es allerdings schwer, dieses
Affix zu erklären. Ich dachte früher an das 1,
das z. B. in dem Verb qj zur Causal-Bildung
verwendet wird faföTTurfa) und diese Vermuthung
habe ich in meiner Sindh! Grammatik (p. 25S)
ausgesprochen. Mittlerweile aber habe ich im
24*
372 Gott, gel. Anz. 1874. Stuck 12.
alten Hindu! gefunden, dass der Laut r seht
häufig (der Euphonie wegen) eingeschaltdt wird,
wo weder das Sanskrit noch das Präkrit eine
Spur desselben aufweist; so finden wir z. B.
immer (= firer), (= etc. Es ist
daher sehr wahrscheinlich, dass r (oder 1) nur eine
euphonische Einschaltung ist. Ar (äl) oder rä (lä)
ist dasselbe Affix und wird nach Willkür versetzt ;
so sagt man : (dikh-lä-nä) oder
(dikh-äl-nä), zeigen. Dass 1 eine Transmutation
von y (g) sei, wie Herr Platts andeutet mit Hin-
weis auf das Präkrit latthi (statt yashti) ist wohl
kaum anzunehmen, da weitere derartige Ueber-
gänge von y in 1 nicht nachzuweisen sind.
Auch die Art und Weise, wie er die Verba
composita dargestellt hat, sticht sehr vortheil-
haft ah gegen die hergebrachte Methode. Die
Regeln waren entweder nur oberflächlich und
unvollkommen, oder gar falsch angegeben und
Hr. Platts polemisirt daher mit Recht gegen
einzelne europäische Grammatiker, die sich
herausnahmen, die Sprache nach ihrem Gut-
dünken darzustellen. Doch ist es nicht ganz
richtig, wenn er mit Rücksicht auf die Verba
frequentativa und desiderativa sagt, die von ihm
aufgestellten Regeln seien den Lehren der euro-
päischen Grammatiker entgegengesetzt. Dass
die Verha desiderativa im Urdü als intransitiva
construirt werden, hatte schon Shakespear in
seiner Hindustani Grammar (p. 56) gelehrt, ob-
schon er nichts in Betreff der Verba frequen-
tativa bemerkt hatte, was allerdings als ein
grosser Mangel bezeichnet werden muss. Forbes
freilich hüllte sich in Betreff dieser beiden
Verba composita in tiefes Stillschweigen. So
dankbar es nun auch anzuerkennen ist, dass
Platt 8, A Grammar of the Hindustani. 373
die Construction der erwähnten Verba compo-
site durch den Hrn. Verfasser in volles Licht
gesetzt worden ist, so wäre es doch auf der an-
dern Seite auch sehr wünschens werth gewesen,
wenn er uns eine Erklärung dieses so seltsamen
Verfahrens der Sprache gegeben hätte; denn das
lässt sich nicht läugnen (und eben daran hat-
ten sich die europäischen Grammatiker bis jetzt
so gestossen), dass die intransitive (resp. active)
Construction eines transitiven Verbums in den
vergangenen Zeiten dem ganzen Genius der
Sprache widerstreitet, da das Particip des Prae-
teritums eines transitiven Zeitwortes immer eine
passive Bedeutung hat, die Construction also
notkwendigerweise eine passive sein sollte.
Warum sagt man also im Urdu:
ich wünschte zu gehen, und nicht : LplS* ^
Warum: uL sie hörte zu. Wenn er sagt:
+ *
das Particip des Perfects werde als ein ab-
stractes Substantiv im Accusativ den
Zeitwörtern li^ (machen) und (wünschen)
vorgesetzt, so ist damit die intransitive
Construction derselben im Praeteritum nicht
nur nicht erklärt, sondern man würde dann
geradezu die passive Construction erwarten ;
wenn also g lil im Praesens wörtlich
bedeutet: »sie macht ein Hören«, so sollte nach
allen sonstigen Kegeln des Urdu das Praeteri-
tnm lauten : ilS' U« J sie hörte zn (durch
0
sie wurde ein Hören gemacht), während doch
der Usus der Sprache : -f ll»! c>l verlangt. Wie
374 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
ist also das zu erklären? Ich kann mich nicht
überzeugen, dass in diesen Fällen eine wirklich
active Construction vorliege, wenigstens nicht
mit Bezug auf bS, sondern Sätze wie :
. ) 9 t
CT Uw £>,, sie hörte zu, müssen zunächst wört-
m
lieh übersetzt werden: sie wurde ein Hören ge-
macht. Dass die eigentliche passive Construction
mit dem Instrumentalis (also: CS \lL j, (jJ,
durch sie wurde ein Hören gemacht) nicht an-
gewendet wurde, kommt daher, dass das Ver-
bum finitum das verbal Nomen auch im P r ae-
teritum als Accusativ sich unterordnet,
folglich wie ein Causativ construirt wird,
zwar persönlich, aber doch mit passiver
Bedeutung. Hängt von dem verbal Nomen ein
Object ab, so wird dieses, wie bei dem Verbum
finitum, im Accusativ untergeordnet. Man sagt
also: main tamäm din aur tamäm rät päni men
häth päöh märä kiyä (p. 174, Anm.), wörtlich:
Ich wurde den ganzen Tag und die ganze Nacht
im Wasser die Hände und Füsse (Acc.) schla-
gen gemacht = ich schlug. Nachdem einmal
für das Praesens (und Imperfect) der Ausdruck
sich festgesetzt hatte : bS ich mache
ein Schlagen = ich schlage fortwährend , so
konnte, wenn das Verbum finitum mit dem un-
tergeordneten verbal Nomen (im Acc.) als Ein
Begriff festgehalten werden sollte, im Praeteri-
tum gar nicht anders gesagt werden als :
LS -JjU ^a, ich wurde schlagen (= schlagend)
— gemacht. Ganz dasselbe gilt von ähnlichen
verbal Compositionen, wie:
er-
Platte, A Grammar of the Hindustani. 375
scheinen (wörtlich: eine Erscheinung geben),
Lu>> hören lassen (ein Hören geben), die
im Praeteritum ebenfalls wie Gausativa con-
s. * — y
struirt werden müssen ;z.B. ^
» » m *
wörtlich: zwei Menschen wurden eine Erschei-
nung gegeben = erschienen. In allen diesen
Fällen hat das Praeteritum eine passive Be-
deutung.
Anders jedoch verhält es sich mit den soge-
nannten Verba desider ativa, die durch
das Particip des Praeteritums und das Verb
UXs>, wünschen, gebildet werden.
In diesem Falle ist das Particip des Praeteri-
tums auch als ein verbal Nomen im Accusativ
untergeordnet, z. B. ^ er wünscht
zu sehen (wörtlich : er wünscht ein Sehen), aber
un Praeteritum wird das Verbum finitum UPLa-
als ein intransitives Verbum construirt
und man sagt daher: er wünschte
zu sehen. Ebenso wird im Sindhi
wünschen, im Praeteritum als intransitiv (und
daher activ) construirt (Siehe meine Sindhi
Grammar p. 322). Der Herr Verfasser hätte
übrigens in Betreff der Verba desiderativa noch
hinzufügen dürfen, dass das Urdu, wenn von
dem verbal Nomen ein Object abhängt, dasselbe
auch als Particip passiv des Praeteritums mit
dem Object in Geschlecht und Zahl übeinstimmen
lägst; z. B. ^jli ^
er wünscht auf meinen Grund ein Hans zu
376 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
bauen (wörtlich: er wünscht auf meinem Boden
ein gebautes Haus), statt: i£ ^
Diese Construction hat er in der Syntax nicht
erwähnt , obschon sie in Nord-Indien sehr häufig
vorkommt.
Wir können jedoch diesen Fuüct nicht ver-
lassen, ohne den Satz erwähnt zu haben, den
er S. 178 unter den Verba permissiva anführt.
Er gibt dort die Worte : ^ o, und
*
übersetzt: er erlaubte mir zu kommen. Dieser
Satz ist falsch ; es sollte heissen : (**> ^ \ ^
denn Ijü«> kann im Praeterium nie als intransi-
tiv construirt werden.
Wenn er S. 183, Anm. 1 sagt, es sei höchst
unwahrscheinlich, dass wö vom und
jOf abstamme, weil d nicht in b* übergehe, so
ist dagegen zu bemerken, dass der Uebergang
von d in v (b) im alten Hindu! sehr häufig vor-
kommt; man sagt z. 6. promiscue: und
sehen; sogar im Urdu findet sich
abhev statt wie er das aus Shakespear’s
Hindüst. Dictionary hätte sehen können.
S. 194 will er j£L*, mit, von dem Sansk.
wrou ableiten, während es nach dem alten Hindu!
snfir der Locativ von ist.
Entschieden verunglückt ist seine Ableitung
der Diminutiv- Affixe etä und ötä (p. 218) von
betä und pötä (Sohn, junges). Wir finden diese
Affixe schon im Sindh! (Sindh! Gram. p. 77)
und im Paätö (Siehe meine Pastö Gram. p. 52),
Platte, A Grammar of the Hindustani. 377
wo ich ihre wahrscheinliche Ableitang bespro-
chen habe.
Die Syntax ist recht übersichtlich und
vollständig behandelt. Es ist jedoch für die
Brauchbarkeit des Werkes sehr zu bedauern,
dass er seine Citate nicht genau belegt hat.
Man weiss nicht, ob er die Sätze selbst ge-
| macht oder woher er sie genommen hat. In
| einer Grammatik aber sollten alle Sätze, be-
sonders in der Syntax, so viel wie möglich aus
| den besten Schriftstellern gewählt und der Fund-
ort genau angegeben werden, damit, wo Zweifel
entsteht, nachgeschlagen und verglichen werden
kann. Es ist anzuerkennen , dass er manche
i feinere Wendung der Sprache deutlich erkannt
und gegen frühere Missdeutung in Schutz ge-
; nommen hat. Doch fehlt es auch nicht an ein-
! zelnen Missverständnissen und Unrichtigkeiten.
Wenn er z. B. S. 251, Anm. sagt, dass der Lo-
i
cativ des reciproken Pronomens (unter sich)
i als regierendes Nomen häufig ausgelassen wurde,
so müssen wir uns über die Beispiele wundern,
die er zum Beleg dafür anfuhrt. Wie soll denn
in dem Satze: $ Jti zwischen
mir und dir ist eine Grundfeindschaft,
ausgefallen sein ? hätte hier ja gar keinen
Sinn. Auch in dem weiteren Beispiel lässt sich
uQ f nicht suppliren. Beide Sätze müssen viel-
mehr nach seiner in § 318 aufgestellten Regel
erklärt werden. Er hat schon p. 192 (bei den
Postpösitionen) ke richtig mit der Bedeu-
tung »zu« (als Dativ-Postposition) aufgeführt,
vas bisher in allen Urdü-Grammatiken über-
378 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
sehen oder falsch erklärt worden war. Er ist
zwar nach seiner Anmerkung (p. 252) über
diese Bedeutung von ^ noch etwas schwan-
kend, und hält es für wahrscheinlich, dass nach
^ etwa oder ol0> zu suppliren wäre. Al-
lein die eingebornen Grammatiker haben Recht,
die in diesen Fällen das ürdü ^ durch die
persische Praeposition tu (als Dativ) erklären.
Dem kann ich noch beifügen, dass dieses ^
im alten Hindu! & kai lautet und dort sehr
häufig als Dativ-Postposition verwendet wird
(von dem Sansk. ^ abgeleitet, Präkrit Rfw
und dann weiter zu ke contrahirt, das im Hin-
du! kai gesprochen wird).
P. 274, b hat er ausser Acht gelassen, dass
die Postposition ^ se auch mit bedeutet, in
gewissen Fällen auch »zu« (alt Hindu!
8iu und set!), dessen Etymologie mit se,
‘von1, nicht zusammenfällt. Se, in der Bedeu-
tung »von« ist ohne Zweifel von dem Präkriti-
schen ^ (der Genitiv - Endung = Sansk. ^r)
abzuleiten, während se, in der Bedeutung *m i t«
wohl dem Sansk. entspricht (Sindh! sttut
> •
oder inn, s). In Sätzen, wie : ^ ^4^ J,
er sagte zu mir, muss ^ nothwendigerweise in
der Bedeutung von »mit« (»zu«) gefasst werden.
Nur im Vorübergehen sei bemerkt, dass auf
S. 303 ein sinnentstellender Druckfehler ist; es
heisst dort: ^ statt: "
Die Construction der Participien, die im Urdü
so manche Schwierigkeiten darbietet, ist vom
Platts, A Grammar of the Hindustani. 379
Hrn. Verfasser scharf anfgefasst und durch viele
Beispiele klar erläusert worden (p. 335 — 343),
was dem bisherigen Wirrwarr gegenüber einen
wohlthuenden Eindruck macht. Im Einzelnen
jedoch möchte ich bemerken, dass das Particip
des Praesens nicht als Substantiv in den
Sätzen zu fassen ist, die er S. 339, 2) a) anführt.
yilLJ ist nicht gleich ^ ,1^0, obschon wir
es so zu übersetzen gewohnt sind, sondern die
Worte stehen im Locativ (= dem Lateinischen
Ablativus absolutus) also = rerum
copia suppeditante. Wie eigentlich construirt
werden muss, zeigt das Sindhi aufs deutlichste:
denn dort sagt man : vade hünde, wann er gross
ist. Ebenso müssen wir es entschieden in Ab-
rede ziehen, dass das (passive) Particip des
Praeteritums, wenn es durch eine der Praeposi-
tionen ohne, etc. (p. 340) regiert wird, in
einigen Fällen eine active Bedeutung habe.
l*;** <3 heisst nicht: ohne dass ich ihm
sage oder gesagt habe, sondern: ohne meinen
Befehl (ohne dass von mir gesagt worden ist).
Ebenso er’1«*' jtPi nicht: ohne zu essen oder
gegessen haben, sondern : ohne gegessen worden
sein. Im Englischen und Deutschen kann man*
es wohl activ übersetzen, aber es darf nicht
übersehen werden , dass man es mit dem Par-
ticip passiv zu thun hat.
Wenn er p. 348 sagt, dass lg eine
Handlung implicire, die hätte gethan werden sol-
len, so möchte man doch auch den Grund die-
ser so seltsamen Bildung einsehen. Diese lässt
sich jedoch nur aus dem alten Hindu! erklären,
das sein Imperfect noch häufig dadurch bil-
380 Gott gel. Anz. 1874. Stock 12.
det, dass es dem Praesens (dem späteren Snb-
junctiv oder Potential«) einfach trr oder ^(decH-
nirbar) anhängt. Lp ist also nichts wei-
+
ter als der Ueberrest einer alten Hindui-Imper-
fect-Bildung ; über die Bedeutung und Ableitung
von en (sn) babe ich mich schon in meiner
Sindhi Gram. p. 294 ausgesprochen.
Dass das Praeteritum nach den Conditional
Partikeln etc. die Bedeutung eines Fu-
turums haben solle, wie er p. 354 statuirt,
muss dahin berichtigt werden, dass das Praete-
ritum in diesen Fällen das Futurum ex act um
ausdrückt, wie diess durch die verwandten Spra-
chen hinlänglich constatirt ist.
Dass, wie auf S. 366 gesagt ist, die zweite
Person (des Singular und Plural) des Subjunc-
tivs als eine disjunctive Conjunction gebraucht
werde, ist in dieser Allgemeinheit in Frage zu
stellen. Das Beispiel, durch welches diese Ke-
gel erhärtet werden soll, beweist das keines-
wegs ; denn in dem Satze : ^91$? ^
ist ^ und die zweite Person Plur.
des Imperativs und heisst wörtlich: Ich sage
nicht : bleibet ; wenn ihr wollet, gehet. Nur
^$1:^ ist die zweite Person Plur. des Subjunctive,
vor welcher wenn, zu suppliren ist.
Als einen Irrthum müssen wir es ferner be-
zeichnen, wenn er von einem besonderen Po-
tentials (neben dem Subjunctiv oder Aorist,
wie er diesen Modus nennt) spricht (p. 366).
Man mag diesen Modus bezeichnen, wie man
willT Subjunctiv oder Potentialis, so ist
er doch ein und dieselbe grammatische Form.
J
Platts, A Grammar of the Hindustani. 381
i
!
Es muss aber nothwendig Verwirrung anrichten,
1 wenn man das Futurum definitum (oder wie
man es sonst heissen mag), damit zusammen-
| stellt, denn obschon dieses oft in einem unbe-
stimmten, dem Potential» sich annähernden
I Sinne gebraucht wird, ist es seiner ganzen Bil-
dung nach ein Indicativ und kein Sub-
junctiv.
Dasselbe gilt vom Futurum exactum, das
i zwar meist in dubitativem Sinne angewendet
wird, aber desswegen doch kein Potential» der
Vergangenheit genannt werden darf; der Inder
denkt eben in dieser Beziehung etwas anders,
als wir es gewohnt sind. Er stellt sich mit
| seinen Gedanken mitten in die Ereignisse hinein,
während wir der Rede in solchen Fällen eine
subjective Färbung geben. Der Satz also (p. 367):
l>> t jS vjli luX^ heisst wört-
lieh: Gott weiss, was ihr Zustand wird gewesen
sein, während wir zu sagen pflegen: was ihrZu-
| stand gewesen sein mag.
I Im Vorübergehen sei es uns erlaubt, auf
i eine unrichtige Uebersetzung hinzuweisen, die
| sich S. 387 findet. Dort übersetzt er den Satz
153* cfc* ji** u*' k &
so: irgend ein Reisender, sei es ein Frommer
oder ein Mann der Welt, der in diese Stadt
kommt«. bedeutet aber nicht: Mann der
Welt , sondern : ein vermögender, reicher Mann
und dadurch ist auch offenbar, dass hier
nicht durch »Frommer« übersetzt werden darf,
sondern durch »arm« wiedergegeben werden
muss.
Hie und da dürfte bestimmter die gramma-
382 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
tische Form eines Wortes hervorgehoben sein,
um Irrthum zu vermeiden. So z. B. wenn er
S. 388 (§ 499, Anm.) yPlz* ohne weitere Be-
merkung als disjunctive Conjunction auf-
führt ; jpljg» ist aber ein Verbum (II Pers. Plur.
des Subjunctive Praes.) = yft, wenn ihr
wollet, und kann daher nur in gewissen Fällen
im Sinne einer disjunctiven Conjunction verwen-
det werden.
Ein Irrthum ist es ferner, wenn er S. 390
(§ 508) die Adverbien yi und als Synonyme
anführt, von denen das eine manchmal statt des
andern gebraucht werde. Sie sind keine Syno-
nyme, sondern identisch: denn im alten
Hindul sagt man ganz promiscue frsr oder ft?,
indem b (v) in u übergeht. Ganz dasselbe gilt
von und (§ 506).
Was seine nähere Erläuterung von
anbelangt, (p. 391), so möchten wir bemerken,
dass im ersten dort angeführten Satze
seine gewöhnliche Bedeutung »wann, als, da«
hat. Was den zweiten Satz betrifft, wo er wo*
• • «
mit »dann« übersetzt, so ist es sehr fraglich,
ob er denselben richtig verstanden hat. Es
könnte wohl richtiger heissen: man muss hart
arbeiten, wann etwas zu Händen kommt, statt
wie er übersetzt: »man muss arbeiten, dann
wird etwas erlangt« ; denn diese Bedeutung von
0
»dann« lässt sich sonst nicht nachweisen.
Da er übrigens keinen Zusammenhang andeutet
noch ein Nachschlagen der Stelle ermöglicht, so
müssen wir diejs für jetzt auf sich beruhen
r
t Platts , A Grammar of the Hindustani. 383
I lassen. Im dritten Satze jedoch, wo er
ebenfalls mit »dann« übersetzt, ist nicht zu
übersehen, dass hier nur durch einige
Worte von getrennt ist und eigentlich zu *£
gehört; iS (oder emphatisch : ,*+&•) aber
bedeutet: zu der Zeit als. Von einem condi-
tionalen Nachsatz aber wird man wohl in
Zeitsätzen nicht reden können, wie es der
Verfasser thut.
Im übrigen erkennen wir gerne an, dass er
zum ersten Mal die Urdu Syntax erschöpfend
behandelt hat, wie überhaupt seine ganze Ar-
beit den Eindruck einer soliden Gründlichkeit
macht, aus welchem Grunde wir keinen Anstand
nehmen, sie allen denen zu empfehlen, die sich
mit dem Studium des so wichtigen Urdü befas-
sen wollen. E. Trumpp.
Boece. De'la consolation de la Phi-
losophie. Traduction grecque de Ma-
ximePlanude publiee pour la premiere
fois dans son entier par E.-A. Betant
Professeur au Gymnase de Geneve. Geneve,
Imprimerie Carey freres. 1871. VIII und 119
SS. in 8.
Nur kurz soll auf diese Arbeit des greisen
genfer Philologen, die dem ßef. erst jetzt zu Ge-
sicht gekommen ist und in Deutschland wenig
bekannt scheint, aufmerksam gemacht werden.
Die Uebersetzung der Gedichte hatte schon C.
Fr. Weber (Darmstadt 1882) herausgegeben,
aber die der ganzen Schrift erscheint hier zum
erstenmal, nach einer Handschrift des 15. Jahrh.,
L
384 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 12.
die Betant selbst gehört. Für dife Gedichte
kommt die pariser hinzu, die der Ausgabe We-
bers zu Grunde liegt, und noch eine zweite,
nicht näher bezeichnete pariser, deren Lesarten
Betant von Egger erhalten hat. Unter dem
Texte sind nur die Fehler der HS. bemerkt,
welche der Herausgeber nach eigenen oder We-
bers Vermuthungen verbessert hat. Für den
Text desBoetius ist die Uebersetzung desfleissi-
gen Mönchs ohne allen Werth, da von den Bü-
chern de consolatione philosophise mehrere HSS.
erhalten sind, die vier und fünf Jahrhunderte
vor Planudes geschrieben wurden, und in der,
welcher er folgte, sich offenbar dieselben Fehler
fanden, wie in den noch vorhandenen. So stand
auch in ihr 2, 1 V. 8 das sinnlose swis, denn
Planudes sagt <S(ps%4qotg, das ebendeshalb auch
Betant nicht in titpivsqov ändern durfte. Auch
2. 5, 13 ff. ist die Umstellung des Satzes xai
(pcovri T°v Xc°v noXX&v inirj qw-
üsv äxoccg, %ä 6s ipiTsqa xq^ata sl pr} stq
XsTtrd xataxsqikauG&eiij, nqdg nollovg dövravst
fisxaßijpcu (S. 29 b. Betant) vor den Satz «AJ lag
TS sl TCC MXVtaXOV i&VMP OVTCt Xdtfl*0***
nq&g Iva %wd ^vXXsyeifi, wvg komovg ivdeslg
savtüv xataXsixfJovtoV) die dem Herausgeber ge-
fällt, unrichtig, da auf Letzteres offenbar nicht,
wie es bei Planudes geschieht, folgen kann: aü
ysvopivov mcoxovg ävayxatov cinoXeHpd'ijvat <&v
dmxriqfjGctP, während die Worte quod cum factum
est pauperes necesse est faciant quos retinquunt
bei Boetius ganz richtig sich an das Vorher-
gehende anschliessen. Die Umstellung ist also
nur eine willkürliche Aenderung des Planudes,
der die Sätze des Boetius nicht richtig verstand,
wie sich solche Missverständnisse nicht eben sel-
ten bei ihm finden. H. S.
385
Uff ttingi sehe
gele hrte Anzeigen
I
unter der Aufsicht
der König]. Gesellschaft der Wissenschaften .
l Stück 13. 1. April 1874.
| S. Isaacsohn, Geschichte des Preussischen
Beamtenthums vom Anfänge des löten Jahrhun-
derts bis auf die Gegenwart. Erster Band.
Das Beamtenthum in der Mark Brandenburg
von 1415 — 1604. Berlin 1874. Puttkammer u.
i Mühlbrecht. 8°. VI. 292 S.
Das überschriftlich genannte Werk, dessen er-
ster Band vorliegt, ist auf vier Bände berechnet;
während der erste Band bis zum Jahre 1604
als dem Augenblick der Begründung des »Ge-
heimen Staatsraths«, des »Mittelpunkts der ge-
sammten Preussischen Landesverwaltung der fol-
genden Zeit« . reicht, soll der zweite Band mit
der Bildung des »Generaldirectoriums« im Jahre
1723 abschliessen, der dritte Band das Beam-
tenthum bis zur fundamentalen Umgestaltung
der Jahre 1808 fg. darstellen und der letzte
Band das 19. Jahrhundert seit dieser Umge-
staltung behandeln.
Den Stoff, welcher den Gegenstand des er-
sten Bandes bildet, zerlegt der Verf. in die 6
Abschnitte : llof des Markgrafen (Hof-, Kammer-,
25
i
L
386 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
Rentmeister, Marschall, Kanzler, Küchenmeister,
Schenk, Kurf. Räthe und Hofgesinde), Beamten
in der Landesverwaltung (Vogt, dessen Unter-
beamten, Landeshauptmann, dessen Unterbeam-
ten, oberster Hauptmann und Regentschaftsrath,
neumärkische Regierung), ständische Beamten
(Stiftsbeamten, bischöfliche Kanzlei, Kammer,
Amtmann, Schultheiss, Stadtrath ; ständische
Finanzcollegien) , Justizbeamten (15. Jahrh.:
Dorf-, Stadt-, Hof-, Land-, Hof- und Land -Ge-
richt, Bot- und Lodding; 16. Jahrh.: Hof- und
Kammergericht zu Coin, Quartalgericht), Kirchen-
und Schulverwaltung, Landesvertheidigung.
Im Wesentlichen stützt sich der Verf. auf
gedruckte Quellen, besonders auf die Sammlun-
gen von Riedel, Raumer und Mylius; hinsicht-
lich des Gerichtswesens steht er fast durchaus
auf den Schultern von Kühns und dessen Ge-
schichte der märkischen Gerichtsverfassung. Er
hat diese Quellen mit Fleiss und Umsicht be-
nutzt, auch meist richtige Resultate gezogen.
Diese Resultate haben für den Referenten inso-
fern ein vorzugsweises Interesse, als sie zur we-
sentlichen Bestätigung der in seiner Geschichte
der »Entwicklung des gelehrten Richterthums
in deutschen Territorien« (Cotta 2 Bde. 1872)
niedergelegten Ansichten dienen und den darin
mehrfach vertretenen Satz bestätigen, dass das
Beamtenwesen der verschiedenen deutschen Ter-
ritorien seinen Grundzügen nach mehr Einheit
in sich trägt, als die Zersplitterung des Reiches
vermuthen lässt. Referent hat in der Vorrede
zu jener Schrift hervorgehoben, wie sehr er bei
seiner Arbeit den Mangel einer Geschichte des
deutschen Beamtenthums empfunden habe, und
er heisst deshalb das Werk des Verf., welches
dem gedachten Mangel abzuhelfen anfängt, mit
Isaacsohn, Gesch. d. Preuss. Beamtenthums. 387
besonderer Freude willkommen, schlägt es auch
ans persönlichem Interesse hoch an, dass
der Verf. ohne Rücksicht auf die ihm offenbar
unbekannt gebliebene , eben citirte Schrift ar-
beitete, weil gerade durch die Selbständig-
keit der Untersuchungen des Verf. die Unter-
suchungen des Ref. neue Stützen finden. Ob
aber nicht aus sachlichen Gründen es wün-
schenswert gewesen wäre, wenn der Verf., statt
ausschliesslich die Quellen der Mark Branden-
burg in’s Auge zu fassen, auch über die Lan-
desgrenzen hinausgeblickt und dort Aufschluss
gesucht hätte für eine Menge von Zweifeln, die
ihm nach seinen Quellen bleiben mussten und
geblieben sind, das ist eine andre Frage. Ref.
ist überzeugt, dass bei solchem Verfahren Vie-
les in dem vorliegenden Buche klarer, Vieles
anders und Vieles nicht gesagt worden wäre.
Was zunächst die Anordnung des Ganzen
betrifft, so sei Folgendes bemerkt. Jedem, der
sich mit der Geschichte des Beamtenthums des
15. und 16. Jahrhunderts beschäftigt, drängen
sich unabweislich eine ganze Reihe von Gegen-
sätzen zwischen der damaligen und der gegen-
wärtigen Zeit auf, die sich allenfalls dahin kurz
zusammenfassen lassen: während der Beamte
von jetzt regelmässig für einen engen, festbe-
grenzten Zweig von Arbeiten innerhalb entweder
der innern Verwaltung oder der Justiz oder des
Krieges an bestimmtem Orte für Lebenszeit be-
stellt ist und sein Verhältniss zu seinem Lan-
desherrn nach staatsrechtlichen Grundsätzen
sich regelt, gilt vom Beamten der altern Zeit
überall das Gegentheil: unter den Einflüssen des
Lehnswesens entstanden, nimmt er allmählich
eine mehr privatrechtliche Stellung ein ; er wird
auf gewisse Jahre contractlich in Dienst ge-
25*
388 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 13.
nommen und sein Dienst spielt gleichzeitig hin-
über in das Gebiet der Landesverwaltung (Fi-
nanzen, Inneres, Polizei), der Justizverwaltung
jeder Branche, wie auch des Kriegswesens;
heute vertritt er den Landesherrn als Amt-
mann im Sprengel seines von der Residenz
entfernten Amtssitzes, morgen tagt er am Hofe
des Fürsten als Rath in dessen Kanzlei, über-
morgen als Beisitzer (Schöffe) des Hof- oder
Landgerichts, oder er zieht als Hauptmann an
der Spitze seines Fähnleins ins Feld. — Es
hätte sich deshalb unzweifelhaft empfohlen, wenn
der Verf. in einer Einleitung die sehr inter-
essante Verschiedenheit im Wesen des Beamten-
thums der früheren und der jetzigen Zeit aus-
führlich dargelegt hätte. In Verbindung damit
wäre zu entwickeln gewesen, wie das practische
Bedürfniss allmählich zur progressiven Vermeh-
rung und Spaltung des Beamtenthums führte.
Schon hieraus würde sich ergeben haben/ dass
eine Gegenüberstellung der Hof beam ten und
der Beamten der innern Landes Verwal-
tung, wie sie der Verf. in Abschnitt I und H
versucht, nicht durchführbar ist. Es kehrt des-
halb der S. 16 und 12 unter den Hofbeamten
abgehandelte Kanzler bezw. Rentmeister unter
den Landesbeamten S. 165 und 63 wieder;
die S. 17 Note 1 aufgeführten Kanzler stehen
auch dem S. 165 genannten Kanzler, »der Seele
der neumärkiscben Regierung«, ebenso gleich,
wie der S. 12 Note 1 genannte Rentmeister
Joachim’s I. von 1505 dem Befehlhaber, Rent-
meister oder Kästner des Hauptmanns der
Priegnitz von 1528 (S. 63 Note 1). Der Kanz-
ler ist der Chef der innern und Justizverwaltung ;
wenn in den Marken seit 1535 ein zweiter Kanz-
ler auftritt (S. 163), so hängt das , wie ander-
Isaacsoim, Gesch. d. Preuss. Beamtenthums. 389
i
> wärts, mit der damaligen Landestheiiung zusam-
men, und wenn nach der Wiedervereinigung des
Landes die beiden Kanzleibezirke mit je einem
Kanzler bestehen bleiben, so ist der eine dieser
■ Kanzler ebenso viel Hof- und Landes-
beamte als der andere. Wie nun gar der
Statthalter, der Vormundschafts« oder
Regentschaftsrath eine Behörde der Lan-
desverwaltung im Gegensatz zu dem Hofe des
Markgrafen genannt werden kann, ist noch viel
weniger abzusehen. Der Statthalter, wie der
Regentschaftsrath ist der Vertreter des Mark-
grafen bei Abwesenheit, Minderjährigkeit, Krank-
heit und dergl. ; er hat seinen Sitz da, wo sonst
der Markgraf Hof hält; das Entferntsein des
Markgrafen kann doch unmöglich den Statthal-
ter, meist eine der angesehensten Persönlich-
keiten der bisherigen Hofhaltung, vom Hofbe-
amten zum Landesbeamten stempeln. Und wenn
die »neu märkische Regierung« den Beamten
der Landesverwaltung beigezählt wird, so ge-
hört sicher auch die »alt märkische Regierung«
zur »innern Landesverwaltung«, von letzterer Re-
gierung ist aber mit keiner Silbe die Rede. Das
hängt damit zusammen, dass der Verf. die Identität
zwischen Kanzlei und Regierung nicht erkannt hat
(cf. S. 164) und überhaupt (S. 163) von Ein-
setzung einer »Regierung« im J. 1535 spricht,
während nach der auf die Verhältnisse anderer
deutschen Länder gegründeten Ueberzeugung des
Ref. damals der Name Regierung noch gar
nicht vorkam ; dies erweisen auch die vom Verf.
selbst S. 164 Note 1 gegebenen Belege, nach
welchen zuerst 1594 der Name »Regierung« für
die bisherige Bezeichnung »Kanzler und Räthe«
auftaucht. Andererseits ist dem Verf. der
scharfe, principielle Unterschied zwischen den
390 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 13.
Kanzleien (überhaupt zwischen den »Beamten«)
und den Gerichten (Kammer-, Hof-, Land- Dorf-
gerichten), sowie der mit dem Eindringen der
fremden Rechte zusammenhängende, durch die Sitte
der schiedsrichterlichen Austräge sehr geförderte
Zug der Zeit entgangen, Amt und Gericht zu
verschmelzen, d. h. die Beamten (Käthe) zu
Gerichtsmitgliedern und die Gerichtsmitglieder
(Richter wie Schöffen) zu Beamten umzuformen.
Hinsichtlich der Gerichtsverfassung ist im
Verhältnis zu Kühns wesentlich Neues nicht
beigebracht. Wie bei Kühns, so vermissen wir
auch beim Verfasser die Erläuterung der mit
Rücksicht auf andre Territorien auffälligen Er-
scheinung, dass die Mark durchweg in Vog-
teien eingetheilt ist, während sonst in der Re-
gel die »Vogtei« einen eximirten grundherrlichen
Bezirk unter geistlicher Herrschaft an zeigt;
diese Erscheinung in der Mark hat jedenfalls
ihre historische Grundlage, welcher nachzufor-
schen wäre. Wenn die allmähliche Verwand-
lung der Vogteien in Aemter mit der Ent-
stehung landesherrlicher Domanialgüter in Ver-
bindung gebracht wird, so müssen wir die Rich-
tigkeit dieser Anschauung bezweifeln; ausserhalb
der Mark Brandenburg kommen vielfach die
»Aemter« ganz in derselben Weise vor, wie
innerhalb der Mark die »Vogteien« ; wahrschein-
lich ist es ein blosser Namensumtauch — der
aber seine geschichtlichen Motive haben muss
— wenn die »Vogteien« der Mark später zu
»Aemtern« werden. Ebenso ist bei Kühns und
beim Verfasser unklar, was er sich unter einem
»Dorfgericht« denkt, anscheinend ein für das
einzelne Dorf aus dem Schulzen und wenigen
Insassen als Schöffen gebildetes Gericht (vergl.
S. 194 fg.). Gegen die Annahme einer solchen
fcaacsohn, Gosch, d. Preass. Beamtenthams. 391
Zertheilung der Gerichtsbarkeit auf dem platten
Lande spricht die Erfahrung, die uns das Ge-
richtswesen nichtmärkischer Territorien an die
Hand gibt. Danach bestehen im 16. Jahrh.
zwar nicht mehr die alten grossen Landgerichts-
bezirke, aber die kleineren Gerichte, welche sich
von den Landgerichten als selbständige Gerichte
losgelöst haben, umfassen doch regelmässig
mehrere Dörfer mit 6 bis 12 Schöffen unter
einem Richter (Schultheis). Das schliesst nicht
i aus, dass der Richter mit 2 Schöffen, gewisser-
massen als Commissare des Gerichts, einzelne
! Gerichtshandlungen vornimmt, und vielleicht ha-
; ben Fälle solcher Art Anlass gegeben, die Exi-
stenz eines aus dem Richter und nur einem oder
zwei Schöffen bestehenden Gerichts anzunehmen.
Om über diesen Punkt ein entscheidendes Ur-
theil fällen zu können, sind eingehendere Unter-
suchungen erforderlich, als sie bis jetzt vorlie-
gen. Dabei — wie überhaupt bei den Unter-
suchungen über die Geschichte des Beamten-
thums — kommt es sehr darauf an, die Namen,
welche die Quellenzeugnisse einer bestimmten
Zeit einem Beamten oder einer Behörde bei-
legen, genau festzuhalten. Dass dies der Verf.
z. B. hinsichtlich der »Regierung« nicht thut,
ist bereits angeführt; er spricht aber auch von
Mitgliedern »des Rathes« in der markgräflichen
Kammer (S. 9. 17 etc.), während die Collectiv-
bezeichnung »Rath« für die fürstlichen Räthe
im 15. und 16. Jahrh. durchaus nicht üblich
ist, sondern nur für die städtischen Rathsherrn,
j welche ihrerseits wiederum nicht, wie die Dar-
I Stellung S. 175 fg. annehmen lässt, »der Stadt-
rath«, sondern constant der »Rath« heissen.
Ferner nennt der Verf. den Beamten, der das
»Schulzenamt« einer Stadt verwaltet, schlecht-
392 Gott* gel. Anz. 1874 Stack 13.
weg »Stadtrichter« (S. 197) und denjenigen,
welcher zum »Richter über (6) Dorfschaften«
bestellt wird, schlechtweg »Landrichter« (S. 206),
Alles Ungenauigkeiten, welche leicht zu Miss-
deutungen führen; denn — um bei letzteren
Beispiel stehen zu bleiben — das Gericht jener
Dorfschaften ist im Sinne des Verf. mit nichten-
ein »Landgericht«, sondern ein »Dorfgericht«,
es ist nämlich ein von einem ehemaligen Land-
gericht abgezweigtes Patrimonialgericht, das sehr
characteristisch im Gegensatz zum »Landgericht«
den Namen »Gericht« führt, einfach, weil es
keinen alten Namen hat; später usurpirt es
vielleicht, gleich andern ähnlichen Gerichten be-
nachbarter deutscher Länder, den Namen »Land-
gericht«, aber in der fraglichen Periode trägt es
ihn sicher nicht.
Die richtige Erkenntniss des Gegensatzes
zwischen Kanzlei und Gericht, welche dem Verf.
nach Obigem fehlt, würde dann weiter dahin
geführt haben, das gehörige Licht über die
Jurisdictionsgewalt von Kanzler undRäthen, von
markgräflichen Commissaren (S. 101), von Haupt-
leuten (S. 98) zu verbreiten. Auen ist es dem
Verf. nicht gelungen, die Person des Kanzlers
richtig zu würdigen (S. 17. 232); in Folge des-
sen entgeht ihm die wichtige Zweitheiligkeit der
fürstlichen Räthe: adlige Räthe unter Führung
des Marschalls und gelehrte Räthe unter Füh-
rung des Kanzlers. Schliesslich wird aus dem
Gapitel: »die märkische Gerichtsverfassung im
16. Jahrh.«, welches nur mit dem Kammerge-
riebt und den Quartalsgerichten sich befasst,
schwerlich Jemand ein klares Bild der Umge-
staltung des gesammten Gerichtswesens sich
bilden, welche gerade während des gedachten
Zeitraums sich vollzieht.
r
Isaacsohn, Gesch. d. Preuss. Beamtenthums. 393
I Ebensowenig befriedigt der ganze dritte Ab-
! schnitt: die ständischen Beamten. Hier werden
die städtischen Beamten parallel neben den bi-
schöflichen Beamten und denen der Herren be-
| handelt, obgleich die städtischen Beamten ihrem
ganzen Wesen nach sowohl den landesherrlichen,
als den analogen patrimonialen diametral ent-
gegenstehen; erst in Folge des Kampfes zwi-
schen Landesherrschaft und Städten nehmen all-
mählich bei wachsendem Uebergewicht der Lan-
desherm die städtischen Beamten in gewisser
Beziehung den Character landesherrlicher. Be-
amten an. Wenn sodann der dritte Abschnitt
unter H auf die ständischen Finanzbeamten
eingeht, so fehlt im Text und Inhaltsverzeichniss
die correspondirende I, sie lässt sich auch nicht
etwa der yorausgegangenen Erörterung über 1)
die Stifter, 2) den Herrenstand, 3) die Städte
einfach vorsetzen, weil die Kammer, d. h. das
Finanzcolleg der Stifter, bereits unter 1. (S.
169) erörtert wird. Was S. 198 über eine de-
finitive Trennung des städtischen Bathsherrn-
nnd Schöffencollegs seit dem 15. Jahrh. gesagt
i8t, dürfte, wenigstens in der Allgemeinheit, sehr
zu bezweifeln sein. Jedenfalls ist es aber ein
Missverständnis, von der Existenz sechs gleich-
zeitiger Bürgermeister, zumal in kleinen Städten,
und von »der Eigentümlichkeit« eines Theiles
der Mark zu reden, in gewissen Fällen den al-
ten (vorjährigen) Batb bei Beratung städtischer
Angelegenheiten heranzuziehen (S. 178); Letz-
teres ist in vielen deutschen Städten üblich, und
die Aufzahlung von sechs Bürgermeistern an der
Spitze des Baths erklärt sich dadurch, dass die
(meist mit dem Jahreswechsel) abgehenden Bür-
germeister unter Beibehalt ihres Titels in den
394 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 13T
Bath hinter den regierenden Bürgermeister als
Schöffen oder Rathsherrn wieder einrücken.
Eine Reihe anderer Einzelheiten, welche Be-
denken erregen, mag unberührt bleiben; das
Gesagte reicht vielleicht schon hin, den Verf.
bei Fortsetzung seiner Arbeit zu weitergreifen-
den Studien zu veranlassen.
Berlin im Febr. 1874.
A. Stölzel.
Helius Eobanus Hessus, ein Lebensbild aus
der Reformationszeit. Von Dr. Gotthold
Schwertzell. Halle a. S. Lippert’sche
Buchhandlung. 1874. 128 SS. in 8°.
Erst vor Kurzem ist in diesen Blättern (G.
G. A. 1873 St. 50 S. 1997 fg.) auf den Anfang
eines Versuches aufmerksam gemacht worden,
das Leben des Dichters Eoban Hesse in aus-
führlicher, dem gegenwärtigen Stand der For-
schung entsprechender Weise zu beschreiben.
Noch bevor diese Mittheilung veröffentlicht war,
welche den Verf. zur baldigen Fortsetzung des
schön begonnenen Unternehmens ermuntern
sollte, erschien von anderer Seite eine Lebens-
beschreibung des berühmten Humanisten, der
die folgende Anzeige gewidmet ist.
Diese dem Andenken des vor Kurzem zu
Marburg verstorbenen Kirch enbistorikers Henke
gewidmete Biographie, offenbar ein erster schrift-
stellerischer Versuch, darf als wohlgelungen be-
zeichnet werden. Sie bemüht sich, getreu nach
den Quellen, d. h. besonders nach den reichlich
vorhandenen, bisher aber noch nicht chronolo-
r
[ Schwertzell , Helius Eobanus Hessus. 395
: gisch-geordneten Briefen und den vielen poeti-
: sehen Werken Eobans, ein Lebensbild ihres Hel-
! den zu zeichnen, ohne allzugrosse Rücksicht-
nahme auf Zeitverhältnisse und Personen, die
nm deswillen auch nicht erforderlich war, weil
Eobans Wirken kein eingreifendes und umge-
| stattendes genannt werden darf; mit verständi-
I ger, nicht voreingenommener Beurtbeilung der
[ Leistungen und der Bedeutung des Geschilderten.
[ Das Leben Eoban’s, ein von wenig Wechsel-
: fallen erschüttertes, meist ruhig dabin fliessen-
! des Gelehrtenleben, wird von dem Verf. in 6
Abschnitte getheilt: Jugend und Lehrjahre —
1509; Vier Wanderjahre — 1514; Zweiter
Aufenthalt in Erfurt — 1526. Der Humanisten-
bund. Die Reformation — 1526, Eoban in
Nürnberg — 1533; Dritter Aufenthalt in Er-
furt — 1536; Aufenthalt in Marburg und Tod
— 1540. In jedem dieser Abschnitte werden
die äusseren Ereignisse aus Eobans Leben in
schmuckloser, durchaus ansprechender Darstel-
lung mitgetheilt, mit der Erzählung derselben
aber auch eine Besprechung der literarischen
Leistungen, welche dieser Periode angehören,
verbunden.
In letzterer Beziehung nun genügt Schwertzell’s
Leistung wol nicht allen Ansprüchen. Eoban’s
Psalmenübersetzung in lateinische Di-
stichen z. B.*, die allein in den ersten siebzig
Jahren nach ihrem Erscheinen 40 Auflagen er-
lebte, darf nicht mit einem kurzen Räsonnement
und der Wiedergabe einzelner Urtheile seitens
der Reformatoren: Luther, Melanchthon u. s. w.
abgefertigt werden. Denn zur Würdigung die-
ses, von dem Dichter als seine hauptsächlichste
Leistung angesehenen Werkes, bedürfte es eines
Eingehens in einzelne Fragen: ob Eoban seine
396 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 13.
Uebersetzung nach dem hebräischen Original-
text angefertigt habe, was mir, trotzdem Came-
rarius einmal Eobans Eenntniss der hebräischen
Sprache in Anspruch nimmt, zweifelhaft er-
scheint; wie weit er dem Wortlaut gefolgt sei,
den Sinn richtig angegeben oder sich Freiheiten
zu Gunsten der poetischen Schönheit erlaubt
habe; ferner über die Einwirkungen, welche
dieser Versuch auf die Zeitgenossen geübt, über
die etwaigen Nachahmungen, welche er hervor-
gerufen habe u. s. w. Auch in Bezug auf das
eiiie längere historische Gedicht Eobans,
das wir besitzen, die Darstellung des Kriegs-
zugs Philipps von Hessen zur Wiedereinsetzung
des Ulrich von Wirtemberg in sein Land, —
denn sonstige historische Leistungen haben wir,
trotzdem Eoban Professor der Geschichte in
Marburg war und gelegentlich auch einen war-
men Eifer für diese Wissenschaft bekundete,
nicht von ihm, wir müssten denn kleine Ge-
legenheitsgedichte über Erfurter Vorkommnisse
als solche betrachten, wäre eine Untersuchung
am Platze gewesen. Denn obwol Eoban, wie
Schwertzell nächweist, (S. 87), zu diesem Werke
Aktenstücke von den fürstlichen Käthen Ficinus
und Walther zur Verfügung erhielt, so hat er,
soweit ich mich aus der Lectüre des Gedichts
erinnere, dieselbe keineswegs zu einer wirklich
historischen Darstellung benutzt, -sondern nur
ein Gelegenheitsgedicht geliefert, dessen Quel-
lenwerth noch dadurch verdächtigt wird, dass
es offenbar zu dem Zwecke verfasst wurde, des
Besungenen Gunst zu erringen, und von ihm
eine Anstellung an der neubegründeten Marbur-
ger Universität zu erhalten. Jedenfalls aber
hätte das Gedicht mit sonstigen Darstellungen
verglichen, sein Werth geprüft werden müssen.
Schwertzell, Helms Eobanus Hessus. 397
Endlich hätte die Frage, ob Eoban wirklich
deutsche Lieder gedichtet habe, eine ge-
j saue Erwägung, nicht bloss eine gelegentliche
i Bemerkung verdient, wie sie bei Schw. S. 15
A. 17, vgl. auch S. 64 A. 63 enthalten ist. Es
wäre sehr merkwürdig, wenn es sich wirklich
nachweisen liesse , denn sonst gehört Eoban
grade zu den Humanisten, die, trotzdem sie
ihrer Gesinnung nach, die besten Deutschen
sind und mit ganzem Herzen an der echt deut-
schen Bewegung, der Reformation, theilnehmen,
die deutsche Sprache in den Bann ge^ban zu
haben scheinen und sich ihrer niemals, weder
in Briefen, noch in Schriften bedienen.
Gegenüber diesem Mangel unserer Schrift
hebe ich gern das Verdienst hervor, das in
einer übersichtlichen, klaren und genauen Er-
zählung von Eoban’s Lebensverhältnissen be-
steht. In dieser sind wiederum besonders die
Abschnitte zu loben, welche Eobans Aufenthalt
ausserhalb Erfurt’s behandeln, also der 4. und
6., denn Alles, was über Erfurt berichtet wird,
kann nur als immerhin selbstständige, aber doch
dem Inhalte nach nicht veränderte Wiedergabe der
betreffenden Abschnitte aus Kampschul tes
unübertrefflicher Schilderung gelten. Aus den bei-
den genannten Capiteln, welche die Wirksamkeit in
Nürnberg und Marburg zum Gegenstand haben,
sind besonders die Bemerkungen über den Nürn-
berger Gelehrten- und Freundeskreis hervorzu-
heben: Joachim Cammerarius, dessen
»Leben Eoban’s« von unserm Verf. gebührend
gewürdigt, wenn auch nicht im Einzelnen kri-
tisch genug behandelt wird; Roting, der mit
dem Ebengenannten und Eoban zusammen die
glänzend ausgestattete Nürnberger Schule leitete
und zu einer Musteranstalt, besonders für Süd-
L
398 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
deutschland, erhob; Baumgärtner, der für
das Wohl der Stadt und die Ausbreitung der
Reformation unermüdlich thätige Patricier,
Pirckheimer, dessen kühles, oft schroffes
Wesen den warmherzigen Dichter, dessen Zu-
neigung zur alten Richtung den der neuen Lehre
ergebenen Jünger manchmal abstiess, endlich
Albrecht Dürer, der „unsem Poeten auch
gemalt hat, ohne dass freilich das Original die-
ses Bildes sich erhalten hat, ein Verlust, der
durch die erhaltenen schlechten Gopieen nur
fühlbarer gemacht wird. Werthvoll sind ferner
die Auseinandersetzungen über die Uebersetzun-
gen Eobans aus dem Griechischen: Theokrit,
Ilias (s. u.); und die Mittheilungen über zwei
Schriften , eine populär-medicinische , welche
von der Erhaltung der Gesundheit handelt,
und eine andere, ein düsteres Zeitgemälde, das
im J. 1528 entstand und u. d. T.: »Klage
über die Verwirrung unserer Zeit« veröffentlicht
wurde.
In diesem Gedicht, sowie in vielen andern
Dichtungen und Briefen tritt Eoban’s eigen-
tümliche Auffassung, die zwischen der in Eras-
mus verkörperten alt-humanistischen, und der
durch Luther ausgedrückten echt refor matorischen
gleich weit entfernt ist, deutlich hervor, wird
von unserm Verf. klar und entschieden erfasst
und augenscheinlich gebilligt. Auch dies möchte
ich als einen Vorzug unserer Schrift bezeichnen.
Denn man findet es sonst selten, dass die echt
humanistische Gesinnung, die in Hutten ihren
bedeutendsten Träger besass, nach seinem Tode
aber nur von Wenigen bekannt wurde, als eine
gerechtfertigte anerkannt wird, die Gesinnung,
dass die politische und geistige Befreiung und
Bildung unbehindert von religiösen Verschieden-
Schwertzell, Helius Eobanns Hessus. 399
beiten und Kämpfen weiter ihren Weg gehen
m&886 und zum Ziele führen würde.
In Schwertzell’s Buch tritt der kritische
Theil hinter dem darstellenden zurück, doch
werden auch auftauchende kritische Fragen ge-
wissenhaft und geschickt erledigt. In den drei
bei Gelegenheit der Besprechung der Krause’-
schen Arbeit erwähnten Streitfragen über Eo-
bans Geburtsjahr, -ort, und Familiennamen
kommt Schw. zu demselben Resultat, wie Kr.,
(dessen Arbeit ihm übrigens unbekannt geblie-
ben zn sein scheint), nur dass er als Geburts-
ort, wol mit Unrecht, ßockendorf, nicht Halge-
bansen annimmt; den sonstigen kritischen Unter-
suchungen über Eoban’8 Todestag, Verheirathung
etc. ist zuzustimmen. Besondere Gelegenheit zu
kritischen Bemerkungen gibt dem Verf. der An-
hang, welcher ein chronologisches Verzeichniss
der in der eobanischen Briefsammlung (Marb.
1543) abgedruckten Briefe an und von E. ent-
hält. Doch wäre es wünschens werth gewesen,
wenn der Verf. in dies Verzeichniss auch die
wenigen, an anderen Orten gedruckten, Briefe
von und an Eoban aufgenommen hätte: den
Brief E’s an Reuchlin, 6. Jan. 1515, die 3 von
Booking, Hntt. Opp. II, 68 — 75 mitgetheilten
Briefe n. s. w. Ferner wäre eine Auflösung der
nur durch Feste und Heiligentage bestimmten
Daten am Platze gewesen.
Auch sonst sind im Einzelnen einige Aus-
stellungen zu machen. S. 6 wird eine Schilde-
rung der Freunde Eoban’s in der ersten erfurter
Zeit vermisst , die nach dem Mutianschen Brief-
mscr. in Frankfurt a. M., dessen Benutzung der
Biograph Eobans nicht unterlassen sollte, leicht
hätte entworfen werden können; S. 25 eine
Mittheilung darüber, worin die von E. durchge-
setzte Universitätsreform besteht; aus der S. 24
400 Gott. gel. Anz. 1874. Stock 13.
abgedruckten Stelle geht hervor, dass E. 1517,
nicht 1516 Professor in Erfurt wurde. Strauss9
Hutten wird nach der ersten Auflage citirt und
dadurch an manchen Stellen Bemerkungen auf-
genommen, die nach der neuen Auflage nicht
passen; aus Strauss (S. 132 fg.) hätte übrigens
der poetische Briefwechsel zwischen Hutten und
Eoban, in welchem der Eine im Namen Italiens,
der Andre im Namen des Kaisers die politi-
schen Zustände bespricht; aus dems. (S. 529)
der Brief Huttens, in welchem er den Eoban
bittet, sein letztes Werk, den Dialog Arminias,
zu veröffentlichen, an rechter Stelle Aufnahme
verdient. Der Abschnitt über die Dunkelmänner-
briefe hätte, da er nur Bekanntes etwas breit
wiederholt, fortbleiben können; sehr auffallend
ist dabei, dass der Brief eines Unbekannten an
Grotus noch dem Justus Jonas zugeschrieben
wird. Zu S. 39. Der Brief Huttens an Eoban
(21. Juli 1523) ist nicht das Letzte, was H. ge-
schrieben hat, — wir besitzen noch spätere
Briefe an Zwingli und Prugner — ; übrigens ist
H. nicht am 23. Aug., sondern am 31., oder
am 1. Sept. gestorben. S. 45 A. 88 ist der
an zweiter Stelle mitgetheilte Brief früher als
der erste. S. 110 fg. hätte erwähnt werden
können, dass ein Theil der Predigt des Joh.
Drakonites auch in Lauze’s Chronik S. 437 fg.
steht; aus diesem Bruchstück ist auch der S.
114 A. 67 mitgetheilte Ausdruck, der daher
nicht Lauze zugeschrieben werden darf; Lauze’s
bestimmte Behauptung (S. 435), dass E. erst
1537 nach Marburg gekommen sei, hätte eine
Berichtigung verdient. Ebenso musste darauf
hingewiesen werden, dass E.’s Selbstlob (S. 107):
»das Unternehmen einer Iliasübersetzung sei vor-
her noch von keinem Manne irgend einer Nation
Schwertzell, Helios Eobanus Hessus. 401
versucht worden«, nicht gerechtfertigt ist. (Vgl.
Vahlen: Laurentii Vallae opuscula tria Wien
1869 S. 74—100). S. Ill A. 57 ist, um den
Ungrund der Behauptung Strieders zu zeigen,
nach conjugum ein Komma zu setzen; das Ge-
dicht mag immerhin von Eoban sein, bezieht
rieh aber nicht auf seine Verheirathung.
Es wäre erfreulich, wenn der Verfasser die-
ser tüchtigen Erstlingsleistung andere Arbeiten,
welche dasselbe Gebiet behandeln, folgen lassen
wollte; der erste Biograph seines Helden, Joa-
chim Gamerarius, entbehrt noch durchaus einer
genügenden Darstellung, zu welcher die herr-
liche Camerarische Sammlung in München, de-
ren Schätze in diesen Tagen durch einen voll-
ständigen Catalog allgemein bekannt gemacht
worden sind, den Stoff in reichster Fülle bietet.
Berlin. Ludwig Geiger.
Annalen der Physik und Chemie. Jubelband,
dem Herausgeber J. C. Poggendorff zur
Feier fünfzigjährigen Wirkens gewidmet. Mit
6 Figurentafeln. Leipzig 1874. Verlag von J.
A. Barth.
Es sind 50 Jahre verflossen, seitdem Prof.
Poggendorff die Herausgabe der Annalen
der Physik und Chemie übernommen hat, und
in diesem Zeitraum hat derselbe in ununter-
brochener Reihe 150 Bände nebst 6 Supple-
mentbänden von diesem wichtigen Werke er-
scheinen lassen. Eine so grosse Thätigkeit ist
®m so mehr anzuerkennen, als er während des-
sen noch Zeit fand, auch durch eigene For-
26
402 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
schlingen die physikalische Wissenschaft zu for-
dern. Mit seinen wichtigen Entdeckungen und
den Annalen wird sein Name für immer ruhm-
voll verknüpft bleiben. Durch die rein wissen-
schaftliche Haltung und die strenge Kritik, mit
denen er die Herausgabe der Annalen leitete,
hat er sie zu dem Hauptorgan für die Physik,
zu der Quelle für alle die grossen Leistungen
gemacht, durch die sich seit 50 Jahren das Ge-
biet der Physik so ausserordentlich erweitert
hat. Auch der Chemie und Mineralogie wid-
mete er durch Aufnahme einzelner bedeutende-
rer Abhandlungen seine Aufmerksamkeit, wie-
wohl diese Fächer nach und nach eine mehr
untergeordnete Stelle einnahmen, da für sie, na-
mentlich durch die Liebig1 sehen »Annalen«
andere Organe vorhanden waren. — So viel-
jähriger Thätigkeit und so grossen Verdiensten
eine öffentliche Anerkennung werden zu lassen,
entsprach einem ganz natürlichen Gefühl; es
war daher ein glücklicher Gedanke des Ver-
legers der Annalen, des Herrn j. A. Barth
jun. in Leipzig, und einiger der älteren Mit-
arbeiter, ihrerseits und ohne Mitwirkung des
Herausgebers, einen Jubelband der Annalen zu
veranstalten, der diese Epoche in dem lang-
jährigen Bestehen derselben bezeichnen sollte.
Dieser Band ist nun als Ehrengabe am 28. Fe-
bruar d. J. im Namen der Mitarbeiter dem Ju-
bilar feierlich überreicht worden. Beiträge dazu
waren in Fülle eingelaufen und bilden nun
diesen , nicht bloss durch seinen Inhalt be-
deutenden, sondern auch durch die prächtige
äussere Ausstattung und die wohl gelungene
Photographie von Poggendorff so ausgezeich-
neten Jubelband. Dazu kamen hohe Ehrenbe-
zeugungen und, von Seiten des Herrn Verle-
Poggendorff, Azmalen d. Physik u. Chemie. 403
| gers, ein ebenso sinniges als kostbares An*
denken, und während des Festmahles, mit dem
der Tag in üblicher Weise gefeiert wurde,
Glückwünsche aus fast allen Ländern Europas.
; — Nur wenige von den Mitarbeitern aus der
| früheren Periode, zu denen Berzelius, v. Hum-
boldt, L. v . Buch, Mitscherlich, die Bosefs, Liebig,
Faraday u. a. gehörten, sind noch übrig, und
von den Beitragenden zu dem ersten Band ist
nur einer noch am Leben.
Ausser XIV Seiten Zueignung und Rückblick
machen die 63 Abhandlungen, woraus dieser
Band besteht, 682 Seiten aus. Diese Abhand-
lungen sind folgende:
Angstrom, über das Spectrum des Nordlichts,
Barentin , zu Poggendorffs Fallmaschine, Beetz ,
! über die Leitungsfähigkeit des Glases fürElectr.
j u. Wärme, v. Bezold, über binocul . Farbenmischung,
! Blaserna, über d. Entwickl., den Verlauf u. die
: Dauer der Extraströme, Du Bois-Reymond, fortges.
Beschreibung neuer Vorrichtungen für Zwecke
der alldem. Nerven- und Muskelphysik, Boltz-
\ mm, über den Zusammenhang zwischen der
i Drehung der Polarisationsebene u. der Wellenl.
| der verschied. Farben, Bosscha, über die spec.
Wärme des Wassers bei verschied. Temperatur,
Böttger, über Aufbewahrung, u. Eigensch. eines
| electrolytisch mit Wasserstoff übersättigt. Pal-
I ladiumbleches, Böttger , über das Verhalt, der
Uebermangansäure zu verschied. Stoffen, Buff,
über die Biegungs-Elasticität, Clausius, über
verschiedene Formen des Virials, Dove, über die
meteorol. Unterschiede der Nordhälfte u. Süd-
hälfte der Erde, Dufour, Untersuchungen über
die Reflexion von Sonnenwärme auf dem Gen-
fer See, Edlund, über die Wärmewirkung
electr. Disjunctionsströme, Ehrenberg, über einige
26*
404 G5tt. gel. Anz. 1874. Stück 13.
physik. und kosmische Erscheinungen in Nord-
afrika und Westasien, Fechner , über d. Best,
des wahrscheinlichen Fehlers eines Beobachtungs-
mittels durch d. Summe d. einfachen Abweich.,
Feddersen, über elektrisches Glimmlicht, v. Fei-
litsch , die Orte gleicher norm. Intens, im Magnet-
feld eines galvan. Kreisstromes, Galle, über eine
am l.Febr. 1873 zu Breslau über einer Feuers-
brunst beob. Lichtsäule, Hagenbach , fernere
Versuche über Fluorescenz, Hankel , über ther-
moelektr. Eigensch. des Topases, Schwerspathes
und Aragonites, Helmholt# , die theoret. Grenze
f. d. Leistungsfähigkeit d. Miskroscope, Hittorf \
über die Elektricitätsleitung d. Gase, Jolly, über
d. Ausdehnungscoeff. einiger Gase und über
Luftthermometer, Karsten , über d. wissensch.
Untersuchung der Ostsee und Nordsee, Kettder ,
das spec. Gesetz d. sogen, anomalen Dispersion,
Knoblmch , über die Reflexion d. Wärme- und
Lichtstrahlen v. geneigten diatherm. und durch-
sicht. Platten, Kohlrausch, über d. Wirkung d.
Polarisation auf alternir. Ströme und einen Si-
nusinduktor, Koosen, über einige Eigenthümlich-
lichk. der galvan. Polarisation insbes. in d. Kali-
Hypermangankette, Kundt, über einige Beziehun-
gen zw. d. Dispersion und Absorption des Lich-
tes, Lommel, über d. Lichtschein in d. Schatten
des Kopfes, Melde, Beschreibung eines Wellen-
appar. insbes. z. Versinnlichung des Zustande-
kommens Chladnischer Klangfig., Meyer , hydrau-
lische Untersuchungen, J. Müller , Beziehungen d.
Brennweite u. d. conjug. Punkte einer Linse d.
eine neue Formel dargestellt, J.J. Müller, über d.
spec. Wärme d. gesätt. Dämpfe, Oettingen , über
d. künstl. herbeigef. Interruption d. oscillator.
Entlad, einer Leydener Batterie u. über d. Ge-
setz d. elektr. Schlagweite, Paaltow, über d.
1 Poggendorff, Annalen d. Physik n. Chemie. 405
i
| elektromot. Kraft v. Flüssigkeitsketten, JPfau/ndr
\ ler , der »Kampf ums Dasein« unter d. Mole-
! külen ? ein weiterer Beitrag z. ehern. Statik,
r Quincke , über d. Bestimmung des Haupteinfalls-
winkeis und Hauptazimuths f. d. verschied. Fraun-
hoferschen Linien, Rammeisberg , Fortschritte d.
Mineralogie, wie sie seit 50 Jahren aus Pogg.
Ann. sich ergeben, vom Rath, einige Studien
über Quarz, Kupferkies u. Albit (siehe auch
Reusch), Reusch und vom Rath , über farben-
schillernde Quarze vom Weisseiberg bei Ober-
kirchen unweit St. Wendel, Rieche, zur Theorie
d. dielektr. Mittel, Riess, über d. elektr. Influenz
eines Nichtleiters auf sich selbst, de la Rive u.
Sarasin , einige Versuche über d. Wirkungen d.
Magnetismus auf d. elektr. in d. Verlängerung
d. Axe d. Magneten stattfind. Entlad, in e. ver-
dünnten Gase, Rudorff , über d. Bunsensche
Photometer, Sarasin (siehe Rive), Scheerer , über
d. Bildung der erzbegleit. Mineralien, Schneider ,
über neue Schwefelsalze, Schröder , Untersuchun-
gen üb. d. Volumtheorie einiger Oxyde, Siemens ,
direkte Messung des Widerst, galvan. Ketten,
Soret, Spektroskop mit flurenscirendem Ocular,
Thomsen9 über d. Constitution der Chlorwasser-
stoffsäure und d. Chlorwasserstoffs. Salze, Töpler,
über d. Herstellung vorausbest, period. Luft-
beweg. mit d. Sirene, TyndaU9 vorläuf. Mittheil,
über e. Untersuchung d. Fortpflanzung d. Schal-
les durch d. Atmosphäre, Waltenhofen, über ein
allgem. Theorem, z. Berechn, d. Wirkung mag-
netisirender Spiralen, Wilhelm Weber , über d.
Aequivalent leb. Kräfte, Wiedemann, über d.
Dissociation d. wasserhaltigen Salze, Wüd, Neu-
manns Methode z. Vermeidung des v. Biegungen
herrühr. Fehlers bei auf d. Oberfl. getheilten
Strichmaassen , Willigen , über Interferenzer-
406 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
scheinungen einax. Krystallplatten in polaris.
Lichte, WüUner , Studien über d. Entlad, des
lnduktionsstr. in mit verd. Gasen gefüllten Räu-
men, Zöllner , photometr. Untersuch, über d.
physische Beschaffenheit d. Planeten Merkur.
The Palaeographical Society. Facsimiles of
Ancient Manuscripts. Pätt. I. Edited by E.
A. Bond and E. M. Thompson. London:
Printed by Whittingham and Wilkins at the
Chiswick Press. 1873. (25 Bl. Gross Folio).
Vor acht Monaten etwa erliessen in London
die Vorstände des Britischen Museums und des
Public Record Office, der Bodleyschen Bibliothek
in Oxford und der öffentlichen Bibliothek der
Universität Cambridge nebst einigen anderen
Gelehrten und Freunden der Handschriften-
kunde einen Aufruf zur Bildung einer Paläo-
graphischen Gesellschaft. Er hat so viel An-
klang gefunden, dass heute schon die erste
Lieferung einer grossartigen Sammlung von
Schriftproben, bestehend aus zwölf facsimilirten
Tafeln mit eben so vielen Blättern Text im
grössten Folio und prächtigster Ausstattung,
herausgegeben von E. A. Bond und E. M.
Thompson, Beamten des Manuscript Department
im Britischen Museum, vorliegt, die sich neben
dem Besten, was wir der Art bisher besitzen,
wie Sickels Monumenta Graphica, sehr wohl
kann sehn lassen. Die Mittel, welche so rasch
flüssig gemacht worden, die Prachtstücke alten
Schriftwesens, über die man zu verfügen hat,
eine Officin, welche sich längst durch Herstel-
407
I The Palaeographies! Society. I.
lung herrlicher Druckwerke einen Namen ge-
macht hat, und die Energie, mit welcher eine
solche Arbeit, einmal von Engländern in die
Hand genommen, betrieben zu werden pflegt,
i lassen in der That Vorzügliches erwarten.
I Ein kurzes Vorwort spricht sich über den
1 Zweck des Unternehmens so wie über die Aus-
! wähl und Behandlung der Proben aus. Es
gilt vor Allem dem wissenschaftlichen Studium
der Paläographie durch genaue Wiedergabe der
Schrift und Verzierung alter Manuscripte eine
sichere Grundlage zu verschaffen. Die beste
Methode dauernden Abdrucks nach Photogra-
phien soll dazu angewendet und jedem Stück
die nöthige Erläuterung seiner Eigenthümlich-
keiten beigegeben werden. Die ersten zwölf
| Tafeln mit dreizehn Facsimiles schöpfen aller-
| dings vorwiegend aus englischen Handschriften,
greifen aber aus dem Mittelalter wie in das
Alterthum so auch in die Fremde hinüber, um
neben den irischen und englischen die typisch
continentalen Schriftschulen vorzuführen. So
I sind die ältesten und wichtigsten Codices der
Pariser Bibliothek bereits im Einverständnis
| mit dem bewährten Vorstand M. Delisle zur
Anfertigung von Abdrücken untersucht und
auserlesen. In der Regel soll jedem Blatt ein
Blatt Erläuterung entsprechen, diese aber sich
auf das Wesentlichste, auf Zustand, Alter und
Herkunft des Manuscripts, die charakteristischen
Merkmale der Hand, Anfertigung und Ausfüh-
' rung, Angabe der bei der Ornamentik ange-
wendeten Farben und Uebertragung des Texts
in gewöhnlichen Druck beschränken. Der
schöne Anfang ist durchaus geeignet, der gegen
einen Jahresbeitrag von 7 Thalern nicht uner-
408 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 13«
schwinglichen Publication eine günstige Aufnahme
zu sichern.
Auf der ersten Tafel ist ein aus dem Se-
rapeum zu Memphis stammender, jetzt dem Bri-
tischen Museum gehörender Papyrus mit unver-
gleichlicher Deutlichkeit des Gewebes, der Fal-
ten und Brüche abgebildet, eine an sich nicht
seltene und oft genug beschriebene Art von
Documenten. Das vorliegende Stück enthält
eine Bittschrift in griechischer Sprache aus den
Tagen des Ptolemaeus Philometor um das Jahr
152 v. Chr. in Uncialen, ohne Trennung der
Worte, ohne Accent und Spiritus, ohne Inter-
punction geschrieben. Doch zeigen mehrere
Buchstaben die Hinneigung zu cursiver Form.
Hieran schliesst sich gleichfalls aus dem Briti-
schen Museum ein lateinischer Papyrus, der
aber viel später, und zwar erst in Ravenna im
Jahre 572 n. Chr. geschrieben ist, ein Verkaufs-
act aus dem siebenten Jahre Justins H. Von
der 8 Vs Fuss langen Rolle ist nur der Schluss,
etwa l1/* Fuss, photographisch abgenommen wor-
den. Er genügt vollkommen, um die interessante
römische Cursive, mit welcher in der Folge die
Diplome der Merovingerzeit ungemeine Aehn-
lichkeit zeigen, in der vielfachen Combination
der Buchstaben, monogrammatischen Zusammen-
ziehungen und gewohnheitsmässigen Ligaturen
nach allen Richtungen zu erforschen.
Die nächsten vier Tafeln sind sämmtlich
einer und derselben Handschrift, dem berühm-
ten Evangelienbuche von Lindisfarne (Brit. Mus.
Ms. Cotton. Nero D. IV.), entnommen, als
herrlichstes Beispiel früh englischer Kunst. Am
Ende des Codex hat in einer Hand des zehn-
ten Jahrhunderts der Priester Aldred die sehr
willkommenen Notizen hinzufügt, dass Bischof
The Palaeographical Society. I. 409
Eodfrith von Lindisfarne (698 — 721) das Bach
geschrieben, Bischof Ethilwald (724—740) es
üluminirt, Stillfrith der Eremit den mit Juwelen
besetzten Einband hergestellt und er selber, Al-
dred, — in der cursiven Schrift seiner Zeit —
die Glosse hinzugefügt habe, jene linguistisch
so wichtige, unter dem Namen des Durham
Book bekannte northumbrische Uebersetzung,
welche neuerdings von Joseph Stevenson heraus-
gegeben worden ist. Eine bessere Datirung
lässt sich schlechterdings nicht wünschen für
ein Pracbtwerk, das in Baedas Tagen und in
seiner Nähe entstand, wo die emsigen Northum-
brier den scotischen Sohreibemeistern die Ge-
heimnisse ihrer Kunst ablauschten. Es ist eine
Freude, diese schönen Uncialen in ihren speci-
fisch nationalen Formen, in ihren doppelten,
fest abgesteckten Columnen mit schon sichtbar
werdender Worttrennung — nur einsilbige Wör-
ter hängen sich dem folgenden an — zu lesen.
Die Herausgeber haben es sich angelegen sein
lassen, über die sorgfältige Behandlung des
Pergaments, die wenigen regelmässig wieder-
kehrenden Zusammenziehungen und Kürzungen
der Schrift, die ungewöhnlichen Züge einzelner
Buchstaben, die reiche, leider nicht durch Far-
bendruck wiedergegebene Verzierung der Initia-
len und Vorsatzblätter, über gelegentliches Ci-
tat, Corrector und Einschaltung die nöthigste
Erläuterung beizufügen. Die in meisterhaft
photographischer Nachbildung hier und da durch-
schimmernde zweite Schrift wird schwerlich, wie
der Beschauer zuerst geneigt sein dürfte anzu-
nehmen, als Palimpsest zu deuten sein, sondern
rührt von den nicht minder kräftigen farbigen
oder dunkelschwarzen Schriftzügen der Gegen-
seite her. Man wird dies besonders auf Tafel V
410 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 13.
bestätigt finden, dem ganz unvergleichlichen
Vorsatzblatt zum Evangelium Johannis, einer
grossen kreuzartigen Vignette , architektonisch
und musivisch in unendlich gewundenen stets
wiederkehrenden, bestimmte phantastische Vo-
gelgestalten umschlingenden Schnörkeln aufge-
baut und in einer Fülle von Farben illuminirt,
auf welchem die in Gold eingebrannten Worte
des nächst folgenden Blatts + Johannis aquila
durchschimmern. Während Tafel III eine ge-
wöhnliche Seite des Bandes, die Endverse des
vierten und die Anfangsverse des fünften Capi-
tels Matthäi reproducirt, ist auf Tafel IV das
Anfangsblatt dieses Evangelisten abgebildet, wo
die in schon angedeutetem Prachtstil verzierte
und gemalte Capitale L die ersten Worte bis zu
CMLII ABRAHAM — das 0 erscheint ganz
vereinzelt und um so merkwürdiger — völlig
umspannt, und desgleichen auf Tafel VI Titel
und Anfang des Evangeliums Johannis, wo In
Principio in mächtigen Initialen mit ähnlicher
Ornamentik auch die nächst folgenden Worte
beherrschen.
Eine viel einfachere, weiter gebildete engli-
sche Schrift aus der zweiten Hälfte des achten
Jahrhunderts wird auf der siebenten Tafel an
einer Seite eines aus dem Kloster St. Augustin
zu Canterbury stammenden, jetzt gleichfalls im
Britischen Museum bewahrten Evangeliumbuchs
vorgeführt. Die englische Halbunciale zeigt
kleine Intervalle zwischen den Wörtern, wäh-
rend Präpositionen und ähnliche Einsilben sich
mit dem nachfolgenden Worte verbinden. Zu-
sammenziehungen und Abkürzungen werden et-
was häufiger, Punct und Komma erscheinen ver-
einzelt. Viele Buchstaben haben weiter ent-
wickelte, schon theilweise cursive Form ange-
411
The Palaeographical Society. I.
nommen. Eine gleichzeitige cursive Hand hat
den Codex durchcorrigirt. Wegen einiger schon
illnminirter Blätter wird, wie bei den vorher-
gehenden Tafeln, auf Westwood’s Miniatures and
Ornaments of Irish and Anglo-Saxon Manuscripts
verwiesen.
Die achte und neunte Tafel sind einer Pa-
riser Handschrift des achten Jahrhunderts,
einer Kanonsammlung, entnommen. Das ausge-
wählte Stück handelt von einem dem Athana-
sianischen nahe verwandten Glaubensbekennt-
nis, welches der Schreiber aus einem Trierer
Manu8script entlehnt. Die Schrift ist die lom-
bardische Minuskel. Titel und Capitel überschrif -
ten werden durch Unciale und Halbunciale her-
vorgehoben. Contractionen und Ligaturen, so
wie die namentlich in der obersten Zeile ge-
rade und weit in die Höhe gezogenen Buchsta-
ben b d h 1 verrathen die continentale Hand,
wie sie zu Anfang der karolingischen Periode
weit verbreitet war.
Nun folgen Beispiele der frühsten englischen
Urkunden. Das erste Stück, Tafel X, eine Land-
veracbreibung der drei Brüder Eanberht, Uhc-
tred und Aldred, die sich sämmtlich regulus
betiteln, d. h. Unterkönig der Hwiocas in Wor-
cestershire, ist vom Februar 759 Indiction XII
datirt und durchweg, auch die Zeugen einge-
schlossen , unter denen Offa König der Mercier
und Mildred Bischof von Worcester erscheinen,
von einer Hand geschrieben, deren feste, den
Uebergang von der Unciale zur Cursive veran-
schaulichenden Formen vielfach an die ungefähr
gleichzeitige Schrift des Evangelienbuchs aus
Canterbury auf Tafel Vn erinnern. In dem
zweiten Stück, Tafel XI, datirt 812 mit Indiction
und königlichem und erzbischöflichem Regie-
412 Gott. gel. Anz. 1874. Stfick 13.
rungsjahr, tauschen Coenuulf von Mercien und
Wulfred von Canterbury gewisse mit dem Laufe
ihrer Grenzen angegebene Ländereien aus. Die
sehr regelmässige Schrift weicht in der ausge-
bildeten Cursive , durch bestimmte Wort-
trennung und eine gewisse steile Form der
Buchstaben keineswegs unvorteilhaft von der
des vorhergehenden Jahrhunderts ab. Auch
Capitalen, Interpunction , Abbreviaturen be-
zwecken augenscheinlich das Instrument leicht
lesbar zu machen. Der Schluss mit den Zeu-
gen steht auf der Rückseite des viel mehr in
die Breite als in die Höhe gehenden Originals
und ist deshalb, was sehr zu bedauern, in der
Nachbildung nicht wiedergegeben. Tafel XII
endlich enthält zwei Stücke. Das erste, eine
Landverscbreibung Offas, Königs der Mercier,
ist nicht datirt, fallt indess in die Zeit zwischen
791 und 796. Gegen das Ende der Urkunde
heisst es: Scripta est autem .haec libertatis
kartula ab universo concilio synodali in loco
celeberrimo qui nuncupatur clobeshoas. Daher
denn die vielen geistlichen Zeugen, Bischöfe und
Aebte. Die letzten zwölf Namen, Priester oder
Laien (?), stehen auf der Rückseite des Origi-
nals und sind abermals im Nachdruck wegge-
lassen. Die Schrift hat mehr individuelle Merk-
male als die vorhergehenden Beispiele, erinnert
aber hin und wieder mehr an Tafel X als XI.
Das letzte Stück weicht von allen vorher-
gehenden am Meisten ab. Bischof Wer frith
von Worcester, derselbe, welchem Aelfred der
Grosse das eine der noch vorhandenen Exem-
plare seiner Uebersetzung der Gura Pastoralis
Gregors des Grossen zustellt und der im Te-
stament desselben Königs erscheint*), verleiht
*) Ms. Hatton 20 in der Bodleiana: vgL Pauli, Kö-
Gans, Ueb. Gedankengang, Gedankenentw. etc. 413
seinem Grafen Wnlfrige ein Stück Land zu
Eastun. Die Urkunde ist in altenglischer Sprache
aufgesetzt, in der siebenten Indiction, seit der
Fleischwerdung Christi sind 904 Winter ver-
gangen, und die Zeugen bekunden nebst ihren
Namen mid cristes rode taene . Die Schrift ist
durchweg eine steile, fast spitze Cursive, aber
durch vollkommene Worttrennung und indem
ausser n für and und prs für presbyter alle
Zeichen und Abkürzungen unterbleiben, sehr
klar und lesbar.
R. Pauli.
Gans, Emil Albert: Ueber Gedankengang,
Gedankenentwicklung und Gedankenverbindung
im Briefe des Jakobus, Hannover, Helwing’sche
Hofbuchhandlung, 1874.
Was diese, dem Senior Bödeker zu seinem
im Januar d. J. stattgehabten fünfzigjährigen
Amtsjubiläum gewidmete Schrift uns darbietet,
ist nicht eine literarische Kritik des viel um-
strittenen Jakobusbriefes, ln dieser Hinsicht
setzt der Verf. die Resultate fremder Unter-
suchungen voraus und schliesst sich namentlich
an eine in den Studien und Kritiken 1874,
Heft 1. S. 105 ff. veröffentlichte Abhandlung
des Prof. Beyschlag in Halle an, welche »die
Autorschaft des Jakobus, des leiblichen Bru-
ders des Herrn, und die Abfassung des Briefes
nig Aelfred 818 und 822 nnd die Ausgabe von Henry
8weet in der Early English Text Society. 2 Vols. 1871.
1872.
414 . Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
in der frühesten Periode der christlichen Kirche
zur Evidenz zn erheben versucht«. Was der
Yerf, uns giebt und allein geben will, ist, wie
auch der Titel besagt, eine Darstellung des
Gedankeninhaltes des Briefes, und er meint,
eine Wiederaufnahme der Untersuchung nach
dieser Seite hin dürfte wohl »um so weniger als
überflüssig erscheinen, als sie selbst durch die
verschiedene Beantwortung, die sie in unserm
Jahrhunderte gefunden, sich gleichsam anrege
und zur Prüfung auffordere«. Auch muss man
ja nun zugestehen, dass, selbst wenn sich Bey-
schlag’s Meinung nicht bewähren sollte, der Brief
eine unverkennbare, geschichtliche Wichtigkeit
hat und dass denn allerdings die Untersuchung
nach dem Gedankeninhalte des Briefes noch
keineswegs als geschlossen betrachtet werden
kann, dass auch selbst die neuesten Forscher
noch keineswegs zu völlig befriedigenden Re-
sultaten gekommen sind. Es fragt sich daher,
was zu der Darstellurg des Verf. zu sagen sein
möchte, und da ist da wenigstens soviel an-
zuerkennen, dass derselbe seine Befähigung zu
einer objectiven Auffassung derartiger Schrift-
stücke in beachtenswerther Weise an den Tag
gelegt hat. Die Abhandlung zeugt in der That
von Scharfsinn und gutem Yerständniss für die
innere Gliederung dieses altchristlichen Denkmals.
Durchaus hält der Yerf. an dem brieflichen
Charakter dieses Schriftstückes fest, der, wie er
sagt, »es verstattet, verschiedenartige Materien
hintereinander zu behandeln, ein Fall, der ja
auch in den Briefen des Paulus, z. B. in denen
an die Korinther, sich zeige«, — namentlich
gegen Pfeiffer (Studien und Kritiken, 1850)
und Bauch (Winer’s krit. Journal 1827), welche
aus dem Briefe eigentlich eine Abhandlung ha-
r
Gans, Ueb. Gedankengang, Gedankenentw. etc. 415
ben machen wollen, wird dies festgehalten —
und danach zerfällt der Brief denn in fünf
Hanpttbeile, welche Belehrungen verschiedener
Art in Beziehung auf damals in den Gemein«
! den waltende Verhältnisse und vorgekommene
Störungen und Irrungen enthalten: 1) 1, 2 — 18
! eine Belehrung über das den vorhandenen Ver-
| Buchungen gegenüber zu beobachtende Verhal-
ten; 2) I, -19 — II, 26 eine Belehrung über das
durch den Xoyog äbi&siag geforderte Benehmen;
3) IB, 1— IV, 12 die Darlegung der Gefährlich-
keit der in den Gemeinden auftretenden Sucht,
| die Brüder zu meistern; 4) IV, 13 — V, 6 eine
! Digression auf die Hauptgebrechen der Nicht-
! christen mit ermahnendem Seitenblick auf die
Leser; endlich 5) V, 7—18 eine Reihe von
durch die Gemeindeverhältnisse der Leser ge-
| botenen Einzelermahnungen, welche durch den
! Satz V, 19 f. ihren Abschluss erhält : eineGrup-
! pirung, von der dem Unbefangenen ohne Zwei-
fel klar sein muss, dass sie lediglich an die
Aufeinanderfolge der in dem Text behandelten
I Materien sich anschliesst, ohne in künstlicher
Weise einen engeren Zusammenhang heraus-
! stellen zu wollen, als der Text selbst darbietet.
Auch zeigt sich dies objective, nur den Text
zur Geltung bringende Verfahren überall bei
der Explication des Einzelnen, wie der Verf.
! sie vorgenommen hat, in recht erfreulicher und
befriedigender Weise, und wenn man auch noch
immer über Dies und Jenes rechten könnte, so
| ist doch zu constatiren, dass der Verf. dem
I wirklichen Gehalte des Briefes auf den Grund
I gekommen und manche gute Aufhellung des
f Einzelnen dargeboten hat. Besonders hervorzu-
i heben dürfte das sein, was über die Stelle gesagt
wird, die schon Luther einen grossen Anstoss
i
416 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 13.
an dem Jakobusbriefe nehmen Hess, über 2, 13 ff.,
und eben so möchten wir auch des Verf. Be-
merkungen zu 3, 1 ff. der Beachtung empfehlen,
während wir denn freilich u. A. Bedenken ha*
ben, mit dem Verf. anzuerkennen, dass 4, 13ff.
von Nichtchristen die Rede sei. Dass der Brief
auch hier, wie in den vorigen Theilen, Verkehrt-
heiten zurückweisen will, die unter den von ihm
angeredeten Christen hervorgetreten sind, dürfte
nach dem Zusammenhänge (vgl. V. 17) doch
kaum zu bezweifeln sein und wenigstens Hegt
kein Grund vor, es anders zu denken, und die
von dem Verf. angeführten Gründe sind keines-
wegs genügend, da sich die von ihm angeführ-
ten Erscheinungen auch anders erklären lassen.
Erwünscht würde noch gewesen sein, wenn
der Verf. die von ihm gewonnenen exegetischen
Resultate am Schlüsse seiner Abhandlung dazu
benutzt hätte, uns, wie ein Gesammtbüd von
den Gemeinden, an die der Brief gerichtet war,
so auch von der specifischen Richtung des Ver-
fassers des Briefes zu entwerfen, soweit dies
nach den gewonnenen Resultaten seiner Exegese
möglich gewesen wäre. Gerade dadurch würde
seine Abhandlung besonders nutzbringend ge-
worden sein, und so überaus schwer wäre eine
solche Arbeit nach den hier vorHegenden Vor-
arbeiten doch am Ende auch nicht gewesen.
F. Brandes.
»Zu S. 314 (St. 10) die Schrift Hehle’s
ist enthalten in dem Programm des KönigUchen
Gymnasiums in Ehingenc.
417
G5ttingi sehe
gele hrtc Anzeigen
unter der Aufsicht
der König!. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 14. 8. April 1874.
Verhandlungen der Kirchenver-
sammlung zu Ephesus am 22. August
449 aus einer syrischen Handschrift
vom Jahre 535 übersetzt von G. Hoff-
mapn, ord. Prof, der morgenl. Sprachen. Kiel
1873. 4. 88. 107.
Unter den Beitragen zu den Quellen der äl-
teren Kirchengeschichte, welche in den letzten
Jahrzehnten aus den syrischen Schätzen des
brittischen Museums hervorgeholt worden sind,
nimmt vorliegende Schrift, was ihren Inhalt an-
langt, nicht den letzten, in Bezug auf Sorgfalt
der Bearbeitung aber einen hervorragenden Platz
ein. Der Absicht des Herausgebers, die syrische
Urkunde möglichst entbehrlich zu machen, ver-
danken wir eine Uebersetzung, deren Genauig-
keit aus ihr selbst wie aus den hierauf bezüg-
lichen Anmerkungen ersichtlich ist. Nur an
wenigen sachlich bedenklichen Stellen, welche
zum Theil hier berührt werden sollen, vermisst
nutn eine Anmerkung mit Angabe des syrischen
Wortlauts, wodurch man vielleicht in Stand ge-
27
418 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 14.
setzt würde, wenn nicht die üebersetznng za
verbessern, so doch eine Vermuthang über den
za Grunde liegenden griechischen Text zu wa-
gen. Die dem Vernehmen nach von anderer
Seite in Angriff genommene Herausgabe des
syrischen Textes, dessen Druck schon einmal
i. J. 1870 beinah vollendet war, als eine in der
Druckerei ausgebrochene Feuersbrunst das Werk
zerstörte, ist um deswillen doch kein ganz
überflüssiges Unternehmen. Die schon bisher
bekannt gewesenen, griechisch erhaltenen Stücke,
welche nun auch aus syrischer Quelle uns zu-
fliessen, nämlich zwei kaiserliche Verfügungen
an Dioskorus (S. 1 f.), den Brief des Ibas an
Maris (S. 24 f.), oder wie man jetzt sagen lernt,
des Hiba an Mare (Maqfjq, Maq*q\ ein Send-
schreiben Tbfeodorets (S. 46 ff.), bietet Hoffmann
in einem nach der syrischen Uebersetzung mo-
dificirten griechischen Texte mit Angabe der
Abweichungen vom bisher überlieferten Texte.
Es war das auch bei dem ursprünglich syri-
schen Briefe Hiba’s das richtige Verfahren, denn
die Hs. bietet hier nicht das Original, sondern
eine Rückübersetzung aus dem Griechischen,
wie überhaupt die sämmtlichen hier gebotenen
Acten eine Uebersetzung des vom alexandrini-
schen Protonotar redigirten Protokolls nebst
Beilagen sind. Der Herausgeber hat sich nun
nicht damit begnügt, diese Uebersetzung genau
ins Griechische zurück- und ins Deutsche zum
ersten Mal zu übersetzen und seine Auffassung
an dunklen Stellen philologisch zu rechtfertigen;
in reichhaltigen Anmerkungen (S. 83 — 101) bat
er auch einen gedrängten sachlichen Commen-
tar mit beständiger Hinweisung auf die besten
Hülfsmittel geliefert, welchen die Kirchenhisto-
riker dankbar benutzen werden. Der Fleiss,
rw — m
Hoffmann’, Verband!, d. Kirchen versamml . etc. 419
welchen der Nichttheologe diesen zwar zum ge-
ringsten Theil theologischen, aber doch den
Theologen zunächst angehenden Gegenständen
gewidmet hat, hat etwas Rührendes auf der
einen, aber auch etwas Beschämendes auf der
anderen Seite, und es würde dem Theologen
übel anstehn, diese oder jene Bemerkung über
Theologisches, wie z. B. die über den Begriff
olxovopia (Anm. 184 zu S. 31, 9) unbefriedi-
gend zu nennen.
Es ist ein dunkles Blatt der Kirchenge-
schichte, auf welches diese grössten Theils neuen
Actenstücke ihr Licht werfen. Es gewinnt da-
durch kein erfreulicheres Ansehn; man begreift
nur noch besser , als bisher, woher die Synode
yon 449 den Namen der Räubersynode be-
kommen hat. Zwar von den Fäusten und
Knütteln ägyptischer Mönche, wie sie sonst eine
Rolle spielten, auch von den unleugbaren Ge-
waltthätigkeiten, welche der ersten Sitzung am
8. August das Gepräge gaben (Mansi VI, 602.
624. 625. 827 — 832), erfährt man aus diesem
weislich redigirten Protokoll der zweiten Sitzung
am 22. August nichts. Die Versammlung war
schon durch die erste Sitzung stark purificirt
und im übrigen hinreichend terrorisirt. Daher
mag es sein, dass in dieser späteren Sitzung die
Form mehr als sonst gewahrt wurde. Aber in
aller Form und unter dem oberflächlichen Schein
eines gerichtlichen Verfahrens setzte die augen-
blicklich von Konstantinopel begünstigte Partei
des Dioskorus ihre Absichten durch. Theodoret
war im voraus durch das kaiserliche Synodal-
ausschreiben von der Versammlung ausgeschlos-
sen (S. 2, 10 fl.), und trotz aller Gegenanstren-
gungen wurde dies aufs neue in einem zur Mit-
teilung an die Synode bestimmten Rescript,
L
422 Gott, gel. Anz. 1874. Stuck 14.
Antiochien sein Ausbleiben mit einer Krankheit
entschuldigen liess (5, 32 ff.), an welcher wahr*
scheinlich »die schlechte Mischung der Luft in
Ephesus«, worüber Alle klagten (83, 18), in
mehr als einer Hinsicht Schuld war. Auch von
denen, die erschienen, klagten Viele zwei Jahre
später: na vre g qfjuxQtoptv (Mansi VI, 637 C;
639 A).
Abgesehn von drei kaiserlichen Schreiben,
die vorangehn, und einigen der Synode folgen-
den kaiserlichen und erzbischöflichen Verfügun-
gen (S. 77 ff.) bietet die syrische Hs. das Pro-
tokoll nur der einen Sitzung vom 22. August.
Aus der Schrift des Timotheus Aelurus gegen
das chalcedonensische Concil, aus welcher schon
Gureton gelegentlich Anderes mitgetheilt hat,
gibt Hoffmann nachträglich noch ein zur ersten
Sitzung gehöriges Synodalschreiben an Theodo-
sius [und Valentinianus] und einige Data (S.
81 f. 101). Man hat auch hier wieder Gelegen-
heit über die Ausdauer jener Bischöfe zu
staunen, welche in einer einzigen, ununterbro-
chenen Sitzung ein Material verhandeln konn-
ten , wie es S. 3 — 77 in diesem stattlichen
Quartband füllt. Nur diejenigen Actenstücke,
welche wirklich zur Verlesung kamen, sind in
dies Protokoll aufgenommen; dazu kommt, dass
hier Einiges zuerst nur kurz zusammengefasst
und dann erst auf ausdrücklichen Wunsch der
Synode [vom Redner wiederholt und] zu Proto-
koll gegeben wurde (z. B. S. 29, 5 ff.). Ferner
hat die Hs. manche nicht unerhebliche Lücken
(S. 71. 73. 75); aber keine Lücke findet sich,
welche eine Unterbrechung der Sitzung ver-
decken oder gar die Annahme einer Wieder-
aufnahme der abgebrochenen Verhandlungen an
einem späteren Tage rechtfertigen könnte. Alles
Hoffmann, Verband!, d. Kirchenversamml. etc. 423
ist am 22. August erledigt worden. Dieses Da-
tum findet der Herausgeber in Widerspruch mit
dem bisher überlieferten Datum der ersten
Sitzung, d. 8. oder nach Timotheus Aelurus d.
10. August (Anm. 11 S. 83 f.), weil er die am
Anfang der Sitzung vom 22. August verkom-
menden Bezugnahmen auf eine frühere Sitzung,
die am Sonnabend vorher, also am 20. August
stattfand (S. 5, 16. 30. 34. 36), auf die aller-
erste Sitzung der Synode glaubt beziehen zu
müssen. Der Protonotar Johannes beginnt die
Verhandlungen mit den Worten: »Schon am
ersten Tage, als sich eure grosse und hei-
lige Synode versammelt hatte, und die, welche
die Stelle des heiligen und gottliebenden Erz-
bischofs der Kirche von Born, Leon, vertreten,
und der gottliebende Domnos, Bischof der Kirche
von Antiocheia, ausblieben und nicht ka-
men, hat eure Heiligkeit, dem Kanon gemäss
verfahrend, befohlen, dass Einige von den gott-
liebenden Bischöfen, auch von Klerikern gefolgt,
zu jenen und zu diesem gehen und sie ermah-
nen sollten, heute zu kommen und sich mit
eurer Heiligkeit zu versammeln«. Dies kann
sich nicht auf die erste Sitzung beziehen, deren
Acten wir fast vollständig, in die des chalce-
donensischen Concils eingeschaltet , besitzen.
Denn dieser Sitzung haben sowohl die römi-
schen Legaten als auch Domnus beigewohnt
(Mansi VI, 608 A. 612 B. 614 B. 648 D. 836 A.
869 B. 905 A. C. 908 D. 909 B), und zwar nicht
etwa nur, was schon die ablehnenden Worte
der Legaten in der neuen Quelle voraussetzen
(S. 5, 25 f.), während der Verhandlung über
Eytyches, sondern auch nachher noch während
der Verhandlungen über das Glaubensbekennt-
nis und über Flavian. Der Absetzung des Letz-
424 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 14.
teren widersprach einer der römischen Legaten,
während Domnns zustimmte. Es ist dadurch
auch die Möglichkeit abgeschnitten, obige Worte
etwa so zu verstehen, dass Domnus und die
römischen Legaten der Sonnabendssitzung, wel-
che zugleich die allererste Sitzung gewesen
wäre, theil weise beigewohnt, dann aber durch
ihr Fortgehn die Vollendung der Verhandlungen
verhindert hätten. Sie haben die sämmtlichen
Verhandlungen und Beschlüsse, welche die Sy-
node am Schluss ihrer ersten Sitzung in einem
Schreiben an, die Kaiser zusammenfasste (S.
81 f.), protestirend oder zustimmend, meist aber
schweigend miterlebt. Auch müssten die Worte:
»sie bheben aus und kamen nicht« sammt der
dazu gegensätzlichen Forderung »heute zu kom-
men« (4, 44; 5, 2. 7. 16. 36) Gewalt leiden,
ehe sie von einer Sitzung verstanden werden
könnten, welche die Betreffenden erst kurz vor
Schluss verliessen. Von Domnus jedenfalls,
welcher schon an jenem Sonnabend, an welchem
die Deputation der Synode ihn aufsuchte, bett-
lägerig war (5, 32), ist es buchstäblich zu ver-
stehen, dass er an demselben Tage ausgeblie-
ben und nicht gekommen war. Somit muss es
von den römischen Legaten ebenso verstanden
werden. Den Bischof unter ihnen findet die
andere Deputation, welche ihm gleichfalls un-
mittelbar nach der Sonnabendssitzung (5, 11)
den Bescheid der Synode zu überbringen ver-
sucht, nicht einmal mehr in der Stadt (5, 18).
Warum hätte man sie auch, da sie aufbrechen
wollten, nicht in der Sitzung festgehalten?
Andere wenigstens klagten später, dass man sie
am ersten Sitzungstag bis zum Abend in der
Marienkirche festgehalten und nicht einmal einen
Augenblick habe Luft schöpfen lassen (Mansi
Hoffmann, VerhandL d. Kirchenversamml. etc. 425
VI, 625 B), und so ist es nach den Acten der
ersten Sitzung den römischen Legaten und Dom-
nas ebenfalls ergangen. Hier dagegen handelt
es sich um eine Sitzung, zu welcher sie sich
nicht eingefunden hatten, und in welcher des-
halb »die Beschlussfassung verschoben« (5, 15)
und auf diesen 22. August vertagt wurde. Es
sollten also in jener Sonnabendssitzung diejeni-
gen Dinge verhandelt werden, welche nun am
Montag verhandelt werden, und zwar so ver-
handelt werden, dass man sieht, es ist die Ver-
handlung darüber am Sonnabend nicht etwa
abgebrochen, sondern noch gar nicht in Angriff
genommen worden. Es wird somit bei dem bis-
herigen Datum der ersten Sitzung sein Bewen-
den haben müssen. Nachdem in dieser ersten
Sitzung, Montag d. 8. August, im Beisein des
Domnus und der römischen Legaten über Ey-
tyches und Flavian gerichtet worden, sollte in
einer zweiten Sitzung, Sonnabend d. 20. August,
die Sache des Hiba und anderer orientalischer
Bischöfe verhandelt werden. Das Wegbleiben
der Vorgenannten veranlasste die Synode aber
die Sitzung sofort wieder aufzuheben und auf
Montag d. 22. zu verschieben, um inzwischen
die Ausgebliebenen nochmals in aller Form zur
Theilnahme aufzufordern. Da sie, die Einen
mit stolzer Berufung auf ihre Instruction, der
Andere mit der weinerlichen Entschuldigung
eines geschlagenen Gewissens, wegblieben, ver-
handelte man nun um so bequemer ohne sie,
und, was Domnus betrifft, gegen sie. Wenn
also wirklich der syrische Ausdruck S. 4, 42;
5, 30 keine andere Uebersetzung gestattet, als
»am ersten Tage« , so muss dies ungeschickte
Wiedergabe eines anders gemeinten griechischen
426 Gott. gel. An z. 1874. Stück 14.
Ansdrucks sein. Der Syrer hat ein ngötsQog für
ngtStog genommen.
Von besonderem Interesse und bis auf den
bekannten Brief Hiba’s an den Perser Mare
durchaus neu sind die Acten über sehr stürmi-
sche Bewegungen und amtliche Verhandlungen
zu Edessa, welche dem Condi vorangingen, ih-
rem Anfang nach, wenn ich recht sehe, sogar
noch in das Jahr 448 fallen. Ganz leicht fin-
det man sich trotz der sehr dankenswerthen
Beihülfe des Herausgebers in denselben nicht
zurecht, besonders deshalb, weil sie namentlich
im Anfang nichts weniger als vollständig sind.
In das ephesinische Protokoll ist nur das auf-
genommen worden, was am 22. August vorge-
lesen wurde, eine für die Zwecke der augen-
blicklich herrschenden Partei angemessene Aus-
wahl. Dreimal erhebt sich in Edessa ein Sturm
gegen Hiba, und dreimal muss der Präfect von
Ozroene, der Comes Chaireas, an die Behörden
in Konstantinopel unter Beifügung protokolla-
rischer Aufzeichnungen berichten. Von der
erstmaligen Berichterstattung nebst Beilagen ist
nichts weiter auf bewahrt und als Gegenstand
der Verlesung in der Concilssitzung bezeichnet
(S. 7, 38), als die an zwei verschiedenen Tagen
vor Chaireas laut gewordenen Stimmungsäusse-
rungen der Edessener, mehr als zwei Quart-
seiten voller Exclamationen des Volks mit Ein-
schluss der Weiber, welche sogar vor den Män-
nern genannt werden (S. 7, 45), wie sie zuerst
in der Kirche des Zakchäus bei Gelegenheit der
Ankunft des Chaireas in Edessa am 12. April,
sodann an einem späteren*) Tage in der Amts-
*) Es scheint gewagt, mit dem Herausgeber S. 8,85
und Anm. 40 als Datum dieses zweiten Auftritts den
Hoffmann, Verhandl. d. Kirchenversamml . etc. 427
stabe des Präfecten laut wurden, in welche das
Volk eingedrungen war, nachdem eine Anzahl
Geistlicher und Mönche ihre Klagen gegen Hiba
zu Protokoll gegeben hatten. Von diesem letz-
teren Protokoll ist nichts aufbewahrt und, wie
"an aus der beiläufigen Erwähnung desselben
(8. 8, 35 — 39) in der übrigens officiell gehalte-
nen Relation schliessen muss, auch nichts nach
Konstantinopel geschickt worden. Offenbar hat
Ghaireas die Bedeutung der Sache damals noch
nicht erkannt und nicht geahnt, dass daraus
eine ökumenische Angelegenheit werde gemacht
werden. Das wäre freilich nicht recht begreif-
lich, wenn man mit dem Herausgeber (Anm. 29)
anzunehmen hätte, dass die in den drei Rela-
tionen des Ghaireas, nämlich auch die in der
ersten Relation dargestellten Unruhen zu Edessa
durch den Ausfall des Gerichts zu Berytus ver-
anlasst gewesen und nach Ostern 449 anzu-
| setzen seien. Aber in Bezug auf jenen ersten
in zwei Acte zerfallenden Aufruhr, von welchem
der erste Bericht handelt, spricht gegen diese
Annahme doch nicht nur der Mangel jeder ge-
ringsten Andeutung von dem Gericht zu Bery-
tus, sondern auch die bestimmtesten positiven
Indicien. Die Edessener fordern hier sichtlich
14. April anzunehmen. Es muss zu dem Ende erstens
angenommen werden, das Ijar hier fälschlich den April
statt des Mais bedeute, ferner, dass hier d. 14 irriger-
weise als der auf den 12. unmittelbar folgende Tag be-
zeichnet sei. Die Erklärung des letzteren Fehlers aus
Misverstand von tjj v<nsgai<^ M ßy erscheint nicht sehr
wahrscheinlich, da doch sonst nicht Umschreibung römi-
scher Daten in griechische und syrische, sondern dop-
pelte Datirung angewandt scheint (2, 15; 3, 3. 24; 7,1).
Sollte dann nicht wirklich der 14. Mai gemeint sein und
„an einem spateren späteren Tage“ übersetzt werden
können?
428 Gott. gel. Anz. 1874. Stiicb 14.
zum ersten Mal, dass die weltlichen Behörden
und die Kaiser selbst ihrer Sache gegen Bischof
Hiba sich annehmen (S. 8, 27. 31?.; 9, 87).
Ferner wird hier Domnus von Antiochien, wel-
cher schon im Frühjahr oder Sommer 448, vor
Beginn der Gerichtsverhandlungen zu Berytus,
bei den Gegnern Hiba’s durch derbe Abweisung
ihrer Klagen den letzten Best von Vertrauen
eingebüs8t hatte (S. 20, 24 ff.; 29, 29 ff.; 44,
25 ff.), durch ein doppeltes Vivat! der Edesse-
ner ausgezeichnet (8, 10). Endlich und vor
allem aber wird bei diesem Tumult Absendung
einer klageführenden Gesandtschaft, insbesondere
die des Presbyters Eulogius noch erst gefordert
(8, 30; 9, 37 f.). Dabei kann man unmöglich
an jene den Gerichtsverhandlungen zu Berytus
erst folgende Heise des Eulogius und des Bi-
schofs Uranius von Himeria denken (20, 6);
denn zu dieser wurden die Genannten erst
durch den unbefriedigenden Ausfall der Ver-
handlungen zu Berytus, welchen Eulogius als
Kläger, Uranius als Bichter angewohnt hatte,
veranlasst. Hier aber, bei dem ersten Tumult
zu Edessa wird zuerst nur überhaupt Entsen-
dung einer klageführenden Gesandtschaft ver-
langt, sodann aber »der Eiferer« Eulogius, eben
weil er dies ist, dazu vorgeschlagen. Als Folge
und Erfüllung dieser Forderung ist also viel-
mehr diejenige Beise des Eulogius*) zu ver-
*) Dieser allerdings (vgl. Anm. 149 und Register)
von dem später nach Berytus gekommenen Presbyter
gleichen Namens (21, 19, 43; 27, 34; ob auch 14, 32
und 40?) wohl zu unterscheidende Presbyter Eulogius
(9, 38; 20, 6; 29, 5 ff. ; 31, 6; 35, 5) ist doch wohl
identisch mit dem Presbyter und Archimandriten Eulo-
gius (7, 6 f.). Sonst hätte er gar nicht auf der Synode
redend auftreten können.
Hoffmann, Vorhand!* d. Kirchenversamml. etc. 429
stehen, welche Eulogius schon im Sommer 448
mit den übrigen Anklägern Hiba’s, den Presby-
tern Samuel, Mara, Eyrus (S. 19, 41 cf. Mansi
VTL, 219) von Edessa nach Antiochien und von
da nach Konstantinopel machte, in Folge deren
schliesslich die Sache Hiba’s vor das Gericht
der drei Bischöfe in Berytus und Tyrus ver-
wiesen wurde (S. 20, 8 ff.; 29, 24 — 31, 6; 35,
11 f.). Diese Reise sammt dem geistlichen Ge-
richt zu Berytus fällt zwischen die im ersten
und die im zweiten Bericht des Ghaireas dar-
gestellten Ereignisse zu Edessa; denn in der
dem zweiten Bericht beigefügten Acte wird wie-
derholt auf das Gericht zu Berytus Bezug ge-
nommen. Die ganze Situation ist inzwischen
eine andere geworden. Die Edessener fordern
nicht mehr, wie nach dem ersten Bericht Be-
nachrichtigung der höheren Behörden , auch
nicht mehr Schutz der Redefreiheit gegen das
noch ungebrochene Ansehn des Bischofs, wie S.
10, 2 ff., sondern die Acten von Berytus will
man haben (S. 12, 7 ff.). Man ruft: »die zu
Gunsten Hiba’s richten, in die Verbrennung«
(S. 13, 40). Man fürchtet, dass der im wesent-
lichen freigesprochene Hiba militärische Unter-
drückung des Aufstands bewirken werde (12
10 ff.). Somit fällt der dies meldende zweite
Bericht frühstens in den Anfang des Jahres
449; denn die Gerichtsverhandlungen zu Bery-
tus fanden zwischen dem 27. October 448, dem
Datum der kaiserlichen Anordnung des Gerichts
(Mansi VII, 209 D) und dem 25. Februar 449,
dem Datum der abschliessenden Acte zu Tyrus
(Mansi VII, 197 A), statt. Den zweiten Auf-
stand zu Edessa und die zweite Berichterstat-
tung des Ghaireas noch unter letzteres Datum,
oder gar bis nach Ostern 449 herabzudrücken,
430 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
besteht schwerlich ein Grund. Noch ist, soviel
ich erkenne, weder Hiba noch einer seiner An-
kläger oder Zeugen nach Edessa zurückgekehrt,
welche erst bei dem dritten Aufruhr eine Bolle
spielen*). Tyrus, wo doch das Gericht erst zu
Ende gebracht wurde, wird hier noch nicht wie
im dritten Bericht (21, 41) neben Berytus ge-
nannt. Es können nur Gerüchte und zwar, wie
es nach 12f 11 ff. scheint, übertreibende Ge-
rüchte über den für Hiba günstigen Verlauf der
Verhandlungen zu Berytus in Edessa eingetrof-
fen sein, wie man auch von einer kaiserlichen
Verordnung mit dem Datum des 17. Februar
448 nur erst gerüchtweise und offenbar nicht
durch die Ankläger des Hiba gehört hat, die
bei ihrer Publication in Antiochien zugegen ge-
wesen waren (12, 18 ff. cf. 31, Iff. und Anm.
85). Selbst von dem gleichfalls undatirten drit-
ten Bericht wird man nicht zuverlässig behaup-
ten können, dass er nach Ostern 449 anzusetzen
sei. Es scheinen in der That nur »sehr wenige
Tage« (17, 10) zwischen dem zweiten und dem
dritten Bericht zu liegen; bedeutende Ereignisse
trennen sie nicht. Allerdings sind jetzt von
den Anklägern des Hiba drei nach Edessa zu-
rückgekehrt (19, 41; 20, 7); nur der Presbyter
Eulogius fehlt; auch mehrere in Berytus nicht
zugelassene Zeugen aus Edessa sind wieder da
(21, 40—22, 16). Aber im übrigen unterschei-
den sich die diesmaligen Verhandlungen von
den vorigen wesentlich nur durch ihre grössere
Ausführlichkeit, sowie dadurch, dass sich dies-
mal die vornehmen Laien der Sache angenom-
men haben und von der Geistlichkeit vorge-
*) Der Samuel 14, 42 muss von dem 20, 1 verschie-
den sein.
r
I Hoffmann, Verhandl. d. Kirchenversamml. etc. 431
!
I schoben worden sind. Es scheint aber auch in
1 der Art, wie hier gewisser Vorfälle aus der
Osterzeit 448, die im Winter darauf zu Berytus
zur Sprache kamen, gedacht wird, ein Wahr-
I scheinlichkeitsgrund gegen die Verlegung des
dritten Berichts hinter Ostern 449 zu liegen.
Nur ein einziges Mal wird gesagt, dass sie um
Ostern des vergangenen Jahres stattgefunden
haben (22, 42); an allen übrigen Stellen (20,
37 ff.; 23, 1. 4. 43; 24, 3f. 5f.) wird einfach
Yom Ostertag und Gründonnerstag geredet, was
wenigstens nicht natürlich geredet wäre, wenn
diese Tage seit den dadurch chronologisch be-
stimmten Ereignissen schon einmal wiedergekehrt
wären. Es scheint darnach natürlicher anzu-
nehmen, dass die beiden Tumulte, von welchen
der zweite und -dritte Bericht handeln, noch vor
Ostern (d. 27. März) 449 fielen, der letzte offen-
! bar veranlasst durch die eben von Tyrus zu-
i rückgekehrten Kläger.
i Wichtiger wäre es, wenn die obgenannten
Gründe für die Annahme eines bedeutend frühe-
ren Zeitpuncts des ersten Tumults und Berichts
I stichhaltig erfunden würden. Vor die Mitte des
! Sommers 448 müsste man dann jedenfalls zu-
rückgehn; denn die jenem Tumult, wenn ich
recht sehe, erst folgende Beise der Ankläger
des Hiba führte sie nach Antiochien zur Zeit
einer dort stattfindenden Provincialsynode (29,
36 ff. ; 30, 45 fi.), deren Datum einigermassen
bestimmt werden kann. Bei Gelegenheit der-
selben wurde jene schon erwähnte kaiserliche
Verordnung vom 17. Febr. 448 gegen die Ne-
storianer, insbesondre gegen Bischof Irenäus
von Tyrus publicirt. Man wird sich nicht be-
eilt haben, das den Antiochenern verhasste Ge-
setz zu veröffentlichen, und unter den Klagen
L
482 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
gegen Domnus war die lange andauernde Miß-
achtung dieser Verordnung nicht die geringste
(S. 59, 19—25). Andrerseits muss sie Domnus
ziemlich lange vor dem 9. September 448 an-
erkannt haben, an welchem Tage er sich end-
lich zur Ordination des Photius zum Nachfolger
des Irenäus bequemte (S. 62, 37). In die Zeit
vom Mai bis Juli 448 mag jene antiochenische
Synode und der Aufenthalt der edessenischen
Presbyter daselbst fallen, und unmittelbar vor-
her werden die im ersten Bericht des Chaireas
erwähnten Unruhen zu Edessa anzusetzen sein.
Es lägen demnach zwischen dem ersten und dem
zweiten Bericht des Chaireas 9 — 11 Monate.
Dem widerspricht nun freilich der Wortlaut der
syrischen Uebersetzung in mehr als einem Punct.
Es soll nach S. 14, 6. 13 die im ersten Bericht
(S. 8, 35 ff.) erwähnte Verhandlung zu Edessa
sammt der Abfassung und Absendung des an
drei verschiedene Adressen zu richtenden Be-
richts darüber auf den der neuen Verhandlung
unmittelbar vorangehenden Tag fallen. »Am
gestrigen Tage« soll das alles geschehen sein.
* Aber es fragt sich doch, auch ganz abgesehn
von obigen Bemerkungen über die zwischen*
liegenden Ereignisse, ob das eine an sich selbst
mögliche Angabe ist. Mindestens bis in die
Nacht hinein würden die Secretäre des Präfec-
ten an jenem in dreifach modificirter Gestalt
abzufassenden Bericht zu arbeiten gehabt haben,
und schwerlich konnte der Courier schon nach
Konstantinopel abgefertigt sein, als bereits die
neuen in aller Form gepflogenen Verhandlungen
begannen, von welchen der zweite Bericht han-
delt. Dass Chaireas diese Dinge nicht mit so
unglaublicher Eile betrieb, sieht man auch ans
12, 43—14, 3, wo in das Protokoll der zweiten
Hoffinan®, Verhandl. d. Kirchenversamml. etc. 433
Verhandlung eine Erwähnung von dem, was
während der folgenden 3 — 4 Tage vorfiel, ein-
geschaltet ist. Wenn aber wirklich die Geist-
lichen und sonstigen Notabein von Edessa ihre
Bittschrift (S. 11, 25 ff.) einige Stunden nach
Abgang jenes ersten dreifachen Berichts dem
Präfecten überreicht hätten, so müsste dabei
doch von irgend einer Seite ein Bedauern über
dies sonderbare Misgeschick laut geworden sein.
Die Bittschrift selbst aber, welche >die Unter-
schriften der ganzen Stadt« (S. 12, 36) trug,
muss doch einige Tage vor ihrer feierlichen Üeber-
reichung existirt und cursirt haben; sie hätte
also auch schon vor Abfassung und Absendung
des ersten Berichts und vor den darin darge-
stellten Ereignissen existirt. Wie wäre es nun
denkbar, dass die Kleriker, Archimandriten
u. s. w. (8, 37 vgl. 11, 7) Am 14. Ijar in der
Amtsstube noch von der Bittschrift schwiegen,
die sie dann am 15. überreichen wollten; oder
wenn sie am 14. vergeblich versucht hätten, sie
zu überreichen, dass Ghaireas trotzdem noch
am Abend dieses 14. einen Bericht aufgesetzt
und schleunigst expedirt hätte, dann aber am
15. nachträglich sich hätte bereit finden lassen,
die Bittschrift anzunehmen und mit einem neuen
Bericht nach Konstantinopel zu befördern! Aber
auch die in diesem zweiten Bericht und seinen
Beilagen sonst noch vorkommenden Bezugnahmen
auf den ersten Bericht und den zwischenliegen-
den Zeitraum beweisen, dass in dem »gestern«
ein Fehler steckt. Der Präfect beruft sich auf
den Bericht , welchen er der oberen Behörde
»früher unterbreitet« und »behauptet, auch
jetzt« ohne Gefahr die Berichterstattung nicht
unterlassen zu dürfen (10, 28 f. vgl. 16, 32).
Sie soll sich diesmal auf [die] seit Abgang des
28
434 Gott. gel. Anz. 1874. St&ck 14.
früheren Berichts vorgefallenen Begebenheiten
beschränken (10, 31). Diese Ansdrücke fordern
einen Zwischenraum nicht nur weniger Tage
oder gar Stunden. Wenn Chaireas (14, 5) ver-
sichert, die früheren Forderungen der Edesse-
ner »jetzt« den Behörden berichtet zu haben,
so bemerkt der Herausgeber selbst (Anm. 116),
dass dieses »jetzt« häufig auch für »jüngst«
gebraucht werde. Wenn aber der Presbyter
Miqalla einräumt, dass seit der früheren Ver-
handlung und Berichterstattung allerdings »nicht
viele Tage« verstrichen sind (14, 12), so setzt
Hoffmann in Klammern berichtigend hinzu: »erst
ein« Tag. Aber eben diese Aenderung ist nach
dem Gesagten unthunlich. Es muss vielmehr
das »gestern« (14, 6. 13) ein vom syrischen
Uebersetzer ungeschickt gewähltes Aequivalent
für einen weitschichtigeren griechischen Aus-
druck sein. Vielleicht stand nqoi^v da. Aber
damit allein ist noch nicht geholfen. Es muss
ferner angenommen werden, dass die das Jahr
449 ergebende Angabe »nach der Hypatie der
erlauchten Flavier Zenon und Postumianus«
(7, 42) verderbt ist, und »in der Hypatie« ur-
sprünglich geschrieben war. Das hat aber bei
der Häufigkeit des umgekehrten Fehlers (s. z. B.
Monsi VI, 503 C; 590 A; 606 C) keine Beden-
ken gegen sich, zumal in den umgebenden,
wirklich dem Jahr 449 angehörenden Acten-
stücken wiederholt das fi tijv vnaxsiav Ztj-
voDVog xal IJoatovfuavov vorkam (2, 16; 3, 30;
11, 7), sich also leicht hier einschlich. Auch
folgt aus dem Inhalt des ersten Berichts, soviel
ich verstehe, keineswegs, dass Protogenes, Con-
sul von 449, es damals schon war (8, 8. 45),
oder dass Zenon es nicht mehr war (8, 12;
9, 2. 43) Letzterer wird hier wenigstens nie
I
I
Hoffmann, Verhandl. d. Kirchenversamml. etc. 435
djtd vndwv genannt, wie im zweiten Bericht
I (11, 20; 12, 10), und (SiQaifjXceTfjg konnte er
doch auch als Consul heissen ; Theodoret adres-
i sirt seine epist. 7 1 : Zyvoovi ov Qatfjyw xal inaxco
I (Opp. ed. Schulze IV, 1121).
! Erst durch diese aus dem Inhalt der Acten-
stücke sich ergebenden und äusserlich unerheb-
lichen Aenderungen wird eine angemessene Folge
der Ereignisse hergestellt. Schon seit einiger
Zeit hatte Hiba durch verfängliche dogmatische
Aeu8serungen in Predigten und bei anderen Ge-
| legenheiten einem grossen Theil seiner Geistlich-
keit Anstoss gegeben. Besonders lebhaften, bei-
| nah in lauten Lärm ausbrechenden Widerspruch
erregte eine cbristologische Aeusserung in einer
Ansprache an den Klerus, die er der Sitte ge-
mäss bei Gelegenheit der Einhändigung der
i Osterhirtenbriefe *), also vor der Osterzeit (448)*
j hielt (20, 37 ff. 21, 43—22, 13; 28, 40). Es
folgten ähnliche Kundgebungen am Gründon-
nerstag und Ostersonntag desselben Jahres (22,
36—24, 10). Nachdem inzwischen allerlei
disciplinarische Beschuldigungen gegen ihn und
i seine Familie angesammelt worden waren, welche
| der Menge verständlicher waren, als die dogma-
i tischen Differenzen, bot der Einzug des Präfec-
ten Chaireas am 12. April 448 eine schickliche
Gelegenheit zu einer ersten tumultuarischen
| Demonstration gegen den Bischof. Aber erst,
i nachdem Chaireas am 14. Mai ein amtliches
| Verhör angestellt und dabei ähnliche stürmische
> Auftritte vorgekommen waren, berichtete der
Präfect darüber nach Konstantinopel. Ziemlich
gleichzeitig wird der Presbyter Eulogius mit
*) Diese imtnoXai iogratmxai werden doch wohl ge*
meint sein mit dem syrischen Aasdruck, welchen Hoff-
mann übersetzt „die Festgeschenke (koQmcuxd.)u S. 20, 38»
28*
486 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 14.
den übrigen Anklägern Hiba’s die Reise nach
Antiochien angetreten haben, wo sie Ende Mai
oder Anfang Juni (s. oben S. 432) eingetroffen
sein werden und den vergeblichen Versuch
machten, beim Patriarchen ihre Klagen anzu-
bringen. Alles Weitere, die Reise der Kläger
nach Konstantinopel, die Einsetzung und Ab-
haltung des geistlichen Gerichts zu ßerytus und
Tyrus hat dann bequemen Raum bis zum zwei-
ten und dritten Bericht des Ghaireas etwa im
Februar und März 449; und auch den erfor-
derlichen Zeitraum zwischen der Abfassung die-
ser Berichte und der Synode zu Ephesus ge-
winnt man erst so. Hält man nämlich am
Jahresdatum des ersten Berichts, aber auch an
dem zweiten Monatsdatum innerhalb desselben
(14. Mai) fest und nimmt als unerlässlichen
Zwischenraum zwischen dem ersten und zweiten
und dem zweiten und dritten Bericht auch nur
je zwei Wochen an, so wäre der dritte Bericht
erst um die Mitte des Juni von Edessa abge-
gangen. Dann wäre nicht erklärlich, wie die
sämmtlichen Acten von Edessa, welche die Be-
hörden in Konstantinopel doch erst prüfen und
auf sich wirken lassen mussten, ehe sie einen
bestimmenden Einfluss auf die dortigen Ent-
Bchliessungen üben konnten, schon unter dem
27. Juni (3, 24) durch kaiserliche Verordnung
der Synode zu Ephesus überwiesen werden
konnten. Th. Zahn.
Bauwenhoff, Nippold, Strauss’ alt. u. n. Glaube. 437
Rauwenhoff, Dr. L. W. E., Prof, an der
I Universität zu Leiden, und Dr. Fr. Nippold,
Prof, an der Universität zu Bern: D. Fr. Strauss9
alter und neuer Glaube und seine literarischen
Ergebnisse. Zwei kritische Abhandlungen. Leip-
zig, Richter und Harrassowitz, und Leiden, S.
C. van Doesburgh, 1873. 246 Seiten gr. 8.
Um eine Anschauung davon zu bekommen,
wie sehr und in welcher Weise die im Titel ge-
nannte Schrift von Strauss die Aufmerksamkeit
auf sich gezogen und die mannigfaltigsten gei-
stigen Kräfte und Richtungen sowohl in Deutsch-
land, wie in ausserdeutschen Ländern in Bewe-
gung gebracht hat, darf man nur die zweite
Abhandlung des vorliegenden Buches lesen: »Die
literarischen Ergebnisse der Strauss’schen Contro-
verse; kritische Studie von Friedrich Nippold.
Dieselbe bietet uns eine überaus sorgfältig ge-
arbeitete Zusammenstellung aller der Schriften
dar, welche es mit dem »alten und neuen Glau-
ben« des grossen Würtemberger Kritikers zu
thun haben, und zwar ist das, was wir da em-
pfangen, nicht etwa bloss eine trockene Auf-
zählung der betreffenden Erscheinungen, son-
dern eine je nach der Bedeutung derselben mehr
oder weniger ausführliche Characterisirung und
Kritik einer jeden derselben, so dass wir denn
dadurch auf lebendige Weise in diese literari-
sche Bewegung hineinversetzt werden, welche
»der alte Tübinger Stiftler« wieder einmal ver-
anlasst hat. Allerdings hat der Verf., wovon
er selbst auch kein Hehl macht, nicht jede
Aeusserung verzeichnet, welche in unserer so
zahlreichen Zeitschriften- und Broschüren-Litera-
tur seit dem Erscheinen des Strauss’schen Bu-
ches in Beziehung auf dasselbe vorgekommen
i
438 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
sein mag. Eine solche Ausführlichkeit auch nur
zu verlangen, würde ungerecht sein und hiesse
selbstverständlich etwas rein Unmögliches for-
dern. Auch würde dadurch der Umfang dieser
jetzt in einem schönen Maasse sich haltenden
Abhandlung wohl nur über die Gebühr ange-
schwellt und ihre Brauchbarkeit und Wirksam-
keit eher vermindert als vermehrt worden sein.
Der Yerf. hat sich begnügt, die hervorragenden
und für die einzelnen Richtungen charakteristi-
scher Erscheinungen herauszuheben, und da darf
denn nicht nur gesagt werden, dass ihm kaum
ein Aufsatz oder eine Schrift entgangen ist, die
es wirklich der Mühe werth war, besprochen zu
werden, sondern dass der Verf. auch so schon
eine über das gewöhnliche Maass hinausgehende
Belesenheit in dieser Strauss-Literatur an den
Tag gelegt hat. Man sieht deutlich, der Verf.
hat sich aus dieser neusten Erscheinung im
Entwicklungsgänge unserer streitenden Theologie
ein eigentliches und angelegentliches Studium
gemacht, und um so mehr verdient seine Ab-
handlung Anerkennung und Beachtung, als sie
für den, der solche Studien ebenfalls machen
will, nicht allein einen überaus brauchbaren
Katalog der zu benutzenden Literatur abgiebt,
sondern das besonnene und objective Urtheil
des Verf. auch geeignet ist, Winke und Finger-
zeige zur fruchtbaren Benutzung dieser Litera-
tur zu ertheilen. Ueberall sieht man den die
Sache, um die es sich handelt, beherrschenden
Gelehrten, aber überall auch den gerechten Kri-
tiker, der die verschiedenartigsten Aeusserungen
auch in ihrem wahren Werthe in Beziehung auf
die verhandelte Sache zu würdigen weiss.
Den Reigen eröffnen diejenigen Stimmen,
welche das Strauss’sche Buch »mit Jubel be-
r
I
Rauwenhoff, Nippold, Strauss alt. u. n. Glaube. 439
grösst« haben, und zu diesen gehören denn
nicht blos Solche, die mit Strauss auf demselben
Boden philosophischer, naturwissenschaftlicher
und kritischer Ueberzeugungen stehen und na-
mentlich seine negativen Resultate als Bestäti-
gung ihrer eigenen Meinungen mit Freuden will-
kommen geheissen haben, sondern auch eine
j Klasse von Geistern ganz entgegengesetzter
| Richtung: die sich selbst so nennenden »Gläu-
bigen« namentlich auch innerhalb der prote-
stantischen Kirche. Diese — der Verf. macht
wenigstens einige derselben namhaft, — bewill-
kommneten deshalb vor allen Dingen das Her-
vortreten Strauss9 mit seinen in Beziehung auf
das Ghristenthum so völlig negativen Behaup-
tungen, weil sie meinten, es sei nun »von
massgebender Stelle und auf endgiltige Weise
die Situation geklärt worden« und zwar der
Art, dass es jetzt Jedermann vor Augen liege,
wie es nur noch ein Entweder-Oder gebe, ent-
weder mit Strauss dem Christenthume ganz den
Röcken kehren oder sich mit ihnen ganz und
bedingungslos dem von ihnen empfohlenen Or-
thodoxismus in die Arme werfen. DasStrauss9-
scheBuch erschien diesen Leuten — oder wurde
doch wenigstens von ihnen so benutzt — als
ein Gericht hauptsächlich über diejenige Rich-
tung in unserer Zeit, welche moderne Bildung
mit christlicher Lebensrichtung meinte ver-
einigen zu können, und vielleicht hatten sie
nicht ganz Unrecht, wenn sie hofften, bei
schwächlichen und unklaren Gemüthern werde
dies Auftreten des Verfassers des Lebens Jesu
ihnen jetzt einen um so leichteren Zugang be-
I reiten können« Doch hat der Verf. wohl auch
Recht gethan, wenn er diese Acceptanten des
Strauss’schen Bekenntnisses lediglich erwähnt
L
440 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
und nur gegen den Schluss hin noch einmal auf
sie zu sprechen kommt, um ihnen ein Wort
Spörri’s zuzurufen, das sie ermahnt, sich doch
ja recht selbst zu besinnen, ehe sie dieser Bun-
desgenossenschaft froh werden und sich dersel-
ben getrosten möchten. Vor allen Dingen galt
es, diejenigen Erscheinungen zu characterisiren
und zu kritisiren, die sich auf des neusten Be-
kenners Glauben wirklich eingelassen haben,
nicht etwa, um ihn bloss als die Keule zu hand-
haben, mit der sie anderweitige Gegner zu Bo-
den schlagen könnten, sondern um ihn selbst zu
würdigen, nach seinem Hechte zu fragen und
ihn, wo es nöthig , zu berichtigen und zu wider-
legen, und — da hat der Verf. denn das eigen-
liehe und characteristische Ergebniss constatiren
dürfen, dass das qu. Buch zwar nirgend unbe-
achtet geblieben ist, vielmehr in den verschie-
densten Kreisen als ein Alarmsignal gewirkt hat,
dass es aber nirgends eine volle Zustimmung
gefunden, auch selbst bei Solchen nicht, die
sonst dem Verf. congenial sein mögen, dass im
Gegentheil der ernsteste Widerspruch von den
mannigfaltigsten Richtungen her ist erhoben
worden.
Der Verf. zeigt uns da zunächst, wie die
eigentlichen Fachmänner auf den mancherlei Ge-
bieten, die Strauss in seinem Buche berührt,
keineswegs sehr befriedigt von seinen Behaup-
tungen sind, sondern ihm im Gegentheil einen
Dilettantismus vorwerfen, der im Grunde ihm
kaum noch ein Recht geben würde, wenn auch
nicht geradezu überhaupt hier mit zu sprechen,
so doch ein endgiltiges, für Alle acceptables Ur-
theil abzugeben. Nicht bloss Philosophen von
Fach, z. B. Ulrici, glauben »zur Genüge gezeigt
zu haben, dass Strauss’ neue Philosophie keine
Bauwenhoff, Nippold, Strauss alt. u. n. Glaube. 44 1
Philosophie, weil die durchgefuhrte Verläugnung
aller Logik sei«, auch vor den Naturforschern,
wie Nippold aus den Aeusserungen anerkannter
Autoritäten zeigt, kann diese neue Weltweisheit
nicht bestehen, und nicht mit Unrecht wird hier
wieder an ein vergessenes Wort von Hum-
i boldt’s über die StrauBs’sche Glaubenslehre vom '
i J. 1839 erinnert, dass ihm »der naturhistori-
- sehe Leichtsinn gar nicht gefalle, mit welchem
I Strauss in Entstehung des Organischen aus dem
Unorganischen, ja in Bildung des Menschen aus
chaldäischen Ürschlamm keine Schwierigkeit
finde«. Dubois-Raymond, E. E. von Baer und
Dr. Ludw. Weiss dürften hier gewiss keine Geg-
ner sein, an denen Strauss mit Nichtachtung
vorüber gehen dürfte. Und ebenso hat nicht
nur die Geschichte, es haben auch National-
ökonomie und Staatsrecht ihre Stimmen gegen
den »neuen Glauben« erhoben, wie denn auch
in der Mehrzahl gerade unserer am Unabhän-
gigsten dastehenden und am Freisinnigsten ge-
leiteten Zeitungen, wissenschaftlichen und poli-
| tischen, die ernstesten Bedenken und in der an-
gelegentlichsten Weise nicht etwa bloss von
Theologen, sondern auch von Solchen geäussert
worden sind, die der Theologie fern stehen, ja
ihr sogar sehr wenig gewogen sind. In langer
Reihe führt der Verf. uns hier »die Urtheile
der Presse« vor Augen, voran »das anerkannte
Centralorgan der deutschen Gesammtwissen-
schaffc« Zarncke’s »literarisches Centralblatt«,
dann Alfred Dove’s Zeitschrift »Im neuen Reich«,
die »preussischen Jahrbücher« mit der Kritik
von W. Lang, die »deutsche Warte« — seihst
die Blätter für »literarische Unterhaltung«, selbst
Otto Seemann im Magazin für die Literatur des
Auslandes haben den Ausführungen Strauss’ in
i
442 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
wesentlichen Puncten nicht beistimmen können,
während die übrigen der genannten Blätter der
Stellung, die er zum Cbristenthume einnimmt,
principiell widersprechen, oft mit sehr schnei-
dendem, sehr scharf zurückweisendem Wider-
spruch. Weiter dann auch die Presse des Aus-
landes; die »Revue des deux mondes«, wo Re-
ville, der Verfasser des geistvollen »Essais de
critique religieuse, die »Theological Review«,
das Organ der englischen Unitarier, wo der be-
deutendste unter den neutestamentlichen Kriti-
kern Hollands, Schölten, »De Gids«, die hol-
ländische Zeitschrift, wo l’Ange Huet, selbst ein
»Moderner«, der dem Standpuncte Strauss entr
gegen gekommen ist, wie wenige Andre, also
die Vertreter der freien Kritik auf religiösem
und theologischem Gebiete selbst dem deutschen
Genossen scharf und ohne Rückhalt seine
Schwächen zeigen. Unter den eigentlichen Ta-
gesblättern sodann werden herbeigezogen die
Kölnische Zeitung (Artikel von Adolf Bacmei-
ster), die Weserzeitung (A. Lammers), die
Deutsche Allgemeine Zeitung (Moritz (Carriere),
die Berliner Nationalzeitung (Karl Frenzei) etc.,
lauter Organe und Männer, von denen Strauss
sich nicht beklagen kann, dass sie noch dem
Priesterthume irgend einer der christlichen Sec-
ten und Kirchen dienten, die aber alle erklär-
ren, ihm nicht folgen zu können, weder in sei-
nen materialistischen Auslassungen, noch auch
in dem, was er gegen das Christenthum als
solches vorgebracht: sie alle stimmen indemür-
theile überein, dass die Auslassungen des Tübin-
ger Kritikers gerade in dieser Beziehung oberfläch-
lich und namentlich durchaus unhistorisch seien.
Schliesslich kommt der Verf. dann auf
die Urtheile der Theologen von Fach, der»Ver-
I Itouwenhoff, Nippold, Strauss alt.u.n. Glaube. 443
|
I treter der religiösen Ideen« zu sprechen, und
l hier hat er denn wohl mit Absicht die Richtun-
I gen hervorgeboben, welche im Allgemeinen dem
! officiellen Kirchenthum und seinen hergebrach-
ten Formen entgegen sind: vorab die Juden,
besonders Ludwig Phiiippson in der »Allgemei-
een Zeitschrift des Judenthums«, dann die Alt-
I katholiken Huber, Knoodt, Michelis; das Buch
Frohschammers gegen Strauss hat wenigstens
| noch erwähnt, wenn auch nicht mehr besprochen
werden können ; die Vertreter der »freien Ge-
meinden« (Rupp, Scholl, Hieronymi), dann die
freisinnigen Richtungen der protestantischen
Theologie (ausser Lipsius, Schölten, Reville, P.
W. Schmidt, H. Lang auch Schellenberg, Spörri,
I Holtzmann, Hausrath, die protestantische Kir-
chenzeitung, das deutsche Protestantenblatt,
| etc.) ; aber überall auch dieselbe Zurückweisung,
überall das eine Urtheil: Strauss wird dem re-
ligiösen Leben, wird vor allen Dingen dem Chri-
stenthume nicht gerecht, und er wird dies nicht
und kann es nicht werden, weil seine Voraus-
setzungen falsch , weil sein materialistischer
Standpunct nicht im Stande ist, Religion und
Christenthum zu würdigen. In der That, die
Revue, die Nippold hier angestellt hat, ist eine
( sehr instructive und für Jeden, der sehen will, die
Situation klärende: deutlich zeigt sich hier nicht
nur, dass Strauss den Standpunkt, den er früher,
! namentlich in der Zeit seiner grossen Erfolge ein-
genommen, doch sehr verändert bat, sondern
auch, dass er hinter der fortschreitenden Bibel-
und Religionswissenschaft in ganz unverkennba-
rer Weise zurückgeblieben ist. Es . hat sich
wirklich seit seiner Zeit eine Theologie heraus-
gebildet, die alle Resultate der Kritik in sich
aufgenommen, ja die Kritik selbst auf allen
L
444 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
Puncten fordern za helfengesacht hat, die aber,
und zwar ohne irgend wieder in die Schlingen
des alten Dogmatismus za gerathen, wieder po-
sitiv im christlichen Leben steht. Von den
Vertretern des alten Kirchenthums wird diese
Theologie eben so gescholten, wie von denen der
materialistisch gesinnten Kritik, wie das in dem
Buche von Strauss deutlich hervortritt, aber —
sollte eben diese Theologie nicht doch eine Hoff-
nung für die Zukunft sein, uns bewahrend eben
sowohl vor dem einen, wie vor dem anderen
jene Extreme, und helfend, dass Religion und
Christenthum erst recht unter uns zu Leben
komme? Es ist gerade von den freisinnigen
Gegnern Strauss’ mehrfach ausgesprochen: wir
wollen jetzt und zwar auf unserem freisinnigen
Standpuncte erst recht und um so mehr Chri-
sten sein; und dass Strauss mit seiner Frage:
»Sind wir noch Christen?« solchen Antworten
und solchen Kreisen hat begegnen müssen, ist
für uns ein bedeutsames Zeichen der Zeit und
sollte es auch für ihn sein.
Jedenfalls haben wir es dem Verf. Dank
wissen, dass er uns diese so überaus eingehende
Uebersicht über die neuste Strauss-Literatur ge-
geben und uns damit ein Bild von diese Bewe-
gung auf theologisch-literarischem Gebiete ent-
worfen hat, wie es nicht instructiver sein könnte
auch für Erkenntniss des Geistes überhaupt,
der jetzt auf diesem Lebensgebiete unter uns
nach Gestaltung ringt. Und eben so müssen
wir dem Verf. dann auch Dank sagen für die
Mittheilung der zweiten Abhandlung, welche das
vorliegende Buch enthält und der die seinige
offenbar zur Begleitung hat dienen sollen : »Der
alte und der neue Glaube; Antwort an D. Fr.
Strauss von L. W. E. Rauwenhoff«, einem
Eauwenhöff, Nippold, Strauss alt. u. n. Glaube. 445
holländischen Theologen unabhängiger Richtung,
fiber dessen Persönlichkeit und bisherige wissen-
schaftliche Thätigkeit Nippold in der Einleitung
zu seiner eigenen Abhandlung nähere Notizen
gegeben hat. Aus Allem, was wir da verneh-
men, erfahren wir, dass »in dem Leidener Kir-
chenhistoriker kein Unberufener in der Strauss’-
schen Streitfrage das Wort ergriffen hat«, zu-
mal derselbe auch sonst schon um deutsche Li-
teratur sich bekümmert und für deren Erzeug-
nisse in seiner Heimath Verständniss zu erwecken
gesucht, und die mitgetheilte Schrift selbst be-
kundet dies vollends zur Genüge. Wir können
nicht anders, als sie als einen überaus werth-
vollen Beitrag zur Klärung der von Strauss wie-
der angeregten Fragen bezeichnen, der um so
weniger übersehen werden sollte, als sein Verf.
mit keinerlei Machtsprüchen sich behilft, sondern
was er vorbringt, auch darzuthun sucht in dem
ruhigen und leidenschaftslosen Tone wissen-
schaftlicher Beweisführung, dem man es anfühlt,
dass es ihm lediglich um Aufhellung der betref-
fenden Thatsachen und Verhältnisse zu thun ist.
Die Schrift von Rauwenhoff ist zuerst in der
»Theologisch Tijdschrift, Leiden 1873« erschie-
nen und veranlasst, wie die Einleitung sagt,
durch den Beifall, den Strauss hauptsächlich in
Holland und auch selbst bei Solchen gefunden,
die sich sonst um theologische Fragen nicht be-
kümmern, und durch die Ueberzeugung, dass
»das Buch von Strauss eine gewisse Bedeutung
in dem Bildungsgänge unsrer gebildeten Zeitge-
nossen erlangen dürfte«. Sie sollte deshalb eine
mehr ausführliche Kritik des Buches sein, und
eine solche ist sie denn auch geworden, ein-
gehend auf alle diejenigen Puncte, auf die es,
wie uns scheinen will, bei der Beurteilung des
446 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 14.
gen. Buches hauptsächlich ankommt. Und ihr
Resultat? Es kann hier nicht der Ort sein, sie
im Einzelnen zu reproduciren, dazu würden wir
sie fast ganz ausschreiben müssen, da sie sich,
neben ihren sonstigen Vorzügen, auch durch
Knappheit der Darstellung auszeichnet. Des-
halb können wir nur auf sie selbst verweisen
und empfehlen, sie zu studieren. Aber das darf
constatirt werden, dass derVerf. die völlige Un-
zulänglichkeit der von Strauss als »neuer Glaube«
vorgetragenen W eltanschauung wissenschaftlich
und in einer für jeden Unbefangenen überzeu-
genden Weise dargethan hat. Der Verf. geht
das Strausb’sche Buch Schritt für Schritt durch,
wenigstens so weit es sich um den Fortgang der
grossen Hauptgedanken desselben handelt, aber
wie sehr er auch, wo es sein kann, das einzelne
mannigfaltige Schöne, das da vorkommt, anzu-
erkennen bereit ist, im Ganzen erscheint hier
Alles ungenügend, oberflächlich, selbst unlogisch
und widerspruchsvoll, und ganz und gar nicht
geeignet als eine Welt- und Lebensauffassung za
gelten, bei der man sich auch nur an irgend
einem Puncte beruhigen könnte. Strauss hat in
seinem »Nachwortec selbst angedeutet, dass es
das Eigenthümliche seiner Schrift sei, die Resul-
tate der theologischen Kritik mit den Ergebnis-
sen der neueren Naturforschung in Verbindung
zu bringen und diese zusammen zu einer syste-
matischen Welt- und Lebensanschauung zu ver-
arbeiten, der Verf. zeigt, dass ihm dies ganz
und gar nicht gelungen ist, dass er lediglich
die disjecta membra einer neuen Weltanschauung,
aber in einer Weise zusammen gewürfelt hat,
die eben das vermissen lässt, worauf es gerade
ankam, nämlich den befriedigenden und wirklich
ein haltbares System darbietenden Zusammen-
%
Bauwenhoff, Nippold, Strauss alt. a. n. Glaube. 447
bang, so dass denn wohl die Worte des Goethe’-
schen Mephistopheles auf Strauss’ Buch anwend-
bar wären, die dieser von der Scheidekunst
überhaupt gebraucht: »er hat wohl die Theile
in seiner Hand, fehlt ihm leider nur das geistige
Bandt, und zwar fehlt dies in dem Grade, dass
eine wirklich unbefangene Kritik, wie hier der
Holländische Gelehrte sie geübt hat, das völlig
Zusammenhangslose deutlich an das Licht brin-
gen muss.
Möge die Herausgabe der BauwenhofFschen
Schrift, die bei dem Mangel an Verständnis des
Holländischen, wie er bei uns herrscht, um so
mehr nothwendig war, denn nicht eine vergeb-
liche Arbeit gewesen sein. Auch aus dem Grunde
ist das zu wünschen, weil der Verf., der zwar
»nur auf den Nachweis sich hat beschränken
wollen, dass die Folgerungen des Schriftstellers
(Strauss’) nicht stichhaltig seien«, doch überaU
auch zeigt, wie über die Unzulänlichkeiten seines
Gegners hinaus und zu einer wirklich begründe-
ten Weltauffassung auf Grund unserer neueren
wissenschaftlichen Erkenntnisse zu gelangen wäre,
wenn auch ohne dem Strauss’schen ein eigenes
in sich geschlossenes System entgegen zu setzen.
Gerade auch das in dieser Hinsicht von dem
Verf. Angedeutete scheint aus seiner Arbeit einen
Anspruch auf aUseitige Beachtung zu geben,' und
wenn Bef. auch bekennt, in allen Stücken nicht
mit dem Verf. einstimmig zu sein — namentlich
der Person Jesu legt Bef. doch eine andere
Bedeutung bei, als der Verf. zuzugeben scheint
— so muss er doch auch auf der anderen Seite
anerkennen, dass die von dem Verf. gewiesenen
Wege diejenigen zu sein scheinen, auf denen es
möglich ist, zu einer Welt- und Lebensanschauung
zu gelangen, die alle Ergebnisse neuerer For-
448 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 14.
schung, wie auf dem Gebiete der Bibel und der
Geschichte, so auch auf dem der Natur und der
Anthropologie, anerkennt und an dem richtigen
Orte verwerthet, ohne doch diesen Bruch mit
den Grundlagen des »alten Glaubens« vollziehen
zu müßsen, wie Strauss ihn als das allein Uebrig-
bleibende verkündigt hat.
Noch möchte besonders auf das über den
doch wirklich sehr auffallenden politischen Stand-
punkt des Tübinger Kritikers Gesagte aufmerk-
sam zu machen sein, denn hier zeigt sich die
völlige Unzulänglichkeit seiner Anschauungen
wohl nodh mit auf das Eclatanteste, und dann
auch auf das Schlusswort, wo der Verf. auf die
Gefahren hinweist, die aus der Strauss’schen
Richtung für die ganze Culturentwicklung unse-
res Volkes hervorgehen müssten , wenn sie um
sich greifen sollte. Es ist ganz gewiss wahr,
dass uns das Buch von Strauss vor Augen stellt,
wie wir auf der Hut sein müssen , damit wir
nicht, um nicht »auf der Scylla des Unglaubens
zu stranden, auf der Gharybdis der Reaction
Schiffbruch leiden«, aber eben so wahr ist es,
dass, wenn wir auch »nicht mit Strauss gehen
können«, doch »vorwärts gehen müssen« und
dass wir »da, wo wir jetzt mit unserm kirchli-
chen Leben stehen, auf die Dauer nicht stehen
bleiben können«. Möge denn auch das wohl er-
wogen werden, namentlich auch von den »Män-
nern des Fortschrittes in Gesellschaft, Wissen-
schaft und Kunst, die ihren Geistesverwandten
in der Kirche wohl wohlwollende Höflichkeit er-
weisen, aber für das, was diese zur Reformation
des kirchlichen Lebens erstreben, nur Apathie
zeigen«. F. Brandes.
449
Gfttti ii gische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück .15 15. April 1874.
Die Sprachwissenschaft. W. D. Whitney’s
Vorlesungen über die Principien der vergleichen-
den Sprachforschung für das deutsche Publikum
bearbeitet und erweitert von Dr. Julius Jolly,
Docenten an der Universität zu Würzburg.
Mfinchen 1874.
Indem ich dieses soeben von mir der Oeffent-
lichkeit übergebene Werk hier selbst zur Be-
sprechung bringe, leitet mich der Gedanke, dass
um von diesem Gewohnheitsrechte der Mit-
arbeiter dieser Blätter Gebrauch zu machen
gerade der vorliegende Fall besonders geeignet
erscheint, wo es sich nicht um die Einführung
eines eigenen, sondern, zum grösseren Theil we-
nigstens, nur eines bearbeiteten fremden Pro-
duktes handelt. Zugleich ist dieser Anlass ge-
eignet, um das Verhältniss der Zusätze, die ich
hinzugefügt habe, zu dem amerikanischen Ori-
ginalwerk darzulegen.
Whitney’s »Vorlesungen« sind weder das ein-
zige, noch auch das erste Werk, in welchem der
Versuch gemacht ist, die Hauptergebnisse der
29
450 Gott. gel. Anz. 1874. Stöck 15«
im neunzehnten Jahrhundert emporgediehenen
Sprachwissenschaft auch dem grösseren gebilde-
ten Publicum zugänglich zu machen, sondern be-
kanntlich liegen schon seit einer Reihe von Jah-
ren mehrere Werke gleicher Tendenz vor, unter
denen Schleicher's »Deutsche Sprache« (in erster
Auflage Stuttgart 1860, in dritter 1873) und
Max Müller’s »Vorlesungen über Sprachwissen-
schaft« (in deutscher (Jebertragung zuerst 1864)
die bekanntesten sind. Jedes dieser, beiden
Werke hat in seiner Art eine bedeutende Wir-
kung geübt und eine grosse Verbreitung freilich
in sehr verschiedenen Kreisen gefunden, wie dies
erklärlich genug wird, wenn man die Auffassung
und Schreibweise beider Verfasser vergleicht.
Einen grösseren Gegensatz als den zwischen der
klaren aber trockenen Manier Schleicher's und
dem eleganten, bilderreichen Stile der eine Menge
interessanter Fragen hereinziehenden, aber frei-
lich kaum eine erschöpfenden Art Max Müller's
kann es nicht leicht geben. In der That stel-
len die beiden genannten Werke zwei Extreme
dar. Das bat Schleicher's Biograph, der sonst
sein Bild mit aller liebevollen Sorgfalt einer
Lebensbeschreibung gezeichnet hat , in dem
von der »Deutschen Sprache« bandelnden Ab-
schnitt seiner Skizze *) treffend ausgeführt: zwi-
schen der Absicht des Verfassers, ein deutsches
Volksbuch zu liefern, zur Aufklärung der Ge-
bildeten insgesammt beizutragen, ein Zweck, der
ihm »unvergleichlich hoch über dem wissen-
schaftlicher Belehrung« steht, und der Art, wie
diese Absicht zu verwirklichen gesucht wird, be-
steht ein seltsamer Contrast. Schleicher hat
ein nicht genug zu schätzendes Hand- und Hülfe-
*) August Schleicher, Skizze von S. LefmannS.46ff.
451
Jolly, Die Sprachwissenschaft.
buchlein für den deutschen Studenten, fur den
Anfänger in neu- und mittelhochdeutscher Gram-
matik geliefert, der daneben die nach dem jetzi-
gen Stand der Wissenschaft freilich etwas an-
tiquirte, aber durch die echt Schleicher’sche
dogmatische Bestimmtheit ihrer Fassung des
Eindrucks nicht verfehlende Uebersicht über die
Sprachstämme und die bedenklicheren, wenn
schon mit derselben Zuversichtlichkeit vorge-
tragenen Ansichten Schleicher’s über »das Le-
ben der Sprache« ungeprüft mit in den Kauf
nimmt Aber welcher Fehlgriff, dem Gebildeten
soviel trockene Grammatik und Metrik zuzu-
muthen, diese »Jugendlustverderber«, wie sie
noch dazu Niemand anders als Schleicher selbst
in der Einleitung zu seinem Werk bezeichnet
hat. — Was diesem den deutschen Stubenge-
lehrten nirgends verleugnenden Buche abging,
besitzt das Müller’sche Werk in einem nur wie-
der für deutsche Verhältnisse und Bedürfnisse
viel zu weitgehenden Grade. Es ist nirgends
langweilig oder pedantisch, aber auch nirgends
lehrhaft Es enthält eine Menge passend ange-
brachter und geistvoll durcbgeführter Belege
aus der Geschichte der verschiedensten Spra-
chen, aber diese gehäuften Beispiele nehmen
einen viel zu breiten Baum im Ganzen des
Werks ein, sie zerstreuen den Leser und füh-
ren ihn von der Sache ab, anstatt in dieselbe
hinein. Dazu kommt, dass manche Ausführun-
gen wie die eingehende Untersuchung über das
Todesjahr des Bischofs Ulfilas und die an-
ziehende, aber wenig Neues bietende Schilde-
rung der Verpflanzung der griechischen Cultur
nach Rom (im ersten Bande der Vorles.) nur im
allerlosesten Zusammenhang mit dem eigent-
lichen Inhalt und Gedankengang seines Werks
29*
452 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 14.
stehen — wenn von letzterem überhaupt die
Rede sein kann, denn eine unverzeihliche Plan-
losigkeit charakterisirt so die erste wie die
zweite Serie der »Vorlesungen« von Anfang bis
zu Ende. Doch nicht hier ist der Ort, auf die
bedeutenden Schwächen einzugehen, die an dem
viel genannten und in England noch jetzt als
ein »standard work« geltenden Buche nicht
minder auffällig hervortreten, als seine glänzen-
den Vorzüge; ich kann in dieser Beziehung auf
die sachgemässe Würdigung Whitney’s in seinem
neuesten Werke, den Studies, verweisen (vgl.
meine Kritik derselben in den »G. G. A. 1874«,
besonders S. 63 ff.). Mag Max Müller den Ton
vortrefflich errathen haben, durch den englische
Schriftsteller auf ein mehr nach Unterhaltung
als nach Belehrung verlangendes Publicum zu
wirken pflegen, mag es ihm gelungen sein, Inter-
esse für die Aufgaben der Sprachwissenschaft
in der ganzen englisch redenden Welt zu er-
wecken, und er so für die Propaganda dieser
Disciplin mehr gewirkt haben, als irgend ein
Anderer vor oder nach ihm, in Deutschland
hat sein Werk neben manchem Guten vielleicht
ebenso viel Schaden gestiftet durch die Verbrei-
tung einer oberflächlichen Auffassung, durch die
Hinderung besserer Einsicht. Kurz in einem
Lande, wo die Elemente der Sprachwissenschaft
denn doch schon so allgemein gelehrt werden,
wie bei uns, konnte die Aufgabe einer populä-
ren, aber systematischen Darstellung dieser
Wissenschaft durch Müller’s anmuthiges, aber
allzu feuilletonistisch gehaltenes sogar noch we-
niger als durch Schleicher’s gut gemeintes und
gründliches, aber im Schulstaub versiegtes Werk
Für gelöst gelten.
Da erschien im Jahre 1867 das von mir
Jolly, Die Sprachwissenschaft. 453
(nach der dritten, bereits 1870 gefolgten Auf-
lage) bearbeitete Werk von Whitney, und in
ihm die glückliche Lösnng der soeben bezeich-
neten Aufgabe. Whitney ist es wirklich gelun-
gen, fast möchte man sagen die ideale Mitte
zwischen einer allzu gelehrten und einer allzu
i spielenden Darstellung seines reichen Stoffs zu
treffen und einen mit aller logischen Strenge
durcbgeführten Grundplan mit einer gefälligen
und farbenreichen Darstellung zu verbinden.
Hier könnte nun eine eingehende Begründung
dieser Behauptung um so eher von mir erwartet
werden, als man von vorneherein wenig geneigt
sein dürfte, einem amerikanischen Gelehrten die
Palme zuzugestehen, um die zwei namhafte
deutsche Linguisten vergebens gerungen haben.
Diesen Nachweis muss ich nun freilich hier aus
Rücksicht auf den Baum schuldig bleiben, was
kann es aber für schlagendere Belege für die
| Vorzüglichkeit dieses populären Werks geben,
als den Erfolg, den es nicht nur bei dem grossen
Publicum in der Heimat des Verfassers, auf
das es zunächst berechnet war, sondern auch
unter den europäischen und namentlich unter
den deutschen Fachgenossen erzielt hat? Und
gerade jene Eigenschaften, die man an Max
Müller bei aller Anerkennung seiner schönen
Darstellungsgabe schmerzlich vermisste, Klar-
heit und Geschlossenheit der Grundgedanken
und consequente Durchführung derselben durch
alle Theile der Sprachwissenschaft, hat die deut-
sche Kritik an dem amerikanischen Autor am
lautesten gerühmt. Darf man also irgend nach
dem Erfolg urtheilen, so findet bei diesem
Werke einmal das viel missbrauchte Wort seine
rechte Stelle, dass es einem allgemein empfun-
denen Bedürfnis die richtige Abhilfe schaffe:
y
454 Gott. geL Anz. 1874. Stack 15.
wie gat es seine Aufgabe nach der Seite der
Gemeinfasslichkeit hin erfüllt, hat seine so
rasche Verbreitung in dem Lande seiner Ent-
stehung bewiesen, wie gut darin andrerseits die
wissenschaftliche Haltung gewahrt ist, darüber
herrscht unter den deutschen Sprachforschern
nur eine Stimme.
Aus dem eben Gesagten — eingehender
habe ich mich in der Vorrede ausgesprochen
— ergibt sich zugleich das Motiv, das mich |
veranlasste, das Whitney’sche Werk durch eine !
Bearbeitung auch in Deutschland weiteren Krei- j
sen zugänglich zu machen, aber noch nicht die
Rechtfertigung für das Verfahren, das ich dabei
eingeschlagen, für die Umänderungen und Er-
weiterungen, theilweise auch Kürzungen, die ich
an dem Original vorgenommen habe. Hierüber
mögen daher nun die oben angekündigten Be-
merkungen Platz finden ; denn wegen der sonst
in einem Referat üblichen Inhaltsangabe kann
ich auf die eingehende und klare Analyse des
Whitney’schen Werks verweisen, die Clemm in
Kuhn’s Zeitschr. f. vgl. Sprachf. 18, 112 ff. ge-
geben hat. Nur die von Clemm nicht erwähn-
ten beiden einfachen Grundgedanken Whitney’s
seien zuvor noch angeführt; sie sind für das
Verständniss seines Werkes und die Vergleichung
seiner Auffassung mit anderen von der grössten
Bedeutung, da er sie mit echt englischer, fast
an Darwin erinnernder Folgerichtigkeit und
auch wie dieser ohne Scheu vor Wiederholun- ,
gen durch alle von ihm behandelten Probleme \
der Sprachgeschichte und Sprachphilosophie
durchgeführt hat und eben hiedurch, während
es an Anmuth der Darstellung Max Müller in
etwas nachsteht, sein Werk so viel instructiver
ist als Müller’s Vorlesungen. Sie lauten in des
455
Jolly, Die Sprachwissenschaft.
Verfassers eigenen Worten (Preface zu seinen
Oriental and Linguistic Studies p. VI): »einer-
seits ist das Sprachvermögen eine Eigenschaft
des Menschenwesens, jedoch nicht seine einzige
charakteristische, auch keine einfache Eigen-
schaft, sondern die Summe und der Gesammt-
effect von Eigenschaften, die auch sonst und
zwar in kaum minder auffälliger Weise zu Tage
treten; andrerseits ist jede Sprache das con-
crete Ergebniss aus einer Aeusserung dieses
Triebs, eine allmälich im Verlauf der Geschichte
sich entwickelnde Einrichtung, ein integrirender
Bestandteil in dem Culturleben des Volkes,
j das sie spricht, und wie alle Cultur pflanzt sie
sich durch Ueberlieferung fort, indem sie vom
, Lehrer auf den Schüler und yon einem Ge-
schlecht auf das andere übergeht«. So einfach
diese beiden Axiome scheinen, so fruchtbar sind
sie, und mit eiserner Gonsequenz von dem Ver-
fasserfestgehalten, von seinen Erörterungen über
die Eingangs aufgeworfene Frage: »Warum
sprechen wir so wie wir sprechen« bis zu der
billig an den Schluss gestellten Besprechung des
Hauptproblems dfer Sprachphilosophie, dem Ur-
t sprung der Sprache, bilden sie den festen Rah-
men, der die bequem sich ergehenden allgemei-
nen Deductionen und die treffenden, stets aus
der englischen Sprachgeschichte gegriffenen Er-
läuterungen und Beispiele zusammen hält.
Mit der Erwähnung der letzteren stehe ich
bereits bei dem ersten der Punkte, in Betreff
deren eine Abänderung des Originals unabweis-
bar geboten schien. Bei Abfassung seines Werks
hatte Whitney begreiflich zunächst nur seine
Landsleute im Auge; von Anfang an machte er
es sich daher, wie er mir schrieb, zum Grund-
satz, seine Beispiele nur dem Wortschatz und
456 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15.
der Grammatik seiner Muttersprache zu entneh-
men, damit nicht durch Unbekanntschaft mit
den Thatsachen das Verständniss seiner De-
ductionen erschwert würde. Er theilte mir dies
mit, nachdem ich ihn von meiner Absicht ver-
ständigt hatte, in der erwähnten Beziehung mich
an das Original nicht zu binden, sondern wie
er von der englischen, ebenso durchgehende von
der deutschen Sprachgeschichte auszugehen.
Und wie er, um dies gleich hier zu erwähnen,
mich bei Abfassung meiner Bearbeitung über-
haupt in der zuvorkommendsten Weise unter-
stützt, mir zu Anfang seine Autorisation ertheilt
und auch die seines Verlegers verschafft, nach-
her mir eine ganze Reihe zum Theil umfassen-
der Berichtigungen und Zusätze, namentlich eine
völlige Umarbeitung des letzten Drittels der 11.
(im Original der 10.) Vorlesung zugesandt hat,
so ertheilte er auch meinem obigen Vorschlag
seine ausdrückliche Sanction, da es für ihn nur
wün8chenswerth sein könne, einen Grundsatz,
den er sich selbst zur Richtschnur gemacht
habe, auch in dem deutschen Werke befolgt zn
sehen. Allerdings werde die Durchführung des-
selben keine geringe Mühe erfordern und viele
Aenderungen nothwendig machen ; dadurch werde
aber an dein zu hoffenden Erfolg des Werks,
aus dem ich ganz Recht thue eine Bearbeitung
statt eine blosse Uebersetzung zu machen, mir
ein viel grösserer Antheil gebühren, als sonst
bei Uebertragungen eines fremden Werks gewöhn-
lich der Fall sei. Ich kann wirklich versichern,
dass mir die Aufgabe, die glücklich gewählten
Illustrationen Whitney’s aus dem Englischen
möglichst durch ebenso zutreffende Thatsachen
der deutschen Sprache und Sprachgeschichte zn
ersetzen, in vielen Fällen nicht eben leicht ge-
Jolly, Die Sprachwissenschaft. 45/
worden ist, am wenigsten in der Lehre vom
Bedeuttmgswechsel, der, wie er überhaupt viel
ungebundener waltet als der Lautwechsel, selbst
in so nahe verwandten Sprachen wie Deutsch
und Englisch oft die allerverschiedensten Rich-
tungen einschlägt. Und durften schon hier auch
weitgehende Abweichungen von dem Original
nicht gescheut werden — so habe ich als Be-
leg für das Fortdauern auf einem Volksaber-
glauben beruhender Ausdrücke, auch nachdem
dieser Aberglaube längst verschwunden ist, für
Whitney’s lunacy »Mondsucht« den in Süd-
deutschland verbreiteten Ausdruck »Ratten-
könig« eingesetzt und dessen Ursprung erläu-
tert — so war eine einfache Wiedergabe des-
selben noch weniger da möglich, wo er allge-
meine Züge aus der Geschichte der englischen
Sprache anführt, die in dem Wesen derselben
als Mischsprache ihren Grund haben. In sol-
chen Fällen, zu denen auch der Abschnitt über
die ganz eigenartig entwickelte englische Ortho-
graphie gehört, schien es dem Zwecke der Be-
arbeitung besser zu entsprechen, das Original
völlig umzuarbeiten als auf die etwaige 'Ver-
trautheit der Leser mit dem Englischen zu
rechnen.
Aber auch noch in einer zweiten Richtung
stellte sich mir bald die Nothwendigkeit heraus,
eine Reihe noch eingreifenderer Veränderungen
und besonders Zusätze anzubringen. Zuerst
1867 erschienen ist das Whitney’sche Werk auch
in den folgenden Auflagen fast unverändert wie-
der abgedruckt worden; nur im Ausdruck hat
nach brieflicher Mittheilung der Verfasser hie
und da nachgebessert, die Möglichkeit weiter
gehender Berichtigungen war ihm dadurch ab-
geschnitten, dass das Buch nach amerikanischer
458 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15.
Sitte stereotypirt worden war. Nun hat sich
aber bei dem erfreulichen Aufschwung, den der
Betrieb der Sprachwissenschaft allerorten in den
letzten Jahren genommen hat, der Stand der
Forschung in einer Reihe wichtiger Fragen —
ich erinnere beispielsweise an die nach der Ent-
stehung des indogermanischen Formenbaus, über
die Whitney Curtius’ »Chronologie« noch nicht
zu Rathe ziehen konnte — völlig geändert,
diese Fortschritte durften aber am wenigsten in
einem in Deutschland, dem Mutterlande der
Sprachwissenschaft, erscheinenden Werke unbe-
rücksichtigt bleiben. Bei den Berichtigungen
und Zusätzen, welche sich hieraus als nöthig
ergaben, hat mich zwar der Verfasser selbst
durch die schon erwähnten Beiträge in sehr
wirksamer Weise unterstützt; so rühren, um
nur die umfangreicheren Aenderungen namhaft
zu machen, die Ersetzung des englischen phy-
siologischen Lautsystems durch eine ent-
sprechende Uebersicht über die deutschen Laute,
dann die sehr eingreifenden Umänderungen, welche
in der 8. (7.) Vorlesung die Entstehungsgeschichte
der indogerman. Formen, in der 9. und 10. (8.
und 9.) besonders die Abschnitte über die süd-
und mittelafrikanischen, polynesischen und ame-
rikanischen Sprachen gegenüber dem Original
aufweisen, von ihm her. Aber auch auf meh-
reren anderen Gebieten, so namentlich in den
drei zusammengehörigen Fragen nach der Ur-
heimat, den Verwandtschaftsgraden und dem
Gulturstande der Indogermanen, in den Unter-
suchungen über die Wurzelverwandtschaft zwi-
schen Semitisch, Aegyptisch und Indogermanisch,
sowie in den Forschungen über die Geschichte
der iranischen und griechischen Sprachfamilie
und des Altnordischen schienen mir die neuen
Jolly, Die Sprachwissenschaft. 459
Ergebnisse, welche die gerade hier neuerdings
zu so regem Leben erwachte Forscherthätigkeit
geliefert hat, zu wichtig, um nicht auch in
einem Buche von gemeinfasslicher Haltung Platz
zu finden. So habe ich in diesen und einigen
anderen minder wichtigen Fragen den jetzigen
Stand der Forschung in einer Reihe von An-
merkungen zu skizziren gesucht, an einigen
Stellen, so namentlich in den bez. Abschnitten
der 7. Vorlesung (über Geschichte der indo-
german. Sprachen) auch den Text selbst abge-
ändert. Gegen die Einwendungen, die gegen
letzteres Verfahren gemacht werden könnten,
bemerke ich, dass eine Verweisung meiner hier
besonders umfassenden Zusätze in Anmerkungen
die Lesbarkeit des Buches allzusehr beeinträch-
tigt haben würde; auch musste die sonst für
Bearbeitungen geltende Regel, die Zusätze des
Bearbeiters auch äusserlich irgendwie von dem
Urtexte zu scheiden, schon in den früheren
Vorlesungen überall durchbrochen werden, da
es natürlich nicht thunlich war, jedes von
mir statt eines englischen Beispiels des Ver-
fassers beigebrachte deutsche Beispiel ausdrück*
lieh als von mir herrührend zu kennzeichnen.
Dagegen habe ich alle irgendwie wichtigen An-
merkungen, die ich selbst beigefügt habe, mit
einem J. versehen.
Viel mehr als die beiden bis jetzt bespro-
chenen Classen von Veränderungen fällt nach
Umfang und Inhalt ein dritter Zusatz ins Ge-
wicht, den ich in Form zweier eigener Vorle-
sungen, der 14. und 15., am Schluss des gan-
zen Werks beigegeben habe. Da ich mich hier-
über, besonders was die von mir benutzten
Quellen angeht, in der Vorrede ausführlich habe
vernehmen lassen, so sei hier nur das Motiv
460 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15.
erwähnt , das mich bestimmte, das Whitney’sche
Werk mit diesem ihm ganz fremden Ingrediens
zu versetzen. Schon individuelle Neigungen
haben mich wiederholt auf das Gebiet der Ge-
schichte der Sprachwissenschaft geführt und es
mir hei allen, vornemlich die vergleichende Syn-
tax betreffenden linguistischen Einzelunter-
suchungen, die ich bisher angestellt habe, zur
Gewohnheit gemacht, von möglichst umfassen-
den historischen Studien über die bisher vor-
liegenden Auffassungen des untersuchten Pro-
blems auszugehen. Dieses Interesse für die ge-
schichtliche Entwicklung wissenschaftlicher Leh-
ren bildet aber, irre ich nicht, einen Grundzug
in dem gegenwärtigen Betrieb, vielleicht der
Wissenschaften überhaupt, jedesfalls aber der
Sprachwissenschaftin Deutschland ; Zeuge dafürdie
zahlreichen und zum Theil musterhaften auf die
Geschichte derselben bezüglichen Specialschriften,
die im Laufe der letzten Jahre hervorgetreten
sind. Ein so tiefes und weit verbreitetes Inter-
esse für die Geschichte der von ihm behandel-
ten Wissenschaft durfte natürlich ein amerika-
nischer Darsteller derselben bei seinen Lands-
leuten nicht voraussetzen, die erst seit kurzem
angefangen haben, sich überhaupt damit zu be-
schäftigen; aber in einem deutschen Werke
musste, wie mir schien, dem unverkennbaren
Bedürfniss des deutschen Publikums Rechnung
getragen werden. Uebrigens habe ich mich auch
in dieser Beziehung von Whitney voller Zu-
stimmung zu erfreuen gehabt.
Nachdem das Original so bedeutende Er-
weiterungen erfahren batte, stellte sich die, be-
sonders von dem Verleger betonte, Nöthigung
ein, eine Reihe von Kürzungen anzubringen, um
j
Pritzel, Thesauras Iiteratur&e botanicae. 461
das für weitere Kreise bestimmte Buch nicht
unhandlich werden zu lassen. Bei Vornahme
derselben richtete ich mein Augenmerk auf die-
jenigen Stellen, wo sich Whitney in bequemer, ja
zuweilen ermüdender Breite gehen lässt; eine
grössere zusammenhängende Partie seines Werks
ist nur in der siebenten Vorlesung, nemlich der
Abschnitt über die Principien der Sprachverglei-
chung, ausserdem der alphabetische Index und
die sehr ausfürliche »Analysis« am Schluss weg-
geblieben. Trotz der zusammengenommen sehr
beträchtlichen Kürzungen füllt aber die aller-
dings splendider gedruckte deutsche Bearbeitung
nahezu zweihundert Seiten mehr als das Original.
Würzburg. Julius Jolly.
1. Thesaurus literaturae botanicae
omnium gentium inde a rerum botanicarum ini-
tiis ad nostra usque tempora, quindecim millia
operum recensens. Editionem novam reforma-
tam curavit G. A. Pritzel. Fase. I — IV. plag.
1—40. Lipsiae, F. A. Brockhaus, 1872. in 4.
2. Nomenclator botanicus. Nominum ad
finem anni 1858 publici juris factorum, classes,
ordines, tribus , familias , divisiones, genera,
subgenera vel sectiones designantium, enumeratio
alpbabetica. Adjectis Auctoribus, Temporibus,
Locis systematicis apud Varios, Notis literariis
atque etymologicis et Synonymis. Conscripsit
Ludovicus Pfeiffer. Vol. I. Fase. 1 — 20.
Vol. II. Fase. 1 — 20. Cassellis , Sumptibus
Th. Fischeri, 1872—1873. Gr. 8.
Indem wir vorstehende zwei Werke der bo-
i
i.
462 Gott» gel. Anz. 1874. StSck 15«
tanischen Literatur zusamm erstellen , beschleicht
uns ein Gefühl patriotischer Genugtuung.
Denn es gibt auch einen Fleiss, welchen man
einen classischen nennen kann, und ein solcher
erfordert, wenn er mit der notwendigen Ge«
wissenhaftigkeit verbunden ist, in Wissenschaft*
liehen Dingen Geisteseigenschaften, die, wie es
scheint, nicht jedem Volke zu Gebote stehen.
Thatsache wenigstens ist es , dass ähnliche
Werke, wie die beiden obigen, fast immer nur
von deutschen Gelehrten unternommen und zu
Ende geführt wurden. Sie setzen eben einen
wahren Bienenfleiss voraus, dem sich unter allen
Umständen der Esprit unterordnen muss, wel-
cher hier keinerlei Gelegenheit hat sein Licht
leuchten zu lassen. Sammelwerke zwar nennt
man dergleichen literarische Erscheinungen ;
allein, wenn auch darin sofort das mechanische
Element seinen Ausdruck erhält, so würden wir
doch sehr irren, wenn wir glaubten, dass solche
Bücher nur schablonenartig zu Stande gebracht
würden. Es wäre sehr leicht nachzu weisen, dass
auch hier die Kritik eine grosse Bolle zu spie-
len hat, dass dergleichen Bücher durchaus einen
wissenschaftlich angelegten und entwickelten
Menschen voraussetzen. Jedesfalls muss das
Erscheinen zweier Sammelwerke von so grossem
Umfange, wie ihn beide besitzen, zu derselben
Zeit eine Art von Ereigniss für den deutschen
Geistesmarkt sein.
Von beiden Werken ist No. 1 das ältere,
gewisserma8sen die Fortsetzung dessen, was
Albrecht von Haller nun gerade vor 102
Jahren in seiner Bibliotheca botanica hinter-
lassen hatte. Es erschien zuerst im Jahre 1847,
in welchem die ersten drei Hefte vollendet wur-
den, und Bef. erinnert sich noch sehr gut der
| Pritzel , Thesaurus literaturae botanicae. 46S
i
f
| Zeit, wo der Verf. mit seinem grossen Fächer*
kästen durch die Welt, nach Genf, Paris u.s.w.
zog, um in verstäubten Bibliotheken nach den
Titeln und Ausgaben botanischer Werke zu
spähen, sie alphabetisch zu sichten, und mit
kritischen Bemerkungen zu begleiten. Seine bi-
bliographischen Forschungen ernteten dafür aber
auch den Beifall der Urtheilsfähigen, und wenn
mau die kurze Anzeige darüber liest, welche
der competente8te Aller, der leider zu früh ver-
storbene, ausgezeichnete botanische Geschichts-
schreiber Ernst Meyer in Königsberg, in der
botanischen Zeitung vom 13. April 1849 darüber
schrieb , so bedurfte es kaum noch eines andern
Lobes, um dem Pritzel’schen Thesaurus seinen
Platz neben den hervorragendsten Erscheinun-
gen der bibliographischen Literatur anzuweisen.
Er auch war es, der dem Verf. später eine
seinen Fähigkeiten zusagende und passende Stel-
lung an der £. Bibliothek zu Berlin ver-
schaffte. In keiner andern Stellung hätte der
Verf. so viel. Gelegenheit gehabt, Altes zu cor-
rigiren, Vergessenes und Uebersehenes nachzu-
tragen, sowie das Neuerschienene bis auf die
neueste Zeit hinzuzufügen. Trotzdem beschränkte
sich der Verf. nicht allein auf die Berliner
Bibliotheken, sondern ging auch nach England,
wo er besonders die reichhaltige Büchersamm-
lung des K. Bot. Museums in Kew durchstöberte,
nochmals nach Paris, um namentlich die Biblio-
thek der Societe botanique de France zu be-
nutzen, nach Padua, wo die Bibliothek des bo-
tanischen Gartens als ein wahrer Schatz für
die ältere Literatur dasteht, nach Venedig, um
auch die Bibliothek von San Marco zu verwer-
then, nach München, wo sich damals noch die
später verauktionirte reichhaltige Bibliothek des
464 Gott. gel. Anz, 1874. Stück 15.
verstorbenen Professors Philipp von Mar-
tius befand, u. s. w.
Schon wegen dieser grossen neuen Ernte
hätte sich eine neue Auflage des Werkes noth-
wendig gemacht, wenn man nicht geradezu be-
haupten könnte, dass eine solche schon nach
jedem neuen Vierteljahrhundert wünschenswerth
sei. In unserem Jahrhunderte wenigstens hat
die Wissenschaft während eines solchen Zeitraums
stets eine ganz neue Gestalt gewonnen, und da
dieselbe nicht ohne einen gänzlichen Wechsel der
Literatur denkbar ist, so liegt der Beweis für
unsere Behauptung auf der Hand. Bef. z. B.
sah sich genöthigt, bevor der Verf. seine zweite
Auflage anzeigte, sorgfältig die Cataloge aller
verkäuflichen botanischen Bibliotheken, sowohl
der Privaten als auch der Antiquare, ja, selbst
den »Vierteljahrs-Catalog aller neuen Erschei-
nungen im Felde der Literatur in Deutschland«
(Leipzig, Verlag der J. C. Hinrichs’schen Buch-
handlung) zu sammeln, um sich in den betref-
fenden Fällen diejenige Aufklärung zu verschaf-
fen, welche uns nun der Pritzel’sche Thesaurus
in nuce auf das bequemste mittheilt. Ueber-
dies versah der Verf. der neuen Auflage sein
Werk diesmal mit zahlreichen biographischen
Notizen über die einzelnen Schriftsteller, so
dass nun aus dem alten Werke ein vollständig
neues wurde. Dass uns davon noch immer
zwei Hefte seit 1872 fehlen, liegt daran, dass
der Verf., wie wir hören, leider seitdem erkrankt
ist. Hoffentlich führt aber Herr Dr. Pritzel
sein Werk noch selbst zu Ende.
Sollen wir nun ein Urtheil über die vor-
liegende zweite Auflage fällen, so hätten wir
im Guten wie im Bösen nur zu wiederholen,
was Ernst Meyer über die erste Auflage
4
r
Pritzel, Thesaurus literaturae botanicae. 465
schrieb. Was dieser an dem angegebenen Orte
tadelte, scheint durchweg beherzigt zu sein, so
dass diesmal das Werk nicht mehr mit Aa (Pe-
trus van der), sondern mit Abat beginnt und
Aa wahrscheinlich unter Vanderaa erscheinen
wird. Das Gute brauchen wir nicht mehr zu
loben; denn darüber ist längst gerichtet. Das
Böse aber, was wir zu erwähnen haben würden,
liefe im Allgemeinen darauf hinaus, dass trotz
des ausserordentlichen Sammelfleisses und der
Umsicht des Verf. doch noch manches, selbst
manches neuere Buch übersehen wurde. Selbst-
verständlich wird das bei jeder derartigen
Bibliographie sich als ein allen Schriftstellern
| anhängender Mangel wiederholen; doch fand
Bef. einzelne Lücken, die ihm um so weniger
begreiflich sein konnten, als sich der Verf. mit
den betreffenden Autoren hinlänglich beschäf-
tigt, ja, selbst biographische Notizen über sie
beigebracht hatte. So z. B. vermissen wir bei
G. W. Focke gerade dessen Hauptschrift »Phy-
siologische Studien« Bremen bei G. Schünemann
1847, gr. 4. 64 S., bei Earl Müller von Halle
dessen bryologisches Hauptwerk »Synopsis Musco-
rum frondosorum« Berolini, sumptibus Alb.
Eoerstner, 1847—1851, 2 Bde, 8. 1. Bd. 812,
2. Bd. 772 S., während der Verf. doch dessen
populäres bryologisches Werk »Deutschlands
Moose« u. s. w. ganz richtig zur Anzeige brachte.
Manche Schriftsteller kommen aber noch viel
unglücklicher weg; so z. B. Professor S. 0.
, Lindberg (5322) in Helsingfors, von welchem
der Verf. nur eine einzige kleine Schrift bio-
logischen Inhalts kennt, während derselbe, wenn
Verf. auch dessen übrige Extraabdrücke aus
verschiedenen Zeit- und Gesellschaftsschriften
aufnehmen wollte, wie er nach seinem eigenen
30
i
466 Gott. gel. Anz. 1874. Stock 15.
Vorgänge musste, nicht weniger als 31 Abhand-
lungen, darunter eine von 15 Bogen Umfang,
schrieb. Aehnliches passirt dem Verf. auch bei
A. Jäger (4376 — 78), für welchen bis heute
noch drei Abhandlungen nachzutragen sein wür-
den, ebenso bei Molen do (6359), dessen
»Laubmoose Oberfrankens« im Jahre 1863 in
Commission bei W. Engelmann in Leipzig er-
schienen u. 8. w. Ref. könnte dem Verf. in
dieser Weise schon auf dem bryologischen Ge-
biete eine recht stattliche Nachlese veranstalten;
doch macht er diese Bemerkung nicht aus Ani-
mosität gegen den Verf., sondern um an diesem
Beispiele zu zeigen, dass der Bibliograph nach-
gerade da angekommen ist, wo er die Hilfe der
Monographen in Anspruch zu nehmen hat, wenn
er die menschenmöglichste Vollständigkeit er-
reichen will. Nur der Monograph allein ist im
Stande, weil er sich im Einzelnen concentriert,
weil er, um mit Schiller zu reden, im klein-
sten Punkte die höchste Kraft sammelt, — die
ganze Literatur seiner betreffenden Disciplin zu
übersehen; um so mehr, als er fortwährend mit
den Bedeutendsten seines Faches gerade die-
jenigen Schriften auszutauschen pflegt, welche
im Buchhandel nur schwer oder gar nicht zu
erlangen sind.
Ref. knüpft an diesen Punkt überhaupt eine
allgemeinere Betrachtung über bibliographische
Werke der vorliegenden Art. Unter allen Um-
ständen erweist sich für den Literaten auch
ein bibliographisches Lexikon mit alphabetischer
Anordnung, wie das P r i t z e 1 * sehe, segensreich,
und wir glauben gern, dass diese Anordnung
für einen Anfang genüge, den Pritzel selbst
unternahm, ohne sich viel auf seine Vorgänger
stützen zu können. Dennoch glauben wir auf
Pritzel, Thesaurus literaturae botanicae. 467
der andern Seite, dass diese alphabetische Be-
handlung der Wissenschaft nicht ganz würdig
ist. Das letzte Ziel einer Bibliographie soll
nicht ein Nachschlagewerk, sondern eine Ent-
wicklung der betreffenden Wissenschaft von den
ältesten Zeiten bis auf die neuesten Tage sein.
Eine solche kann nur erreicht werden, wenn
die angezeigten Schriften, nach den einzelnen
Disciplinen geordnet, die Schriftsteller auffuhren,
wie sie nach einander erschienen oder mit
einander als Zeitgenossen die betreffenden Dis-
ciplinen fortentwickelten. Wir kennen nur we-
nige Versuche, wo dieser Weg eingeschlagen
wurde; z. B. als es sich im Jahre 1851 darum
handelte, ein Verzeichniss der von dem botani-
schen Professor Link in Berlin Unterlassenen
grossen Bibliothek zum Behufe der Verauctioni-
rung aufzunehmen. Hier waren die Schriften
nach 21 Rubriken geordnet. Zum Theil noch
vorzüglicher war 1852 der Catalog der Biblio-
thek von Laurentius Oken geordnet, näm-
lich in 17 Rubriken, welche theilweis in Unter-
abtheilungen zerfielen. In ähnlicher Weise ge-
ordnet, erschien auch mehrere Jahre hindurch
(1851 — 1859) die Bibliotheca Historico — Na-
turalis physico — chemica et mathematica von
dem leider zu früh verstorbenen Leipziger Buch-
händler Ernst A. Zuchold bei Vandenhoeck
und Ruprecht in Göttingen.
Alle diese und ähnliche Versuche schlugen
ohne Zweifel einen Weg ein, der, da sich die
Wissenschaften sämmtlich immer monograpM-
scher theilen , dem einzelnen Forscher der
praktischere und geistvollere sein muss. Wir
wissen sehr wohl, was wir damit fordern. Der
Bibliograph ist aber auch kein Mechaniker, son-
dern ein Kritiker, und sein Gebiet ist nachge-
30*
468 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15«
rade so ausgedehnt geworden, dass seine Dis-
ciplin mehr als ein Menschenleben auszufällen
vermag. Wer aber den angegebenen Weg ein-
schlüge, dürfte sicher sein, wahrhaft Classisches
unternommen und durchgeführt zu haben. Wir
jedoch wollen vorläufig nur gratuliren, dass wir
mindestens einen Pr itzeT sehen Thesaurus
besitzen, der für seinen Nachfolger die vorzüg-
lichste Grundlage einer botanischen Cultur-
geschichte der oben beregten Art werden muss.
Wenn das Pritzel’sche Werk es nur mit
den botanischen Schriftstellern zu thun hatte,
so hat es das Pfeiffer 'sehe, unter No. 2 auf-
geführte, nur mit den botanischen Klassen, Ord-
nungen, Gruppen, Familien, Abtheilungen, Gat-
tungen, Untergattungen und Sectionen zu thun.
Auch hier scheint die Arbeit nur das Produkt
des Fleisses zu sein; doch ein einziger tieferer
Blick belehrt uns, dass das Mechanische des
Sammelns nicht ohne wissenschaftliche Kritik
denkbar ist. Schon im Jahre 1848 kündigte
der Verf. sein Werk in der Botanischen Zeitung
vom 1. December an, und er war sich schon
damals bewusst, auf welche Schwierigkeiten er
stossen würde. »Eine Arbeit, schrieb er, wie
ich mir den neuen Index denke, hat allerdings,
bei der ungeheuren Menge des zu bewältigen-
den Materiales, etwas Abschreckendes, und den-
noch habe ich mich dazu entschlossen, weil ich
fand, dass meine seit langen Jahren für meinen
eigenen Gebrauch angelegte Notizen- und Ex-
cerptensammlung mir schon eine bedeutende
Grundlage lieferte, gleichsam ein Baugerüste, in
welchem die einzelnen Fächer allmälig nur aus-
gebaut zu werden brauchen«. Von diesem Zeit-
punkte an arbeitete der Verf. unverdrossen wei-
ter, bis er im Jahre 1871 soweit war, auch
Pfeiffer, Nomenclator botanicus. 469
einen Verleger zu finden, welcher das volumi-
nöse Werk, — 2 Bände mit 200 Druckbogen
mit dem sich der Verf. nachgerade über 30
Jahre beschäftigt hatte, muthig für die Publica-
tion übernahm.
Als der Verf. zu arbeiten begann, waren es
die mehr oder weniger allgemeineren Werke
eines Tournefort, Vaillant, Linne, Adam-
son, Hill, Jussieu, Necker, Ventenet,
Forster, Thunberg, Medicus, Gmelin,
Mönch, Hoffmann, Willdenow, Acha-
rius, Fries, R. Brown, Schrader, Link,
Sprengel, Decandolle, Reichenbach,
Nees, D. Koch, Endlicher, Walpers
u. s. w., die der Verf. nebst den botanischen
Artikeln des 60 Bände starken Dictionnaire des
sciences naturelles, sowie der meisten botani-
schen Zeitschriften und akademischen Samm-
lungen bereits durchgearbeitet hatte. Diese
stattliche Reihe von Werken war aber nur ein
Minimum dessen, was noch vor ihm stand und
was namentlich in den zahlreichen Werken der
Monographen gesucht werden musste. Gleich
Pritzel hatte auch unser Verf. keine eigent-
lichen Vorgänger, da diese stets in einer andern
Richtung ihre zusammenfassenden Nomenclato-
ren verfasst hatten. Dem nächsten Vorgänger,
Steudel, kam es nur darauf an, sämmtliche
bekannte Arten mit ihren Synonymen aufzu-
zählen; hier dagegen sollten die Gruppen auf-
gesucht, alphabetisch geordnet und nicht nur
nach ihren Synonymen, sondern auch nach dem
verschiedenen Sinne aufgezählt werden, in wel-
chem sie von den verschiedensten Autoren seit
ihrer Begründung gebraucht worden waren.
Jeder einzelne Pflanzenname musste auf diese
Weise gewissermassen seine Hauptgeschichte
470 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15.
durch die literarischen Nachweise in sich selbst
abspiegeln, so dass jeder neue Schriftsteller so-
gleich das ganze Bild dessen empfangt, mit dem
er sich eben beschäftigen will. Man könnte es
dem Verf. fast zum Vorwurfe machen, dass er
diese literarischen Nachweise so weit ausdehnte,
obgleich jedes Gitat schliesslich seinen Vortheil
bringen muss. Selbst die Etymologie der ein-
zelnen Namen kommt hierbei, obschon nicht
durchgreifend, zu ihrem Hechte. Kurz und gut:
man weiss sofort, was unter dem betreffenden
Namen hat verstanden sein sollen und wie ihn
die einzelnen Forscher nach den verschiedenen
Pflanzensystemen, nach ihren abweichenden Clas-
sifications-Ansichten verstanden haben. Wie
man also bei P r i t z e 1 gleichsam eine Geschichte
jedes botanischen Buches empfangt, so empfangt
man hier die Geschichte eines jeden Pflanzen-
namens, soweit er nur Gattungen, Classen, Ord-
nungen u. s. w. betrifft. Zwar gab der Verf.
bereits zwei Jahre früher (1870) eine kurzge-
fasste »Synonymia botanica« heraus , welche
diese Namen ebenfalls alphabetisch und nach
dem natürlichen Systeme ordnete; allein dieselbe
war eben nur ein Lexikon ohne jeglichen lite-
rarischen Nachweis, gleichsam nur das Hand-
buch für seinen Nachfolger, der nun ganz als
Lehrbuch aufgefasst werden muss.
Auf den ersten Blick hin scheint das Alles
freilich höchst mechanisch, und Mancher dürfte
sich vielleicht fragen: wozu so unsägliche An-
strengungen, da sie doch nur dürres, geistloses
Gerippe sind? Die Antwort aber ist höchst
einfach: weil die Wissenschaft ohne dergleichen
Apparate, welche ganze kostbare Bibliotheken
ersetzen, gar nicht gedacht werden kann. Wer
nicht die Geschichte des Gegenstandes kennt,
Pfeiffer, Nomenclator botanicus. 471
mit dem er sich wissenschaftlich beschäftigen
will, weiss überhaupt nicht, was er noch zu er-
forschen habe. Darum eilt auch jeder For-
scher, sich diese Geschichte zuvor zu eigen zu
' machen; erst nachdem er sie vollständig über-
blickt, darf er darauf rechnen, Neues zu finden,
das schon Erforschte unter seine etwaigen neuen
Gesichtspunkte zu bringen, mit Einem Worte:
die Wissenschaft zu entwickeln. So ist es in
jeder Wissenschaft, so ist es in einem eminen-
ten Sinne auch auf dem Gebiete der Classifica-
! tion. Nirgends mehr, als gerade hier, ist der
reichhaltigste Apparat an Pflanzen, Büchern und
geschichtlichen Nachweisen nothwendig. Wir
übertreiben nicht, wenn wir behaupten, dass die
1 Literaturkenntniss de« Classificators vielleicht
den Höhepunkt aller Gelehrsamkeit erreicht,
weil die Forschungen meist nur Detailforschun-
gen und darum gewöhnlich auf das Allerunan-
genehmste in den oft kostbarsten, schwer zu-
gänglichen Werken zerstreut sind. So gross
der Wirrwarr sein würde, wenn die einzelnen
Forscher ohne Rücksichtnahme auf ihre Vor*
ganger ihre eigenen Beobachtungen publiciren
wollten, so gross ist nun der Segen, welchen
dergleichen zusammenfassende Sammelwerke in
sich tragen. Sie ermöglichen erst die Einheit
der Wissenschaft, helfen jedem Einzelnen zu
seiner Priorität und werden darum zu Wissen-
schaft selbst.
Leider zwar reicht das vorliegende Werk nur
bis zum Jahre 1858. Allein das war kein Feh-
ler des Verf., sondern derselbe musste nothge-
drungen mit einem bestimmten Jahre ab-
schliessen, wenn nicht die Einheit und Durch-
sichtigkeit des Ganzen empfindlich darunter lei-
den sollten. Bis zu dem genannten Zeitpunkte
472 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 15.
liegt das Manuscript fertig vor, so dass der
Verleger es iu der Hand hatte, sogleich mit
beiden Bänden zu beginnen. Bis auf diese
Stunde, wo wir schreiben, liegen von dem er-
sten 18 Hefte (ä Subscriptionspreis l1/* Thlr.,
Ladenpreis 2 Thlr.), von dem zweiten die er-
sten 16 Hefte vor, welche in höchst übersicht-
lichem Drucke ihren Inhalt zur Anschauung
bringen. Verdient nun der Verf. für das Alles
nicht nur unsere höchste Anerkennung, sondern
auch unsern wärmsten Dank, so muss sich Bei-
des um so höher steigern, als er Wahrscheinlich
schon wieder darüber ist, auch die Zeit von
1858 bis heute nachzutragen. Damit wird sein
Werk im vollsten Sinne ein wahrhaft geschicht-
liches Denkmal unter den bibliographischen
Werken sein, geeignet, dem deutschen Namen
aufs Neue die höchste Ehre zu bringen.
— r.
Augustin Tüngers Facetiae , herausgegeben
von Adelbert von Keller. Tübingen 1874.
163 Seiten Grossoctav (Bibliothek des Litera-
rischen Vereins in Stuttgart. CXVIII).
Ueber die Lebensverhältnisse Tüngers ist
nichts weiter bekannt als was sich aus den in
vorliegendem Buche zerstreuten Angaben er-
sehen lässt, die der Herausgeber zusammenge-
stellt hat. Es erhellt daraus, dass Tünger wahr-
scheinlich im J. 1455 zu Endingen, einem jetzt
zum würtembergiscben Oberamt Balingen ge-
hörigen Pfarrdorfe geboren wurde, zu Erfurt
studirte, 23 Jahre alt in ärmlichen Umständen
heirathete, später aber Procurator des bischöf-
t. Keller, Augustin Tüngers Facetiae. 473
lichen Hofes zu Konstanz war. Die im J. 1486
verfasste Schwänkesammlung ist dem Grafen
Eberhard von Würtemberg und Mömpelgard dem
Aeltern gewidmet, womit der 1445 geborene
Graf Eberhard im Bart gemeint sein muss, des-
sen Vetter, Graf Ulrichs Sohn, Eberhard der
Jüngere hiess. Da jener erstere kein Latein*
verstand, ist der in dieser Sprache abgefassten
Sammlung vom Verfasser eine deutsche Ueber-
setzung beigefügt, welche nicht rein hochdeutsch
ist, wie Keller anmerkt, sondern die Färbung
des südschwäbischen Idioms trägt, welches an
das alemanische streift. Die früher dem Klo*
ster Weingarten, jetzt der k. Handbibliothek zu
Stuttgart gehörige und 1486 geschriebene Per-
gamenthandschrift galt einige Zeit lang für ver-
j loren (s. Kellers Bemerk, zu Uhlands Schriften
zur Gesch. u. Sage 7, 622).
Was nun die Schwänke selbst betrifft, so
enthält die Sammlung deren 54, die von Mora-
lisationen begleitet sind und von denen die
Mehrzahl, hier zum ersten Mal mitgetheilt, auf
wirklichen Vorfällen zu beruhen scheint, an-
dere dagegen auch sonst bekannt sind, wie z. B.
no. 14, die ich, da sie nur sehr kurz ist, als
Probe des Tünger’schen Stils folgen lasse:
>Ain gepur uß Hessen kämm in die stat
Ertfurt, und als er onge verde für ain appoteg
gieng und im sölicher geschmack nicht gewon
was, viel er nider geschwunden. Und wann
aber die lüt zuo luffen, in ze laben, und ma-
nigerlay uß der appotegk raichten, wenn sy an
der hand was, und im es für huoben, rieht er
sich nicht allain nicht dester mer uff, sondern
ward im ie lenger ie onmechtiger, biß das ainer
her-zuo luff, der erwuscht (mit urloub uwer
I genaden) kuemist und huob im in fürdienasen.
474 Gott. gel. Auz. 1874. Stück 15.
Da huob der gepur erst uff sine ougen gen
himel und kam wider zno im selber«.
Ygl. hiermit die von Gödeke in Benfey’sOr.
u. Occid. 2, 260 angeführten zwei Parallelen ans
Stephani de Borbone’s (f 1262) Liber de septem
donis spiritns sancti und aus Dschellaleddin
•Rumi’s Mesnewi (geschrieben A 1263). Füge hinzu
das Fabliau vom Villain Anier, bei dem Le
Grand auch auf die Histoires Facetieuses et Mo-
rales p. 189 verweist.
Die no. 44, wo ein auf der Reise befindlicher
schwäbischer Zunftmeister in der Herberge ein
Kalb geboren zu haben träumt und, da er beim
Erwachen ein solches auch neben sich findet,
den Traum erfüllt glaubt, gehört zu den von
Oesterley zu Kirchhofs Wendunmuth 1, 2,42
verzeichneten Schwänken. — In no. 30 liegt
ein Bäcker statt, wie er glaubt, bei der Magd
vielmehr bei der eigenen Frau und preist dann,
ohne sie zu erkennen, gegen sie selber ihre
Schönheit und Anmuth über alle Massen. Man
denkt hierbei an v. d. Hagens Gesammtabent.
no. 32 »Ehestand, Tod und Hochzeit«, so wie
andererseits in Tüngers no. 12 der Bauer und
die Birnen an die Stelle der Sibylle und der
von ihr an Tarquinius verkauften Bücher ge-
treten zu sein scheinen. — Bei der no. 45,
wo ein junger Mensch, dem sein Vater, um ihn
vom Trunk abzugewöhnen, einen auf offener
Strasse liegenden Säufer zeigt, dadurch nur za
der Frage veranlasst wird, wo der Schankwirth
wohne, der so guten Wein verkaufe, verweist
Keller auf Oesterley zu Pauli Schimpf und Ernst
c. 21, bei welchem letztem sich auch noch
manche andere Parallele zu Tüngers Schwänken
finden möchte, von denen ich hier nur diejeni-
gen hervorhebe, zu welchen mir ohne längeres
r
v. Keller, Augustin Tängers Facetiae. 475
Nach8uchen Verwandtes und Nachweisbares bei-
Mt. Anders z. B. in Betreff der no. 36, wo
einer Nonne jede, auch die kleinste ihr vom
Beichtvater auferlegte Busse zu schwer dünkt.
Der Schluss der deutschen Uebersetzung fehlt;
im lat. Text heisst es: »Indignante vero sacer-
dote impacienciam mulieris ipsamque propterea
corripiente, quesivit mulier, num sibi cordi es-
sent dies festi, si aliquot dies ab omni corpori
suo contrario vacaret opere«. Auch dies ist
nicht sehr verständlich; doch scheint die Nonne
den Beichtiger zu fragen, ob er etwa auf die
Heilighaltung von Festtagen Werth lege; dann
wolle sie einige Tage lang sich aller lästi-
gen Arbeit enthalten. Einem ganz gleichen
Schwanke bin ich sonst schon begegnet, weiss aber
nicht anzugeben wo ? Eine ernsthaftere Fassung
desselben jedoch bietet eine Anzahl französi-
scher, italienischer und deutscher Dichtungen,
Volksmärchen u. s. w. S. Reinhold Köhler in
Lemcke*8 Jahrbuch 7, 273 ff. »Der standhafte
Büsser«. Bemerkenswerth ist, dass in der von
Adolf Wolf zu den »Volksliedern aus Venetien«
S. 111 ff. mitgetheilten Legende der unbussfertige
Ritter schliesslich auch nur dazu sich entschliesst
»einen Abend an einem Arbeitstage und einen
Feiertag Busse zu thun«.
Lüttich. Felix Liebrecht.
Hygiea. Medicinsk och farmaceutiskmänads-
skrift utgifven af Svenska Läkare-Sällskapet. Re •
digeradt af Dr. A.Jäderholm under medverkan4
af Dr. Kjellberg, Dr. W. Netzei, Prof.Dr. C.
J.Rossander och Prof. Dr. E. Oedmansson.
476 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 15.
Trettiofemte bandet. Stockholm, 1873. P. A.
Norrstedt & söner. 742 Seiten in Octav. !
Förhandlingar af Svenska Läkare-Sällskapets '
sainmenkommster är 1873. Protokollsforande
Sällskapets Sekreterare Med. Rad. Ed holm
och Doctor Wising. Stockholm, 1873. P. A.
Norrstedt och söner. 345 Seiten in Octav.
(Mit der Hygiea als Anhang herausgegeben).
Der zweite Jahrgang der Hygiea seit dem
üebergange der Redaction in Jäderholms
Hände zeichnet sich wie seine Vorgänger durch
Reichhaltigkeit und Gediegenheit des Inhaltes
aus und die demselben beigefügten Protokolle i
über die Verhandlungen der Svenska Läkare
Sallskap, deren Organ die Hygiea darstellt, im
Jahre 1873, documentiren auf das Glänzendste
nicht allein das wissenschaftliche Streben der
einzelnen Mitglieder und deren Ringen nach der
Erkenntniss der Wahrheit, sondern auch das
Segensreiche solcher gemeinsamen Arbeiten. Ich ;
will dafür als Beleg nur die Verhandlungen
über einen später als Morphinismus acutus er-
kannten zweifelhaften Krankheitsfall (Förhand-
lingarne, p. 90— 114) anführen, über welchen dut
in Folge der Discussion in der Gesellschaft die
Wahrheit an das Tageslicht gebracht wurde
und welcher, wie ich dies in meinen Beiträgen
zur Diagnostik der acuten Morphin Vergiftung
ausführlich dargethan habe (vgl. Deutsche Kli-
nik 1874 1. 3. 5. 7.) nicht allein für die Diag-
nose der fraglichen Intoxication, sondern auch
für deren Prophylaxe von entschiedener Bedeu-
tung ist. Aehnliche Discussionen finden sich in
den Verhandlungen mehrere, so über Thoraco-
centose und gegen Schluss des Jahres über die j
Schutzmittel gegen die Pocken, welche in der
477
Jäderholm, Hygiea.
Schwedischen Hauptstadt vom October an zu
epidemisiren begannen. Ausser diesen Discus-
sionen nehmen aber die einzelnen Vorträge der
Mitglieder durchgängig das Interesse der Fach-
genossen auch über die Grenzen des König-
reiches Schweden in Anspruch, und viele der-
selben verdienten in weiteren Kreisen bekannt
gemacht zu werden, wie dies mit einzelnen
durch die Deutsche Klinik bei uns geschehen
ist. Auffallend reichhaltig sind bei diesen Vor-
trägen Toxikologie und Pharmakologie vertre-
i ten, und insbesondere haben die Arsenikalien
wiederholt die Aufmerksamkeit der Svenska Lä-
kare Sallskap auf sich gezogen. Als sehr wich-
! tig will ich hier nur hervorheben, dass es
I Hamberg gelungen ist, Arsen in der Luft und
I Zimmern nachzuweisen, welche mit arsenhalti-
' gen Tapeten versehen sind.
Auch unter den Originalarbeiten der Hygiea
findet sich viel Toxikologisches. So hat z. B.
allein das Februarheft einen Aufsatz von Ed-
ling über einen durch Einbringen von arseni-
ger Säure in den Uterus herbeigeführten Abor-
tus mit tödlichem Ausgange, eine Krankenge-
! schichte von P. A. Levin über die Intoxica-
tion von drei Personen durch externen Gebrauch
von arsenikhaltiger Krätzsalbe, endlich eine Ab-
handlung von G. Cederström über den Stich
des Petermännchen (Trachinus Draco), dem der
! Verfasser einen besonderen Giftapparat vindici-
| ren möchte. Dasselbe Heft bringt dann auch
für die forensische Chemie eine nicht unwich-
tige Arbeit über die Entdeckung des Blutes bei
Anwesenheit äusserst geringer Mengen in orga-
( ni8chen Flüssigkeiten. In hygienischer Beziehung
wichtig muss der im Junihefte von Jäderholm
f mitgetheilte Fall von Arsenicismus besonders
L
478 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 15.
«
hervorgehoben werden, wo eine ganze Familie
durch den Genuss von Kartoffeln erkrankte,
welche die Hausfrau unvorsichtigerweise in einem
Kessel gekocht hatte, welchen sie kurze Zeit zu-
vor zum Färben von Wollgarn mit Anilinroth
benutzt hatte.
Von grossem Interesse sind uns die pharma-
kognostischen Mittheilungen 0. Sandahls von
der Wiener Weltausstellung gewesen, von wel-
chen indessen der geringere Theil dem Jahr-
gange 1873 angehört. Ueberhaupt liefert die
Hygiea ein zahlreiches Contingent von Beise-
erinnerungen und Beisebriefen, welche nicht
allein sehr ansprechend geschrieben, sondern
auch zum Theil gründlich und durch und durch
wissenschaftlichen Inhalts sind. Die Gründlich-
keit finden wir namentlich in den Briefen von
Wretlind, der sich die Aufgabe gestellt hat,
die heilgymnastischen Anstalten , Badeeinrich-
tungen u. s. w. Deutschlands zu studiren und
dabei auch das Di et rieh sehe Lohbad in
Charlottenburg und die Dresdener Semmelcur-
anstalt in das Bereich seiner Betrachtungen
zieht. Schärfe des Urtheils und wissenschaft-
liche, gediegene Kritik kennzeichnen die Briefe
Bossa nders, der die chirurgisch-klinischen
Anstalten vieler Deutscher Hochschulen durch-
mustert hat (Bonn, Berlin u. a.). Manche Be-
merkungen sind treffend. In Bonn findet er die
Klinik der Ferien wegen ziemlich leer an Kran-
ken, was ihm den Satz entlockt: »Glückliche
Stadt, wo in den Universitätsferien auch die
Kranken Ferien haben«! Ueber das Leipziger
Barackenkrankenhaus heisst es: »Bei einem flüch-
tigen Besuche in Leipzig inspicirte ich das neue
Barackenkrankenhaus. Es war sehr interessant
zu sehen, wie ein solches Krankenhaus nicht
479
Jäderholm, Hygiea.
beschaffen sein muss. Eine Menge Baracken
sind allerdings da, aber theils ist die Ventila-
tion gering, theils hat man Closets und Bade-
räume unvollständig von den Krankenräumen
getrennt, theils hat man alle Baracken durch
niedrige und von dicken Mauern begränzte VerT
bmdungsgänge verbunden, und in den Mauern
sind kleine Fenster höchst sparsam angebracht.
Ohne Zweifel wird man durch die Statistik aus
diesem Krankenhause, wie früher aus Lariboisiere
beweisen, dass das Barackensystem nicht bes-
ser ist als das Corridorsystem ; ich lege dagegen
im Voraus meinen Protest ein, das Leipziger
Krankenhaus ist einfach schlecht, und wir wer-
den in Stockholm, hoffe ich, ein viel besseres
erhalten«. Es ist mitunter lehrreich, auch zu hö-
ren, was die Fremden denken, welche der Pa-
triotismus nicht dazu treibt, bei manchen Män-
geln ein Auge zuzudrücken. Ausser Wr etlind
und Rossander haben auch noch Ribbing
(das Studium der Ophthalmologie in Paris),
Curt Wallis (Ueber Fgyptens Klima) und
A. Kuliberg (Ueber den dritten internationa-
len ärztlichen Congress zu Wien) den Stoff zu
ihren Aufsätzen ausserhalb Schwedens gesammelt.
Dagegen spricht sich ein nationales Gepräge
in den Aufsätzen von H. A. Wi strand, dem
im Januar verstorbenen Professor der gericht-
lichen Medicin am Carolinischen Institut, über
die Morbilitätsstatistik Schwedens im Jahre 1871
aus, ebenso in der Arbeit 0. F. Hailin’ s über
das Lazarethwesen des Königreiches in demsel-
ben Jahre. Diesen für die Statistik nicht un-
wichtigen Arbeiten reiht sich ein Auszug aus dem
Jahresberichte der chirurgischen Abtheilungen im
Stockholmer Serafimerlazareth von Prof. C. San-
to ss on an. Ein im Julihefte sich findendes
480 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 15.
Gutachten von Lilljerjörn, Cederschiöld
und Oedmanssonüber einen von Prof. Mester-
ton in Upsala herrührenden Entwurf zu einem
Vaccinationsgesetze für Schweden hat vorwal-
tend locales Interesse.
Ausser den bereits angeführten medicinischen
Disciplinen sind in der diesjährigen Hygiea na-
mentlich pathologische Anatomie und Chirurgie
vertreten. Zu nennen sind in dieser Beziehung ;
die Aufsätze von Braun über Exstrophia ve-
sicae cum fissura ossium pubis, von Santesson
und Bl ix über Cystoma carcinomatosum testi-
culi, von Bergwall über elastische Ligaturen,
von S. Bibbing übe? einen Fall von Tumor
albus und Eniegelenksresection, von Bossander
über einen mit Massage und Strychnininjection
geheilten Fall von Schreiberkrampf und von
Santesson über ein ossificirendes periostales
Sarkom der linken Scapula, operirt mittelst Re-
section des grössten Theiles des Schulterblatts.
Wie in den früheren Jahren bietet die
Hygiea auch dieses Mal ein reichhaltiges ein
reiches Material von Berichten des Gesundheit-
collegiums und den an dasselbe eingelieferten
ärztlichen Rapporten. Unter letzteren ist von
epidemiologischer Bedeutung insonderheit ein
* Aufsatz von Piscator über das endemische
Trachom in FryksdaL
Die Aufgabe der Hygiea, das Wichtigste aus
der ausländischen Literatur zum Gemeingute
der Schwedischen Aerzte zu machen, ist auch
in diesem Jahrgange festgehalten und gut durch-
geführt. Theod. Husemann.
J
481
Gftttingisehe
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 16. 22. April 1874.
l
i
! P. Vergilii Maronis opera a Mauricio
1 Hanptio iternm recognita. Lipsiae apad
! S. Hirzelium. MDCCCLXXHI. 12.
Es ist die Traner um den theuren Freund
und grossen Philologen, welche den Unterzeich-
neten zu dieser Anzeige bestimmt hat. Denn
die zierlichen Ausgaben des Horatius, des Ca-
tullus Tibullus Propertius und des Vergilius ha-
ben sich längst ebenso wegen ihres inneren Wer-
the8 als durch ihre äusBere Ausstattung allge-
meine Anerkennung erworben, und wie viel Mo-
riz Haupt insbesondere für die Verbesserung »
| der kleinen Vergil zugeschriebenen Gedichte ge-
than hat, ist bekannt. Aber wie dies letzte Werk
; des Geschiedenen mich selbst mit schmerzlichem
Vergnügen erfüllt hat, so ist es mir Bedürfhiss
darauf hinzuweisen, was der Wissenschaft in ihm
! Neues und Treffliches geboten ist.
| Seit ich Haupt kannte, beschäftigte ihn das
Gedicht Aetna. Die unglaublich verdorbene
Gestalt, in der uns diese 646 Verse erhalten
sind, zog ihn unwiderstehlich an und all seine
31
L
482 Gött. gel. Anz. 1874. Stück 16.
Belesenbeit in den römischen Dichtern, seinen
Scharfsinn und seine glückliche Divinationsg&be
hot er auf es lesbar zn machen. Als er 1837
in seinen Quaestiones catollianae p. 54 ff. zuerst
einzelne Stellen desselben zu verbessern suchte,
hatte er ihm schon mehrere Jahre eifriges Stu-
dium zugewendet. Aber nie konnte er sich ge-
nug thun und allem Zureden, dass er doch end-
lich einmal das Gedicht herausgeben möge, setzte
er die Antwort entgegen, dass er noch mit za
vielen Stellen nichts anzufangen wisse, um an
eine Herausgabe denken zu können. Noch im
Hermes 3 S. 338 sagt er: nam ut unquam to-
tum carmen mea cura perpur gatum edere possim
eo magis vereor quo saepius eins lectionem
repeto . nimirum sublatis ex aliqua poematis
parte vitiis manifestiora fieri solent alia, ut «Jdgay
tipvsw tibi videare.
Um so mehr war ich erstaunt, als er mir
im Spätsommer vorigen Jahres in Reichenhall,
wo wir einige Wochen zusammen zubrachten,
sagte, dass er sich entschlossen habe der neuen
Ausgabe des Vergilius, mit deren Correktur er
beschäftigt war, die Aetna beizugeben. Wer
konnte denken, dass es wie eine Ahnung seines
nahen Endes sei, die ihn zu diesem Entschloss
gebracht habe?
So sind denn in dieser zweiten Ausgabe zu
den Catalecta . Culex . Ciris . Copa . Moretum jetzt
noch die Gedichte Dirae . Lydia und Aetna hin-
zugekommen. Für den Verfasser des letzten wurde,
wie bekannt, schon gegen Ende des 1. Jahrh. von
Manchen ebenfalls Vergilius gehalten (Suetonius
p. 58 Reiff.: scripsit etiam de qua ambigitur
Aetnam). Und mit dieser wunderlichen An-
nahme stimmt die handschriftliche Ueberliefe-
*
P. Vergilii Maronis opera rec. Hauptius. 483
rang, welche diese kleineren Dichtungen unter
Vergils Namen verbindet.
Vergleichen wir nun den Text der Aetna,
vie ihn Haupt gegeben hat, mit dem der frühe-
ren Ausgaben, sei es der Joseph Scaligers, oder
der Munros, so erweist er sich als ein würdiges
Denkmal beharrlicher Forschung und glücklich-
ster Begabung. Freilich hat auch noch Haupt
11 Verse (6. 69. 120. 121. 122. 351. 353. 358.
426. 496. 497) als solche bezeichnet, deren
Verderbniss ihm unheilbar erscheine, und natür-
lich werden an anderen Stellen seine Aende-
rangen unannehmbar erscheinen. Aber un-
zweifelhafte Verbesserungen, mögen sie auf rich-
tiger Entscheidung über die verschiedene hand-
schriftliche Ueberneferung oder auf Vermuthung,
fremder oder eigener, beruhen, sind in so grosser
Zahl und von so tiefgehender Bedeutung vorhanden,
dass kein anderes Erzeugniss eines lateinischen
Dichters eine ähnliche Umgestaltung erfahren
hat. Erst jetzt hat die Aetna eine Gestalt ge-
wonnen, wie wir sie der Zeit vor 79 n. Chr.
Zutrauen dürfen. Denn dass der Verfasser den
Ausbruch des Vesuvius nicht gekannt haben
kann, bemerkt Munro p. 34 f. mit Recht.
Die Ueberlieferung des Gedichtes ist schwer
zu erklären. Eine Anzahl von Fehlern, die
allen Hss. gemeinsam sind, weist auf eine ge-
meinsame Urhandschrift: z. B. 152 causa; dann
aber gehn zwei HSS., eine (ft bei Munro, F in
Haupts Abhandlungen) wahrscheinlich jetzt ver-
lorne aus Lucca, die v. 138 — 289 enthielt, und
(C bei Haupt, a bei Munro) die jetzt in Cam-
bridge befindliche des 10. Jahrn., die zuerst
Haupt (ind. lectt. berol. 1854) benutzte und
deren Lesarten jetzt Munro vollständig mittheilt,
so auseinander, dass zwei ganz verschiedene
31*
484 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
Recensionen angenommen werden müssen (z. B.
227:
ß Ingenium saerare ca/pidque attollere caeh
cc sacra peringentem capitique attoUere caelum ;
v. 276 — 278 in a stehn in 0, nach v. 258; y. 160:
ß guod patula in promptu cerms vastosgue
recessus
a quae Ualida i/n promptu cernis mlidosque
• recessus).
Keine von beiden ist vom Verdacht willkürli-
cher Interpolation frei (z. B. v. 237:
ß nubila cur panope caelo denuntiet imbres
d nubila cur caelo terris denuntiet imbres),
aber fast überall erweist sich, was ß giebt, als
das allein Richtige oder mit leichter Aenderung
Herzustellende, dagegen a schwerer oder leich-
ter verdorben. Und doch wieder ist a in Ver-
gleich mit den übrigen jungen HSS., die nicht
aus ihm stammen können, nicht allein vollstän-
diger (v. 61. 469 f. Haupt ind. lectt. 1854), son-
dern auch frei von einer Menge von Fehlem
und Interpolationen, die sich in allen übrigen
finden (vgl. Munro p. 30). Eine Anzahl von
Stellen zeigt, dass die Quelle, aus der die Jün-
gern stammen, schwer leserlich oder verstüm-
melt war, so dass sie Lücken lassen, die früher
von den Italienern willkürlich ausgefüllt worden
waren, jetzt durch u ihre richtige Ergänzung
erhalten :
v. 53 : promcat admotis —
a: provoeat admotis ad territa sidera signis
v. 327: donee confluvio vduti —
donee confluvio veluti revolutis' aestihus
amnis
a: donee confluvio vduti sipbmibus actus
v. 446: ni furtim adgereret — *
ni furtim adgereret secretis callibus humor
’ P. Vergilii Marortis opera rec. Hauptius. 485
*
a: m furtim adgereret sicuU vidnia mantis.
Und dasselbe findet sich auch in dem Brach-
stuck (y. 1 — 168) einer HS. der Abtei Stavelot
\ aus dem 11. Jahrh., deren Lesarten Bormans
in den Bulletins de TAcademie royale des sciences
— de Belgique T. 21, 2 (1854) p. 25£MF. mit-
getheilt bat, obgleich sie meist mit a gegen die
übrigen fäuch gegen ß in den Versen 138 — 168)
übereinstimmt. So läspt sie y. 28 carminis haec
est weg, y. 40 hat sie nur armare, während sie
v. 53 provocot cßmpstis Uia sidera signis
bietet. Dass nie aber nicht aus « stamme, zei-
gen richtige Lesarten, die sie gegen a erhalten
! hat, wie v. 19 tristem , 115 docendi, und allerlei
andere kleine Abweichungen. Diese HS. kennt
Munro nicht (eben so wenig, als Haupts * quae-
stiones catullianae), Haupt hat sich nicht über
sie geäussert. Man wird also annehmen müs-
sen, dass aus einer, wie es scheint in langobar-
discher Schrift geschriebenen Urhandschrift zwei
Abschriften genommen wurden , aus deren
einer ß , aus der zweiten, schon ziemlich inter-
polierten, 1) a und 2) die HS. von Stavelot, 3)
die stammen, aus der, unter Hinzutreten allerlei
neuer Interpolationen, die jüngeren ihren Ur-
| sprung herleiten. Eine bessere, etwa mit a
vergleichbare, muss auch schon Aldus benutzt
! haben, wenn er v. 117 quis mim non credat
\ inanis setzte , während die meisten jüngeren
die Worte non credat inanis weglassen, einige
quis emm non viderit illud ergänzen: a und die
von Stay, haben quis mim non credit inanes.
Mit Becbt hat sich bei diesem Zustand der
Ueberlieferung Haupt in den Versen 138 — 289
bo viel als möglich, strenger als Munro (z. B.
190 parvo aut tmüi discrimine signes, vgl. qu. ca-
tull.p.62, y. 252 homini), an ß , in dem übrigen
486 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
Theile des Gedichtes an a gehalten, obgleich das
Verhältnis von a zu so weit diese bekannt ist,
eine unliebsame Perspective eröffnet, wie un-
sicher, oder vielmehr unmöglich da, wo diese
HS. nicht zu Hülfe kommt, oft die Herstellung
des Ursprünglichen sein und bleiben müsse.
Zugleich wird aber durch diese Betrachtung
eine grössere Freiheit in den Aenderungen ge-
rechtfertigt, sobald Sinn und Achtung vor dem
Dichter und seiner Zeit es fordern.
Um einen Begriff von dem Unterschiede
des Textes, wie ihn Haupt herstellt, von dem
Munros zu geben, will ich den Schluss des Ge-
dichtes, die Erzählung von den Brüdern von
Catana, v. 604 ff., ein im Ganzen ziemlich gut
erhaltenes Stück, genauer vergleichen, v. 605
noc minus ille pio quanquam sors nobilis ignis
die HSS. Munro liest mit C. Barth quanquam
sons , Haupt schreibt quam sonti , in ignist (d. i.
igni est) stimmen beide überein. Aber da ge-
rade das Feuer das ist, wodurch der Aetna
schadet, so kann nec minus nur auf eine Ver-
gleichung der beiden Arten, wie das Feuer des
Berges sich erweist und erwiesen hat, gehn: ge-
wöhnlich ist es verderblich, in dem zu erzählen-
den Falle ehrte es die kindliche Hingebung.
Also] scheint sonti nothwendig und quanquam nur,
nachdem einmal sons entstanden war, dem Vers
zu lieb gesetzt worden zu sein. Oder sollte quam
qui sons (d. i. quam eo qui sons est), das der
Lesart der HSS. näher steht, richtig sein? —
v. 606 f. kann man zweifeln, ob Haupt mit
Recht Scaligers Vermuthung ingens für ignis
aufgenommen habe, da Munros
et velut eversis penitus fornacibus ignis
eveeta m longumst rapidis fervoribus unda
auch erträglich ist: da aber die HSS. ignes,
P. Vergilii Maronis opera rec. Hauptius. 487
nicht ignis, haben and der Oedanke ignis nicht
fordert, wol aber ein stark hervorhebendes Pra-
dicat zu unda sehr wiinschenswerth erscheinen
lässt, so wird man doch ingens wählen. Ob man
longumst mit Munro , oder undast mit älteren
Ausgaben und Haupt schreibt, ist ohne Bedeu-
tuug, aber Verse wie 161. 177. 187. 231. 316.
388. 415. 420. 435. 528. 620 sprechen mehr
für undast . — V. 610. et nitidum obscura
caelum caligine torpet hat Haupt mit Scaliger
gesetzt, während Munro torquet der HSS. bei-
behält, weil der Himmel beim Gewitter vielmehr
in Unruhe sei. Aber die schwarzen Wetterwol-
ken, aus denen der Blitz zuckt, stehn unbeweg-
lich in der schwülen Luft, während zu sagen,
der heitre Himmel werde durch die Finsterniss
gequält, bedrängt, mehr als sonderbar wäre.
— 612. Munro behält was die HSS. haben:
ardebant — iugera cum dominis , während N.
Heinsius cum domibus wollte, Haupt cum pomis
geschrieben hat. Die brennenden Herrn inmit-
ten der segetes, iugera , silvae und cölles sind
mehr als wunderlich und die Häuser eben so
unwahrscheinlich. In ähnlicher Weise ist domi-
nis v. 252 in a (und so Munro), während Haupt
aus omni in ß trefflich homini hergestellt hat.
— In demselben V. 612 behält Haupt silvae
coUesque virentes früherer Ausgaben, während
a urebant, die andern Hss. uirebant haben und
Munro rubdbmt vermuthet hat. Ich denke, »die
grünenden Hügel und Wälder gerathen
in Brand« giebt ein viel grossartigeres Bild, als
»sie waren roth«, und die Aenderung rubebani
ist nicht leichter als virentes , wie gleich tre-
mendum v. 613 zeigt, wofür die HSS. tremebant
haben. — V. 614. Haupt nimmt Scaligers in-
vaserat auf, Munro behält evaserat , aber weder
488 Gott. geL Anz. 1874. Stack 16.
»batte erklommen« noch »hatte über-
stiegen« passt hier von der Lava, sondern
allein »hatte erreicht«. — V. 619 erklärt
Monro das hs. defectum raptis Mum sua carmim
tcvrdant : »sie verloren die Zeit mit der Wieder-
holung unnützer Beschwörungsformeln«, aber
der Gegensatz des folgenden Verses: hic vdox
minima properat sub pondere pauper fordert die
von Haupt angenommene Vermuthung Jacobs
sarcma tardat — V. 623. consequitur fugisse
ratis der HSS. behält Munro und vergleicht
Liieret. 3, 929. Das ist ein starkes Vergehn:
consequi hat nie den Dativ bei sich und leto
erklärt Munro bei Lucretius selbst richtig in
leto . Also ist ratos der früheren Ausgaben von
Haupt mit Recht aufgenommen. — V. 623 heisst
es weiter in a :
et praemia captis
concrepat ac mdli sparsura incendia pascunt
vd solis speursura dees .
Die einleuchtenden alten Verbesserungen nuUis
parsura und solis parswra piis haben Munro und
Haupt aufgenommen; wenn aber Munro auch
increpat annimmt und dann haec für ac setzt, so
ist praemia weder mit der von Scaliger ver-
suchten Erklärung (»cum clamore imponit pre-
tium pro redemtione«) noch irgend einer an-
dern verständlich, Sondern die durch Auratus
coneremat begonnene Verbesserung hat Haupt
schon qu. catull. p. 67 durch raptus für captis
vollendet: das Feuer verbrennt, was sie
durch ihren Raub gewonnen hatten
(vgl. 615 rapim, 618 raptis , 620 praeda)* Dann
aber würde, wenn gesagt werden sollte, dass
die sich fortwälzende Lavagluth durch das Er-
reichte und Ergriffene vermehrt worden sei,
irgend wie ein Zusatz, wie nur, nur noch
P. Vergilii Maronis opera rec. Hauptius. 489
noting sein, denn im Vergleich zn der Gewalt
der Lava an sich, welche hier allein in Betracht
kommt, ist die Vermehrung durch das Ergriffene
nur gering. Dagegen gewinnt die ganze Stelle
durch Haupts auch schon in den quaest. cat.
mitgetheilte Vermutbung pergunt für pascunt
einen grossartigen Abschluss: Die Gluth ergreift
die Fliehenden und zieht weiter , um niemand
zu schonen, oder nur die Frommen. — Glän-
zend ist die Vermuthung, durch welche Haupt
den vorher sinnlosen Vers 626 hergestellt hat.
Die älteren HSS. haben
amphion fraterque pari svib munere fontis
und Amphinomus war nach den Angaben der
Schriftsteller über die Namen der Brüder von
Catana schon in jüngeren HSS. richtig verbes-
sert worden. Aber pari sub munere fortis , wie
auch Munro nach einer Vermuthung, die sich
in den jüngern HSS. findet, liest, indem er for -
tis als Nom. plur. fasst, in gleicher Lei-
stung tapfer, ist sowol wegen des in solcher
Verbindung ganz ungewöhnlichen sub^ als wegen
des Sinnes, bevor im Folgenden ihre That be-
schrieben ist, unhaltbar. Dass nun der eine Bruder
genannt ist, der Name des Andern aber, Ana-
pias (die Stellen haben I. M. Gesner zu Clau-
dian 50, die Herausg. des Lykurg §. 95, Krü-
ger Leben d. Thukyd. p. 64, auch Munro p. 79),
nicht in den Vers passt, leitete Haupt in Ver-
bindung mit dem hs. fontis zu der Vermuthung,
dass dieser Name durch Umschreibung ange-
deutet sei, und er hat also
Amphimmusque et frater Anapi nomine
fontis
geschrieben. Sollte aber nicht dasselbe mit ge-
ringerer Aenderung, unter der Voraussetzung,
dass in einem so wenig gebrauchten und be-
9
490 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 16.
kannten griechischen Eigennamen die Prosodie
habe schwanken können (vgL L. Müller de
metris poet. lat. p. 352 f.), sich erreichen and
schreiben lassen:
AmpJdnomus fraterque Anapi sub nomine fontis?
VgL 398. 644. — Aach V. 630 gewinnt erst
durch Haupts Vermuthung
pergite , avara manus, dües attoUere praedas
Sfur partite) den nöthigen Gegensatz za dem
ölgenden:
ülis divitiae sdlae materque pater qm .
— V. 631 haben dieHSS. hanc rapies praedam ,
die älteren Ausgaben hanc rapiunt praedam, und
dies hat Haupt mit Recht anfgenommen. Wie
raperest d. i. (rapere licet) hier passen solle,
ist nicht gut einzusehn. Versehn in den En-
dungen kommen in denHSS. der Aetna so viele
vor, dass man deshalb an rapiunt keinen An-
alogs zu nehmen braucht, wie Monro es that.
— Auch V. 637 ist Haupts Vermuthung viest
für dies:
fdix üla via est, illa est innoxia terra
einleuchtend: nicht um den Tag, nur um den
Weg, den die Brüder nehmen, handelt es sich.
— Im folgenden Verse 638
dexter a saeva tenent laevaque incendia f erneut
ist zwar, dextera als Akkusativ genommen, die
überlieferte Lesart allenfalls haltbar, aber der
Wechsel der Konstruktion hart und tenent auch
nur Vermuthung für tenet, wie a hat. Sehr
empfiehlt sich daher die von Haupt aufgenom-
mene Vermuthung von Auratus: dextra laeva
tenus — : bis an die rechte und linke
Seite heran — . — V. 639 hat Haupt für
das handschriftliche
*
ille per öbliquos ignis fratremque triumphans
die Vermuthung Früherer aufgenommen:
P. Vergilii Maroni opera rec. Hauptius. 491
Hie per obliquos ignis fraterque triumphant
mit einem durchaus einfachen und passenden
Sinne. Munro dagegen, der die hs. Lesart bei-
behält, dann aber den Ausfall eines Verses an-
nimmt, zeigt schon durch seinen Versuch der
Ergänzung (p. 79):
hortatur tollitque senem , matrem arripit alter ,
das Unwahrscheinliche seiner Vermuthung: die
Brüder sind ja schon auf dem Wege und nur
das Gelingen ihres Unternehmens wird geschil-
dert. Damit steht in unmittelbarem Zusammen-
hang; dass im folgenden Verse 640 die Lesart
der HSS. suffidt illa, die die Früheren und
Munro wunderlicher Weise auf die Mutter be-
ziehen; die das Unternehmen ausgehalten habe,
mit Recht von Haupt nach Clericus in suffugit
ülinc geändert ist: nur glaub’ ich, dass Ulme
nicht nöthig, sondern illa , wie a hat, als ad-
verbialer Ablativ richtig ist. — Im letzten
Verse endlich des Gedichts hat a so:
sed mrae eessere dorms et iura piorum ,
Munro schreibt seeurae, Haupt sed purae und
dann mit N. Heinsius rura. Nothwendig zwar
ist sed nicht und seeurae wie purae ist ungewöhn-
lich, aber unbedenklich als Bezeichnung für
die Gefilde der Seligen : dennoch entscheidet
wol das wünschenswerte sed für purae und
ebenso scheint mir domus et rura besser zu
passen als domus et iura.
Dasselbe Verhältnis wie in diesen 43 Ver-
sen findet sich in dem ganzen Gedicht zwischen
den früheren Texten und dem neuen, aber ich
will nur über ein paar Stellen noch etwas be-
merken. Gleich im Anfang hat Munro die
Verse 5f. so geschrieben:
seu te Cynthos habet , seu Delost gratior Hyla ,
seu tibi Ladonis .potior — ,
492 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
während a delos für Belast , %la für Hyla und
dodona für Ladonis hat , Haupt aber Xcmthos
mit Clericus für Cynthos, illa mit den früheren
, Ausgaben (und der HS. von Stavelot, wenn
Bormans p. 266 genau gesehn hat) für üa
schreibt und vor Dodona das Reichen der Ver-
derbniss setzt. Er hat also die Vermuthungen
von Munro nicht gebilligt und so blendenden
Anschein sie haben, wird man doch glauben
müssen, dass der Dichter neben Delos nach al-
tem Brauch als Lieblingsstätten Apollons Ly-
kien und Delphoi, nicht in alexandrinischer
Gelehrsamkeit lieber einen wenig bekannten
Tempel in Kypros und das späte Antiochia ge-
nannt habe. Also irgend eine Bezeichnung von
Delphoi muss in dodona stecken. -- V. 18 f. liest
Haupt jetzt :
quis non Argolico deflevit Pergamon igni
ambustam et — ,
wie er ind. lect. 1854 p. 5 vorgeschlagen* (hier
auch noch aut für et), während er' qu. catull.
p. 54 impositam der HSS. behalten zu können
glaubte. Munro nimmt mit Jacob an , dass
zwischen 18 und 19 ein Vers ausgefallen sei.
Aber darf man eine Lücke annehmen, wenn
sich ein guter Sinn durch leichte Aenderung
hersteilen lässt? Und was ist gegen ambustam
oder, wenn dies zu gewagt Scheint, compositum
(im Sinüe von sepultam) einzuwenden? — V. 65
haben zwar . weder Haupt noch Munro an de-
vectae verterunt terga ruifiae infestae divis acks
Anstoss genommen, aber terga fugae dare oder
praebere , das Haupt ind. 1854 p. 4 aus Pro-
pertius und Ovidius anführt, ist wesentlich ver-
schieden und Wernsdorfs devecta - ruina scheint
doch das Richtige zu sein. — V. 297 haben
beide Herausgeber
P. Virgilii Maronis opera rec. Hanptius 493
pdUt opus coUectus aquae' victusque movere
Spiritus —
and Haupt sagt ganz richtig ind. 1854 p. 13:
>nam sane aqua et spiritum movet et moto
spiritu opus hydraulicüm impellit« und unge-
fähr ebenso Munro p. 60 (zu y. 293). Aehn-
lieh nachher y. 301 : (arte) quae tenuem im-
pdlens animam subremigat unda . Liest man
also, movere, so kann das nur bedeuten: »das
Wasser setzt das Kunstwerk in Gang und die
es zu bewegen gezwungene Luft.« Diese Weit-
schweifigkeit und Ungeschicktheit des Aus-
drucks wird durch die leichte Aenderung wo-
ven gehoben: »das Wasser und die durch dies
in Bewegung gesetzte Luft bringen das Kunst-
werk in Gang.« Die Luft bewegt eigentlich
auch nichts, sondern bringt die Töne herYor,
indem sie sich bewegt und durch die verschie-
denen Pfeifen ausströmt. Vgl. Wilmowski, die
röm. Villa zu Nennig und ihr Mosaik p. 11.
Endlich noch V. 426. a hat
cerne locis etiam similes adsiste cavernas ,
für adsiste ist schon in jüngeren HSS. arsisse
hergestellt. Aber da der Dichter im Folgen-
den eine Anzahl Yon Orten anführt, wo die
frühere Yulkanische Kraft erloschen war, die
Insel Aenaria, den Berg Gaurus zwischen Nea-
polis und Cumae, die Inseln Rotunda und Sacra
Vulcani (über die letzteren vgl. Holm, Sicilien
1 S. 350. 349), so ist es unglaublich, dass er,
der in Neapel Einheimische, den Vesuvius, der
bis zum Jahr 79 allgemein als ausgestorbener
Krater galt und bekannt war (Strabo 5, 8),
bier übergangen haben sollte. Daher vermu-
thete schon Jaeob, dass seine Erwähnung in
Y. 426 versteckt liege und der Dichter
Cerne etiam Nolae similes arsisse cavernas
494 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
geschrieben habe, da Strabo und Vergilius bei
Gellius 6, 20 Nola in unmittelbare Verbindung
mit dem Vesuvius bringen (vgl. die Herausg.
zu Verg. G. 2, 225). Haupt stimmte qu. cat j
p. 57 der Sache nach bei, hat aber jetzt, wol
weil er den Wortlaut der Vermuthung nicht
billigte, den Vers nur als verderbt bezeichnet
Munro dagegen schreibt
Gerne lods etiam his similes arsisse cavemas,
so dass sich Ms auf die im Folgenden erwähn-
ten Orte beziehn und illic v. 427 auf lods Ms
zurüpkweisen soll. Das ist, auch abgesehn von dem
über den Vesuv Bemerkten, nicht wahrschein-
lich, sondern nach dem , was über die andern
Orte gesagt ist, macht illic den Eindruck, als
gehe es ebenfalls auf eine bestimmte Oertlich-
keit, und damit stimmt auch der ganz beson-
dere Inhalt der Verse 427. 428 überein. End-
lich passt hier cerne nicht. Vielleicht also ist
Nolae sds etiam simües arsisse cavemas
das Ursprüngliche.
Wahrscheinlich finden sich in dem Hand-
exemplar und den Papieren Haupts noch An-
deutungen zur Begründung mancher der von
ihm gewählten Lesarten und hoffentlich werden
sie irgendwie veröffentlicht. -Wenn aber diese
Ausgabe allen , welche sie prüfen und gebrau-
chen, die gerechte Trauer um den grossen Phi-
lologen erneuern muss , so wissen die , welche
v in irgend einer Weise mit ihm in Berührung
gekommen sind, dass er mehr war, dass Moriz
Haupt ein Mann war, im höchsten und edelsten
Sinne des Wortes.
Hermann Sauppe.
Masson, The Life of John Milton. 495
The life of John Milton: Narrated in con-
nexion with the political, ecclesiastical, and
literary history of his time by David Masson
M. A. LL. D. Professor of Rhetoric and English
Literature in the University of Edinburgh. Vol.
UL 1643 — 1649. London: Macmillan and Co.
1873 IX. 729 SS.
Zu unserer Freude ist der dritte Band die-
ses ausgezeichneten Werkes dem zweiten um
Vieles rascher gefolgt als dieser dem ersten.
Ueber jenen unmittelbar vorhergehenden Band
ist in diesen Blättern erst vor einigen Jahren
(1871 S. 1568 — 1590) ausführlich Bericht er-
stattet worden, und Alles was damals Loben-
des gesagt werden konnte, darf in vollem
Masse für die vorliegende Abtheilung wieder-
holt werden. Es ist ein Werk, das auf jeder
Seite von der ausserordentlichen Gründlichkeit
und vom ungemeinen Fleisse des Verfassers
Zeugnis ablegt, solid gearbeitet in allen seinen
Theüen, und, ich möchte sagen, von derselben
ernsten und idealen puritanischen Gesinnung
durchdrungen, welche dem Helden dieser Bio-
graphie eigen war. Es ist aber, — und darin
hegt seine Starke wie seine Schwäche, — un-
endlich viel mehr als die Biographie dieses einen
Mannes, indem es sich, wie schon der Titel
andeutet , über die gesammte politische , kirch-
liche und literarische Geschichte des damaligen
England verbreitet, und zwar mit solcher Aus-
führlichkeit, dass, nachdem nur die ersten vier-
zig Jahre von Miltons Leben erzählt worden
sind, bereits über zweitausend Seiten vorliegen.
Die Absicht des Verfassers, in seine Arbeit eine
Geschichte Englands in einer ihrer bewegtesten
Epochen nach Vornahme selbstständiger gründ-
496 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
licher Forschungen zu verflechten hat ihn ge-
nöthigt, oft durch mehrere Bogen von seinem
ursprünglichen Thema Umgang zu nehmen und
eine Scheidung der einzelnen Kapitel in »Hi-
story« und »Biography« zu veranstalten. Die
Einheit der Darstellung geht darunter beinahe
zu Grunde, aber wir werden um ein sehr ge-
lehrtes Werk über die Geschichte der Engli-
schen Revolution bereichert. Auch im vorlie-
genden Bande nimmt das allgemein historische
Element eine überaus bedeutende Stelle ein;
und dies um so eher, je wichtigere Ereignisse
die Jahre 1643 — 49 einschliessen.
Die Fortsetzung der Geschichte der West-
minster-Synode , die Verbindung der Engländer
mit den Schotten, die ersten grossen Erfolge
Cromwells, der Ausbruch des Zwistes zwischen
Presbyterianern und Independenten, die ent-
scheidende Niederlage des Königs und ihre
Folgen, seine Schicksale im Lager der Schotten
wie in den Händen der Engländer, die letzten
Akte seines Lebens, die sich während des Rin-
gens von Presbyterianismus und Independentis-
mus und während des zweiten Bürgerkrieges
abspielen, sein Process und sein Ende: Alles
das hatte Masson seinem Plane gemäss nicht
etwa in skizzenhafter Andeutung sondern in
breiter Erzählung zu behandeln, für deren Aus-
führlichkeit ich nur Beispielshalber auf die
Schilderung der Kämpfe in Schottland zwischen
Montrose und Argyle etc. (p. 340 — 369) verwei-
sen will. Er thut es mit voller Beherrschung
des überreichen Stoffes, nicht selten, wie in den
früheren Bänden, mit Einschiebung werthvoller
Listen , deren Vorbereitung einen grossen Auf-
wand von Zeit und Mühe erfordert haben muss,
und aus welchen Jeder Belehrung schöpfen
i
Masson, The Life of John Milton. 497
kann, der sich eingehender mit diesem Abschnitt
Englischer Geschichte zu beschäftigen gedenkt.
So z. B. findet sich p. 146 — 159 eine Ueber-
sicht über die Englischen Sekten in den Jahren
1644 ff. ihre Grundsätze, Führern, s.w. vor-
züglich nach Edwards Gangraena, eine Ueber-
sicht, die der Verfasser wohl abgekürzt haben
würde, wenn ihm die kritischen Bemerkungen
in Weingartens trefflichem Werke : Die
Bevolutionskirchen Englands (Leipzig. 1868)
S. 102 ff. bekannt gewesen wären, so erhalten
wir p. 326 und 327 eine Zusammenstellung der
Streitkräfte und Anführer des reorganisirten
Heeres, wie es nach den entscheidenden Parla-
ments - Beschlüssen vom 15. Februar und vom
3. April 1645 erschien u. s. f.
Gegen die Auffassung der allgemeinen hi-
storischen Ereignisse durch den Verfasser wird
man kaum irgendwie bedeutende Bedenken er-
heben. Mit Recht tritt er überfeinen Deutun-
gen entgegen, wie z. B. der, dass Cromwell,
während er mit dem König über eine Wieder-
herstellung seiner Würde unterhandelte, die
»Agitatoren« der Armee angestachelt habe ihre
radikalen Tendenzen zu verfolgen (p. 571), dass
Cromwell den König zu seiner Flucht nach der
Insel Wight verlockt habe, um ihn so sichrer
in’s Verderben zu stürzen (p. 576). Versuche
der Art einen falschen Pragmatismus in die
Erzählung einzuführen , gehen meistens auf
royaHstische Tendenz-Schriftstellerei zurück und
können nicht oft genug zurückgewiesen werden.
Denn die Epoche der Englischen Revolution
gehört zu denen, deren Geschichte vorwiegend
von ihren Gegnern geschrieben worden ist.
Und das Gewebe von parteilichen Mythen,
welches diese, vielfach Männer vom grössten
32
498 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
historiographischen Talent, geschickt zu flechten
gewusst haben, erstreckt sich oft genug noch
in die Darstellungen neuerer Zeiten. Es ist die
Frage , ob jener mythische Charakter auch der
bekannten Anekdote anbaftet, nach der Crom-
well und Ireton den verhängnisvollen Brief
Karls I. an die Königin, der in einen Sattel
eingenftht war, und durch den der Monarch
seine wahren Absichten enthüllte, auf etwas
abenteuerliche Weise auffiengen. Masson p. 572
verwirft sie schlechtweg (»its mythical charac-
ter is obvious«). Schon Forster (Statesmen of
the Commonwealth. Ed. New -York p. 467)
scheint ebenfalls einige leise Zweifel nicht un-
terdrücken zu können, während Guizot 11.271
die ganze Geschichte erzählt, ohne irgend ein
Bedenken zu äussern. In den Erläuterungen
zu den Memoiren von Sir John Berkley p. 231
— 240 (Collection des memoires relatifs ä la
revolution d’Angleterre IV) hat er die Frage
kritisch beleuchtet. Was mit dem Citat aus
Clarendon’s state papers bei Guizot gemeint ist,
ist mir zwar nicht Idar, indes möchte ich mich
doch, namentlich mit Bezug auf die Aeusserung
von Coke nicht entschliessen , die ganze Nach-
richt von einem aufgefangenen verrätherischen
Briefe des Königs einfach über Bord zu werfen.
Für alle die oft erzählten und nacherzählten
ausschmückenden Neben - Umstände dürfte es
freilich gewagt sein, volle Garantie zu über-
nehmen.
Es erscheint überhaupt auffällig, dass der
Verf. von den neueren Darstellungen Guizot
fast gar nicht heranzieht, dessen Werk, trotz
der vielfachen vorzüglichen Special - Arbeiten,
die wir in letzter Zeit erhalten haben, immer-
hin eine der beachtenswerthesten Gesammt-
I
r
i
Masson, The Life of John Milton. 499
Darstellungen bleibt. Ebenso werden Banke
und Forster (Statesmen of the Commonwealth)
fast gar nicht berücksichtigt. Wäre es ge-
schehe so fände sich vielleicht p. 559 Anm. nicht
die Bemerkung, dass die Historiker »mit Aus-
nahme Godwins« den »Vorschlägen der Armee«
(1647) nicht genügende Aufmerksamkeit ge-
schenkt hätten. Mit Entschiedenheit zu billi-
gen ist es, wenn p. 99 den Independenten die
! Ehre zugesprochen wird , den Grundsatz der
Gewissensfreiheit zuerst in voller Beinheit ge-
fasst zu haben. »Not to the Church of Eng-
land, nor to Scottish Presbyterianism, nor to
I English Puritanism at large, does the honour
of the first perception of the full principle of
Liberty of Conscience and its first assertion in
English speech belong. That honour has to
be assigned , I believe , to the Independents ge-
nerally, and to the Baptists in particular.« In
der That man braucht nur das Urtheil Baillies
in seinen »Letters« II 181« über Godwin zu
lesen: »Godwin is a bitter enemy to presbytery
and is openly for a full liberty of conscience to
all Sects, even Turks, Jews, Papists«, urn
eine Anschauung davon zu bekommen, wie un-
i erschrocken consequent die Ideen vorgeschritte-
ner Independenten über religiöse Freiheit wa-
ren. Und man hat Grund dies um so stärker
zu betonen, je deutlicher ein geistvoller Engli-
scher Schriftsteller, Tüll och, in jüngster Zeit
Miene gemacht hat in seinem Werke: »Bational
Theology and Christian Philosophy in England
I in the seventeenth century 1872« indirekt den
; Independenten jenen Buhm zu bestreiten und
mit Argumenten, die mir nicht stichhaltig er-
scheinen, die Haies, Chillingworth, Taylor und
ihre Gesinnungs-Genossen als »the true authors
32*
500 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 10.
of our modern religious liberty« darzustellen
(vgl. auch Masson p. 107. 126).
Was die Darstellungsweise Massons betrifft,
so zeigt sich auch in diesem Bande nicht selten
jene eigentümliche Manier, die wir früher ge-
glaubt haben auf Carlyle’sche Wurzel zurück-
führen zu dürfen. So lebendige Wirkung es
auch hervorbringt, so berührt es doch wieder
sehr eigen thümlich p. 177, nach Art der anti-
ken Autoren, eine Bede Cromwells eingeschoben
zu finden, von welcher der Verfasser selbst so-
fort sagt, sie sei »imaginär«, oder p. 293 eine
Bede zu lesen, welche die Vorsteher der Buch-
händler vor dem Hause der Lords halten, und
deren Form gleichfalls Erfindung des Histori-
kers ist. Eine ähnliche verständnisvoll erdich-
tete, aber immerhin erdichtete Ausschmückung
ist ein Gespräch Miltons mit seiner Frau (p. 47)
oder eine Unterhaltung Youngs mit ihm (p.
187 i. f.) oder dieürtheile des Publikums über
seine Ehe (p. 54).
Kommen wir nunmehr auf den biographi-
schen Theil selbst zu reden, so haben wir auch
hier wieder die umfassende Forschung und die
grosse Genauigkeit des Verf. zu bewundern.
Keine Urkunde, die auf den betreffenden Ab-
schnitt von Miltons Leben neues Licht werfen
kann, keine zeitgenössische Flugschrift, die mit
seinen persönlichen Schicksalen, mit seiner lite-
rarischen Thätigkeit in Zusammenhang steht, ist
ihm entgangen. Ein neu aufgefundenes, inter-
essantes Aktenstück ist das Testament des al-
ten Powell, Milton’s Schwiegervaters (p. 636).
Sehr schätzbar sind auch für diesen Theil die
Auszüge, welche Masson aus den Registern von
Stationers-Hall gemacht hat, namentlich die Ge-
schichte der »Areopagitica« und die mit ihr zu-
Masson, The Life of John Milton. 501
gammenhängende Geschichte der Censnr hat
ihm p. 268 Anlass dazu gegeben. Den parla-
mentarischen Verordnungen , welche sich mit
diesem Gegenstände beschäftigen, und die Masson
aufzählt, darf man noch eine hinzufugen, die
Masson, soviel ich bemerke, nicht erwähnt. Sie
befindet sich im Britischen Museum unter den
»King’s Pamphlets«, bezeichnet E. 93/i, zusam-
mengedruckt mit einer andern Ordonnanz des
Parlaments und fuhrt den Titel: »Also an Order
of the Commons' in Parliament, Prohibiting the
Printing or publishing of any lying Pamphlet
scandalous to His Majestie, or to the proceedings
of both or either Houses of Parliament . . . March
10.1642« (1643). Nach dieser Verordnung sollte
das »Committee for examinations or any of
them« die Macht haben an Orten, wo man Pres-
sen vermuthet, welche »scandalous and lying
libells« drucken, solche Pressen zu demoliren
und wegzunehmen, ebenso die Druck-Materialien
und die »Master-Printers and Workmen-Printersc
vor besagtes Committee, zu bringen. Dieses
oder eines seiner Mitglieder soll ferner Macht
haben diese Drucker gefangen zu setzen oder
alle Personen, welche öffentlich oder privatim
»any Pamphlets scandalous to His Majestie or
to the proceedings of both or either Houses of
Parliament« verkaufen oder die Durchsuchung
ihrer shops verweigern. Die Personen, welche
das Committee für irgendwelche der vorgenann-
ten Vergehen festsetzt, sollen solange sitzen,
bis die »parties employed for the apprehending
of the said Persons and seizing their Presses
and materials be satisfied for their paines
and charges«. Friedensrichter, »Captains, Offi-
cers and Constables« sollen beim Festnehmen
dieser Personen und beim Durchsuchen ihrer
502 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
Lager helfen. »And likewise all Justices of
peace, Officers and Constables are hereby re-
quired from time to time to apprehend snch
persons, as shall publish, vend or sell the
sayd Pamphlets«. Diese Ordonnanz, eine nicht
unwichtige Illustration zur Geschichte der Eng-
lischen Pressfreiheit, gehört unzweifelhaft zu
jenen »divers good orders . . . made by both
Houses of Parliament for suppressing the
late great abuses and frequent disorders in
printing« etc., auf die sich die Ordonnanz des
14. Juni 1643 (Masson p. 289) bezieht, welche
Miltons berühmteste Prosa-Schrift, die Schutz-
Schrift für die Freiheit der Presse, die »Areo-
pagitica« hervorrief. Indem der Verf. diese
Schrift analysirt, in ihrer Bedeutung würdigt
und mit grosser Belesenheit die Wirkungen er-
örtert , die sie im feindlichen Lager hatte,
kommt er auch auf jenen Censor zu sprechen,
der nach Toland ein Jahr nach dem Erscheinen
der Miltonseben Schrift durch sie zum Aufgeben
seines gehässigen Amtes bewogen sein soll. Es
wird ihm leicht zu beweisen, dass dieser Cen-
sor erst 1649 auf sein Ansuchen von seinem
Amte befreit wurde; was aber seinen Namen
betrifft, so scheint doch einiges Schwanken
darüber vorgekommen zu sein. Wenn ihn auch
die authentischen Urkunden »Mabbott« nennen,
so giebt ihm doch auch nicht Toland allein den
Namen: »Mabol«. In »Whitlockes Memorials«
tritt er zum 22. Mai 1649 gleichfalls unter dem
Namen »Mabbol« auf, während sich daselbst
im Register allerdings die Bezeichnung »Mabbold«
vorfindet.
Nächst der Schrift »Areopagitica« musste der
Milton’sche Traktat »On Education« im vorliegen-
den Bande eine ausführliche Besprechung finden.
Masson, The Life of John Milton. 503
Wir können uns mit dem, was Masson fiber
das interessante Werkchen sagt, vollkommen
einverstanden erklären und hätten nur ge-
wünscht, dass der innere Zusammenhang der
pädagogischen Ansichten Miltons, wie sie in
dieser Schrift niedergelegt sind, mit so mancher
frappanten Aeusserung seiner früheren im Col-
lege gehaltenen Reden etwas näher dargelegt
wäre« Ein solcher Zusammenhang existirt inso-
feme unläugbar, dass schon damals jene Bacon-
ßche auf das Studium der Natur gerichtete Ten-
denz zum Ausdruck kommt, welche Miltons
Traktat so hoch stellt. — Wenn Milton bei
seinem Studien-Plan für seine Schule die Eng-
lische Literatur auslässt, so möchte ich daraus
nicht mit Masson p. 243. 249 schliessen, dass
er sie in jenen Jahren gering geachtet habe.
Führt doch Masson selbst p. 284 das begeisterte
Lob an, das in den Areopagitica Edmund Spen-
ser gespendet wird. Aber etwas Anderes war
es die Schätze der heimischen Literatur hoch
halten und sie seinen Zöglingen vielleicht als
Belohnung ihres Fleisses in den Musse-Stunden
in die Hand geben, etwas Anderes ihrer Be-
trachtung in dem Rahmen des Lehrplans eine
Stelle anzuweisen, der mit strenger Arbeit ge-
füllt sein sollte. Bekanntlich hat Edward Phil-
lips uns etwas genauer darüber in Kenntnis
gesetzt, wie sein Onkel Milton bei Erziehung
seiner Schüler zu Werke gieng und namentlich,
welche Autoren in jeder Disciplin er mit ihnen
durchnahm. Aus ihrer Zahl sind der Geograph
»Pierre Davity« und der Mathematiker »Riff«,
welche Masson (s. p. 254) unbekannt geblieben
sind, leicht als bekannte Persönlichkeiten nach-
zuweisen. Der erste, »seigneur de Montmortin«
lebte nach der »Biographie universelle« 1573 —
504 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
1635 und gab u. A. 1626 ein Buch: »Etats et
empires du monde« heraus. Der Andere ist
identisch mit Peter Ryff aus Basel, der 1552 —
1629 lebte und u. A. 1600 Francof. »questiones
geometricas in Euclidis Elementa« herausgab (s.
Athenae Rauricae und Basler Chroni-
ken Bd. I S. 13). Warum Masson a. a, 0. den
»Christian Urstisius« zu einem Italiänischen
Mathematiker macht, weiss ich nicht. Es ist
der bekannte Basler Gelehrte, dessen »Elementa
arithmeticae« in Basel 1579 erschienen. — Wer
sich eingehender mit Miltons Schrift über die
Erziehung beschäftigt, hat von einigen bedeuten-
den Männern zu reden, deren Bestrebungen und
Persönlichkeit mit dieser Schrift und ihrem Autor
in enge Beziehung gesetzt werden müssen. Es
sind John Durie, Johann Arnos Comenius und
Samuel Hartlib, dem das Werkchen gewidmet
ist. Durie, den bekannten Schottischen Theologen,
der sich sein Leben lang in ironischen Bestre-
bungen für die Vereinigung der protestantischen
und reformirten Kirchen abgemüht hat, hatte
der Verf. schon früher (namentlich Bd. II. 368)
zu erwähnen. Wenn er daselbst in der Anm.
äusserte, »What Durie had been doing or where
he had been, between 1637 and 1641 I cannot
teil«, so hätte ein Blick auf den betr. Artikel
in Herzog’s Real-Encyclopädie , der aus gu-
ten Quellen schöpft, darüber belehren können,
dass Durie von 1635 — 38 in Schweden lebte,
daselbst ausgewiesen 1639 in Dänemark, darauf
in Braunschweig verweilte, bis er 1640 wieder
in England anlangte und 1641 nach dem Haag
gesandt wurde. — Im vorliegenden Bande tritt
Durie auf als Freund jenes Samuel Hartlib und
mit ihm zu gleichen idealistischen Plänen ver-
bunden. Schon längst hätte dieser Samuel Hart-
Masson, The Life of John Milton. 505
lib eine ausführliche Deutsche Biographie ver-
dient. Er war ein nach England verschlagener
Preusse, ein äusserst fruchtbarer Schriftsteller,
der sich fast auf allen Gebieten versucht bat,
immer, auch unter den grössten körperlichen
Leiden mit hochfliegenden wissenschaftlichen Ge-
danken beschäftigt und mit den grössten gelehr-
ten Celebritäten seinerzeit durch eine unglaub-
lich eifrige Korrespondenz in engster Verbin-
dung, ohne doch selbst irgend ein Werk von
dauernder Bedeutung hervorzubringen. Eine
nicht genügende Biographie des merkwürdigen
Idealisten, verfasst von H. Dircks (London
John Russell Smith 1865) macht den Wunsch
nur noch lebhafter, endlich seine Lebensbeschrei-
bung aus der Hand von James Crossley zu
erhalten, welche dieser ausgezeichnete Gelehrte
schon vor Jahren alS Anhang zu seinem Werke :
»The Diary and Correspondence of Dr. Johri
Worthington« (Chetham Society Vol. XIII. XXXVI)
versprochen hat. Bis dahin wird man auch
versparen dem Deutschen Publikum das sehr mit
Unrecht vergessene Charakterbild Hartlibs vor-
zuführen, zu dessen Skizzirung eben Worthingtons
Korrespondenz, der Briefwechsel von Sir Robert
Boyle, die Schätze des Britischen Museums*),
die Notizen, welche nun wieder Masson aus dem
State-Paper-Office etc. liefert, ein überreiches
*) Vor Allem die äusserst seltenen Schriften Hart-
libs sind dort in grosser Vollständigkeit vertreten. In-
dem ich die Auszüge, die ich mir daselbst aus ihnen ge-
macht habe, mit Massons Notizen vergleiche, fallt mir
auf, dass er p. 320 das Pamphlet: »The Copy of A Letter
Written to Mr. Alexander Henderson London Printed
in the Yeare 1643« mit Thomasons Aufschrift »Feb. 6.
1642« bezeichnet sein lässt. In dem Exemplar, das ich
gesehn habe (E. 87) steht, wenn meine Notiz nicht irrig
ist, deutlich: »Feb. first 1642«.
506 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 16.
Material liefern. — Hier genüge nur die Be*
merkung, dass Hartlib es war, der mehrere
Schriften des Amos Comenius, dessen Theorien
ihn ganz gewonnen hatten, zuerst in England
einführte, dass er in brieflichen, freundschaft-
lichen Verkehr mit ihm trat und ihn 1641 so-
gar bewog nach England zu kommen, wo es
ihm damals möglich schien, mit Unterstützung
des Parlaments den grossen Traum der Errich-
tung eines »Pansophischen Kollegiums« zu ver-
wirklichen. Man weiss, dass diese Pläne schei-
terten, aber bedauerlich bleibt trotzdem, dass es
bis jetzt nicht gelungen ist die Spuren jener
Unterhandlungen zwischen dem Parlament und
Comenius aufzufinden, von welchen dieser selbst
in der autobiographischen Einleitung des zwei-
ten Theiles der »Opera didactica omnia« (1657)
redet. — Für die biographische ? Skizze, die
Masson von dem grossen pädagogischen Refor-
mator entwirft, hätten ihm einige Arbeiten gute
Dienste leisten können, die er in der Literatur-
Uebersicht p. 203 Anm. nicht angiebt. Neben
Bayle, Raumer, Quick, Wood, die er
nennt, wäre vor Allen zu nennen die auf wich-
tigem urkundlichen Material beruhende Arbeit
von Gindely: Ueber des J. A. Comenius Le-
ben und Wirksamkeit in der Fremde (Sitzungs-
berichte der phil. hist. Klasse der Wiener Aka-
demie 1855), ferner die zum Andenken an den
zweihundertjährigen Todestag des Comenius er-
schienenen Gelegenheitsschriften : Das Leben
des Comenius von Fr. J. Zoubek (Zivot Jana
Amosa Komensköho. V. Praze 1871 mit einer
Uebersicht über die Schriften des Mannes) L.
W. Seyffarth: J. A. Comenius Leipzig 1871,
Pappenheim: A. Comenius Berlin 1871.
Für Miltons Biographie ist das Eingreifen
Masson, The Life of John Milton. 507
Ton Comenius insofern wichtig, als dessen päda-
gogische Ansichten unzweifelhaft durch das Me-
dium Hartlibs seinem poetischen Freunde über-
mittelt und, wie man nicht läugnen kann, in
der Schrift über die Erziehung eigenartig ver-
arbeitet worden sind. Sie berühren sich Beide
in Vielem ; anzunehmen, dass sie sich persönlich
gekannt haben, werden wir mit Masson p. 235
uns nicht für berechtigt halten. — Ehe wir
diesen Abschnitt des vorliegenden Werkes ver-
lassen, wollen wir nur noch bemerken, dass es
sehr wünschenswerth gewesen wäre, wenn der
Verf. ihn mit einer allgemeinen Schilderung des
Englischen Erziehungswesens eingeleitet und sich
nicht mit den kurzen Andeutungen p. 222 be-
gnügt hätte. Erst auf diesem Hintergründe
hätten sich die Beformbestrebungen von Hart-
lib, Comenius, Milton etc. in voller Klarheit ab-
gehoben.
Neben der Schrift über die Freiheit der
Presse und die Erziehung tritt in diesem Bande
als dritte Gruppe aus der literarischen Thätig-
keit Miltons in den Jahren 1643—1649 jene
Reihe berufener Flugschriften auf, deren Thema
die Frage der Ehescheidung bildet. Man weiss,
dass die Verbindung des Dichters selbst mit
Mary Powell, die einen so wenig glücklichen
Anfang nahm, ihn veranlasst hat, sich der Be-
handlung dieser Frage zuzuwenden. Zu keinem
anderen Resultate gelangt Masson, ja seine fei-
nen kritischen Bemerkungen p. 42 — 47 machen
es sogar wahrscheinlich, dass nicht erst die be-
harrliche Weigerung der jung Vermählten aus
dem väterlichen, lebenslustigen Hause in die
stille Gelehrten- Wohnung des Gemahls zurück-
zukehren diesem die Feder in die Hand gedrückt
hat, sondern dass er schon vor ihrer Abreise,
508 Gott. gel. Anz. 1374. Stück 16.
in den ersten Wochen der Ehe eine Frage
durchdacht hat, die allerdings gemeiniglich kein
Gegenstand für die Gedanken der Flitterwochen
zu sein pflegt.
Es ist nicht möglich, hier näher auf die Ge-
schichte der literarischen Fehden einzugehn, die
sich über die kühnen Forderungen Miltons ent-
spannen oder zu berichten, in welcher Weise
die Versöhnung der Gatten herbeigeführt wurde,
und wie sich nun sein häusliches Leben gestal-
tete. Genüge es zu sagen, dass auch diese
Punkte vom Verf. mit grösster Klarheit und
Vollständigkeit erörtert werden.
Auch auf die wenigen poetischen Erzeugnisse
des Dichters, welche dieser Epoche angehören,
die Geschichte der ersten Ausgabe seiner Ge-
dichte etc. will ich nicht näher eingehen. —
Ein Mangel scheint mir zu sein, dass Masson
der apokryphen Miltonschen Werke gar nicht
gedenkt, welche den von ihm behandelten Jah-
ren angehören. Zwar wird man ihm nicht eben
sehr verübeln, dass er jenes Gedicht : »The Epi-
taph« mit Stillschweigen übergeht, dessen Auf-
findung durch John Morley so viel Staub in
der Englischen Presse aufgewirbelt hatte. Mag
auch Morley noch in seinem Sammelwerke:
»The King and the Commons Cavalier and Pu-
ritan Song« (London 1869) p. XXII — XLV da-
für eintreten, dass das Gedicht wie die Hand-
schrift Milton angehöre, die Thatsache, dass die
Unterschrift gar nicht »J. M.« lautet, wiegt
schwerer, als die Gründe, welche Morley für
seine Ansicht vorbringt (vgl. meine Bemerkungen
in v. Sy bei: histor. Zs. Bd. XXVI p. 405 XXVII
p. 210). Erwähnenswerth wäre die Kontroverse
immerhin gewesen. Noch unerlässlicher dürfte
es sein, ein Wort über die prosaischen Schriften
zu sagen, die man fälschlich Milton zugeschrie-
Masson, The Life of John Milton. 509
ben hat, und mit denen sich schon Todd in
seinem Leben Miltons (in Vol. I der »Poetical
'Works« dritte Ausgabe p. 221 ff.) zu beschäftig
gen hatte.
Endlich bleibt nur noch übrig unser lebhaf-
tes Bedauern darüber auszusprechen, dass der
Verf. nur beiläufig in einer Note zu p. 45 von
jenem Buchhändler George Thomason spricht,
der als Sammler von vielen tausenden jetzt im
Britischen Museum befindlichen Pamphleten aus
der Zeit der Revolution und des Bürgerkrieges
schon in der Anzeige von Massons zweitem
Bande (G. G. A. 1871 S. 1581) zu erwähnen
war. Was wir bis jetzt über Thomason und
seine berühmte Sammlung an kritischen Anga-
ben besitzen, ist ungenügend, auch die Angaben,
die Edwards noch neuerdings in seinem
Werke: Lives of the founders of the British
Museum 1870 I 331 — 333 gemacht hat, ent-
sprechen der Bedeutung keineswegs , welche
diese Sammlung als historische Quelle für sich
in Anspruch nehmen kann. Sie ist um so
grösser, da sich bekanntlich auf sehr vielen
Stücken dieser Sammlung handschriftliche No-
tizen befinden, die sehr oft über die Verfasser
der Flugschriften und die genauere Zeit ihres
Erscheinens höchst erwünschte Auskunft geben.
Ohne eine Untersuchung der Handschrift Tho-
masons, seiner literarischen Verbindungen und
des Verfahrens, welches er bei Anlegung seiner
Sammlung befolgte, wird es immer nur vom
Zufall abhangen, inwiefern man von diesen No-
tizen einen richtigen oder falschen Gebrauch
macht. Masson scheint mir z. B. durch eine
solche Ms-Note, die sich auf einem Exemplar
der ersten Ausgabe von Miltons Gedichten (Br.
Museum King’s Pamphlets E. 1126) befindet,
S. 451 zu einem falschen Baisonnement ver-
512 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 16.
unter dem Einfluss seiner sophistisch-prosaischen
Bildung steht, sondern auch Sophokles sich in
verhältnissmässig häufigem Gebrauch von (ssvd c.
Gen. der Prosa nähert. So tritt auch erst das
häufige iksva c. Gen. nach Verba, die mit civ
zusammengesetzt sind, ins recht Licht (vgl. z. B.
Foss comment. Theophr. 2 p. 52). Auch sonst
enthält Mommsens Abhandlung feine und neue Be-
obachtungen über den Wandel im Gebrauch der |
Präpositionen und der Kasus, zu denen sie tre-
ten, dass der Gebrauch im Ganzen zunimmt,
dass »das Vor walten des Dativs bei Präpositio-
nen der älteren und der poetischen, des Accu-
sative der jüngeren Sprache und der Prosa, das
des Genetivs den rhetorisch-philosophischen Ele-
menten in Poesie und Prosa angehöre« (S. 15).
Auch die Beobachtung überrascht, dass sich iv
bei Dichtern im Ganzen viel häufiger als st $, in
attischer Prosa aber sig nur bei Xenophon häu-
figer als iv findet, im übrigen iv obwol nicht
so wie bei den Dichtern, aber immer noch über-
wiegt, dass ferner etwa von Isokrates an in
die Stelle von iv und sig immer häufiger nqog
mit Acc. und xatd mit Acc. eintreten. Ref.
führt zur Bestätigung an, dass Lykurg in der
Leocratea 89 mal I?, 62 mal sig , 51 mal
mit Accus, gebraucht hat. — §. 7 — 10 erörtern
sodann (S. 28 — 49) den homerischen Gebrauch
von psn t c. Dat., pstä c. Gen., <ft)r und dpa
c. Dat. §.11 fügt Bemerkungen über den Ge-
brauch der nachkommenden Epiker hinzu.
Diese wenigen Worte werden genügen die
Wichtigkeit dieser Untersuchungen zu zeigen und
den lebhaften Wunsch zu rechtfertigen, dass der
Verfasser Zeit und Muth finde sein verheissenes
ausführliches Werk über die Geschichte der
Präpositionen in der griechischen Literatur zu
vollenden. H. S.
513
CüMtingische
gelehrte Anzeigen
' unter der Aufsicht
der Eonigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stttek 17. 29. April 1874.
Das Wiener Stadtrechts* oder Weich-
bild bueh. Heransgegeben von Dr. Heinrich .
Maria Schuster, Docent an der k. k. Univer-
sität zu Wien. Gedruckt mit Subvention der
kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Wien,
Verlag der G. J. Manz’schen Buchhandlung.
1873. VIII und 166 SS. in 8.
Das Wiener Stadtrecht ist ausgezeichnet
durch seinen Reichthum an Formen. Privileg,
Statut, Rechtsbuch, alle drei Gestalten treten
hier nach, zum Theil neben einander auf.
Den Privilegien gehört das 18. Jahrhun-
dert. Sie beginnen mit einer ausführlichen, alle
Rechtsgebiete berührenden Urkunde Herzog Leo-
polds, des vorletzten der Babenberger, vom 18.
Octbr. 1221. Sie wiederholt vielfach wörtlich
die Rechtssatzungen, welche derselbe Herzog
1212 der Stadt Ens gegeben hatte, unterschei-
det sich aber characteristisch von ihrer Vorlage
dadnrch, dass sie diese mit römisch-rechtlichen
Wendungen an verschiedenen Stellen durchwoben
bat. So wenn eie gleich im Eingänge, wo das
33
514 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
Enser Stadtrecht einfach »vocabitur ad judicium
tribus vicibus« hat, »a judice civitatis tribus
edictis vel uno pro omnibus peremptorio citetur« ;
an die Stelle setzt, oder wenn sie da, wo von
Nothwehr die Rede ist, nicht verabsäumt, das
vim vi repellendo einzuschieben, oder die hand-
hafte That, welche das Enser Stadtrecht mit
den Worten: si in opere et manufacto depre-
hensus fuerit umschreibt, durch: si homicidium
notorium fuerit wiedergiebt. Auch die Auf-
nahme einer Anzahl deutscher Glossen ist der
Wiener Urkunde verglichen, mit ihrer Vorlage
eigen. Diesem ältesten Wiener Privileg, das
dann wieder andern Städten zum Muster gedient
hat, ist eine lange Reihe von Freiheitsbriefen
österreichischer Herzoge und deutscher Könige
gefolgt. Seitdem das Wiener Privileg zuerst
von Hormayr in den Wiener Jahrb. der Lite-
ratur Bd. 39 (1827) vollständig veröffentlicht
worden war, ist es noch oft wieder abgedruckt
worden, so von Gaupp und von Gengier in ih-
ren bekannten Sammelwerken der deutschen
Stadtrechte, von v. Meiller in der Abhandlung:
Oesterreichische Stadtrechte und Satzungen aus
der Zeit der Babenberger (Archiv für Kunde
österr. Geschichtsquellen X 1853) und in einem
mir vorliegenden Hefte von 68 Seiten ohne Ti-
tel (gedruckt bei J. P. Sollingers Wittwe), das
wohl auf denselben Herausgeber zurückgeht,
ohne aber ein Sonderabdruck der vorhergenann-
ten Publication zu sein. In den beiden letz-
tem Veröffentlichungen sind zugleich einige der
nachfolgenden Wiener Privilegien mitgetheilt.
Die Statuten Wiens beginnen mit dem 14.
Jahrhundert häufiger zu werden. Eine ältere
Sammlung und Verarbeitung derselben zu einem
Statutenbuche ist nicht auf uns gekommen,
Schuster, D. Wien. Stadtr.- o. Weichbildbuch. 515
ebenso wenig ist neuerdings eine Sammlung und
Veröffentlichung in einem Urkundenbuche unter-
nommen. Das Stadtbuch, dessen Anlage im J.
1320 Herzog Friedrich der Schöne gestattete,
ist uns zwar erhalten, enthält aber in den Mauth-
Zoll- und Marktbestimmungen, welche Bauch,
Scriptores rerum Aust. III 17 ff. daraus mit-
theilt, nicht blos auf städtische Selbstgesetz-
gebung zurückgehendes Hecht.
Eine dritte Form, in der Wiener Stadtrecht
auftritt, ist die des Rechtsbuches, und ihr
ist die grösste litterarische Aufmerksamkeit zu
Theil geworden. Sie hat das früher als ih-
rem für die Geschichte des Privatrechts reichen
Inhalte dem Umstande zu danken gehabt, dass
sie häufig in den Codices mit dem Schwaben-
Spiegel verbunden vorkommt; dann auch der
grossen Zahl von Handschriften, in der sie nach
und nach aufgefunden wurde. Schon zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts berichtete J. J. Moser
in einer seiner ersten Schriften von einem im
Schottenkloster aufbewahrten Ms., das er bei
seinem Aufenthalte in Wien während des Win-
ters 1721 auf 1722 kennen gelernt hatte. Seine
Bibliotheca manuscriptorum (Norimb. 1722) hat
es fast ausschliesslich mit diesem Codex zu
thun, dem Wiener Stadtrecht, das er enthält,
widmet sie allerdings nur wenige Zeilen, ver-
weilt dagegen ausführlich bei dem darauf fol-
genden Schwäbischen Land- und Lehnrecht,
collationirt dasselbe mit den Ausgaben Bürger-
meisters und Schilters und theilt endlich eine
Anzahl der im Codex enthaltenen Urkunden
österreichischer Herzoge mit. Einige dreissig
Jahre später erwähnte Senckenberg in seinen
Gedanken von dem jederzeit lebhaften Gebrauch
des uralten deutschen Hechts (1759) zwei Codi-
33*
516 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
cos des Wiener Stadtarchivs, welche den Schwa-
benspiegel mit dem Wiener Stadtrecht ver-
binden. Gegen Ende des Jahrhunderts gab
dann Adrian Rauch in den Herum Austriacarum
Scriptores tom. UI (Vindob. 1794) neben an-
dern Urkunden zur Wiener Recfatsgeschichte
auch einen Abdruck dieser dritten Form des
Wiener Stadtrechts ex codice Prandaviano (Ho-
mey er nr. 570).
An die Aeusserung Senckenbergs knüpfte
hundert Jahre später Siegel an und beschrieb
in einer wenige Blätter zählenden, zwei Rechts-
handschriften des Wiener Stadtarchivs (Wien,
Sylvester 1858) betitelten Abhandlung genau
den Inhalt jener beiden Codices, der Nr. 68b
und 686 des Homeyerschen Verzeichnisses der
Rechtsbücher (1856), das im Ganzen von zehn
Handschriften des Wiener Stadtrechts Nachricht
gab, wenn es bei manchen auch zweifelhaft war,
ob sie noch existirten. 1861 beschrieb Franz
Stark eine neue, nur durch die Anführung in
Pertz Archiv X 625 (nicht Göttinger Gel. Anz.,
wie es S. 42 der vorliegenden Schrift heisst)
bekannte Handschrift der Grazer Universitäts-
bibliothek in den Sitzungsberichten der kais.
Akademie der Wissenschaften XXXVI, 86 ff.,
verglich sie mit dem Abdrucke bei Rauch, wies
die dem Schwabenspiegel entlehnten Stellen nach
und theilte die bei Rauch fehlenden zehn Ca-
pitel mit. Bald darauf fanden sich in Graz,
diesmal in der Joanneumsbibliothek noch zwei
andere Handschriften des Rechtsbuches, über
welche Sandhaas in den angef. Sitzungsberich-
ten vom J. 1868 XLI 368 ff. referirte.
Gestützt auf diese Vorarbeiten, fasste der
Herausgeber auf Anregung seines Lehrers, Prof.
Siegel, den Plan zu einer neuen Edition des
Schuster, D. Wien. Stadtr.- o. Weichbildbuch. 517
Wiener Stadtrechtsbuches. Es setzt seinen Eifer
und seine Umsicht sofort ins beste Licht, wenn
er die Einleitung mit der Bemerkung eröffnen
kann, dass ihm 23 Handschriften des Rechts-
buches bekannt geworden sind. Es finden sich
darunter besonders werthvolle, welche die bis-
her erwachsene Litteratur noch gar nicht be-
rücksichtigt hatte; so war z. B. die Handschrift
der Wiener Hofbibliothek, welche ihm den
Grundtext (Aa) geliefert hat, zwar bei Homeyer
unter Nr. 684 auigeführt, aber ohne die Angabe,
dass sie ein Wiener Stadtrecht enthalte. An
neuen Hss. haben 6ich ausserdem noch drei
in der Wiener Hofbibliothek (Ba, Cc, Fa), je
zwei in Nikolsburg (Cd, F'e) und im Kloster
Seitenstetten (Cc, F'c), je eine in Linz (Bc) und
in Pesth (Fd); ausserhalb Oesterreichs je eine
in Lübeck (Bd), München (Ca) und in Berlin
(Cb) gefunden. Auf mehrere von diesen, auf die
Lübecker und auf die Hs. Fa der Wiener Hof-
bibliothek, war der Herausgeber durch Hasen-
öhrls Ausgabe des österreichischen Landesrechts
(Wien 1867) hingewiesen worden, da diese Co-
dices das Wiener Stadtrechtsbuch und das
österreichische Landrecht in sich vereinigen.
Diese neuen Funde zusammen mit den drei
Grazer und den zehn bei Homeyer verzeichne-
ten Handschriften würden, allerdings die Summe
von 26 Mss. ergeben; allein zwei von den Num-
mern des Homeyerschen Verzeichnisses, Nr. 571
und Nr. 687, letztere die von J. J. Moser be-
schriebene Handschrift, sind verschollen, eine
bei Homeyer aufgeführte Berliner Hs. Nr. 39
finde ich in der gegenwärtigen Ausgabe nirgend
erwähnt, die von ihr benutzte Berliner Hs. (Cb)
ist nicht mit jener identisch, inzwischen ist
eine neue Handschrift des Wiener, Stadtrechts-
518 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 17.
buches, welche ausserdem das Landrecht des
Schwabenspiegels, das österreichische Landrecht
und zahlreiche österreichische Statute und Pri-
vilegien enthält, in der Bibliothek des germani-
schen Museums aufgefunden und ausführlich von
Prof. Gengier im Anzeiger für Kunde der deut-
schen Vorzeit 1873 Juni Nr. 6 beschrieben
worden.
An den ersten Abschnitt der Einleitung, der
der Beschreibung der Hss. gewidmet ist, reiht
sich ein Synopsis und Textentwicklung über-
schriebener Theil, der es wahrscheinlich macht,
dass das Wiener Stadtrechtsbuch, wie es nun-
mehr vorliegt, das Resultat von mindestens vier
Redactionen ist. Dieselben gehen auf verschie-
dene Verfasser zurück, da die in Handschriften
älterer Redaction durch Verheften . der Lagen
entstandene Unordnung in jüngern beibehalten
ist. Den Codex, welchen der Herausgeber nach
seiner Textgestaltung für den ältesten erachtet,
den der Wiener Hofbibliothek will (Homeyer 684)
er aus paläographischen Gründen, die sich ihm
besonders aus einer Vergleichung mit Wiener
städtischen Urkunden ergeben, in das 14. Jahr-
hundert setzen. Das widerspricht allerdings der
bisher herrschenden Ansicht, nach welcher das
Wiener Stadtrechtsbuch dem folgenden Jahr-
hundert angehört, bestimmter in das Jahr 1435
zu setzen ist. Doch hat diese Ansicht ihren
Halt blos an dem Datum des Rauchschen Ab-
druckes, dessen Vorlage zu den verschollenen
Hss. gehört (Horn. n. 570), und eines der bei-
den von Siegel beschriebenen Codices des Wie-
ner Stadtarchivs (Ca, Horn. n. 686) ; und schon
früher sind Stimmen laut geworden, welche das
Rechtsbuch nach seinem Inhalt in eine ältere
Zeit zu versetzen geneigt waren* So meinte
Schuster, D. Wien. Stadtr.o. Weichbildbuch. 519
Weiske bei Gelegenheit einer Besprechung des
von Rössler herausgegebenen Brünner Schöffen-
buches aus der Mitte des 14. Jahrhunderts auch
die Entstehung des Wiener Stadtrechtsbuchs in
diese Zeit verlegen zu können (Ztschr. f. deut-
sches Recht XIV, 1853). Auch Sandhaas a. a. 0.
erklärte sich für eine Abfassung im 14. Jahrh.,
wenngleich aus Gründen anderer, vorwiegend
äusserer Art: eine der Grazer Hss. (F'a) trägt
das Datum 1429 und stellt sich, verglichen mit
den übrigen, als Repräsentantin einer der spä-
tem RecenBionen dar. Unser Herausgeber unter-
sucht eingehend die Frage nach dem Alter sei-
ner Quelle. Sein Resultat, das er aus einer
Vergleichung der Bestimmungen des Wiener
Stadtrechtsbuchs mit herzoglichen Privilegien
und Verordnungen vornehmlich des 14. Jahr-
hunderts gewinnt, lässt sich dahin zusammen-
fassen, dass die Entstehung zwischen die End-
punkte 1276 und 1360 fallt. Den terminus a
quo liefert die Erwähnung eines von König Ru-
dolf, der erst 1276 nach Wien kam, den Wie-
nern bestätigten Rechts in Art. 90. Den terminus
ad quem die Verordnung Herzog Rudolf IV. vom
Jahre 1360, welche bestimmt, dass die Auflas-
sung oder, wie sie hier heisst »Wandlung und
vertigung« städtischer Grundstücke vor dem
Bürgermeister und dem Rath der Stadt Wien
geschehen soll , während bis dahin solche durch
die Grundherren vorgenommen war. Damit
trifft es denn zusammen, dass von dem Jahre
1368 ab Grundbücher Seitens des Wiener Raths
geführt werden, von denen sich die sog. Kauf-
bücher seit jenem Jahre, die Satzbücher seit
1388 erhalten haben. Weder das Institut der
öffentlichen Bücher noch die Auflassung vor
dem Rathe, sondern nur die »in gruntherren
520 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
wise« vorgenoflftnene Fertigung ist dem Stadt-
rechtsbuche bekannt. Der Herausgeber glaubt
den terminus ad quem noch weiter zurück, so-
gar bis zum Jahre 1296 verlegen zu können.
Doch vermag ich ihm darin nicht zu folgen;
das Argument, das er aus dem im Stadtrechts-
buche vorkommenden Volljährigkeitstermine von
14 resp. 12 Jahren entnimmt, ist nicht stich-
haltig. Dieser Termin kann dem Verfasser sehr
wohl aus dem römischen Rechte bekannt ge-
worden sein, zumal die eine Stelle, die den Ter-
min der 14 Jahre erwähnt, Art. 109 aus dem
Schwabenspiegel Lassberg 13. entlehnt ist.
Das Vorkommen einzelner subjectiven An-
nahmen kann nicht weiter auffallen, da wir es
hier entschieden mit einer blossen Privatarbeit
zu thun haben. Das bezeugt zunächst der Ein-
gang, der durch zwei Prologe gebildet wird.
Der Verfasser spricht im ersten seinen Vorsatz
aus, »weltlichen recht ze reden und ze schrei-
ben« den Leuten zu Nutz und Frommen, »swenne
si durch not und auf recht chömen für gericht«.
Im zweiten Prolog wendet er sich mit seinen
Ermahnungen an den Richter, sich vor Unrech-
ter Frage, an den Gedingen, sich vor Unrechter
Folge, an den Vorsprechen, sich vor falschem
Urtheil zu hüten, worauf dann eine ausführliche
Auseinandersetzung aller der Anforderungen
folgt, die an einen Vorsprechen zu stellen sind.
Die Thätigkeit des Vorsprechen besteht nicht
bloss in »reden« oder »sprechen«, sondern auch
in »ertailen«. Dabei , ist nicht blos an Erthei-
len von Rath, sondern auch an Urtheilen, Ur-
theilsfinden zu denken, denn die Vorsprechen
scheinen in Wien, wie in andern Orten auch zu
dieser Function herangezogen zu sein, woraus es
sich denn auch erklären würde, dass die Thätig-
Schuster, D. Wien* Stadtr.- o. Weichbildbuch. 52 1
keit der Gedingen sich auf Folgen beschränkt«
Nach der mehrfachen Berücksichtigung, die das
Rechtsbuch dem Amt der Vorsprechen zu Theil
werden lässt, ist die Ansicht des Herausgebers
nicht unwahrscheinlich, dass wir den Verfasser
der Quelle unter den Männern jenes Standes zu
suchen haben.
Oer Character des Rechtsbuches wird weiter
darin sichtbar, dass der Verfasser nicht selten
in die im Ganzen objective Darstellung des
Rechtsstoffes mit seinem Ich tritt, die unpersön-
liche Redeweise mit der persönlichen vertauscht
und thatsächliche aus der Erfahrung geschöpfte
Bemerkungen einflicht. Für beides mag die
Stelle als Beispiel dienen, in der er von dem
Privileg der Juden spricht, geraubte oder ge-
stohlne Pfänder nur gegen Ersatz des Pfand-
schillings herauszugeben und zwar nach Capital
und Zins, »es wellen die juden etleich denn ein
bescheidenhait tuen, (eine Nachsicht üben), der
lützel an euch juden gegen uns christen ist«
(art. 79). Dasselbe Privileg giebt ihm weiter-
hin Anlass, seine Kritik an dem bestehenden
Recht zu üben; es dünkt ihn »nicht als recht-
leich und recht wär, wann die verfluchten juden
vil pezzer recht habent gegen den christen denn
die christen gegen den Juden« (art. 145). Es
werden auch wohl gute Lehren an die Darstel-
lung eines Rechtssatzes geknüpft , wie in
Art. 120: schüllen die perch therren und die
purchtherren daz wizzen , das solich recht
erfunden sei auf gnad, daz man einen man
so schier nicht schaiden schol von seiner
geweren, wann er doch pezzer recht ze sei-
nem erib hat wann ein frömder. Die Rechts-
sätze sind mitunter in Form einer Sentenz,
eines Rechtssprichworts ausgedrückt, z. B. Art.
522 Gott. gel. Anz. 1874. StSck 17,
29 wann gelub (Verträge) prechent alle recht,
Art. 28 wann der recht gelter ist der nagst erb
zu aines ieglichen mannes guet, der gelten sol,
was zugleich als ein Beispiel der Rechtssprache
dienen möge, denn hier ist in dem nemlichen
Satze gelter erst in dem Sinne von Gläubiger
gebraucht, während gelten am Schluss auf den
Schuldner zu beziehen ist; oder Art. 44, wo die
den Mietvertrag aufhebende vis major charac-
terisirt wird: gewalt und raub, urleug und feur
das nimpt sich selber aus, wann daz dreibet
den wiert aus seinem haus mit sampt seinen
gesten. Auch gefällt sich der Verf. wohl ein-
mal in lehrhaft vorgetragener Casuistik, wie in
Art. 93, wo es ihm denn passirt, dass er über
der künstlichen Gruppirung vergisst, dass er in
dem vorgebenden Artikel die legitimirende Kraft
der Ehe (art. 92: so welle wir daz) zugestanden
hat, die er hier bestreitet.
Wie es zum Character eines Rechtsbuches
gehört , dass es trotz seines unbeglaubigten,
privaten Ursprungs Anwendung im Leben wie
eine wahre Rechtsquelle gefunden hat, so ist es
auch von diesem Rechtsbuch zu behaupten, wenn
wir gleich kein weiteres Zeugniss dafür besitzen,
als die grosse Zahl der Handschriften, in denen
es uns überliefert ist. Eine der jetzt in Graz
befindlichen Handschriften, die früher in Juden-
burg aufbewahrt wurde (FT)), ist auf diese
letztere Stadt umgeschrieben und zwar einfach
dadurch, dass überall, wo Wien vorkommt, Ju-
denburg an die Stelle gesetzt wurde (Sandhaas
a. a. 0. S. 369). Die Hs. Cc der Wiener Hof-
bibliothek gehörte früher dem Collegium von
St. Nicolai kraft einer Schenkung des Wiener
Bischofs Faber vom Jahre 1540 »ut ibi in per-
petuum studentibus usui sit«.
Schuster, D. Wien. Stadtr.- o. Weichbildbach. 523
Treffen nan auch alle für den Begriff eines
Rechtsbuches aufzustellenden Merkmale zu, so
kann ich mich doch nicht damit befreunden,
dass der Herausgeber eine Bezeichnung des
Wiener Stadtrechtsbuches als Weichbildbuch,
die, soviel ich sehe, auf Siegel zurückgeht, so-
gar in den Titel seiner Ausgabe aufnimmt;
denn einmal ist das Wort Weichbild, Weich-
bildrecht süddeutschen Quellen ganz unbekannt
und zweitens ist man doch nicht berechtigt, weil
das Hauptbeispiel eines Rechtsbuches aus dem
Gebiete des Stadtrechts das sächsische Weich-
bild ist, alle Rechtsbücher, die stadtrechtlichen
Stoff verarbeiten, Weichbildbücher zu nennen.
Die Darstellung des Rechtsbuches ist durch-
gehends selbständig. Die Erfahrung hat dem
Verfasser den Stoff an die Hand gegeben und
es ist vorzugsweise der gewohnheitsrechtliche
Bestandteil des Statutarrechts, an den er sich
hält. Auf einzelne Rathsbeschlüsse und Privi-
legien ist wohl hingewiesen, aber eine Benutzung
derselben hat doch nicht stattgefunden. Eine
eigenthümliche Stellung nehmen eine Anzahl von
Artikeln ein , die dem Schwabenspiegel entlehnt
sind. Sie bilden eine zusammenhängende Gruppe,
nemlich Artikel 95 — 1 09 init. der Ausgabe, handeln
von Leibgeding, Morgengabe und Erbrecht und
sind an Bestimmungen des Wiener Stadtrechts
angereiht, die von ehelichem Güterrecht und
Erbrecht handeln. Ich finde, der Herausgeber
hat auf diesen interessanten Bestandteil seiner
Quelle nicht die gebührende Rücksicht genom-
men. Er bespricht ihn zwar in der Einleitung
S. 38, doch ist z. B. nirgends eine Nachweisung
gegeben, welche Artikel des Schwabenspiegels
benutzt sind, welche Handschriftenrecension da-
524 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
bei etwa za Grunde gelegt wurde, Untersuchun-
gen, die möglicherweise auch für die Altersbe-
stimmung, die der Herausgeber für das Wiener
Stadtrechtsbuch unternommen hat, Ertrag ge-
liefert hätten.
Der Verfasser hat seinen Stoff in anspre-
chender systematischer Ordnung, wie die Ein-
leitung S. 40 nacbweist, abgehandelt, doch
scheint er mit seinem Plane nicht ganz zu Ende
gekommen zu sein, denn es ist mehrfach auf
spätere Erörterung eines Gegenstandes verwie-
sen, ohne dass eine solche in unsem Handschrif-
ten anzutreffen ist: so im drittletzten Artikel
auf das »capitel von widertreiben«, im Art. 145
»das vindet ir hernach geschriben.an der juden
hantvest«. Man wird bei einem Ausdruck wie
dem letztem an eine vom Verfasser beabsich-
sichtigte Aufnahme eines der Judenprivilegien
zu denken haben, vielleicht spedell der Urkunde
Herzog Friedrich II. von 1244 (v. Meiller, Ar-
chiv S. 146; Stobbe, Juden S. 297), da diese
einen genau zutreffenden Passus enthält, denn
wenn auch die Bezeichnung hantfest in einem
der von Siegel beschriebenen Codices für das
Städtrechtsbuch als Ganzes gebraucht wird, so
wurde sie doch schwerlich auch auf ein einzel-
nes Capitel desselben angewandt.
Der Inhalt des Rechtsbuches gehört fast aus-
schliesslich dem Gebiete des Privatrechts an.
Für dieses bildet es eine reiche Quelle der Be-
lehrung, und man schuldet dem Herausgeber,
der sie uns erschlossen, den besten Dank. Auch
um die leichtere Benutzung derselben hat er
sich verdient gemacht, indem er nach dem Mu-
ster der Homeyerschen Ausgaben über die ein-
zelnen Artikel deutsche Inhaltsangaben setzte,
Parallelstellen aus altern Wiener Stadtrechten
Schus ter, D. Wien. Stadtr.- o. Weichbildbuch, 525
und Privilegien und einzelne, neuere Werke, wie
Stobbes V ertragsrecht , Schröders eheliches Gü-
terrecht, wo sie einen Artikel oder dessen In-
halt zu erläutern geeignet sind, citirte.
Als Beilagen hat der Herausgeber eine An-
zahl ungedruckter Urkunden des Wiener Stadt-
archivs angehängt, wie er solche auch in der
Untersuchung der Entstehungszeit des Stadt-
rechtsbuches (S. 30 ff.) herangezogen hat. Den
Nutzen, den die Wahrüng der urkundlichen
Schreibung d. h. des v und u und der unaufge-
lösten Abkürzungen in den Beilagen stiften soll,
vermag ich nicht einzusehen.
Den Beschluss bildet ein Wort- und Sach-
register (S. 146—162). Bei den mannigfachen
formellen und materiellen Schwierigkeiten, die
das Rechtsbuch darbietet, war ein solches un-
entbehrlich. Es soll unsern Dank für das Ge-
botene nicht schmälern, wenn wir unsern Wunsch,
es möchte dasselbe noch vollständiger und ein-
gehender ausgefallen sein , ausdrücken. Hier
nur ein paar Nachträge. Wenn hintz (hin ze)
erläutert wurde, so war auch das so häufig vor-
kommende datz (daze) zu erwähnen; ebenhöch
ist nicht ein Gebäude von gleicher Höhe, son-
dern ein Belagerungsgeschütz (Schmeller I 15).
Eetaiding (Art. 128), placitum legitimum fehlt;
ebenso vreihait (Art. 109), Vagabund; Verziechen
von Pfändern gebraucht (Art. 134) im Sinne von
zu Eigenthum verfallen; im Art. 134 wird statt
wieser : wierser zu lesen sein. Gearnt z. B. ge-
arat Ion (Art. 38, 46) ist nicht : geordnet, wie der
Herausgeber, durch spätere Handschriften verlei-
tet, angiebt, sondern geerntet, verdient (Grimm,
Wb. s. v. arnen I 563; Schmeller I 146). Was
unter dem Worte schaden beigebracht ist, reicht
für die spezifisch mittelalterliche Rechtsbedeu-
526 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
tung des Worts, wie sie namentlich in Art. 135
hervortritt, für dessen Inhalt die Ueberschrift
»Schadenersatz« zu wenig characteristisch ist,
nicht aus. Die allitterirende Formel »stiften
und stören«, (Haitaus 1744) welche Art. 120 in
der Verbindung vorkommt : gewalt haben . • . .
aigen ze stiften und ze stören (== steuern, adju-
vare), ist nicht erwähnt. F. Frensdorff.
Gwerziou Breiz-Izel. Chants populaires de
la Basse-Bretagne. Recueillis et traduits par
F. M. Luzel, Officier d’Academie, Correspon-
dant du Ministern de l’Instruction publique pour
les travaux historiques. Tome H. Lorient.
Corfmat Fils (Paris, Franck). 1874. VH und
584 Seiten Grossoctav.
Der erste Band des rubricirten Werkes, er-
schienen im J. 1868, ist von mir an dieser
Stelle (1869 S. 521 ff.) angezeigt und die Be-
deutung desselben eingehend dargelegt worden.
Diese ist nämlich eine doppelte, indem sie nicht
nur eine Sammlung in mehrfacher Beziehung
anziehender Volkslieder bietet, sondern auch
durch die strenge, zuverlässige Genauigkeit und
Sorgfalt der Aufzeichnung, welche sich von allen
Interpolationen und ästhetischen Zustutzungen
frei hält, auf wahrhaft wissenschaftlichen Werth
Anspruch machen kann und in dieser Beziehung
also die gänzliche Werthlosigkeit der frühem
Arbeit des Grafen de la Villemarque auf das
schlagendste dargethan hat. Man kann dies um
so mehr als ausgemacht annehmen, als trotz
mehrfacher Aufforderungen, sich über die Au-
thentic seiner Quellen auszusprechen, letzterer
Luzel, Gwerziou Breiz-Izel. II. 527
bisher das hartnäckigste Stillschweigen beobach-
tet (vgl. meine Anzeige von Luzel’s Schrift: De
V Authenticate du Barzaz-Breiz de M. de la
Villetnarque in den Heidelb. Jahrb. 1872 S.
858 ff.). Inzwischen hat die in Bede stehende
Sammlung Luzel’s die verdiente aliseitige An-
erkennung gefunden und der erste Band ist im
J. 1869 vom Institut gekrönt worden, wogegen
sie allerdings auch von den Vertheidigern de la
Villemarque’s, so wie von denen des »Altars«
angegriffen worden ist, von letztem wegen eines
Liedes, welches von einem ausschweifenden Bi-
schof handelt (L’Eveque de PennanstanJc ; s.
GGA. 1869 S. 540), und wegen einiger ähnlicher.
Was nun den Inhalt des vorliegenden neuen
Bandes betrifft, so charakterisirt ihn der Heraus-
geber im Hinblick auf die später zu publiciren-
den lyrischen Volksdichtungen ( Soniou ) folgen-
dermassen: »«Ten ai fini avec le Gwerziou , ou
chants sombres, fantastiques, tragiques, racon-
tant des apparitions surnaturelles, des assassi-
nate, des infanticides, des duels h mort, des
trabisons, des enlevements et des violences de
tonte Sorte, moeurs feodales, et ä demi-barbares
qui rappellent generalement les XI6, XII6 et
Xfll6 siecles et qui se sont continuees en Bretagne
iusqu’ au XVIH siede«. Den Hauptinhalt scheinen
wirkliche Ereignisse zu bilden, obwol die genauere
Bestimmung derselben oft grossen Schwierig-
keiten unterliegt, vielleicht in manchen Fällen
auch gar nicht möglich ist, wo eben kein sol-
cher zu Grunde liegt, trotzdem dass einheimi-
sche Geschichtsforscher ein solches muthmassen,
wie gleich im ersten Gwerz »Le Comte Gmllou «
(in drei Versionen p. 7 ff. 559 ff.), welches er-
zählt, wie dieser Graf zu seiner Braut zieht
und unterwegs eine Schäferin ein Lied singen
528 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
hört, wonach jene in seiner Abwesenheit einen
Knaben geboren hat. Er lässt sich dasselbe
wiederholen und zieht weiter, bis ihn die Mat-
ter seiner Braut . nahen sieht und ihm auf den
Bath der letztem deren jüngste Schwester ent-
gegensendet, da diese ihr sehr ähnlich ist.
Der Graf lässt sich jedoch nicht täuschen und |
schickt sie zurück, worauf die Braut selbst sich j
schmückt und ihm entgegengeht. Er fragt sie, i
ob sie ein Kind geboren, und da sie dies läng-
net, fordert er sie zum Tanzen auf. Sie wei-
gert sich dessen eines Fiebers wegen, worauf er
sie ohne Weiteres ersticht, dann aber seine j
Spielleute um seiner todt daliegenden »Süssen« j
willen eine Trauermelodie blasen heisst. —
Man hat nun geglaubt, dass diese Ballade sich
auf eine geschichtliche Thatsache gründe, und
in dem darin vorkommenden Grafen GuiUou
einen Grafen Guülaume de Poitou oder einen
Grafen von Goelo erkennen wollen. Allein das
Lied findet sich fast buchstäblich in Piemont
wieder und ist von dem Cavaliere di Nigra in
der Rivista Cmtemporanea 1862, Octoberheft p.
203 ff. (La Fidanzata infedele) mitgetheilt wor-
den. Da diese Zeitschrift ausserhalb Italiens
nicht leicht zugänglich ist, so wird es gewiss
willkommen sein, wenn ich letzteres Lied zur 1
Erleichterung der Vergleichung vollständig mit-
theile, und zwar in der italienischen Ueber-
setzung, die Nigra selbst von dem etwas schwer-
verständlichen piemontesischen Texte gegeben
hat. »I. Cantate, pastorella, — cantate unä
canzone, — quella che voi cantavate — guar-
dando i vostri agnelli. — Si, si, mio prenee,
si, si, che la canterö: — La vostra beUa doma
— ha fatto un gentil bambino. — II. La madre
di lei — che lä era ai balconi, — ne guardaya
i
529
Luzel, Gwerziou Breiz-Izel. II.
il prence — ehe veniva da Lione. — 0 la mia
fighuola, — sciagurata che tu sei! — Guarda
la il tuo prence — ehe ti viene a vedere. — 0
la mia madre! — mandategli la mia sorella, —
quella ehe mi somiglia — nella bocca e negli
occhi. — Il bei prence — da lungi V ha vista
venire: — Quella non e la dama — ehe il mio
cuore ha promesso. — 0 la mia figliuola, —
sciagurata che tu sei! — Guarda lä il tuo
prence ; — ha rifiutato tua sorella.. — 0 la mia
madre, — venite, ajutatemi ad abbigliare; —
innanzi al mio prence, — ch’ i’ ne voglio an-
dare. — Il bei prence — da lungi l’ha vista
venire; — Quella e ben la dama — ehe il mio
cuore ha promesso. — Ditemi voi, bella, —
ditemi la veritä: — siete ancora verginella —
come vi lasciai? — Si, si, mio prence — lave-
rith vo? ben dire: col prence di Fiandra — tre
notti son andata a dormire. — Il bei prence
— chiama paggio Nicolö: — Andate a pigliar
la mia spada — quella dair elsa dorata. — 0
piangete, paggi! — Oh piangete, piccoli e
grandi 1 Io ho ammazzato la dama — che il mio
cuore amava tanto!« — Eine sehr abgekürzte
Version dieses Liedes findet sich auch in Giu-
seppe Ferraro ’s Canti jpopolari Monferrini.
Torino — Firenze 1870 p. 5: L’Ad/ultera. Die
Identität des bretonischen und des piemontesi-
schen Volksliedes ist unverkennbar; sogar der
etwas seltsame Schluss des erstem, wonach die
Spielleute des Grafen um seine todt hinge-
streckte »Süsse« trauern sollen, findet sein ent-
sprechendes Gegenbild in den zum Weinen um
die getödtete Herzensgeliebte des Prinzen auf-
geforderten Pagen des letztem. Noch aber will
ich einen andern Zug erwähnen, der in zwei
Versionen des bretonischen Liedes vorkommt
34
530 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
und wonach der Graf seiner mit ihm tanzenden
Braut auf die Brust schlägt, so dass ihr darob
die Milch aus derselben aufs Eieid spritzt. Dies
erinnert an einen ganz ähnlichen Zug in einem
deutschen Volksliede (des Knaben Wunderhorn
II, 273. Mittler no. 329), wo das Schwesterlein
des Markgrafen bei ihm der Schwangerschaft
geziehen wird und er mit ihr deshalb zu tan-
zen anfängt, wo es dann weiter heisst: »Der
Tanz der währte dritthalbe Stund — Bis ihr
die Milch aus den Brüsten raus sprang«. Vgl.
auch Aehnliches bei Kretschmer 2, 185. Mitt-
ler no. 328 und in Svend Grundtvig’s Danmarks
Gamle Folkeviser no. 126. So wie nun das
eben besprochene bretonische Lied sich als ein
keineswegs historisches erweist, so dürfte auch
wol in Betreff noch mancher anderer, die für
solche gehalten werden, bei genauerer Nachfor-
schung der gleiche Fall eintreten; doch will ich
auf eine solche hier nicht weiter eingehen und
dafür auf einige andere Gwerziou hinweisen,
zu denen in einzelnen Zügen sich auch ander-
wärts Parallelen finden. So heisst es in Fran-
cois Morvan (p. 305), dass ein Mädchen, die
ein Capitän verführen will, sich von ihm seinen
Dolch leiht, um sich das Schnürband aufzu-
schneiden, sich dann aber denselben ins Herz
stösst. Dieser Umstand (vgl. Luzel I, 327)
kehrt in mehreren französischen und italieni-
schen Volksliedern wieder, die Puymaigre in
seinen Chants popul. du pays messin (s. GGA.
1866 S. 2011 ff.) zu La Fille du Patissier (p.
93 ff.) anführt; füge hinzu Bujeaud Chants et
Chansons popul. des prov. de POuest (s. GGA.
ebendas.): La Fille des Sables (2, 177 ff.);
Ferraro Canti pop. Monferrini no. 2: La Mofir
ferrina incontaminata; Bernoni Canti popol. Ve-
Luzel, Gwerziou Breiz-Izel. II« 531
neziani. Venez. 1873 Puntata IX no. 2: La
Incowtaminata ; Casetti e Imbriani Canti pop.
delle Provincie Meridionali. Torino 1872 vol.
II p. 1 £ — In dem Liede Guyon Quere (p. 325)
erzählt dieser im Gefängniss sitzende Raub-
mörder, wie einst einer seiner Genossen von
ihm ein ungetauftes Kind verlangt und er des-
halb einer hochschwangern Frau den Leib auf-
schneidet, um sich das von jenem Gewünschte
zu verschaffen. Wozu dieses dienen soll, wird
nicht weiter gesagt; das Motiv jedoch ist, dass
die Händchen des ungeborenen Kindes zu Die-
beslichtern bestimmt sind; also in der Bretagne
ganz derselbe Aberglaube wie in Deutschland;
s. Grimm Mythol. 1027 und Reinhold Köhler in’
der Zeitschrift für deutsche Mythol. 4, 180 ff.;
fuge hinzu meine Anzeige von Henderson’s Folk-
lore in den Heidelb. Jahrb. 1888 S. 86 ff. und
Kirchhofs Wendunmuth 2, 167 (Stuttg. Liter.
Verein). — In dem Liede Le jeune Comte (p.
249) sagt der junge Graf, der gehängt werden
soll, er werde nicht mit einem hänfnen Strick
gehängt werden, sondern werde sich weisse Seide
kaufen. Dies zielt auf den ehedem in verschie-
denen Ländern herrschenden Gebrauch, vor-
nehme Verbrecher mit seidenen Stricken zu
hängen oder zu erwürgen, von dem ich Beispiele
in der Zeitschr. f. deutsche Culturgesch. 1872
S. 370 angeführt. — Ebendas. S. 358 habe ich
auch die oft eintretendo Nothwendigkeit über
den Tisch hinwegzuspringen besprochen, wie sie
früher sowol in germanischen wie in romani-
schen Ländern für den, der hinter demselben
hervorwollte, bestand und die es erklärt, warum
es hier in dem Liede Les Gars de Plouaret (p.
355) heisst: Quand Yves Le Guillerm entendit
cela — II sauta pardessus la table — Renver-
' 34*
532 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
sant verre et bouteille avec son pied€. — Sehr
bemerkenswert ist ferner in dem Gwerz Le
Clerc Le Glaouiar (p. 423) das Anerbieten des
Vaters den im Kerker befindlichen Sohn nach
dem Gewicht desselben an Geld loszukaufen
(»Le vieux Le Glaouiar disait — Au Sdnechal,
ce jour lä: — Mettez mon fils dans la balance,
— Je vous donnerai son poids de chevance«);
denn in alten Liedern und Chroniken verschie-
dener Länder kommt ganz dieselbe Auslösungs-
weise vor; s. Grimm Rechtsalterth. S. 673 f. no.
7. — Auch der Umstand, dass ein Säugling
wunderbarerweise zu sprechen anfangt, kehrt in
vielen Volksliedern ausserhalb der Bretagne
wieder; so in der portugiesischen Romance
Conde Ymno bei Almeida Garrett 2, 44 ff.
(Wolf y Hofmann Primavera y Flor 2, 124 ff.),
in einer catalonischen bei Milä y Fontanals Ob-
servaciones sobre la poesia popular p. 123, in
einer Variante des piemontesischen Volksliedes
j Donna Lmbarda in der Rivista Europea 1858
Januarheft; in einem provenzalischen Liede La
Nourigo don rei bei Damase Arbaud Chants
pop. de la Provence, in Svend Grundtvig Dan-
marks Gamle Folkeviser no. 4 Fraendehaevn B.
v. 10. 11. 34 und sonst noch in andern Dich-
tungen und Sagen. —
Aus den angeführten Beispielen wird zur Ge-
nüge erhellen, dass der vorliegende Band von
Luzel’s Sammlung des in mehrfacher Beziehung
Interessanten nicht weniger bietet als der vor-
hergehende und dessen wahrscheinlich noch mehr
geboten hätte, wenn er seinen sämmtlichen aus
dem Volksmunde gesammelten Stoff mitgetheilt;
denn nachdem er in dem Vorwort bemerkt hat,
dass er alles bereits früher Gedruckte ausge-
schieden, fügt er hinzu: »D’un autre cote je me
Luzel, Gwerziou Breiz-Izel. II« 533
suis trouve dans la necessity de sacrifier an
certain nombre de morceaux, les uns, dans
l’interet de l’economie materielle de mon volume,
les autres, pour d’autres raisons. Mais je pourrai
en faire, plus tard, si le besoin s’en faisaitsen-
tir (ce que je ne pense pas), l’objet d’une pe-
tite publication complementaire«. Hoffen wir,
dass sich Luzel Y Voraussicht nicht erfüllen und
im Gegentheil das Bedürfniss eines Nachtrags
zu den Gwerziou sich bald fühlbar machen
werde; denn gerade die Lieder, die er » pour
d’autres raisons« ausgelassen, wären, wie ich
muthmasse, für die Geschichte des bretonischen
Volksliedes so wie für die Culturgeschichte im
Allgemeinen besonders wichtig gewesen, wenn
sich auch darin neue Beispiele von dem lieder-
lichen Leben des hohen bretonischen Clerus in
der frühem Zeit oder von den »moeurs un peu
barbares« darin gefunden hätteii. Aber freilich
der Herausgeber war durch die Erfahrung ge-
witzigt und wusste, welch mächtige Einflüsse dem
ersten Theil seiner Publication gegenüber ge-
standen. Nicht bedeutungslos ist es anderer-
seits, wenn Luzel ohne Anstand ein Lied {Anne
Le Bail p. 151 ff.) mittheüt, welches auf fol-
gende Weise schliesst: »Grand Anne Le Bail
entendit cela — Elle se jeta au milieu de la
mer. — Anne Le Bail disait en arrivant au
fond de la mer. — Seigneur Saint-Samson beni,
— Voudriez-vous faire un miracle en ma fa-
veur? — J’ai cinq cents ecus de rente — Et je
vous en cederai deux cents par contract, — Si
vous me rendez dans l’eglise de Saint-Norvez.
— Elle n’avait pas fini de parier, — Quelle fut
rendue dans l’eglise de Saint-Norvez, — Au
moment de l’Elevation, ä la grande messe«.
Dergleichen religiöse Vorstellungen sind also in
534 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 17.
der Bretagne (wie auch sonst in katholischen
Ländern) die allgemein herrschenden und schei-
nen durchaus keinen Anstoss zu gewähren, we-
der beim Klerus noch bei den Laien. — Der
in Aussicht gestellte dritte Band wird die So-
niou enthalten, d. h. chants d’amour, elegies,
illusions et disillusions, refrains de danse, jeux
et rondes enfantines, etc. Auch dies lässt neue
und anziehende Beiträge zur Sittenkunde so wie
zur Gefühls- und Denkweise des bretonischen
Volkes erwarten, so dass sich Luzel durch sein
seit fünfundzwanzig Jahren unermüdlich fortge-
setztes Sammeln des ächten (nicht gefälschten)
Liederschatzes der Bretagne in seiner Heimat
wie ausserhalb derselben ein ehrenvolles und
dauerndes Denkmal gesetzt haben wird.
Lüttich. Felix Liebrecht.
Hase, Lie. Dr., Divisionspfarrer zu Hanno-
ver: Die Bedeutung des Geschichtlichen in der
Religion. Leipzig, Verlag von Breitkopf und
Härtel, 1874. 80 Seiten kl. 8.
Dass diese Arbeit wirklich genüge und das
Problem, um das sie sich bemüht, in einer all-
gemein gütigen Weise löse, das wird man ganz
und gar nicht behaupten können. Sie ist, was
das Stilistische angeht, geschickt und glatt ge-
schrieben und zeugt von den mancherlei Kennt-
nissen auch in Beziehung auf die Geschichte der
Religion und Theologie, die dem Verf. zu Ge-
bote stehen, aber in Beziehung auf ihren Gegen-
stand ist sie denn doch zu oberflächlich und
zu schnellfertig und lässt es an der Hauptsache
Hase, D. Bedeut, d. Geschichtl. i. d. Religion. 535
fehlen, von der doch eigentlich die Entscheidung
abhängen muss.
Der Zweck des Verf. ist, zu zeigen, welche
Bedeutung das Historische in der Religion auch
noch für unser gegenwärtiges religiöses Leben,
für das des Einzelnen, wie der Gesammtheit
habe. Er erinnert dabei an ein bekanntes Wort
Lessings, dass zwischen zufälligen Geschichts-
wahrheiten und ewigen Vemunftwahrheiten sich
ein breiter Graben befinde, den zu überspringen
schwer, ja unmöglich sei, und er will nun die
Brücke aufzeigen, die gleichwohl über diesen
Graben führt: ein Unternehmen, das, wenn es
gelungen wäre , denn allerdings ein tief und all-
seitig gefühltes Bedürfniss unserer Zeit befrie-
digen würde. Irrt sich Ref. nicht, so ist doch
ein gutes Theil unserer Forschungen, die sich
auf die Geschichte der Religion und namentlich
auch des Urchristenthums beziehen, gerade dar-
auf gerichtet, das wirklich Geschichtliche in
dem traditionellen Bestände zu erkennen und
herauszuschälen, um dann eben dies auch für
unser gegenwärtiges Leben verwerthen zu kön-
nen; und gerade dadurch, dass die hier sich
darbietenden Probleme so schwer zu lösen sind,
entstehen die mancherlei Richtungen in Theologie
und Kirche, die unsre Zeit in diese aller Orten
hervorbrechende Unruhe versetzen. Hätte da
nun der Verf. das wirklich lösende Wort ge-
sprochen, da müsste man ihm nicht bloss dank-
bar sein, man müsste sogar sagen, dass er et-
was überaus Werthvolles geleistet habe, das zum
kirchlichen Frieden und zum Gedeihen unseres
kirchlichen Lebens von einer gar nicht hoch
genug anzuschlagenden Bedeutung sein müsste.
Allein davon ist der Verf., all seines guten
Willens unbeschadet, doch noch weit entfernt
536 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
geblieben, und zwar, wie uns scheinen will, aus
dem einfachen Grunde, weil er versäumt hat,
uns vor aller weiteren Erörterung einen klaren
und deutlichen Begriff von dem zu geben , was
er denn nun unter dem Historischen in der Re-
ligion versteht. Dass wir das Alles, was uns
da • traditionell als wirkliche Geschichte darge-
boten wird, nicht als solche annehmen können, i
wird der Yerf. eben so gut wissen, wie Jeder, !
der sich mit diesen Dingen auch nur einiger
Maassen beschäftigt hat, aber was ist denn nnn
das wirklich Geschichtliche auf diesem Gebiete? j
wie scheiden wir es aus von den unhistorischen 1
Umhüllungen, in denen die Ueberlieferung das-
selbe auf uns gebracht hat? Unsere Wissen-
schaft hat nun schon die nimmer ermüdende
Arbeit von Generationen daran gesetzt, um
diese Ausscheidung sauber und klar zu voll-
ziehen, und es ist klar, dass sie vollzogen sein
muss, ehe von der »Bedeutung des Geschicht-
lichen in der Religion« für unser gegenwärtiges
Leben überhaupt die Rede sein kann. Aber
davon bei demVerf. doch eigentlich Nichts. An
die hier sich aufdrängenden kritischen Fragen
tritt er im Grunde gar nicht recht heran, er
begnügt sich statt dessen mit einem, wenn auch
immer geistvollen, so doch auch nicht einmal
immer stichhaltigen dogmatischen Räsonnement:
allein wem wäre nicht klar, dass damit hier
zunächst ganz und gar Nichts entschieden wer-
den kann, so lange die Vorfrage, wie wir sie
eben angedeutet haben, nicht ausgemacht ist?
Der Verf. möge doch einmal sich selbst die
Frage vorlegen, ob auf dem von ihm beliebten
Wege nicht doch auch noch ganz andere Dinge
als noch immer berechtigt nachgewiesen wer-
den könnten, als bloss das, wovon er meint,
J
Hase, D. Bedeut, d. Oeschichtl. i. d. Religion. 537
dass es für das Leben der Christenheit noch
immer eine Bedeutung haben müsse? Er selbst
geht in seinem historischen Positivismus schon
weiter, als ihm ein evangelischer Christ immer
zugestehen möchte, aber wo man so, wie der
Verf., alle historische Kritik ignorirt und Man-
ches von dem, um welches heut zu Tage sogar
der Streit der Kritiker am Meisten sich bewegt,
als unbezweifelbare Wahrheit hinstellt, da weiss
man denn schliesslich doch nicht, wo man im
Anerkennen des Traditionellen als des wirklich
geschichtlichen Halt machen soll, und da hat
am Ende jeder überlieferte Aberglaube ein
Recht, dass man ihn respectire und sich in den-
selben wieder hinein lebe, zumal auch der Got-
tesbegriff des Verf., die Grundlage seines ganzen
Räsonnements, da keine Gränze setzt, vor der
man mit seinem Anerkennen des »Geschichtli-
chen« Halt machen müsste. Allerdings fasst
der Verf. Gott als den frei Wirkenden auf, in
dessen Willen alles Dasein ruht und aus dessen
Willen auch alles Geschehen hervorgeht, aber
ist es nicht doch so, dass er den Willen Gottes
als absolute Willkür auffasst und dass ge-
rade dies , dass die absolute Willkür Gottes
Alles hervorgehen lasse, das Argument ist, auf
welches der Verf. seine Beweisführung stützt?
Da aber lässt sich denn schliesslich Alles als
möglich begreifen und als unzweifelhafte Ge-
schichte hinstellen, aber dass das uns jetzt zu
befriedigen im Stande wäre, und namentlich auch,
dass auf diesem Wege für die Frage nach der
Bedeutung des Geschichtlichen in der Religion
eine Lösung gefunden werden könnte, wer möchte
es denn noch behaupten?
Ref. bedauert recht herzlich, diesen Wider-
spruch gegen des Verf. Darstellung erheben zu
538 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
müssen, um so mehr, als derselbe sich mit man-
chem Anderen, was der Verf. hervorhebt, ein-
verstanden erklären möchte, das aber immer
nur dann seine Richtigkeit hat, wenn zuvor fest-
gestellt ist , was denn nun das Historische,
zu dem man in das persönliche Verhältniss des
Glaubens zu treten habe, in der That und Wahr-
heit sei. Für den Ref. ist das Geschichtliche
das persönliche Leben, wie es in den grossen
Trägern des sittlich-religiösen Verhältnisses sich
als ein wirklich geschichtliches und deshalb
auch geschichtlich wirksames gezeigt hat, am
höchsten und in wirklicher Vollendung in Jesus
Christus, welcher für den Ref. eben deshalb
auch die höchste und eine völlig unersetzliche
Bedeutung hat für das Leben der Christenheit
im Einzelnen und im Ganzen, und vielleicht
wenn dieser Gesichtspunkt mit voller Klarheit
und Bestimmtheit hervorgehoben würde, möchte
sich eine befriedigende Lösung der Frage er-
geben, die dem Verf. allerdings unsere Zeit
selbst an die Hand gegeben hat und die auch
einer Lösung in dringender Weise bedürftig ist.
F. Brandes.
Hermann Hagen: Jacobus Bongarsius.
Ein Beitrag zur Geschichte der gelehrten Stu-
dien des 16. — 17. Jahrhunderts. (Programm
der Kantonsschule in Bern). Bern. Gedruckt
bei A. Fischer. 1874. 76 SS. 4°.
Der Verfasser der vorgenannten Abhandlung,
damit beschäftigt einen neuen Katalog der höchst
werthvollen Handschriftensammlung für den
539
Hagen, J. Bongarsius.
Druck vorzubereiten, welche aus dem Nachlass
des Jakob von Bongars durch Vergabung Jakob
von Gravissets in Besitz der Stadt Bern gelangt
ist und die Hauptzierde der dortigen städtischen
Bibliothek bildet, hat schon vor Kurzem eine
litterar-historische Skizze veröffentlicht, zu der
er durch jene umfassende Arbeit angeregt wurde.
Sie bezog sich auf den aus Orleans gebürtigen
Juristen Peter Daniel, über welchen bis dahin
nur höchst mangelhafte biographische Angaben
existirten, dessen Bibliothek zum Theil in Bon-
gars Hände übergieng (»Der Jurist und Philo-
log Peter Daniel aus Orleans. Bern. Gedruckt
bei A. Fischer 1873«). Wichtiger ist das
Thema dieser neuesten Schrift, welche Bongars
selbst behandelt. Sie ist, kann man sagen, die
erste Biographie des berühmten Franzosen,
welche muthig mit den »landläufigen Traditio-
nen« der Kompilatoren bricht, die einzig aus
der dürftigen Quelle von Bayle geschöpft und
diese noch dazu nicht selten getrübt haben.
Freilich verwahrt sich der Verf. ausdrücklich
dagegen »ein abgerundetes, vollständiges Lebens-
bild des merkwürdigen Mannes« haben geben
zu wollen, was über den Zweck eines Schul-
programmes hinausgegangen wäre. Diese an
sich völlig gerechtfertigte Voraussetzung wird
man bei Beurtheilung der Arbeit nicht ausser
Augen lassen dürfen. Wenn auch ein Umriss
der allgemeinen Biographie Bongars’ gegeben
wird, so sollte doch wesentlich, wie es dem
Philologen nahe lag, die wissenschaftliche Seite
des Mannes beleuchtet werden.
So ist es zu erklären, dass die bedeutungs-
volle staatsmännische und diplomatische Thätig-
keit des treuen Anhängers Heinrichs IV. nur
leicht gestreift wird. Wollte man sie genauer
540 Gott. gel. Adz. 1874. Stuck 17*
schildern und namentlich die Schritte verfolgen,
die Bongars als Unterhändler seines Königs bei
den Deutschen Fürstenhöfen zu thun hatte, so
hätte man sich auf die Forschungen zu stützen,
die Ritter in den Briefen und Acten zur Ge-
schichte des dreissigjährigen Krieges etc. (»Die
Gründung der Union 1598 — 1608 München
1870« vgl. desselben Geschichte der Deutschen
Union. 2 Bde. 1867. 1873) niedergelegt hat.
Nicht nur, dass hier die Benutzung Deutscher
Archive die Fülle des Stoffes vermehrt, auch
von den zu Paris befindlichen acht Bänden
»Memoires de Bongars« konnten solche ausge-
beutet werden, in welche H. Hagen keine Ein-
sicht erlangen konnte.
Von den politischen Angelegenheiten, mit
denen Bongars’ Name verknüpft worden ist,
werden zwei besonders hervorgehoben. Es ist
ein Mal das von Varilias und schon von An-
dern aufgebrachte Histörchen, Bongars sei es
gewesen, der 1585 nächtlicher Weile in Rom
ein leidenschaftliches Pasquill angeschlagen
habe, das sich gegen Sixtus V. und die Bann-
bulle richtete, die von diesem Pabste gegen
Heinrich von Navarra und den Prinzen Conde
geschleudert worden war. Varilias Angaben
werden kritisch untersucht und zeigen sich hier
eben so wenig stichhaltig, wie man auch sonst
sie kennt. Die zweite Angelegenheit betrifft
die literarische Fehde, in welche Bongars mit
Fabian von Dohna, dem Pfälzischen Hofmarschall,
verwickelt wurde, über den gleichfalls, abge-
sehen von Rankes Französischer Geschichte, bei
Ritter a. a. 0. Ergänzendes zu finden wäre.
An die Spitze einer Hülfsschaar gestellt, welche
1587 zur Unterstützung Heinrichs von Navarra
nach Frankreich abgesandt wurde, war Fabian
541
Hagen, J. Bongarsius.
von Dohna von den Lignisten eine entschiedene
Niederlage beigebracht worden. Obgleich man
auf Hugenottischer Seite sich gegenseitig ver-
sprochen hatte, über die Sache nicht weiter zu
reden, gab Dohna 1588 dennoch in Frankfurt
eine Deutsche Flugschrift heraus,, in welcher er
nicht nur sich zu rechtfertigen, sondern die
Schuld des Missgeschicks auf Heinrich von Na-
varra, den Herzog von Bouillon und ihre Genos-
sen abzuwälzen suchte. Die Schrift wurde am
Ende (nicht wie Hagen S. 19 meint am Anfang)
der Messe herausgegeben, damit die Gelegenheit
sofortiger Erwiderung abgeschnitten sei*). Bon-
gars, welcher damals in Deutschland verweilte,
fühlte sich gedrungen, Dohnas unehrliche Dar-
stellung zu . beantworten und seinen Herrn zu
vertheidigen. Sowohl seine wie Dohna’s Schrift
scheinen sehr selten zu sein, wenigstens konn-
ten sie in Bern, wie der Verf. S. 20 mittheilt,
»wo sie am allerersten zu suchen sind, noch
nicht ermittelt werden«. Um so erwünschter
wird es sein zu erfahren, dass wenigstens eine
der in Frage stehenden Schriften, die Bongarsi*
sehe, sich unter Hist. Gail. 207 a in der Göt-
tinger Univers.-Bibliothek befindet. Es sind
zwanzig Seiten in 4°, betitelt: »Responsio ad
scriptum Baronis Fabiani a Donaw quod de
sua in Galliam expeditione, auxilio serenissimi
regis Navarrae et ecclesiarum Gallicarum sus-
*) S. die gleich za erwähnende Antwort von Bon-
gars S. 19 »Si tarnen scriptum illud tuum initio Nun-
dinarum prodire voluisses, tractassem etiam quaedam
fusius et explicatius. Sed, homo in scribendo quam
agendo cautior, callide sub finem mercatus publicari vo-
luisti, ne cui respondendi otium daretur: interim volita-
ret illud per- manus hominum et imprimeret ea multi-
bus, quae haud facile postea sperares exprimi posse.«
542 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 17.
cepta, Germanise edidit. Anno MDLXXVIH«.
Die Schrift ist anonym, aber ihr Inhalt deckt
sich vollständig mit dem Auszug, den de Thon
aus ihr giebt. Sie ist ein Muster der eleganten
Diktion, welche dem feingebildeten gelehrten
Staatsmann eigen war, und nicht selten schlägt
jener Ton scharfer Satyre in ihr vor, über wel-
chen er so trefflich gebieten konnte. Selbst in
seinem Gesicht, dessen Abbildung nach einem
alten Oelgemälde der vorliegenden Abhandlung
beigegeben worden ist, fehlt dieser satyrische
Zug keineswegs. In aller Schärfe tritt er in
einem Pasquill hervor, das erst Hagen in sei-
ner wahren Bedeutung erkannt und mit Recht
als Anhang seiner Arbeit hinzugefügt hat. Es
richtet sich gleichfalls gegen F. v. Dohna und
zwar im Stile der epistolae obscurorum virorum.
Wenn Hagen S. 21 vermuthet, dass das Latein
Dohna’s denBongars dazu bestimmt habe diese
kränkende Form zu wählen, so wird das nun-
mehr durch eine Stelle der »Responsio« einiger-
massen bestätigt, wo es p. 17 heisst: »Hic tibi,
quoniam aut Alexandri illius Magni, aut Gaesaris
Julii gloriam rebus gestis aequare non potueras,
licebat ad Xenophontis laudem adspirare : quem
legisti, ni fallor (nam et lingttarum et historia-
rum cognitionem habere mediocrem audio) etc.
Wenden wir uns nun zu demjenigen Theile
der vorliegenden Arbeit, welche die wissenschaft-
liche Thätigkeit Bongars’ behandelt, so haben
wir die Ausführlichkeit und Genauigkeit, mit
welcher diese besprochen wird, zu rühmen, ln
der That stand dem Verf. für seine Zwecke ein
Material zu Gebote , wie es nicht leicht an ir-
gend einem anderen Orte zusammengebracht
werden konnte, wie an dem, wo diese biogra-
phische Skizze entstand. Nicht nur der ge-
543
Hagen, J. Bongarsius.
druckte Briefwechsel von Bongars konnte heran-
gezogen und häufig durch Vergleichung mit den
Originalien ergänzt werden, die sich in Bern be-
finden, eine ganze Reihe ungedruckter Briefe
trat hinzu, die in mehreren Berner Codices auf-
bewahrt sind. Und ausserdem liessen sich die
vielfachen Kollektaneen, Studien und Aufzeich-
nungen von Bongars Hand benutzen, welche
einen nicht zu unterschätzenden Theil seines
Nachlasses bilden. Auf diese Weise war es
dem Verf. möglich in die Entstehung einzelner
Bongarsscher Arbeiten aus seinen vorbereitenden
Notizen und aus seiner Korrespondenz mit ge-
lehrten Freunden den besten Einblick zu er-
halten und seine Schrift mit einer Fülle von
Anmerkungen und literarischen Nachweisen zu
bereichern, welche ein Stück allgemeiner Ge-
lehrten-Geschichte der Zeit enthalten.
Nach einigen Worten über die werthvolle
Sammlung von Büchern und Handschriften,
welche Bongars auf seinen vielfachen Reisen ge-
sammelt hatte, wendet sich der Verf. zu einer
Besprechung seiner philologischen Arbeiten.
Neben seiner Ausgabe des Justin von 1581 war
die Unterstützung zu erwähnen, die er dem
Christoph Coler, Joseph Scaliger, Gruter, Putsch
etc. bei ihren Arbeiten angedeihen liess. Als
Historiker trat er mit den berühmten Sammel-
werken »Scriptores rerum Hungaricarum« 1600
und »Gesta Dei per Francos« 1611 hervor.
Beiläufig sei bemerkt, dass nach Angabe des
Verf. S. 41 in dem Cod. Bern. 468 No. 12 u.
17 die Papiere noch vorhanden sind, welche sich
auf den Inschriften-Anhang des erstgenannten
Werkes beziehen. Die Sammlung Lateinischer
Inscriptionen, welche er auf seiner Reise durch
Ungarn entdeckt und abgeschrieben hatte, er-
544 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 17.
scheint in den im Ms. vorhandenen Original-
Papieren bei Weitem reichhaltiger und zuver-
lässiger als im Druck, und kann daher mögli-
cher Weise noch von dem modernen Forscher
mit Nutzen zur Vergleichung herangezogen wer-
den. Auch wird man das auf jener Reise ge-
- führte Tagebuch, welches, aus einem Berner Co-
dex abgedruckt, die erste Beilage der vorliegen-
den Arbeit bildet, gerne kennen lernen.
Unter den Historikern, die er, in gleicher
Weise wie die Philologen, aus dem Schatz sei-
ner Kenntnisse und Sammlungen unterstützte,
sei nur Freher genannt.
Für seine theologischen Kenntnisse geben
namentlich mehrere Stücke aus seinem literari-
schen Nachlass, für seine juristischen eine Menge
von staatsrechtlichen und rechtsgeschichtlichen
Erörterungen Zeugniss, wenn sie auch nicht im
Druck erschienen sind. Aber auch der Werth
der spekulativen Philosophie und der Natur-
wissenschaften blieb ihm nicht fremd , wie-
wohl unter dem Namen der letzten sich wenig
mehr als die unklaren Vorstellungen der Al-
chemie verbergen mochten. So erscheint Bon-
gar8 als eine reich begabte, für alle Zweige des
Wissens lebhaft interessirte Natur, und auch
sein Charakter wird durch diese neue Beleuch-
tung höchst vorteilhaft erhellt. Mit lebhafter
Anerkennung der Mühe und Geschicklichkeit,
mit welcher sein Lebensbild wieder au {gefrischt
worden ist, verbinden wir die Hoffnung, dass der
Verf. den in Aussicht gestellten Katalog der
Bongarsiana recht bald werde nachfolgen lassen,
in welchem manche Punkte ausführlicher zu er-
örtern sein werden, die in der vorliegenden Ar-
beit nur obenhin berührt werden konnten.
Bern. Alfred Stern.
545
Götti ngische
gelehrte Anzeigen
outer der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 18. 6. Mai 1874.
Historiae patriae monumenta edita josso re-
gia Caroli Alberti. Tonras XIII. Codex diplo-
maticus Langobardiae. Augustae Tanrinorom
e regio typographeo An. 1873. 58 Seiten and
1951 Columnen in Folio.
Codex diplomaticns Cavensis nunc primum
in lucem editus curantibus DD. Michaele Mor-
caldi, Mauro Schiani, Sylvano de Ste-
phano 0. S. B. Accedit Appendix, qua prae-
cipua bibliothecae ms. membranacea describun-
tur per D. Bernardum Cajetano de Aragon ia
. 0. S. B. Tomus I. Neapoli excudebat Petrus
Piazzi. 1873. LXXIX, XXXVI, XXXII, 287
und 32 Seiten in Quart.
Zwei wichtige Urkundensammlungen zur Ge-
schichte Italiens, des nördlichen una südlichen,
sind fast gleichzeitig erschienen, die eine als
Theil des grossen Quellenwerkes, dem wir eine
Reihe wichtiger Publicationen zur Geschichte
zunächst des Königreichs Sardinien verdanken
t und das mit diesem Bande, wie es sein, wenn
auch ursprünglich wohl anders gemeinter Titel
35
546 Gott. gel. Adz. 1874. Stuck 18.
erlaubt, seinen Bereich nun auch über andere
benachbarte Theile Italiens ausdehnt, das andere
der Anfang einer Veröffentlichung der urkund-
lichen Denkmäler eines einzelnen Klosters, das
aber durch den Reichthum und das Alter der
aufbewahrten Urkunden viele der grösseren Ar-
chive übertrifft. Denn es bietet dieser Band
allein nicht weniger als 210 Nummern bis zum
Jahre 960, während die ganze Lombardei doch
nur 642 bis zu diesem Jahr, 1006 bis zum
Jahre 1000, wo der vorliegende Band endet,
geliefert hat. Denn nicht, wie man vielleicht
denken könnte, um das alte Langobardische
Reich oder den Umfang desselben auch in spä-
terer Zeit handelt es sich bei dem Codex diplo-
maticus Langobardiae, sondern eben um die
Lombardei im späteren Sinne des Worts. Der
Band reiht sich so als Chartarum Tomus HI
an die im 1. und 6. Band der ganzen Samm-
lung gegebenen beiden Tomi an, welche die Ur-
kunden des Königreichs Sardinien auf dem Fest-
land bis hinab zum Jahre 1299 geliefert haben,
wozu noch in Bd. 10 und 12 zwei Tomi eines
Codex diplomaticus Sardinia© (der Insel) bis
zum Jahre 1599 kommen. Es bedarf nun nicht
der Bemerkung, wie wichtig eine vollständige
Sammlung der aus diesem Gebiet erhaltenen
Urkunden für den Forscher der Geschichte sein
muss, wie auch wir Deutsche gerade an diesen
ein nicht geringes Interesse zu nehmen haben.
Aber auch das alte Kloster La Cava ist wohl
in der Lage für die Documents und Hand-
schriften, welche es birgt, eine allgemeinere
Theilnahme in Anspruch zu nehmen, wie sie
sich denn auch schon im voraus dadurch be-
thätigt hat, dass unter den 20 Förderern die-
ser Publication, die zu Anfang genannt werden,
Codex diplomatics Langobardiae. 547
die ‘imperatrix Alemanniae* und der ‘magnus dux
Badensis’ erscheinen. Doch steht ja unzweifel-
haft die Urkundensammlung der Lombardei in
noch näheren Beziehungen zu unseren histori-
schen Arbeiten, und es muss deshalb gestattet
sein, von dieser noch etwas eingehender zu
sprechen.
Da mag man gerne zuerst dem Gefühl des
Dankes für mannigfache Bereicherung unserer
Kenntnis, welche dieser Band gewährt, Ausdruck
geben. Für die ältere Zeit freilich ist nach den
umfassenden und reichen Publicationen von
Ughelli, Muratori, Fumagalli, Lupi, Tiraboschi,
Tatti, und in neuerer Zeit Odorici, bei uns
Dümmler und Stumpf u. a. nicht so gar viele
neue Ausbeute zu finden gewesen; später aber,
im 9ten und lOten Jahrhundert werden eine
Anzahl wichtiger Urkunden hier zum ersten
Mal mitgetheüt. Dabei muss ich freilich be-
merken, dass die Ausgabe es einigermassen
schwer macht, sich hierüber ein sicheres Ur-
theil zu verschaffen, indem keineswegs gleich-
massig in Beziehung auf die Anführung früherer
Drucke verfahren ist; wie denn Gleichmässig-
keit das ist, was in der Bearbeitung des Ban-
des überhaupt sich in hohem Grade vermissen
lässt.
Es hängt das mit der Art und Weise zu-
sammen, wie die Arbeit unternommen und aus-
gefuhrt ist. Der eigentliche Herausgeber Hr.
Giulio Porro Lambertenghi giebt darüber in
der Vorrede nähere Auskunft. Der Plan zu der
Sammlung sei von dem verstorbenen Bibliothe-
kar an der Ambrosiana zu Mailand Dozio an-
geregt , dieser aber der Arbeit selbst bald durch
den Tod entrissen, die Fortführung ihm, Porro,
übertragen mit der Berechtigung, sich Mitarbeiter
35*
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548 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 1&
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in der Lombardei selbst zuzugeselleri, rind er
habe dafür gewonnen Finazzi für die Provinz
Bergamo, Roholotti für Cremona, 0«Jori(ri für |
Brescia, an dessen Stride später Ceruti getreten;
ihm selbst sei die Aufgabe für die sechs andern
Provinzen, welche die Lombardei umfasst, ge-
blieben, Bern entsprechend ist über jeder Ur-
kunde dör Name dessen genannt der sie bei- ,
gesteuert und bearbeitet? hat, dann aber auch J
offenbar jedem die volle Verantwortlichkeit für I
sein Theil Arbeit gelassen und nichts geschehen, 1
um Ungleichheiten in der Behandlung auszu- 1
gleichen. Um nur das Aeusserljföbstri zu er- 4
wähnen, selbst die Art der Orthographie ist I
verschieden: der eine schreibt die Eigennamen "
gross, der andere klein, und wa» det Art mehr,'
ist. Auch die Anmerkungen,' dieKteraripfchefc j
Nachweisungen tragen deshalb einen ungleich- 4
artigen Charakter an sich. ■<
Aber leider auch viel grössere Nae&theite <1
sind daraus erwachsen. Dieselbe UrknjSe er-A ]
scheint wiederholt an verschiedenen Stehen, 8r*~. ’
fährt eine verschiedene *ßeurtheilung.' Es ist ' i
schon auffallend, wenn S. 1783 unter deu un* 1
echten Urkunden, die nicht .aufgenommen, nur
verzeichnet werden sollen, «ine angeführt wird,
die S. 1643 als 'Nr. 935 abgedruckt ist, aller-
dings auch mit einer Note, welche die Authen- .
ticität bezweifelt, ohne dass aber darauf irgend
verwiesen wäre. Das Bedenkliche steigt aber,
•Wenn dieselbe Urkunde vorher schon einmal ge-
geben ist, Nr. 886, S. 1567, nur mit verderbten
Daten und ohne jede Bemerkung über die Zwei-
felhaftigkeit der Form und des Inhalts. An
dieser Stelle ist Ceruti der Bearbeiter nach
einer Copie im Archiv zu Mantua gewesen, wäh-
rend Nr. 935 und wahrscheinlich auch die Notiz
I
?
:* - i
> Codex diplomaticQS Langobardiae. 549
• •
S» Sfe 1783 von porro herrühren, auch beide sich
auf eine Ausgabe Muratoris beziehen. Ebenso
tibeilt Robolotti als Nr. 878 S. 1556 ohne jede
Bemerkung eine Urkunde mit, die S. 1782 als
' ^unecht, und noch dazu ohne Grund, verworfen
Wird; es ist die Urkunde Otto III. Stumpf Nr.
l 1$68, die der Kaiser selbst später als erschlichen
[ bi^eißjmet und cassiert hat. Mit mehr Grund
Kr'^pL.%. 655 auch unter den unechten S. K81
Identisch sind Nr. 280 und 293, ein*
K^lj^lök^Porro zu 879, das zweite MaJ von Ce-
8$0, gesetzt, beide Male unter Be-
die frühere Ausgabe Muratoris.
m 192 und 252, dort nach einer Ab-
W schrift tamchtig zu 856, hier nach Muratori
h richtig zu 871 gesetzt, beides von Porro; Nr.
r 281 und U8S7 das eine Mal von Porto mit fal-
sehen Daten Kaiser Ludwig II. beigelegt, an der
L 'zweiten Stelle von demselben richtig als Urkunde
V ^Ludwigs v6n Burgund gedruckt, dort nach Tatti,
L iier nach einem > Codex zu Mailand, zugleich
Cr iBer unter Anfiifirung einer Ausgabe von Sa-
Ipvioli, die gar nicht existiert.
I SolcheuW ahrnehmungen sind denn allerdings
r* geeignet, unser Vertrauen auf die Zuverlässig-
; keit der Edition nicht Wenig zu erschüttern.
Was vor allem in die Augen Springt sind die
| . zahlreichen Irrthümer in der chronologischen
Bestimmung der Urkunden. Nr.* 62 gehört
nicht zu 787, sondern 781; 139 nicht zu 841,
sondern 842; 177 nicht zti 852, sondern 851;
205 nicht zu 858, sondern 852 ; u. s. w. Eine
Italienische Urkunde Otto L wird Nr» 591 zu
950 gesetzt, da doch jeder weiss, dass der Kö-
' nig erst 951 nach Italien kam. Bei 901 heisst
i es Jin der Ueberschrift: incertis mense et die,
. wahteifcd . beide in. . der Urkunde voll und deut-
* . ** .
‘ . A
i
550 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
lieh angegeben sind. Nr. 801 fehlen sie auch
in dem Text , während andere Abdrücke
(Stumpf Nr. 782) sie haben. Aehnliche Fehler
oder Ungenauigkeiten ergiebt noch in zahl-
reichen Fällen eine Vergleichung der Königs-
urkunden mit den Regesten von Böhmer und
Stumpf. Und es muss in der That nicht wenig
Wunder nehmen, dass die Arbeiten dieser auch
um die Italienische Urkundenkenntnis so ver-
dienten und mit Italienischen Gelehrten so viel-
fach in Verkehr stehenden Männer hier gar
nicht benutzt worden sind. Ich sage gar nicht.
Einmal begegnet allerdings Böhmers Name, in
der, man muss nur sagen wunderlichsten Weise.
S. 1782 ist wörtlich gedruckt: »967. 23 martii.
Diploma Ottonis marchionis, quo plurima bona
etiam in Langobardia concedit Aleramo mar-
chioni Böhmer«. Unser trefflicher Urkunden-
forscher scheint in einen Italienischen Markgraf
verwandelt < Die Sache ist offenbar die , dass
irgend ein Hülfsarbeiter das Regest nach Böh-
mer gemacht und gewissenhaft seinen Namen
beigefügt hat, den der welcher dies abdrucken
liess nicht verstand. Ebenso wenig ist irgendwo
von den Arbeiten Fickers Gebrauch gemacht, von
Deutschen Pnblicationen überhaupt, soviel ich
bemerkt habe, nur die Abdrücke Italienischer Kö-
nigsurkunden von Dümmler in Bd. X der For-
schungen angeführt. Der Herausgeber hat sich
so jedenfalls wichtiger Hülfsmittel beraubt, die
ihm seine Arbeit erleichtert, ihn vor manchen
Irrthümem bewahrt hätten. So ist ihm auch
die Ausgabe der Urkunden Rudolfs von Burgund
in den Origines Guelficae und manches andere
unbekannt geblieben.
Es liegt mir ferne hier bei anderen kleinen
Ungenauigkeiten zu verweilen, die sich schon
Codex diplomaticus Langobardiae. 551
bei einer mehr flüchtigen Durchsicht des Ban-
des darbieten; wenn z.B. Nr. 285 inderüeber-
schrift Earlmann imperator heisst, oder Nr. 802
zum 28. Februar gesetzt wird (der Text: 15.
Kal. Februarii). Auf eine Prüfung der zahl-
reichen und wichtigen Privaturkunden habe ich
mich überhaupt nicht einlassen können.
Eben hier findet sich nicht wenig Neues, ohne
dass freilich, wie oben bemerkt, dies mit Sicherheit
den Angaben des Bandes selbst entnommen werden
kann. Namentlich das Mailänder Archiv S. Fi-
delis hat da wo Fumagallis Mittheilungen auf-
hören eine reiche Ausbeute geliefert. Darunter
ist auch eine Urkunde König Hugos für seine
Gemahlin Berta (Nr. 553). Von Deutschen
Königen ist, soviel ich sehe, nur Nr. 654 von
Otto I. neu. Zu den bekannten Schenkungen der
Adelheid an das Kloster S. Salvatore zu Pavia
ist eine dritte ausführliche hinzugekommen
(Nr. 997). Hervorheben will ich noch das In-
ventar der Bücher und Geräthe zu Cremona
von Bischof Odelrich aus dem J. 984, das man
wohl nicht eigentlich zu den Urkunden rech-
nen kann.
In mancher Beziehung nicht weniger erwünscht
als die Bekanntmachung neuer Urkunden , ist
die Beseitigung von Fälschungen, von denen
namentlich die LangobardischeZeit heimgesucht
war und die in dem Codice diplomatico von
Troya einen nur zu bedeutenden Baum ein-
nahmen.
Ueberhaupt soll ja nicht verkannt werden,
dass, verglichen mit der Arbeit des Neapolita-
nischen Gelehrten, diese Turiner Publication
einen Fortschritt zeigt. Aber nach den Lei-
stungen eines Bonaini u. a. war man mehr zu
erwarten berechtigt. Eigenthümlich , dass Hr.
552 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
Perro insofern gerade auch an Troya anknüpft,
als er in der Vorrede Sie von diesem so leb-
haft verhandelte Frage nach der Behandlung
der Römer durch die Langobarden aufhimmt,
um sie wieder im entgegengesetzten Sinn zu
beantworten: eine Erörterung, die miraberauch
nicht geeignet erscheint, um die Gründe nament-
lich Hegels zu widerlegen ; auf die ich hier aber
nicht weiter eingehen kann.
Viel wichtiger und am Ende für die Wür-
digung dieser Publication die Hauptsache wäre
ein Urtheil über die Zuverlässigkeit der Texte.
Aber die . Hül&mittel , die dafür zu Gebote
stehen, sind nur gering. Eine Vergleichung
anderer Ausgaben kann wenig in Frage kom-
men, wo diese Edition «auf die Originale oder
Handschriften zurückgegangen ist. Varianten
giebt sie nie undf fordert also volles Vertrauen.
Beigefugt sind indessen mehrere Facsimiles, nach
deren Vergleichung ich manches anders lesen
würde, z. B. in der Urk. Lothars Nr. 141 S.
248 : multam pateretur diminutionem ; ut et tu-
torem ; peragendam. Nr. 654 bat ziemlich
gleichzeitig Stumpf in dem 3. Heft der Acta
imperii Nr. 218 drucken lassen aus einer Ab-
schrift desselben Originals, das Porro benutzte,
(von dem Italiener Ghiuzoni), und es fehlt da
nicht an Abweichungen, bei denen man nicht
umhin kann den Lesarten des letzteren den
Vorzug zu geben: offenbar hat Porro die Ab-
kürzungszeichen übersehen, wenn er gleich in
den ersten Zeilen liest statu statt statum, no-
verit st. növerint ; dazu kommen Irrthümer, wie
construere st. constituere (abbatem). Ist dies
bei den in deutlicher Minuskel geschriebenen
Urkunden geschehen , so kann die Meinung
>
Codex dipomaticns Cavensis. 653
von der Genauigkeit der Texte die in Cnrsiv
überliefert sind nicht eben die beste sein.
Mehr Vertrauen flösst in dieser Beziehung
die Arbeit der Benedictiner von La Cava ein.
Sie reibt sich würdig den Publicationen an,
durch welche Mitglieder des Ordens sich seit
den Tagen Mabillons so vielfach um die histo-
rische Forschung verdient gemacht haben.
Mehrere Facsimiles begleiten auch diese Aus-
gabe, welche eine Controls möglich machen,
und zeigen, dass die Herausgeber wohl die Ab-
kürzungen aufgelöst, u und v nach jetzigem Ge-
brauch gesetzt, die Interpnnction binzugefügt,
sonst aber sich streng an die Originale gehal-
ten haben; auch alle Namen von Personen und
Orten sind, wie man kaunr billigen kann, mit
kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben.
Die Urkunden gehen zurück bis auf das
Jahr 792, und dieser Band erreicht noch lange
nicht das der Gründung des Klosters, die erst
im J. 1011 erfolgte. Die Vorrede des Hrn.
Morealdi erklärt es (S. 33) daraus, dass das
Kloster vielfach benutzt worden sei, um private
Urkunden in Sicherheit aufzubewahren, ausser-
dem seien später honoris causa wohl die Schätze
älterer Stifter hier niedergelegt worden. Viel-
leicht dass ausserdem daran zu denken ist; dass
mit dem Erwerb von Gütern auch ältere auf
sie bezügliche und in ihnen bewahrte Urkunden
an das Stift kamen. Es hat aber dies die
Folge gehabt, dass eine bedeutende Zahl sehr
verschiedenartiger Actenstücke hier sich finden,
grossentheils solche die sich sonst wenig erhal-
ten haben, die namentlich diesseits der Alpen zu
den grössten Seltenheiten gehören: Urkunden
über Kauf, Pacht, Schuldverhältnisse unter Pri-
vaten, über Bestellung und Behandlung der
554 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
*.v
Morgengabe, dazu gerichtliche Acte verschiede-
ner Art machen die grosse Mehrzahl ans: sie
schliessen sich eng an die Bestimmungen des I
Langobardischen Rechtes an, und geben, wie
auch von anderer Seite schon hervorgehoben
ist, mannigfach interessante Belege für die An-
wendung desselben.
Wie diese Urkunden ausserdem für die Ge-
schichte der süditalienischen Fürstenthümer, na-
mentlich Salernos, von grosser Wichtigkeit sind,
hat früher De Blasio gezeigt, der als Archivar
des Klosters auf sie seine Untersuchungen über
die Chronologie der Fürsten gründete: eine
hiernach entworfene ausführliche Tabula chro-
nologies ist dem Bande vorausgeschickt, die
selbst wieder zur Bestimmung der Daten in
den einzelnen Urkunden dient. Ein Index chro-
nologicus giebt diese zugleich mit dem Inhalt
derselben an, während den Stücken selbst nur
allgemein das Jahr, ohne jede nähere Bezeich-
nung, vorgesetzt ist.
Ein allgemeineres Interesse gewährt es zu
sehen, wie Fränkischer und Griechischer Ein-
fluss im 9ten und lOten Jahrhundert hier in
Süditalien mit einander um die Herrschaft ge-
rungen haben. So schon in den äusseren Ver-
hältnissen, so dass Urkunden nach den Jahren
bald Fränkischer, bald Griechischer Kaiser da-
tiert werden. Freilich ist den Herausgebern
passiert, wie an anderer Stelle gerügt ist, eine
Anzahl späterer, dem Ilten Jahrhundert angehö-
riger Stücke auf einen älteren Byzantinischen j
Kaiser zu beziehen; doch bleiben andere die
bestimmt dieser Zeit angehören. Der Fürst
von Salerno erkennt eben jenen als seinen Ober-
herrn an. Waimar sagt im J. 899, Nr. 111 1
S. 143: quia concessum est mihi a sanctissimis ]
Codex diplomatic*» Caveusis. 555
et piissimis imperatoribus Leone et Alexandrum
per berbnm et firmissimum pr^ieptnm bulla
anrea sigillatum integram sortem Benebentane
probincie, er nennt sich imperalis patricius.
Aber die Salernische Münze ist die Fränkische,
den Solidus zu 12 Denarien, S. 106. 138 etc.,
woneben wieder die auri solidi Constantiniani
sich im Gebrauch befinden. Eine wunderliche
Mischung Griechischer und Langobardischer
Beamten — namen, muss man wohl sagen — giebt
eben jene Urkunde: nullus basilico nec stratigo
nec protospatarius aut spatarius, candidatus
und spatarius aut gastaldeus aut sculdais aut
qualiscumque alius reipublice hactionarius vel
qualiscumque alius serbus sanctorum impe-
ratorum. Auch Einflüsse des Fränkischen Be-
neficialwesens zeigen sich, Nr. 12. 100. 113.
Doch ich enthalte mich solche Einzelheiten
hervorzuheben. Mit Recht macht auch schon
die Vorrede auf den Reichthum von Eigen-
namen aufmerksam, den die Urkunden bieten
(darunter so eigenthümlich Deutsche wie Rosse-
mannus). Dass die Sprache fast ausschliesslich
die lingua rustica Italiens ist, versteht sich von
selbst ; nur ganz einzeln zeigt sich der Einfluss
grammatischer Studien, wie in Nr. 64 von dem
Fürsten Guaiferius. Nicht bloss auffallende For-
men, auch ganz neue Worte finden sich, wie
sortifices, nach der Erklärung der Herausgeber
(S. 207) == heredes.
In der Beifügung von Anmerkungen sind sie
sehr sparsam gewesen. Es fällt auf, in einer
derselben r(S. 98) noch das falsche Chronicon
Cavense Pratills citiert zu sehen. Dagegen
wird die Ausgabe der echten Annales Gavenses
von Pertz im 3. Bande der Scriptores da wo
von der Handschrift die Rede ist (S. XXXIII N.)
. 556 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
V
nicht erwähnt, obwohl nicht bloss Troya in
einem hier mitgetheilten Brief, der zur Ausgabe
der Urkunden auffiorderte, auch der Verfasser
der Vorrede an anderen Stellen selbst der An-
wesenheit und Arbeiten- d&$* Deutschen Gelehr-
ten im Kloster gedenken. * * . .. v
Sorgfältige Register fehlen so w&ag hier «wie .
in dein Band der : Turinjer Sammlung.
Als Beilage mit besonderer Paginierung >
im ganzen ist diese fünfmaltvefscfaieden , was
nicht ^ben bequem — giebb der Bgnd voä La
^.ßavä: I manoscritti membrahacei deÜa biblio-
teca della SS. Trinita , di Cava de’ Tirreni
descritti per D. Bernardo Gaetano d’Aragona
ö. in italienischer Sprache, ohne Zweifel
* aueb der'Anfang einer in den folgenden Bänd$» %
fortzuflihrenden Arbeit, in der hier nur die fjfr-f.
Schreibung einer einzigen^ Handschrift gelkftjk
wird. Diese, die einen von der Vulgata i3r .*
weichenden Text /einer Lateinischem Bibel* ent- •
hält, wird hier ins 8te Jahrhundert gaget^t;*
doch scheinen mir die beigefügten schönen Fäcsi- ..
mile höchstens an das 9te denken zu lasset.
Ob die durch Mittheilung längerer Stellen dar-
gelegte Beschaffenheit des Textes das. Verlaßt
gen nach einer Vollständigen Veröffentlichung
rechtfertigt, vermag ich nicht , zu beurtheilea.
Aber die Fortsetzung dieses Werkes wird leb-
haft zu wünschen sein. G. Waitz.
%
Senator, Untersuch, üb. d. fieberhaft. Process. 557
Dr. H. Senator. Untersuchungen über den
fieberhaften Process und seine Behandlung. Ber-
lin bei A. Hirschwald. 1,873* 8. £08 Seiten.
*f' '
Der Verf. legt *ifi der vorliegenden Mono-
graphie seine dttrch mehrfache Arbeiten gewon-
nene^ Ansichten über das Fieber dar und sucht .
nun zu . einem gewissen Abschluss über dies
streitige Thema zu gelangen. Ob die Lehre vom
Fieber augenblicklich sich zu einer monogra-
phischen Arbeit eignet, darüber muss man von
vornherein zweifelhaft sein, denn wir sind erst
im Beginn eines exacten Studiums, überall sind
es nur Bruchstücke, welche zum Bau herbeige-
bracht werden, und gerade in einer Monographie
müssen die Lücken, das Unbefriedigende der
bisherigen Resultate am schroffsten hervortreten.
Dieser^chwierigkeit ist sich übrigens der Verf.
vollständig bewusst.
Nach einer kurzen Darstellung des jetzigen
Standpunctes der Fieberlehre, worin der Verf.
seine und Leydens vermittelnde Stellung zwi-
schen Traube und Liebermeister kennzeichnet,
beschreibt er seihe calorimetrischen Untersu-
chungen an Hunden im Fieber- und Hungerzu-
stande. Das Fieber der Versuchshunde wurde
durch Einspritzung Von Sputis unter die Haut
erzeugt. Hier fehlt leider jede Angabe des par
thologischen Befundes und dadurch giebt sich
der grosse Mangel aller solcher Untersuchungen
zu erkennen. Sie reissen das Fieber aus der
Symptomenreihe der Krankheiten heraus und be-
trachten das Fieber als die Krankheit.
Aus jenen Versuchen 4 zieht S. folgende
Schlüsse über das Fieber der Thiere. Im Be-
ginne ist die Abgabe von Harnstoff, von Koh-
lensäure und Wasser vermindert, im weiteren
558 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 18.
Verlaufe bedeutend vermehrt, aber mit beträcht-
lichen Schwankungen. Die Harnstoffiabschei-
dung ist so stark vermehrt, dass eine gestei-
gerte Neubildung bewiesen ist; die vermehrte
Abscheidung scheint sogar allein auf vermehr-
ter Production zu beruhen. Die grössere Menge
der abgegebenen Kohlensäure ist nicht mit
Nothwendigkeit auf vermehrte Bildung zurück-
zufiihren, sondern findet seine Erklärung durch
die günstigeren Ausscheidungsbedingungen. Die
Steigerung der Wasserabgabe lässt sich noch
nicht auf einen bestimmten Grund zurückführen.
Nach der Berechnung verliert der Körper im
Fieber viel mehr Eiweiss, aber weniger Fett,
wie im Hungerzustande. Dagegen erreicht der
Stoffumsatz des Fiebers lange nicht die Höhe
des normalen Stoffumsatzes. Mit der Dauer
des Fiebers nimmt die Intensität des Stoff-
wechsels ab, dagegen ist eine Abnahme der
Wärmebildung nicht nachweisbar. Da also im
Fieber Wärmehaushalt und Stoffiunsatz nicht
übereinstimmen, so muss man schliessen, dass
noch auf anderen Wegen Wärme gebildet wird
als auf dem, welcher zur Bildung von Harnstoff
und Kohlensäure führt.
Dagegen lässt sich beim fiebernden Menschen
eine Steigerung der Harnstoffabgabe bis auf das
Doppelte annehmen und der Eiweisszerfall ist
in noch höherem Masse gesteigert, als sich aus
der Zunahme des Harnstoffes berechnen lässt.
Die Zunahme der Kohlensäureausscheidung ist
eine weit geringere. Dagegen wird Kali und
Harnfarbstoff in viel grösserer Menge ausge-
schieden. Es müssen demnach im Fieber haupt-
sächlich die stickstoffhaltigen Gewebe zerfallen,
welche reich an Kali und Hämoglobin sind, also
die rothen Blutkörperchen und die Muskeln-
Senator. Untersuch, üb. d. fieberhaft. Process. 559
4
0
Ans der Verminderung der rothen Blutkörper-
chen folgt aber eine Verminderung der Ver-
brennungsvorgänge. Es wird im Fieber nicht
so viel Sauerstoff aufgenommen und nicht so
viel Körpermaterial zu den Endproducten oxy-
dirt. Durch den Harn wird im Fieber ein klei-
nerer Theil der Wasserzufuhr entfernt, als im
normalen Zustande, dagegen ist die Abgabe von
Wasserdampf vermehrt.
Aus den Endproducten des Stoffumsatzes
lässt sich nur ein geringer Zuwachs von Wärme
für das Fieber berechnen. Die Wärmeabgabe
ist sehr gesteigert, aber nicht proportional der
Körpertemperatur. Die Regulation der Eigen-
wärme ist im Fieber aufgehoben; es beruht
dies auf einer zeitweise eintretenden Verenge-
rung der Hautgefässe, welche mit derjenigen Er-
weiterung derselben, welche zur Wärmeregula-
tion nöthig wäre, abwechselt. Bei längerer
Dauer des Fiebers tritt die gesteigerte Erreg-
barkeit der Gefässe zurück, die Arterien sind
dauernd enger, die Wärmeabgabe noch mehr
beschränkt , also steigt die Innentemperatur
noch mehr, während die Peripherie kühler wird.
Die wesentlichen Fiebererscheinungen werden
nur durch die periodischen Beschränkungen der
Wärmeabgabe neben einer beständig vermehr-
ten Wärmebildung erklärlich.
Der Verf. glaubt durch diese Theorie alle bis
jetzt bekannten Erscheinungen des Fiebers erklärt
zu haben und es ist nicht zu leugnen, dass seine
Zusammenstellung eine recht geschickte ist. Ref. ist
dem Gedankengange der Arbeit bis hierher ohne
Unterbrechung gefolgt. Es spricht aus demsel-
ben eine ruhige Forschung und Anschauungs-
weise; es ist dem Ergebniss die volle Berechti-
gung für den jetzigen Standpunkt der Fieber-
560 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
lehre nicht abzusprechen. Die Forschungen
des Verf. erhalten durch dasselbe eine gewisse
Abrundung, deren jeder Schriftsteller bedarf
wenn er sich lange Zeit hindurch mit ein und
demselben Thema beschäftigt hat.- Anders ist
natürlich der Standpunkt des Lesers und Kri-
tikers. Natürlich wird er die Arbeit und das
Geschick des Verf. anerkennen, aber unmöglich
kann er zugestehen, dass durch die Arbeit ein
gewisser Abschluss in der Lehre vom Fieber
erreicht sei. Obgleich die neueren Studien den
Symptomencomplex »Fieber« viel klarer gefasst
und in seine Einzelheiten zerlegt haben, müssen
wir doch gestehen , dass wir der Erkenntniss
seines Wesens noch eben so fern stehen, wie
früher. Diese Unsicherheit ist so gross, dass
sie selbst S. zwingt, auf eine Definition des
Fiebers ganz zu verzichten, wie er es im Ueber-
gange zum letzten Capital thut. Dieses letzte
Capitel, in welchem der Verf. aus der ent-
wickelten Theorie die Folgerungen über die
Therapie ableitet, ist der schwächste Theil des
Buches, wie jede Folgerung aus nicht sicheren
Prämissen. Es tritt hier eine solche subjective
Färbung hervor , dass manches Fragezeichen
nöthig ist. Den Eiweisszerfall denkt S. durch
ernährende Klystiere oder subcutane Ernährung
zu ersetzen: schwerlich wird aus diesen das
Eiweiss aufgenommen, sicher nicht in Organ-
eiweißs umgewandelt. Um die Temperatur-
Steigerung zugleich mit der Erregbarkeit der
Hautgefässe zu bekämpfen, empfiehlt er vor
dem Bade grosse Senfteige. Vielleicht wäre
auch das Firnissen der Haut zu rathen. Von
den Kalisalzen wird Bromkalium empfohlen.
Es reiht sich Hypothese an Hypothese und die
Bemerkung ist nicht zu unterdrücken, dass sicher
Wolf, Luc. Geizkoflerw. s. Selbstbiographie. 561
nicht fünf Jahre verfliessen werden, bevor der
Yerf. das fünfte Capitel umgeschrieben wün-
schen wird. B.
Lncas Geizkofi er und seine Selbst-
biographie 1550 — 1620. Von Adam Wolf
Wien 1873. Wilhelm Braumüller. IV und 212
SS. in 8.
Aus einem Manuscript des Museum Ferdi-
nandeum zu Insbruck veröffentlicht der Heraus-
geber hier die Selbstbiographie eines aus Tyrol
stammenden, später zu Augsburg ansässigen
Becbtsgelehrten des sechszehnten Jahrhunderts.
Sie giebt Aufschluss über Herkunft und Familie
des Autors, sein bunt bewegtes Stndienleben,
seine Fahrten in Deutschland, Frankreich und
Welschland bis zu dem Zeitpunkte, da er als
gereifter Mann sich ein Haus zu Augsburg grün-
det. Die persönlichen Erlebnisse sind mit werth-
vollen Mittheilungen über politische und kirch-
liche Verhältnisse, über Bechtsstndium und Uni-
versitäten verbunden, so dass das Buch als ein
werthvoller Beitrag zur Sittengeschichte einer
wichtigen Uebergangsperiode, jenes Zeitraums
zwischen dem Religionsfrieden und dem Aus-
bruche des dreissigjährigen Krieges, begrüsst
werden darf.
Lucas Geizkofler war das jüngste von den
siebzehn Kindern eines zu Sterzing angesesse-
nen begüterten Mannes, der in seiner Jugend
den Rechtsstudien obgelegen hatte. Aus dem
Leben des Vaters, Hans Geizkofler, theilt der
Sohn eine Reihe characteristischer Züge mit.
36
562 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 18.
Gleich der Eingang versetzt uns in die grosse
Bewegung der Zeit. Wir sehen Hans Geiz-
kofler, nachdem er zu Leipzig und Wittenberg
studirt, im Jahre 1517 auf der Universität zu
Bologna, um institutiones juris zu hören. Aber
seine italiänischen Studirgesellen lassen ihm, so-
bald er ins Auditorium zur Lection kommt
oder der Professor fortgegangen ist, keine Buhe
und bestürmen ihn mit Fragen nach Neuigkei-
ten aus Deutschland und dem kecken ketzeri-
schen Mönch Martin Luther. Als er freimüthig
erklärt, er könne in den ihm zugekommenen
Thesen nichts Ketzerisches entdecken, begreifen
die Welschen gar nicht, wie man noch zweifeln
könne, nachdem päpstliche Heiligkeit und die
fürnehmsten Doctoren ihr Wort gesprochen.
Andersgesinnte wagen sich nicht mit ihrer Mei-
nung heraus, voll Furcht, was einem teutschen
Studenten wohl hin gehe, werde für sie nicht
ohne Gefahr bleiben. Bald fieng man an, aber
auch auf Geizkofler zu lauschen, und besorgt
riefen ihn seine Pfleger, Gerhaber wie sie ein-
mal mit altem Ausdrucke genannt werden, in
die Heimat zurück.
Blieb Hans Geizkofler auch dem alten Glau-
ben treu, so war er doch von tiefer Abneigung
gegen alles Pfaflenthum erfüllt und liess trotz
alles Anrathens und Hindeutens auf Ordens-
stellen und Brixener Domherrenpfründen kei-
nen seiner zwölf Söhne den Fuss in den geist-
lichen Weingarten oder Berg der Hoffahrt und
üppigen Pracht setzen, sondern verlangte und
erreichte es, dass alle mit der Feder oder dem
Spiess ihre Nahrung gewannen.
Neben dem Vater tritt in den Aufzeichnun-
gen des Sohnes besonders ein Bruder, Michael
Geizkofler, hervor. Auch dieser studirte die
Wolf, Luc. Geizkofler u. e. Selbstbiographie. 563
Rechte, hörte in Wittenberg, als dort bis in
die 3000 Studenten von verschiedenen Nationen
versammelt waren (S. 18), neben juristischen
Vorlesungen Luther, Melanchthon und Bugen-
hagen, wurde dann Rentmeister der Fugger zu
Augsburg und blieb ungeachtet aller Jesuiten-
freundschaft seiner Herren ein treuer und eif-
riger Anhänger Luthers das ist ein recht katho-
lischer Christ, wie der Verfasser selten hinzu-
zufügen versäumt, während er andrerseits von
der katholischen versteh papistischen Religion
redet. Dem Bruder Michael hatten denn auch
die meisten seiner Geschwister zu danken, dass
sie aus dem merklichen groben Irrthum aber-
gläubischen Papstthums kamen. Noch mehr
aber unser Lucas Geizkofler. Nach dem Tode
des Vaters (1563) nahm sich Michael deB jun-
gen damals dreizehnjährigen Bruders an, liess
ihn zu sich nach Augsburg kommen und die
Schule von St. Anna besuchen, an der damals
berühmte Lehrer, wie Hieronymus Wolf,* wirk-
ten. Der Bruder schickte ihn dann auf die
Universität, um Jura zu studiren. Zuerst nach
Strassburg, dann nach Paris, wo erst eben nach
mehr als dreihundertjährigem Verbot die Lehre
des römischen Hechts zugelassen war. Endlich
studirte er noch zu Dole in Burgund und in
Padua, dessen Besuch damals unter den deut-
schen Juristen in Folge der grossen Privilegien,
welche die germanische Nation dort genoss, und
des Schutzes, welchen die Protestanten an dem
Dogen zu Venedig hatten, sehr allgemein war
(Stölzel, Entwicklung des gelehrten Richter-
thums I 51).
Der Beschreibung dieser peregrinatio acade-
mica ist der grösste Theil des Buches gewid-
met, innerhalb derselben der breiteste Raum
36*
564 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 18.
für die Geschichte des Pariser Aufenthalts in
Anspruch genommen, so dass der Autor seine
ganze Aufzeichnung nicht unpassend als gallica
diaria bezeichnet (S. III). Die Zeit, die er in
Paris zubrachte, war aber wohl dazu angethan,
dem Schreiber von Denkwürdigkeiten einen rei-
chen Stoff zu gewähren, und eben durch diese
Schilderungen und Erzählungen aus Paris bildet
das Buch Geizkoflers, das ursprünglich nur ein
Stück aus einer Haus- oder Familienchronik ist,
zugleich einen Beitrag zur allgemeinen Ge-
schichte. Er kam im Sommer 1571 (wie Seite
31 zu verbessern ist) nach Paris und verblieb
dort bis zum Herbste 1572. Ueber 1500 deut-
sche Studenten hielten sich damals in Paris auf,
mehr noch als durch die Studien, durch die
Schaulust angelockt. Wo es etwas zu sehen
gab in jenen festlichen Tagen, welche die Hoch-
zeitsfeier des Königs Heinrich von Navarra mit
der Prinzessin Margarethe im Gefolge hatte,
fanden sie sich getreulich ein, die teutschen
Scholaren von der Universität, nicht selten et-
was beweint. Als sich das Gerücht von bevor-
stehenden Gefahren ausbreitete, zogen ihrer
viele nach Orleans und Bourges, die in jener
Zeit überhaupt von zahlreichen deutschen Juri-
sten aufgesucht wurden (Stölzel S. 58). Lucas
Geizkofler blieb in Paris, vertauschte aber auf
Bath eines bei. Hofe wohl bekannten Lands-
mannes wiewohl ungern seine bisherige Woh-
nung , einem fürnehmen Buchdrucker und
Buchführer, Andreas Wegelin, der die Teutschen
lieb hatte und sie um ein leidenlich Kostgeld
wohl tractirte, mit einem Quartier in einem
grossen Kosthause , das ein Pfaffe Monsieur
Blandis nahe bei St. Hilarikirchen hielt. Wie
gut der Rath war, sollten die verhängnisvollen
Wolf, Luc. Geizkofler u. a. Selbstbiographie. 565
Augusttage offenbaren. Die Gassen, wo die
Buchführer wohnten, wurden von den mörderi-
schen Botten ganz besonders heimgesucht, das
Haus seines neuen Wirthes, der bei der Thür
in einem Pfaffenrock und vierecketen Barett
wohl gekleidet stand, blieb trotz aller Nachfrage
nach hugenottischen Vögeln unangetastet. Ein
wahres Prachtstück von einem Pfaffen begegnet
uns in dem Mr. Blandis: er disputirt mit sei-
nen Kostgängern auf Tod und Leben, holt sich
zur Verstärkung wohl einige Jesuiten in sein
Haus, studirt alweg am Freitag bei einem
Schwarzkünstler die Zauberei und sucht mit ih-
rer Hülfe Lucas Geizkofler und seinen gottes-
furchtigen Gesellen einen kräftigem Gespenster-
glauben beizubringen, lässt sie nicht undeutlich \
merken, wie er de hereticis occidendis denke,
aber, nachdem ihm seine Kostgänger den Beu-
tel gefüllt und auf Monate im Voraus das Kost-
geld bezahlt hatten, schützt er sie doch vor je-
dem Angriff. Die Zechlust, welche die deut-
schen Scholaren selbst unter * den grössten Ge-
fahren nicht verliess, hätte sie allerdings auch
trotzdem nahezu ins Unglück gebracht. Lucas
Geizkofler erwies sich wiederholt als das be-
sänftigende, vorsichtige Element* unter seinen
ungestümen, rasch zufahrenden Landsleuten.
Durch die während der eigentlichen Schreckens-
tage gebotene Zurückhaltung berichtet er aller-
dings über deren Vorgänge nur nach Hören- <
sagen, aber bei manchem Ereigniss vor- und
nachher ist er doch Augenzeuge gewesen. So
besuchte er wie viele teutsche Scholaren den
Admiral Coligny hach dem auf ihn gemachten
Mordanfalle und hörte, wie er gar freundlich
redend sich selbst getröstet (37); am 4. August
sah er die Einsegnung des königlichen Braut-
566 GÖtt. gel. Anz. 1874. Stück 18.
paares durch den Cardinal yon Bourbon mit
an (38), am 11. Sept, eine grosse Prozession,
an der der königliche Hof und das Parlament
theilnahmen und bei der man das Bildniss der
grossen Genovefa herumtrug, die bei den
Parisianern so hoch geehrt wird, wie bei den
Atheniensern unter den Heiden die grosse Diana
geehret worden sein mag (62); am 27. October
die Hinrichtung des Kitters Briquemont, eines
Freundes von Coligny, der sich nach der Bar-
tholomäusnacht verborgen gehalten hatte (71).
Unter all den Aufregungen und Gefahren ver-
gass Geizkofler seiner Studien nicht, hörte die
berühmtesten der Pariser Professoren, unter
andern auch Pierre la Kamee, Petrus Kamius,
wie er ihn nennt, der in der Bartholomäus-
nacht ermordet wurde (32. 47), und der Ver-
kehr mit den Herren Kanzovii aus Holstein und
den Weisem aus Augsburg wurde auch für ju-
ristische Zwecke ausgenutzt, namentlich zur
Abhaltung juristischer Disputationen (57. 61).
Bei solcher Gelegenheit rühmt er wohl das
herrlich Ingenium, das jener oder dieser seiner
Freunde offenbart; das Gleiche darf der Leser
von dem Erzähler thun, der sich überall als
ein wehrhafter schlagfertiger Vertheidiger sei-
nes Glaubens bewährt und gegenüber den Be-
denklichkeiten seiner Freunde kräftig der Huge-
notten annimmt, die aus natürlicher Defension
und Zulassung aller Völkerrecht die Faust zu
Beschützung ihres Leibs und Lebens ge-
braucht (77).
Im Herbst 1572, als es ihm bei seinem Kost-
herrn Blandisius zu unheimlich wurde, verliess
er Paris, aber noch langehin hat ihn der Ge-
danke an das parisianische Blutbad verfolgt
und bei Freudenfesten ist er darüber in schwere
Wolf, Luc. Geizkofler u. s. Selbstbiographie. 567
Gedanken und Melancholey gerathen, so dass
ihm untersagt wurde, von dem parisianischen
tyrannischen Wesen etwas zu hören oder zu
lesen (95. 96).
Ueber Dole, wo Geizkofler das Jahr 1573
zubrachte, Strassburg, Tübingen, die Sauer*
bronnen und förnehmsten warmen Bäder in
Baden und Würtemberg kehrte Geizkofler nach
fünfjähriger Abwesenheit in seine zweite Hei-
mat, die Stadt Augsburg zurück. Nachdem er
dann noch zu Padua 1575 auf 1576, mehrmals
durch die unglückselige Zeit der sterbenden Läuft
unterbrochen, studirt, 1577 zu Dole während
eines zwölftägigen Aufenthalts Baccalaureus, Li-
centiat und Doctor beider Rechte geworden —
die Formalitäten, die dabei zu beobachten wa-
ren, werden genau beschrieben — war, trat er
als Consulent in die Dienste der Fugger, für
deren Interesse er schon häufig während seiner
Universitätszeit, durch Besprechung ihrer Rechts-
händel mit berühmten Rechtsgelehrten thätig
geworden war. Im Jahre 1590 verheirathete
er sich vierzigjährig zu Augsburg mit Catharina
Hörmannin von Gutenberg, der Verwandten
eines Mannes, der in dem Fuggerschen Ge-
schäftshause eine bedeutende Stellung einnahm.
Soweit reicht die Selbstbiographie, die Geiz-
kofler 1609 schrieb, jedoch unter Benützung
gleichzeitiger tagebuchartiger Notizen, die er
sich auf seinen Reisen gemacht hatte. Wir be-
sitzen seine Aufzeichnungen allerdings nicht von
seiner eigenen Hand, sondern in einer Abschrift
des Zacharias Geizkoflers, seines Neffen, der wie
andere seiner Familie für die Geschichte seines
Geschlechtes thätig war. Aber wir werden,
trotzdem die Erzählung von Lucas Geizkofler
durchgehende in dritter Person redet, dieselbe
568 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
auch in der vorliegenden Form als von ihm
selbst herrühend anzusehen haben, denn abge-
sehen davon, dass er in einem andern Ms. auf
diese von ihm verfassten gallica diaria verweist,
ist er an einigen Stellen aus seiner gewöhnli-
chen objectiven Redeweise in die der ersten
Person übergegangen. — Zum grössten Theile
ist das Buch deutsch geschrieben; einzelne Par-
tien, wie die Schilderung einer zu Paris am 1.
Septbr. 1572 aufgeführten Schulkomödie (70
Anm.), der Bericht über die Rückkehr aus
Frankreich durch Baden und Würtemberg
(105) , der ganze Schluss von der Beschrei-
bung der Promotionsfeierlichkeiten in Dole an
(129 ff.), sind lateinisch abgefasst, in der vor-
liegenden Publication mit Ausnahme des erst-
erwähnten Stückes, das ausgelassen ist, deutsch
wiedergegeben.
Von dem reichen Inhalt des Buches, seinem
Werth für die Erkenntniss der Geschichte und
der Sitten der Zeit, konnte hier nur eine Probe
gegeben werden. Nicht minder anziehend ist
es durch seine Form, wenn auch die Darstel-
lung Geizkoflers nichts weniger als kunstvoll
genannt werden darf. Nicht selten wird der
Gang der Erzählung durch Einschaltungen un-
terbrochen. Namentlich liebt er es bei Erwäh-
nung von Persönlichkeiten, mit denen er in Be-
rührung kommt, über ihr früheres oder späte-
res Leben Andeutungen zu geben. Er hat offen-
bar grossen Werth darauf gelegt, mit hervor-
ragenden Männern seiner Zeit bekannt zu wer-
den; es genüge hier auf die Notizen zu ver-
weisen, welche er bei Gelegenheit des Besuchs
der verschiedenen Universitäten giebt, und des
Abstechers zu gedenken, welchen er von Speier
nach Heidelberg macht, um Donellus heimzu-
Wolf, Luc. Geizkofler u. s. Selbstbiographie. 569
suchen und seine öffentlichen Vorlesungen zu
hören (S. 127). Nicht selten hat er den
Schmerz, von Männern, die er in seiner Jugend
gekannt, erwähnen zu müssen, dass sie zuyor
die wahre evangelische Religion wohl erkannt
hatten, hernach aber durch die zeitliche Ehr
und Geldsucht überwunden, oder durch Anlei-
tung der Jesuiten zum Papstthum gewichen sind
(S. 28, 32, 38).
Der Herausgeber hat der Selbstbiographie
(S. 9 — 142) eine kurze Einleitung (S. 1 — 8)
voraufgeschickt, welche auf die Bedeutung der
Städte und des Bürgerthums für das Reforma-
tionszeitalter hinweist, nicht blos der Führer
und Leiter der grossen Bewegung, sondern auch
der kleinen Leute, welche im Rathhause, in der
Landstube, von der Lehrkanzel, oder in der
Werkstätte an der Erlösung des Geistes mitge-
arbeitet haben. Zu den zahlreichen Selbstbio-
graphien des 16. Jahrhunderts, die nach dieser
Seite hin Licht verbreiten, gesellt sich die vor-
liegende des Lucas Geizkofler. Der Herausgeber
lässt ihr zwei umfassendere Abhandlungen nach-
folgen, von denen die erste (S. 143 — 176) aus
den übrigen im Museum Ferdinandeum zu Ins-
bruck aufbewahrten Papieren des Geizkofler-
schen Geschlechts über das Leben des Autors
bis zu seinem Tode im Jahre 1620, seine Hei-
rat, seine religiöse Stellung, seine sonstigen
Schriften und sein Verhältnis zu den Fuggern
berichtet; die zweite (S. 177 — 208) die Ge-
schichte des Geschlechts der Geizkofler von
1430 — 1730 sowie einzelner merkwürdiger Glie-
der nach den durch mehrere Generationen fort-
geführten Geschlechtsregistern und Hauschroni-
ken erzählt.
Diese Beigaben sind dem Leser sehr will-
570 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
kommene Ergänzungen ; der Herausgeber hat
in ihnen eine reichhaltige Belehrung über die
Zeit, die Stadt Augsburg, die Fugger, das Ge-
schlecht des Erzählers niedergelegt, kurz einen
reichen und doch massvoll gehaltenen Rahmen
hergestellt, in welchen sich das Bild des Lucas
Geizkofler harmonisch einfügt. Sicherlich war
dies Verfahren berechtigter, als eine Unterbre-
chung des Textes der Selbstbiographie durch
Anmerkungen. Zu solchen hat der Herausgeber
an den wenigen Stellen seine Zuflucht genom-
men, wo Orts- oder Personennamen des Textes
zu erläutern waren. Erwünscht wären sie auch
da gewesen, wo Daten, die im Texte fälschlich
angegeben sind, zu berichtigen waren, wie S.
31 (s. oben) oder S. 122 (vgl. mit S. 180), wo
von einem Studium des Hans Geizkofler zu
Leipzig und Wittenberg anno 1543 die Rede
ist, oder S. 36, wo die Zeitangaben über die
Verwundung Colignys mit den. sonst bekannten
nicht im Einklang sind. Der Graf von Lini,
der Schwiegersohn Colignys, war nicht als Luy-
nes, sondern als Teligny zu erklären; auch wa-
ren die Titel einiger juristischen Schriften oder
Namen von Juristen zu verbessern, wie S. 61
paradita in paratitla, S. 94 Cymis in Cynus,
Zinichaim in Zuichem, injuxto in juncto u. a. m.
und in der aus dem Corpus jur. canon, citirten
Stelle statt quibus sibi : quibuslibet, statt execu-
verit: exercuerit zu lesen.
F. Frensdorff.
571
Thiele, Papst und Kaiser.
Thiele, D. H., Propst des Klosters Marien*
berg, Hof- und Domprediger in Braunschweig:
Papst und Kaiser. Eine zeitgeschichtliche Stu*
die. Leipzig, Verlag von Justus Naumann, 1874.
48 Seiten gr. 8.
Der Verf. nennt seine Arbeit eine »Studie«,
vielleicht hätte er sie aber auch ein Pasquill
nennen können, wenn sie auch nicht in dem ge-
wöhnlichen Tone eines solchen gehalten ist. Von
dem, was wir sonst »Studien« zu nennen ge-
wohnt sind, d. h. von sorgfältiger Quellenerfor-
schung zum Zweck der Aufhellung tatsächlicher
Verhältnisse, finden wir hier gar nichts. Man
sieht allerdings, dass der Verf. kirchengeschicht-
liche Vorlesungen gehört und kirchengeschicht-
liche Werke gelesen hat, denn er besitzt man-
cherlei allgemeine Kenntnisse fiber die vergan-
genen Zeiten der christlichen Kirche, die er
denn auch zu seinem Zwecke zu verwerthen
weiss. Aber neue Aufschlüsse fiber die Zustände
und Vorgänge früherer Zeiten empfangen wir
nicht, und — der Zweck, den der Verf. ver-
folgt, ist auch durchaus nicht, uns solche zu
geben: im Gegentheil, er benutzt die Vorgänge
der früheren Zeiten nur, um das, was jetzt in
Preussen und im deutschen Reiche geschieht,
mit ihnen in Parallele zu stellen und als ver-
werflich erscheinen zu lassen.
Der Gesichtspunkt, von welchem der Verf.
bei der Beurtheilung der gegenwärtigen deut-
schen Verhältnisse ausgeht, ist der, den man im
Allgemeinen den » particularistischen « genannt
hat: er ist durch die Wendung, welche unsere
neueste Geschichte genommen hat , ganz und
gar nicht befriedigt, und eben deshalb hat er
auch seine Schrift verfasst, um dieser Unzu-
572 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 18.
'V
friedenheit Luit zu machen. Aber ob ihm da
nun diu Unbefangenheit und Klarheit des Gei-
stes geblieben sei, die nöthig wäre, um die
Vorgänge im neuen deutschen Reiche richtig
und gerecht zu beurtbeilen, das ist eine Frage,
die wir denn doch, Angesichts seiner Auslas-
sungen, bestimmt verneinen möchten. Wer in
dem gegenwärtigen Kampfe zwischen Kaiser und
Papst nichts Anderes erblicken kann, als nur
eine neue Auflage der ersten Christenverfolgun-
gen durch die römischen Kaiser, wer es vermag,
Sätze zu schreiben, wie den, dass der gegen-
wärtige Kampf ein solcher »zwischen altrömi-
schem, ins Deutsche übersetztem Staatsrecht
und neurömischem Kirchenrecht« sei, der giebt
zu dem Zweifel Veranlassung, ob er überhaupt
noch im Stande sei, zu verstehen, was im deut-
schen Reiche sich gegenwärtig begiebt, und un-
ter solchen Umständen kann uns alle Geschick-
lichkeit in der Gruppirung der Thatsachen
nicht bewegen, ein anderes, als ein ernst zu-
rückweisendes Urtheil über die Arbeit des Verl
zu fallen. Es ist nichtB Anderes, als eine feind-
selige Stimmung gegen Kaiser und Reich, die
sich hier zum Aussprechen gebracht hat und
die so weit geht, dass sie in ziemlich unver-
steckter Weise für die den Staat und seine un-
bezweifelbaren Rechte befehdenden Bischöfe
Partei nimmt , und da hilft es denn wenig,
dass der Verf. mit einem Aufblick zu Gott und
mit einem lateinischen Gebetsworte schliesst:
die ganze Verschrobenheit seines Standpunktes
wird dadurch nicht gebessert, eben so wenig,
wie es etwas nützt, dass er den Wunsch aus-
spricht, es möge gehen, wie — - in Bürgers
Leonore beschrieben wird — der Verf. fuhrt
eben diese Verse ziemlich geschmackloser Weise
f
Tbiele, Papst und Kaiser.
573
an — es möge so rasch wie möglich Frieden
gemacht werden. *'■
Dass es mit einem Frieden, wie er jetzt mit
den streitenden Bischöfen allein geschlossen
werden könnte, nicht gethan sein würde, das
kann nur Leuten verborgen sein, die so befan-
gen sind, wie der Verf. Allerdings ist der
augenblickJiche Zustand ja unerquicklich genug,
und dass das Ziel des Kampfes der Frieden
zwischen Staat und Kirche sein müsse, ist wohl
selbstverständlich. Aber wenn der Staat jetzt
bloss auf Frieden hinausgehen und deshalb
Frieden um jeden Preis schliessen wollte, müsste
da der Erfolg nicht der sein, dass die Macht-
stellung der Kirche in unerträglicher Weise er-
höht würde und zwar so, dass nicht bloss der
Staat, sondern auch die evangelische Kirche
den empfindlichsten Schaden davon hätte ?
Wenn der Verf. daher etwas Nützliches und
zunr Frieden wirklich Diensames batte thun
wollen, so hätte er vor allen Dingen zeigen
müssen, auf welchen Grundlagen denn der
neue Frieden errichtet werden müsste, um auch
für den Staat annehmbar und unbedenklich zu
sein; aber dieser blosse Ruf nach Frieden, wie
er ihn erhebt, ist nicht bloss nutzlos, sondern
dient auch nur dazu, des Verf. feindliche Stel-
lung gegen den neuen deutschen Staat ins
Licht zu stellen. Nach unserm Bedünken muss
eine völlige Neuordnung der kirchlichen Ver-
hältnisse das Ziel des gegenwärtigen Kampfes
sein und zwar eine Neuordnung nach gesunden
Kirchen- und staatspolitischen Grundsätzen,
durch welche die Beziehungen beider zu einan-
der nach Maassgabe der beiderseitigen Berech-
tigungen sicher gestellt werden müssen, und
dazu ein besonnenes, verständnissvolles Wort
574 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 18.
zu reden, hätte sich allerdings der Mähe ge*
lohnt, zumal diese Verhältnisse wohl noch nicht
überall klar erkannt sein mögen. Aber wer
ein solches wirkliches Friedenswort nicht reden
kann, der thäte am Besten, überhaupt in den
Streit nicht hinein zu reden, am Allerwenigsten
aber in so wirklich oberflächlicher Weise, wie
es der Verf. gethan hat.
Jedenfalls werden des Verf. »Studien« zu
unserer Zeitgeschichte noch tiefer zu gehen ha-
ben, wenn sie werthvoll werden sollen. Diese
Parallelisirungen, wie er für gut befunden hat,
sie vorzutragen, wo scheinbare und rein auf
der Oberfläche liegende Aehnlichkeiten hervor-
gehoben, dagegen aber die tiefer liegenden und
wesentlichen Unterschiede ganz und gar nicht
beachtet werden, sind, selbst wenn sie immer-
hin mit einem gewissen Esprit gemacht sind,
doch kaum etwas Anderes, als ein Missbrauch
von Geschichtskenntnissen, und um so bedenk-
licher, als allerdings die Urtheilslosen leicht da-
durch getäuscht und missleitet werden können.
F. Brandes.
Joannis Urbach processus judicii qui
Panormitani ordo judiciarius a multis dici-
tur ex recognitione Theodori Mut her jure-
consulti. Halis Saxonum typis et impensis
Orphanotrophaei A. D. CIOIQCCCLXXHI. —
XXVIH und 339 S. 8.
Das in der Ueberschrift genannte Werk, der
processus judicii des Joannes Urbach, ist
Mather, Joanms Urbach proc. iud. 575
von Mather nach einer Handschrift der Leip-
ziger Universitätsbibliothek, welche dem 15.
Jahrhundert angehört, herausgegeben. Ausser
dieser hat der Herausgeber nicht weniger wie
siebenzehn andere Handschriften und verschiedene
ältere Drucke benutzt und aus ihnen zur Ver-
gleichung ein sehr erhebliches Material an Les-
arten unter dem Texte beigefugt. Schliesslich
hat er durch Zurückführung der Quellencitate
auf die heutige Citirmethode, sowie durch ein
genaues Quellen- und ein umfangreiches Sach-
register den Gebrauch des Werkes um Vieles
erleichtert.
R. v. Stintzing, dem der Herausgeber
seine Arbeit gewidmet hat, setzt in seiner vor-
trefflichen Geschichte der populären Literatur
des römisch-kanonischen Rechts in Deutsch-
land S. 239 ff. die Entstehung dieses Process-
werks in den Anfang des 15. Jahrhunderts, ge-
nauer die Regierungszeit Innocenz VH. (1404 —
1406), — eine Annahme, die durch das Alter
der meisten Handschriften unterstützt wird.
Für den eigentlichen Verfasser hält Stintzing
den Panormitanus; Muther dagegen, der
sich hierüber schon früher ausgesprochen (Ztschr.
f. R. Gesch. Bd. VI S. 214 ff. Bd. VHI S. 123.
Glaser’s Jahrbb. Bd. IX. S. 243 vgl. Wetzeil,
System 3. Aufl. §. 3 Anm. 15a), sieht das Werk
für deutschen Ursprungs an und vindicirt es
dem Johannes Urbach, über dessen Person, lite-
rarische Beziehungen und sonstige Verhältnisse
er sich weitere Ausführungen Vorbehalten hat.
Die Herausgabe dieses processus judicii ist
ein höchst verdienstliches Unternehmen, durch
welches sich Muther Anspruch auf unseren Dank
erworben hat. Zwar besitzt derselbe in Absicht
auf die Rechtsbildung des gemeinen Processes
576 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 18.
die gleiche Bedeutung nicht, vie sie den älte-
ren italienischen Schriftstellern des Mittelalters
zum Theil zukommt, nichts desto weniger ist
sein Werth für die geschichtliche Erforschung
des gemeinen Processes kein geringer. Lidern
er ausschliesslich auf den Italienern, namentlich
den Glossen, dem Durantis und Johannes
Andrea fasst, fbdrt er in Wahrheit den Ab-
schluss und die Resultate der wissenschaftlichen
Bewegung der voraufgehenden Jahrhunderte, wo-
für unter Anderem auf die Lehre von der Voll-
macht und namentlich auf die Lehre von den
substantialiajudidi hingewiesen sein mag, welche
letztere unmittelbar auf die Reform des jüngsten
Reichsabschiedes hinführt. Daneben ist der pro-
cessus judicii des Johannes Urbach die erste
Processdarstellung, die zugleich den sog. unbe-
stimmt summarischen Process mit umfasst.
Endlich besitzt die Schrift durch ihre kurze,
übersichtliche und lichtvolle Darstellung gegen-
über den massenhaft anschwellenden Werken
der späteren Italiener einen Vorzug, der ihre
Brauchbarkeit um ein Beträchtliches erhöht.
Zum Schluss haben wir noch die schöne Aus-
stattung hervorzuheben, welche die Verlagshand-
lung dem Buche hat zu Theil werden lassen
und die um so mehr Anerkennung verdient, als
derartigen Unternehmungen ein Absatz über die
engsten Gelehrtenkreise hinaus von vorne herein
nicht in Aussicht steht, dieselben daher immer
mit Opfern verbunden sind, die im Interesse
der Wissenschaft gebracht werden.
Kiel. E. Wieding.
J
577
Gdttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König). Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 19. 13. Mai 1874.
Dr. Wilhelm Schum. Vorstudien zur
Diplomatik Kaiser Lothars m. Habilitations-
schrift. 36 S. 8. Halle 1874. Buchdruckerei
des Waisenhauses. -
Unter dem Titel »Vorstudien zur Diplomatik
Kaiser Lothars HI.< die Urkundenfälschungen
jener Periode zu behandeln, hält Referent für
keine eben glückliche Wahl des Verfassers. Erst
nach einer in das kleinste Detail eingehenden
nnd im Wesentlichen abgeschlossenen Durch-
forschung der gesammten Urkunden Lothars HI.
konnte er die vorliegenden Untersuchungen aus-
führen. Er hätte dieselben aber auch so lange
dem grösseren Publikum yorenthalten sollen,
bis seine Arbeit über das gesammte Urkunden-
wesen Lothars erschienen war; sie von dieser
ihrer Grundlage loszureissen und als Vorarbeit
vorauszusenden, raubt ihnen wenigstens zum
Theil ihre beweisende Kraft. In einer Reihe
von p. 36 angeführten Fällen muss der Verfas-
ser geradezu jede definitive Entscheidung und
an mehr als einer Stelle (so p. 19, 26, 29, 31
37
578 Gott, gel* Anz. 1874. Stück 19.
und 32) die nähere Begründung seiner Ansicht
auf die versprochene eingehendere Untersuchung
der Urkunden Lothars verschieben. Bei der
geringen Kennt niss, die wir bisher über das
Urkundenwesen dieser Epoche besitzen, ist es
auch dem Referenten schwer möglich, über die
vorliegende Arbeit des Verfassers ein sicheres
und eingehendes Urtheil zu fällen und beschränkt
sich derselbe daher auf einige wenige allge-
meine Bemerkungen.
Bei St. 3256 a wäre auf das paläographische
Moment näher einzugehen gewesen; denn der
zweite für die Fälschung dieser Urkunde ange-
führte Grund ist zu wenig gewichtig, als dass
er sie beweisen könnte.
Bei Besprechung der beiden Urkunden St.
3240 und 3266 muss es p. 8 auffallen, dass der
Verfasser die Schrift von St. 3266, nachdem er
kurz vorher einige Gründe für die Unechtheit
dieser Urkunde beigebracht hat und 6ie auch
für gefälscht ansieht, ebenso wie die von St.
3240 für ganz zeit- und kanzleigemäss erklärt.
— Mag man den Beweis für die Unechtheit von
St. 3292 auch gelten lassen, so muss Referent
doch die p. 17 bei dieser Gelegenheit aufge-
stellte Behauptung des Verfassers, dass das
Nachschreiben von Protokolltheilen aus einer
zur Confirmation vorgelegten Urkunde »allen
diplomatischen Regeln Hohn spricht«, auf das
Entschiedenste bestreiten. Diese Ansicht ist
unrichtig und mögen als Beweis dafür einige
Beispiele aus dem Kanzleiwesen des XI. Jahr-
hunderts genügen. So geht in der Urkunde
Heinrichs H. für S. Bavo zu Gent (St. 1343.
Original im Cathedralarchiv zu Gent), deren
Originalität über alle Zweifel erhaben ist, die
Invocation: In nomine domini dei et salvatoris
Schum, Vorstudien z. Diplom. Kais. Loth. III. 579
nostri Jesu Christi zurück auf die jedenfalls vor*
gelegte Urkunde Ludwig des Frommen (Sickel
L. 136). Was den Titel von St. 3292: Lotha-
rius ordinante divina dementia Romanorum im-
perator augustus betrifft, so kann ich dem Ver-
fasser nicht beistimmen , wenn er behauptet,
dass er ganz karolingisch ist; am allerwenig-
sten stimmt er mit dem Ludwig des Fr. über-
ein, wie man in diesem Falle vor Allem an-
nehmen müsste. Dass man aber auch beim Ti-
tel sich nicht gescheut hat die Vorurkunde ein-
fach abzuschreiben, zeigen die Urkunden Hein-
richs II. St. 1320 und 1353 (Original in Mün-
ster), wo der unter Heinrich II. nicht gebräuch-
liche Titel: superna favente dementia rez aus
den vorgelegten Urkunden Ottos UI. St. 1177
und 1246 herübergenommen ist. Ueberhaupt
verfahren die mittelalterlichen Schreiber in der
Nachbildung vorgelegter Urkunden oft ganz
mechanisch und gedankenlos. So wird in St.
1320 das »rogatu Franconis praesulis« aus St.
1177 abgeschrieben, obwol jener Bischof Franco
von Worms inzwischen bereits gestorben war;
und doch werden wir aus diesem Grunde St.
1320 keineswegs verdächtigen können (vgl. auch
Sickel: Acta I p. 130).
Bei Besprechung der Fulder Diplome p. 18 ff.
würde der Nachweis für die Unechtheit von St.
3250 an Klarheit gewonnen haben, wenn von
Anfang an der Vergleich mit St. 3082 und
3285 gemeinsam geführt worden wäre. Die
vorausgeschickte Nebeneinanderstellung von St.
3250 und 3285 scheint mir nur wenig für die
Fälschung von St. 3250 zu beweisen; denn die
Fassung der Arenga von St. 3250 steht nicht
im Widerspruch mit dem Inhalt der Urkunde.
Erst durch das Heranziehen von St. 3082 wird
37*
580 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
die einem Fälscher zngeschriebene Zusammen*
arbeitung von St. 3250 in das richtige Licht ge-
stellt. — Den paläographischen Beweis für die
Echtheit von St. 3230 halte ich nicht für aus-
reichend; denn damit, dass die Schrift dem 1.
Drittel des XII. Jahrhunderts angehört, ist
noch nicht gesagt, dass sie auch kanzleige-
mäss ist.
Für den einen Theil der bisher mit »Titel«
bezeichneten Formel des Protokolls den nicht
gebräuchlichen Namen »Devotionsformel« einzu-
führen, halte ich für überflüssig. Endlich
möchte ich mich auch gegen die wiederholt an-
gewendete Schreibung »Hildisheim« wenden,
welche der Verfasser vielleicht der in St. 3240
und 3266 p. 7 erscheinenden Schreibung »Hil-
dinisheim« nachgebildet hat. Die alte Schreib-
weise ist »Hildeneshem« und daher werden wir
wol am Besten thun an Hildesheim festzu-
halten.
An Druckfehlern möchte ich bemerken: p.
27 Anmerk. 4 soll es heissen Jaffe Nr. 5352
statt 3352, p. 30 St. 3239 statt 3259, p. 31
St. 3287 statt 3288.
Zum Schluss sei noch der Wunsch ausge-
sprochen, dass es dem Verfasser baldigst ge-
lingen möge seine eingehenderen Untersuchun-
gen über das gesammte Urkundenwesen Lothars HL
zu publiciren ; erst dann wird man mit Sicher-
heit beurtheilen können, was der Verfasser in
seinen »Vorstudien« geleistet hat.
Wien. Victor Bayer.
ßuthe, Lehrbuch der Geographie etc. 581
Lehrbuch der Geographie für die mittleren
und oberen Classen höherer Bildungs-Anstalten
some zum Selbstunterricht von H. Gut he,
Dr. phil., Professor der Erdkunde an der poly-
technischen Hochschule zu München. Dritte
Auflage. Hannover, Hahn’sche Hofbuchhand-
lung 1874. XII und 676 S. 8°.
Dass für dies im Jahrgange 1872 dieser Bll.
(Stück 31) eingehender besprochene und dem
Lehrer der Geographie ganz besonders empfoh-
lene Lehrbuch so überraschend bald wieder eine
neue Auflage nöthig geworden, ist als Zeichen
eines neuen Aufschwunges des geographischen
Unterrichts gewiss mit Freude anzuerkennen.
Gleichwohl kann ich nur mit wehmüthigem Ge-
fühle diese neue Auflage anzeigen, indem der
Verf. wenige Wochen nach der Unterzeichnung
des Vorwortes, in welchem er etwa noch über-
sehene Fehler dadurch zu entschuldigen bittet,
dass schwere Verluste in seiner Familie sein
Gemüth bedrückten, die Verlagshandlung aber
die Herausgabe so sehr als möglich beschleu-
nigt gewünscht hätte, am 29. Jan. d. J. dersel-
ben tückischen Cholera-Epidemie zum Opfer ge-
fallen ist, durch welche ihm unmittelbar nach
seiner Uebersiedelung nach München im vori-
gen Jahre zugleich .Frau und Kind geraubt
worden waren. Im noch nicht vollendeten neun-
undvierzigsten Lebensjahre ist Hermann Guthe
aus voller Thätigkeit nach nur 20stündigen, aber
schweren Leiden der Wissenschaft entrissen, für
deren Dienst ihm eben erst durch die Berufung
auf den in München errichteten Lehrstuhl der
Erdkunde ein von ihm so lange schon er-
wünschter und ihm auch vorübergehend auf einer
preussischen Universität in Aussicht gestellt ge-
582 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
wesener grösserer Wirkungskreis eröffnet wor-
den war. Und muss ich für die Wissenschaft
diesen Verlust noch insbesondere deshalb be-
klagen, weil nun wahrscheinlich noch lange ein
Unternehmen, welches ich als eine sehr wich-
tige, fast nothwendige Vorbedingung für die
Heranbildung von tüchtigen, den heutigen wis-
senschaftlichen Anforderungen genügenden Leh-
rern der Geographie für unsere gelehrten Schu-
len ansehe und als solche auch in der Anzeige
der vorigen Auflage des Guthe’schen Lehrbuchs
zu begründen gesucht habe, unausgeführt blei-
ben wird, nämlich die Bearbeitung eines mit
Erläuterungen und Litteraturnachweisungen für
Lehrer versehenen geographischen Lehrbuches,
wofür Guthe zu gewinnen mir gelungen war
und worüber derselbe noch wenige Wochen vor
seinem Tode sich hier mit mir besprochen hatte.
Zu einer solchen eben so wichtigen wie schwie-
rigen Arbeit war aber Guthe ganz besonders
berufen, da er in seltener Weise historisches
und naturwissenschaftliches Wissen in der Durch-
bildung vereinigte, wie es für einen wahren
Lehrer der durch Humboldt und Ritter gegrün-
deten wissenschaftlichen Erdkunde erfordert
wird. Ursprünglich Philologe von Fach, hatte
Guthe (der am 22. Aug. 1825 zu St. Andreas-
berg auf dem Harze, wo sein ihn jetzt noch
überlebender Vater damals als Kaufmann und
Senator lebte, geboren und von Ostern 1839
bis Ostern 1845 auf dem Gymnasium zu Claus-
thal vorgebildet war), in Göttingen von Ostern
1845 bis Michaelis 1847 vornehmlich philolo-
gischen und historischen Studien obgelegen, als
er während des folgenden Wintersemesters in
Berlin durch die Vorlesungen Karl Ritters für
die Geographie gewonnen wurde und nun sich
Guthe, Lehrbuch der Geographie etc» 583
entschloss, neben der Philologie in Göttingen,
wohin ihn vornehmlich C. F. Hermann, dessen
Andenken G. auch in sinniger Weise die erste
Ausgabe seines geographischen Lehrbuches ge-
widmet hat, zurückgezogen hatte, noch drei Se-
mester lang durch mathematische und natur-
wissenschaftliche Studien für die Geographie
sich gründlicher auszubilden. So vorbereitet
konnte er gleich um Michaelis 1849 am Lyceum
in Hannover eine Anstellung als Lehrer nicht
allein in den alten Sprachen und im Deutschen,
sondern auch für Naturwissenschaften, Mathe-
matik und Geographie übernehmen und in allen
diesen Fächern eine erspriesliche Lehrthätigkeit
entwickeln. Von nun an wandte Guthe sich
aber mehr und mehr der Mathematik und mit
besonderer Vorliebe der Geographie zu, und da
ihm dafür das Lyceum nicht die vollständige
Verwerthung bot, so ging er, nachdem er am
9. April 1856 auf Grund einer vorgelegten Ab-
handlung (»Zur Geschichte und Geographie der
Landschaft Margiana des heutigen Merw« Han-
nover 1856, 4°) von der philosophischen Facul-
tät in Göttingen den Doctorgrad erworben im
J. 1863 an die Polytechnische Schule in Hanno-
ver über, an der ihm speciell die Fächer der
Mathematik und der Mineralogie übertragen
wurden, weil man damals in dieser Art Lehran-
stalten der Geographie noch nicht den ihr ge-
bührenden Platz zuzugestehen verstand. Umso
erwünschter war es deshalb für Guthe, dass
ihm kurz vorher (1862) durch Uebertragung
des Unterrichts des Kronprinzen und der Prin-
zessinnen und durch die Ernennung zum Lehrer
der Geographie beim Cadetten-Corps Aufforde-
rung und Gelegenheit gegeben war der Erd-
kunde eine besondere Thätigkeit zu widmen und
584 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
geschah dies nun auch um so eifriger, als na-
mentlich der Unterricht beim Kronprinzen dazu
vorzüglich anregte. Durch die Katastrophe von
1866 in dieser ihm lieb gewordenen Lehrthätigkeit
unterbrochen und damit auch ökonomisch in
schwierige Lage gebracht, fasste Guthe nun den
Gedanken, den für diesen Unterricht entworfenen
Leitfaden für den Druck zu bearbeiten, und
konnte ich diesem Plan, nachdem er deshalb
meine Meinung eingeholt und mir seine für je-
nen Unterricht ausgearbeiteten Hefte zur Be-
gutachtung mitgetheüt hatte, auch nur entschie-
den beistimmen. Zu bescheiden jedoch von sei-
nen Arbeiten denkend, bedurfte es erst meiner
wiederholten Versicherung mit diesen Arbeiten
unbedenklich öffentlich hervortreten zu dürfen
so wie auch meiner Aufforderung, damit nicht
zu säumen, dass er endlich seinen Plan ins
Werk setzte. So ist das schöne Buch: »Die Lande
Braunschweig und Hannover, mit Rücksicht auf
die Nachbargebiete geographisch dargestellt.
Hannover 1867. 8.« entstanden, welches von
dem Verf. auch dem Andenken des Kronprinzen
Emst August von Hannover gewidmet worden
ist und welchem er dann im Jahre darauf durch
die dieser Arbeit gewordene allgemeine Aner-
kennung ermuthigt sein ebenfalls aus solchen
Vorträgen hervorgegangenes Lehrbuch der Geo-
graphie folgen liess, welches wiederum einen die
Erwartungen des Verf. weit übertreffenden Bei-
fall fand und sich unter den geographischen
Lehrbüchern namentlich für den Selbstunter-
richt so rasch eine hervorragende, wenn nicht
die erste Stelle erworben hat.
Dass dieses für höhere Bildungsanstalten be-
stimmte geographische Lehrbuch auf den Verf.,
dem es bis dahin an einem solchen . Institute
die Geographie als Hauptfach zu lehren noch
Gutbe, Lehrbuch der Geographie etc. 585
nicht gelungen war, gleichzeitig die Blicke
zweier deutschen Regierungen, der preussischen
und der bayerschen, lenken konnte, um ihn für
eigens für die Geographie gegründete Professu-
ren zu gewinnen, darf wohl als ein erfreulicher
Beweis für die nun auch in Deutschland in den
maassgebenden Kreisen mehr zum Durchbruch
kommende Erkenntniss der Nothwendigkeit,
der Geographie den ihr gebührenden Platz un-
ter den Fachstudien einzuräumen , angesehen
werden ; zu bedauern ist es aber gewiss, dass
Guthe in der Wahl zwischen Halle, wo die phi-
losophische Facultät ihn seit längerer Zeit schon
für eine dort neu zu errichtende Professur der
Geographie erbeten hatte und München, von wo
erst später eine Anfrage an ihn ergangen war,
schliesslich sich für die letztere Stadt entschei-
den musste. Ich sage musste, denn Guthe hat
diese Entscheidung nicht etwa in einer gewissen
Uebereilung getroffen, wie man nach einer inter-
essanten Anzeige der vorliegenden neuen Auflage
des Lehrbuches in der Jenaer Litteraturzeitung
vom 14. März aus der Feder des gegenwärtigen
Inhabers der nunmehr in Halle wirklich einge-
richteten geographischen Professur, zu dessen
Gewinnung man dieser Universität übrigens eben-
falls nur Glück wünschen kann, glauben könnte,
sondern weil er in München, wohin er, nachdem
er in Berlin bei persönlicher Erkundigung
allerlei Anstände gefunden, und seine Hoffnung
auf eine wirkliche Berufung vor der Hand we-
nigstens hatte aufgeben müssen, sich auf beson-
dere Einladung unter Erbietung zum Ersatz
der Reisekosten begeben hatte, um dort sich
die Verhältnisse anzusehen, den entschiedenen
Willen ihn zu gewinnen und überhaupt eine
»wärmere und gemüthlichere Atmosphäre« ge-
586 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
fanden hatte. Ohne Zweifel aber wäre Guthe,
obgleich er selbst ganz froh über diese Ent-
scheidung gewesen zu sein mir erklärte, weil
München auch durch seine geographische Lage
und seine Bibliotheken ihm mehr böte als Halle,
dort doch viel mehr an seiner rechten Stelle ge-
wesen, als in München, wo die Professur für
Geographie, ebenso wie auch die für Statistik,
welche beide Disciplinen doch nach der Idee
unserer deutschen Universitäten recht eigentlich
diesen zukommen, wunderlicher Weise nicht
mit der Universität verbunden, sondern der Po-
lytechnischen Hochschule zugetheilt ist , eine
Verkehrtheit, deren nachtheiligen Einfluss auf
seine wissenschaftliche Wirksamkeit Guthe auch
schon während seiner kurzen Lehrthätigkeit in
München zu erkennen Gelegenheit gehabt hat,
indem er in seinen Vorträgen auf die Bildungs-
stufe der Polytechniker sich hatte herablassen
müssen und mag es wohl nicht überflüssig sein,
sein Urtheil über diese Einrichtung so wie
einige gelegentliche Aeusserungen über seine
wissenschaftlichen Arbeiten und Pläne in Mün-
chen zu hören. »Die Verhältnisse, schreibt er
mir nach Beendigung seines ersten Semesters,
sind hier sehr eigentümlich. Das Polytechni-
cum, das Schoosskind der Regierung, rafft alles
an sich und hat so auch die Bildung der Leh-
rer an den Gewerb- und Realschulen übernom-
men, selbst derjenigen Lehrer, welche nur in
humanioribus unterrichten. So haben wir also
einen Professor der Geschichte, der Geographie,
der Statistik, der deutschen Literatur, der deut-
schen Grammatik, der französischen, der engli-
schen ! Ab und an hört auch ein Polytechniker,
dem eine weitere Ausbildung am Herzen liegt,
eines dieser Collegien. Die Universität scheint
Guthe, Lehrbach der Geographie etc. 587
sich dagegen nicht zu wehren, und da die be-
treffenden Fächer bei uns gut besetzt sind und
das Honorar billiger ist, als auf der Universi-
tät, so hören bei uns viele Studiosen der Uni-
versität. Sie können sich leicht denken, was
für Lehrer wir in die Welt schicken, Lehrer,
die nie ein philosophisches Golleg gehört ha-
ben. Das richtige wäre, die polytechni-
sche Schule auf ihren eigentlichen Zweck zurück-
zuführen und mich und meine Genossen an die
Universität zu setzen. — — Wir haben hier
auch eine geographische Gesellschaft. Sie hält
im Liebigschen Hörsale Vorträge für ein ge-
mischtes Publikum: Männer und Frauen, Alte
und Junge (ich sah Mädchen von 12 Jahren)
gebildete und ungebildete. Ich habe zweien
Sitzungen beigewohnt. Das eine mal wurde über
Centralafrika gesprochen. — Leichter Schaum.
Das andere Mal wurde etwas Darwinismus zum
Besten gegeben. — Versammlungen von Fach-
männern, welche wenigstens daneben existiren
sollten, kommen nicht vor. — — So viel ist
mir klar, dass ich hier einen sehr dankbaren
Boden finde, und so mag denn auch mein Le-
bensschifilein hier vor Anker liegen bleiben.
Nach Berlin sehne ich mich nicht im minde-
sten, und andere Universitäten würden mir
wohl nicht die Hülfsmittel gewähren, welche ich
hier habe. Mein Buch wird in 3. Auflage in
diesem Herbst erscheinen. Ihre freundliche Re-
cension desselben hat in mir den Gedanken ge-
reift, neben der gewöhnlichen Ausgabe eine
solche mit Anmerkungen und Erläuterungen
herauszugeben. Ich würde mich bemühen, darin
eine ausgewählte Litteratur zu geben und alles
so zu concentriren , wie nur irgend möglich.
An diesem Werke würde ich aber leicht 4—6
588 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
Jahre arbeiten müssen, obwohl ich den Umfang
des Buches nur auf das 2 — 3fache des jetzigen
schätze«. —
Ueber das Lehrbuch selbst sei, da dasselbe
in der angeführten Anzeige in diesen Bll. schon
eingehender besprochen worden und die Ein-
richtung in dieser neuen Auflage im Ganzen
unverändert bleiben musste, hier nur noch be-
merkt, dass im Einzelnen die bessernde Hand
sich wieder vielfach zeigt. In liebenswürdi-
ger Weise hat der Verf. auch die nur Einzel-
heiten betreffenden Bemerkungen B. Röslers in
dessen übrigens mehr schulmeisterlichen als
wirklich wissenschaftlich eingehenden Recension
der 2. Auflage (Zeitschrift für die Oesterreichi-
schen Gymnasien 1873. S. 190 f.) grösstentheils
benutzt. Dass derselbe aber durch R’s vor-
nehme Ermahnung »in einem gläsernen Hause
sitzend nicht mit Steinen um sich zu werfen«,
weil doch der »Hadsch« nach Jerusalem nicht
besser sei, als der nach Mekka, sich nicht hat
imponiren lassen und seine Mittheilung über
die Mekka- Wallfahrten (wobei übrigens diese
Wallfahrten nicht schlechthin, wie R. citirt,
sondern »in ihren Einzelheiten« läppischer Irr-
wahn genannt werden, was doch ein grosser
Unterschied ist) aus der vorigen Auflage ein-
fach wiederholt hat, kann ich nur ebenso ent-
schieden billigen, als dass derselbe auch durch
die Verweisung auf Strauss (Alter und Neuer
Glaube) sich von der entschieden theistischen
Weltanschauung nicht hat bekehren lassen, die
er in seinem Buche wiederholt offen bekannt
hat. Guthe war auch darin ein echter Schüler
Karl Ritter’s, der ja seine Arbeit an der Wis-
senschaft geradezu seinen Lobgesang Gottes ge-
nannt hat, und kann ich es mir nicht versagen,
Guthe, Lehrbuch der Geographie etc. 589
dafür in dieser dem Andenken Guthe’s gewid-
meten Anzeige noch ein Zeugniss aus einem
seine wissenschaftliche Thätigkeit in München
eingehender darlegenden Briefe mitzutheilen, in
welchem er auf meine Beileidsbezeugung über
die ihm auferlegte häusliche Heimsuchung er-
wiedert: »Meine schweren Verluste suche ich
herzhaft zu überwinden. Wohl mir, dass ich
den Tröstungen der Religion zugänglich bin.
Arbeit, Arbeit, — das ist menschliche Arznei;
unzerstörbarer Glauben an die persönliche Wie-
dervereinigung mit den vorausgegangenen ge-
liebten Seelen, das ist der Trost des barmher-
zigen Gottes, der mich und das Häuflein mei-
ner Kleinen nicht verlassen und versäumen wird«.
— Manche Geographen werden das ohne Zweifel
als altväterische Beschränktheit belächeln oder
bespötteln. Gleichwohl ist es gewiss, dass Kei-
ner in die vergleichende Erdkunde Carl Ritters
wirklich eindringen wird, der nicht auch im
Stande ist, die inneren Erfahrungen eines ern-
sten, religiös-gläubigen Gemüthes zu verstehen,
in welchen die geographische Idee Ritters eine
ihrer tiefsten Wurzeln hat.
Hoffen wir, dass auch das Guthe’sche Lehr-*
buch der Geographie nicht verwaist bleiben
möge, und dass sich für die fortgesetzte Er-
neuerung desselben ein eben so berufener Bear-
beiter finden werde, wie er dem ebenfalls werth-
vollen Daniel’schen Lehrbuch der Geographie
nach dem Tode des Verfassers gewonnen wor-
den ist. Wappäus.
590 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
Studien zum Deutschen Staatsrechte. Von
Dr. Albert Hänel. Erste Studie. Die ver-
tragsmässigen Elemente der Deutschen Reichs-
verfassung. Leipzig, Verlag von H. HässeL
1873. VHI und 283 S. in 8°.
Unter der neuem schon sehr zahlreichen Li-
teratur über die Grundlagen , die rechtliche Na-
tur und die Organisation der Verfassung des
Norddeutschen Bundes und des jetzigen Deut-
schen Reichs nimmt die obige Schrift nicht
blos durch die Wichtigkeit der behandelten
Frage, sondern auch durch die Gründlichkeit,
Klarheit und Bündigkeit der Darstellung eine
hervorragende Stelle ein und berechtigt zu den
besten Erwartungen für die vom Verf. damit
begonnenen Studien.
Ohne Zweifel ist es eine der wichtigsten
Fragen für die gegenwärtige politische Gestal-
tung Deutschlands, ob und inwieweit der Ver-
tragsbegriff und dessen Gonsequenzen bei der
Lösung der verschiedenen Probleme, besonders
in Betreff des Verhältnisses der einzelnen Bun-
desstaaten zu einander und zum Reiche und
bei der Interpretation der Bestimmungen der
Verfassung des deutschen Reichs, oder auch
neben resp. über derselben auf Geltung An-
spruch machen können und es lässt sich nicht
verkennen, dass die in der Wissenschaft und
Praxis hervorgetretenen politischen Gegensätze
sich hauptsächlich auf die Adoption oder Nega-
tion der Gonsequenzen des Vertragsbegriffs zu-
rückführen lassen, wie dies z. B. besonders bei
der Controverse über die Verfassungs-Aende-
rung nach Art. 78 der Norddeutschen Bundes-
verfassung hervorgetreten ist und sich zum Theil
auch gegenüber der jetzigen Fassung dieses Ar-
Hänel, Studien zum Deutschen Staatsrecht. 591
tikels, wie er in Folge der Versailler Verträge
in die Verfassung des Deutschen Reichs über-
tragen wurde, noch geltend macht.
Zu welch’ heillosen Verwirrungen und bluti-
gen Zusammenstössen die Aufstellung und Ver-
folgung der starrsten Gonsequenzen der Vertrags-
theorie in den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika geführt hat, ist allgemein bekannt.
Nordamerika bietet uns hier ein warnendes Bei-
spiel dar und insofern ist es vollkommen ge-
rechtfertigt, wenn der Verf. im Ersten Kapitel,
welches »Allgemeine Erörterungen« zum Gegen-
stand hat, uns in eingehender Schilderung vor-
führt, wie die Geister der Nullification und Se-
cession mit denen der staatlichen Union dort
auf einander geplatzt sind und des Näheren
erörtert, welche verschiedene Phasen der politi-
schen Entwickelung in der Praxis und in der
Theorie die Sache durchlaufen hat. Nur darf
dabei nicht unbemerkt bleiben, dass doch bei
uns in Deutschland, wo selbst dem Deutschen
Bunde, — der wirklich nur ein Bund fort-
dauernd und im ganzen Umfange des Begriffs
souveräner Staaten war, des Character der
Unauflöslichkeit mit der rechtlichen Folge der
Unzulässigkeit willkührlichen Austritts zuge-
sprochen war (Wiener Schl. A. Art. 5), — bis
auf die neueren Zeiten auch von Seiten der am
weitesten gehenden particularistischen Opposi-
tion, keine Kentucky’schen oder Calhoun9
sehen Resolutionen aufgestellt worden sind ;
wenn auch darüber gestritten wurde und fort-
hin gestritten werden wird, inwieweit bei einem
aus einem Bund souveräner Staaten hervorge-
gangenen, einheitlichen Staats wesen die Con-
sequenzen des Vertragsbegriff sich geltend zu
machen berechtigt seien. Erst in der jüngsten
592 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 19.
Zeit hat sich die Theorie dahin verstiegen, ver-
möge einer einseitigen und theilweise rein so-
phistischen Ausbeutung des Staatsbegriffs, den
besonders von der Deutschen Wissenschaft in
seinem Grund und Wesen erkannten und con-
struirten Bundesstaat für einen logischen
Nonsens zu erklären und entweder den Glieder-
staaten die Souveränetät ganz abzusprechen,
oder, wie es von Seydel in der Zeitschrift für
die gesammte Staatsw. Jahrg. XXVIII. 1872.
S. 185 f. versucht worden ist , unter Adoption
der amerikanischen , die Gesammtstaatsgewalt
ganz negirenden, Theorie der Secessionisten, nur
die Einzelstaaten als souveräne Volksge-
meinschaften zu betrachten, welche in Beziehung
auf die zur Wahrnehmung der gemeinsamen
Interessen eingerichteten Centralgewalt, ohne
staatsrechtliche Subjection, nur m
einem internationalen Verhältniss stehen
und als souveräne Theilhaber jener s. g.
Gentralgewalt sich des selbstständigen und freien
Urtheils über die Ausübung derselben und über
die Innehaltung der nach dem Willen jedes Ein-
zelnen sich bestimmenden Vollmachten nicht
begeben haben sollen.
Die Wissenschaft ist nicht dazu da, um
aus sich selbst oder aus einem selbst ge-
schaffenen Begriff die im Leben hervortreten-
den Rechtsverhältnisse der Menschen und das
für sie massgebende Gesetz zu construiren,
sondern die gegebenen oder geschichtlich ent-
wickelten Verhältnisse menschlicher Gemein-
schaft in ihrem Grund und Wesen zu erfassen
und daraus die ihrer Natur entsprechenden Re-
geln zu schöpfen, oder wie schon Paulus in L.
1. D. de reg. jur. so wahr und richtig sagt:
»Non ex regula jus sumatur, sed ex jure quod
Hänel, Studies zum Deutschen Staatsrechte. 593
est, regula fiat«. Es heisst daher nach unserer
Ueberzeugung von vorne herein einen Irrweg
betreten, wenn man, ausgehend von dem, über-
dies in sehr verschiedener Weise formulirten,
Begriff des einfachen Staats mit den daraus
gezogenen Consequenzen über das historisch bei
verschiedenen Völkern hervortretende Verhält-
niss einer staatsrechtlich organisirten Staaten-
gemeinschaft zu dessen kurzer und präciser
Bezeichnung die deutsche*) Rechtssprache,
im Gegensatz zum einfachen Staat und zum
blosen Staatenbund, die so passende Termino-
logie »Bundesstaat« allgemein recipirt hat, —
abzuurtheilen unternimmt, und wir können lei-
der auch dem Autor der vorliegenden Studien
nicht ganz den Vorwurf ersparen, dass er den
Irrweg nicht ganz vermieden hat; wogegen wir
die Hoffnung hegen, dass in der, nach der be-
reits vorliegenden historischen und literarge-
schichtüchen Abtheilung zu den besten Erwar-
tungen berechtigenden Arbeit von Brie über
den Bundesstaat (Leipzig 1874) dieser Fehler
vermieden werden wird. Der Bundesstaat ist
eben ein aus Bund und Staat zusammenge-
setzter Begriff und es ist reine Willkühr, da-
bei blos mit dem Begriff des Staats zu ope-
riren und den damit in unzertrennlicher Ver-
bindung stehenden Begriff des Bundes ganz
zu ignoriren oder bei Seite zu schieben.
Doch wir wollen hier keine neue Abhand-
lung über den Bundesstaat liefern, über dessen
*) Ziemlich entsprechend würde englisch „confede-
rated state sein“; wogegen die französische Sprache keinen
Ausdruck für Bundesstaat hat, wie auch Tocqueville
de la Democratic en Amerique p. 189 sagt: „le mot
nouveau qui doit exprimer la nöuvelle (?) chose n’existe
point encore“.
38
594 Gott gel. Anz. 1874. Stück 19.
Wesen wir uns bereits in der 2ten Auflage des
deutschen Staats- und Bundesrechts (1853)
selbständig und unabhängig von der bekannten
Abhandlung von Waitz, im Resultate aber in
ziemlicher Uebereinstimmung mit letzterer, wie
wir glauben, klar und bündig ausgesprochen
haben. Daran halten wir im Wesentlichen
auch gegenwärtig noch fest und Anden den Bun-
desstaat in mehr oder weniger vollkommener
Entwickelung überall gegeben, wo aus dem ver-
tragsmässigen Zusammenschluss mehrerer Staa-
ten ein dem wesentlichsten Moment des Staats-
begriffs entsprechendes Verhältniss von Herr-
schaft und Unterordnung, mit einer in ihrer
Sphäre selbstständigen und einheitlich orga-
nisirten Gewalt zur Wahrnehmung und Verwal-
tung der für gemeinsam erklärten Angelegen-
heiten, unter fortdauernder politischer Selbst-
ständigkeit oder Souveränetät der Gliederstaa-
ten in allen übrigen in die Sphäre des Staats
überhaupt möglicher Weise gehörigen Angele-
genheiten, — hervorgegangen ist. Demgemäss
haben wir schon dem Norddeutschen
Bunde, obwohl er in einigen Beziehungen auch
innerhalb der durch seine Verfassung geregelten
Institutionen auf der Linie des Staatenbundes
stehen blieb, den Character des Bundesstaats
vindicirt und thun dies auch in Beziehung auf
das jetzige Deutsche Reich, trotzdem nicht alle
Angelegenheiten in gleicher Weise gemeinsam
für Alle sind und gewisse Consequenzen der
blossen Conföderation in den Versailler Verträ-
gen noch eine stärkere Ausprägung erhalten
haben , als dies beim Norddeutschen Bunde der
Fall war. Jedenfalls wird Niemand, der nicht
vor den gegebenen Zuständen seine Augen ver-
schliesst, verkennen, dass das jetzige Deutsche
Reich, wenn es auch von der staatsrechtlichen
Hänel, Studien zum Deutschen Staatsrechte. 595
Organisation des vormaligen römischen Seichs,
das man um Gotteswillen nicht zum Urbild oder
Prototypus des Bundesstaats machen darf, him-
melweit verschieden ist, wie schon der Nord-
deutsche Bund ein ganz anderes Wesen ist und
einen ganz andern politischen Character hat,
als der vormalige Deutsche Bund, welcher eben
nur ein völkerrechtlicher Verein souveräner
Staaten war und sein wollte.
Mit der Beantwortung der »Vorfragen über
die Natur des Vertrages und das Wesen des
Bundesstaates«, welche der Herr Verf. §. 3 S.
31 f. giebt, kann man sich im Ganzen wohl
einverstanden erklären, wenn derselbe auch im
Einzelnen nicht völlig das Richtige getroffen zu
haben scheint, zunächst in Betreff des Umfangs
der Geltung des Vertragsbegriffs auf den
verschiedenen Gebieten des Rechts. Denn wir
müssen entschieden läugnen, dass dieselbe über
das Gebiet des Privatrechts hinausgreife, wenn
wir auch den Vertrag als Entstehungsgrund
von Rechtsverhältnissen nicht auf Begründung
von Rechtsverhältnissen zwischen Individuen
oder Corporationen innerhalb des Staats
beschränken können, sondern auch auf die
Willenseinigung mehrerer imabhängigen Staa-
ten beziehen müssen, wie ja auch die Geltung
des Vertrags auf völkerrechtlichem Ge-
biete nicht dem geringsten Zweifel unterliegt
und überall zur Anwendung kommen kann, wo
die s. g. Paciscenten sich wirklich nicht blos
selbstständig, sondern auch mit abgeschlossener
eigener Rechtssphäre gegenüber stehen und
sich über Etwas einigen, was Bestandtheil die-
ser ihrer eigenen Rechtssphäre ist und bezüg-
lich dessen sie sich auch nach der s. g. Wil-
lenseinigung als selbstständige Rechtssubjecte
gegenüberstehen. Schon im Deutsch. Staats-
38*
596 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 19.
und Bundesrecht (3ter Aufl.) §. 5 Note 3) hat
sich der Unterzeichnete dahin ausgesprochen,
dass für das entwickelte Staatsrecht, ins-
besondere für die nothwendige Einigung des
Willens der s. g. Factoren der Staatsgewalt der
Vertragsbegriff durchaus zurückzuweisen sei ;
womit auch der Verf. übereinstimmt. Wir müs-
sen aber auch im Gegensatz zum Verf. (cf. da-
gegen schon Deutsch. St. u. Bundesrecht Th. I.
§. 17) entschieden leugnen, dass der Vertrag
den juristischen Entstehungsgrund für den
Staat selbst abgeben könne, insofern dabei an
die Begründung des Staats im Sinne der alten
Vertragstheorie von H. Groot, Hobbes, Locke,
Pufendorf, Rousseau u. s. w. gedacht wird, weil
die wesentlichen Hoheitsrechte des Staats gar
nicht in der Rechtssphäre der paciscirenden
Individuen existirten und mithin auch durch
ihre Willenseinigung nicht für den Staat ge-
schaffen oder auf diesen übertragen werden
konnten. — Anders steht aber die Sache aller-
dings, wie wir auch dem Verf. zugeben müssen,
in Betreff der juristischen Begründung des
Bundesstaats aurch Vertrag, für welchen
der Letztere in der That der einzige mögliche
rechtliche Entstehungsgrund ist, und wobei
sich auch die Bildung der Bundesstaatsgewalt
durch Verzicht der paciscirenden Staaten auf
einen Theil ihrer schon begründeten Souveräne-
tätsrechte und Uebertragung derselben auf die
Centralgewalt, im Sinne eines unwiderrufllichen
pactum unionis et subjectionis, sehr wohl den-
ken und erklären lässt. Innerhalb der hierdurch
begründeten und begrenzten und durch die
adoptirte Verfassung regulirten staatsrecht-
lichen Subjections- Verhältnisses findet dann aller-
dings, dem staatsrechtlichen Princip entspre-
chend, der Vertragsbegriff keinen Platz mehr
Hänel, Stadien zum Deutschen Staatsrechte. 597
und in diesem Sinne rief der Unterzeichnete im
sog. constituirenden Reichstag den, auch für die
Zukunft auf den Vertrag pochenden, sächsischen
Abgeordneten in der 15. Sitzung v. 19. März
1867 (Stenograph. Berichte S. 240) zu, doch zu
bedenken, dass der Vertrag da aufhöre,
wo die Verfassung anfange. Keineswegs
sollte und konnte aber damit, dem Wesen des
Bundesstaats widersprechend, dem Bundesven-
trage für die Zukunft jede Bedeutung abge-
sprochen werden, insofern ja durch ihn die
Sphäre der Bundesgewalt den Einzelstaaten
gegenüber abgegrenzt und eine einseitige
Ueberschreitung derselben als eine Verletzung
des vertragsmä8sig constituirten Rechts signali-
sirt wird. Demgemäss wird man auch daran
festhalten müssen, dass eine Erweiterung der
Sphäre der Bundesgewalt, welche sich nur durch
Verkürzung oder Einschränkung der Rechts-
sphäre der Einzelstaaten vollziehen kann, an
sich eines neuen Vertrags und seiner Bestäti-
gung durch diejenigen Factoren bedarf, welche
den ursprünglichen Bundesvertrag sanctionirten,
wenn nicht durch die auf Grund des Bundes-
vertrags adoptirte Verfassung eine solche Aen-
derung und Erweiterung derselben auf einem
ganz oder mehr staatsrechtlichen Wege in un-
zweideutiger Weise anerkannt ist und ein Glei-
ches muss gelten von der Erweiterung des
Bundes selbst durch Aufnahme neuer Mit-
glieder, wenn nicht auch dafür der Weg der
bundesstaatlichen Gesetzgebung festgestellt ist.
Wir halten daher auch jetzt noch an der An-
sicht fest, welche wir in der Schrift: »Die. Ver-
fassungs-Aenderung nach Art. 78 der Nord-
deutschen Bundesverfassung« (Braunschw. 1869)
ausführlich begründet haben, dass dieser Art.
78 nach der Natur des Bundesstaats und auf
598 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
Grund der Verhandlungen des constituirenden
Beichstags nur auf Verfassungsänderungen in-
nerhalb der durch den Bundesvertrag be-
gründeten und durch die Verfassung regulirten
Rechtssphäre des Nordd. Bundes bezogen wer-
den konnte und haben auch aus den hiergegen
gerichteten Ausführungen des Herrn Verf. über
den »Eingang« der Verfassung S. 92 f. und die
im 3ten Abschn. des 3ten Kapitels S. 145 f. be-
handelten »Verfassungsänderungen , insoweit
die Streitfrage auf den Norddeutschen
Bund beschränkt wird, keine andere Ueberzeu-
gung gewinnen können, obwohl wir zugeben
und auch bereits in der Schrift: »Zur Frage
von der Reichscompetenz« etc. (Braunschw.
1871) öffentlich ausgesprochen haben, dass die
Sache nach Art. 78 der Reichs Verfassung von
1871, nach Maassgabe der Versailler Verhand-
lungen und des ganz veränderten Inhalts des
Art. 78, jetzt anders steht.
Damit ist denn freilich dem über die ver-
tragsmässige Natur des Neuen Deutschen Bun-
des zu ventilirenden Streit in einer der wichtig-
sten Beziehungen die Spitze abgebrochen, ebenso
wie es in einer andern Beziehung schon für
den Norddeutschen Bund dadurch geschehen
war, dass man in Art. 79 seiner Verfassung die
Regelung des Verhältnisses zu den Süddeut-
schen Staaten und die Aufnahme derselben in
den Bund auf den Weg der Bundesgesetzgebung
verwiesen hatte, während der dem Reichstag
vorgelegte Entwurf der verbündeten Regierun-
gen nur von einer Regelung durch »den Reichs-
tag vorzulegende Verträge« sprach. Es war
daher auch ganz natürlich und der Verfassung
entsprechend, dass beim Abschluss der Versailler
Verträge mit den einzelnen süddeutschen Staa-
ten der Norddeutsche Bund, vertreten durch
Hänel, Stadien zam Deutschen Staatsrechte. 599
sein Präsidium, im Ganzen als paciscirendes
Subject auftrat, dass für ihn der Eintritt der
süddeutschen Staaten durch verfassungsmässigen
Beschluss seines Bundesraths und seines Reichs-
tags sanctionirt wurde, und dass in dem Ein-
gang der nunmehrigen Reichsverfassung der
Norddeutsche Bund als der eine der vertrag-
schliessenden Theile im Ganzen genannt wurde.
Damit hat aber u. E. doch nicht in jeder an-
dern Beziehung der Umstand seine Bedeutung
verloren, dass auch für die Staaten des Nord-
deutschen Bundes der Vertrag den rechtli-
chen Entstehungsgrund des Bundes selbst und
seiner Verfassung bildet und wir glauben daher
behaupten zu müssen, dass, wenn und insoweit
es sich in Zukunft (was aber kaum in Frage
kommen wird), um eine Erweiterung der Zwecke
des Bundes, welcher deu Namen Deutsches
Reich führt, oder um Aufnahme neuer Mitglie-
der (worüber die jetzige Reichsverfassung gar
keine Bestimmung trifft), handeln sollte, dies
rechtlich nur auf vertragsmässigem Wege, also
mit Zustimmung sämmtlicher Mitglieder, würde
geschehen können, einerlei, ob sie schon zu den
Mitgliedern des Norddeutschen Bundes gehörten
oder nicht, wobei wir auch dem Umstand, dass
schon über der sog. Arenga sich die Ueber-
schrift »Verfassung des Norddeutschen Bundes«
oder jetzt »Verfassung des Deutschen Reichs«
findet, so wenig eine Bedeutung beizulegen ver-
mögen, als dem allgemeinen Titel eines Buches
für den wirklichen Inhalt desselben. Demge-
mäss ist und bleibt auch das Verhältnis der
einzelnen deutschen Staaten unter sich und
zum Ganzen theils ein völkerrechtliches, theils
ein staatsrechtliches; nämlich ein, die Anwen-
dung des Vertragsbegriffes ausschliessendes,
staatsrechtliches, soweit durch Abschluss
600 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 19.
des Bundes und die daraus hervorgegangene
Verfassung ein dem Staatsbegriff entsprechendes
Unions- und Subjectionsverhältniss begründet ist;
ein völkerrechtliches dagegen, was nur
durch Vertrag normirt oder abgeändert werden
kann, soweit sie nebeneinander und zum Gan-
zen als souveräne Staaten fortbestehen, oder
die Verfassung selbst Etwas der vertragsmässi-
gen Regulirung überweist.
Aus dem Bisherigen ergiebt sich zur Genüge,
in wie weit wir principiell von den Ansichten
des Verf. abweichen. Auf die einzelnen Aus-
führungen des Verf., die in vielfacher Beziehung I
vortrefflich und überzeugend sind, näher hier
einzugehen, verbieten die einer Anzeige in die-
sen Blättern gesteckten Grenzen, und nur zur
übersichtlichen Darlegung des Inhaltes der
Schrift, wollen wir noch die in den einzelnen
Abschnitten behandelten Materien hervorheben.
Das erste Kapitel S. 1 f . liefert »Allgemeine
Erörterungen« über die Ausbeutung der Ver-
tragstheorie in Nordamerika, wovon bereits oben
näher die Rede war, über die Stellung der
Frage für das Deutsche Reich (S. 27 f.), über
das Wesen des Vertrags und des Bundesstaats
S. 31 f. und nach Feststellung des Status
causae et controversiae (S. 50 f.) über die
Rechtspersönlichkeit und den Staatsbegriff im
Bundesstaate.
Das zweite Kapitel (S. 68 f.) behandelt
die Entstehung des Deutschen Reichs.
Im dritten Kapitel werden die einzelnen
Bestimmungen der Deutschen Reichsverfassung
(natürlich nur bezüglich der gestellten Aufgabe?)
einer eingehenden Betrachtung unterzogen, und
zwar im 1. Abschnitt (S. 92 f.) der Eingang
der Deutschen Reichsverfassung; im 2 ten Abschn.
(S. 104 f.) die Bezugnahmen der Deutschen
Hänel, Studien zum Deutschen Staatsrechte. 601
Reichsverfassung auf Verträge in den Artikeln
3. 50. 52 und 66 und in den Schlussbestimmun-
gen zum XI. und XII. Abschn. der Reichsver-
fossung, sowie besonders noch im Art. 40, den
Zollvereinsvertrag von 1867 betr. Im 3ten
Abschn. entwickelt der Verf. (S. 145 — 224)
seine Ansichten über »Verfassungsänderungen«
und betrachtet dabei die Bedeutung der Streit-
frage überhaupt, sowie insbesondre das erste
und das 2te Alinea des jetzigen Art. 78,
wobei wir besonders auf die gründliche (auch
historische) Ausführung über den Begriff und
den Umfang der »jura singulorum, aufmerksam
machen, womit sich auch der Unterz, grössten-
theils einverstanden erklären kann.
Das vierte Kapitel (S. 225 f.) behandelt
die Bedeutung der Proto co Ile zu den Ver-
fassungsverträgen und
das fünfte oder Schlusskapitel stellt »Er-
gebniss und Folgerungen« (S. 239 f.) zusammen,
womit wir uns freilich in den wesentlichsten
Beziehungen, namentlich in Betreff des s. g.
Aufgehens der Einzelstaaten in der »Rechts-
macht des Gesammtstaats« durchaus nicht ein-
verstanden erklären können und daran festhal-
ten müssen, dass es von vorne herein nicht in
der Staatsmacht des Reichs enthalten ist, den
Einzelstaaten zu zu weisen, was sie innerhalb
des Gesammtorganismus für Rechte haben, son-
dern dass ihnen von ihrer Souveränetät Alles
verblieben ist, was nicht dem bundesstaaat-
lichen Gesammtkörper zugewiesen wird, wobei
wir besonders wieder die ganz einseitige Aus-
beutung des Staatsbegriffs für den Gesammt-
staat zurückweisen, in welcher sich zu unserem
Bedauern auch der Herr Verf. ergeht, obwohl
wir zugeben müssen, dass nach der auch von
uns jetzt anerkannten Bedeutung des Art. 78
602 Gott. gel. Anz. 1874. Stfick 19.
fiber Verfassungsänderung der rechtliche »Schutz
der Staatenrechte wovon der Verf. noch S.
252 f. handelt nur ein unvollkommener ist ge-
gen die mehr und mehr sich geltend machende
Tendenz, Deutschland aus einem Bundesstaat
zu einem Einheitsstaat zu machen.
Eine dankenswerthe Zugabe bilden schliess-
lich die beiden Anhänge: 1. Der Preussische
Entwurf der Norddeutschen Bundesverfassung
vom 15. Decbr. 1866 im Vergleich mit dem dem
Beichstag des Norddeutschen Bundes am 4.
März 1867 vorgelegten Verfassungsentwurfe (S.
207 f.) — um so dankenswerther, als jener Ent-
wurf v. 15. Decbr. 1866, welchen auch der Unter-
zeichnete nur in einer Abschrift besitzt, bis
jetzt im Druck nicht veröffentlicht worden ist,
weshalb wohl ein vollständiger Abdruck dieses
Entwurfs mit Angabe der Abweichungen des
andern Entwurfs noch erwünschter gewesen
wäre; und 2. Die Verfassung der conföde-
rirten Staaten von Amerika im Vergleich mit
der Verfassung der vereinigten Staaten von
Amerika (S. 276 f.) — H. A. Zachariä.
Johann Smidt. Ein Gedenkbuch zur Säcu-
larfeier seines Geburtstages herausgegeben von
der historischen Gesellschaft des Künstlervereins
zu Bremen. Bremen 1873. VIII und 312 Sei-
ten in Octav.
»Das gegenwärtige Gedenkbuch mag viel-
leicht beitragen, auch in weitern Kreisen die
Erkenntniss zu erschliessen , dass der Name Jo-
hann Smidts nicht nur der Bremischen, son-
dern der Deutschen Geschichte angehört«. In-
dem so das Vorwort des vorliegenden Buches
schliesst, stellt es eine Behauptung hin, fiber
die an sich freilich wohl nie ein Zweifel hat
sein können, die aber näher begründet und er-
Johann Smidt.
603
lautert zu sehen, nicht blos für das Andenken
Smidts, sondern in der That für die bessere
Kenntnis eines Abschnitts Deutscher Geschichte
selbst von Interesse ist.
Der im Jahre 1857 verstorbene Bürgermei-
ster Smidt von Bremen war einer der Männer,
die in den ersten, für das Deutsche Leben viel-
fach so bewegten und wechselreichen , mehr
schweren als erfreulichen Decennien unsers
Jahrhunderts, in freilich beschränktem, aber
bestimmtem, und doch nicht unbedeutendem
Wirkungskreise, in Sachen seiner Vaterstadt
und in Deutschen Angelegenheiten überhaupt
eine reiche und erspriessliche Thätigkeit entfal-
teten: auch noch mancher der Mitlebenden
wird, wie der Unterzeichnete, sich mit Vergnü-
gen den Eindruck einer bedeutenden Persönlich-
keit zurückrufen, wie man ihn auch nur bei flüch-
tiger Berührung mit demselben in den späteren Le-
bensjahren gewann. Hier sind es Bilder aus
früheren Tagen, die uns geboten werden, keine
vollständige Lebensbeschreibung, aber Beiträge
zu der Geschichte seiner Bildung und seiner
Wirksamkeit zu verschiedenen Zeiten und unter
verschiedenen Verhältnissen, die wohl geeignet
sind, sein Andenken neu zu beleben und zu-
gleich das Verlangen nach weiteren Mittheilun-
gen aus den zu Gebote stehenden Materialien,
am liebsten wohl einer ausgeführten Darstel-
lung seiner ganzen politischen Thätigkeit, zu
erregen. Freilich meint die Vorrede, dass der
Zeitpunkt kaum gekommen, um eine völlig
freie und ^unbefangene Würdigung derselben
zu geben. Doch dürfte dem vielleicht die an-
dere Rücksicht gegenübertreten, dass auch das
Interesse und Verständnis für manche Verhält-
nisse , die da in Betracht kommen, sich irn
Lauf der Jahre mehr verliert, und eine spätere
604 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 19.
Zeit, wenn auch mit mehr Unbefangenheit, doch
kaum mit mehr Liebe sich mit Smidt, seinen
Arbeiten und Schöpfungen beschäftigen wird.
Und hat er sich in der späteren Zeit seines Le-
bens mit manchem, was in seiner Heimath und
in Deutschland geschah nicht mehr in Einklang
befunden, mit dem was die veränderte Zeit
brachte sich nicht recht befreunden können, so
wird das einer gerechten Würdigung seiner
grossen Verdienste und, worauf es auch wesent-
lich ankommt, der Darlegung seiner Arbeiten
und weiteren Mittheilungen aus seinen Papieren
kaum irgend hinderlich sein.
Aber auch das hier Gebotene ist gewiss des
Dankes werth.
Vorausgeschickt ist eine Lebensskizze, die
Otto Gildemeister gleich nach dem Tode in
Bremen veröffentlichte (S. 1—38), und in der in
würdigster Form, mit sicherem Urtheil und fei-
nem Takt, das Bild des Mannes gezeichnet
wird. Daran schliessen sich die Ausführungen,
die ihn in ganz verschiedenen Verhältnissen zei-
gen und jede ihre eigenthümliche Bedeutung
haben. Smidt als Student, Candidat der Theo-
logie, Prediger und Professor der Philosophie,
von E. H. Meyer (S. 39—87); Das erste Jahr
in Frankfurt, von C. Bulle (S. 88 — 192); Die
Gründung Bremerhavens, von W. v. Bi p pen
(S. 193—253).
Der erste Aufsatz zeigt, wie Smidt die un-
gewöhnliche geistige Bildung gewann, die ihn
freilich noch nicht zum Staatsmann machte,
aber sicher dem kleinstaatlichen Diplomaten
die ungewöhnliche Bedeutung verschaffte, die
ihm zutheil ward: er führt uns in die Jahre
des Jenaer Lebens, wo Fichte der begeisternde
Lehrer einer empfänglichen Jugend war: mit
ihm trat Smidt in näheren Verkehr und hielt
Jobann Smidt.
605
diesen auch später aufrecht; zu dem Freundes-
kreis, in dem er verkehrte, gehörten Berger,
Koppen, Herbart, die später als Lehrer der
Philosophie thätig gewesen sind, als Smidt sich
längst der praktischen Laufbahn zugewandt
hatte und aus einem Gandidaten der Theologie
und Lehrer der Weltweisheit zum Mitglied
der » Wittheit« , wie der Bremer Rath sich
nannte, geworden war.
Der letzte Aufsatz von Dr. v. Bippen schil-
dert ausführlich und actenmässig das Werk,
durch welches sich Smidt in seiner Vaterstadt
wohl am dauerndsten sein Andenken gesichert
hat, die Erwerbung des Hafenplatzes an der
untern Weser und Begründung der Stadt Bre-
merhaven, worauf jetzt nicht am wenigsten die
maritime Bedeutung Bremens beruht. Dass
Smidt es vielen abgünstigen Urtheilen in der
Vaterstadt gegenüber durchsetzte, ist ein Zei-
chen der sicheren Auffassung der in Betracht
kommenden Verhältnisse die er hatte; dass er
in Hannover die Abtretung des Gebietes und
der Hoheitsrechte durchsetzte trotz entschiede-
ner Abneigung des Königs und des leitenden
Ministers namentlich gegen das letztere, ein Be-
weis des eigentümlichen Geschicks, das er bei
allen diplomatischen Verhandlungen bewies.
Dies hat er vor allem auch in den Jahren
1813 — 15 bewährt, als es galt die von Frank-
reich vernichtete Selbständigkeit Bremens und
der andern Hansestädte wiederzugewinnen und
zu sichern; und eben dadurch hat er sich im
Hauptquartier der Verbündeten, auf dem Con-
gress zu Wien und am Bundestag zu Frankfurt
einen wesentlichen Einfluss verschafft. Ueber
die Thätigkeit in Wien wird man besonders
gern noch weitere Mitteilungen erwarten. Hier
ist es der Aufentalt in Frankfurt von Ende
608 Gott. gel. Anz. 1874. Stock 19.
eipfache Grösse und Schönheit zu würdigen wissen.
Von den sechszehn Blättern gehören zu Antigone
und Trachinierinnen je drei, zu den übrigen fünf
Stücken je zwei. Auf die Aehnlichkeit, welche die
ganze Art der Darstellung mit den Zeichnungen von
Asmus Carstens hat, macht schon Overbeck in sei-
nem kurzen Vorwort aufmerksam und es ist kein
geringes Lob für die lachmannschen Blätter, wenn
mehrere den Vergleich mit den schönsten yon Car-
stens, z. B. den Griechen der Vorlesung der home-
rischen Gesänge zuhörend, der Gesandtschaft der
Griechen an Achill, nicht zu scheuen brauchen.
Einzelnes ist ja freilich auch nicht gelungen, z. B.
ist auf 2 das Gesicht des Dieners des Teukros miss-
lungen und Agamemnon kann nach Teukros Wor-
ten nicht mehr zugegen sein ; was soll die auf Teu-
kros deutende Handbewegung des Salaminiers
rechts? Auf 3 entspricht der Ausdruck der Freude,
wie er in dem Gesicht Klytämnestras liegt, nicht
der Situation: die Freude des bösen Gewissens
müsste anders erscheinen. Auf demselben Blatt ist
das Gesiebt der Dienerin gleich hinter Klytämne-
stra verzeichnet. — Die Einleitung giebt nach einer
kurzen Uebersicht über Leben und Kunst des So-
phokles eine Analyse der sieben Tragödien, aus
der Bich die Stelle ergiebt, an welche jede einzelne
Zeichnung gehört. Ein Versehen istS. 3 z.E. die
Zahl 458 : Apsephion war 468 Archon. Uebergan-
gen ist, dass Sophokles im J. 443/42 Vorsitzender
der Hellenotamiae war. Was der Verf. über das
Verhältniss des Dichters zur trilogischen Kompo-
sition bemerkt, kann nicht genügen. Doch das sind
Einzelheiten, die den anmuthigen Eindruck, den
das ganze Buch macht, nicht beeinträchtigen kön-
nen. Eine hübsche Zugabe ist die Darstellung des
Sophokles nach der lateranischen Statue auf dem
Titelblatt. H S.
609
Göttingische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stack 20. 20. Mai 1874.
Zoological Mythology or the Legends
of Animals by Angelo de Gubernatis.
In 2 yol. London. Triibner & Co. 1872. —
XXV und 432, VII und 442 SS. gr. 8.
Die Thiere in der indogermanischen
Mythologie von Angelo de Gubernatis.
Aus dem Englischen übersetzt von M. Hart-
mann. Autorisirte, mit Verbesserungen und
Zusätzen versehene deutsche Ausgabe. I. Hälfte.
Leipzig, Verlag von F. W. Grunow. 1874. —
XXIV und 336 SS. gr. 8.
Das vorangestellte Werk des Herrn von Gu-
bernatis (Professors des Sanskrit und der ver-
gleichenden Literatur zu Florenz) ist nur inso-
weit als Originalausgabe anzusehen, als es un-
mittelbar aus dem italiänischen Ms. des Autors
übertragen ist, wobei indess mehrfache Versehen
untergelaufen zu sein scheinen. Diese zu be-
richtigen und Einiges hinzuzufügen haben sich
der Autor und Herr M. Hartmann in der deut-
schen Ausgabe angelegen sein lassen, und auch
von Jenem ist eine besondere Vorrede derselben
39
610 Gott. gel. Adz. 1874. Stück 20.
vorangeschickt. Da Herr von Gubem. sich
hier in sehr höflicher Weise über die deutsche
Literatur und Gelehrsamkeit verbreitet, so will
auch Ref., der schon mehrfach Gelegenheit
fand*) einige Bedenken gegen die herrschende
mythologische Methode vorzutragen, seine Be-
merkungen hier in möglichst civile Form zu
kleiden versuchen.
Herr von Gubem. hat sicher nicht Unrecht
gethan den anfänglich gewählten Titel »Mytho-
logical Zoology« noch in »Zoological Mythology«
umzusetzen, denn das Werk hat mit der Mythen-
forschung allerdings Viel, mit der Naturwissen-
schaft der Thiere Wenig zu tbun. Es erhellt
dies schon aus der deutschen Vorrede des Herrn
Verf., wo es S. XX oben heisst: »Mir scheint
die beste Grundlage der Poesie die Wissen-
schaft, aber auch der beste Begleiter der Wis-
senschaft die Poesie zu sein, die ihr als
Vorläufer, als Fackel dient«. — Dass in al-
ten Zeiten, wo es eine Wissenschaft eigent-
lich noch nicht gab, die Kunst gewissermassen
ihre Stelle vertreten musste, ist bekannt; aber
heutzutage dürften nicht bloss die Herrn Natur-
forscher Bedenken tragen, die Fackel der Poesie
als Führerin zur wissenschaftlichen Forschung
zu gebrauchen. Ein Künstler mag unbedenklich,
wenn er es sagen darf, seinem Werke vorschrei-
ben: »Wahrheit und Dichtung«, der Gelehrte
wird sich bescheiden an die Worte Bacons er-
innern müssen: »Citius ex errore veritas emer-
git quam ex confusione«.
Wir freuen uns allerdings, dass die Befürch-
tungen , die man aus einem solchen Standpunkt
*) Vgl. Gr. G. A. 1872 S. 82 fg., Germania (ed.
Bartsch) XVIII S. 883 fg.
de Gubernatis, Zoological Mythology. 611
des Herrn Verf. von vornherein schöpfen möchte,
sich nur zum Theil bewahrheiten. Es ist wol-
thuend bei derLectöre überall auf solide, wenn
auch nicht immer ganz zusammenhängende und
noch weniger klar geordnete, Studien zu treffen.
Der Herr Verf. zeigt sich nicht bloss als gründ-
lichen Kenner der ihm zunächst liegenden
Sanskrit-Literatur, sondern auch bei den Grie-
chen und Hörnern wol zu Hause: bez. der euro-
päischen Volksliteratur hat er schätzbare Bei-
träge namentlich aus seiner italiänischen Hei-
mat und aus dem reichen Schatze der slavi-
schen Mährchenpoesie herangezogen. Wenn hier
und da doch Irrthümer oder Missgriffe — auch
unabhängig von der Methode des Herrn Verf.
— unterlaufen, so sind wir weit davon entfernt,
die Entschuldigung, welche in der deutschen
Vorrede S. XXI versucht ist, unsererseits abzu-
weisen, aber auf Einiges möchten wir beiläufig
aufmerksam machen. Es ist bekanntlich nicht
alles Gold, was glänzt, und nicht alles my-
thisch, was in der poetischen Behandlung
eines Mythos ausgeführt ist. Der Kindermord
der Medea wurzelt nicht in der Volkssage*),
Euripides hat hier bekanntlich willkührlich den
tragischen Conflict gesteigert, und dabei viel-
leicht die Sage vom Mahle des Thyestes copirt.
Soviel ist klar, dass wir diese Medea des Euri-
pides nicht als eine Gestalt der griechischen
Volkssage aufiassen und also schon darum nicht
mit der kinderschlachtenden Gudrun in der Edda
vergleichen dürfen. (D. Ausg. S. 174). Auf
*) Nach dieser hat Medea vielmehr ihre Kinder in
den Tempel der Here Akraa geflüchtet, wo sie von den
Korinthern umgebracht wurden. Nach dem gutbeglaubig-
ten Zeugniss der Scboliasten zu V. 278 ist dieser Um-
stand von manchen Neueren mit Recht hervorgehoben
worden.
39*
612 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
derselben Seite hat sich der Herr Verf. durch
Missverständnis einer Stelle in der Edda (Lo-
kasenna Str. 23) die Betrachtung eines inte-
ressanten mythischen Symbols entzogen. Nicht
mit dem Melken der Kühe war Loki acht Win-
ter beschäftigt, sondern die Worte
kyr mölkandi ok kona
bedeuten nach den Erklärem »eine milchende
(= milchgebende) Kuh und ein Weib« (warst
du). Diese Erklärung scheint nach dem Zu-
sammenhang allein angemessen , noch deutlicher
spricht das folgende, wol mit Unrecht von Eini-
gen angefochtene Verspaar »Und Du hast dort
Kinder geboren, und das scheint mir von arger
Art«. Somit wird hier Loki als Gott der
Fruchtbarkeit (vgl. Weinhold in Haupts Zeitschr.
VH, 11.) als zeitweise in weiblicher, receptiver
Function (während der acht Wintermonate) wir-
kend aufgefasst: ein Umstand, der freilich von
dem späteren mythol. Standpunct aus, den die
Lokasenna vertritt, einen Grund zu schimpf-
licher Nachrede für den männlichen Gott abgiebt.
Bei der Behandlung des Fuchses (Chapter
XII) fehlt es an einer kritischen Würdigung der
deutschen Thiersage. Wenn auch eine Kennt-
ni8S der gesammten betr. Literatur von einem
Ausländer nicht erwartet wird, so berührt es
doch als eine störende Lücke, wenn so wichti-
gen Fragen leicht aus dem Wege gegangen
wird. Ehe wir darauf genauer eingehen, möch-
ten wir noch über die Anlage des Werkes im
Allgemeinen den Leser zu orientiren suchen.
Die »Thiermythologie« zerfällt indreiTheile:
I. Die Landthiere. II. Die Thiere der
Luft. HI. Die Wasserthiere. Man würde
indess irren, wenn daraus auf die Zugrunde-
legung eines naturhistorischen Princips geschlos-
de Gubematis, Zoological Mythology. 613
sen werden sollte : schon der Umstand , dass
unter den Luftthieren auch der Phoenix, die
Harpye und der Greif figuriren, mahnt daran,
dass man sich auf mythischem Boden befindet.
Herr von Gub. sagt in der engl. Vorrede (S.
XV) sogar mit dörren Worten: although the
first book bears the title of Animals of the
Earth, the second etc. — there is but one ge-
neral domain in which all the animals of my-
thology are produced, and made to exact their
respective parts. This domain is always the
heavens etc. — Welchen Werth hat demnach fur
den Herrn Verf. und sein Publikum diese drei-
fache Eintheilnng? Man könnte weiter fragen,
wie kam der Verf. überhaupt zu dem Titel:
Thiermythologie? Es ist wahr, dass Viel von
Thieren in dem Werk die Bede ist, aber durchaus
nicht ausschliesslich, ja kaum vorzugsweise; denn
abgesehen von dem beschränkteren Vorkommen
der Pflanzen und anorganischen Körper ist von
menschlichen Helden auch sehr viel, am meisten
vielleicht von Erscheinungen der Atmosphäre
gehandelt. Man wirft mir vielleicht ein: die
Luftphänomene werden häufig genug ja mit
Thieren verglichen! — Aber nur so, dass auf
das t hierische Wesen dabei entweder gar
Nichts ankommt, z. B. wenn ich eine Wolke
mit dem Haupt eines Wolfes oder Hundes, aber
ebenso gut auch mit dem eines wilden Mannes
oder mit irgend einem runden Gefäss in mythi-
scher Sprache vergleiche — oder dass das my-
thische Thier nur das Geschöpf mit freier
Willensäusserung bezeichnet, also die animali-
sche Classe mit Einschluss des Menschen. —
Ganz anders sind natürlich Fälle zu beurthei-
len, wo im Opferritual z. B. bestimmten Gott-
heiten nur eine bestimmte Thierspecies (wol
614 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 20.
gar nur von bestimmtem Alter, Geschlecht,
Aussehen) dargebracht werden darf — diese
Fälle, soviel Interessantes sie auch für denMy-
thologen darbieten mögen, sind doch nicht das
eigentliche Gebiet des Mythenforschers: die Ge-
schichte der heidnischen Cultusformen ist eine
nützliche, ja notwendige Hilfswissenschaft der
Mythologie, aber nicht diese selbst, ebensowenig
wie die christliche Archäologie*) sich mit der
Dogmatik deckt. Nur der Nichtbeachtung die-
ses Umstandes glauben wir es zuschreiben zu
dürfen, wenn Herr von Gub. seine gelehrte my-
thologische Arbeit uns in der etwas abstrusen
Form einer Thiermythologie vorlegte. Das
Thier als solches ist, soweit ich sehe, nie Ge-
genstand eines wirklichen Mythos gewesen **), es
dient nur dazu, in buntem Wechsel mit andern
Formen des organischen wie anorganischen Le-
bens die höheren Erscheinungen der Natur der
menschlichen Auffassungskraft durch eine Bil-
derschrift zu illustriren, und es berührt in der
That sonderbar, wenn wir in einem mythol.
Werke viele Seiten hindurch von den Kämpfen
und Leiden des Sonnenhelden gelesen haben
und nun uns erinnern, dass wir immer noch im
Capitel vom »Rinde« stehn! Da Herr von Gu-
bernatis so ziemlich das ganze Gebiet der indo-
germanischen Mythologie umspannt, so wäre ein
Eintheilungsprincip wie das von Mr. Cox in sei-
ner Aryan Mythology gewählte wol zweckmässi-
ger gewesen: es würde ebenso wol nur den Reiz
der Neuheit für sich haben, wenn Jemand bei
Behandlung der allgemeinen Literaturgeschichte
die geographischen Bestimmungen, an welche
*) Das Wort hier im weiteren Sinne mit Einschluss
der Antiquitäten.
**) Ich komme darauf weiter unten zurück.
de Gubematis, Zoological Mythology. 615
sich die einzelnen Dichtnngen anlehnen, zum
Eintheilungsprincip erheben und z. B. Shake-
speares Kaufmann von Venedig nebst Schillers
Fiesco der italiänischen, Byrons Siege of Corinth
der griechisch-türkischen Abtheilung zuweisen
wollte! — Wenn wir also die Einteilung des
Werkes verfehlt und den Titel unzweckmässig
gewählt finden, indem derselbe — ohne dass
wir darum dem Herrn Verf. den Vorwurf zu
grosser Bescheidenheit machen wollten — zu
Wenig sagt, so möchte umgekehrt in dem Werke
selbst, wenn nicht zu Viel hineingezogen wäre,
mehr geleistet worden sein. Es ist bekanntlich
Weise der vergleichenden Mythologen Alles auf
Erden, in der Luft und im Wasser als ihr Ge-
biet anzusehn, was nicht durch die allerfestesten
historischen Dokumente geschützt ist. Histori-
sche Daten, die an und für sich nichts Unwahr-
scheinliches haben (wie die Todesweise Absa-
lom’s, des Sohnes Davids) werden uns gelegent-
lich mythisch erläutert (I, 334 engl. Ausg.) —
kaum befremdet die schon üblich gewordene
mythische Interpretation der grossen Epen, nicht
nur der indischen, sondern auch derÖiade, der
Nibelungen und des Rolandsliedes. Zum Glück
könnte man sagen, hat der geehrte Herr Ver-
fasser, von der Ueberfülle seines Stoffes fast be-
wältigt, nicht Zeit überall die Erklärung in’s
Einzelne auszuführen — hier ist anderen noch
Etwas zu thun überlassen! — Wir unsererseits
können Allen, die der mythischen Deutung
nur da ihr Recht einräumen, wo der histori-
schen Interpretation so zu sagen der Athem
ausgeht, wir können ihnen nur das Studium der
Karl ss age und ihrer Dichtungen empfehlen,
um das Verhältnis von Geschichte und Dich-
616 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
tung in der Heldensage überhaupt*) etwas kla-
rer zu fassen. Wie frei scheint hier nicht die
Sage zu walten, und wie leicht scheint es auch
hier den Mythologen, den »verdunkelten Gott«
und den ührigen Apparat ihrer Wahrsagekunst
anzubringen ! Und doch ist hier die historische
Erklärung unmöglich zu beseitigen, Und das
gründlichste Werk, was wir über diesen Gegen-
stand haben, die Histoire poetique de Charle-
magne von Gaston Paris, lässt hier jede mythi-
sche Deutung als Phantasterei erscheinen !
(Vergl. das Referat von Bartsch Germ. XI,
229). Dieser Umstand dürfte zur Vorsicht mah-
nen auch da, wo wir denAntheil der Geschichte
und Sage nicht so genau abwiegen können wie
bei der Earlssage und dem Rolandslied. —
Während für den zweiten Theil der Nibelun-
gen die historische Deutung nie ganz verlassen,
wenn auch vielfach bestritten wurde, hat man
sich die entsprechende Interpretation des ersten
Theils, wie ich glaube, ohne Not verkümmert.
Ohne hier näher darauf eintreten zu wollen,
weise ich noch darauf hin, wie auch bez. der
homerischen Gedichte allgemach eine mehr
bedächtige Beurtheilung wieder Platz zu neh-
men beginnt. Nachdem hier Wolfs Prolegomena
der subjectiven philologischen Kritik einen viel-
leicht nur allzufreien Tummelplatz geschaffen
hatten, und in Folge dessen auch eine Alles
in?s Mythische ziehende Erklärungsweise hier
lange Zeit ein leichtes Spiel zu haben glaubte,
hat es zwar nie an Verfechtern des altem
Standpunktes gefehlt, aber erst in. neuester Zeit
haben sich Stimmen von dem bedeutendsten
*) Von den indischen and ferner liegenden Epen
bitte ich vorläufig indess abzusehen.
de Gubernatis, Zoological Mythology. 617
Gewicht, wie die Th. Bergks, wieder für eine
gewisse, innere Einheit der beiden grossen Epen
und für die historische Geltung des Namens
Homeros entschieden*). War aber der Dichter
eine — wenn auch uns immerhin räthselhaft
bleibende — historische Persönlichkeit, so lässt
sich auch ein fester historischer Hintergrund für
die Ilias und Odyssee gar nicht in Abrede
stellen.
Indem wir uns also gegen die auch in der
»Zoological Mythology € wiederholt hervortretende
willkührliche Vermengung der auf die phanta-
stisch-speculative Betrachtung der Naturphäno-
mene gegründeten Göttersage mit der bei
allen poetischen Ausschmückungen (die ihrer-
seits allerdings manche Aehnlichkeit**) mit dem
äusseren Apparat der Göttersage zeigen mögen)
doch in der Hauptsache auf reale historische
V erhältnisse zurückzuführenden Helden sage
verwahren müssen, nehmen wir gerne Gelegen-
heit, nach einer andern Seite hin, bez. der Classe
jener weit verbreiteten Volkserzählungen, Mähr-
chen, Schwänke u. s. w. dem Herrn Verf. un-
sern Dank nicht nur für die anziehende Fülle
bisher wenig bekannter Formen dieser Gattung,
die er uns vorführt, sondern auch für den Ver-
such auszusprechen, diesen scheinbar oft schnur-
renhaften Erzählungen durch mythologische Deu-
*) Vergl. Bergk Griech. Lit. Gesch. I. S. 446 fg. —
Die Existenz von Einzelliedem wird man freilich auch
jetzt nicht bestreiten.
**) Aber es ist sicher ebensosehr Sache des Gelehr-
ten sich durch scheinbare Aehnlichkeit über die innere
Grundverschiedenheit nicht täuschen zu lassen, wie es
ihm zusteht, auch da Identität anzunehmen, wo die äusse-
ren Formen auseinandergehen. Leichtes Zusammenstel-
len von Aehnliohkeiten bleibt Düettantenarbeit.
618 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
tung — man vergleiche z. B. S. 66 der deut-
schen Ausg. die Behandlung des Mährchens
vom Blinden, Buckligen und der dreibrüstigen
Prinzessin aus Paocat. V, 12 — einen tieferen
Sinn zu leihen. Wir glauben die Behandlung
dieser Mährchen als den anziehendsten Thefl
des gelehrten Werkes überhaupt bezeichnen zu
dürfen, und ohne gerade in jedem Falle die ge-
gebene Erklärung zu unterschreiben, im Ganzen
doch beipflichten zu können.
Man wird sich allerdings nicht verhehlen,
dass zur Zeit, wo diese Mährchen schriftlich
fixirt wurden, die ursprüngliche Bedeutung ver-
gessen, und das Mährchen nun entweder als
Mährchen im heutigen Sinne oder als gnomi-
sches Beispiel aufgefasst wurde. Gnomisch be-
trachtet würde das oben angeführte Mährchen
etwa denselben Sinn haben, wie die bekannte
Gellertsche Fabel mit der Moral: »Vereint
wirkt also dieses Paar, was einzeln keinem
möglich war«, (ed. Biedermann S. 21).
Dieser Uebergang aus der mythischen
Naturdichtung in die gnomische Didaktik
muss sicher sehr früh stattgefunden haben, ja
man darf die Frage aufwerfen, ob es überhaupt
je eine Zeit hat geben können, wo der mensch-
liche Geist nur in die Betrachtung der Natur-
Phänomene vertieft von der prosaischen wie
poetischen Macht des ihn umgebenden Men-
schen lebens vollkommen abstrahiren konnte.
Mir scheint dies kaum denkbar: selbst in der
sogenannten patriarchalischen Zeit, lange bevor
irgend welche Staatsform den Menschen in ein
bestimmt geregeltes Verhältniss zu Mitbürgern
und Fremden setzte , konnte das Menschenleben
nicht ohne jedes Ereigniss, nicht ohne Phäno-
mene bleiben, die der Betrachtung sich ebenso
de Gubernatis, Zoological Mythology. 619
scharf aufprägen mussten und ihr doch immer
noch näher lagen, als die Erscheinungen der
Natur im Wechsel von Tag und Nacht, Jahres-
zeiten u. dergl. Es ist daher schon bedenklich,
die auf das Menschenleben gerichtete Dichtung,
mag sie nun die Heldenthaten im epischen
Liede feiern oder die Vorkommnisse des All-
tagsleben im gnomischen Spiegel zeigen, einer
wesentlich späteren Zeit zuzuweisen, wie die
dem Preise der Naturgötter geweihten Hymnen:
noch bedenklicher aber will es uns scheinen,
für eine Heldendichtung, für ein Lehrgedicht
überall einen mythischen, ursprünglich nur
auf das Naturleben bezüglichen Zusammenhang
anzunehmen. Um hier nur von der gnomi-
schen Dichtung zu reden, so ist uns kaum
eine Zeit denkbar, wo dieselbe naturgemäss
Bich mehr hätte entfalten können, als jene Ur-
zeit, wo Sprichwort und Fabel als die einzige
Form des öffentlichen Unterrichts erscheinen
mussten. So wie wir wissen, dass in den attischen
Schulen neben Homer namentlich die gnomische
Poesie als Unterrichtsobjekt gebraucht wurde, so
wird in noch früherer Zeit, wo es die Schule
als besonderes Institut noch nicht gab, neben
der gehobenen poetischen Rede auch eine nüch-
terne, die Wirklichkeit der Welt und des Le-
bens möglichst getreu abspiegelnde Diction ge-
geben haben. Nur darin haben Diejenigen,
welche von einer Alleingeltung der sog. Natur-
poesie in jenen Zeiten zu reden lieben, allen-
falls Recht, dass die Form der Belehrung eine
freiere, naivere war als späterhin, wo es die
Schule einführte, Moral in kurzen, trockenen
Sätzen mehr dem Gedächtniss als dem lebendi-
gen Bewusstsein einzuprägen. Damals ward die
Lehre meist noch als Beispiel einer einmal ge-
620 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
schehenen und unter ähnlichen Umständen im-
mer wieder möglichen Handlung, oder noch lie-
ber unter der Hülle eines Bildes eingeführt, das
durch eine kurze Unterschrift seine Bedeutung
auch dem minder Scharfsinnigen klar darlegte.
Derartige Bilder sind unserer Ansicht nach die-
jenigen Thierfabeln, welche nicht dem my-
thischen Kreise zugewandt sind. In der my-
thischen Dichtung treten uns die Thiere wie
eine Art Bilderschrift entgegen, um die Sprache
der Natur annähernd zu fixiren, in der gnomi-
schen Poesie als eine ähnliche für die kleineren
Phänomene des Menschenlebens. Wollte man also
die grossen Ereignisse in der Natur als Tragödie,
als erhabenes Drama bezeichnen, so würde die
Sphäre der gnomischen Poesie und insonderheit
der Thierfabel sich als niederes Schauspiel oder
Komödie ansehen lassen, und dieser Ansicht
entspricht, dass schon bei den Griechen*) sich
der Ausspruch findet: XQV™ ‘V&Q (sc. vfi
d Xwnsxt) 6 jffoumoq dtaxorm r£vnXsUrmv vno-
d'eöSwv, di)ö7i€Q r\ xofitodia jaw. — Der Fuchs
in der Thierfabel wird also mit dem Davus der
neueren attischen Komödie verglichen. Bekannt-
lich treten aber in der älteren attischen Komödie
oft genug auch Thiermasken auf, und die Carri-
katur bewahrt bis auf den heutigen Tag diese
jetzt freilich oft roh erscheinende Sitte, Men-
schen ganz oder halb in Thiergestalt zu zeigen,
während es im früheren MA. noch ein gelehrt-
kirchliches Buch, dessen Quelle in’s griech. Al-
terthum hinabreichen wird**), den Physiolo-
gus gab, das unbedenklich die Eigenschaften
*) Yergl. Philostrat imag. 1, 2 ed. Jacobs. (Grimm
Reinhart Fuchs S. XX).
**) Vergl. H. Hofimann von Fallersleben Fundgr. I,
S. 16.
de Gubernatis , Zoological Mythology. 621
der Thiere, schienen sie gut, auf Christus, schie-
nen sie übel, auf den Teufel zu deuten ver-
suchte. Je unbefangener man in früherer Zeit
den Thieren gegenüberstand — je weniger man
ihre thierische Natur sich theoretisch klar zu
machen wusste oder versuchte, um so leichter
musste man sie im Spiel der Poesie zu einem
Gleichniss, zu einer Maske für den Menschen,
die auch nicht immer ein Zerrbild zu geben
brauchte, anwenden*). Dieser Ansicht sind
freilich die neueren Forscher — so einfach sie
scheinen möchte — gleichwol entschieden ab-
hold gewesen, und es wird hohe Zeit für mich,
diese abweichenden Ansichten näher zu kenn-
zeichnen und womöglich zurückzuweisen.
Es war zuerst J. Grimm, der gegenüber
den allerdings übertriebenen, z. Th. pedanti-
schen Deutungsversuchen, welche an die Thier-
sage und Thierfabel herantraten, mit geistvoller
Kühnheit die Behauptung aufstellte**), die Thier-
sage bedeute ursprünglich weiter Nichts als den
Versuch einer , epischen Wiedergabe des wirkli-
chen Thierlebens, die Thierfabel beruhe ur-
sprünglich auf diesem einfachen Verhältniss der
Anziehungskraft des naiven Thierlebens für den
menschlichen Geist, namentlich im Stadium sei-
ner Kindheit. Alle didaktischen oder satirischen
Beziehungen auf das Menschenleben in der Thier-
fabel sind nach Grimm nur Missverständnisse
*) Versuche späterer Zeit, die Thiere so als maskirte
Menschen zu gebrauchen mussten freilich, weil ihnen
jene Naivität abging, oft verfehlt erscheinen.
**) Reinhart Fuchs S. V fg. — Allerdings erkennt
Gr. sehr wol, dass die Thiere nicht ganz thierisch, son-
dern als mit Vernunft begabt dargestellt werden, aber
in diesem letzteren Moment liegt für Ihn nur ein naiver,
poetischer Reiz, Nichts weiter (S. VII).
622 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 20.
oder Misdeutungen des ursprünglichen Gehalts,
der unbefangenen Abspiegelung des Thierlebens.
Von diesem Standpuncte aus bestritt Grimm
nun auch ferner den Gedanken einer künstlichen
Einführung der Thierdichtung in die Literatur
des Abendlandes , insonderheit Deutschlands ;
aller Anklänge ungeachtet, die sich zwischen
dem sog. Aesop nebst den andern klassischen
Autoren und unserer Fabeldichtung finden, soll
uns die Thiersage ebenso eigenthümlich gehö-
ren, als unsere deutsche Heldensage, und diese
Thiersage soll wieder von einem deutschen
Stamme, den Franken ganz eigenthümlich aus-
gebildet sein. Bei der Autorität des Namens
Grimm hätte es kaum der patriotisch-nationalen
Färbung dieser Ansicht bedurft, um derselben
— zumal sie durch äussere Zeugnisse gestützt
schien — « einen grossen Anhang zu sichern,
wenngleich es an Widerspruch, namentlich von
Seiten des unbestechlich nüchternen Gervinus
nicht fehlte, darf dieselbe als die noch heute
im Ganzen bei uns herrschende bezeichnet wer-
den. Wir haben dieser Tage in einem inte-
ressanten Aufsatz aus der Hinterlassenschaft W.
Wackernagels (Kl. Sehr. H, S. 234 fg.) einen
neuen Versuch erhalten, bei aller Opposition |im
Einzelnen , in der Hauptsache doch Grimms
Ansicht über die Thiersage zu behaupten und
festzuhalten.
Wenn uns also Grimm mit seiner wenn auch
gewagten Auffassung der Thiersage wenigstens
auf der Erde und sogar in Deutschland festhal-
ten will, sind wir dagegen in dem Buche, mit
dessen Besprechung wir es hier zunächst zu
thun haben, natürlich überall auf die Lüfte ver-
wiesen. In dem Gap. vom Fuchs, Schakal und
Wolf (engl. Ausg. T. H, p. 121 sq.) — und
de Gubematis , Zoological Mythology. 623
4
diese Tbiere sind ja nach Grimm die Haüpt-
träger der Thiersage — werden wir in aller
Kürz-e, da ja schon so Viel über diesen Gegen-
stand geschrieben, belehrt, dass der mythische
Fuchs oder Schakal, wie alle mythischen Thiere,
einen doppelten Sinn hat, einmal den Abend
bedeutet, wenn er nämlich den Hahn (d. h. die
Sonne, die auch sonst als Vogel erscheint) zu
fassen bekommt, andrerseits aber den Morgen,
wenn nämlich der Sonnenbahn — wie es in der
Fabel heisst — wieder aus dem Rachen des
Fuchses fliegt. Statt Morgen und Abend wäre
es genauer, Morgen- und Abend-röthe zu sa-
gen, denn sein rothes Fell trägt der Fuchs na-
türlich auch in der Fabel nicht umsonst. Wir
sind weit entfernt Herrn von Gubernatis mit
dem trivialen Einwand zu begegnen, dass wenn
die Sonne auch einmal als Vogel erscheint,
darum noch nicht jeder Vogel eine Sonne zu
sein braucht, oder eine im Ernst uns vorge-
tragene Ansicht in eine niedrigere Sphäre zu
ziehen ; wir halten die Erklärung des Herrn
von Gubern. für möglich, wenn auch allerdings
sehr unwahrscheinlich. Aber darin, dass über-
haupt eine Erklärung und Deutung für die Fa-
bel von Fuchs und Hahn gesucht wird, treten
wir dem Herrn Verf. völlig bei; als eine blosse
Anecdote aus dem Thierleben will auch uns
dieselbe schlechterdings nicht erscheinen.
Wir halten für diese und ähnliche Fabeln
die gewöhnliche didaktische oder besser vielleicht
gnomische Deutung bei, und meinen, dass hier
ebenso die yvco[Atj in ein leicht verständliches
Bild aus der animalischen Welt gekleidet ist,
wie in den mythischen Gedichten der jiv&og.
Man wird auch zugeben dürfen, dass so wie die
Mythen vorzugsweise der ältesten Zeit der
624 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 20.
Poesie angehören, und die Allegorien späterer
Zeit meist nicht mit Unrecht, wenn auch viel-
leicht mit etwas übertriebener Schärfe, das fast
beständige Epitheton »frostig« in unsern Kriti-
ken finden," ebenso die eigentlich gno mische
Dichtung überwiegend in jenen älteren Zeiten
blühen konnte, wo es der Poesie noch oblag,
auch Führerin auf dem Gebiete der Lebens-
klugheit und der praktischen Moral*) zu sein,
während allmählich Philosophie, Schule, theo-
retische und praktische Rechtspflege, weiterhin
die christliche Kirche mit ihren über das Dies-
seits hinausreichenden ethischen Lehrsätzen,
und endlich jene Mischung aller dieser verschie-
denen Elemente, die wir Humanität zu nennen
pflegen, hier die Poesie ebenso ablösten, wie es
nach der Seite des Erkennens der Aussenwelt
und der Vergangenheit die physikalisch-mathe-
matischen und die historischen Wissenschaften
gethan haben. Sind wir also vollkommen be-
rechtigt, von der Poesie jetzt eine direkt-mora-
lische oder gnomische Richtung nicht mehr zu
verlangen, so wird dadurch die Thatsache, dass
einst die Poesie auch nach dieser Seite hin le-
bendig wirksam war, in keiner Weise erschüt-
tert. Parabeln und Fabeln dienten vorzugsweise
dazu, dieser gnomischen Aufgabe der älteren
Poesie zu genügen: aus der Verbindung einzel-
ner Fabeln wurde das sog. Thierepos, wie das
Heldenepos aus der Verschmelzung und künst-
lerischen Verbindung einzelner Heldenlieder,
und unwillkührlich trat das die kleine, wirkliche
Welt abspiegelnde Thierepos als Travestie oder
*) Diese praktische Moral möchte ich allerdings
nicht so scharf von der reineren Ethik trennen, wie Ger-
yinus dies für nötig fand.
de Gubernatis , Zoological Mythology. 625
doch Parodie neben das ideale und heroische
Heldenepos.
Dieser Entwicklungsgang lässt sich in der
orientalischen Literatur, die es freilich zum
Thierepos nicht gebracht hat*), wo aber die
gnomische Richtung der Thierfabel heller als
sonst zu Tage tritt, nicht bestreiten — in der
griechischen und französisch-deutschen Lit. Gesch.
durch Beispiele belegen. Besonders wertvoll ist
uns die Batrachomyomachie, die sollte sie auch
mit den neuesten Forschern (Bernhardy, Bergk)
erst in die Zeit der Perserkriege hinabzusetzen
sein, immerhin doch das älteste Beispiel eines
Thierepos verbleibt. Hier erkennt man deutlich
in der Einleitung eine früher selbständige Fabel,
deren Sinn auch ziemlich durchsichtig ist; der
Schluss scheint, wie auch Bergk bemerkt, wie-
derum auf einer Fabel zu beruhen, das Ganze
hat aber in dieser nun hergestellten Verbin-
dung offenbar weniger gnomischen als satirischen
oder parodischen Zweck. Grimm kann solchen
bestimmten Zeugnissen nur mit derartigen
Wendungen begegnen, wie (S. X) »Nach dem
Character, den ich der Thierfabel beigelegt
habe, versteht es sich von selbst, dass ihr kein
Hang zur Satire beiwohnen könne« und S. XII:
»Schwerer zu widerlegen wird die ausgebreitete
Ansicht scheinen, dass mit der Fabel wesentlich
ein didaktischer Zweck verbunden sei, dass sie
stets eine Lehre verhülle. ... In der That ist
auch schon sehr frühe die Thierfabel unter die-
sen Gesichtspunct gestellt u. s. w.«. Und so
wird auch von Wackernagel den bestimmtesten
historischen Zeugnissen entgegen immer ange-
*) Das PaiScatantra ist, wenn auch nicht in poetische
Fonn eingefasst, doch ganz ähnlich ans kleinen Fabel-
dementen zusammengewebt, wie der Reineke Fuchs.
40
626 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
nommen, dass in noch früherer Zeit notwen-
dig sich die Sache doch anders verhalten haben
müsse! Diese Notwendigkeit beruht aber ge-
nauer betrachtet wesentlich auf der, kaum hun-
dert Jahre alten, wol erst von den Romantikern
fester begründeten Theorie, dass Kunst und
Poesie Selbstzweck seien, lediglich auf Gefühl
und Phantasie beruhen und von jeder morali-
schen Rücksicht abzulösen seien. Diese Theorie,
mag sie nun der Aesthetiker billigen oder nicht,
mag sie der Literarhistoriker dazu benutzen,
die Fabel und alle Lehrdichtung aus dem ent-
gegengesetzten Grunde als nicht rein poetische
Gattungen hinzustellen, aus dem einst Platon
alle nicht rein-moralische Poesie verbannt wis-
sen wollte, so darf sie doch gewiss nicht dazu
missbraucht werden, die historische Entwicke-
lung, wie sie klar und bestimmt vorliegt, in ein
falsches Licht zu versetzen. Hält man eine
didaktisch-gnomische Poesie für unmöglich, so
streiche man einfach die Fabel aus den Gattun-
gen der Poesie, aber suche sie nicht auf eine
Weise für die Poesie zu retten, die auf mehr
oder weniger geistreiche Redensarten hinauslauft.
Seit Grimm, der durch die künstlichen Bilder,
welche er R. F. S. XIII uns vorführt, die Sache
eben nicht klarer gemacht hat, zumal Wendun-
gen wie »das zur Moral vergohrene Getränke
deutlich den subjectiven Standpunct zeigen, ist
es so zu sagen Mode geworden, die Fabel da-
durch, dass sie allerdings »lehrhaft« aber we-
der aus der Lehre entsprungen sein, noch auf
die Lehre als ihr Ziel ausgehen soll, möglichst
unschuldig hinzustellen. »Die Fabel ist lehr-
haft, aber keine Lehrdichtung« sagt man auch
wol. Ist die Lehre aber, wie man zuzugeben
scheint, einmal wesentlich mit der Fabel ver-
de Gubernatis , Zoological Mythology. 627
banden, so kann sie nar entweder Mittel oder
Zweck sein. Wäre die Lehre Zweck, würde die
poetische Einkleidung nur das Mittel zu diesem
höchst pedantischen Zwecke sein können, man
muss also die Sache umkehren, und wird die
Lehre vermutlich als Mittel zur Unterhaltung
ansehen. Einen solchen , etwas aufgeklärten,
Standpunct wird man sich vielleicht heutzutage,
wo wir unsere Belehrung allerdings nicht mehr
aus Fabeln zu schöpfen brauchen, gestatten dür-
fen, aber es verräth doch deutlich den Ge-
schmack einer übersättigten Cultur, wenn man,
wie W. Wackernagel (Kl. Sehr. II, S. 243)
schreibt »man fasste die Thiere zu dichterisch,
zu sehr halb göttlich, halb menschlich auf, um
sie in so prosaischer Weise nur als die arm*
seligen Diener bald dieser, bald jener Lehre
verwenden zu können«. Wie dichterisch man
nun aber auch damals die Thiere auffasste, so
ist doch bekannt, dass man sie in sehr prosai-
scher Weise damals wie heute mit den Zähnen
zu verzehren pflegte, und intelligentere Vertre-
ter der Thierheit, z. B. der Fuchs, würden
auch in jenen poetischen Zeiten schwerlich mehr
Entrüstung gezeigt haben, als die »armseligen
Diener« einer doch nur für das simple Men-
schengeschlecht bestimmten prosaischen Lehre
aufzutreten, als darüber, sich von einem, viel-
leicht recht poetisch gestimmten Jäger, das Fell
über die Ohren ziehen zu lassen.
Die Energie, mit welcher seit Grimm der
lehrhafte Zweck der Fabel und der ebenfalls
gnomische oder satirische des Thierepos be-
kämpft wird, zeigt eben wol nur, dass diese
jetzt verpönte Ansicht eigentlich ganz auf der
Hand liegt. Verfolgt man historisch die Ge-
schichte des sog. deutschen Thierepos vomlsen-
40*
628 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
grimus bis zum Reineke Vos, so lässt sieb nir-
gend ein ganz bestimmter gnomischer oder sa-
tirischer Grandzug verkennen, wenn man nicht
eben a priori die Sache sich anders zu Recht
construirt hat. Unser, theils von den Alten,
theils von den westlichen Nachbarn entlehntes
Thierepos ist ebenso auf die bekannten (äsopi-
schen) Fabeln vom kranken Löwen und die an-
dern bei Grimm S. CCLXI sq.) besprochnen
Stücke zurückzuführen, wie die Batrachomyo-
machie auf die (wol nicht mehr erhaltene) Fabel
vom Tode der Maus und die andere von den
Krebsen. — Die Abweichungen die sich im
Laufe der Zeit ergeben haben, sind nicht grösser,
wie sie sich überall sonst bei dem Uebergang
eines poetischen Stoffes in völlig andere äussere
Umgebungen zu zeigen pflegen. Von den Zeug-
nissen Grimms für den einheimischen Ursprung
der epischen Thiersage kenne ich nur Eines,
das ins Gewicht fallen könnte, die Variation
einer uns auch sonst bekannten Fabel*), die
sich bei Froumund von Tegernsee (Grimm R. F.
S. L) findet, wo der Bär an Stelle des Löwen
als König der Thiere bezeichnet wird. Grimm
hat in diesem Zuge das ältere, echtere, einhei-
mische Wesen erkennen wollen, ob aber mit
Recht? Will man dem naheliegenden Ge-
danken, dass Froumund oder die Leute, von
denen er redet, willkührlich die Bezeichnung
der Thiere gewechselt hätten, zumal darauf bez.
des Sinnes Nichts ankam, nicht Raum geben, so
bliebe doch die Verbindung dieses ganz verein-
zelten, nach Baiera gehörigen Zeugnisses mit
den sonst sicher in Franken und zwar in dem
nördlichen Westfrankenlande nachweisbaren An-
*) Vom Löwen, Hirsch und Fuchs. — Die Zeugnisse
S. bei Grimm R. F. S. CCLXI.
de Gubernatis , Zoological Mythology. 629
fangen der mittelalterlichen Thierepik erst zu
erweisen. Wenn uns dieselbe Fabel, die Frou-
mund im lOten Jahrh. in scheinbar mehr hei-
mischer Färbung vorträgt, bereits im 7ten von
dem fränkischen Chronisten Fredegar in einer
den klassischen Mustern getreueren Form vor-
gefiihrt wird*) und hier bei den Franken die
Weiterbildung zu den (zunächst lateinischen)
Thier epen des MA. sich zeigt**), so ist die
Wahrscheinlichkeit einer wirklich nationalen
Thiersage bei uns doch wenig gesichert. Noch
gewagter aber erscheint es, den didaktischen
Zweck und die praktische Richtung dieser (sei
es nun deutschen, sei es klassischen) Thierfabeln
irgend bestreiten zu wollen, die Art und Weise,
in welcher die Chronisten uns diese Fabeln vor-
tragen, lässt darüber kaum einen Zweifel. Dass
gelegentlich auch aus anderen, rein epischen
Gedichten, z. B. den Nibelungen, eine Lehre
gezogen wurde, kann nicht mit Wackernagel
dazu benutzt werden, um die durchgehende sei
es moralische sei es satirische Verwendung der
Thierfabel eben auch als eine rein zufällige hin-
zustellen.
Wie auf anderen Gebieten so haben auch
bez. der Thierfabel die Franzosen den Völkern
des MA. die Schätze der alten Welt vermittelt.
Indem wir dies glauben anerkennen zu müssen,
können wir dies Lob in der Weise beschränken,
dass die Thierfabel, namentlich die höhere, epi-
sche Gattung erst in den Niederlanden ihre
glücklichste Ausbildung gefunden hat. Hier
kam man dazu das Thierleben mit jener ge-
mütlichen Naivität aufzufassen, welche die nie-
*) Vgl. Reinke de Vos ed. K. Schröder S. V. —
**) Vgi. auch Wackernagel Lit. Gesch. § 68 N. 2.
630 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 20.
derländische Schule bekanntlich auch auf dem
Gebiete der Malerei auszeichnet. So wie es
einem oberflächlichen Freunde und dilettanti-
schen Kenner der Malerei nun wol einfallen
könnte, jene einfachen, naiven Stillleben, jene
gemütvollen Landschaften als die einfachsten
und darum auch ersten Sujets der Malerei über-
haupt sich vorzustellen — während doch in
Wahrheit mit den Landschaften, Thieren, Blu-
men, Wolken u. s. w. die Malerei eher aufge-
hört als den Anfang gemacht hat — so konnte
es wol auch den grössten Forschern begegnen,
dass sie das Zufällige einmal für das Wesent-
liche, das Beiwerk für die Hauptsache ansahen.
Wie sehr wenig es in der Thierdichtung darauf
ankommt, getreu das Naturell der einzelnen
Thiere wiederzugeben, zeigt uns noch im nd.
Reineke Vos König Nobel; von den wirklichen,
selbst edlen Eigenschaften des Löwen tritt uns
hier viel weniger entgegen, als von allen den
Schwachheiten und Launen, welche an zugleich
schwächlichen und despotischen menschlichen
Fürsten sich bemerken lassen, und den mensch-
lichen König, nicht den Thierfürsten soll uns
der Löwe schildern. Allerdings zeigen daneben
Bär, Wolf und Fuchs einige Züge, die zunächst
wenigstens auf ihrer thierischen Natur beruhen,
aber man würde wol irren, wenn man hierin
mehr als eine äusserliche Ausschmückung, eine
Sache des Colorits sehen wollte, und auch hier
ist ein Hinweis auf menschliche Verhältnisse
kaum zu verkennen.
So wenig sonst ein verständiger Dichter sein
Hauptaugenmerk auf die Treue des historischen
Colorits richten wird — wie geringes Gewicht
hat z. B. noch Shakespeare in seinen antiken
Stoffen darauf gelegt — ebensowenig konnte
de Gubernatis, Zoological Mythology. 631
es die Meinung der alten Fabeldichter und Re-
daktoren sein, ein getreues zoologisches Bild
der einzelnen Thiere geben zu wollen. Nur
einer leichten Anlehnung an die wirkliche Na-
tur bedurfte es, um die poetische Illusion des
Hörers zu ermöglichen. Dass den Fischen z. B.
ein besonderer, sogar allzugrosser Grad von
Klugheit eigne, wird sich aus der Naturge-
schichte schwerlich erweisen lassen, und doch
gefallt uns die Geschichte von den allzuklugen
Fischen im Pancatantra (V, 6) so wol, weil hier
die leichte körperliche Beweglichkeit dieser Ge-
schöpfe recht glücklich als ein Analogon jener
fast sorglosen Elasticität des Geistes aufge-
fasst ist, die Schwierigkeiten und Gefahren nur
immer durch eine leichte Wendung glaubt ent-
gehen zu können. — Und mag der Schakal in
Wirklichkeit eher das Gegentheil von Klugheit
besitzen, so konnte er doch, wegen seines
schleichenden, scheuen Auftretens mit den Mi-
nistern despotischer Fürsten vergleichbar, nun
unbedenklich in der Fabel alle jene praktische
Schlauheit an den Tag legen, welche egoisti-
schen Fürstendienern zu Zeiten eignen mag.
Wir haben durch diese gelegentlichen Be-
merkungen der historischen Erklärung der Thier-
sage wieder zu ihrem Rechte zu helfen ver-
sucht; an den wirklich mythischen Elementen
denken wir uns natürlich nicht zu vergreifen.
Wenn der geehrte Herr Verfasser, der mit Recht
mehrfach über die zu weite Fülle seines Stoffes
Klage führt, seinerseits sich auf die natürlichen
Gränzen seiner »zoologischen Mythologie« oder,
wie man vielleicht eben so gut sagen könnte
»mythischen Meteorologie« beschränkt hätte, so
möchte die Anerkennung seines geistvollen und
gelehrten Werkes von Seiten der Kritik wol
632 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
eine wärmere gewesen sein. Haben doch auch
Beurtheiler, die auf einem besseren Fasse mit
der vergleichenden Mythologie stehen, als Ref.
sich rühmen darf, ihre Zustimmung nur in et-
was reservirter Form gegeben.
E. Wilken.
I regesti de9 Romani pontefici dalP anno
1198 all* anno 1304 per Augusto Potthast
Opera premiata dall’ accademia letteraria di
Berlino. Osservazioni storico-critiche delT Ab-
bate Pietro Press utti. Roma, Tipografia
cattolica. 1874. 133 p. 8°.
Die in diesen Blättern 1873 S. 1705 ausge-
sprochene Besorgniss, dass die Mangelhaftigkeit
der Potthast’schen Regesta pontificum unseren
Nachbarn Anlass geben möchte, deutsche Gei-
stesarbeit überhaupt zu verdächtigen, hat sich
nur allzuschnell erfüllt. Je heftiger jene Kreise
in Rom, zu denen der Verfasser der vorliegen-
den Polemik offenbar gehört, darüber erbittert
waren, dass die Kapitale des Ketzerthums auch
in der neuesten Zeit sich den Ruhm nicht rau-
ben lassen wollte, für die Geschichte des mit-
telalterlichen Papstthums mehr gethan zu ha-
ben, als selbst die römischen Verehrer und
Vertreter desselben, um so grösser war dort
die Freude , über die Entdeckung, dass die Ber-
liner Arbeit in vielen Beziehungen zu gerechten
Ausstellungen Raum giebt. Man muss nur bei
Pressutti nachlesen, wie er in den allerhöflich-
sten Formen dem »professore Berlinese«, der
sich ihm auch zuweilen in einen »direttore della
Pressutti, I regesti de’ Romani pontefid. 633
biblioteca regia di Berlino« verwandelt, seine
Fehler vorrechnet, nnd man wird die Genüg*
thüung heransfühlen, dass eine so gute Gelegen-*
heit sich dargeboten hat, welche der stolzen
protestantischen Gelehrsamkeit einen empfind-*
liehen Schlag zu versetzen gestattete. Diese
Befriedigung würde ohne Zweifel etwas wenige?
sichtbar geworden sein, wenn Herr Pressutti ge-
wusst hätte, dass man auch bei uns keineswegs
gemeint ist, die Arbeit des »professore Beni-
nese« als mustergültig hinzustellen, und dass
man auch bei uns sehr wohl weiss, wie weit sie
hinter dem von Pressutti anerkannten Vorbilde
Jaffe’8 »ebreo di religione« zurückbleibt. Es
ist also der gegen Deutschland beabsichtigte
Schlag ziemlich in die Luft gegangen. Indessen
weder jene feindliche Absicht noch die kund*
gegebene grausame Hoffnung, dass dem Kaiser*
thume der Zollern ein gleiches Ende wie dem
staufischen beschieden sein werde, noch der
Hohn, dass die Berliner Akademie selbst die
Beweise für den stets unvermeidlichen Sieg der
Kirche beizubringen bemüht gewesen sei (p. 13 :
tali considerazioni sono di molta opportunitä
in quest9 epoca, la quale ha senza dubio mölti
riscontri con la prima metä del secolo XHI; ö
dobbiamo perciö saperne molto grato al sig.
Potthast, che e andato raccogliendone le prove,
nonche all9 Accademia Berlinese , che ne e stata
la promotrice), noch aüch die sehr verständli-
chen Seitenblicke auf »la protervia degli eretici
e la crudeltä del carnefice« dürfen uns von der
unumwundenen Anerkennung abhalten, dass Herr
Pressutti, insoweit er bei der Sache bleibt, mit
seiner Kritik der Regesta pont. im Allgemeinen
Recht hat und dass die von ihm gerügten Un-
genauigkeitCn und Flüchtigkeiten in der That
634 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
vorhanden sind. Am schwersten wird da wohl
der Vorwurf wiegen, dass nicht einmal das aller-
nächstliegende Werk, die Annales ecclesiastici,
gründlich ausgebeutet worden ist, z. B. für das
erste Jahr des Honorius III. 1216 — 1217 bringt
Press, p. 23. 24 aus denselben überraschend
viele Nachträge.
Seine Ergänzungen und Verbesserungen be-
ziehen sich überhaupt hauptsächlich auf dies
eine Jahr. Die Nachträge zu den Regesten In-
nocenz III. sind wenig zahlreich und theils so
entlegenen Drucken entnommen, dass aus dem
Uebersehen solcher kaum gegen Potthast ein
ernstlicher Vorwurf wird erhoben werden dür-
fen, theils aber aus Handschriften, deren Be-
nutzung ja so wie so nicht im Plane des Heraus-
gebers der Reg. pont. lag und liegen konnte.
Eben dies bat Pressutti vollständig verkannt,
dass die dem Letzteren gestellte Aufgabe sich
einzig und allein darauf beschränkte, Alles zu
verzeichnen, was von päpstlichen Urkunden der
betreffenden Zeit sei es im Wortlaute gedruckt,
sei es in Regestenform schon vorlag. Alles,
was darüber hinausgeht, mag ja ganz wünschens-
werth sein, darf aber von Potthast nicht ver-
langt werden. Pressutti’s Angriffe sind daher,
soweit sie sich auf die Nichtbenutzung hand-
schriftlicher Quellen beziehen, vollkommen un-
gerechte und unbedingt zurückzuweisen. Mit
viel besserem Rechte könnte man den Spiess
umdrehen und sagen: Wenn Ihr in Rom im
Besitze eines so ’reichen handschriftlichen Ma-
terials seid — und dass Ihr es seid, wissen wir
längst und das beweisen auch die Regesten un-
gedruckter Ürkunden aus dem ersten Jahre des
Honorius IH. 25. Juli 1216 — 1217, mit welchen
Pressutti mehr als hundert Seiten füllt (p. 26—
Pressutti, I regesti de9 Romani pontefici. 635
133) ~ , warum seid Ihr nicht schon längst mit
demselben zum Vorschein gekommen? Warum
habt Ihr es nicht schon längst besser gemacht
als erat der »ebreo« und nun der »professore
Berlinese«? — Jeder von uns, und vielleicht Herr
Potthast am meisten, wird Pressutti, der sonst
über uns denken mag wie es ihm beliebt, schon
für diese Bereicherung unseres urkundlichen Wis-
sens dankbar sein , im übrigen aber den auf-
richtigen Wunsch hegen, dass es nicht bei jenem
specimen eruditionis bleibe und dass Pressutti,
der sich für jene Regesten im Allgemeinen p. 26
auf »pergamene originali o codici coevi o pre-
ziosissimi manoscritti, ricontrati nelle biblioteche
e negli archivi« beruft und bei einzelnen Stü-
cken unendlich oft triumphirend ausruft: »Di
questa lettera il Potthast cita il solo brano: de
noi fu letta per intero in due cod. mss.«, uns
wenigstens sage, was das fur codices sind, auf
deren Eenntniss er so stolz ist.
Trotzdem sind auch Herrn Pressutti genug
Menschlichkeiten untergelaufen. Er führt z. B.
eine ziemliche Zahl von Urkunden an als unge-
druckt oder nicht bei Potthast verzeichnet, wäh-
rend sie doch schon gedruckt sind oder als Re-
gest bei Potthast stehen. Als solche habe ich
vorläufig bemerkt:
p. 20. 1211 Sept. 30. s. Bartholomeo di Trisulto
= P. nr. 4308.
p. 31. 1216 Sept. 16. Burdegal. archiep. = P.
nr. 5333.
p. 36. — Nov. 1. Lucae archimandrite, ge-
druckt: Pirrus, Sic. sacra
p. 982.
p. 38. — Nov. 28. Abbati Garoliloci = P. nr.
5373.
636 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
p. 73. 1217 Jan. 31. Abbati s. Genovefae ==
P. nr. 5446 ztun 1. Febr.
p. 98. — März 21. Abb. s. Huberti = P. nr.
5503 cf. nr. 5653. .
p. 109. — April 17. Salinguerrae , längst ge-
druckt, zuletzt bei Theiner
I, 48.
p. 113. — April 24. Petro nato regis Franc. =
P. nr. 5529.
— — Johanni s. Praxedis = P.
nr. 5530.
Ferner muss p. 38: 1216 Nov. 8. priori de
Nostlet im Datum oder in der Ortsangabe:
Rome ap. S. Petrum, ein Fehler stecken, da
alle übrigen Urkunden dieser Zeit und andere
vom selben Tage aus dem Lateran sind. Ebenso
ist die p. 72 in Honor. III.: 1217 Jan. 30. er-
wähnte Urkunde Innocenz III. gewiss falsch da-
tirt, da dieser Papst am 31. Mai 1209 nicht in
Perugia gewesen sein kann. Auf p. 123 sind
Wiederholt Tagesdaten ganz falsch reducirt u. s. w.
Solche eigene Irrthümer dürften doch geeignet
sein, wenn Herr Pressutti, was wir hoffen, die
Mittheilung seiner Regesten fortsetzt (»dovendo
quests lettere far parte di un mio lavore, cui
non vorrei altrimenti sfruttare«, p. 26), ihn zu
etwas grösserer Vorsicht zu fuhren und auch zu
etwas geringerer Unfehlbarkeit, als er in der
vorliegenden Schrift für sich gegen seinen Vor-
gänger in Anspruch nimmt. Dieselbe wimmelt
übrigens von Druckfehlern, die bei solchen ur-
kundlichen Nachweisungen sehr unbequem sind.
Heidelberg. Winkelmann.
Will, Monumenta Blidenstatensia. 637
Monumenta Blidenstatensia saec. IX. X et XI.
Quellen zur Geschichte des Klosters Bleidenstat
aus dem Nachlass von Joh. Fr. Böhmer mit
Ergänzungen nach Druckwerken und Mittheilun-
gen aus dem Codex Blidenstatensia im K. Reichs*
archiv zu Mönchen herausgegeben von Dr. Cor-
nelius Will, F. Thurn- und Taxischem wirkli-
chem Rath und Archivar. Innsbruck, Wagner-
sehe Universitäts-Buchhandlung. 1873. XXII
und 56 Seiten in Quart.
Nicht wenigen Freunden Deutscher Geschichts-
forschung wird bekannt sein, wie oft schon das
Verlangen nach der Publication alter Traditionen
und anderer Urkunden des Klosters Bleidenstat
bei Wiesbaden, das bis in die frühere Karolin-
gische Zeit binaufreicht, seit den Mittheilungen
Bodmanns in den Rheingauischen Alterthümern
laut geworden ist. Böhmer, Landau u. a. ha-
ben sich vergebens bemüht die Benutzung der
Handschrift zu erlangen, welche aus dem Nach-
lass eben Bodmanns in die Hände des Nassaui-
schen Archivars und fleissigen Sammlers Habel
übergegangen war. Nach seinem Tode hat man
gehofft, dass der Bann endlich gelöst werde.
Und der Titel der vorliegenden Publication mag
zuerst wohl die Erwartung erregen, dass das nun
hier der Fall, der lang verborgene Schatz ge-
hoben sei. Statt dessen giebt die Einleitung
die unerwartete und unerwünschte Nachricht,
dass unter dem Nachlass Habels, der in Milten-
berg verwahrt wird, sich die Bleidenstäter Tra-
ditionen bisher nicht gefunden haben. Aber eben
das ist dann der Grund gewesen, dass der
Herausgeber andersher gesammelt und hier ver-
öffentlicht hat, was von diesen Traditionen und
anderen urkundlichen Aufzeichnungen des Klo*
638 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
sters sich irgend erhalten hat. Und das ist
dann glücklicher Weise doch nicht so gar we-
nig gewesen.
Die Hauptsache sind Abschriften, welche der
bekannte Geschichtsforscher Eindlinger seinen
grossen Sammlungen einverleibt hat, die jetzt im
Archiv zu Münster aufbewahrt werden. Als
Böhmer die Hoffnung aufgeben musste Bodmanns
Nachlass zu erlangen, fasste er diese Abschrif-
ten ins Auge, die offenbar aus derselben Quelle
geflossen sind, welche jener benutzte. Es sind
drei verschiedene Stücke, eine Anzahl Traditio-
nen und zwei Güterverzeichnisse, jetzt in Band
137 der Kindlingerschen Sammlung vereinigt,
aber nicht in unmittelbarer Reihenfolge hinter
einander geschrieben. Ob sie früher in einem
Bande standen, ist nicht deutlich. Wäre es der
Fall gewesen, so müsste dieser successiv ge-
schrieben sein. Denn die Stücke sind aus ganz
verschiedener Zeit. Die Traditionen — 19 an
der Zahl — umfassen nur die Jahre 876—889,
das erste sogenannte Summarium et registrum
bonorum gehört der Mitte des lOten Jahrhun-
derts an, ein zweites Registrum der zweiten
Hälfte des Ilten.
Die Sammlung der Traditionen scheint nur
ein Fragment zu sein. Kindlinger hat noch eine
Anzahl Urkunden bewahrt, die wohl zu derselben
Sammlung gehört haben können und die vomJ.
814—1091 reichen, hier als UI und IV, je
nachdem es Privat- oder Kaiserurkunden sind,
mitgetheilt, wozu drei spätere Notizen kommen,
die, ich sehe nicht weshalb, als Regesten be-
zeichnet werden (als VI gedruckt) und von de-
nen die eine von 1144 datiert. Ausserdem sind
aus Bodmann 9 weitere theils Abdrücke, theils
Excerpte zusammengestellt, die vom Anfang des
Will, Monumenta Blidenstatensia. 639
9ten Jahrhunderts bis zum Jahre 1096 gehen.
Es erscheint also nicht unwahrscheinlich, dass
der Codex wenigstens bis zum Ende des Ilten
Jahrhunderts ging und dann vielleicht noch
weitere Nachträge in sich aufgenommen hat.
Auch der Haupttheil kann aber vielleicht zu
verschiedenen Zeiten abgefasst sein, und nichts
hindert dann anzunehmen, dass auch die beiden
sogenannten Begistra ihm einverleibt waren.
Das eine, in der Ausgabe das zweite (S.
13 ff.), ist aber selbst nur eine chronologisch
geordnete Notiz über Erwerbungen die das Klo-
ster in den Jahren 1017 — 1079 machte. Als
Verfasser giebt sich der Abt Ezzo auf das
deutlichste zu erkennen: er schreibt: comparavi
(§. 43. 47. 52. 57. 61), concambiavi (48), dedi
(49. 63), vendidi (50), acquisivi (58); ein Aus-
druck seiner Bescheidenheit ist es, wenn es in
der Ueberschrift heisst: Hec sunt bona que sub
Herberto et Ezzone magis ex gratia Dei quam
de villicatione eorum acquisita sunt. Ihm sind
wahrscheinlich auch die Angaben der Preise zu-
zuschreiben, die sich selten in den Urkunden
finden, hier aber regelmässig, und schon seit
dem Jahre 1017 in Marken angegeben werden,
eine Bezeichnung, welche so früh in Deutsch-
land sonst nicht nachweisbar ist (das älteste
Beispiel das ich kenne ist von 1026). Eben
diese Preisangaben verleihen übrigens diesem
Stück ein besonderes Interesse : sie beziehen sich
meist auf Land, ausserdem auf Pferde (12. 43).
Für ein Darlehn von 8 Mark wird im J. 1057
eine Rente von 3 Solidi verschrieben (49); mag
jene zu 15 oder 12 Solidi gerechnet sein, immer
nur ein niedriger Zins.
Das vorhergehende wirkliche Güterverzeich-
nis kann nicht, wie die Ueberschrift sagt, saec»
040 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 20.
IX, X, sein, sondern ist ohne Zweifel anf ein-
mal gemacht, und zwar im lOten Jahrhundert,
da des Königs Heinrich (22), des Erzbischofs
Heriger als verstorben (82, f 927) gedacht wird;
und wenn es (43) von einem Hazilo heisst: cum
in Longobardiam iturus erat tradidit, so ist
wohl erst an die Zeit Otto I. zu denken; doch
kann diese Notiz , da sie den Schluss bildet,
auch später hinzugefügt sein.
Als besondere Nummer (V) erscheint eine
Grenzbeschreibung, die allerdings auf das Jahr
812, das die Ueberschrift nennt, zurückgeführt
wird, aber, wie sie selbst angiebt, doch erst in
der Zeit des Erzbischof Willigis von Mainz auf-
gezeichnet ist. Diese hat Böhmer aus einer
Würzburger Handschrift genommen , die sich
jetzt im Münchener Reichsarchiv befindet.
Aus einem andern Codex desselben ist ein liber'
ponfraternitatis (S. 35 — 37) — der dem Heraus-
geber in der Einleitung Anlass zu einigen Be-
merkungen über solche Diptycha giebt — , das
Necrologium (S. 37 — 42), aus dem Böhmer in
Band IU der Fontes knappe Auszüge gegeben,
und ein kurzes Registrum reliquiarum (S. 43)
mitgetheilt.
Sorgfältige Orts- und Namenregister be-
schliessen den Band, während die Einleitung
Über die Geschichte des Klosters und seine
Denkmäler, speciell die benutzten Hülfsmittel
nähere Auskunft giebt. Die Zuverlässigkeit des
Textes hat mir nirgends zu Zweifeln Anlass ge-
geben, so dass Hrn. Will in jeder Beziehung
nur Dank für diese erwünschte Publication ge-
bührt. G. Waitz.
641
G5Hingische
gele hrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 21. 27. Mai 1874.
Pharmakologische Untersuchungen. Heraus-
gegeben von Dr. Michael Joseph Ross-
bach, Privatdocent an der Universität Würz-
burg. I. Heft. Würzburg. Druck und Verlag
der Stahel’schen Buch- und Kunsthandlung.
1873. 81 pp. in Octav.
Die lokale Anästhesirung durch Saponin.
Experimental-pharmakologische Studien von Dr.
Hermann Köhler, Docent an der Universi-
tät Halle. Mit 2 Tafeln. Halle. G. E. M.
Pfeffer. 1873. 106 pp. in Octav.
Dass das Erscheinen einer besondern Zeit-
schrift für experimentelle Pharmakologie im
Jahre 1873 bei dem grossen Aufschwünge, wel-
chen neuerdings die Arbeiten auf diesem Ge-
biete genommen, nicht die Herausgabe selbst-
ständiger pharmakologischer Monographien über-
flüssig machen würde, liess sich von vornherein
erwarten. In der That wird es sich immer em-
pfehlen, Arbeiten von ganz allgemeinem Inter-
esse und wirkliche Monographien über einen
41
L
642 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
einzelnen Arzneikörper in Gestalt besonderer
Bücher in die Hände der Aerzte zu bringen.
Von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir die
separate Publication der beiden in der Ueber>
Schrift genannten Arbeiten nicht allein gut
heissen, sondern geradezu mit Freuden be-
grüssen.
Das erste Heft der pharmakologischen Unter-
suchungen Bossbachs, dessen Namen durch
interessante Studien über die Action gewisser
Stoffe auf Protoplasma und über die Wirkung
der Alkaloide auf die organischen Substrate
des Thierkörpers in den Kreisen der Pharma-
kologen hinlänglich bekannt geworden ist, bringt
eine höchst verdienstvolle Arbeit über den An-
tagonismus des Atropins und Physostigmins,
welche von Bossbach in Gemeinschaft mit
Fröhlich im physiologischen Laboratorium zu
Würzburg ausgeführt ist. Es ist von uns wie-
derholt in diesen Blättern betont worden, wie
wenig stabil die Besultate physiologischer For-
schungen der Neuzeit sich zu erweisen pflegen
und wie rasch Anschauungen, die sich durch
derartige Arbeiten allgemeinen Glauben erwer-
ben, durch weitere Untersuchungen beseitigt
werden. Die Bossbach ’sehen Untersuchun-
gen liefern einen neuen Beleg dafür in Bezug
auf verschiedene pharmakologisch-physiologische
Glaubenssätze der Neuzeit, namentlich in Hin-
sicht der lähmenden Wirkung des Atropins und
des Antagonismus, welchen man dem Physostig-
min andern Alkaloiden gegenüber beigelegt hat.
Es ist ein eigenthümliches Verhängniss, dass
das Dogma von der paralysirenden Action des
Belladonnaalkaloides, welches bekanntlich zuerst
von Be z old aufgestellt wurde, in denselben
Bäumen zu Grabe getragen wird, denen esseine
Bossbach } Pharmakolog. Untersuchungen. 643
Entstehung dankt. Die Thatsache, dass das
Atropin in minimalen Mengen die Papille warm-
blütiger Thiere nicht erweitert, sondern verengt
und nicht primär lähmend, sondern erregend
auf den Oculomotorius wirkt und dass auch
der so auffallenden Lähmung der im Herzen
belegenen Hemmungscentren durch Atropin,
eine Erregung derselben vorausgeht , nöthigt
uns, zu der alten Ansicht zurückzukehren, dass
die Grundwirkung der Narcotica in Erregung
und Lähmung besteht und dass die Differenzen
der Wirkung der einzelnen nur in der verschie-
denen Zeitdauer der Erregung besteht. Es ist
das freilich vorläufig eine Hypothese, aber sie
wird weiter gestützt durch das von Rossbach
beim Physostigmin erhaltene Resultat, dass die-
ser Stoff, dem man ausschliesslich eine erregende
Wirkung auf den Oculomotorius und die
Hemmungscentren im Herzen zuschrieb , in
grossen Dosen lähmend auf beide Partien des
Nervensystems wirkt. Die Entdeckung Ross-
bachs, dass Physostigmen in grossen Dosen
Pupillenerweiterung bedingt , bildet eine neue
Stütze für die angegebene Wirkung der Narco-
tica. Wenn man nach dem Stande unserer ge-
genwärtigen Kenntnisse im Curare und Coniin
vorläufig noch Substanzen von primärlähmender
Wirkung erblicken muss, so dürfte vielleicht
eine genauere Untersuchung auch hier zu an-
dern Anschauungen lenken. Ich will hier nur
an das analogwirkende Methylstrychnin erinnern,
welches bei Fröschen trotz seiner lähmenden
Action tetanische Anfälle zu produciren pflegt,
die allerdings nicht so ausgesprochen wie beim
Strychnin sind. Man hat diese Erscheinungen
freilich von einer Verunreinigung des Methyl-
strychnins mit Strychnin ableiten wollen, aber
41*
644 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
diese Erklärung ist jedenfalls nickt über allen
Zweifel erhaben und es ist eben so gut mög-
lich, dass es sieb um eine integrirende Action
der betreffenden Ammoniumbase .handelt. In-
dem Rossbacb und Fröhlich nach dem
Ebengesagten eine gleichartige Wirkung des
Atropins und Physostigmins auf die in Frage
stehenden Nervenbezirke nachwiesen, kann es
sich natürlicherweise nicht mehr um einen An-
tagonismus der betreffenden Substanzen han-
deln. Dies geht auch aus den weiteren Ver-
suchen hervor, welche den Beweis liefern, dass
wohl die bereits in kleinen Dosen lahmende
Substanz die erregende Action der anderen auf-
zuheben im Stande ist, nicht aber umgekehrt
die erregende Substanz die durch die andere
gesetzte Lähmung aufzuheben vermag. Es war
den Ophthalmologen, welche gleich nach der
Entdeckung der pupillenverengenden Wirkung
der Calabarbohne mit letzterer Versuche an-
stellten, nicht entgangen, dass zwar das Atro-
pin die durch jene bedingte Pupillenverengung
in Erweiterung umwandle, dass aber umgekehrt
das Extract der Calabarbohne, selbst bei Anwen-
dung bedeutender Mengen einer durch Atropi-
nisirung hervorgerufenen übermässigen Mydria-
sis nicht, oder wie sie sich meist ausdrücken,
nicht nachhaltig entgegen za wirken vermag.
Erst die Arbeit von Eossbach liefert eine
ausreichende Erklärung für, diese Thatsache.
Auf die in ihrer Erregbarkeit stark herabge-
setzten Endigungen des Oculomotorius mag das
stark erregende Physostigmin vorübergehend
einen Reiz ausüben, auf die Dauer und in
grossen Mengen angewendet, muss es die Atro-
pinwirkung geradezu verstärken.
Wenn wir im Allgemeinen die Schlussfolge-
Hossbach, Pharmakolog. Untersuchungen. 645
rungen von Hossbach und Fröhlich als zu«
treffend bezeichnen müssen, insofern ein Anta-
gonismus des Physostigmins und Atropins im
engeren Sinne, nämlich in Bezug auf einen be-
stimmten Theil des Organismus, dadurch ne-
girt wird, so können wir jedoch nicht zugeben,
dass, wie die Verfasser annehmen, auch die le-
bensrettende Wirkung des Physostigmins bei
Atropinvergiftungen durch ihre Untersuchungen
als ein Irrthum dargethan ist. Die von Ross-
bach und Fröhlich benutzten Versuchstiere
sind unseres Erachtens zur Entscheidung dieser
Frage nicht geeignet. Die Verf. stützen ihre
Schlussfolgerungen auf Experimente an Frö-
schen und Kaninchen. Dass bei Fröschen der
Antagonismus des Atropins und Physostigmins
in Bezug auf das Herz nicht existirt, war schon
früher durch Untersuchungen von Köhler be-
kannt und ist als eine den Fröschen zukom-
mende Verschiedenheit betont worden, aber auch
Rossbach und Fröhlich haben neue Mo-
mente beigebracht, welche den Beweis dafür
liefern, dass der Frosch den beiden Alkaloiden
gegenüber sich anders wie warmblütige Thiere
verhält. Die durch die in Rede stehenden Sub-
stanzen hervorgebrachten Pupillenveränderungen
stehen hei Fröschen und Warmblütern in dia-
metralem Gegensätze. Erscheint somit der
Frosch wegen seines eigentümlichen Verhaltens
zu den genannten Giften als ein bedenkliches
Versuchsthier, so ist dies doch noch mehr bei
dem Kaninchen der Fall, dessen Toleranz ge-
gen Atropin keinem Forscher entgangen ist.
Wir haben selbst wiederholt beobachtet, dass
Kaninchen die subcutane Injection von 1 Gm.
Atropinsulphat ertragen können , ohne da-
durch erheblich zu erkranken. Wird nun, wie
646 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 21.
es in den Versuchen von Bossbach and
Fröhlich geschah, bei Kaninchen eine relativ
winzige Dosis Atropin eingeführt and erfolgt
darauf nach Injection von Physostigmin der
Tod unter den Erscheinungen der Physostigmin-
vergiftung, so ist daraus jedenfalls nicht der
Schluss abzuleiten, dass Physostigmin kein An-
tidot bei Atropinvergiftung sei. Versuche,
welche zu solchen Gonclusionen berechtigen,
müssen an Thieren mit ausgesprochener Em-
pfänglichkeit gegen Atropin angestellt werden,
also an Hunden und vielleicht noch besser an
Katzen. Die Erfahrungen Frasers und aller
derjenigen, welche wie z. B. neuerdings Köh-
ler zu bestätigenden Ergebnissen gelangt sind,
dass Hunde entschieden letale Dosen von Atro-
pin überstehen, wenn ihnen Calabarbohnenextract
als Antidot gereicht wurde, sind durch Ver-
suche an Kaninchen nicht zu beseitigen. Wir
können übrigens dabei nicht unerwähnt lassen,
dass die Frage von der antidotarischen Wirk-
samkeit gewisser Stoffe bei Atropinvergiftung
ausserordentlich schwer zu beantworten ist. Ich
habe wiederholt darauf aufmerksam gemacht,
wie sehr viele dem Anscheine nach besonders
schwere Intoxicationen mit Belladonna und an-
dern atropinhaltigen Stoffen auch ohne jedes
Antidot und selbst bei unzweckmässiger Be-
handlung günstig verlaufen und dass man so-
mit in Fällen, wo die Aerzte sozusagen der
Mode zu Liebe Opium oder Morphin antidota-
risch verwertheten , oder einem genialen Im-
pulse folgend zum Calabarextracte griffen, nie-
mals mit Bestimmtheit sagen kann, das Antidot
habe den tödlichen Ausgang verhütet. Ich bin
wahrlich kein Anhänger der früher einmal von
Böcker gepredigten expectativen Methode,
Köhler, D. lok. Anästhesirung durch Saponin. 647
aber die Unsitte, die Wirkung eines Giftes mit
dem eines andern bekämpfen zu wollen, kann
ich nicht billigen. Sie hat dem wirklich ratio*
nellen Gebrauche der chemischen Antidote Ab«
bruch gethan und dadurch gewiss in einzelnen
Fällen von Vergiftung schädigend gewirkt. —
Was die Schrift von Köhler betrifft, über
welche ich in Schmidt’s Jahrbüchern eine
ausführliche Inhaltsangabe veröffentlicht habe,
so kann ich dieselbe in diesen Blättern nicht
unerwähnt lassen, weil sie die vorzüglichste
pharmakodynamische Monographie über einen
Pflanzenstoff, welchen die Neuzeit aufzuweisen
hat, darstellt. Der Verf. ist, von der vor eini-
gen Jahren durch Pelikan aufgefundenen lo-
kalanästhesirenden Wirkung des Saponin aus-
gehend, zu einer gründlichen Untersuchung die-
ses Stoffes hinsichtlich seiner Wirkung sowohl
auf die peripherische Sensibilität als auf die
Verrichtungen anderer Körpertheile veranlasst,
wobei sich u. a. eine besondere Wirksamkeit
auf das Herz und die Respiration ergeben hat.
Köhler hat sich nicht nur auf physiologische
Untersuchungen beschränkt, deren Details in
seiner Schrift mitgetheilt sind, sondern auch
die chemischen Eigenschaften des Stoffes und
dessen Nachweis im Falle etwaiger Vergiftung
mit demselben studirt.
Ob das Saponin eine Rolle in der Therapie
zu spielen berufen ist, muss klinischen Versu-
chen überlassen bleiben. Die Anwendung als
locales Anästheticum bei Einspritzung unter die
Haut in Fällen von Neuralgie oder andern
schmerzhaften Leiden, zu welcher die Ergeb-
nisse der physiologischen Versuche einladen,
hat, wie der Verf. hervorhebt, das Bedenken
gegen sich , dass das Saponin in grossen Gaben
648 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
sich als Herzgift erweist. Auch die von Köh-
ler constatirte örtliche entzündliche Wirkung
möchten wir als ein zweites Bedenken daran
reihen. Die Anwendung als fiebervertreibendes
Mittel, auf welche Köhler hinweist, ist zwar
rationell und ohne Zweifel auch unbedenklich,
aber ein besonderer Vorzug des Saponins vor
andern antipyretischen Substanzen tritt uns aus
seinen Versuchen nicht entgegen. Ist somit
aber auch vielleicht der Gewinn für die Thera-
pie keiner oder nur ein geringer, so wird doch
das Verdienst der musterhaften Untersuchung
hierdurch nicht geschmälert und es wäre sehr
zu wünschen, dass über andere durch die thera-
peutisch wichtigeren Alkaloide in den Hinter-
grund gedrängten Pflanzenstoffe gleich um-
fassende und gründliche Studien angestellt und
veröffentlicht würden.
Theod. Husemann.
Bibliotheque Imperiale Publique de St.-Pe-
tersbourg. — Catalogue de la section desBus-
sica ou ecrits sur la Bussie en langues etran-
geres. Tome I: A — M. VIHet845 pag. Tome
ft: N-— Z. Supplement Table methodique. 771
pag. in 8. St. Petersbourg. Imprimerie de
l’Academie Imperiale des sciences. 1873.
Die kaiserliche öffentliche Bibliothek in St.
Petersburg ist die jüngste der grossen Anstal-
ten dieser Art in Europa, denn sie existirt erst
§eit dem Beginn dieses Jahrhunderts. Freilich
geht sie auf eine ältere bedeutende Sammlung
Biblioth. Imper. Publique de St-Petersburg. 649
zurück, durch deren Uebersiedlung an die Neva
es erst möglich wurde hier eine öffentliche Bi-
bliothek zu gründen. In Polen hatten während
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die
Gebrüder Andreas und Joseph Grafen Zaluski
fast ihr ganzes namhaftes Vermögen darauf ver-
wandt eine grosse Büchersammlung zusammen-
zubringen, die sie 1747 für eine öffentliche
jedermann zugängliche erklärten. Als in der
Katastrophe des Staates Suwörow Warschau
eroberte, erging 1794 ein kaiserlicher Befehl,
demgemäss sowol die Staatsarchive der polni-
schen Republik wie die Bibliothek Zaluski nach
Petersburg abgeführt wurden*).
Das war der erste grössere Fond von etwa
200,000**) Bänden der 1810 eröflneten Peters-
burger Bibliothek. Bald flössen ihr aus andern
Quellen weitere ausserordentliche Beiträge zu.
So erwarb sie einen höchst werthvollen direct
aus den Stürmen der französischen Revolution,
als der gewandte und eifrige Dubrowski, der es
vom Kirchensänger zum Legationsrath brachte,
kostbare Handschriften und Documente, nament-
lich Briefschaften des XV. — XVII. Jahrhunderts
bei den Plünderungen der Bastille und der be-
rühmten Abtei St. Germain de Pres vor dem
sichern Untergang zu bewahren wusste und sie
später der Petersburger Bibliothek einver-
*) Die reiche niohtrassische Literatur über die Pe-
tersburger Bibi, ist in vorliegendem Werk II, 748 ver-
zeichnet. Ueber die Geschichte der Anstalt siehe den
Aufsatz des Oberbibliothekar Dr. Minzloff , Ein Gang
durch die petersb. öffentl. Bibi. 1870. Ueber das pol-
nische Archiv cfr. des Referenten Abhandlung: Livonica
im polnischen Staatsarchiv. 1872.
**) BibliophUe ülustre. 1862 pg. 77.
650 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
leibte*). — Eine unschätzbare Bereicherung er-
fuhr sie weiter durch die Uebersendung einer
grossen Sammlung morgenländischer Handschrif-
ten, die Paskewitsch bei seinem siegreichen
Feldzug gegen Persien aus den dortigen Klö-
stern und Moscheen nach Petersburg über-
mittelte.
Aber nicht nur durch ßevolution und Krieg
wuchs das Institut des Friedens, gleichzeitig
war man eifrig bedacht auch jede andere gün-
stige Gelegenheit zu seiner Vergrösserung zu
benutzen. Nur weniges sei hier erwähnt. Wie-
derholt wurden sehr beträchtliche Summen ver-
wandt berühmte Privatbibliotheken anzukaufen:
Voltaires Bibliothek etwa 7000 Bände Bücher
und Manuscripts ist jetzt hier aufgestellt; ohne
Nebenbuhlerin ist die für 100,000 Hubel er-
worbene Sammlung althebräischer Handschriften
der Karaim ; der berühmte Codex Sinaiticus
ruht als Prachtstück in der Petersburger Biblio-
thek; ihre Beihe ältester Drucke darf sich mit
jeder andern messen; von hohem historischen
Interesse ist die aus ihrem polnischen Grund-
stock in die Petersburger Bibliothek überge-
gangene collection des Mazarinades, die grösste
*) Ueber diese für neuere Geschichte wichtige Samm-
lung sind bisher nur spärliche Nachrichten in die Oeffent-
lichkeit gedrungen. Die ältesten Briefe stammen von
Ludwig XI. und Carl VIII., doch sind ihrer nicht viele.
Dagegen liegen hier umfangreiche und wichtige Materia-
lien für den Ausgang des XVI. und Beginn des XVII.
Jahrhunderts: mehrere hundert Originalschreiben von
Catharina Medici und Heinrich ni., Document© zur Ge-
schichte der Königin Elisabeth von Spanien, eine be-
deutende Anzahl Briefe der Jeanne d’ Albert, Schreiben
Mazarins über die englischeu Bewegungen unter Carl. I.
etc. cfr. Emouf im Bulletin du bibliophile. Paris. 1867.
pg. 376.
Biblioth. Imper. Publique de SLPetersbourg. 651
dieser Art: in 137 Vol. etwa 6000 Pamphlete
auf Mazarin aus der Zeit der Fronde« — Und
so liessen sich noch eine Menge kostbarster
Schätze aufzählen, die in der Petersburger Bi-
bliothek ruhen*).
Es war natürlich, dass obgleich sämmtliche
Zweige der Wissenschaft hier würdig vertreten
sein sollten, doch in der ersten Bibliothek des
Beiches besonders das ins Auge gefasst wurde,
was sich auf dieses Beich selbst bezog: die
Bussica. In der Zalusciana war bereits eine
beträchtliche Literatur für die polnische Ge-
schichte vorhanden. Die neuern Publicationen
des Inlandes sollten bei der kaiserlichen Biblio-
thek seit ihrer Gründung ausnahmslos einlau-
fen, dazu wurde 1810 die Vorschrift erlassen,
dass von allen in Bussland gedruckten Werken
zwei Pflichtexemplare dorthin eingeliefert wer-
den mussten. Die ältern Drucke suchte man
durch grosse Käufe zu gewinnen, so wurde na-
mentlich die kirchenslavische Abtheilung berei-
chert als die Sammlung Tolstoi für 150,000 Bu-
bel erstanden ward, eine gleiche Summe wurde
für die grosse altrussische Bibliothek Pogödins
angewiesen, für den Nachlass des prager Sla-
visten Jungmann , für Klopmanns Livonica
*) Für die Aldinen liefert der von Minzloff bereits
1854 angefertigte Catalog über 900 Nummern; von ihm
1862, von Walther 1864 gedruckte Verzeichnisse be-
weisen, dass die Petersburger Collection von mehr als
5000 Bänden aus der berühmten Officin Elzevir die
erste der Welt ist, cfr. auch Tranchfere im Bulletin du
bibliophile. Paris 1864 pg. 905; auf die Mazarinades
wies Gardet in demselben Bulletin 1862 pg. 1148 hin,
in welchem überhaupt oft der Petersburger Sammlungen
gedacht wird, namentlich von Seiten des grossen Biblio-
philen A. Fürst Galitzin: 1862 pg. 1000, 1863 pg. 492,
1864 pg. 714 u. ö.
652 Gott. gel. Ans. 1874. Stück 21.
wurde erkleckliches gezahlt. Daneben flössen
sehr bedeutende Schenkungen ein, wie der lite-
rarische Nachlass des berühmten Historikers
Karamsin, des Juristen Grafen Speränski, von
Debolzow, Gudobin u. a. wurden der Bibliothek
reiche Beiträge dargebracht
So wetteiferten nachdem äussere Ereignisse
die Gründung und erste Erweiterung der An-
stalt begünstigt hatten die Munificenz der Re-
gierung und der Patriotismus einzelner mit
einander und erreichten ein Resultat das wol
beispiellos ist: obgleich sie wie bemerkt die
jüngste der grossen öffentlichen Bibliotheken ist,
hat die Petersburger in dem halben Jahrhun-
dert ihres Bestehens bis auf die pariser bereits
sämmtliche Rivalinnen des europäischen Conti-
nents überflügelt, 1867 betrug die Zahl der
Bücher über 1,000,000, dazu kamen gegen
35,000 Handschriften, mehr als 85,000 Kupfer-
stiche etc. Und wie die äussere Ausstattung
eine glänzende ist, so ist die Liberalität beim
Besuch des Instituts die weitgehendste: die
grossen, bequem eingerichteten Lesezimmer sind
den ganzen Tag jedermann geöffnet, den langen
Winter hindurch gut erwärmt und erleuchtet.
Zur Ausführung des schon lange gehegten
Planes, in der petersburgei^ Bibliothek eine wo-
möglich complete Sammlung aller Werke her-
zustellen, die in fremden Sprachen über Russ-
land erschienen sind , wurde erst energisch
geschritten als 1849 Modeste Baron Korff
Director der Anstalt wurde. In einem jetzt
nach ihm benannten und mit seinem Por-
trait geschmückten Saale ist diese in sich ge-
schlossene Section aufgestellt. Es war nicht
leicht innerhalb einer grossen Bibliothek einen
Theil auszuscheiden, ohne dabei die andern
Biblioth. Imper. Publique de SL-Petersburg. 653
Disdplinen zu schädigen. Um vor allem sich
selbst über Plan und Umfang des Unternehmens
klar zu werden, publicirte man zunächst mit
Hülfe zahlreicher bibliographischer Werke im
Jahre 1851: »Materialien zum Versuch eines
Katalogs sämmtlicher über Russland in frem-
den Sprachen erschienenen Werke«. Ein De-
sideraten-Catalog, der als Richtschnur bei wei-
teren Anschaffungen dienen sollte. Für diese
wurde nichts gespart, nach einem Decen-
nium zählte die Section schon 20,000 Num-
mern. Um nochmals die Meinungen der Fach-
leute des In- und Auslandes zu hören, nament-
lich auf etwaige Lücken aufmerksam gemacht
zu werden, wurden 1860 in einer kleinen An-
zahl Exemplare s. g. Correcturbogen des Cata-
logs der Russica in der kaiserlichen öffentl.
Bibi, zu St. Petersburg gedruckt. Es war das
ein Verzeichniss der damals in dieser Abthei-
lung factisch vorhandenen Bücher, das bereits
wiederholt Gelehrten, es sei hier nur an Win-
kelmanns Bibliotheca Livoniae historica erinnert,
von Nutzen geworden sind. — Endlich nach
weiterer sorgsamer zehnjähriger Arbeit durfte
man 1869 die gestellte Aufgabe im wesentlichen
für gelöst halten, die Sammlung schien im
grossen und ganzen pomplet zu sein. Man wird
gern zugestehn , dass selten ein ähnliches
Unternehmen mit gleich viel Liebe und Eifer
aufgenommen und betrieben worden ist. Wenn
jetzt der Druck des Catalogs angeordnet wurde,
so sollte derselbe offenbar nicht nur grossem
Kreisen von diesen Reichthümern Kunde geben,
sondern auch durch die Art, wie er das that,
mithelfen die wissenschaftliche Forschung auf '
den Gebieten, für welche hier die Literatur
verzeichnet ist, weiter zu führen. Und in der
654 Gott« gel. Anz. 1874. Stück 21.
That sichert die Gediegenheit der Arbeit die-
sem Catalog einen solchen Erfolg.
In vielleicht zu grosser Kürze werden in der
Einleitung Plan und Umfang der Sammlung an-
gegeben. Wir vermissen an dieser Stelle un-
gern ausführlichere Nachrichten über die Ge-
schichte derselben, auch für entferntere Kreise
wären solche lehrreich gewesen. Jetzt werden
in der Einleitung fast nur die Grenzen ange-
geben, die für das Unternehmen gesetzt sind.
Scharf und sicher sind sie gezogen, man er-
kennt, dass eine kundige Hand sie bestimmt
hat und wird ihnen im ganzen durchaus zu-
stimmen. Die Section sollte nach allen Seiten
(Geschichte, Theologie, Literatur, Naturwissen-
schaften etc.) sämmtliche in fremden Sprachen
erschienenen Druckwerke umfassen, die auf Russ-
land Bezug haben und vor dem Jahre 1870 als
selbstständige Publicationen ans Licht getreten
waren. Man hat dann alles zu thun gesucht,
die grösstmögliche Vollständigkeit zu erreichen:
auch die ganze in fremder Sprache in Russland er-
scheinende periodische Presse wurde aufgenom-
men, ja selbst jedes nichtrussische Gedicht sobald
es das russische Leben berührte. Ob es aber no-
ting war, auch jede Uebersetzung eines russi-
schen Originalwerkes, selbst wenn dieses gar
nicht über Russland handelte, der Section ein-
zuverleiben erscheint zweifelhaft, da hätte füg-
lich der Inhalt entscheiden sollen, vielleicht
wäre dadurch Platz gewonnen für manches an-
dere, was jetzt ausgeschlossen worden ist und
was man doch gern hier gefunden hätte. Denn
die beschriebenen weiten Schranken sind nach
mehr als einer Seite stark eingeengt. Fern ge-
halten wurden nämlich alle in cyrillischer Sprache
gedruckten Bücher also alle bulgarischen, serbi-
Biblioth, Imper. Publique de St.-Petersbourg. 655
sehen, croatischen; ebenso in Folge ihres eigen-
tümlichen Alphabets alle Werke, die in grie-
chischer oder irgend einer orientalischen Sprache
geschrieben sind ; endlich die lettische, finnische,
estnische und litthausche Literatur, für welche
man in der Section eine besondere Abtheilung
bildete. — Die Verschiedenheit des Alphabets
kann doch für keinen hinreichenden Grund zur
Scheidung gelten, es ist z. B. empfindlich, die
wichtigen griechischen und arabischen Quellen
für die älteste russische Geschichte bei einem
sonst vollständigen Verzeichniss der fremdlän-
dischen Zeugen nicht zu finden. Ueberhaupt
vermögen wir uns des Eindrucks nicht zu
erwehren, als ob bei Feststellung der end-
gültigen Grundsätze, nach welchen die Auf-
nahme in die Section geregelt wurde, mehr die
Praxis als die Theorie entschieden hat. Es
scheint, dass nicht selten die gewiss gewichti-
gen, während einer zwanzigjährigen Arbeit er-
probten und bewährten Erfahrungen in höherm
Grade den Ausschlag gegeben haben als die
Erwägungen darüber, welches die natürlichen
Grenzen des Themas seien, was als mit dem-
selben systematisch zusammengehörig gelten
müsse. Trat aber die Nothwendigkeit ein vor-
zugsweise jenen practischen Erfahrungen zu fol-
gen, dann hätten wir eine ausführlichere Dar-
legung und Begründung derselben gewünscht,
damit nicht der ferner stehende manches für
willkürlich halte, was das Product reiflicher
Ueberlegung ist.
Eine der heikelsten Fragen warf sich auf,
als bestimmt werden sollte, wie weit die Lite-
ratur derjenigen ' Lande aufzunehmen ist, die
früher von Russland unabhängig waren. Man
ist hier , wie ja das bei Specialsammlungen
656 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
meist eintritt, nach gewissen Seiten möglichst
weit gegangen: Finland, die baltischen Provin-
zen, die rassischen Eroberungen im Süden und
Osten sind vollständig herangezogen. Am
schwierigsten war die Entscheidung für Polen
zu treffen. Während auch hier für die übrigen
Disciplinen, Theologie, Naturwissenschaften etc.
alles recipirt wurde, glaubte man sich gezwun-
gen, für die Geschichte eine Trennung vorzu-
nehmen: nur die letzte Zeit nach der Union mit
Bussland ist berücksichtigt, die ältere polnische
Geschichte bis gegen Ende des vorigen Jahr-
hunderts wurde ausgeschlossen. Wahrschein-
lich haben wieder practische Gründe mit-
gewirkt, die Gebrüder Zaluski hatten bereits
für die polnische Geschichte besonders eifrig ge-
sammelt, es mochte schwer sein, die ganze pol-
nische historische Literatur in den einmal ge-
wählten Bahmen einzufügen. Jetzt scheint frei-
lich auch hier, wie überhaupt häufig bei der
Anlage der Section entschieden zu haben, ob
im Titel eines Werkes Beziehungen zu Buss-
land angedeutet waren oder nicht. Das Zu-
fällige, das in diesem Merkmal Hegt, tritt wie-
derholt deutlich zu Tage. Es war so nicht zu
vermeiden, dass für die russische Geschichte
vom XV. Jahrhundert ab, wo sie sich immer
mehr mit der polnischen unlöslich verzwickt,
eine Beihe Quellenschriftsteller ausgeschlossen
wurden, die für die russisch-polnischen Kriege
von Bedeutung sind. Während z. B. Heiden-
steinii de bello moscovitico commentariorum
libri sex Aufnahme fanden, sind die Collectanea
vitam resque gestas Johannis Zamoyscii illu-
strantia ed. Dzialynski ausgeschlossen, obgleich
sie für die Kriege Ivan des Schrecklichen von
grossem Werth sind und namentlich die nur
Biblioth. Imp£r. Publique de St.-Petersbourg. 657
bier abgedruckten vitae Joh. Zamoyscii a Bei-
noldo Heidensteinio perscriptae libri tres für
das Yerständniss jener commentarii Heidensteins
unentbehrlich sind. Ebenso ist, um ein anderes
Beispiel aus derselben Zeit zu wählen, von den
beiden Beden des Warsevicius, die, mit welcher
er Stephan Bathory zum Frieden beglückwünscht
aufgenommen, dagegen die Leichenrede auf den
Tod des Königs, die für die Kriegsgeschichte wol
ebenso werthvoll ist wie jene andere, fortge-
lassen, weil bei dieser nicht wie bei der ersten
in der Ueberschrift des moskauschen Gegners
gedacht wird. — Wo einmal eine so schöne
Sammlung vereint, wo wie bei Livland und be-
sonders Finland die Literatur anderer Gebiete
vollständig aufgenommen wurde, deren Einfluss
auf Bussland doch nicht dem polnischen gleich-
geschätzt werden darf, da hätten wir gewünscht,
dass auch für diese wichtigste Seite in der
politischen Geschichte Busslands durch Jahr-
hunderte, für seine Beziehungen nach Polen die-
selbe Vollständigkeit erstrebt wäre, wenngleich
wir anerkennen, dass es nicht leicht sein mochte,
innerhalb der Polonica die passende Grenze zu
finden, sie hätte vielleicht bis zur Erhebung der
Jagellonen zurückgeschoben werden müssen.
Was dann gegenüber der ältern für die
jüngste polnische Geschichte geboten wird, ist
von ausserordentlicher Reichhaltigkeit, so na-
mentlich für die Bewegungen von 1831 und
1862. Für diese letztere wurde in grosser Voll-
ständigkeit »die revolutionäre (oder s. g. unter-
irdische) polnische Literatur von den Statthal-
tern Graf Berg und Murawjew eingesandt, wozu
noch eine beträchtliche Sammlung polnischer
Schriften ähnlichen Inhalts kam, die sich als
herrenloses Gut in den Lagerräumen der Nishe-
42
658 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck Öl.
gorodschen Eisenbahn zu Moskau vorgefunden
hatte«.
Bei den letzten grossen feindlichen Begeg-
nungen Busslands mit dem westlichen Europa
verstand es sich von selbst, dass nicht die ganze
unabsehbare Literatur über die europäischen
Kriege von 1813 — 1815 in eine Sammlung Kus-
sica Aufnahme fand. Wenn aber für den
Krimkrieg eine ähnliche Zurückhaltung beob-
achtet worden ist, so darf doch die Oportuni-
tät derselben bei einem Krieg fraglich erschei-
nen, der sich fast nur innerhalb russischer
Grenzen abspielt und bei dem die russische Ar-
mee für sich allein das eine Heerlager bildete,
nicht wie 1813 mit den verschiedensten Truppen
verbündet operirte.
Trotz diesen bedeutenden und einigen wei-
tern minder erheblichen Einschränkungen ist
die Zahl der in der Section gesammelten und
im Catalog verzeichneten Werke eine über Er-
warten grosse, weit mehr als 30,000 Titel sind
hier angeführt. Und gwar sind das fast durch-
gehend selbstständige Werke, wenngleich sich
auch nicht ganz selten Sonderabdrücke einzelner
Aufsätze aus Zeitschriften aufgezählt finden.
Uns ist nicht klar geworden, wann letzteres ge-
schehen ist, ob hier überhaupt eine Regel ein-
gehalten ist oder ob lediglich der Zufall gespielt
hat, doch wird man selbst in diesem Fall dank-
bar sein einzelnes zu finden, was eigentlich hier
nicht gesucht werden darf und in grossen Sam-
melwerken versteckt leicht der Aufmerksamkeit
des Forschers entgeht.
Die Ordnung des Catalogs ist, soweit die
Verfasser genannt oder bekannt waren, nach
diesen sonst nach dem Anfangs- oder Stichwort
lexicographisch, unter jedem Buchstaben sind
Biblioth. Imper. Publique de St-Petersbourg. 659
die Titel von eins ab gezählt. Diese selbst
wurden kurz aber präcis angegeben. Wahr-
scheinlich lag ein Zettelcatalog dem Druck zu
Grunde, woraus sich einige kleinere Unebenhei-
ten in demselben erklären, wie wenn die Bände-
zahl nicht immer gleichmässig angegeben ist,
oder wenn, während sonst Abkürzungen mög-
lichst vermieden wurden, doch 1090 Possevinus
Ant. Lettera alia Duchessa di Mant. steht,
was allenfalls aus dem Druckort Mantova er-
gänzt werden kann; so hätte 602 Herman Dan.
Stephaneis Moscovitica das sonst regelmässige
Piece de vers beigefügt werden sollen.
Was die Vollständigkeit betrifft, so ist darin
nicht nur das höchste erstrebt, sondern die
langjährige sorgsame Arbeit auch mit ausser-
ordentlichem Erfolg betrieben worden, man
staunt über die Fülle und vermag innerhalb der
gezogenen Grenzen schwer Lücken zu ent-
decken. Nur auf eine gewisse Literaturgattung
sei speciell verwiesen, hier lassen sich nach neue-
ren bibliographischen Hilfsmitteln allerdings in der
Petersburger Sammlung Desiderate auffinden.
Schon Fürst A. Galitzin hatte im Bulletin du
bibliophile 1859 pg. 31 auf die schöne Peters-
burger Collection der oft sehr werthvollen Flie-
genden Blätter und Neuen Zeitungen des XVI.
Jahrhunderts aufmerksam gemacht, die beson-
ders in Folge der Kriege Ivan des Schrecklichen
gegen Livland und Polen in grosser Zahl in
Deutschland gedruckt wurden. In den bereits
1862 erschienenen Annalen der poetischen Na-
tional-Literatur der Deutschen von E. Weller
finden sich unter No. 320, 340, 344 hieherge-
hörige Titel, die im Catalog der Russica fehlen
(auch No. 283 ist nur in einer von den drei
Editionen daselbst verzeichnet), und ebenso las-
42*
660 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 21.
sen sich aas Wellers neuerem Werk Die ersten
deutschen Zeitungen 1872 (Bibi, des literar.
Vereins Bd. CXI) Lücken in der Petersburger
Sammlung nachweisen cfr. Weller No. 268, 269 i
etc., 532, 560 und die merkwürdige No. 540.
— Freilich sind solche alte Drucke nicht
leicht käuflich zu haben.
Seinen hohen wissenschaftlichen Werth aber
erhält dieser Catalog vor allem durch die in
seinem zweiten Theil beigefiigte systematische
Ordnung table methodique. Nach bestimmten i
Materien sind dort die einzelnen Werke wissen- '
schaftlich geordnet und mit der Nummer des
ersten Haupttheiles citirt. Aus diesen Tafeln
wird sofort klar, wem vor allem die Samm-
lung und ihr Catalog zugut kommt: die Ge-
schichte hat den Löwenantheil gewonnen, ihr
allein gehören mehr Werke an als allen übrigen
Disciplinen zusammen. Man begnügte sich
nicht für die einzelnen Begierungen und die Ge-
schichte grösserer Gebiete die selbstständigen
Publicationen aufzuführen ; innerhalb dieser Grup-
pen ist durch Unterabtheilungen sogar dafür ge-
sorgt, das auf speciellere Themata bezügliche
leicht herauszufinden. Jetzt erkennt man erst j
völlig die Oede, welche nicht nur relativ gegen- !
über der reichen Petersburger Collection, son- i
dem absolut und wie es scheint auf allen Bi-
bliotheken Deutschlands gleichmässig herrscht,
sobald es sich um russisch-polnische Geschichte
handelt, und die es unmöglich macht, eine Frage
aus derselben in Deutschland zu lösen*). Auch
*) Dass über kurz oder lang hiegegen etwas wird
geschehen müssen, scheint ausser Frage, in unverhalt-
nissmässiger Weise aber wächst gerade hier die Schwie-
rigkeit mit der Zeit, weil der russische Buchhandel kein
eigentliches Antiquariatsgeschäft kennt, wol nirgend
Biblioth. Impör. PubUque de St.-Petersbourg. 661
der gewöhnliche an sich haltlose Entschuldigungs-
grund, die Unkenntniss der nationalen Sprache
wird nicht mehr vorgewandt werden dürfen:
eben die nichtrussischen Werke verzeichnet der
Catalog, wie viel könnte der Westen schon
aus diesen ihm zugänglicheren Materialien über
den fernen unbekannten Osten lernen , aber
auch von ihnen ist nur weniges in deutschen
Bibliotheken zu finden.
Auf die Ordnung dieser systematischen Ver-
zeichnisse ist offenbar die ausgezeichnetste Sorg-
falt verwandt worden, man wird das mit gröss-
tem Danke anerkennen, selbst wenn man mit
der einen oder andern Gruppirung nicht über-
einstimmt. Es sind bei den einzelnen Begie-
rungen Unterabtheilungen mit der Ueberschrift
poesies, sermons etc. gemacht, vor allem wol,
da die Form an sich doch wenig austrägt, um
besonders in späterer Zeit die inhaltsleeren Pro-
ducta höfischer Beredsamkeit hier einzuordnen.
Aber wir meinen man ist damit zuweit zurück-
gegangen, wenn man zum ersten mal eine solche
Gruppe bereits bei Ivan dem Schrecklichen von
der vorhergehenden guerre de Pologne et de
Livonie abschied. Hier gehören noch die Werke
beider Abtheilungen zusammen, kaum weniger
als die vorausgehenden speciell als solche Ge-
zeichneten, sind zumal bei der nicht zu grossen
Fülle anderer zeitgenössischen Nachrichten
gleichfalls als Quellen für die Geschichte jener
Kriege Ivans Werke zu betrachten, wie Jac.
Werke so rasch vom Markt verschwinden wie dort. Zum
Theil um dem entgegenzutreten forderte der erwähnte
Fürst A. Galitzin 1862 im Bull, du bibliophile pg. 1001
zur Gründung einer societe de bibliophiles russes auf;
von der Realisirung des Vorschlages ist aber nichts be-
kannt geworden.
662 Gott« gel. Anz. 1874. Stück 21.
Gorscii orationes gratulatoriae, Cochanovii ad
Stephanum regem epinicion, Hermanni Stepha-
neis Moscovitica etc.*). — Scheint uns an dieser
Stelle mehr als nöthig getheilt zu sein, so ha-
ben wir an einer andern eine Scheidung ver-
misst: es findet sich nämlich keine Abtheilung
für die Regentschaft der Prinzessin Sophie. Die
Bedeutung derselben in der russischen Geschichte
ist doch eine viel hervorragendere als nur die
einer Vormünderin ihrer Brüder, und mit nich-
ten dürfen die Jahre ihrer Regierung als die er-
sten der petrinischen gelten.
Wir schliessen unsere Besprechung des Ca-
talogs mit vollstem Dank für die Veröffentli-
chung desselben. Nach ihm wird in Zukunft je-
der greifen, der über eine Frage osteuropäi-
schen Lebens Auskunft sucht, vornemlich aber
wird die russische Geschichtsforschung durch ihn
gefördert werden, sie am meisten fühlt sich den
unermüdlichen Bearbeitern desselben für diese
reife Frucht ihres zwanzigjährigen rastlosen
Fleisses verpflichtet.
Richard Hausmann.
Chroniques greco-romanes inedites ou peu
connues publiees avec notes et tables genealo-
giques par Charles Hopf. Berlin. Weidmann.
1873. (XL VIII und 538 S. in 8°).
Das vorliegende Werk, eine Frucht derlang-
*) Unter den Reden vermissen wir: De bello adver-
sns Moschos ad equites Polonos oratio. Posnaniae 1578.
4°. Illustribns . . dominis comitibus a Gorca Stanislao ..
et Andreae . . Franziscns G* de Nadarice. Auch ist der
Sonderdruck des inhaltsreichen königlichen Briefes nicht
angeführt: Stephani regis Poloniae epistola: historiam
susceptae a se superiori aestate adversus Moschum ex-
peditions et expugnatae civitatis et arcis Polotzko red-
tans. s. 1. 1579. 4°.
Hopf, Chroniques greco-romanes inedites. 663
jährigen Studien Hopfs in den Bibliotheken und
Archiven Griechenlands und Italiens, ist kurz vor
dem im vorigen Herbste erfolgten Tode des
Verfassers erschienen. Die Vorarbeiten dazu
waren schon vor langer Zeit vollendet, schon
1863 hatte Hopf den Prospect zu einer solchen
Sammlung von Quellen zur Geschichte Griechen-
lands und der griechischen Inseln in der Zeit
nach der Aufrichtung des lateinischen Kaiser-
thums erscheinen lassen, welche gleichsam die
Grundlage für eine ebenfalls von ihm beabsich-
tigte und für die Ersch und Grubersche Ency-
clopädie bestimmte Geschichte Griechenlands im
Mittelalter bilden sollte. Allein aus äusseren
Gründen zog sich das Erscheinen derselben von
einem Jahre zum anderen hin, der Verfasser sah
sich so genöthigt, jene Geschichte vorher 1868 zu
publiciren, und jetzt erst ist jenes Quellen werk
nachgefolgt. Natürlich konnte der vor 10 Jah-
ren aufgestellte Plan nicht ganz unverändert
festgehalten werden, einige Stücke, welche in-
zwischen anderweitig publicirt waren, sind fort-
gelassen, andere hinzugefügt worden, auch jetzt
aber enthält die Sammlung, wie damals ange-
kündigt war, 24 Stücke, zu denen noch die genea-
logischen Tafeln hinzukommen. Jedesfalls mit
Rücksicht auf den internationalen Character,
welchen die griechisch-byzantinische Geschichte
trägt, auf das besondere Interesse, welches ge-
rade die Gelehrten des Auslandes, namentlich
Frankreichs und Russlands, derselben zuwenden,
hat der Verf. da, wo er selbst spricht, sich der
französischen Sprache bedient. Er schickt eine
längere Vorrede voraus, in welcher er die ein-
zelnen publicirten Stücke bespricht, die nöthi-
ten Angaben über die Handschriften und über
ie etwaigen früheren Ausgaben macht, zugleich
664 . Gott. gel. Anz. 1874. Stack 21.
aber aüch Bemerkungen über die Verfasser and
den Character dieser Quellen hinzufügt. Den
Text selbst begleiten Anmerkungen, meist kurze
Erläuterungen der Personen- und Ortsnamen,
den Schluss des Werkes bilden 12 genealogische
Tafeln von Hopf selbst mit jener an ihm be-
kannten Gelehrsamkeit und Akribie aus chroni-
calischen und archivalischen Quellen zusammen-
gestellt, leider sind aus Mangel an Raum die
Belege für die einzelnen Angaben nicht hinzu-
gefügt.
Die Reichhaltigkeit und Bedeutsamkeit dieses
Quellenwerkes wird schon eine Aufzählung der
einzelnen in ihm enthaltenen Stücke vor Augen
führen. Die Bezeichnung Chroniken passt nicht
eigentlich auf alle, mehrere sind rein urkund-
liche Documente. So No. VI zwei officielle Ver-
zeichnisse der Inseln des griechischen Archipels,
das eine bisher ungedruckt, lateinisch, dem
Ende des 13. Jahrhunderts angehörend, aus Ve-
nedig, das zweite griechisch, aus dem Ende des
16. Jahrhunderts, schon in Crusius Turcograeda
abgedruckt. Aehnlich No. VII, ein Verzeichniss
der Fürsten und Barone Griechenlands vom Jahre
1313, entnommen einem grösseren Verzeichniss
aller Fürsten und Herren der Welt, mit denen
Venedig damals in Verbindung stand. Ferner
No. IX, eine ausführliche Instruction des Dogen
Michel Steno vom Jahre 1408 für die Commissa-
rien, welche damals in die griechischen Provin-
zen Venedigs geschickt wurden, ebenso No. X,
Zusätze zu dem von Canciani herausgegebenen
Liber consuetudinum imperii Romaniae, vom J.
1421, auch die venetianischen Provinzen betref-
fend, No. XI zwei Verzeichnisse der Lehen Mo-
reas, das eine vom Jahre 1364 für die Fürstin
Marie von Bourbon, bisher unedirt, das zweite
Hopf, Chroniques greco-romanes inedites. 665
vom Jahre 1391 für Herzog Amadeus von Sa-
voyen, schon von Guicheron und Buchon heraus-
gegeben, hier nach dem Original verbessert.
Ferner No. XH ein Ausgabebuch, betreffend die
Vermählung Philipps von Savoyen mit Isabella
von Villehardouin, Fürstin von Morea, 1301, end-
lich No. XIII fünf Urkunden, 2 griechische, die
andern italienische, Argos und Nauplia betreffend.
Diesen Documenten verwandt ist dann noch No.
XXIH, ein Verzeichniss der venetianischen Gouver-
neure in Griechenland und den griechischen In-
seln, welches zum Theil officiellen Verzeichnissen
entnommen, zum Theil aber, da diese nur un-
vollständig erhalten sind, von Hopf selbst aus
archivalischen Quellen zusammengestellt ist.
Die übrigen Nummern sind Chroniken oder
doch cbronikenartige Schriftstücke. Das wich-
tigste unter allen ist gleich No. I: La prise de
Constantinople von Robert de Clary, einem Rit-
ter aus der Picardie, welcher an dem vierten
Kreuzzuge Theil nahm, darauf wahrscheinlich in
Constantinopel geblieben und dort jedesfalls erst
nach 1216 gestorben ist. Dieser Bericht ist
sowohl historisch wegen der Naivetät und des
Freimuthes des Verfassers, der allerdings nicht
in die hohe Politik eingeweiht war, neben dem
des hochgestellten und diplomatischen Villehar-
douin von hohem Werthe und auch sprachlich
als eine der ältesten französich geschriebenen
Chroniken interessant. Hopf hatte die einzige,
in Copenhagen befindliche Handschrift dieser
Chronik schon 1855 copirt, in der Hoffnung, sie
schon in nächster Zeit herauszugeben. Inzwischen
hat dann der Graf Paul Riant dieselbe ver-
öffentlicht, aber in einer Prachtausgabe in weni-
gen Exemplaren, welche gar nicht in den Buch-
handel gekommen sind und von denen er nach-
666 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
her selbst einen Theil wieder hat einstampfen
lassen, so dass für die gelehrte Welt im Allge-
meinen doch diese Hopfsche Ausgabe als die
editio princeps gelten wird.
Es folgt No. U Devastatio Constantinopolitana,
ein kurzer, aber namentlich chronologisch sehr
genauer Bericht über den vierten Kreuzzug von
einem Deutschen, welchen schon Pertz, aber mit
zahlreichen Fehlern, im XVI. Bande der Scripto-
res herausgegeben hatte und welcher hier emen-
dirt wiederholt ist, dann No. HI Chronista Nov-
gorodensis, auch der Bericht eines Zeitgenossen
über den vierten Kreuzzug in der Novgoroder
Chronik, welcher bisher nur russisch gedruckt«
hier zum ersten Male in lateinischer Uebersetzung
mitgetheilt ist. No. IV, ein sehr interessantes
Stück, eine Hauptquelle für die Geschichte Mo-
reas iml3ten und dem Anfänge des 14ten Jahr-
hunderts, ist die Istoria del regno di Romania,
die italienische Uebersetzung eines ursprünglich
lateinischen Originals, als dessen Verfasser Hopf
den bekannten Venetianer Marino Sanudo, den
Verfasser der Secreta fidelium crucis, erkannt hat,
der dasselbe in seinen letzten Jahren c. 1330
geschrieben hat. Daran schliesst sich an No. V, ein
lateinisches Fragment, die griechisch-venetiani-
sche Geschichte in der zweiten Hälfte des 13ten
Jahrhunderts betreffend, welches schon von Du-
cange und Buchon gedruckt war, als dessen Ver-
fasser hier aber auch Hopf zuerst jenen Marino
Sanudo erkannt hat. No. Vin enthält Auszüge,
die Geschichte Moreas und der griechischen In-
seln (1205 — 1497) betreffend, aus der grossen
Chronik des Venetianers Stefano Magno, welcher
im 16ten Jahrhundert gelebt und viele jetzt nicht
mehr erhaltene Chroniken und Documente be-
nutzt hat.
Hopf, Chroniques greco-romanes inedites. 667
Die übrigen Stücke enthalten chronicalische
Berichte sehr specieller Art : No. XII eine kurze
Biographie der ans der Geschichte des Huma-
nismus bekannten Brüder Nicolaus und Deme-
trius Chalcocondylas aus Athen, No. XV Ex-
cerpte aus Schriften des Rhetors Johannes Do-
ceanus, namentlich aus einem Panegyricus auf
den Kaiser Constantin Palaeologus, No.. XVI
Variae lectiones zu den in der Bonner Samm-
lung von Bekker sehr fehlerhaft herausgegebenen
Epirotica nach den neuen, wenig bekannten Aus-
gaben der griechischen Gelehrten Mustoxidi und
Destunis, No. XVII ein Stück aus dem Werke
Anthos des Joannicius Cartanus von Corfu, kurze
Annalen bis 1504, No. XVIII eine Chronik des
albanischen Herrschergeschlechtes der Mustacci,
No. XIX ein Stück aus dem Werke des Bischofs
Remondini von Zante über die Geschichte die-
ser Insel, die Herrschaft der Tocchi daselbst
(1357 — 1480) betreffend, No. XX eine Chronik
des S. Theodorklosters auf der Insel Cythera,
No. XXI der Bericht des Bischofs Leonard von
Chios an Papst Pius II. über die Eroberung von
Lesbos durch die Türken, No. XXII ein Stück
aus einem Gedichte des Zantioten Johann Co-
roneos, die Geschichte des albanischen Herrscher-
geschlechts der Bua behandelnd. No. XXIV
endlich ist die italienische Uebersetzung einer
Chronik von Morea, deren Original, wie Hopf
zeigt, griechisch geschrieben war.
Die beigefugten Tafeln enthalten Genealo-
gien: 1) der französischen Fürsten und Barone
von Morea, 2) der Herzoge von Athen, 3) der
Herren von Negroponte, 4) der Herzoge des Ar-
chipels aus den Häusern Sanudo und Crispo, 5)
der Herren von Andros und Naxos aus dem
Hause Sommaripa, 6) der venetianischen Dyna-
668 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
sten auf einzelnen Inseln des Archipels, 7) der
Dynastenfamilien ebendaselbst aus anderen ita-
lienischen, nicht yenetianischen oder genuesi-
schen Familien, 8) einheimischer edler Geschlech-
ter auf jenen Inseln, 9) der genuesischen Dyna-
sten im Archipel, 10) der yenetianischen Dyna-
sten auf den ionischen Inseln, 11) der Fürsten-
geschlechter in Epirus und Thessalien, 12) grie-
chischer Fürsten- und Herrengeschlechter in Morea.
Berlin. Dr. Ferdinand Hirsch.
Weir Mitchell. Les lesions des nerfs et de
leurs consequences, traduit et annote avec l’au-
torisation de l’auteur par M. Dastre. Paris.
1874 bei G. Masson. 8. pag. 408.
Die Uebersetzung des amerikanischen Werkes
ist durch eine sehr ausführliche Vorrede einge-
leitet, welche Vulpian verfasst hat. Vulpian be-
spricht in ihr einzelne Theile der allgemeinen
Neryenpathologie, führt M’s Ansichten an und
sucht sie den seiuigen anzupassen.
Auf M’s Antrag war im Secessionskriege 1863
in Philadelphia ein Hospital yon 400 Betten für
Nervenverletzungen eingerichtet. M. hat über
seine dortigen Erfahrungen schon zwei Werke
veröffentlicht. Dies dritte handelt über Nerven-
verletzungen überhaupt.
Die Anlage des Buches ist streng systematisch ;
man vermisst keinen Theil des Schemas, durch
dessen strenge Einhaltung sich hauptsächlich die
deutschen Lehrbücher auszeichnen. Es ist dies
deshalb auffallend, weil M. fast nur die ameri-
kanische und französische Literatur berücksich-
tigt, der englischen und deutschen dagegen sel-
ten gedenkt.
Unter den anatomischen Bemerkungen findet
Weir Mitchell, Lesions des nerfs. 669
sich der sehr richtige Satz, dass die Nerven dem
verletzenden Gegenstände am meisten in der
Mitte der Glieder ausweichen, in der Nähe der
Gelenke aber am meisten leiden. M. leugnet die
trophischen Nerven und schreibt ihre Function
nicht den vasomotorischen, sondern den Cerebro-
Spinalnerven zu, und zwar unter Zustimmung des
Uebersetzers und Vulpians. Die Erörterung der
pathologischen Physiologie gründet sich auf eine
.Reihe wohldurchdachter Experimente.
Dann führt M. die Arten der Verletzungen in
sehr vollständiger Reihe auf und erörtert ihre
Folgen. Die daraus sich ergebende Symptomato-
logie ist mit ausserordentlicher Sorgfalt beschrie-
ben, besonders die entfernteren Zeichen. Sehr
merkwürdig sind die Gelenkaffectionen nach Ner-
venverletzungen, welche dem Gelenkrheumatismus
sehr gleichen. Die Reflexlähmungen gewähren
doch keine volle Ueberzeugung. Die Hyperästhesie
der Haut nach Nervenwunden wird eingehend
beschrieben ; M. verlegt ihren anatomischen Grund
in Veränderungen der sensiblen Nervenendigungen.
In Bezug auf die Behandlung empfiehlt M. die
Nervennaht: sie beschleunigt die Heilung sehr,
am besten näht man das umliegende Gewebe zu
beiden Seiten des durchschnittenen Nerven zu-
sammen. Die Electricität soll man frühzeitig an-
wenden. Dagegen hat sich unter den Mitteln
zur subcutanen Injection nur das Morphium
bewährt; Atropininjectionen können zur Unter-
stützung des Morphiums dienen, da durch sie
nur die schmerzstillende Wirkung des Morphiums
zur Geltung kommt.
Zuletzt werden die Nervenkrankheiten der
Amputationsstümpfe mit grosser Genauigkeit be-
handelt. Weder grosse Wärme, noch grosse
Kälte werden beim Tragen künstlicher Glieder
670 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 21.
gut gelitten, sie erregen beide Schmerzen im
Stumpfe. Besonders aber rufen bestimmte Wind-
richtungen Schmerzen hervor. Jede Klasse von
Amputirten hat bestimmte Entstehungsursachen
für Neuralgien. Die Erfahrung, dass die verlorene
Hand, der verlorene Fuss dem Rumpfe näher ge-
glaubt werden, erklärt M. durch Verwechslung
mit dem Stumpfe, welcher dem Rumpfe näher
ist. Durch Tragen des künstlichen Gliedes wird
übrigens jene falsche Vorstellung aufgehoben.
Das Gefühl der Bewegungen des amputirten Glie-
des ist ein Beweis, dass schon der Willensact
einen Eindruck über die gewollte Bewegung lie-
fert und nicht die ausgeführte Bewegung allein
die Vorstellung derselben erregt.
Völlig neu ist die Beschreibung der Chorea
der Stümpfe.
Die eingestreuten Krankengeschichten dienen
überall zu lebendiger Illustration der Darstel-
lung. Das Buch enthält viel neues und zeigt
eine planmässige Durchführung. Wenn auch
einzelne Behauptungen Widerspruch erwecken
können, so stehen sie doch nicht vage in der Luft
Die Uebersetzung ist überall gut ; die äussere
Ausstattung dürfte den deutschen Buchhändlern
zum Muster dienen. IL
Lexicon etymologicum latino etc. = sanscritum
comparativum quo eodem sententia verbi analo-
gue explicatur. Construxit Seb. Zehetmaytr
gymn. professor. Vindobonae 1873. Prostat apud
Alfred. Holder, bibliopolam universitatis.
Zu den beiden vor kurzem erschienenen klei-
nen vergleichenden Wörterbüchern der lateini-
schen Sprache (von Hintner und Vanicek) gesellt
sich dieses dritte, dessen specieller Zweck sich
Zehetmayr, Lexicon etymologicum latino etc. 671
im Titel ankündigt. Die Idee verdient Beifall,
ebenso zum Theil auch die Ausführung, da der
Herr Verfasser mit grossem Fleiss gearbeitet hat.
In formeller Hinsicht wäre es gut, wenn er nicht
lateinisch, sondern deutsch geschrieben hätte;
das Werk würde dadurch an Präcision und Klar-
heit wol gewonnen haben. Es wäre ferner gut,
wenn die reichen Hinweisungen auf bairische
Provincialismen etwas eingeschränkt worden wä-
ren, da der des bairischen Dialectes nicht kun-
dige Leser durch sie gezwungen wird, Schmellers
Idioticon fortwährend zur Hand zu haben. Oef^
ters sind diese Hinweisungen auch nicht beson-
ders glücklich gewählt. Bei insece z. B. verweist
Herr Z. auf das altbair. im decretum Tassilonis
vorkommende »stabsacken«. Die Bedeutung je-
' nes lateinischen Wortes wird dadurch gewiss nicht
klar und obendrein muss dieses deutsche trotz
Schmellers Erklärungsversuch für ganz unklar
gelten. Dergleichen findet sich mehrfach und
hätte von Herrn Z. bei der grossen Belesenheit,
die er auf jeder Seite seines Werkes documen-
tirt, durch besseres gewiss leicht ersetzt werden
können. Leider hat aber auch diese dem Werke
geschadet, denn die Menge des Verglichenen geht
oft zu weit und dasselbe liegt oft der eigent-
lichen Aufgabe fern; so ist z. B. das unter fera
bemerkte viel weniger ein Articel über dieses
Wort, als ein Nachweis über die Verbreitung des
Suffixes »aha« im deutschen. Die etymologischen
Zusammenstellungen sind meist besonnen gemacht;
leider muss ich mir im Augenblick versagen, alle
Einzelheiten, in denen ich mit dem Herrn Ver-
fasser nicht übereinstimme, hervorzuheben und
kann nur auf einzelne herausgegriffene Punkte
eingehen. Entschieden verkehrt ist das unter
abyssus über gr. ßtlacog, ßiv&og u. s. w. bemerkte ;
das richtige findet sich bei Fick, ig. wbch. II
672 Gott* gel Anz. 1874. Stück 21.
131. 381. Bei piscis erinnert Hr. Z. an sskr.
picchala schleimig, schlüpfrig u. s. w. Eine pas-
sendere Etymologie liegt viel näher. Die Römer
überliefern als Name eines Fisches aqui-, oder
aci-penser, den man gewöhnlich auf den Stör
bezieht. Die Richtigkeit dieser Ansicht dahin
gestellt, lässt sich das Wort kaum anders als
acupenser — vgl. aqui-folius u. a. — »scharf-
flossig« erklären. Penser gehört alsdann zu
ahd. fasa Faser, Haaru. s. w., also zu einer Wur-
zel pas. Als Grundform des lat. pisci-s germ,
fiska ergibt sich nun leicht peska (oder penska)
»der Flossige«, wozu das altir. iasc. Fisch, d. i.
(p)esc — mit Dehnung vor Doppelconsonanz —
genau stimmt. — Dass.formus direct zu ferveo
gehöre, bezweifle ich; es ist von einer Wurzel
»bhar« brennen abzuleiten, die mit n erweitert
im ags. beornan an. brenna vorliegt. Diese vol-
lere Form »bhara« ist vielleicht auch schon für
forn-u-s, fora-ac-s vorauszusetzen. — Ebenso ge-
hört lat. für gr. (pcoQ nur indirect zu fero sskr.
bhar tragen, zunächst jedoch zu bhar nehmen
= sskr. har nehmen, wegnehmen, rauben. Da
dieses har öfters mit Berufung auf das — jedoch
sehr schlecht bezeugte — zend. zar unter eine
Wurzel ghar gestellt wird, so erlaube ich mir
darauf hinzuweisen, dass der alte Anlaut bh von
den Sanskrit-Grammatikern ausdrücklich bezeugt
wird. Ein värttika zu Pänini YHI. 2. 32 be-
merkt: »hrgraho bhag chandasi basya« und be-
legt bhr (nehmen) mit zwei Beispielen, und dem al-
ten Yäska scheint die Form bhr noch ganz geläufig
gewesen zu sein, denn er leitet bhrätar ohne
jede Bemerkung von bhr = hr ab (brätä bha-
rater haratikarmano Nir. IV. 26). In letzter
Instanz sind natürlich bhar tragen und bhar
nehmen identisch.
Göttingen. Adalbert Bezzenberger.
677
,6 5(tingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 22. 3. Juni 1874.
Dr. Richard Schröder, ord. Professor
deB deutschen Rechts in Würzburg, das eheliche
Güterrecht Norddeutschlands und der Nieder-
lande im Mittelalter. A. u. d. T. : Geschichte
des ehelichen Güterrechts in Deutschland. Zwei-
ter Theil. Das Mittelalter. Dritte Abtheilung:
das sächsische und das friesische Recht. Stettin.
Danzig. Elbing. Leon Saunier’s Buchhandlung.
1874. XIV und 428 Seiten in Octav.
Die verdienstvolle Arbeit Schroder’s über
die Geschichte des deutschen ehelichen Güter-
rechts ist mit der jetzt vorliegenden dritten Ab-
theilung zu Ende geführt. Ursprünglich hatte
es in der Absicht des Verfassers gelegen, die
Geschichte des ehelichen Güterrechts bis auf die
neueste Zeit fortzufübren. Dieser Plan ist jetzt
aufgegeben. Das einheimische deutsche eheliche
Güterrecht hat den Abschluss seiner inner-
lichen Entwickelung bereits mit dem Ende des
Mittelalters gefunden. Die Reception des römi-
schen Rechts und die gesammte neuere Ent-
wickelung hat nur die äussere Geltung des aus
43
678 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
dem Mittelalter überlieferten Güterrechts, nicht
seine innere Gestalt berührt. Aus diesen Grün-
den hat der Verfasser seine Darstellung der
Geschichte des deutschen ehelichen Güter-
rechts mit dem vorliegenden Bande, welcher die
Darstellung des mittelalterlichen Hechts vervoll-
ständigt, abgeschlossen, jedoch eine spätere Ar-
beit in Aussicht gestellt, welche die dogmati-
sche Darstellung des heute in Deutschland gel-
tenden Rechts, und damit die Resultate des seit
dem 16. Jahrhundert zwischen römischem und
deutschem ehelichen Güterrecht geführten Kam-
pfes geben wird.
Die vorliegende dritte Abtheilung stellt das
eheliche Güterrecht Norddeutschlands und der
Niederlande im Mittelalter dar, d. h. das mittel-
alterliche sächsische und friesische Recht, nach-
dem das alemannische und bairische Recht in
der ersten, das fränkische Recht des Mittelalters
in der zweiten Abtheilung des zweiten Theils,
und früher im ersten Theil das älteste deutsche
Recht (»die Zeit der Volksrechte«) seine Behand-
lung gefunden hatte.
Die neueste Leistung des Verfassers ist durch
dieselben Vorzüge ausgezeichnet, welche seinen
früheren Arbeiten schon längst einen hervor-
ragenden Platz in unserer germanistischen Lite-
ratur gegeben haben. Wir finden die gleiche
Gründlichkeit der Forschung, das gleiche Ein-
dringen in die einzelnsten Züge der Rechtsent-
wickelung, die gleiche Zuverlässigkeit und Be-
stimmtheit der gegebenen historisdien Resultate.
Der Verfasser hat mit seinem nun durch die
dritte Abtheilung vollendeten Werk uns ein Ge-
sammtbild von dem mittelalterlichen ehelichen
Güterrecht in allen seinen Entwickelungsformen
gegeben, wie wir es in gleicher Vollständigkeit
Schroder, D. ehel. Güterrecht Norddeutschl. 679
und Klarheit auch nicht annähernd fur irgend
einen anderen Theil der mittelalterlichen Rechts*
geschichte besitzen. Was insbesondere diese
dritte Abtheilung auszeichnet, ist, dass jetzt zum
ersten Mal nicht blos das friesische Recht in un-
seren Gesichtskreis gerückt ist, sondern auch das
sächsische Recht in allen seinen Gestalten voll
ausgebreitet vor uns liegt. Jetzt zum ersten
Mal lässt sich überblicken nicht blos das Recht
des Sachsenspiegels und des Magdeburger
Rechts, welches bereits in v. Martitz und
Agricola vortreffliche Bearbeiter gefunden
batte, sondern ebenso die reiche Entwickelung
des westfälischen Rechts, dessen Bedeutung weit
über die alten Gränzen Westfalens hinaus gehen
sollte, die Geschichte des thüringischen Rechts,
welches sich nach den Untersuchungen des Ver-
fassers als durchaus abhängig vom fränkischen
Recht erweist, und vor Allem die so höchst
eigentümliche Geschichte des ehelichen Güter-
rechts in den colonisirten Theilen des sächsi-
schen Gebiets, wo wir neben einander ostfäli-
sches, westfälisches, flämisches und fränkisch-
czechisches Recht in Geltung sehen.
Der Verfasser hat die Uebersicht seiner Re-
sultate dadurch erschwert, dass die Glieder der
einzelnen Rechtssysteme von einander getrennt
und unter den verschiedenen systematischen
Rubriken nebeneinander gestellt sind. Es soll
hier versucht werden, unter Wiederherstellung
des natürlichen Zusammenhanges, für die ver-
schiedenen Formen des norddeutschen Rechts
die Ergebnisse des Verfassers zusammenzu-
stellen.
Das ostfälische Recht, welches seine
landrechtliche Form im Sachsenspiegel, seine
stadtrechtliche im Magdeburger Stadtrecht ge-
43*
"H
680 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 22. I
fanden hat, weist eine Gestalt des ehelichen i
Güterrechts anf, die man bisher sehr wenig
passend als System der »Gütereinheit« bezeich- 1
nete. Der Verfasser schlägt den Namen »Ver- i
waltungsgemeinschaft« (im Gegensatz zar Güter- |
gemeinschaft) yor. Es wird noch treffender sein,
dies System direct als ‘ das deutschrechtliche
Gütertrennungssystem 2a bezeichnen.
Die Idee dieses Systems ist die Wirkungslosig-
keit der Ehe für die Zuständigkeit des Vermö-
gens. Die Substanz der beiderseitigen Güter
bleibt getrennt, und nur die Verwaltung wird in
Folge der vormundschaftlichen Rechte des Ehe-
herrn eine einheitliche in der Hand des Man-
nes. Nur an einem Punkt ist das Princip der
Gütertrennung durchbrochen. Die Mobilien der
Frau werden in Folge der Eingehung der Ehe
Eigenthum des Mannes, und an Stelle des in-
ferirten Mobiliarvermögens der Frau tritt
schon mit Eingehung der Ehe die Gerade,
welche als das gesetzliche Mobiliarver-
mögen der Frau (analog der gesetzlichen
Morgengabe, der gesetzlichen Leibzucht) zn
definiren ist, d. h. das Eigenthum der Frau an
gewissen Kategorieen von Sachen ohne Rück-
sicht auf die Illation. Nichtsdestoweniger ruht
auch die Gerade auf dem Princip der Güter-
trennung; sie soll nur die Anwendung dieses
Princips erleichtern, indem sie mit Rücksicht
auf die Minderung des eingebrachten weiblichen
Mobiliarvermögens durch Gebrauch und durch
Verwaltungshandlungen des Mannes der Frau
von Rechtswegen gewissermassen ein »eisernes«
Mobiliarvermögen schafft. Daraus folgt, dass
während der Ehe die eingebrachten Mobilien
der Frau gleich dem übrigen Vermögen des
Mannes für die Schulden des Mannes haften;
nur die Gerade ist gleich dem unbeweglichen
Schröder, D. ehel. Güter recht Norddeutschi. 681
X
Frauengut, dem Princip der Gütertrennung ent-
sprechend, von der Haftung für die lediglich
ehe männlich en Schuldenfrei (S. 265 ff. 324).
Nach Auflösung der Ehe nimmt die überlebende
Frau (und ebenso deren Erben) nur die Gerade
und die eingebrachten ehefräulichen Immobilien
(S. 2 ff.).
Der Beweis des Eigenthums des Mannes an
den inferirten Mobilien der Frau ist das wich-
tigste Ergebniss der Untersuchungen des Ver-
fassers über das ostfälische Recht. Schon Al-
brecht hatte dies Eigenthum behauptet, doch
hat erst Schröder den überzeugenden Beweis
für diesen Satz erbracht. Sein wichtigstes Ar-
gument ist der ostfälische Rechtssatz, dass
Grundstücke, welche der Mann mit dem Gelde
der Frau anschafft, in das Eigenthum des Man-
nes, nicht der Frau übergehen (S. 16 ff.). Da
das ostfälische Recht , gleich dem westfali-
schen , auf dem Princip steht: »res succedit
in locum pretii et pretium in locum rei« (S.
320), so folgt, wie der Verfasser scharfsinnig
entwickelt , aus jenem Rechtssatz das Eigenthum
des Mannes an dem Gelde, überhaupt an den
Mobilien der Frau. Es ergiebt sich ferner, dass
das Eigenthum des Mannes an dem nicht vor-
behaltenen beweglichen Frauengut, welches spä-
ter im ostfalischen Stadtrecht direct ausgespro-
chen ist, nicht, wie v. Martitz angenommen,
auf einem Rechtsgeschäft von Seiten der Frau,
sondern, bereits altsächsischem Recht entspre-
chend, auf den kraft Rechtssatzes feststehenden
Wirkungen der Ehe beruhte: es bedurfte des
Vertrags , nicht um das Eigenthum des Mannes
an den fraulichen Mobilien, sondern um den
Eigenthums- und Verwaltungsvorbehalt der Frau
an ihrem Sondergut zu begründen (S. 359 ff.
682 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
363 ff.). Andererseits beweist der Verfasser das
Eigenthum der Frau an der Gerade schon wäh-
rend der Dauer der Ehe schlagend dadurch,
dass im Fall erblosen Versterbens der Frau die
Gerade nicht etwa beim Manne verbleibt, son-
dern als erbloses Gut an den Richter fällt (S.
6. 321).
Das westfälische Recht ist schon seit
den Zeiten der Lex Saxonum dadurch gekenn-
zeichnet, dass es zwischen der kinderlosen und
der beerbten Ehe unterscheidet. Bei kinder-
loser Ehe hat das altwestfalische Recht die
gleichen Rechtssätze wie das ostfalische, also
Gütertrennungsprincip mit Geraderecht, so dass
sich das System des Sachsenspiegels als das
eigentlich altsächsische Recht darstellt (S. 11.
22. 49. 111. 113. 321). Doch hat im westfa-
lischen Rechtsgebiet, anders als in Ostfalen,
das Stadtrecht früh die altherkömmlichen Grund-
sätze des Landrechts aufgegeben. Die Gerade,
auf die Verhältnisse der ländlichen, nicht der
städtischen Wirthschaft berechnet, wird besei-
tigt (nur in einem unbedeutenden erbrechtlichen
Voraus der Frau hat sie häufig noch eine Re-
miniscenz hinter sich gelassen), und für die un-
beerbte Ehe entweder Gütertrennungssystem
(mit stricter Anwendung auch auf die inferirten
Mobilien der Frau) mit Quotenerbrecht des
überlebenden Ehegatten am Nachlass des Ver-
storbenen (so in den Städten mit Soest-Lübe-
cker Recht, S. 23 ff.), oder Gütergemeinschafts-
system, sei es mit Alleinerbrecht (so in Wesel,
Minden, Osnabrück und den Städten des Mün-
sterlandes, S. 36 ff. 315), sei es mit Quoten-
erbrecht (so in Dortmund mit seinen Tochter-
rechten und im Fürstenthum Corvey, S. 43 ff.
311 ff.) des überlebenden Ehegatten an dem ge-
Schröder, D. ehel. Güterrecht Norddeutschi. 683
rammten Nachlass. Von den westfalischen
Städten aus haben sich diese Umbildungen des
alten Rechts nach den Städten Ostfalens und
nach dem Gebiet jenseits der Elbe verbreitet.
So steht z. B. Hamburg und Bremen mit Dort-
mund auf dem Boden des Quotenerbrechts,
Hannover und Lüneburg auf dem Boden des
Alleinerbrechts am gesammten Nachlass.
Bei beerbter Ehe hat das westfäli-
sche Recht schon nach dem Zeugniss der Lex
Saxonum gütergemeinschaftliche Tendenz: zum
Frauenvermögen gehört ausser den eingebrach-
ten Immobilien der Frau und der Gerade die
Hälfte der ehelichen Errungenschaft. Auf dem
Standpunkt dieser altwestfälischen Errungen-
scbaftsgemeinschaft für die beerbte Ehe scheint
das westfälische Landrecht mit verschwindenden
Ausnahmen (so das Gebiet des Stiftes Corvey)
stehen geblieben zu sein (S. 111). Die west-
falischen Städte haben auch hier, und zwar, wie
es scheint, in Folge der Anforderungen der
städtischen Wirthschaft, das System des Land-
rechts fortgebildet, und sind einen Schritt wei-
ter gegangen. Das westfälische Stadtrecht
lässt, unter der Führung von Soest, Lübeck,
Dortmund für die beerbte Ehe an die Stelle der
Errungenschaft8gemeinscbaft durchweg die all-
gemeine Gütergemeinschaft mit Halbtheilung
nach Auflösung der Ehe treten (S. 119 ff. 145).
Der juristische Charakter dieses westfälischen
Stadtrechtssystems ist bisher unter mancherlei
Controversen namentlich an den ßechtssätzen
des lübischen Rechts zur Verhandlung gekom-
men. Das lübische Recht steht dem westfäli-
schen Landrecht am nächsten. Während die
Dortmunder Stadtrechtsgruppe bei jeder Ehe,
auch bei der kinderlosen, allgemeine Güterge-
684 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 22.
meinschaft eintreten lässt (vgl. oben), hat das
lübische Recht den altwestfälischen Gedanken
festgehalten, dass nur die beerbte Ehe eine gü-
tergemeinschaftlich e Ehe ist. Der Verfasser
zeigt, gegen Gropp, dass auch die Güterge-
meinschaft des lübischen Rechts eine Güterge-
meinschaft unter Lebenden, nicht blos von To-
des wegen ist, und zwar dadurch ausgezeichnet,
dass sie auch während der Ehe nur dauert,
wenn und so lange Kinder da sind, so dass die
lübische Gütergemeinschaft durante matrimonio
durch Geburt eines Kindes eintritt und durch
Absterben aller Kinder wieder aufhört (S. 305 ff.):
ein System, von dessen praktischer Anwendung
es allerdings schwer ist, sich eine klare Vor-
stellung zu machen.
In den geschilderten beiden Gütersystemen
des ostfälischen und des westfälischen Rechts
sind die originalen Hervorbringungen des säch-
sischen Rechts erschöpft. Und auch hier schon
zeigt sich im Herzen des Sachsenlandes der Ein-
fluss des im Mittelalter übermächtigen fränki-
schen Rechts: das wichtige Dortmunder Stadt-
recht hat ersichtlich unter der Einwirkung des
benachbarten fränkischen Rechts, welches seine
Errungenschaftsgemeinschaft ohne Rücksicht auf
das Dasein von Kindern eintreten lässt, die alt-
westfälische Unterscheidung der kinderlosen und
der beerbten Ehe aufgegeben (S. 104. 3li) und
zeigt sogar das von Dortmund beeinflusste Ham-
burger Recht Anklänge an die fränkische Dritt-
theilung. Dagegen stellt sich das thüringi-
sche Recht als eine blosse Provinz des fränki-
schen Rechts dar. Sowohl in den nordthüringi-
schen, um Goslar und Mühlhausen gelagerten,
wie in den südthüringischen Städten, deren
Mittelpunkt Eisenach bildete, galt die fränkische
Schröder, D. ehel. Güterrecht Norddeutschi. 685
Errungenschaftsgemeinschaft, mit Hinterfälligkeit
der Immobilien unbeerbter, mit Verfangenschaft
(jedoch in der Regel durch Theilrecht modifi-
cirt) bei beerbter Ehe (S. 69 ff. 187 ff.). Die
Goslarische Städtegruppe war zuerst von Hä-
n'el ausgeschieden worden, jedoch unpassend
unter den Gesichtspunkt ostfalischen Rechts ge-
bracht. Agr i cola hatte bereits den sächsi-
schen Charakter dieser Stadtrechtsgruppe be-
zweifelt (vgl. Roth in der krit. Vierteljahrsschr'.
XII, S. 598). Der fränkische Charakter dersel-
ben, und damit die Einreihung dieser Erschei-
nung in die Reihe der Machtäusserungen des
fränkischen Rechts ist durch die gründlichen
Untersuchungen Schroder’s jetzt sicher ge-
stellt.
Das weite Gebiet der sächsischen Colo-
nisation bietet ein höchst eigentümliches
Schauspiel: hier, wo die deutsche Einwanderung
aus verschiedenen Quellen zusammenströmte,
finden wir, der Mischung der Bevölkerung ent-
sprechend, eine Reihe von Rechtssystemen ne-
ben einander. Insbesondere ist gerade das ehe-
liche Güterrecht der Punkt, in welchem die Ein-
wanderer am zähesten an ihrem angeborenen
Recht festhalten, auch wenn sie sonst zu dem
im Ganzen das Gebiet der Colonisation be-
herrschenden ostfalischen Recht übergegan-
gen sind.
Nicht ehrtnal das Landrecht finden wir
hier einheitlich gestaltet. Wohl gilt im Allge-
meinen das Recht des Sachsenspiegels, also ost-
fälisches Recht auf dem platten Lande östlich
von der Elbe ; aber weite Gebiete haben gerade
für das eheliche Güterrecht dem Recht des
Sachsenspiegels sich entzogen. Unter westfäli-
schem Recht; (dem lübischen Recht verwandt)
686 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
stand das Fürstentham Breslau (S. 35), und an-
scheinend auch die Insel Bügen (S. 123). Den
grössten Einfluss aber hat das flämische Recht
geübt. Es war Landrecht in der Mark Bran-
denburg, in den Herrschaften Burg und Star-
gard, im Herzogthum Preussen, im Lande Kott-
bus, in den holsteinischen Marschen und in den
zahlreichen flämischen Golonieen, so auf dem
Fläming und in der goldenen Aue (S. 145).
»Während der Westfale mit Vorliebe die Städte
aufsucht, war die flämische Einwanderung in
erster Reihe auf das platte Land berechnet, ins-
besondere wo es galt, Sumpf- und Moorlände«
reien der Cultur zu gewinnen*).
Das stadtrechtliche eheliche Güterrecht
der colonisirten Gebiete tritt fast durchweg zum
ostfalischen Recht in Gegensatz. Am Ostsee-
strande herrscht in den Städten lübisches, also
westfälisches, eheliches Güterrecht. Die Städte
des Binnenlandes stehen im Allgemeinen unter
der Herrschaft Magdeburger, also ostfalischen,
Stadtrechts. Aber die wenigsten Städte haben
das »plen&rium jus Magdeburgense« (S. 54).
Das volle und das mindere Magdeburger Recht
unterscheiden sich gerade dadurch, dass das
Magdeburger eheliche Güterrecht dort mit auf«
genommen, hier ausgeschlossen ist. Und die
meisten Städte Magdeburger Rechts haben nur
das mindere Magdeburger Recht empfangen,
d. h. in das ostfälische Stadtrecht ist ein Güter-
rechtssystem anderen Ursprungs eingeschoben:
die Wanderer aus der Ferne haben ihr heimath-
liche8 eheliches Güterrecht sich erhalten, wenn
gleich sie sonst dem im fremden Lande domi-
*) Schröder in v. Sybels Hist. Zeitschr. XXXI,
S. 310.
Schröder,- D. ehel. Gäterrecht Norddeutschi. 687
nirenden Recht sich gefügt haben. Das eheliche
Güterrecht der Städte des Binnenlandes ist, von
den wenigen Städten mit vollem Magdeburger
Becht abgesehen, durchweg fränkischen Ur-
sprungs. Wir unterscheiden zwei Formen die-
ses fränkischen Hechts : das flämische Becht und
das Drittheilsrecht.
Des flämischen Bechts ist schon vorhin
gedacht worden. Während das Drittheilsrecht
(als deutsches Becht) nur Stadtrecht ist, hat
das flämische Becht auch weite Strecken des
platten Landes sich unterworfen. Es gilt in den
oben genannten Gebieten wie als Landrecht, so
auch als Stadtrecht. Ausserdem gilt flämisches
eheliches Güterrecht in einer Beihe von einzel-
nen Städten: so in vielen Städten Schlesiens,
und der Niederlausitz (S. 62 ff.), in Schleswig
und Mecklenburg (S. 51. 135). Das flämische
Becht ist fränkisches, und zwar niederfränki-
sches Becht: seine Gütergemeinschaft tritt in
Folge jeder Ehe ein ohne Unterscheidung der
beerbten und der kinderlosen Ehe. Aber das
flämische Becht ist modificirtes niederfränkisches
Becht: modificirt durch die Einflüsse des be-
nachbarten friesischen und westfälischen Bechts.
An die Stelle der fränkischen Drittheilung ist
die friesisch-westfälische Halbtheilung (zugleich
die Gleichstellung von Mobilien und Immobilien,
und damit die Beseitigung der Verfangenschaft)
getreten, und die Errungenschaftsgemeinschaft
hat sich in eine allgemeine Gütergemeinschaft
verwandelt*). Das Dortmunder Stadtrecht, wel-
ches als Oberhof den westlichen Theil West-
falens beherrschte, und die bereits oben in Ver-
bindung mit demselben genannten Stadtrechte
*) Vgl. Schröder a. a. 0. S. 307. 808.
68a Gott gel. Anz. 1874. Stack 22.
von Hamburg und Bremen sind im Grunde le-
diglich Ausdruck dieses flämischen Rechts-
systems, welches, wie östlich der Elbe, so aueb
auf altsächsischem Boden Wurzel geschlagen,
hatte.
Das Drittheilsrecht hat ein beschränk-
teres Geltungsgebiet. Es gilt in den Stadtrech-
ten der Markgrafschaft Meissen, in Böhmen und
Mähren, und hie und da in der Niederlausitz
und Oberschlesien (S. 80 ff. 137 ff.). Es er-
scheint in zwei Formen. Die eine ist die regel-
mässige, und beherrscht Böhmen, Mähren mit
den nächstbenachbarten Gebieten. Sie unter-
scheidet nicht zwischen unbeerbter und beerbter
Ehe; in beiden Fällen gilt allgemeine Güter-
gemeinschaft, und nimmt nach Auflösung der
Ehe die überlebende Frau ein Drittel, der über-
lebende Mann das Ganze des gesammten ehe-
lichen Vermögens. Die andere Form hat ihren
Sitz in den Städten des Meissner Landes, und
ist im Rechtsbuch nach Distinctionen zur Dar-
stellung gekommen. Sie unterscheidet wenig-
stens für die Wittwe die unbeerbte von der be-
erbten Ehe. Die kinderlose Wittwe nimmt ihr
Eingebrachtes und ein Drittel vom Nachlass des
Mannes, die mit Kindern concurrirende Wittwe
dagegen ein Drittel vom gesammten ehelichen
Vermögen, während der überlebende Mann auch
hier, bei unbeerbter wie beerbter Ehe, den ge-
sammten Nachlass aus der Ehe erwirbt. Der Ur-
sprung dieses Drittheilsrechtes wird sich schwer-
lich mit Sicherheit feststellen lassen. Schrö-
der opponirt gegen v. Martitz, welcher Letz-
tere dem Drittheilsrecht fränkischen Ursprung
zugeschrieben batte. Schröder will (S. 97 ff.)
das Drittheilsrecht auf czechische Grundlage
zurückführen. Allerdings muss nach Schrö-
Schroder, D. ehel. Güterrecht Norddeutsch!. 689
d e r * s Untersuchungen angenommen werden,
dass das Drittheilsrecht zweifellos nicht reines
fränkisches Recht ist. Dass in den meissnischen
Städten das Drittheilsrecht zwischen kinderloser
und beerbter Ehe unterscheidet, und nur im
letzten Fall Gütergemeinschaft, im ersten aber
Gütertrennung eintreten lässt, ist dem fränki-
schen Recht direct zuwider. Ebenso wenig
fränkisch ist, dass das Drittheilsrecht nur auf
die Wittwe Anwendung findet, während der
Mann Alleinerbe ist (nur ausnahmsweise finden
sich die zwei Drittel des Mannes, S. 148). Es
kommt hinzu, dass das Drittheilsrecht schon im
altböhmischen Landrecht bezeugt ist, also alt-
czechischem Recht entspricht (S. 98). Da aber
andererseits der von Martitz geltend gemachte
Zusammenhang der böhmischen und mährischen
Städtegründung mit flandrischer Einwanderung
ebenso ausser Zweifel steht, so wird die ver-
mittelnde Ansicht am meisten für sich haben,
welche Schröder selber neuerdings ausge-
sprochen*), dass nämlich das Drittheilsrecht
fränkisches Recht ist, aber beeinflusst durch
altczechische Gewohnheiten.
In einem Anhang (S. 389 ff.) hat der Ver-
fasser das friesische Recht dargestellt. Es
ergiebt sich eine überraschende Uebereinstimmung
des friesischen und des altwestfälischen Rechts.
Auch bei den Friesen finden wir die Unter-
scheidung der kinderlosen und der beerbten
Ehe, und gilt auch hier für die kinderlose Ehe
Gütertrennungsprincip, für die beerbte Ehe (der
Beerbung der Ehe steht bei Mittel- und West-
friesen der Ablauf von Jahr und Tag nach
Schliessung der Ehe gleich) Gütergemeinschafts-
*) Hist. Zeitschr. a. a. 0. S. 311.
690 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
princip, nämlich Gemeinschaft der fahrenden
Habe und der Immobiliarerrungenschaft mit
Halbtheilung bei Auflösung der Ehe.
Das Hauptinteresse der Darstellung falltauf
das im Vorstehenden charakterisirte gesetz-
liche eheliche Güterrecht. Die Untersuchungen
des Verfassers über das vertragsmässige
eheliche Güterrecht (S. 329 ff.) erstrecken sich
auf die Morgengabe, die Leibzucht , die Ursal
und das Sondergut der Frau, die Vergabungen
unter Ehegatten und die vertragsmässige Güter-
gemeinschaft, die Ausschliessung der Güterge-
meinschaft und die Einkindschaft. So verdienst-
voll die Untersuchungen des Verfassers auch an
dieser Stelle sind, so macht sich hier doch der
Uebelstand bemerkbar, dass unsere Kenntniss
des mittelalterlichen Sachen- und Obligationen-
rechts noch so äusserst unvollkommen ist. Der
Verfasser sieht sich häufig, so namentlich bei
der Lehre von der Ursal und von den Verga-
bungen unter Ehegatten, genöthigt, mit den all-
gemeinen Principien, insbesondere des Sachen-
rechts zu operiren. Seine Schlüsse z. 6. aus
dem Wesen der Auflassung (S. 358) oder aus
dem Rechtssatz des Sachsenspiegels von der
»Wiedererstattung« als Voraussetzung der
Schuldhaftung des Erben (S. 357) werden zwei-
felhaft bleiben, so lange wir weder über das
Eine noch über das Andere genügende Klarheit
haben. Das Bedürfniss nach einer eindringen-
den Bearbeitung des mittelalterlichen Vermögens-
rechts macht sich gerade bei solchen Unter-
suchungen, wie der Verfasser sie hat führen
müssen, doppelt lebendig fühlbar. Von den ein-
zelnen sicheren Resultaten des Verfassers ist be-
sonders hervorzuheben, dass der Rechtssatz
»Kinderzeugen bricht Ehestiftung« nicht etwa
Schröder, D. ehel. Güterrecht Norddeutsch!. 691
einen Gedanken des Notherbrechts, sondern viel-
mehr den Rechtssatz des ehelichen Güterrechts
ausspricht, dass die beerbte Ehe nur gesetzli-
ches, nicht vertragsmässiges Güterrecht kennt,
dass also die Geburt eines Kindes die Aufhebung
des vertragsmässigen Güterrechts beweist. Dieser
Rechtssatz gilt nicht allgemein, aber doch in der
Regel da, wo die beerbte Ehe eine Ehe mit
Gütergemeinschaft ist (S. 331. 386).
Die Arbeit des Verfassers setzt uns in den
Stand, zugleich eine Frage von allgemeiner
Tragweite zu beantworten. Die ältere Juris-
prudenz lehrte, dass die Gütergemeinschaft in
den Städten, also in Folge wirthschaftlicher
Gründe, ihren Anfang genommen hätte. Diese
Anschauung ist erst durch den epochemachen-
den Aufsatz Roth’s in ßekker und Muther’s
Jahrbuch UI, S. 313 ff. beseitigt worden, indem
Roth in Anschluss an Euler und Schwarz
zeigte, dass die Gütergemeinschaft bereits im
Mittelalter, und zwar innerhalb bestimmter
Stammesgebiete, entwickelt sei, dass die Güter-
gemeinschaft und Gütertrennung einen Stammes-,
also landrechtlichen Gegensatz, den Gegensatz
nämlich des fränkischen Rechts (mit dem
schwäbischen und bairischen Recht als seinen
Dependenzen) und des sächsischen Rechts be-
zeichne, dass also nicht wirtschaftliche Motive,
sondern nationale Rechtsüberzeugungen den
Grund für die Ausbildung der Gütergemeinschaft
darstellten. Später hat v. Martitz die wirt-
schaftlichen Anforderungen des städtischen Le-
bens wieder in den Vordergrund gerückt. Die
Arbeit Schroder’s lässt uns nun über diese
so wichtige Frage ein endgültiges Urteil ge-
winnen. Es ergiebt sich, dass die Grundlage
der Gegensätze des ehelichen Güterrechts
692 Gott. gel. Anz. 1674. Stück 22.
nickt in wirtschaftlichen Anforderungen zu
suchen sind. Die Abweichung der Städte öst-
lich von der Elbe von dem ostfälischen eheli-
, chen Güterrecht hat ihre Motive ausschliesslich
in der Nationalität der Einwanderer, welche
diese Städte gründeten. An der Hand des ehe-
lichen Güterrechts können wir sicherer als an
sonstigen Zeugnissen die Ströme der deutschen
Auswanderung verfolgen, welche Norddeutschland
germanisirten*). Um so sicherer ist der Schluss
von dem ehelichen Güterrecht auf die Nationa-
lität, da wir in Magdeburg und den mit vollem
Magdeburger Hecht bewidmeten Städten, trotz
reich entwickelten städtischen Lebens dennoch
keine Gütergemeinschaft, sondern nur eine Fort-
bildung (den städtischen Bedürfnissen entspre-
chend) des Gütertrennungssjstems vor uns
sehen. Die Gegensätze des deutschen ehelichen
Güterrechts haben danach (auch in den Städten)
1 a n d rechtliche Motive. Aber innerhalb 4er
Stammesrechte wird seit dem 12. Jahrhundert
der Gegensatz von Stadt und Land bedeutend.
Es ist oben schon betont worden, wie innerhalb
des westfälischen Rechts das. Stadtrecht dem
Landrecht gegenübertritt. Das Stadtrecht stellt
durchweg eine fortgeschrittene Form des Land-
rechts dar. Also: das Stadtrecht vermag wohl
dem Stammesrecht eine höhere Entwickelungs-
stufe zu geben, nicht aber, sich vom Stammes-
recht loszulösen. Der bedeutende Gedanke der
Zurückführung der deutschen Rechtsentwicke-
lung auf die Stammesgegensätz£, welchen Roth
für uns lebendig gemacht hat, gewinnt seine
*) Von diesem Gesichtspunkt ans hat Schröder
in der Hist. Zeitschr. a. a. 0. S. 289 ff. eine interessante
Zusammenstellung seiner Resultate gegeben.
Jahrb.d. hist. Ver.d. Kant. Glarus. 8. 9.10.H. 693
Ausführung and seinen Beweis durch die vor-
liegende Arbeit Schroder's. Auch auf dem
Gebiet des deutschen Familienrechts sind es
nicht Nützlichkeitserwägungen, nicht Interessen-
anforderungen, sondern die angeborenen ethi-
schen Ueberzeugungen der Nation, welche den
grossen Gang der Rechtsgeschichte bestimmt
haben. Die wirtschaftlichen Interessen haben
nur vermocht zu modificiren, nicht zu produ-
ciren.
Strassburg i. E. Sohm.
Jahrbuch des historischen Vereins
des Kantons Glarus. Achtes Heft.
120 S. (m. 4 chromolith. Tfln.) und pp. 561 —
600 der Urkundensammlung (mit Separatpagina-
tur). Neuntes Heft. 94 S. und pp. 601 —
640, sowie pp. I — XVI. Zehntes Heft. 100 8.
(m. 1 lith. Tfl.) und pp. 1—48 von Bd. H der
Urkundensammlung. — Zürich und Glarus,
Meyer und Zeller, 1872. 1873. 1874. Gross
Octav.
Drei weitere Hefte and von der in der
Ueber8chrift genannten Publication erschienen,
seitdem die fünfte bis siebente Lieferung hier
besprochen worden sind (Gott. gel. Anz. 1871.
Stück 3). Ganz besonders erwünscht ist, dass
der erste Band der »Urkundensammlung«
nunmehr zum Abschlüsse gelangte; mit dem
neuesten Hefte, das die ersten drei Bogen des
zweiten Bandes bringt,- gewinnt die vortreffliche
Bearbeitung des Schatzes urkundlicher Materia-
lien, oder vielmehr, genauer gesprochen, des ge-
44
694 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 2 2.
sammten Quellenstoffes zur glarnerischen Ge-
schichte, durch den Vereinspräsidenten Dr. J.
J. Blume r seine Fortsetzung.
Die zwei letzten Hefte von Bd. I. enthalten
von dieser Urkundensammlung zur Ge-
schichte des Kantons Glarus neben zwei
Nachträgen*) 21 Nummern aus den Jahren
1419 bis 1436/7. Im ersten Heft von Bd. H.
kommen nach sechs weiteren Ergänzungen zu
Bd. I. fünf Stücke zur Geschichte des Jahres
1436 und des Anfangs von 1437. Ein stets
reicher werdendes Material wird mit zunehmen-
der Eindringlichkeit und Beherrschung bearbei-
tet; dagegen tritt bisher ungedruckter Quellen-
stoff mehr zurück«
Es ist schon 1871 (1. c. p. 113) darauf hin-
gewiesen worden, dass der Abschluss des ersten
Bandes zeitlich bis an den Anfang des grossen
Bürgerkrieges in der Eidgenossenschaft hinfuh-
ren werde, welcher wegen der Frage über die
am 30. April 1436 durch den Tod des Grafen
Friedrich von Toggenburg erledigte Erbschaft
ausbrach. In den erläuternden Excursen zu
den einschlägigen Chronikstellen (aus dem so-
genannten Klingenberg und des Schwyzer Land-
schreibers Hanns Fründ Erzählung: über Fründ
vergl. G. g. A. 1872, pp. 392—395) und Ur-
kunden beginnt Blumer geradezu eine Geschichte
dieses Kampfes zu geben , an welchem Glarus,
neben Schwyz Hauptgegner Zürichs, einen so
grossen Antheil nahm. Ganz erschöpfend wer-
*) Der eine derselben, Nachtrag J) zu No. 111, ist
eine etwa ein halbes* Jahrhundert nach dem Ereignisse
geschriebene Erzählung der Näfelser Schlacht von 1388,
mit einer sonst nirgends gebrachten, allerdings märchen-
haft gestalteten Erwähnung des die Abwehr der Glar-
ner fördernden schlechten Aprilwetters am Schlachttage.
Jahrb.d. hist. Ver.d. Kant. Glarus. 8.9.10.H. 695
den die Verhältnisse derjenigen Theile der Erb-
schaft, welche für die Kriegführenden in Betracht
kamen, erörtert, der Landschaften Sargans und
Gaster aus der Gruppe der österreichischen
Pfandschaften des Grafen, und der Länder Utz-
nach und Toggenburg, welche eigene Gebiete
desselben gewesen waren. Zürich, you Bürger-
meister Stüssi, der seiner Abstammung nach
selbst ein Glarner war, geführt, schloss am 21.
December 1436 ein Burgrecht mit den Sargan-
serländem; aber in den gleichen Tagen nahmen
Schwyz und Glarus die Toggenburger, Utz-
nacher und Gasterer in ihr Landrecht auf und
trennten so Zürich von seinen neuen Verbünde-
ten, vereitelten den Versuch der Stadt, sich auf
der alten Handelsstrasse linthaufwärts gegen
Rätien und Italien dauernd festzusetzen, wäh-
rend dagegen die Zürcher an der Grafschaft
Utznach Eigenthum durch Schenkung der Gräfin-
wittwe, an der Herrschaft Windeck-Gaster ein
Lösungsrecht, durch königliche Ermächtigung
zu haben glaubten. Utznach wurde nun gegen
die Zürcher besetzt; Schwyz und Glarus schlos-
sen auch mit dem Grafen Heinrich vonWerden-
berg-Sargans, am 30. Januar 1437, ein Land-
recht, d. h. mit dem eigentlichen Erben des
Sarganserlandes, welcher durch die von Herzog
Friedrich von Oesterreich erlaubte Wiederlösung
des Pfandes als Herrn des Gebietes sich wie-
der ansah,- aber durch das Burgrecht seiner
Unterthanen mit Zürich schwer verletzt worden
war* — Nur drei Vierteljahre nach des Toggen-
burgers Tode war dergestalt schon überreich-
lich der Anlass zum Kriege vorhanden, dessen
allerdings noch bis 1440 verschobenen wirkli-
chen Ausbruch die Stücke des nächsten Heftes
bringen werden.
44*
696 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 22.
Bei den übrigen Nummern ist die Anmer-
kung zu dem Münzvertrag von 1425 (No. 175)
besonders hervorzuheben. Bemerkenswerth sind
weiter die Versuche der Glarner (1428, 1430:
No. 183, 187), an der Stelle des für sie un-
günstiger lautenden Bundes von 1352 einen
neuen besseren Bundesbrief gegenüber den vier
mit ihnen verbündeten Orten zu gewinnen: An-
strengungen zur Erreichung von Gleichberechti-
gung, die erst 1450 zum Ziele führten.
Unter den acht grösseren und kleineren Ab-
handlungen der drei vorliegenden Hefte he-
ben wir zunächst aus Heft VIII eine Fortsetzung
früherer Aufsätze hervor (vgl. G. g. A. 1868 p.
699, 1871 pp. 106 und 107): Der Kanton
Glarus unter der Helvetik, über den
Zeitraum vom Herbst 17 99 bis August
1802, von Dr. J. Heer. Eine ereignissreiche
Epoche ist hier behandelt: beginnend mit dem
gänzlichen Abzüge der Heere der Coalition und
der völligen Wiederherstellung der Einrichtun-
gen der helvetischen Republik auch für den
Kanton Linth, dann die in successiven Staats-
streichen sich äussernden Schwankungen des
Uebergewichtes bald der unitarischen, bald der
föderalistischen Parteirichtung im helvetischen
Staatskörper, bis zu dem Momente, wo durch
die glücklich durchgeführte Erhebung der Alt-
gesinnten in den früheren herrschenden Städten
und ehemaligen Landsgemeinde-Kantonen der
Sieg des Princips der Decentralisation entschie-
den zu sein schien: auch das als Kanton sich
wiederherstellende Glarus hielt am 20. August
1802 seine Landsgemeinde ab; — das unmittel-
bar darauf Folgende, Bonaparte's Intervention,
die vorübergehende Wiedereinsetzung der ver-
jagten Centralgewalt unter Frankreichs Schutz,
Jahrb. d. hist. Ver. d. Kant. Glarus. 8.9. 10. H. 697
•
die Berathang and Einführung der Ver mit Je-
lungsacte 1803, ist einer späteren Abhandlang
Vorbehalten. Seiner Aufgabe gemäss beschränkte
sich der Verfasser auf die Schilderung der Zu-
stände eines einzelnen Theiles der helvetischen
Republik; aber seine auf allein erreichbaren
Materiale aufgebaute Darstellung ist massgebend
für die Beurtheilung jener Jahre überhaupt, we-
nigstens was die ehemaligen schweizerischen De-
mokratien anbetrifft. Die Ungewissheit und
Unklarheit der öffentlichen Verhältnisse, die
mangelnde Abgrenzung der einzelnen Compe-
tenzen und die daraus immer neu entstehenden
Collisionen, die Unmöglichkeit bei dem völligen
Geldmangel in den Staatskassen auch nur im
kleinsten Umfange den gesteigerten Anforde-
rungen der auf modernsten Anschauungen be-
ruhenden Verfassungsartikel und Gesetze zu ge-
nügen: all das erklärt »die Sterilität, den allge-
meinen Fluch der helvetischen Periode«. Eine.
Menge löblichster Anstrengungen ohne jede-
Frucht; »eine Maschine, welche schlecht con-
struct, den grössten Theil der an ihr produ-
cirten Kraft für die Ueberwindung der durch
ihre eigenen Räder entstehenden Reibung nutz-
los verbraucht«; dazu eine Bevölkerung, die
gleichgültig oder geradezu abweisend, bei jeder
den bestehenden Verhältnissen ungünstigeren
Wendung widersetzlich sich zeigt, durch die
Kriegsleiden verarmt, ohne die Mittel die ganz
ungewohnte Steuerlast zu tragen. Um noch
einen einzelnen Punkt zu betonen, weisen wir
auf die genauen Angaben betreffend die merk-
würdige Kinderemigration hin, welche, wie aus
anderen schweizerischen Gebirgsgegenden, auch
aus Glarus nach vom Kriege weniger heimge-
suchten Theilen der Schweiz im Frühjahr 1800
698 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
stattfand: aus Glarus 16 Zage mit zusammen-
gerechnet etwa 1250 Kindern, wovon ungefähr
630 ans dem Hinterlande, den eigentlichen
Hochgebirgsthälem , von denen das östliche
dem Heere SuworofFs als letzte Rückzugslinie
gedient hatte«
Eine einzelne hervorragende Persönlichkeit
aus der Zeit der Staatsumwälzung führt der
Actuar des Vereines, Dr. Jur. Dinner, wel-
chem die stets sehr instrnctiven Protocolle im
Eingänge der Hefte verdankt werden, in Heft
X. vor, den General Niklaus Franz von
Bachmann An-der-Letz, dessen Bild in
Lithographie beigegeben ist. Bachmann war
ein geborener Näfelser, katholischer Confession.
1757 im 17. Jahre in französischen Kriegsdienst
eingetreten, dem schon sein Vater sich gewid-
met, war er bis zur Revolution zum Befehls-
haber eines Regimentes emporgerückt. Erst in
seine späteren Jahre fallt der Abschnitt seines
Lebens, welcher hier speciell behandelt ist:
Bachmann’s Betheiligung am Feldzuge
von 1815. Nachdem nämlich Bachmann 1799
bis zum Friedensschlüsse 1801 auf der Seite
Oesterreichs am Kriege gegen die französische
Republik sich betheiligt hatte und im Herbst
1802 an der Spitze der föderalistischen Insur-
rection gegen die helvetische Regierung gewesen
war, wurde er am 20. März 1815 von der Tag-
satzung ^ nach Napoleon’s Rückkehr von Elba als
Obergeneral der zur Vertheidigung der Nord-
westgrenze aufgeßtellten eidgenössischen Trup-
pen erwählt. Aus den Acten des eidgenössi-
schen Archives, besonders aus dem noch unge-
druckten Berichte Bachmanns an den Tag-
satzungspräsidenten über seine bis 26. Juli 1815
sich erstreckende Amtsführung ist diese »eid-
Jahrb.d.histVer.d. Kant. Glarus. 8.9. 10. H. 699
genössische Bewaffnung« geschildert: ein Unter-
nehmen, welches für die Schweiz infolge ihres
Anschlusses an die Alliirten am 20, Mai im
Falle eines Sieges Napoleon’s oder auch nur der
Wahl eines jurassischen oder elsässischen statt
des belgischen Kriegsschauplatzes hoch bedenk-
lich hätte werden können. Besonders eine
Massregel des Obergenerals, das Verlassen des
Neutralitätsgrundsatzes durch den Einmarsch
eines Theiles der schweizerischen Armee auf
französisches Gebiet, ein Schritt, dessen Motive
hier eingehend sich dargelegt finden, wird auch
heute noch einer sehr verschiedenen Beurthei-
lung — zumeist sicherlich einer ungünstigen —
unterworfen werden. Bachmann starb 1831 als
91jähriger Greis.
Von vorzüglichem Interesse sind zwei Ab-
handlungen Dr. Blumer’s zur Geschichte des
16. Jahrhunderts, in Heft IX die Reforma-
tion im Lande Glarus, 1. Abtheilung,
und in Heft X. Aegidius Tschudi als
Geschichtschreiber (vgl. G. g. A. 1871
pp. 109—112 über Blumers biographischen Auf-
satz über Tschudi, in Heft VII). —
Die erstgenannte Arbeit beruht auf hi-
storiographischem und archivalischem Materiale,
dasselbe zum ersten Male gründlich erschöpfend.
Voran steht beim ersteren natürlich die in
Bd. IX. des »Archives f. Schweiz. Geschichte«
1853 durch Blumer selbst edirte Chronik Va-
lentin Tschudi’s*), des Schülers und Nachfol-
*) Zu derselben brachte Bd. XVHI. des »Archives«
1873 einen kritischen Nachtrag von dem Bearbeiter der
Tagsatzungsabschiede der Reformationsepoche, Staats-
archivar Strickler in Zürich. Diese »chronologische Be-
richtigung« thut insbesondere dar, dass der ganze Text
700 Gott, gel. Anz. 1874. Stück 22.
gers Zwingli’ s im Pfarramte zu Glarus. In kla-
rer Weise wird dargethan, wie es kam, dass
das Land Glarus , »der Milchbruder der Ur-
kantone«, in der confessionellen Frage der über-
wiegenden Mehrheit nach sich von seinen Nach-
barständen trennte und von da bis zur Gegen-
wart (so wieder 1874 bei der Abstimmung über
die Revision der Bundesverfassung) in den mei-
sten Dingen so gründlich abweichende Bahnen
einschlug. Einerseits ist die Ursache dieser Er-
scheinung in der geographischen Lage zu er-
blicken, welche die Glarner in ähnlicher Art
nach Zürich als dem Verkehrsmittelpunkt hin-
weist, wie die Anwohner des Vierwaldstättersees
nach dem allerdings ungleich näher liegenden
Luzern sich gezogen fühlen, während zu den
unmittelbaren Nachbarn von Glarus, in Uri und
Schwyz, hohe Gebirge die Beziehungen erschwe-
ren. Andrerseits aber waren die von Zwingli
während seiner zehnjährigen seelsorgerlichen
Thätigkeit (1506 bis 1516) ausgegangenen An-
regungen noch nachdrücklich wirksam, so dass
eine unter seinem Namen ausgehende Lehre der
Mehrzahl der Glarner, vorzüglich dem gemeinen
Manne, schon von vorne herein empfohlen war:
um auch die Obrigkeit von Glarus zu gewin-
nen, widmete Zwingli 1523 dem Lande Gla-
rus seine Auslegung der Schlussreden der er-
sten Zürcher Disputation, d. h. nichts Ande-
res, als das bestimmt formulirte Programm sei-
ner ganzen Reformation. Allein erst nach län-
(Bd. IX. p. 340 unten — p. 843 Mitte) von 1525 in das
Jahr 1527 zu versetzen sei. Nach derselben ist auch in
diesem Aufsatze Blumer’s die pp. 16 und 17 erwähnte
Landsgemeinde in der Rufi beiMitlödi mit der zwei Jahre
später gehaltenen (pp. 20 und 21) zu identificiren.
Jahrb. d. hist. Ver. d. Kant. Glarus. 8. 9. 10. H. 701
gerem gefährlichem Schwanken zwischen den
fünf Orten auf der einen, Zürich auf der ande-
ren Seite kam es in Glarus dazu, dass der Ein-
fluss der »Oligarchen« geschwächt werden konnte i
mit diesem Namen werden die Altgesinnten im
Bathe durch den Glarner Reformator Fridolin
Brunner (Pfarrer in Mollis, hernach in Matt)
in Briefen an seinen Lehrer Zwingli benannt.
Erst Bern’s Uebertritt 1528 gab auch für Gla-
rus den Ausschlag zu Gunsten der Reformation,
allerdings nicht ohne den lebhaftesten Wider-
spruch der katholischen Minorität, zu der be-
sonders die angesehene Familie der Tschudi
zählte — Valentin hatte sich gleichfalls, schon
vor Anfang 1527, von Zwingli’s Sache getrennt
— ; Näfels, noch jetzt das einzige glarnerische
Dorf mit ganz überwiegend katholischer Bevöl-
kerung, war der Mittelpunkt für die Altgesinn-
ten. Nach langen Wirren gelang es im Januar
1529 die Anarchie zu beendigen und die Ab-
haltung von Gericht und Rath wieder zu er-
möglichen; die ordentliche Landsgemeinde ver-
ständigte sich dann auch über die Glaubensfrage
in der neuen Lehre günstigen Artikeln; durch
den Mund seines Landammans Aebli vermochte
das selbst zur Ruhe gelangte Land Glarus, frei-
lich gegen Zwingli’s Auffassung der politischen
Dinge, den inneren Krieg in der Eidgenossen-
schaft zu vertagen: der am 25. Juni 1529 be-
siegelte erste Cappeler Friede war hauptsäch-
lich Aebli’s Werk. — Die Ereignisse nach dem-
selben behält der Verfasser einer zweiten Ab-
theilung vor.
In der Abhandlung über Tschudi ist in
einem gedrängten Abrisse der Beweis gebracht,
»dass Tschudi«, wie am Schlüsse gesagt wird,
702 Gott. geL Anz. 1874. Stück 22.
»durch seine classische Bildung, seine umfas-
sende Gelehrsamkeit, seinen rastlosen Fleiss,
durch die geachtete Stellung, welche er im öf-
fentlichen Leben einnahm, durch seine zahlrei-
chen Verbindungen mit Staatsmännern, Gelehr-
ten und geistlichen Stiftern, durch seine warme
Vaterlandsliebe, durch die Kraft und Anmuth
seiner Schreibweise besonders geeignet war zum
Geschichtschreiber der Eidgenossenschaft und
dass er diese Lebensaufgabe, die er sich ge-
setzt, in einer Weise gelöst hat, die für die
Zeit, in welcher er lebte und wirkte, kaum et-
was zu wünschen übrig liess«. Blumer hat den
Geschichtschreiber aus dem Geiste seiner eige-
nen Zeit heraus, nicht einseitig vom Standpunkte
der ungleich höhere Anforderungen stellenden
historischen Wissenschaft der Gegenwart aus,
beurtheilt, und es ist ihm das sicherlich in vor-
trefflicher Weise gelungen. Nur auf zwei Stel-
len, wo er Tschudi doch wohl zu günstig auf-
gefasst hat, sei hingewiesen. Das von Tschudi
als »Liber Heremi« dargebotene Werk kann
nicht eine »Abschrift« des Originales (p. 85),
sondern muss eine in der vorliegenden Form
von Tschudi selbst herrührende Notizensamm-
lung sein, in welcher allerdings alte Bestand-
teile der Einsiedelnschen Aufzeichnungen ent-
halten sind, aber in der Tschudi’schen Compila-
tion mit von ihm stammenden oder wenigstens
nicht gleichzeitigen Zusätzen vermischt sich zei-
gen*). Und andererseits geht aus W. Vischer’s
Abschnitt über Tschudi’s Bearbeitung der Be-
freiungsgeschichte der Urschweiz , besonders aus
*) Vgl. Jahrb. f. d. Litt. d. Schweiz. Gesch. 1868,
p. 139 und Anz. f. schweizer. Geschichte, Bd. I. p. 225, n. 1.
Jahrb. d. bist. Vor. d. Kant. Glarus. 8. 9. 10. H. 703
den so instructive^ Vergleichungen der Urschrift
Tschudi’s mit seinen späteren Beisätzen, wie
uns scheint, hervor, dass Tschudi in der Art
und Weise, sich die historischen Facten zurecht
zu legen oder auch zurecht zu machen (so die
Tagesdaten für 1307), mitunter recht weit ging,
vielleicht etwas weiter, als man es sogar einem
Geschichtschreiber der humanistischen Epoche
zulassen darf. — Eine besonders hervorhebens-
werthe Bereicherung für die Kritik der Arbeit
Tschudi’s bietet der Abschnitt über seine chro-
nikalischen Quellen, woraus u. a. die überaus
starke Benutzung der zürcherischen und berne-
rischen Ghronikengruppen durch Tschudi deut-
licher hervorgeht.
Von mehr localem Interesse sind in Heft
VIH: Ueber Pannerherren und Panner-
tage*) des Landes Glarus (mit Abbildun-
gen der zehn noch vorhandenen Panner, vom
Näfelser Schlachtpanner 1388 bis zum übrigens
schon früher existirenden Panner gegen die
Franzosen 1798, wovon neun das Bild des Lan-
despatrons St. Fridolin zeigen : das schönste von
allen ist das 1512 von Papst Julius n. ge-
schenkte), von Civilrichter Schindler; ferner,
ebenfalls in Heft VIH: Kurze Zusammen-
stellung der glarnerischen Geschlech-
ter, von stud. Weber; in HeftlX: Aus dem
Tagebuch eines glarnerischen Statt-
halters vom Jahr 1725, von Dr. F. Schu-
ler. Der erste und dritte dieser Aufsätze sind
ebenso unterhaltend, als culturhistorisch auf-
schlussreich.
*) „Pannertag“ hiess die feierliche Uebergabe der
Landespanner an den neuerwählten Pannerherrn (der
letzte Pannertag fand 1828 statt; 1837 wurde das Pan-
nerherrenämt aufgehoben).
704 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
Der »etymologische Versuch« von Pfarrer
Heer in Mitlödi (in Heft IX): Keltische
Spuren in den Orts-, Berg- und Fluss-
namen des Kantons Glarus, entzieht sich
zu unserem Bedauern unserer Beurtheilung. Das
Ergebniss der übersichtlich angelegten fleissigen
Arbeit lautet, dass einst in dem Lande eine
Bevölkerung hauste, welche ganz dieselben Sta-
dien der Entwickelung, wie die benachbarte
rätische, durchmachte, dass keltisches Blut vor-
handen gewesen sei — ob je unvermischt, bleibe
dahingestellt, — dass aber sicherlich die die
rätische Bevölkerung kennzeichnende Vermischung
romanischen und keltischen Blutes die Oberhand
gewonnen habe; auch die rätische Bevölkerung
sei übrigens nach dem Resultat dieser Unter-
suchung der Ortsnamen ihrem Grundstöcke nach
keltischer Abstammung gewesen und die etrus-
kische Vaterschaft müsse auf sehr enge Gren-
zen beschränkt werden.
Möge der historische Verein des Kantons
Glarus unter seiner wohlbewährten Führung die
historische Litteratur mit weiteren ähnlichen
Jahresfrüchten bereichern !
Zürich. G. Meyer von Knonau.
Om Apotheksamorterings frägans uppkomst
och utveckling. Foredrag paa det Ute skan-
dinaviske Naturforskern^de i Kj0benhavn 1873
af Apotheker Beckman. Kj0benhavn. Trykt
ho8 J. H. Schultz. 1874. 31 pp. in Octav.
In Schweden ist im Laufe des vorigen Jah-
Beckman, Om Apothebsamorterings etc. 705
res eine Umgestaltung des gegenwärtig bestehen-
den Apothekerwesens durch den Erlass eines
Gesetzes in der Weise geregelt, dass die soge-
nannten verkäuflichen Apothekerprivilegien bis
zum Jahre 1920 aufgehoben werden, jedoch ge-
gen/eine Entschädigung der Inhaber aus einem
zu diesem Zwecke gebildeten Amortisationsfonds,
welcher von den Besitzern und von den neu
concessionirten Apothekern durch fortgesetzte
jährliche Beiträge zusammengebracht werden
soll. Von dem genannten Zeitpunkte an soll
nicht etwa, wie von einzelnen Seiten geglaubt
wird, freie Concurrenz eintreten, vielmehr soll
durch das ganze Königreich das jetzt nur für
etwa ein Drittel der schwedischen Apotheken
zu Becht bestehende Verfahren der persönlichen
Concessionen eingeführt werden, so dass also
der betreffende Apotheker sein Geschäft weder
verkaufen noch vererben darf. Dass der bisher
in Schweden bestehende Gegensatz zwischen
verkäuflichen und nicht verkäuflichen Apotheken
zwischen Privilegium und Concession für den
Inhaber ein unangemessener ist, liegt zu Tage;
ob aber durch das angewendete Verfahren ein
reeller Nutzen für das Publikum erwächst und
ob es nicht zweckmässiger gewesen wäre, auch
den nicht privilegirten Apotheken die Verkäuf-
lichkeit und Erblichkeit zuzugestehen, müssen
wir als eine offene Frage betrachten. Jeden«
falls wäre die von einzelnen Seiten geforderte
Abschaffung der Apothekerprivilegien ohne Ent-
schädigung eine schwere Ungerechtigkeit gegen
die gegenwärtigen Besitzer gewesen , welche
zum Theil beim Ankäufe der Apotheken das
Privilegium selbst zu einem theueren Preise
mitbezahlen mussten. Der fragliche Gesetzent«
706 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 22.
wurf, welcher, wie wir hervorheben müssen, aus
der Initiative der Corporation der Apotheker,
der sogenannten Apothekersocietät, hervorgegan-
gen ist, vermeidet diese Ungerechtigkeit aller-
dings und es darf deshalb nicht befremden,
wenn Männer von Einfluss und Autorität, wie
z. B. der Generaldirector Berlin, im schwedi-
schen Sanitätscollegium ihre persönlichen Be-
denken gegen die Zweckmässigkeit des Gesetzes
den dringenden Wünschen des Publikums und
den eigenen Vorschlägen der Apotheker unter-
ordneten und eine fernere Opposition gegen
das Gesetz unterliessen. Berlin hat in einer
in der vorliegenden kleinen Schrift mitgetheil-
ten Bemerkung im Protokolle des Sanitäts-
collegiums seine Bedenken in klarer und tref-
fender Weise ausgesprochen und damit den Be-
weis geliefert, dass auch in Schweden wie bei
uns diejenigen Aerzte, welchen kraft ihren be-
sonderen Berufes eine genaue Kenntniss der
pharmaceutischen Verhältnisse und Lebensver-
hältnisse zukommt, die zum Stichblatt der Par-
teien gewordene ßeformbedürftigkeit des Apo-
thekerwesens ein schwerer und das Gemeinwohl
schädigender Irrthum ist.
Die kleine Schrift, welche uns zu den ge-
machten Bemerkungen veranlasst, ist ein im
vergangenen Jahre auf der scandinavischen
Naturforscher Versammlung gehaltener V ortrag
des Apothekers Aug. Beckman zuStrengnäs,
welcher, obschon Besitzer einer privilegirten
Apotheke doch zu den Verehrern und Förde-
rern des gedachten Gesetzentwurfes gehört,
welcher zu der Zeit, wo der Vortrag gehalten
wurde, noch nicht die Königl. Sanction erhalten
hatte. Der Verfl giebt uns eine klare Darstel-
Beckman, Om Apotheksamorterings etc. 707
*
lung der verschiedenen Phasen, welche die
Apothekerreform in Schweden zu durchlaufen
hatte. Wir erfahren aus seiner Schrift zunächst,
wie sich die Verhältnisse der käuflichen Privi-
legien entwickelt haben, seit die erste Apotheke
unter Gustav dem Ersten, deren Existenz nur
durch Subsidien des Hofes gefristet werden
konnte, in Stockholm angelegt wurde. Der
Verfasser zeigt, dass einzelne Apothekenver-
leihungen in älterer Zeit Privilegien in wahrem
Sinne des Wortes sind, während bei andern
dieser Character zwar nicht aus der Stiftungs-
urkunde selbst, aber aus den äusseren Verhält-
nisssn hervorgeht. Wir erfahren weiter, wie die
Frage der Apothekerreform vorzugsweise durch
politische Stürme in Anregung gebracht wurde,
wie die Julirevolution dieselbe zuerst hervor-
brachte und wie die Revolution von 1848 das
leise Wehen zu einem kräftigen Sturm um-
wandelte, so dass die Apothekersocietät die
Frage in die Hand zu nehmen genöthigt war.
Beckman zeigt uns ferner, wie schwierig die
Regierung selbst die Angelegenheit anzugreifen
bewogen werden konnte, wie weit auseinander-
gehend die Anschauungen der Apothekersocietät
und des Sanitätscollegiums Decennien hindurch
waren, wie in Folge davon die Anträge der
ersteren jahrelang seitens der Regierung unbe-
antwortet blieben und wie erst auf wiederholte
Anträge die Sache zu dem jetzigen hoffentlich
gedeihlichen Abschlüsse geführt wurde.
Die letzten Seiten der anziehenden Schrift
sind mit einer Polemik gegen die wiederholt
aufgetretene Anschauung , dass der Verkauf der
Apothekerprivilegien ein Missbrauch sei, ausge-
füllt. Da diese Verhältnisse nur ein locales
710 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
menden Sprachen und Literaturen in einem un-
gewöhnlichen Masse kundig, unter den jetzt le-
benden Orientalisten vielleicht der ausgezeich-
netste. Auch hat er die Länder, deren Ge-
schichte im Zusammenhänge er zum ersten Mal
aus der Verborgenheit ans Tageslicht gezogen,
grossentheils selbst bereist und kennt daher den
Schauplatz der Begebenheiten besser als irgend
Einer. Seine Darstellung schildert durchweg
lebendig und anschaulich, wir glauben sagen zu
dürfen vorwiegend in biographischer Form die
hervorragendsten Persönlichkeiten dem Leser
vorführend, das Geschehene, seine Ausdrucks-
weise ist gewandt, nicht selten schwungreich,
wie denn fast von selbst ein solcher Stü dem
Darsteller von Ereignissen in die Feder fliesst,
die in einer an das Phantastische anstreifenden
Weise sich nur im Morgenlande und unter dem
Islam fanatisch ergebenen Völkerschaften zuge-
tragen .haben können. Auch mag dazu' der
Stil einiger Quellenschriften, die nicht in Prosa,
sondern in gebundener Rede geschrieben sind,
das Seine beigetragen haben. Sämmtliche Quel-
len, die schon gedruckten und die noch nicht
gedruckten, kritisch gesichtet und vorsichtig be-
nutzt zu haben ist ein weiteres Verdienst des
Verf., der sich ein nüchternes Urtheil bewahrt
und einen allem Uebertriebenen abgewandten
Sinn besitzt, wie man dergleichen mit Grund
von einem Historiker zu erwarten berechtigt ist.
Er ist sich der grossen Schwierigkeiten seiner
Aufgabe , die er ein »literarisches Wagestück«
nennt, vollbewusst; »er hat 6s gewagt mit den
ihm zu Gebot stehenden dürftigen Hilfsquellen
und noch dürftigerer Befähigung die so ziem-
lich schwere Aufgabe zu unternehmen und die
erste Geschichte Bochara’s zu schreiben«. Diese
Vambery, Geschichte Bochara’s. 711
spärlichen Hilfsquellen finden sich S. VI. bis S.
XV. genannt und kurz characterisirt ; schon be-
kannte nennt er 11 und unbekannte, von ihm
zum ersten Mal benutzte, 5. Ihrer verschiedenen
Natur wie ihrem verschiedenen literarischen
Werth ist es zuzuschreiben, dass das Neue, was
er bringt, sich vorzugsweise im zweiten Theil
seines Werkes, den Zeitraum von 1405 bis
1870 umfassend, findet, nämlich die Erwähnung
»einer Reihe von Fürsten, ja ganzer Dynastien,
von denen bis jetzt in Asien nur wenig, in Europa
aber noch kein Wort geschrieben wurde« (S.
XVI). Die bei der Vertheilung des mitunter
reichlichen , mitunter spärlichen Stoffes über
einzelne Abschnitte durchgeführte Gleichförmig-
keit dieser, von denen jeder (Gapitel benannt)
ein in sich abgeschlossenes Ganze bildet, ist
ebenfalls lobend anzuerkennen. Der Leser ge-
langt dadurch zu Ruhepunkten, die ihm zu Re-
flectionen über das Gelesene und zu leichterem
Festhalten desselben, sowie zum Zusammenfassen
der einzelnen Abschnitte zu einem übersichtli-
chen Ganzen Veranlassung geben. Allen ge-
lehrten, zum grossen Theil sprachlich-gelehrten
Apparat verlegt der Verf. in Anmerkungen un-
ter den Text, deren Inhalt von seiner gründli-
chen Forschung und seiner ausgebreiteten Ge-
lehrsamkeit ein unwiderlegliches Zeugniss giebt.
Das Buch bietet sich daher, ungeachtet seiner
hohen wissenschaftlichen Bedeutung, jedem Ge-
bildeten als anziehende Lectüre an, die zu gründ-
licher Würdigung »der neuesten politischen Be-
gebenheiten in dem uns dadurch nahe gerück-
ten Lande Innerasiens« befähigt. Welches die-
ses Land »jenseits des Oxus« sei, sucht die
Einleitung S. XIX u. ff. durch Feststellung der
Grenzen Transoxaniens nachzuweisen. Doch
45*
712 G8tt. gel. Anz. 1874. Stück 23.
ist es fast unmöglich feste Grenzen zu nennen,
weshalb der ‘Verf. (S. XXIV) für den »staatli-
chen Begriff von Transoxanien« Bochara oder
das Ghanat von Bochara substituirt, nämlich
»die Ufergegenden des Zerefschans sammt dem
südlich bis zum Oxus und dem nördlich bis zur
Steppe Kizil-Kum sich erstreckenden Striche Lan-
des«, (ibid.) »ein Tiefland, das von den östlichen
Gebirgsketten, die als einzelne Ausläufer des
Thien-Schan bis Samarkand sich erstrecken,
mit einer rasch zunehmenden Depression bis zur
Kaspisee sich hinneigt« (S. XXIII). Die Bewoh-
ner (Eingebornen) waren nach den Zeugnissen
der ersten arabischen Geographen edelmüthig,
offenherzig, gastfrei, heutzutage nur noch letz-
teres. Das Urtheil des bekanntlich in Central-
asien wohlbewanderten Verf. über die gegen-
wärtigen Bewohner klingt sehr hart: »Das heu-
tige Mittelasien ist der scheussliche Pfuhl aller
jener Laster, die in den mohammedanischen
Ländern Westasiens vereinzelt anzutreffen sind«
(S. XXXVIII). — Die älteste Geschichte Bocha-
ra’s ist wenig aufgeklärt. Nach des Verf. ohne
Zweifel glaubwürdigem Urtheil waren »die Län-
der jenseits des Oxus im grauen Alterthum der
Sitz eines Volkes von iranischer Abkunft« (S. 5).
Diese »culturfreundlichen Iranier« (S. 9) wur-
den aber durch die Turanier verdrängt, wann,
lässt sich nicht ermitteln, doch sind sie wahr-
scheinlich von Anfang an als Herrscher aufge-
treten. Der Nationalcultus der Iranier beruht
auf der Lehre Zoroasters, welche daher von
Transoxanien nach Osten vorgedrungen ist (S.
14); die Turanier haben den Buddhismus von
Thibet her importirt (S. 15). Mit den Erobe-
rungsversuchen der Araber, nachdem diese den
Islam angenommen , beginnt erst die Geschichte
Vambery, Geschichte Bochara's. 713
Bochara’s aus dem Dunkel ans Licht zu treten
im Jahre 666. Davon handelt Kap. II, S. 20—
37. Bochara hatte wiederholte Belagerungen
durch die Araber auszuhalten, bis Kuteibe bin
Muslim planmässig die Eroberung Transoxaniens,
zugleich die Ausbreitung des Islam unternahm.
Im Jahre 709 gelingt es ihm siegreich in Bo-
chara einzuziehen (S. 32), wo freilich die neue
Lehre anfangs heftig angefeindet, später am
eifrigsten gepflegt wurde (ibid.). Bochara
(sammt . Turkestan) war nun ein integrirender
Theil der Provinz Choiasan geworden und blieb
150 Jahre unter arabischer Verwaltung. »Diese
Periode bildet eine ununterbrochene Kette von
Wirren, inneren Parteikämpfen und Empörun-
gen, die entweder die Statthalter von Chorasan
selbst oder die ewig unruhigen Völkerelemente
dieser Länder hervorriefen« (Kap. Ill, S. 39).
Eine der bewegtesten Episoden solcher Kämpfe
ist »das Erscheinen des falschen Propheten Mo-
kanna, des sogenannten verschleierten Propheten
von Chorasan«, im J. 767, der einen fünfzehn-
jährigen Kampf hervorrief, dessen Nachwirkun-
gen noch in späteren Jahrhunderten verspürt
wurden (S. 46). Er hielt sich selber für Gott,
den Herrn aller Herren, und lebte verborgen in
einer Festung auf dem Berge Sam (?), von wo
aus er zumeist durch seine gewaltigen Stellver-
treter, die zugleich Generale waren, wirkte (S.
48 u. f.). Sein Anhang nahm so sehr zu, dass
der Islam dadurch bedroht wurde (S. 52), den-
noch unterlag er einer nachdrücklichen Belage-
rung und stürzte sich, als er alles verloren sah,
in einen drei Tage lang geheizten Ofen (S. 55).
Eine spätere Revolte brachte das Land unter
die Botmässigkeit der Samaniden (Kap. IV, S.
60 — 78), »welche sich um die Glanzperiode der
714 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
Oxusländer , besonders aber für die selbständige
Geschichte Bochara’s die grössten Verdienste er-
worben haben« (S. 59). Unter ihnen hat sich
vorzugsweise Ismail, der jüngere Bruder des
schwachen Nasr bin Ahmed, hervorgethan, der
nach mehreren glücklichen Kämpfen von diesem
seinem Bruder anfangs beargwöhnt, dann be-
kriegt wurde. Dennoch benahm sich Ismail ge-
gen Nasr, der sein Gefangener wurde, sehr edel-
müthig und folgte ihm in der Regierung (893).
Noch andere Kämpfe führte er siegreich zu
Ende, jederzeit wohlwollend und schonend ge-
gen die besiegten Feinde. »Bochara war damals
das Centrum des staatlichen Mittelasiens, denn
die Machtstimme des Herrschers am Zerefschan
drang im Norden bis zum Rande der grossen
Steppe, im Osten bis in die Thalgegenden des
Thien-Schan Gebirges, im Süden bis zum persi-
schen Golfe und dem Nordrande Indiens, und
schliesslich im Westen durch Irak bis auf einige
Tagereisen weit von der Residenz des Chalifen«
(S. 72 u. f.). Dazu kam, »dass während der
250 Jahre, die nach dem Einfall der Araber
verflossen waren, in Iran sowol als in Trans-
oxanien an die Stelle der alten persischen Cul-
tur eine mohammedanisch -persische Weltan-
schauung getreten war«. Auch wurde Bochara
durch Ismails Vorliebe für diese Stadt nicht nur
zur Residenz, sondern auch zum Mittelpunkt
jenes geistigen Strebens und Wirkens gemacht,
welches den östlichen Theil der Islamwelt zu
jener Zeit beseelte«. Die verborgenen »Funken
persischer Cultur«, die der Zerstörungswuth der
Araber entgangen waren, »wurden von den Sa-
maniden zur wohlthuenden Leuchte angefacht«.
Bochara, »der Sitz der Wissenschaften«, ver-
diente sich auch den Namen des »edlen und
Vambery, Geschichte Bochara’s. 715
frommen Bochara«, dessen es heute ganz un-
würdig ist (S. 74). Mit Emir Ismails Tode
(907) fing die Herrschaft der Samaniden an zu
sinken. Die Nachfolger Ismails waren »mit ge-
ringer Ausnahme nur hilflose Puppen in den
Händen ihrer Beamten«, daher »die Türken bald
als Tonangeber auftraten, ja zu einer Macht
heranreiften , welche nicht nur die Samaniden in
Transoxanien, sondern alles und überall über
den Haufen werfend , so vieler Throne in Asien
sich bemächtigten und bis auf heute noch allent-
halben den Namen »herrschende Rasse« führen«
(Kap. V, S. 79). Mit diesen wenigen Worten
characterisirt der Verf. kurz und treffend die
ganze Zukgnft des Landes. Innere Unruhen und
Zerwürfnisse zerrütteten die Macht der näch-
sten Nachfolger Ismails. Der benachbarte, in-
zwischen zu Ansehn gelangte Stamm der Uigu-
ren wagte unter Boghra Chan von Kaschpar her
einen Einfall, eroberte Samarkand und zwang
dadurch den Samanidenfürsten Ebul Easim zur
Flucht (S. 89). Dieser rettete jedoch später,
mit Hülfe der von Gazni bis zum Indus gebie-
tenden Gaznewiden sein Reich, das aber mit
der Ermordung des dritten Sohnes Ebul Kasim’s,
Namens Muntasir, des letzten Samaniden , im
J. 1004, einer wilden Anarchie anheimfiel. Die
Iranier, »die Träger der alten Cultur«, rangen
mit den kriegerischen Türken um die Oberherr-
schaft und letztere gingen siegreich aus dem
Kampf hervor (S. 94 u. f.). Dieses Ergebniss
wird in Kap. VI, S. 96 — 115 des Weiteren dar-
gestellt. Muntasir nämlich sucht Hülfe bei
Seldschuk, der nun, wie sich das öfter in der
Geschichte der Völker wiederholt, aus einem
Beschützer ein Besitzer des Landes seines
Schützlings wird. So etablirt sich die Dynastie
716 Gott, geh Anz. 1874. Stück 23«
der Seldschukkiden in Westasien , nachdem sie
in Belch und Nischabur die Stützpunkte gewon-
nen (1039), ihre Macht weiter gen Norde» aus-
zubreiten und zu befestigen (S. 103). Unter
drei Nachfolgern — ein seltener Fall in den
Annalen islamitischer Völker — steht die Herr-
schaft dieser Dynastie in voller Blüthe, doch
konnten sie im Osten nur wenig festen Fuss
gewinnen. »Bochara sammt dem westlichen
Theil des Chanats blieb stets unter seldschuki-
scher Suzeränität, der östliche Theil Transoxa-
niens wollte jedoch die Obrigkeit jenes Fürsten-
hauses, das in Persien den Mittelpunkt seiner
Macht hatte, nie anerkennen« (S. 111). Der
Uigurenfiirst Kurchan besiegte in einer mörde-
rischen Schlacht den Seldschuken- Sultan Sand-
schar (1141) und machte dadurch die Seld-
schuken-Herrschaft in Transoxanien für immer
zu nichte. Bochara und Samarkand werden
seitdem »der Erisapfel zweier habsüchtiger
Nachbarn, des Uiguren Kurchans im Osten und
der Ghahrezmer im Westen« (Kap. VH, S. 117).
Diese Kämpfe währen bis zum Jahre 1213; der
Ghahrezmer Sultan Mohammed geht siegreich
aus denselben hervor, büsst aber seine Grau-
samkeit gegen 490 Kaufleute, die er angeblich,
weil sie Spione sind, hinrichten lässt, mit dem
Verlust seiner Herrschaft an den Mongolen-
fürsten Dschengiz (S. 128). Derselbe unternahm
seinen Feldzug mit 600,000 Mann, die er in
vier Haufen theilte und mit denen er in drei
Jahren das ganze Transoxanien eroberte (Kap.
VIII, S. 134 — 144) und dieses Land »durch
Vernichtung seines mehrere Jahrhunderte alten
Culturvolkes in jenen Abgrund der Barbarei
stürzte, der den Ruhm seiner Vergangenheit
und auch seine Zukunft für immer verschlang«
Vambery,’ Geschichte Bochara’s. 717;
(S. 149). Die zweihundertjährige Herrschaft
der Dschengiziden, sagt der Verf., entfaltet vor
dem Auge des Lesers ein bluttriefendes grauen-
volles Bild, über welches wir jedoch nur spär-
liche Daten besitzen , die man sich meistens aus
den Annalen der Mongolen in China und Per-
sien zusammenlesen muss (Kap. IX, S. 154).
Den ersten Abschnitt dieses Zeitraums bis zu
Timur (1226 — 1363) behandelt Kap. IX (S. 154
— 176), die Herrschaft Tschapatai’s, des zweiten
Sohnes von Dschengiz, und seiner Nachfolger«
eine Zeit fast ununterbrochener Unruhen und
Streitigkeiten, während welcher nur allein die
Religionswissenschaft gedieh und die Träger
derselben zu grossem Einfluss gelangten, der
selbst noch heute, wo das Land schon mehrere
Jahrhunderte von muselmännischen Fürsten re-
giert wird, sich aufrecht erhalten bat (S. 175).
Mit Timurs Erscheinung tritt ein Umschwung
ein. Die Türken nehmen immer mehr über-
hand; ihre Stammesoberhäupter waren schon
frühe die Machtvollstrecker und Stellvertreter
der Mongolenfürsten in Transoxanien , ihre
Sprache war Hof- und Umgangssprache gewor-
den, nun werden sie auch die herrschende Par-
tei. Der Verf. beschreibt Timur’s Jugend und
Eroberungszüge in Kap. X (S. 177—211), seine
Persönlichkeit, seinen Hof und seine Residenz
in Kap. XI, S. 212 — 230. Nachdem er seine
Gegner besiegt, berief er 1369 einen Kuriltai
d. h. eine Ständeversammlung, durch welche er
zum Emir Transoxaniens ausgerufen wurde.
Obwohl Mohammedaner, hielt er doch das mon-
golische Gesetzbuch, den Jasau des Dschengiz,
aufrecht, welches besser als die Institutionen
des Koran für seine militärische Regierung
passte (S. 187 u.f.). Neben seiner anstrengenden.
718 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
Arbeit einer Reorganisation des durch eine mehr
als hundertjährige Arbeit zerrütteten Transoxa-
niens lässt Timur auch seiner Eroberungslust
freien Lauf (S. 190), und so kommt es, dass uns
der Verf. auf den folgenden Seiten von S. 190
an den vor keinem Hinderniss zurückschrecken-
den ruhmsüchtigen Weltenstürmer auf seinen
siegreichen Feldzügen schildert, auch über die
Grenzen Mittelasiens hinaus (bis S. 208). Auf
einem Zuge gegen das »himmlische Blumenreich
der Mitte« begriffen, ereilte ihn der Tod in
Otvar (1405 d. 17. Februar). Mit seinem Ab-
scheiden »haben die Länder jenseits des Oxus
und Jaxartes ihre Weltrolle beschlossen«; Nie-
mand nach ihm »vermochte in diesem kampf-
lustigen Ursitz der Menschheit die kriegerischen
Wogen in solchem Maasse aufzupeitschen wie
er«. Auch war »Persien nicht mehr wie früher
die günstige Vorhalle der asiatischen Welten-
stürmer« und »in Europa ging das stürmische
Mittelalter zu Ende und die aufgehende Sonne
einer besseren Zeit Hess sich sogar, wenn gleich
mittelbar, im fernen Osten verspüren« (S. 211).
Mit diesen allgemeinen Bemerkungen des Verf.
ist hinlänglich angedeutet, was der zweite
Band seines Werkes in Darstellung der nach-
folgenden Geschichte Bochara’s bis auf die
neueste Zeit bringt. Ein Herrschergeschlecht
folgt dem anderen und jedes spätere übertrifft
das vorangegangene nur an Schwäche, einzelne
hervorragende Persönlichkeiten ausgenommen,
wie z. B. Abdullah Chan (S. 76 u. ff.), die je-
doch Dauerndes kaum geschaffen haben. Sie
gleichen vielmehr Meteoren, die hellstrahlend
am Himmel erscheinen, aber schnell wieder ver-
schwinden. Daher legt der Verf. auch im zwei-
ten Bande, wie er es im ersten gethan hat, die-
Vambery, Geschichte Bochara’s. 719
sen Wechsel der Herrscherfamilien seiner Dar-
stellung zu Grunde und führt dem Leser zuerst
das Zeitalter der Timuriden (1405 — 1500) in
Kap. XII (S. 1—34) vor, darnach das der
Herrscherfamilie aus dem Stamme der Oezbegen
(Kap. XHI u. XIV oder S. 35—98), vom Jahre
1500 bis 1597. Das folgende Kap. XV (S. 99
125) schildert die Herrschaft der ersten
Aschtarchaniden v. 1597—1680): die dann noch
bis zum Jahr 1737 im Besitz der Macht blei-
ben (Kap. XVI S. 126—144). Ihnen folgt die
Dynastie der Mangiten von 1784 — 1826, über
deren Geschichte wir jedoch nur spärliche Nach-
richten besitzen, die der Verf. in Kap. XVH
S. 145—164 zusammengestellt hat. Der Regie-
rung des zwar mächtigen aber schändlichen
Emir Nasrullah wird Kap. XVHI (S. 165 — 195)
gewidmet, der letzten zehnjährigen Periode von
lg60—1870 bis zur Unterwerfung unter russi-
sche Oberherrschaft das Schlusskapitel XIX
(S. 196 — 226). Dieser kurzen Uebersicht der
Geschichte Transoxaniens in den letzten 470
Jahren unserer Zeitrechnung lassen wir noch zu
näherer Kenntnissnahme des vorliegenden Wer-
kes einiges Einzelne folgen. Es waren haupt-
sächlich innere Zerwürfnisse, die den Sturz der
'Nachkommen Timurs herbeiführten. Söhne em-
pörten sich wider ihren Vater und Brüder be-
fehdeten sich unter einander (vgl. z. B. S.
12 u. ff. die Handlungsweise des Abdüllatif, der
zum Mörder seines edlen Vaters Ulug Beg wird,
ohne damit das Ziel seinesStrebens erreicht zu
haben; und S. 21u.ff. die Kämpfe von drei
Söhnen Mahmuds, die wegen der Nachfolge mit
einander kriegten). Die Früchte dieses Haders
fielen wie gewöhnlich so auch hier einem fern-
stehenden Dritten in den Schooss. Ein Dschen-
720 Gott gel. Anz. 1874. Stadt 23.
gbride, Scheibani Mohammed Chan, »der am
Feuer des imheilrollen Bruderkampfes der Ti-
mnriden die Waffe der Eroberung geschmiedet
hatte«, machte 1499 durch Besitznahme des
Thrones in Samarkand der Herrschaft jener ein
Ende. Merkwürdig, dass unter ihnen MnTwh*
durch geistige Begabung und dem entsprechende
Thätigkeit »einen unbestreitbaren Ehrenplatz
in der Geschichte Asiens erworben haben« (S.
26), worüber wir unserm Verf. eine höchst an-
ziehende Schilderung verdanken, in welcher die
bedeutendsten Gelehrten, Dichter und Knnc+W
am Hofe der Timuriden aufgeführt werden.
Nicht weniger anziehend ist auch die auf S. 35
beginnende Beschreibung der aus unscheinbaren
Anfängen sich gestaltenden Macht der Oezbegen,
deren Fürst Ebulchair Chan schon zur Zeit der
Timuriden zu solchem Ansehen gelangte, dass
diese bei ihm Schutz und Hülfe suchten. Er
wurde aber noch von seinem Enkel, dem schon
genannten Schei'bani, übertroffen, der in wech-
selvollen, aber schliesslich siegreichen Kämpfen
um 1508 fast sämmtliche Länder, welche die
Nachkommen Timurs besassen, unter sein Scep-
ter brachte, dann deren Verwaltung als Beloh-
nung seinen besten Kriegern anvertrante (S. 56),
für sich aber nur die Stelle eines Oberbefehls-
habers der Armee behielt. Vielleicht wäre aus
ihm eine Timur ähnliche Erscheinung geworden,
wenn ihm nicht ein ebenso ehrgeiziger »Kämpe
auf dem Felde der Thaten« Schah Ismail ent-
gegengetreten wäre. Dieser aus dem Hause
des unter den Türken Irans hochgeehrten
Scheichs Sefi aus Erdebil — daher seine An-
hänger Sefiden heissen — vertrat die Lehre der
Schiiten, was Scheibani bewog, ihm zuerst »als
bekehrender Molla« gegenüberzutreten, um »mit
I
•Vambery, Geschichte Bocharafs. 721
dem Heiligenschimmer des Religionskriegers
grössere Begeisterung zu erwecken«. In dem
darnach entbrannten Kriege fand Scheibani, von
seinem Gegner überlistet, den Heldentod (1510).
Seinem außergewöhnlichen edlen Character wid- '
met der Verf. noch eine eingehende Darstellung
(S. 63 — 65). Seine Nachkommen ringen in
blutigen Kämpfen um den Besitz der Herr-
schaft, bis Obeidullah, ein Neffe Scheibanis (S.
67), den Thron von Transoxanien im Jahre 1533
bestieg (S. 74) und fortfuhr mit Kriegen die
Nachbarländer heimzusuchen (S. 74). Unter ihm
erwuchs der grösste der Scheibaniden Abdullah
Chan (geb. 1533), der nach mehreren siegreichen
Kämpfen mit der Eroberung Chorasans »den
Glanzpunkt seiner Grösse erreichte« (S. 85) und
durch seine umsichtige und weise 40jährige Re-
gierung »unter allen Schichten der Bevölkerung
einen schon längst nicht gesehenen Wohlstand ver-
breitete« (S. 90). Sein Name lebt noch heut-
zutage auf der Zunge jedes Bocharaers (S. 89).
Mit dem gewaltsamen Tode seines befähigten,
aber wilden, eigensinnigen und tyrannischen
Sohnes Abdulmumin, der schon gegen den Va-
ter revoltirt hatte und nur 6 Monate nach ihm
regierte (1597), endete die Dynastie der Scheiba-
niden (S. 92). Der Verf. führt alle diese un-
unterbrochenen Erschütterungen, denen sich die
Parteikämpfe nach Abdulmumin’s Ermordung
anschliessen, dem Leser in belebten Bildern vor
und lässt uns dann noch einen Blick in die
Culturzustände der letzten hundert Jahre thun
(S. 94 — 98), die in Vergleich mit dem, was
gleichzeitig in Persien und Indien vorging, nur
kleinlich und armselig erscheinen (S. 98). Wie-
derum kostet es viel Blut, ehe eine neue Dy-
nastie, die der Aschtarchaniden, deren Heimat
722 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 23.
Astrachan oder Aschtarchan am untern Lauf
der Wolga, den Thron von Transoxanien ge-
winnt (S. 100 u. ff.), und endlich Imamknli Chan
(seit 1611) »der einzige Fürst Transoxaniens
wird, der sein Land ohne Eroberungen und
Kriege glücklich, reich und blühend gemacht
hat« (S. 109). Er war mit Hülfe des berühmten
persischen Schah Abbas zurHerrschaft gelangt und
.verstand es während seiner 38jährigen Regie-
rung den Frieden zu erhalten. Im Jahr 1650
übergab er seinem Bruder Nezr Mehammed
Chan die Herrschaft und pilgerte nach Mekka;
er starb in Medina. Leider ist es nun wieder
mit dem Frieden aus. Von seinen Söhnen ver-
jagt findet Nezr Mehammed Chan ein fürstliches
Asyl bei Abbas H. in Isfahan, der ihn nach 3
Jahren wieder nach Belch zurückfuhrt. Er so-
wol, wie sein Nachfolger Abdulaziz (S. 119 n.fi.)
legten ihre Scepter nieder und starben auf ih-
rer Pilgerreise nach den heiligen Stätten Ara-
biens (S. 119 und S. 124). »Immer ärmlicher
und düsterer wird das Bild der politischen und
socialen Verhältnisse des kleinen Staates am
Oxus« , die Geschichte weiss nur noch von in-
neren Kriegen, Bruderkämpfen und kleinlichen
Streitigkeiten (S. 126). Diese führt uns Kap.
XVI vor Augen, welches mit dem Untergange
der Aschtarchaniden abschliesst; die letzten
Fürsten dieser Dynastie gerathen in Abhängig-
keit ihrer ihnen überlegenen Veziere. Mit dem
letzten Ebulfeiz Chan im J. 1737 »erlosch auch
jener letzte Schimmer des Glanzes der politi-
schen Grösse und socialen Bedeutung, mit wei-
chem das Ländchen am Oxus in der Vergangen-
heit 60 viele Völker des islamitischen Asiens
überstrahlte« (S. 141). Von hier an »wird der
Schleier, welcher die trostlosen Zustände Trans-
Vambery, Geschichte Bochara's. 723
oxaniens verhüllt, immer dichter«, die urkund*
liehen Quellen fliessen sehr sparsam. Orienta-
lische Handschriften über die neuere Geschichte
Bochara’8, welche sich nach Sir Henry Rawlin-
sons’ Benachrichtigung an den Verf. in der Bi-
bliothek des East-India Office in London befin-
den, aber nur dort zum Studium verstattet wer-
den, hofft der Verf. später noch einmal ein-
sehen zu können (S. 144, Anm. 2). Einstweilen
bleibt eine empfindliche Lücke in Bezug auf die
Zeit von 1737 bis 1784, wo EmirMaasum, »der
schlaue Frömmler«, im Juni »den Thron Trans-
oxaniens bestieg, um von demselben Thaten zu
insceniren, die mit dem geflickten Derwisch-
mantel, in den er sich einhüllte, keinesfalls in
Einklang standen« (S. 150). Achtzehn Jahre
lang dauerte seine an grausamen Kriegen reiche,
von seinen sunnitischen Anhängern jedoch noch
heute als gerecht und fromm gepriesene Regie-
rung (S. 161), deren »streng religiöser Character«
besonders gerühmt wird. Das Chanat von Bo-
chara erfreute sich während dessen »eines sel-
tenen Grades des Wohlstandes, und es lebt
nicht nur die seltene religiöse Strenge, sondern
auch die Milde und Gerechtigkeit seiner Ver-
waltung im Andenken seines Volkes« (S. 162).
Sein Sohn Emir Said, der 1803 dem Väter
nachfolgte, suchte diesen noch in Bigotterie und
Fanatismus zu übertreffen, ohne aber des Va-
ters Regierungskunst zu besitzen. Er verblieb
dreiundzwanzig Jahre in ruhigem Besitz seiner
Herrschaft, die aber noch mehr als die seines
Vaters das Volk demoralisirte. Leider war der
Character seines Sohnes und Nachfolgers, des
Emir Nasrullah, dem der Verf. das ganze XVIII.
Kapitel (S. 164 — 195) widmet, noch verworfe-
ner und lasterhafter, daher auch seine Regierung
724 Gott. gel. Anz. 1874.- Stück 23.
von 1826 bis 1860 mehr als je vorher das
Land herunterbrachte. Nur durch Bruderkrieg
und Brüdermord gelangte er in den Besitz des
Thrones, den er wie Keiner durch »himmel-
schreiende Gewalttaten« geschändet hat (S.
169 u. f.). Der Verf. schildert bis S. 180 seine
siegreichen orientalischen Feldzüge und kommt
dann auf seine Berührungen mit Russland und
Grossbritannien zu sprechen. »Der politische
Wetteifer dieser beiden christlich-europäischen
Staaten in Bochara nahm englischerseits 1832
durch die halbofficielle Reise Alexander Burnes
ihren Anfang« und fand zwei Jahre später durch
die Absendung des russischen Gesandten Demai-
son ihre Fortsetzung (S. 181). Wie wenig diese
Gesandtschaften ausrichteten, ja wie schändlich
der Emir von Bochara gegen sie verfuhr — den
Oberst Stoddard und den Capitain Gonolly liess
er bekanntlich 1842 hinrichten (S. 191) — ist be-
kannt genug. Sein Tod erfolgte 1860 und seit-
dem haben die Berührungen der Russen mit
Bochara, die nun von den Waffen begleitet wa-
ren, einen günstigeren Erfolg gehabt. Das
Schlusskapitel des zweiten Bandes S. 196 bis
226 schildert diese Vorgänge von 1860 bis 1870,
deren weitere Erwähnung an dieser Stelle, da
sie der neuesten Zeit angehören, nicht gerecht-
fertigt sein dürfte. Mit dem Fall von Samar-
kand am 14. Mai 1868 (S. 216 u.f.) »geht der
schönste Theil Transoxaniens aus den Händen
der özbegischen Dynastie Mangit in den Besitz
des Hauses Romanoff über«. Bis auf die Neu-
zeit noch eingehüllt in »den Zauberschleier der
Romantik« war der Fall dieser Stadt in Europa
überraschend, »und in der That ist mit ihrer
Erschliessung das interessanteste Phantasiege-
bilde des mittelalterlichen Asiens zu Grunde ge-
Vamböry, Geschichte Bochara’s. 725
gangen« (S. 217). Die letzte Entscheidungs-
schlacht wurde bei Serpul, »dort wo 879 Jahre
früher zwischen Scheibani, Mehemmed Chan und
Baber der Kampf- einer Dynastie gefochten
wurde«, geschlagen und endete mit der Unter-
werfung des Emir Mozaffar-ed-din, der sich zu
einem Friedensschluss und Bezahlung einer
Kriegscontribution bequemen musste (S. 219).
Russland wird seine Errungenschaften zu be-
haupten wissen, denn »russische Fusstapfen in
umgekehrter Richtung, nämlich von Süden nach
Norden gewandt, sind bis jetzt auf asiatischem
Boden nicht vorgefunden worden« (S. 224).
»Der Islam aber hat durch die russischen Er-
folge in Centralasien im Allgemeinen die gefähr-
lichste Wunde erhalten, welche das Kreuz in
dem mehr als tausendjährigen Kampfe ihm bis
jetzt beizubringen im Stande war«. Denn
»nicht Mekka, sondern Bochara war das geistige
Centrum des Islams« und von hier aus, wo nun
der Ungläubige herrscht, erhielten bis dahin
»eifrige Moslimen aus allen Theilen des. osma-
nischen Kaiserreichs die belebende Kraft ihres
Religionsfanatismus« (S. 225). — Die weiteren
Ereignisse in Mittelasien, wo die russische Herr»
Schaft immer mehr Boden gewinnt, hat der
Verf. in mehreren in der Zeitschrift »Unsere
Zeit« veröffentlichten Aufsätzen beschrieben, die
sich in der 1873 bei Brockhaus in Leipzig un-
ter dem Titel: Centralasien und die englisch-
russische Grenzfrage • erschienenen Schrift, mit
früheren Arbeiten des Verfassers zusammenge-
stellt, auf S. 217 bis zu Ende wieder abge-
druckt finden. Der letzte dieser Aufsätze aus
1873 beschreibt den russischen Feldzug gegen
Chiwa. Hr. Vamb6ry ist bekanntlich jenem
Vorschreiten Russlands abgeneigt, doch hat er
46
726 Gott. gel. Anz. 1874. Stück' 23/
neuerdings, wie Dr. G. Badde (Petermann’s
Geogr. Mittheilungen Ergänzungsheit Nr. 36 S.
4) sich drastisch ausdrückt, »sich neue Tinte
gekauft und schreibt in milderen Zügen für
England gegen Russland«. »Nur in Mittelasien,
diesem alten Neste des wilden Fanatismus, der
rauhen Habsucht und Tyrannei, ist, nach seinem
Urtheil, die Verpflanzung der russischen Bil-
dung an die Stelle der einheimischen einewohl-
thuende zu nennen« (Vgl. die eben erwähnte
Schrift: Centralasien und die russisch-englische
Grenzfrage S. 51). Von ganz entgegengesetztem
Standpunkt beurtheilt Friedrich von Hellwald in
seinem 1873 in Augsburg erschienenen Buch:
»Die Russen in Centralasien« das Vordringen
der Russen. Er sagt: »Russland erfüllt, daran
kann der Ethnograph nicht zweifeln, eine wahre
Culturmis8ion, indem es auf seine Weise den
orientalischen Völkern den europäischen Ideen-
kreis vermittelt; mit einem Worte: für Asien
ist Russland die Cultur, die Civilisation«. Wie
sehr aber dieser Vermittelung die Völkerschaf-
ten Centralasiens bedürftig sind, das beweist
die in dem vorliegenden Werk so anschaulich
dargestellte Geschichte von Transoxanien : im
Allgemeinen ein Schauergemälde der noch bis
auf die neueste Zeit herab in Innerasien unter
dem Bann des Islam herrschenden Uncultur.
Das dem zweiten Bande S. 227 — 248 angehängte
Sach- und Namenregister ist sorgsam gearbeitet
und leistet beim Nachschlagen nach Einzelnhei-
ten erwünschte Erleichterung. Die ausführlichen
Inhaltsangaben eines jeden Kapitels, nach Art
englischer Bücher ähnlichen Inhalts, gewähren
eine willkommene Uebersicht und lassen die
methodische Eintheilung des bearbeiteten histo-
rischen Materials erkennen. Nur möchte man
Vamb&y , Geschichte Bochara’s. 727
auch schon im Inhaltsverzeichniss die jedem
Kapitel im Text beigegebene Ueberschrift ab-
gedruckt sehen, und würde eine Karte von
Transoxanien, die leider fehlt, zur besseren und
leichteren Orientirung auf dem Schauplatz der
Begebenheiten wesentlich beigetragen haben.
Dass die berühmte Verlagshandlung das Werk
seinem Werth entsprechend mit schönem Papier
und gleichem, correctem Druck ausgestattet hat,
bedarf kaum der Bemerkung. Oeffentliche und
Priyatbibliotheken werden es zu ihren besten
Schätzen zählen. Möchte es dem gelehrten
Verf., der nicht aufhören wird fortgehend zu
sammeln und Neues zu erforschen , noch vergönnt
werden, nach Verlauf einiger Jahre eine zweite,
wo möglich dann noch erweiterte und verbes-
serte Auflage dieses seines Buches zu veran-
stalten 1
Altona. .. Dr. Biernatzki.
Die Pharmacopoea Germanica verglichen mit
den jüngsten Ausgaben der Pharmacopoea Bo-
rus8ica, dem Schacht’schen Supplement etc. Für
Apotheker, Aerzte, Medioinal-Beamte und Dro-
genhändler. Von B. Hirsch, Apotheker zu
Grünberg (Schlesien). Berlin 1873. Verlag der
Königl. Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei (R.
v. Decker). VIU und 547 pp. in gross Octav.
Von allen Büchern, welche das Erscheinen
der Pharmacopoea Germanica hervorgerufen hat,
ist das vorliegende, wenn auch nicht der Zeit
nach das erste und dem Umfange nach das
grösste, so doch seinem wissenschaftlichen In-
halte nach das bedeutendste und in Hinsicht
46*
728 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
auf die praktischen Tendenzen, die es verfolgt,
für den Apotheker, den ja zunächst die Publi-
cation einer neuen Pharmakopoe interessirt, das
brauchbarste und nützlichste. Oie. Ausgabe der
H i r 8 c h ’sehen Pharmakopöenvergleichung ist
durch den bekannten Setzerstrike des vorigen
Jahres nicht unerheblich verzögert worden, so
dass es in einzelnen, nicht immer mit derselben
Schnelligkeit auf einander folgenden Heften er-
scheinen musste. Diese Verspätung hat auf den
Werth des Buches einen schädlichen Einfluss
nicht ausgeübt; veraltet ist der Inhalt dadurch
keineswegs und das vollendete Werk liegt im-
mer noch früher vor uns als die grösseren Com-
mentare der Pharmacopoea Germanica, deren
Schlusshefte bis auf die heutige- Stunde noch
nicht erschienen sind.
Da die Pharmacopoea Germanica keine Rück-
sicht auf ihre unmittelbare Vorgängerin, als
welche die 7te Ausgabe der Preussischen Phar-
makopoe zu betrachten ist, nimmt und nicht,
wie es in andern Ländern üblich ist, in einem
besondern Abschnitte den Zuwachs neuer Me-
dicamente und die Veränderungen der Beschaf-
fenheit und Darstellung der beibehaltenen Arznei-
mittel vorführt, so war eine derartige Verglei-
chung gleich bei dem Erscheinen der Pharma-
kopoe ein dringendes Desiderium derjenigen
Pharmaceuten, welchen die Pharmacopoea Ger-
manica als -Richtschnur in Zukunft zu dienen
hat. Diese Aufgabe zu erfüllen, hat vor Allem
das vorliegende Buch von Hirsch die Absicht
und es war gewiss zweckmässig, dasselbe, wie
es Verfasser und Verleger ursprünglich wollten,
vor dem Erscheinen der Pharmakopoe selbst
auf den Markt zu bringen, was aber, wie be-
merkt, äussere Umstände verhinderten. Richtig
Hirsch , Die Pharmacopoea Germanica. 729
hat aber der Verfasser erkannt, dass er seine
Aufgabe im Interesse der Deutschen Pharma-
ceuten nur dann genügend löste, wenn er auch
auf die früheren Ausgaben der Pharmacopoea
Borussica seine Vergleichung ausdehnte, da die
neue Pharmacopoe bei der Auswahl der Medi-
caments einen ganz andern Standpunkt ein-
nimmt als ihre nächste Vorgängerin. Sie hat
nämlich bei der Aufnahme der offidnellen Arz-
neimittel nicht den Standpunkt der pharmako-
dynamischen Dignität, sondern dem Wunsche
sämmtücher deutscher Apotheker entsprechend
den des praktischen Gebrauches befolgt und ist
dadurch genöthigt gewesen, eine grosse Anzahl
über Bord geworfener Droguen und Präparate,
welche in den früheren Ausgaben der preussi-
schen Landespharmakopoe sich fanden, in ihre
wohl erworbenen Rechte wieder einzusetzen.
Dieselben waren zum grössten Theil, soweit sie
das Interdict der Editio septima nicht aus dem
Verkehre verbannte, in dem sogenannten Schacht-
schen Supplemente conservirt und daraus er-
klärt sich die Bezugnahme auf dieses nicht of-
ficielle Buch in dem Titel der vorliegenden
Schrift. Indem aber Hirsch auch verschiedene
ausserdeutsche Pharmakopoen mit zur Verglei-
chung heranzog, hat er seiner Arbeit, ohne der
praktischen Brauchbarkeit für Deutschlands
Apotheker etwas zu vergeben, eine breitere
wissenschaftliche Basis geschaffen und derselben
ein Interesse auch ausserhalb des deutschen
Vaterlandes dadurch gesichert. Der gegenwär-
tige hohe Standpunkt der deutschen Pharmacie
würde zwar an sich schon ein Interesse des
Auslandes für Bücher von der Art des vorlie-
genden zu Wege bringen können ; dasselbe wird
aber offenbar dadurch gesteigert, dass der
730 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
Verf. eine Kenntniss der neuesten Erscheinnngen
auf dem Gebiete der ausländischen Pharmako-
poen in hervorragender Weise darlegt.
Was die Bearbeitung selbst anlangt, so müs-
sen vir derselben in doppelter Weise unsere
Anerkennung zollen. Da unsere eigenen Stu-
dien neuerdings uns zu einer genauen Durch-
sicht der jetzt in Europa gültigen Landesphar-
makopöen führten, halten vir uns berechtigt, ein
in jeder Beziehung anerkennendes Urtheil über
die Genauigkeit der von Hirsch ausgeführten
Vergleichung abzugeben. Dasselbe gilt von der
Art der Bearbeitung. Ganz abgesehen von der
für ein solches Werk unumgänglich nothwendi-
gen knappen Fassung, die der Verf. in vorzüg-
licher Weise durchführt, so dass die in manchen
Commentaren zu Deutschen Pharmakopoen üb-
lichen und keinesvegs Jedermann ansprechen-
den Tiraden und Ausfälle gegen das Buch,
dem sie ihr Leben verdanken, uns hier nicht
entgegentreten, hates Hirsch vermocht, durch
Anvendung verschiedener Druckarten und Mar-
ginalien für eine ausserordentliche üebersicht-
lichkeit zu sorgen, velche für den Leser ent-
schieden von grosser Wichtigkeit ist. Wer
übrigens das Buch genau durchstudirt, vird un-
geachtet des eben hervorgehobenen Fehlens des
groben Geschützes und des Tirailleurfeuers, das
in den Commentaren zu Pharmacopoen Mode
geworden, in hohem Grade von dem Inhalte be-
friedigt sein. Es finden sich in den einzelnen
Artikeln viele treffliche Bemerkungen einge-
streut, stets sachgemäss und klar und den Na-
gel auf den Kopf treffend (vir ervähnen nur
beispielsweise die Bemerkungen zur Nomen-
clatur) und in der That liefert das Buch da-
durch eine berechtigte und bewusste Kritik der
Hirsch, Die Pbaraacopoea Germanica. 731
Pharmacopoea Germanica, deren mannigfache
Mängel dem gebildeten Pharmacenten nicht ent*
gehen können. Von besonderem Interesse sind
namentlich diejenigen Artikel, bei denen es sich,
um die Darstellung pharmaceutischer Präparate
handelt. Der Verf. hat sich dabei mit Recht
auf solche beschränkt, bei welchen auch jetzt
jetzt noch, wo ja die meisten Präparate fabrik-
massig dargestellt werden, die Bereitung im
Laboratorium der Apotheken geschieht oder mit
Vortheil geschehen kann. Gerade hier aber
finden wir eine reiche Auswahl von Winken
für den praktischen Pharmaceuten , welche der
langjährigen Erfahrung des gerade auf diesem
Gebiete vorwaltend thätigen Verf. entspringen.
Ebenso sind die Prüfungen der Arzneimittel in
einer Weise bearbeitet, wie man sie nach den
bisherigen Leistungen von Hirsch in der ge-
dachten Richtung zu erwarten berechtigt war.
Eine sehr nützliche Beigabe des vorliegen-
den Werks sind eine Reihe von Tabellen, welche
die durch den Text der Pharmacopoea Germanica
zerstreuten Bestimmungen über Einsammlung
und Aufbewahrung von Arzneimitteln, so wie
über die neuaufgenommenen veränderten oder
verworfenen, die jederzeit vorräthig zu halten-
den und die extempore zu bereitenden Medica-
mente, endlich auch die neugewählte Nomen*
clatur übersichtlich veranschaulichen. Weitere
Tabellen dienen zur Vergleichung der Maximal-
dosen, der specifischen Gewichte und des Alko-
holgehalts, auch sind die Atomgewichte der
häufiger vorkommenden Elemente tabellarisch
zusammengestellt. Sehr dankenswerth ist auch,
dass der Verf. ferner für die pharmazeutisch
wichtigen zusammengesetzten Verbindungen nach
den von der Pharmacopoea Germanica ange-
732 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
nommenen Atomgewichten eine Atomgewichts-
tabelle eigens berechnet und in dieselbe neben
der Formel die wichtigsten characteristischen
Angaben über Schmelzpunkt, Siedepunkt, Säfcti-
gungscapacität, spec. Gew. u. s. w., sowie über
den Procentgebalt der Verbindung an ihren
wichtigsten Bestandteilen aufgenommen bat.
Ein besonderes Begister ist dem Buche nicht
beigegeben, da die alphabetische Anordnung
des Stoffes und die Nomenclaturtabelle ein sol-
ches überflüssig macht.
In einem Nachtrage giebt Hirsch auch
übersichtlich die neuerdings vom Bundesrath be-
schlossenen Veränderungen der Pharmacopoea
Germanica, welche namentlich die Tabelle der
Maximaldosen und die Aufbewahrung der Medi-
caments betreffen. Den Schluss des Buches
bildet eine alphabetische Zusammenstellung der-
jenigen Artikel der Pharmacopoea Germanica,
welche der Verfasser ihres ifinern Gehaltes we-
gen einer Revision bedürftig erachtet. Die Zahl
derselben ist nicht gering nnd doch ist der
Verf. vorwaltend vom chemischen Standpunkte
aus Irrthümer aufzuflnden bestrebt gewesen,
während er die pharm akognostischen Artikel und
im Wesentlichen auch die Mischungen einer
eigentlichen Kritik nicht unterzogen hat. Die
von ihm gemachten Ausstellungen dürfen bei
einer in einigen Jahren zu erwartenden neuen
Ausgabe der Pharmakopoe, wenn nicht etwa
schon früher der berechtigte Wunsch nach einer
internationalen Pharmakopoe officielle Aner-
kennung gefunden, nicht übersehen werden.
Theod. Husemann.
Grein, Aisfelder Passionsspiel m. Worterb. 733
Alsfelder Passionsspiel mit Wörter«
buch. Heraasgegeben von G. W. M. Grein.
Cassel 1874. Verlag von Th. Kay. — 423 SS.
Die vollständige Herausgabe dieses bisher
nur in Proben bekannten Passions-Osterspieles
rechtfertigt sich sowohl bez. des Inhalts als ans
sprachlichen Gründen ; das sorgfältig gearbeitete,
wenn aach von einigen Versehen begleitete Wör-
terbuch lasst den Wortschatz dieses in hessi-
schem Dialect abgefassten Stückes bequem und
deutlich übersehen. — Das Stück, jetzt (abge-
sehen von der Spielordnung) ca. 8100 Verse
zahlend und zu dreitägiger Aufführung bestimmt,
war früher in kürzerer Form vorhanden und
wurde damals sicher auch in anderer Weise
agirt. Die Prologe zu den einzelnen Tagewer-
ken oder Jornadas — wie das spanische Drama
bekanntlich seit alter Zeit die Acte eines Stü-
ckes bezeichnet — verrathen schon durch sich
selbst eine kleine Verschiebung der ursprüngli-
chen Oekonomie des Ganzen , ob die von Herrn
Grein Einl. S. XVIII versuchte Erklärung völ-
lig zu trifft, lassen wir hier dahingestellt.
Aus den früher noch nicht bekannten Par-
thien heben wir hier nur zwei hervor, welche
geeignet sind, den diesen späteren Spielen*)
eigentümlichen Hang zu realistischer Darstel-
lung zu belegen.
An die Scene mit der Samariterin schliesst
sich die Heilung des Blinden (V. 1413 fg.) an.
Während der neuere Leser das Fehlen des
Augenlichtes an und für sich als eines der
grössten Uebel zu betrachten pflegt, ist es in
*) Die Hs. des Aisfelder Spieles gehört in den An-
fang des XVL Jahrh.
1
734 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
dem alten Spiel vielmehr die dürftige Lage des
von anderer Mitleid Lebenden, die den Haupt-
grund seiner Klagen bildet. Wenn auch die
unmittelbare Verbindung seines Gesuchs an den
Heiland , ihm das Augenlicht wiederzugeben mit
dem Seufzer nach einem Almosen-pfennig (V.
1460) etwas scurril erscheint, so ist im Gan-
zen doch die Rolle dieses Blinden, der mitlei-
digen Seelen nicht nur hundert Paternoster
täglich für sie zu beten verspricht, sondern sie
auch an dem (himmlischen) Lohn seiner tägli-
chen Wallfahrten*) will theilnehmen lassen —
sowie die seines ihn führenden G ©hülfen, den
nach langem Fasten nun der Kuchenzahn**)
einmal wieder juckt, nicht unglücklich in jenem
naiven Humor gehalten, der die Wirkung der
erhabneren Scenen nicht beeinträchtigt, ja sie
vielleicht erhöhen möchte. Unmittelbar vor je-
ner harmlosen Bettelei des Blinden und seines
noch mehr vom Hunger geplagten Führers steht
im Spiel nämlich der Ausspruch des Erlösers
an seine mit Mundvorrath nahende Jünger, dass
Er Seine Speise bereits genossen habe und wie
es Joh. 4, 34 weiter heisst: »Meine Speise ist
die, dass ich thue den Willen dess, der mich
gesandt hat«.
Von ganz anderer Art ist die Scene, in der
Judas sich den Lohn für seinen Verrath voraus-
bezahlen lässt, V. 3150 fg. — Wer den Ober-
Ammergauer Aufführungen beigewohnt hat, wird
sich des Eindrucks erinnern, den das klappernde
Aufzählen der einzelnen Silberlinge und die
sorgliche Prüfung der Stücke macht. In den
*) Die Bettelfahrten werden hier so bezeichnet.
**) Es sind die flachen Oster-kuchen oder Fladen ge«
meint. Das Stück kam bald nach Ostern zur Aufluhmng.
Grein, Aisfelder Passionsspiel m. Wörterb. 735
älteren Spielen ist denn auch das Mäkeln des
Judas an vermeintlich schlechterer Münze bei
dieser Gelegenheit durchaus üblich, doch er-
innere ich mich nicht, eine so bitter-treffende
Antwort auf die Klage des Judas über einen
schlechten Denar, wie hier V. 3225 gelesen zu
haben: «Nun, Judas, einen Strick bekämst Du
schon dafür, wenn Du Dich etwa einmal hän-
gen wolltest». — Wirkliche Rohheiten finden
sich nur in dem von späterer Hand eingefügten
Episodion vom Marktschreier, Y. 7483 fg., der
darin angeschlagene Ton unterscheidet sich
merklich von dem Yortrag der Haupthandlung,
und auch in der wol gleichfalls zu den nicht
ältesten Theilen gehörigen Streitscene der Ec-
clesia und Synagoga (Y. 4480 fg.) sind die wie-
derholten Schimpfworte im Munde der Ersteren
eine Würze, die man gleichfalls entbehren
könnte. Freilich sind in der etwas groben,
mitteldeutschen Mundart des Stückes, über die
der Hrgb. S. XIX fg. schätzbare Zusammenstel-
lungen giebt, einige Kraftausdrücke weniger
störend, als sie es etwa in der gebildeten mhd.
Sprache sein würden. Wir bemerken hier hin-
sichtlich des Dialektischen noch, dass für den
Uebergang eines Dentals nach n in g, gk (vgl.
S. XXIII) die in märkischem Niederdeutsch ge-
schriebenen Hirtenscenen der sog. kurzen Co-
mödie von der Geburt des Herrn Christi*) auch
manche Belege bieten, z. B. wungmseltzam S.
11, lounger S. 17, JcingeJcen S. 18, 19, 20, 26,
27 ; ringelcm S. 27 ; Mngelein S. 28. Dieser
Uebergang scheint auch in andern Gegenden
sich zu finden, so verzeichnet Martin Schultze
in seinem kürzlich erschienenen **) Idiotikon der
*) Neu heraasgegeben von Friedländer, Berlin 1839.
**) Nordhausen hei F. Forstemann 1874.
786 Gott. gel. Anz. 1874: Stück 23.
Nord-Thüringischen Mundart elonge = nhd.
elend, Imge = nhd. linde (S. 40 s. v. mierichen).
Die Assimilirung eines Dentals an vorhergehen-
des 1 (Grein S. XXIII) belegt M. Schultze S. 40
durch melle == melden; alle (olle), allen (ollen)
= alden, alten, olden u. s. w. findet sich wol
im ganzen nd. Sprachgebiet, dieselbe Erschei-
nung zeigt sich in andern Beispielen auch im
Altnordischen und Schwedischen. — Einfügung
eines t nach Liquiden, namentlich n ist auch
im Hochdeutschen weitverbreitet, nach p, b
findet sie sich ebenso (wie im Alsfelder Spiel)
im Worte aptgrund (nhd. abgrund), z. B. in
Hahns Ausgabe des jüngeren Titurel Str. 4, 4;
11, 1 — ebendort Str. 22, 1 steht naMgdbure
für nächgebüre. Der alte Druck des Tit. zeigt
diese Eigenheiten nicht. — Belege für aptgot bei
Lexer I, 15.
Was den Text und das Wörterbuch betrifft,
so sind einige, meist begründete Ansstellungen
schon von anderer Seite gemacht worden*)
denen wir hier noch eine kleine Nachlese hinzu-
fügen, dabei auch schwierigere Stellen ins Auge
fassend, wo die Aenderung nicht so auf der
Hand liegt. V. 258 ist nicht ganz klar, und
die Besprechung im Wb. nicht ausreichend.
V. 329 wäre : und dick ... wissen lan zu ver-
muthen. V. 411 wäre statt des hier fast zu
allgemeinen bösen**) etwa losen zu schreiben.
— V. 736 ist mit wol für nit verdruckt —
*) Vgl. Jenaer Lit. Zeit. 1874, Art 204. Wol mit
Recht ist daselbst die Aenderung von V. 3640 gerügt,
der Hrgb. hat sich wahrscheinlich durch das in jener
Rede so häufige vorfluchen mit dem Dat. irreführen
lassen. — Aber V. 2556 lese ich mit dem Hrgb. zeren,
da der ähnliche Ausdruck Y. 2603 dafür spricht.
**) Die Y. 410, 411 genannten Sünden sind als Bei-
spiele der Y. 408 genannten bosheit zu betrachten.
Grein, Alsfelder Passionsspiel m. Worterb. 737
In der Spielordnnng vor V. 923 1. Herodiadi.
— Nach V. 1211 1. hoc dicto. V. 1264 ist das
von zu streichen. — Die W. 1363 ff. sind nicht
ganz klar. V. 1386 1. nit für mit. — V. 1389
möchte ich schreiben : es sij nach min eren and
erklären »es sei meine Aerndte nahe«. Dann
würde der fg. Vers sich passend anschliessen.
— V. 1400 war wol geseit zu schreiben. — •
V. 1529 könnte dem Sinne nach nur vorschult,
nicht undvorsckult erwartet werden. — V. 1577
hätte wol einer Erklärung bedurft, liegt hier
eine ironische Anspielung auf die Reichsacht,
die sog. Vogelfreiheit zu Grunde?
Merkwürdig ist V. 2059 die scheinbare
Identificirung Christi mit dem heil. Geiste, vgL
über ähnliche Wendungen im Heliand Zeitschr.
für D. Philol. IV, 69. — Bedenklich ist mir
V. 2070 die Schreibung der habe nebst der Er-
klärung: der Kranke (im Wb. s. v. haf.) Ab-
gesehen davon, dass das got. hamfs und seine
Verwandten nicht den Begriff: krank, schwach
im Allgemeinen, sondern einen bestimmten,
chronischen Zustand bezeichnen, bei dem eine
Todesgefahr eben nicht obwaltet , liegt auch die
Aenderung hnabe den Zeichen nach sehr nahe.
— V. 2110 war geben vielleicht das Reimwort
auf men. V. 2341 gäbe vomichtet den besseren
Reim; alle Freiheiten, die sich jetzt im Texte
finden, sind schwerlich von Alters her. Nach
V. 2400 war das zweimalige Moisi als Gen. zu
ändern. V. 2420 soll wol Dasselbe sagen, wie
der fg. V., aber die Fassung wird kaum völlig
correkt sein. V. 2582 ist das Pronomen en
(enm) nicht wol zu entbehren. — Nach V. 2663
lies flageUo. V. 2751 1. han ich. Nach V. 2760
ad pedes etc. Ist V. 2870 vollständig? V. 2946
halte ich wasseer nicht für dasSubst., das erst
738 Gött. gel* Adz. 1874. Stuck 23.
V. 2948 richtig steht, sondern erkläre wassz
der = mhd. swaz da. (vgl. uffer = uff der V.
1110). — Die Erklärung des Part, gezuckt (V.
2968) im Wb. halte ich für irrig, dem Sinne
nach passt nur gezuckt als Part, von gezünden
anzusehen, was durch die Nebenformen dieses
Verbums gezwihen und gezüngen (so mit ei für
. i bei Agricola, vgl. mhd. Wb. UI, 958, wo
auch das Part, gezwtt sich findet) erleichtert
wird*). V. 3167 ist ding (ähnlich dem mhd.
starken neutr. gedinge) die gerichtliche Forde-
rung, der formelle Handel, der fg. Vers zeigt
dies deutlich. V. 3419 ist kimmelfart nicht was
wir jetzt so nennen, es ist der Weg zum Him-
mel, zum ewigen Leben, vgl. VV. 4495 u. 4502.
— V. 3431 ist sim wol verdruckt. — Y. 3489
ist las = lehrte, .wie auch im mhd. mitunter,
vgl. Lexer S. 1889. — Nicht unbedenklich sind
auch VV. 3710 und 3999, sowie 4073, 4777
und 4358. — Vor 4480 1. quot für quod. —
Ohne hier gerade alle zweifelhaften Stellen er-
örtern zu wollen, bemerke ich noch, dass die
Erklärung von vorbacken V. 5563 im Wb.
schwerlich genügt. Das im mhd. Wb. Ila 458
zweifelnd aufgestellte schwache Masc. pagge
(Pfahl) ist wol als verwandte Bildung anzu-
sehen. — In der Spielordnung nach V. 5807
ist parum soviel als parvum sc. temporis spa-
tium, ebenso nach V. 6151, nach V. 6159 steht
in demselben Sinne modicum. — V. 5959 ist
bbiden schwerlich Infinitiv, es müsste eine Par-
ticipialform hergestellt werden. — V. 6059 ist
we zu streichen. — V. 6340 würde ich lieber
*) Das von Pfeiffer im Glossar zum Jeroschin beson-
ders hingestellte Verb, mien ist wol kein anderes als
das bekannte.
Grein, Aisfelder Passionsspiel m. Worterb. 739
voren (= mhd. vüeren) als voden lesen. Nach
V. 7410 1. congrediuntur. — V. 7447 war das
Komma hinter use za setzen. —
Bei der etwas nachlässigen Schreibweise des
Stackes ist es wol möglich, dass aach da Feh-
ler stecken, wo sie minder handgreiflich sind.
Die VV. 460 — 63 haben, dem Reim nach zn
schliessen, ursprünglich diese Folge gehabt:
Hanget an, hanget an,
Mir wolln in die helle gan,
Mir (Hs. Ir) teofel alle gemeine
Und traren and weinen!
/
Will man aber nicht ändern, so ist wol ein
kreuzweiser Reim anzunehmen. — Nach V. 490
ist wol complete (sc. versu) oder -ta (sc. anti-
phona) zu lesen* — Y. 2744 ist dm nicht als
das nach dem Comp, stehende Vergleichungs-
wort aufzufassen, sondern zu construiren: am
nach men hon ich tusent stunt = noch tausend
mal mehr aber habe ich u. s. w.*) — V. 3121
ist schwerlich ganz correkt überliefert, aber die
im Wb. gegebene Erklärung führt wol auf Ab-
wege. In brechen vermuthe ich eine Nebenform
des mhd. brefoten (lärmen, schreien; Lexer S.
347) und groissz gen der brechen wäre dann:
grossthun, prahlen in Deinen Augen — Y. 3554
giebt, wie er dasteht, allenfalls einen Sinn, aber
es liegt nahe ein Missverständnis des Schrei-
bers anzunehmen, zumal auch die Verse 3551 —
53 gelitten zu haben scheinen. Ich glaube, dass
in dorsten das mhd. gedürsten (Infin. und neutr.
Subst.) = audere zu suchen ist, das ebenso
im Reim auf vwsten bei Leser belegt ist.
Allerdings wäre dann die Construction noch
etwas zu ändern.
*) V. 2797 ist sündenfrucht vielleicht Sündenlast.
740 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 23.
Jemehr sieh — zunächst ans Interesse an
den sprachlichen Erscheinungen — die For-
schung auch solcher Zeiten bemächtigen wird,
die auf den ersten Blick nicht gerade als die
«Blütheperioden» unserer Literatur sich dar-
stellen, um so mehr wird sich eine Auffassung
von selbst berichtigen müssen, die nur in we-
nigen Decennien (etwa von 1190 — 1225) den
wirklichen Höhepunkt unserer alten Literatur,
vorher und nachher, aber nur unreife Ansätze
oder rohen Verfall erblicken möchte. Der un-
serer höfischen Dichtung des XIII. Jahrh. voran-
gehenden Periode wendet sich die Aufmerksam-
keit neuerdings sogar mit Vorliebe zu, aber
auch den das MA. abschliessenden Zeiten ge-
bührt jene regere Beachtung, wie sie sich jetzt
allerdings auch zeigt, aber vielleicht wol thäte
sich weniger in dem Hervorziehen zerstreuter
Einzelheiten zu gefallen als vielmehr an die
Würdigung der bedeutenderen Documents' mit
frischer Kraft heranzutreten. Auch Herr Grein
wird durch seine, das Alsfelder Spiel uns les-
bar vorlegende, Edition dem Vorurtheil, mit dem
Hup.« in germanistischen Kreisen wol noch hie
Und da diesen späteren Zeiten begegnet, hoffent-
lich nicht ohne Erfolg entgegengetreten sein, da
Fehler und Vorzüge der poetischen Behandlung
hier fast gleichmässig auf der Hand liegen und
der anspruchslose Styl zu billigem Urtheil auf-
fordert. E. Wilken.
741
Crftttingisclie
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 24. 17. Juni 1874.
Hebräische Sprachlehre für Anfänger. Von
Heinrich Ewald. Vierte Ausgabe. Mit
den Grund zügen desBiblisch-Aramäi-
sehen. Göttingen, in der Dieterichschen Buch-
handlung, 1874. — 240 S. in 8.
Bekanntlich ist diese Bearbeitung der He-
bräischen Sprachwissenschaft der Zahl nach die
dritte, dem Inhalte nach die kürzeste von den
drei sehr verschiedenen welche der Unterz, ver-
öffentlichte. Die beiden ersten wurden schon
früh zu dem Ausführlichen Lehrbuche
vereinigt, dessen achte Ausgabe 1870 erschien.
Wie die Aufschrift andeutet, ist dagegen dieser
kurze Abriss für Anfänger bestimmt, nicht
so als sei es nützlich den Anfängern eine in
ihren Grundzügen und ihrer inneren Folgerich-
tigkeit andere Sprachlehre vorzulegen, sondern
nur in dem Sinne dass es nützlich sei den An-
fängern alles das für sie zunächst nothwendige
übersichtlich mitzutheilen. Das ist der Zweck
dieses kürzern Lehrbuches von Anfang an ge-
wesen, und derselbe ist es auch in dieser neuen
47
742 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 24.
Auflage noch. Weder der wissenschaftliche
Grund noch die Anlage und Reihenfolge der
einzelnen Lehrstücke des Werkes darf hier ver-
schieden sein: sonst wäre der Inhalt selbst in
der Lehre verschieden. Nur das Mass dessen
was als Inhalt in dem einen oder anderen
Werke gegeben werden soll, kann nach dem
Zwecke jedes wechseln: man wird aber leicht
begreifen dass die Bestimmung auch dieses
Masses da am besten gegeben wird wo der In-
halt der Wissenschaft schon am sichersten er-
kannt ist.
Ein anderer Nutzen welchen ein solcher
kürzerer Abriss schaffen kann, ist der für die
allgemeine Sprachwissenschaft. Man sollte end-
lich begreifen dass diese unter uns zu keiner
höheren Stufe gelangen kann wenn nicht zuvor
alle die einzelnen Sprachstämme jeder zunächst
für sich vollkommen sicher erforscht und über-
sichtlich beschrieben sind; das Hebräische ist
aber innerhalb des Semitischen so sehr die uns
in ihrem ganzen Umfange bekannte älteste und
wohlerhaltenste Sprache, dass man von ihm bei
allem Semitischen immer am nächsten ausgehen
muss. Dazu kann man aus guten Gründen be-
haupten das Semitische sei uns heute wissen-
schaftlich betrachtet als Sprachstamm schon viel
sicherer und übersichtlicher bekannt als das
Mittelländische. Dies erklärt sich zwar theil-
weise leicht sofern das Semitische als Sprach-
stamm nicht von so weitem Umfange ist als das
sogenannte Indogermanische: allein desto mehr
ist zu beklagen dass man es in unseren Tagen
immer noch zu wenig beachtet und zu leicht
über die Thatsache wegspringt dass es wissen-
schaftlich schon* viel sicherer und für alle
Sprachwissenschaft nützlicher erkannt und be-
Ewald, Hebräische Sprachlehre fl Anfänger. 743
schrieben ist als man gewöhnlich gerne zageben
mag. Eine kürzere aber sichere Uebersicht über
den Grund den Bestand und den Bau des He-
bräischen könnte hier vielen willkommen sein
welche es sonst nicht weiter verfolgen mögen.
Die Mittelländische Sprachlehre ist noch nicht
einmahl so weit den Wortbau so richtig und so
lehrreich zu verfolgen als dies im Semitischen
jetzt schon lange möglich ist.
Die Neuerungen welche der Unterz, in sei-
nen Werken über das Semitische einführte, ha-
ben zwar im letzten halben Jahrhunderte man-
cherlei und von mancherlei Antrieben aus-
gehende Gegner gefunden: doch kann man wol
behaupten, diese seien jetzt grundsätzlich nicht
mehr da. Zu beklagen ist jedoch dass die
Ueberbleibsel der früheren unwissenschaftlichen
Weise das Hebräische zu lernen und zu lehren
sich noch immer gerne wenigstens in dem was
man heute das »Praktische« nennt erhalten
wollen: während man längst hätte wissen kön-
nen wie schwer uns in Deutschland die völlig
verkehrte Entgegensetzung von Theorie und
Praxis in welche man sich immer tiefer völlig
verlor, ebenso wie die des »Idealen« und »Re-
alen« nach allen Seiten hin geschadet hat.
Diese elenden Gegensätze gingen von den La-
teinisch-Griechischen Schulen immer mehr in
das öffentliche Leben (wohin, auch die öffent-
liche Lehre gehört) mit seinen Folgen über,
und haben einen Schaden gestiftet an welchen
man vor 50 — 60 Jahren noch gar nicht denken
konnte. Möchte man sich endlich über sie da-
hin erheben wo sie nicht mehr schaden können.
Die neue Ausgabe welche hier erscheint, ent-
hält ausser der Verbesserung der Druckfehler
welche in die vorige eingeschlichen waren und
47*
744 Gott. gel. Anz. 1874. Stud: 24.
vielen zerstreuteren Zusätzen ganz neu in einem
Anhänge die »Grundzüge des Biblisch- Aramäi-
schen«, welche in der Aufschrift des Buches be-
merkt sind. Unter diesem Biblisch-Aramäischen
sind alle die einzelnen Aramäischen Wörter und
kürzeren oder längeren Bedestücke zu verstehen
welche sich im Alten Testamente, aber sehr zer-
streut auch in dem Griechischen des N. Ts.
finden. Sie bilden zusammen das älteste Ara-
mäische welches wir bis jetzt aus Büchern ken-
nen, und haben schon insofern für die Sprach-
wissenschaft ihre hohe Bedeutung. Obwohl sie
nun vom Syrischen und allen anderen Aramäi-
schen Mundarten bedeutsam genug abweichen
und vieles schwieriger zu Verstehende in sich
schliessen, hat man sie dennoch noch niemals
einer besonderen wissenschaftlichen Betrachtung
und Beschreibung so unterworfen wie das hier
in aller Kürze aber in vollständiger Uebersicht
geschieht. Sofern sie jedoch in der Bibel stehen,
ist hier der passende Ort dazu. Zugleich kann
dies als ein Beispiel dienen wie gewiss man auch
das Aramäische trotz seiner bedeutenden Ab-
weichung vom Hebräischen ganz in derselben
Folge einzeln abhandeln kann wie dieses.
H. E.
Manuel de mineralogie par A. Des
Cloiseaux, membre de l’Institut etc.
Paris, Dunod, editeur. Vol.I. 1862. Vol.H. 1874.
Im Jahre 1862 schon erschien der erste
Band von Des Cloiseaux’s Handbuch der Mine-
ralogie, dem vortrefflichsten, das wir gegen-
. Oes Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 745
wärtig besitzen. Ungünstige Verhältnisse in
Frankreich, die nur durch die Intervention des
Ministers für die öffentlichen Arbeiten gehoben
werden konnten, verhinderten aber das Erschei-
nen des zweiten (letzten) Bandes dieses bedeu-
tenden Werks. Erst in den letzten Wochen
ist die erste Abtheilung des wohl von allen Mi-
neralogen mit Sehnsucht herbeigewünschten
zweiten Bandes erschienen und in der Vorrede
dazu die Hoffnung ausgesprochen, dass die Voll-
endung des Ganzen nicht mehr lange Zeit in
Anspruch nehmen werde. Lag ja doch das
Manuskript seit langer Zeit fertig und war nur
durch ungünstige Umstände am Erscheinen ge-
hindert.
Herr Des Cloiseaux, dessen krystallographi-
schen und besonders dessen krystallographisch-
optischen Untersuchungen die Mineralogie schon
so manche höchst werthvolle Entdeckungen ver-
dankt, hatte zuerst die Absicht, das ebenfalls
wegen seiner vortrefflichen krystallographischen
Angaben werthvolle englische Handbuch der
Mineralogie von Phillips in seiner dritten von
Brooke und Miller herausgegebenen Auflage
französisch zu bearbeiten, dasselbe Buch, des-
sen deutsche Bearbeitung das mineralogische
Publikum von den ganz besonders dazu be-
rufenen Händen des Herrn Professors Sartorius
von Waltershausen erwarten darf. Des Cloiseaux
hat aber, weil sich die Bearbeitung zu lange ver-
zögerte, vorgezogen, ein neues Handbuch zu
schreiben, das sich möglichst streng in den kry-
stallographischen Angaben an das Phillips’sche
Buch anlehnen sollte. Dieser Entschluss ist
wohl sicher als ein ausserordentlich glücklicher zu
bezeichnen, denn bei einer blossen Bearbeitung
des englischen Werks hätte die Wissenschaft im
746 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 24.
Grossen und Ganzen wohl weniger gewonnen,
jedenfalls aber hätte Herr Des Cloiseaux kaum
die physikalischen Eigenschaften der Mineralien,
besonders die optischen, in dem Maasse, wie es
geschehen, mit hereinziehen können, und gerade
das Hereinziehen dieser Eigenschaften in so
grosser Vollständigkeit ist es, was das Werk
von Des Cloiseaux vor allen anderen Hand-
büchern der Mineralogie auszeichnet1, die die-
ser Eigenschaften nur nebenbei Erwähnung
thun und ist ferner das, was diesem Werk einen
bleibenden Werth verleiht, um so mehr als Des
Cloiseaux mit zu denen gehört, die am meisten
zur Erforschung der optischen, überhaupt phy-
sikalischen Eigenschaften der Mineralien gethan
haben und der damit auch am meisten dazu
beigetragen hat, diesen Eigenschaften eine ihrer
wissenschaftlichen Bedeutung würdige Stelle
beim Studium der Mineralien überhaupt zu ver-
schaffen.
In der Vorrede zum ersten Band werden
die hauptsächlichsten Quellen, die Des Cloiseaux
benützte , angegeben. Man sieht da meist
deutsche und englische Namen, nur einen oder
den andern französischen und man sieht dar-
aus, wie wenig Forscher sich in diesem Land
in der neueren Zeit erfolgreich mit Mineralogie
beschäftigen. Um so bemerkenswerther ist es,
dass trotzdem gerade aus französischen Händen
das umfassendste und gediegenste Handbuch
dieser Wissenschaft hervorgegangen ist.
Was die Behandlungsweise des krystallogra-
phischen Theils anbelangt, so sind hier bei je-
der kry8talli8irten Mineralsubstanz die sämmt-
lichen beobachteten Flächen und auch so ziem-
lich alle Combinationen angegeben. Selten fin-
det man eine wesentliche Lücke. Besonders
Des Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 747
schätzbar sind die ausserordentlich reichhaltigen
Winkelverzeichnisse, in welchen bei den meisten
Mineralien die gemessenen Winkel und die be-
rechneten nebeneinander gestellt sind, so dass
eine unmittelbare Vergleichung ermöglicht ist.
Dabei sind die Grundwinkel, auf denen die
Rechnungen beruhen, mit einem Sternchen be*
zeichnet, und es ist damit Jedermann in den
Stand gesetzt, die Rechnungen zu wiederholen
und zu prüfen. Nur bei den ausserordentlich
flächenreichen Krystallen, wie bei dem Quarz,
ist eine Anführung der gemessenen Winkel unter-
lassen, weil dies bei Weitem mehr Raum be*
ansprucht hätte, als zur Verfügung stand.
Ueberall sind die Winkelangaben benützt, die
von den besten Erystallographen bekannt ge-
macht worden sind und stets sind die Namen
der Autoren bei jedem einzelnen Winkel ange-
führt , so dass man daraus sofort bis zu einem
gewissen Grad auf das Mass der Zuverlässig-
keit der einzelnen Angaben schliessen kann.
An nicht wenigen Mineralien hat Des Gloiseaux
selbst werthvolle krystallographische Studien
gemacht und seine eigenen Beobachtungen hier
mit verwerthet.
Sehr zweckmässig ist die Art und Weise,
wie in den Winkeltabellen die einzelnen Win-
kel angeordnet sind. Bei der grossen Menge
derselben, welche an flächenreichen Krystallen
in Betracht kommen, ist es sehr schwierig, einen
einzelnen Winkel zu finden, wenn diese in be-
liebiger, gesetzloser Weise angeordnet sind.
De8shalb hat Des Cloiseaux eine Anordnung
nach Zonen vorgezogen, wobei alle zu einer
Zone gehörigen Winkel durch eine Klammer zu-
sammengefasst sind. Dabei folgen sich die Zo-
nen in ganz regelmässiger, constanter Weise, so
748 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 24.
dass man auch in einer noch so langen Tabelle
jeden Winkel leicht finden kann. Die Zonen
folgen sich so : Zuerst die Prismenzone mit ver-
tikaler Axe, dann die Zonen, deren Axen den
Diagonalen und den Seiten der Basis des Grund-
prismas parallel sind etc.v wie das in der Vor-
rede zum ersten Bande pag. II weitläufig aus-
einandergesetzt ist.
Die Uebersicht über die beobachteten Flä-
chen und Zonen wird ermöglicht durch eine
grosse Anzahl (im ganzen Werk 56) sphärischer
Projektionen, welche bei den flächenreichsten
Krystallen den Winkeltabellen gegenübergestellt
sind. Am Ende des zweiten Bandes soll die
Art und Weise auseinandergesetzt werden, wie
diese Projectionen construirt werden. Man er-
kennt an diesen mit grosser Sorgfalt und Ge-
nauigkeit aüsgeführten Zeichnungen deutlich die
grossen Vorzüge, welche die sphärische Pro-
jection, die sich daher auch immer mehr und
mehr einbürgert, vor der von Quenstedt ange-
wendeten Linearprojektion' hat, wo bei einer
einigermassen bedeutenden Zahl von Kry stall-
flächen die Uebersicht total verloren geht, wo
sehr viele Zonenpunkte über das Papier hinaus-
fallen etc. Wer sich die grosse Uebersichtlich-
keit der sphärischen Projektion auch bei einer
bedeutenden Anzahl von Flächen gegenüber der
geringen Uebersichtlichkeit der Linearprojektion
recht klar machen will, braucht nur z. B. die von
Des Cloiseaux gegebene sphärische Projektion des
Quarzes mit der von E. Weiss gegebenen*)
Linearprojektion desselben Minerals zu verglei-
chen, das allerdings zu den formenreichsten ge-
hört , die man kennt.
■
*) Abhandl. der nat. Ges. zu Halle. Bd. V. pag. 53.
Des Cloiseaux, Manuel ee mineralogie. 749
Ausser diesen sphärischen Projektionen sind
aber auch durch eine grössere Reihe von schie-
fen Projektionen, die zu einem ziemlich um-
fangreichen Atlas vereinigt sind, die Formen
dargestellt, in denen sich die einzelnen Mine-
ralien und ihre Combinationen in der Natur
zeigen. Es lässt aber bei diesen Figuren die
künstlerische Ausführung Einiges zu wünschen
übrig, wenn sie auch vom Verfasser sehr exact
gezeichnet worden sind.
Leider hat aber Des Cloiseaux durch die
von ihm angenommene Krystallbezeichnungs-
weise den meisten Fachgenossen den Gebrauch
seines Werks sehr wesentlich erschwert. Er
hat nämlich die ächt französischen von Hatiy
erfundenen und von Levy modifizirten Krystall-
zeichen angewandt, die ausser von französischen
Autoren kaum noch von irgend Jemand gebraucht
werden, da sich jetzt die drei Bezeichnungsweisen
von Weiss (Rose), Naumann und Miller um den
Vorrang streiten. Ist es auch in den meisten
Fällen nicht schwierig, von den Haüy-Levy’-
schen Zeichen unmittelbar zu den Weiss’schen
oder Naumann’schen überzugehen, so stört es
doch die Bequemlichkeit der Anwendung, be-
sonders bei raschem Nachschlagen und zuweilen
nöthig werdende Rechnungen führen Zeitverlust
herbei. Hätte Des Cloiseaux eine der mehr
gebräuchlichen Bezeichnungsweisen angewandt,
so hätte er dadurch sein Buch gewiss den mei-
sten Mineralogen noch angenehmer und brauch-
barer gemacht. Er hat zwar in der Einleitung
die Formeln angegeben, nach welchen die
Uebersetzung des einen Zeichens in ein anderes
gemacht wird, aber ganz sind dadurch die er-
wähnten Unbequemlichkeiten nicht beseitigt.
Ganz vorzüglich und wie in keinem anderen
750 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 24.
Werke über Mineralogie sind, wie erwähnt, die
physikalischen Eigenschaften der Mineralien be-
handelt. In der Einleitung ist besonders den
allgemeinen optischen Verhältnissen ein grösse-
rer Baum gewidmet, und es sind die in den
verschiedenen Erystallsystemen vorkommenden
Arten der Dispersion, aus denen sich vielfach
das Erystallsystem ohne weitere krystallogra-
phische Untersuchung folgern lässt, durch far-
bige Abbildungen erläutert. Besondere Berück-
sichtigung fand auch die Veränderung, die die
optischen Eigenschaften bei höherer Temperatur
erleiden. Des Gloiseaux beabsichtigte zuerst,
neben der Beschreibung des von ihm erfunde-
nen Polarisationsinstruments, das auch zum
Messen von Axenwinkeln eingerichtet ist, und
das er auf Tafel I. des Atlasses abgebildet hat,
eine vollständige Anleitung zum Gebrauch des-
selben und zur Anstellung krystallographisch-
optischer Untersuchungen überhaupt am Ende
des zweiten Bandes folgen zu lassen. Er hat
aber dann doch vorgezogen, diese Anleitung be-
sonders herauszugeben, da sich der Druck und die
Herausgabe des zweiten Bands verzögerten und
so ist sie 1864 in Paris unter dem Titel: »Me-
moire sur l’emploi du microscope polarisant et
sur l’etude des propriötes optiques birefrin-
gentes propres ä determiner le Systeme cry-
stallin dans les cristaux naturels ou artificielles«
für sich allein im »Journal des mines«, Band
VI. und separat erschienen. Eine deutsche Be-
arbeitung dieser vorzüglichen Abhandlung findet
sich auch in Poggendorffs Annalen, Bd. 126.
p. 387 ff. 1865.
Da Des Gloiseaux mit ganz besonderem Er-
folg auf dem Gebiet* der krystallographischen
Optik arbeitet und seit langer Zeit gearbeitet
hat, so steht ihm hier eine Erfahrung zur Seite,
Des Cloiseaux, Manuel de min£ralogie. 751
wie kaum einem zweiten Forscher, denn es giebt
wohl nur wenige Mineralkörper, die er nicht per-
sönlich untersucht hätte. Daher ist auch dieser
Theil des vorliegenden Werks eine reiche Fund-
grube neuer Thatsachen, die nicht alle in des
Verfassers zahlreichen, diesem Gebiet allein ge-
widmeten, Abhandlungen publizirt worden sind
und es gehört daher Des Cloiseaux’s Mineralogie
zu den Quellenwerken, die bei krystallographisch-
optischen Untersuchungen in erster Linie zu
Rathe gezogen werden müssen. Es sind aber
auch die einschlägigen Forschungen anderer,
z. B. die von Brewster, SSnarmont, Keusch etc.
in reichem Masse benützt und man erhält da-
durch fast bei allen bekannten Mineralien ein
genügendes Bild ihres optischen Verhaltens.
Die anderen physikalischen Eigenschaften der
Mineralien, besonders der Krystalle sind zwar
nicht vernachlässigt, aber doch bedeutend we-
niger berücksichtigt, als die optischen.
Was die chemische Seite des Werks anbe-
langt, so ist leicht zu bemerken, dass dies we-
niger des Verfassers eigenstes Gebiet ist, wie
dies die Krystallographie und Optik war. Zu
rühmen ist aber jedenfalls die Vollständigkeit,
mit der die von den einzelnen Mineralien vor-
handenen Analysen, meist nach Kammeisbergs:
»Handbuch der Mineralchemie«, angegeben sind.
In den chemischen Formeln suchte sich der
Verfasser von allen Hypothesen fern zu halten, und
nur die aus der Zusammensetzung, wie sie die
Analyse giebt, unmittelbar berechneten empirischen
Formeln sind in der alten Berzelius’schen Schreib-
weise, die Sauerstoffatome als Punkte geschrie-
ben, angeführt. Es ist das jedenfalls dem aller-
neustens gemachten Versuch vorzuziehen, für die
Mineralien, speziell für die Silikate, sog. ra-
752 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 24.
tionelle Constitutionsformeln aufzustellen. Wenn
das auch für die Körper der organischen und
für viele Körper der unorganischen Chemie mit
grosser Sicherheit nach den jetzt in dieser Wis-
senschaft geltenden Ansichten möglich ist, so ist
es nicht mit Sicherheit möglich für die grosse
Mehrzahl der Silikate. So weit scheint die Chemie
doch noch nicht gekommen zu sein und alle diese
Constitutionsformeln sind nur Versuche, das Rich-
tige zu treffen , es sind Möglichkeiten, vielleicht
z. Th. Wahrscheinlichkeiten, die aber nicht noth-
wendig richtig sein müssen, sondern denen an-
dere ebensogut mögliche Formeln gegenüber-
stehen, wie das Kolbe unlängst in einem Auf-
satz über die Aufgaben der Mineralchemie ge-
zeigt hat. Man bat zwar neuerer Zeit gemeint,
die Constitution, den molekularen Aufbau der
Mineralien, zu erforschen durch das Studium
der chemischen Vorgänge bei der Verwitterung
und Zersetzung, bei der Pseudomorphosenbil-
dung etc. Gewiss ist dieö ein sehr fruchtbarer
Weg, der sicherlich gute Resultate in der an-
gedeuteten Richtung ergeben wird, man muss
ihn aber doch erst einige Zeit verfolgen, ehe
man die erhaltenen Resultate zum Ziehen allge-
meiner Schlüsse benutzen kann. Dazu kommt
noch, dass sehr viele sogenannte Mineralien
gar keine homogenen Substanzen sind. Es sind
dies besonders die amorphen Körper , aber
auch manche Krystalle , von denen man es
a priori gar nicht vermuthen sollte, sind im
höchsten Grad verunreinigt, wie das z. B. in
neuster Zeit vom Staurolith gezeigt wurde , des-
sen so sehr deutliche Krystalle nach Rammeis-
berg *) 30 — 40 % Kieselsäure (Quarz) mechanisch
*) Zeitschr. der deutsch, geol. Ges. XXY. 58. 1873.
Des Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 753
eingeschlossen enthalten. Die Formeln, die man
solchen Mineralkörpern beilegt, sind natürlich
ganz falsch und unbrauchbar. Ferner ist zu
bemerken, dass man erst vor Kurzem darauf
gekommen ist, die Stelle des Wassers in den
Mineralien rationell aufzufassen, ganz abgesehen
von dem vielfach behaupteten und bestrittenen
Unterschied zwischen Constitutions- oder basi-
schem Wasser und Kry stallwasser. Früher und
bis vor wenigen Jahren behauptete man ohne
Weiteres, die geringen, oft nur 1 oder 2°/o,
auch noch weniger betragenden Quantitäten
Wasser, die man in manchen, besonders in
complicirt zusammengesetzten Silikaten fand,
seien Zeichen beginnender Verwitterung, wäh-
rend die reine ursprüngliche Substanz wasserfrei
sei, was um so wahrscheinlicher erschien, als
gewisse Abänderungen dieser Substanzen wasser-
frei waren. Erst neuerer Zeit ist man zu der
Einsicht gekommen, dass diese geringen Quan-
titäten Wasser, die man im Glimmer, Turmalin,
Vesuvian, Epidot etc. gefunden hat, wesentlich
mit zur Constitution derselben gehören und dass
man sie in der Formel, berücksichtigen muss.
Dadurch hat sich zum Tbeil die Compilation
der Formeln z. B. beim Glimmer sehr wesent-
lich vereinfacht. Wie dies bei den wenigen,
darauf hin untersuchten Mineralien der Fall
war, so kann noch bei einer grossen Anzahl
anderer das Wasser, oder vielleicht besser. ge-
sagt, der Wasserstoff, eine wichtige Rolle spie-
len. Jedenfalls sind auch hierin noch weitere
Untersuchungen nöthig, ehe es möglich ist, über
die Constitution der Silikate endgültig zu ur-
theilen.
Fasst man alle diese Umstände zusammen,
so sieht man, dass es noch sehr vielfacher
754 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 24.
Untersuchungen bedarf, ehe man von jedem Mi-
neral die genaue empirische, durch die Analyse
gegebene Zusammensetzung kennt, und dass
man also noch sehr weit von der Möglichkeit
entfernt ist, Constitutionsformeln für die Sili-
kate aufzustellen. Thut man es dennoch, so ist
es in den meisten Fällen ein Spiel mit Hypo-
thesen, dessen wissenschaftlicher Werth gering
ist. Somit ist es ganz in der Ordnung, dass
sich Des Cloiseaux, dem der Rath der berühm-
testen französischen Chemiker, Dumas, Peligot,
H. St. Claire-Deville und Marignac zur Seite
stand, auf die einfachen empirischen Formeln
beschränkt hat. Es ist dies ganz natürlich für
den ersten Band, da zur Zeit seines Erschei-
nens, 1862, die neuere Chemie noch ganz in
den Windeln lag, aber auch im zweiten Band
ist er mit Recht dabei geblieben. Vielleicht
hätte er hier die neueren Atomgewichte (0 =
16 etc.) anwenden können, es hätte aber auch
manches Missliche gehabt, in den beiden Bän-
den verschiedene Atomzahlen für die einzelnen
Elemente zu gebrauchen.
Bei jedem einzelnen Mineral ist im Text
das Verhalten vor dem Löthrohr und gegen
Säuren und andere Lösungsmittel angegeben,
ebenso ist die Art und Weise der künstlichen
Darstellung, die in Frankreich sehr gepflegt
wird, stets angeführt.
Ein entschieden schwacher Punkt des Werks
ist sicherlich die Classiflkation , die aber eben
in der Mineralogie überhaupt ein schwa-
cher Punkt ist. Das angenommene System ist
das von Beudant, der die Mineralien nach dem
wichtigsten darin enthaltenen Element oder
vielmehr nach irgend einem beliebigen darin
enthaltenen Element einer von seinen 35 Fa-
Des Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 755
milien zurechnet, welche Zahl bei Des Cloiseaux
wegen der Entdeckung einiger neuer Elemente
auf 40 gestiegen ist. Diese Familien sind in
der Ordnung beschrieben , in welcher die typi-
schen Elemente in der chemischen Classifikation
von Berzelius stehen, nur ist hier die Ordnung
umgekehrt und mit dem Wasserstoff die ßeihe
begonnen, mit dem Oold geschlossen.
Wie wenig diese Glassifikation in der That
eine natürliche ist, das zeigt z. B. die Familie
der Carbonide. Hier sind die heterogensten
Dinge vereinigt. Man findet zunächst einige
Unterabtheilungen: 1) Kohlenstoff mit den
Species Diamant und Graphit; 2) fossile Koh-
len mit den Spezies: Anthrazit, Steinkohle,
Braunkohle, Torf, Dopplerit; 3) Kohlenwasser-
stoff und zwar : a) Fossiles Wachs mit den Species :
Scheererit, Ozokerit, Fichtelit, Könleinit, Idria-
lin; b) Bitumen mit den Spezies: Naphta und
Elaterit; 4) Oxydirte Kohlenwasserstoffe oder
Harze mit der Spezies: Copalin, Middletonit,
Euo8mit, Rosthornit, Walchowit, Krantzit, Tas-
manit, Bernstein, Hartin, Iaulingit, Refikit, Skle-
retinit, Pyroretin, Guayaquilit, Ambrit, Anthra-
koxen, Berengelit, Pyropissit, Uranelain, Piauzit,
Ratinasphalt; Anhang: Asphalt und Melanchym
5) Honigsteinsaure Salze mit der Spezies: Ho-
nigstein; 6) Oxalsäure Salze mit den Spezies:
Whewellit und Humboldtin (Oxalit); 7) Kohlen-
säure Verbindungen ; und zwar: Witherit, Alsto-
nit, Barytocalcit , Strontianit, Aragonit, Kalk-
spath, Dolomit, Giobertit (MgCOs), Pistomesit,
Eisenspath, Manganspath, Zinkspat h, Weissblei-
erz, Susannit, Leadhillit, Mysorin, Selbit, Pari-
sit, Kalicin, Thermonatrit, Soda, Urao, Gay-
Lüssit, Teschemacherit, Hydrokonit, Hovit, Hy-
drodolomit, Hydromagnesit, Ytterspath, Lan-
756 Gott, gel* Anz. 1874. Stock 24.
thanit, Liebigit, Voglit, Wiserit, Texasit, Re-
mingtonit, Aurichalcit, Bismuthit, Malachit and
Kupferlasur.
Diese letzteren, die Karbonate, sind aller-
dings von den übrigen Gliedern dieser Familie
durch die Ueberschnft: »Genre carbonate« wei-
ter abgetrennt, als z. B. die Mellate und Oxalate
von den fossilen Harzen, aber eben doch
in derselben Familie mit diesen beisammen, also
Steinkohlen mit Kalkspath etc. und das zeigt
doch recht das sehr Mangelhafte dieser rein
auf chemische Kennzeichen gegründeten Sy-
steme, in denen nichts Anderes, nicht einmal
die krystallographischen Verhältnisse die geringste
Berücksichtigung finden. Denn fanden sie solche,
so könnte nicht das Weissbleierz von den iso-
morphen Witherit, Strontianit und Aragonit
durch die ganze rhomboedrische Kalkspathreihe
getrennt sein. Da bietet denn doch Gustav Rose’s
krystallo-chemisches System eine weit natürlichere
Gruppirung der Mineralien, wenn es gleich
auch nicht ganz ohne Schwächen ist.
Die Beschreibung der einzelnen Mineralien
geschieht sehr bequem derart, dass die einzel-
nen Eigenschaften derselben stets in ganz be-
stimmter Reihenfolge aufgeführt werden, was
das Auffinden der einzelnen Angaben sehr er-
leichtert. Diese Reihenfolge ist im Allgemeinen
die nachstehende: Namen und gebräuchlichste
Synonymen , krystallographische Verhältnisse,
Blätterbrüche, physikalische Eigenschaften der
Flächen, physikalische Eigenschaften der Krystalle,
die einzelnen ebenfalls stets in ganz bestimmter
Reihenfolge, Verhalten vor dem Löthrohr und
gegen Säuren , chemische Formel und Analysen,
Vorkommen und endlich künstliche Darstellung.
Was nun den Inhalt der einzelnen Bände
Dos Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 757
anbelangt, so findet sich im ersten nach einer
den allgemeinen Plan des Werks erläuternden
Vorrede eine Einleitung. Diese enthält nicht,
wie man es in den deutschen Handbüchern zu
finden gewohnt ist, eine erschöpfende Darstel-
lung der Krystallographie , der Erystallphysik
und der Mineralchemie, deren Eenntniss im Allge-
meinen vorausgesetzt wird, sondern sie enthält
nur eine ausführliche Erläuterung der gewähl-
ten Ervstallflächenbezeichnung mit Tabellen zum
Uebernihren dieser Symbole in die von Nau-
mann, Weiss und Miller; ferner eine kurze Er-
läuterung einiger optischen Verhältnisse mit
eingeklebten farbigen Abbildungen der unter
verschiedenen Verhältnissen im Polarisations-
instrument entstehenden Interferenzbilder, sowie
der anderen physikalischen Eigenschaften; fer-
ner einige Worte über die chemischen Verhält-
nisse und über die Glassifikation. Nach einem
kurzen Druckfehlerverzeichnis folgt nun auf
555 Seiten die eigentliche Mineralbeschreibung,
die eingeleitet wird durch eine Uebersicht über
die bis dahin beobachteten Formen des regulä-
ren Systems nebst den dazu gehörigen Winkeln
und veranschaulicht durch eine grosse Eugel-
projektion. Dann folgt die spezielle Beschrei-
bung der 1. Familie der Hydrogenide, blos die
Spezies Eis enshaltend und dann, den Best des
Bandes füllend auf ca. 550 Seiten die Silicide,
die freie Eieselsäure und die sämmtlichen Sili-
kate enthaltend. Diese letzteren sind ebenfalls
nach rein chemischen Gesichtspunkten weiter
eingetheilt und dabei manches ganz Fremde ver-
einigt, manches nahe Verwandte getrennt. Zuerst
kommt die reine Eieselsäure, Quarz und Opal,
(der Tridymit war 1862 noch nicht entdeckt),
dann die wasserfreien Silikate von BO, die
48
758 Gott- gel. Anz. 1874. Stück 24.
wasserhaltigen Silikate von BO, schwefelhaltige
Silikate , fluorhaltige S. von BO, Siliko-Titanate
von BO, Kiesel- und Zirkonsäure, Silikozirko-
niate von BO; Silikorzirko-Niobate von BO;
Siliko-Borate von BO; wasserfreie Thonerdesili-
kate; wasserhaltige Thonerdesilikate (ohne BO);
Produkte der Verwitterung und Zersetzung und.
Gemenge (welch letztere streng genommen gar
nicht hergehören); wasserfreie S. von BO und
AI2O3 ; wasserhaltige Thonerdesilikate (d. h. solche,
die neben AlaOs auch noch BO enthalten); Thon-
erdesilikate; fluorhaltige Thonerdesilikate; bor-
haltige Thonerdesilikate; chlorhaltige Silikate;
schwefelsäurehaltige Silikate ; phosphorsäure-
haltige Silikate; titansäurehaltige Silikate; Sili-
kate von unbestimmter Zusammensetzung (wozu
mir der Tumerit gehört, von dem sich jetzt
mit grosser Wahrscheinlichkeit behaupten lässt,
dass er gar kein Silikat ist).
Um zu zeigen, wie wenig natürlich auch
dieses rein chemische System der Silikate ist,
will ich nur auf wenige Punkte aufmerksam
machen. Der ApophylUt, Okenit und Pekto-
lith stehen mit Serpentin, Talk, Dioptas etc. in
der Gruppe der wasserhaltigen Silikate von BO,
während sie doch nach ihrem ganzen Habitus,
Vorkommen etc. kurz nach ihren ganzen natür-
lichen Verhältnissen zu den Zeolithen gehören,
die weit davon getrennt eine Unterabtheilung
in der Gruppe der wasserhaltigen Thonerdesili-
kate ausmachen. In Eine Familie sind vereinigt
die höchst ungleichen Mineralien Topas und
Euklas nebst der Glimmergruppe.
Auf die Behandlung der einzelnen Spezies ein-
zugehen, würde zu weit führen. Die Beschreibung
ist, um das zu wiederholen, sehr vollständig, die
Angaben sind sehr zuverlässig und die Literatur
Des Cloiseaux, Manuel de mineralogie. 759
hat bis zum letzten Augenblick verfolgt, so dass
sogar die Resultate der während des Drucks
erschienenen Arbeiten noch in einem besonde-
ren Anhang verwerthet worden sind.
Der zweite Band enthält zunächst in dem
bis jetzt allein vorliegenden 1. Heft Zusätze
und Modifikationen zu dem Inhalt des ersten
Bands, die z. Thl. sehr wichtig sind. So ist
namentlich der Gadolinit neu bearbeitet, ebenso
Enstatit und Hyperstehn, nach den Arbeiten
von V. v. Lang, G. vom Bath und Anderen, fer-
ner der Wöhlerit, Tankit, Lenzit, Hannotom,
Tumerit und andere. Dem folgt ein sehr lan-
ges Druckfehlerverzeichniss zum ersten Band
und endlich die Beschreibung der den nachfol-
genden Familien angehörigen Mineralien. Zu-
erst kommt die Familie der Boride, worin alle
Mineralien stehen, worin Bor in grösserer Menge
vorhanden ist. Dieser Familie folgt die des Koh-
lenstoffs (der Garbonide), deren eigentümlicher
Zusammensetzung schon oben gedacht wurde.
Hier sind viele Stoffe aufgeführt, die durchaus
nicht zu den Mineralien gezählt werden dürfen.
Mag auch der Verfasser die Herbeiziehung der
fossilen Kohlen mit einer alten in der Minera-
logie herrschenden Sitte (oder besser gesagt
Unsitte) entschuldigen (H. Bd. pag. 69) und
sagen, dass sie eigentlich Gebirgsarten seien,
mag auch von manchen Harzen und andern
hierhergezählten Stoffen die Zugehörigkeit zum
Mineralreich nicht absolut geläugnet werden
können , so ist doch jedenfalls die Herbeiziehung
des sich noch jetzt aus Pflanzen, also durch
rein organische Prozesse bildenden Torfs nicht
zu rechtfertigen.
Den Schluss des ersten Hefts des 2. Bands
48*
760 Gott. gel. Anz. 1874. Stuck 24.
bildet dann der Anfang der Familie der Tita-
riide, deren Schluss im 2ten Heft folgen wird.
Mögen die 3 folgenden Hefte des 2ten Ban-
des so rasch als möglich dem 1. Heft folgen!
Dies ist gewiss der Wunsch eines jeden, der
sich eingehender mit Mineralogie beschäftigt.
Berlin. Max Bauer.
Documenti inediti per servire alia storia del
diritto. Andrea Alciati, lettore nello studio di
Bologna, anni 1537 — 41. Da B. Podestä.
Estratto dalP archivio giuridico. 1874. Bologna,
tipi Fava e Garagnani.
Ich habe früher einmal darauf aufmerksam
gemacht*), wie reiche Schätze die Archive Bolog-
nas bergen ; die vorstehende Schrift ist ein neuer
Beweis dafür, besonders in Bezug auf das archivio
della prefettura. Der Verfasser, B. Podesta,
beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte
der Universität Bologna, aus welcher er einen
interessanten Abschnitt schon vor längerer Zeit
veröffentlicht hat**). Damals handelte es sich
um den berühmtesten Philosophen Bolognas,
hier um einen seiner bedeutendsten Rechts-
lehrer. Pietro Paolo Parisio, geb. 1473 in
Cossenza, der bereits 4 Jahre einen Lehr-
stuhl für Rechtswissenschaft in Bologna zu all-
gemeiner Zufriedenheit inne gehabt hatte und
Anfang 1537 daselbst noch war, hatte — so
*) G. G. A. 1868.
**) Alcuni documenti inediti risguardanti Pietro Pom-
ponazzi. Atti e memorie della R. deputazione di storia
patria per le provincie di Romagna, anno VI.
Podesta, Andrea Alciati. 761
berichtet Fra Leandro Alberti in seiner Ge-
schichte Bolognas*) — für 18,000 Dukaten das
Amt des Auditors der camera apostolica ge-
kauft und sich nach Born begeben. Hier er-
nannte ihn Paul III. 1539 zum Kardinal und
designirte ihn 1542 zum Vorsitzenden der Tri-
dentineft* Kirchenversammlung. Die Reformato-
ren von Bologna — zugleich Magistrat und Se-
nat der Stadt — suchten nun nach einem wür-
digen Nachfolger; sie schrieben an Gesandte in
verschiedenen Staaten, an ihre Oratoren beim
Papst und an berühmte Persönlichkeiten. Ende
Mai 1537 nahmen sie Rinaldo Petrucci in Aus-
sicht, von dem aber bald nicht mehr die Rede
ist; es eröffnete sich ihnen die Hoffnung auf
Andrea Alciati. Dieser Mann, geb. in Alzate
im Mailändischen am 8. Mai 1492, hatte die
Rechte gelernt in Pavia bei Giasone Maino und
in Bologna bei Carlo Ruini und 1514 in Bo-
logna doktorirt ; schon als Student hatte er eine
Schrift veröffentlicht: Note sugli Ultimi trelibri
delle istituzioni di Giustiniano. 1518 finden wir
ihn als Rechtslehrer in Avignon, dann mit
ausserordentlichem Erfolg an der Akademie
Bourges, wohin ihn Franz I. berufen, der ja so
manchen Gelehrten und Künstler aus Italien be-
rief. 1532 war er indessen nach Italien zurück-
gekehrt , auf eine Einladung von Francesco
Sforza, Herzog von Mailand, der ihn zum Se-
nator machte und ihm einen Lehrstuhl in Pavia
gab. Aber der Krieg, den Franz I. 1535 wie-
der eröffnete , machte die Musen der Lombardei
schweigen, die Universität Pavia ward geschlos-
sen; AJdati unterhandelte mit den (40) Refor-
*) T. IV lib. 2 deca 7 pag. 491. Hb. der Univ.
BibL in Bologna.
762 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 24.
matoren von Bologna, von denen 4, die jährlich
neu gewählt wurden, beziehungsweise bestätigt,
die besondere Sorge für die Universität hatten.
Am 31. August 1537 schrieb ihr Agent, Vange-
lista Matugliano aus Piacenza, dass er mit Al-
ciati abgeschlossen habe, ungefähr so, wie sie
wünschten. Bologna forderte ihn für 5 Jahre
und war bereit, ihm jährlich 1200 Scudi zu
zahlen; er nahm indessen nur auf 4 Jahre an,
und zwar auf 3 mit fester Verpflichtung und
auf eins a piacimento dello Illmo et Bev. mo
S. Legato o vice Legato, e di V. S. rie; ausser* **)
dem forderte er 200 Scudi Umzugskosten*).
Dass diese Vereinbarung kurz vorher in Mai-
land zu Stande gekommen, ergibt sich aus 3
nun folgenden Aktenstücken: einem Annahme-
schreiben Alciati’s vom 29. August , einer Quit-
tung desselben vom selben Tage über die 200
Goldscudi und der Formula conventionis mit
dem datum: Die mercurii XXIX Agusti*^)
1537 Mediolani. Matugliano heisst daselbst
procurator D. Gregorii Magalotii vice Legati et
Gubernatoris, agentis nomine D. Legati Bono-
niae und auch procurator 40 Reformatorum Sta-
tus libertatis civitatis Bononiae. Er verpflich-
tete sich zu lesen wie Jtuini und Parisio, Abends
um 21 Ubr, wenn die Glocke von S. Petronio
das Zeichen gab, la quale doveva suonare ,meza
hora al piü computati li botti et finita de suo-
nare li dottori senza aspettarsi Tun Faltro in-
continente entrano et comenzano le sue letioni
*) In diesem Briefe ist Zeile 2 maneggio zu lesen;
er ist datirt: 31 et ultimo d’Agosto.
**) So wohl zu lesen statt Agustis. Pag. 5 Zeile 11
lies: et Mag. ci.Anm. 1 letzte Zeüe lies della Prefettura.
Anm. 2 Zeile 4 lies Dissertazione und corrisponderebbe.
Pag. 7 Zeile 2 lies seioglier.
Podestä, Andrea Alciati. 763
et leggono un hora per il meno sotto pena di
soldo XX\ Die 1200 Goldscudi, welche Alciati
bekommen sollte, stellen (vgl. Vincenzo Bellini
sopra la lira marchesina) einen Werth von 9065
Lire 28 cent, dar; die Vorlesungen begannen
am 4. November. An diesem Tage erschien
aber nicht Alciati, sondern merkwürdiger Weise
ein Brief des Kard. Campeggio an die Reforma-
toren ans Rom, in welchem er sie auf die
Schwierigkeit aufmerksam machte, die der Lehr-
thätigkeit des Alciati in Bologna entgegenstän-
den, indem er auf einen beigeschlossenen Brief
des Kard. Marino Garacciolo (aus Mailand vom
27. Okt. 1537) hinwies. Dieser, früher Gesandter
Karls V., dann governatore von Mailand, von
Leo X. zum Protonotar, von Paul III. zum Kar-
dinal ernannt, machte darauf aufmerksam,
dass Alciati kaiserlicher Unterthan , zum Lesen
in Pavia verpflichtet und besoldet und vom
kais. Senat durchaus nicht entlassen sei ; mithin
könne er keine andern Verpflichtungen eingehen.
Es macht einen etwas komischen Eindruck, wenn
einem so weltberühmten Rechtsgelehrten eine
solche juristische Deduction gemacht wird. Als
er in Bourges war, konnte er Bembo wider-
stehen, der ihn nach Padua ziehen wollte; aber
um in Bologna lesen zu können , hat er sich
selbst slu Sadolet gewandt. Podestä schreibt
dies seinem unsteten, eitlen Charakter und sei-
ner Habgier zu. In Bourges hatte er ein sehr
gutes Einkommen, Franz I. und der Dauphin
besuchten seine Vorlesung. — und doch, was
war Bourges gegen Bologna? Für dieses war
seine Habsucht nicht entscheidend, da er in
Pavia 1500 Scudi bezog. Im Paveser Archive
findet sich, wie Prof. Gian Maria Bussedi mit-
theilt, ein Brief Alciati’s, in welchem es (um
764 Gott. gel. Anz. 1874. Stack 24.
1546) heisst: er könne eine viel grössere Somme
als 1500 Scudi in Padua und in Pisa bekom-
men und erhalte gegenwärtig in Ferrara auch
mehr. Es war der alte Ruf Bolognas, der ihm
über alles ging. Als er immer noch nicht kam,
nahm man Restauro mit 500 Dukaten in Aus-
sicht; zugleich aber citirten die 40 ihn öffent-
lich an der Ringhiera des Pallastes des Po-
destä*). Alciati solle den Verpflichtungen nach-
kommen, die er mit eigener Hand unterschrie-
ben habe , abgesehen von Notariatsinstrumenten,
die darüber aufgenommen seien. Das Hessen
die 40 an 3 aufeinander folgenden Tagen gß-
schehn. Als Alciati hievon hörte, wusste er sich
Urlaub vom Kard. Caracciolo zu erbitten und
erschien plötzlich in Bologna , trotz seiner
Säumniss freudig vom Senat, der ganzen Uni-
versität und der Bürgerschaft empfangen, die
ihm zu Ehren ein Fest veranstaltete. Am 25.
Jänner 1538 versammelten sich die 40 und be-
schlossen : D. Andrea Alciatus Maximus et Emi-
nentissimus Juris Civilis interpres , recte et
legitime pro almi Gymnasii Bononiensis utilitate
et omamento, in Album Doctorum, unde certis
de causis expunctus et erosus fuerat, quod ante
Senatum viva voce ut fieret mandavit, nunc fac-
tum per hoc suum senatus consultum factum
per fabas albas omnes XXVI comprobavit**).
Bald nachher, Juni 1538, wurde der Friede von
*) Ueber diese s. meine Anzeige von Fotesta: Sopra
2 statue erette a Giulio II e distrutte nei tumulti ecc.
in Zahn Jahrbücher der Kunstwissenschaft 1868.
**) In diesem Beschlüsse ist vorher zu lesen: Magni-
ficis und 2 Zeilen weiter: presentia. Der marchese del
Yasto gibt in seinem amtlichen Schreiben an die 40 un-
serm Alciati sogar den Titel: Magnificus, den die 40
selbst führten. Schreiben vom 7. Aug. 1539 aus Mailand,
Seite 14. S. 15 Z. 2 lies: disegnavano i.
Podestä, Andrea Alciati. 765
Nizza zwischen Earl V. und Franz I. geschlos-
sen, anf Drängen Pani DI. EarlV. behauptete
Mailand, wo dem Kard. Caracciolo Alfonso
d’Avalos Markgraf del Vasto folgte, ein ebenso
tüchtiger Staatsmann wie Feldherr, der unter
dem berühmten Marchese di Pescara, seinem
Oheim, den Krieg gelernt hatte, dem er dann
im Befehl der kais. Heere in Italien gefolgt
war ; auch den Wissenschaften war er hold und
nicht fremd. Da nun die Professoren in Pavia
während der Kriegszeit nicht verabschiedet wor-
den, auch die Gehalte ihnen nicht Vorbehalten
worden waren, so bestand del Vasto auf die
Rückkehr Alciati’s; man drohte mit Einziehung
seiner Güter in der Lombardei im Weigerungs-
fälle. Die 40 wandten sich nun an den Papst,
zumal da Alciati Kleriker war, und dieser setzte
sein Verbleiben bei Del Vasto, beziehungsweise
beim Kaiser durch; es wurden alle Hebel dabei
in Bewegung gesetzt; sogar an Gostanza Far-
nese wurde geschrieben. Diese, eine Tochter
von Alessandro Farnese , der später als Paul III.
den päpstl. Stuhl bestieg, war eine Anhängerin
von Karl V.; per lei, sagt Litta in seinen Fa-
miglie celebri itaüane, profuse il papa negli
Sforza di Santa Fiora le sue richezze; piü con
bolla 18. maggio 1539 contentö la di lei discen-
denza di larghissimi privilegi. Sie war nämlich
an Bosio II. Sforza, Sohn Friedrichs Grafen
von S. Fiora verheirathet. Aus vielen Briefen
der 40 geht hervor, dass sie sich öfter ihrer
Fürsprache bedienten, und dass sie grossen Ein-
fluss auf Paul HI. hatte. Im selben Archiv
della prefettura finden sich nicht wenige Briefe
von ihr selbst, unter denen sie sich Gostanza
Farnese Sforza unterzeichnet. Möchte Podestk
766 Gott. gel. Anz. 1874. Stfiek 24.
diese doch auch veröffentlichen *) ! Der Papst
richtete in der Sache ein Schreiben an den
Präses und die Senatoren des Consilium und
Senates von Mailand, gegeben Romae ap. S.
Marcum VI Augusti 1539 anno quinto, gezeich-
net: Bios, in welchem er sagt: Sed nos argu-
ments vobiscum agere nolunitis potius vos pa-
terna benevolentia hortamur etc. So wurde
um diesen Mann gestritten, den Franc. Corti
mehr wie den Teufel fürchtete, da er sagt: Ich
wollte lieber, dass der leibhaftige Satan (il
gran diavolo) nach dieser Universität (Padua)
käme , denn Alciato ; und Bembo schrieb : Wenn
Alciato kommt, bleiben von den Studenten in
Bologna nicht die Hälfte. In der That muss
man sich nicht wundern, dass Alciati Bologna
so hoch stellte; hier erfreuten sich die Dokto-
ren der Rechte der grössten Vorrechte. Hatte
doch Nikolaus IV. bestimmt (18. Aug. 1292),
dass die in Bologna Doktorirten überall ohne
Prüfung und Erlaubnis kanonisches und bürger-
liches Recht lehren dürften, und dass sie auch
ohne Amtsthätigkeit als Professoren betrachtet
werden sollten; die Zuhörer waren gleichfalls
besonders begünstigt: keiner durfte mit Gewalt
etwas von ihnen erpressen (Innoc. IV. 13. Jän-
ner 1252); die Fürsten sollten alle beschützen,
die nach Bologna zogen (Urban V. 1364); zur
Zeit des Alciati besassen sie eine Immunität
gleich der der Abgeordneten zum Parlament;
nur auf besonderen Befehl des Rektors konnten
*) S. 16 Z. 4 lies Marchese. In dem päpstl. Schrei-
ben Z. 4 von unten ist wohl vobis statt nobis zu le-
sen, sowie Z. 11 desselben: retrahitur. S. 17 Z. 19: ab-
sentia. S. 20 Text Z. 10 von unt.: si. S. 21 Z. 2:
mila; Anm. 1: Letters. S. 23 Absatz 4 Z. 5: Moti
viri; Z. 3 von unt contentis cumque.
Podestä, Andrea Alciati. 767
sie eingesperrt oder vorgeladen werden. Alciati
blieb nun vorläufig, wurde aber immer von
neuem zurückgefordert *). Magistrate, Feldherm,
Kaiser und Papst stritten sich um ihn. Schliess-
lich musste er doch Bologna verlassen**). Er
that dies zugleich mit Mattheo di Corte aus
Pavia, 1541. Dieser hatte 1538 einen Lehr-
stuhl für theoretische Medizin erhalten ; er hatte
einen ausserordentlichen Zudrang. Er ging nach
Florenz als Leibarzt von Herzog Cosimo I.,
starb aber kurz darauf in Pisa 1542. Leandro
Alberti zählt neben ihnen als besonders berühmte
Zeitgenossen in Bologna auf: Ludovico Bocca-
diferro, den Philosophen; Romolo Amario, Pro-
fessor der Griech. und Lat. Sprache; Agostino
Berö, den Rechtsgelehrten, Giulio Caccianimico
und Giovan Lodovico Bovio. Alciati starb in
Pavia am 12. Juni 1550.
Möge Podestä fortfahren, uns mit solchen
Veröffentlichungen zu bereichern.
Münster. Dr. Florenz Tourtual.
*) S. 25 Absatz 1 Z. 8 von unt. ist statt e wohl a
zu lesen ; Absatz 3 Z. 3 statt § wohl e. S. 26 Text Z. 7
von unt. aequievisse; Z. 3 von unt. re statt se. Anm. 1
della. S. 27 letzte Zeile: obtenta. S. 28 Z. 2: Ex. mi.
Links auf dem Rande: Eximium. S. 30 in der Auf-
schrift: Dni tanq. In dem Distichon: datque.
**) Das Ital. patria in jener Zeit hat nur die Bedeu-
tung von Land. Man sieht dies recht deutlich aus dem
Bride des Venezianers Kard. A. Contarini an die 40 vom
17. Febr. 1541 aus Mantua, in welchem er schreibt : et
in questa, et in ogni altra occorrenza a benefitio di
quella patria (Bologna) io sarb sempre prontissimo a
farli ogni comodo. Im Schreiben vom 23. März 1541
braucht derselbe dasselbe Wort , um das Pavesische zu
bezeichnen. S. 32 Absatz 2 Z. 2 lies importanza. S. 33
in der Aufschrift 1. Hl. mi. Verf. scheint die Correktur
nicht selbst gemacht zu haben.
770 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 24.
dass ferner Sophokles t atg Movöcug SHettiov & t
mV mncudsvikivmr*) tfvvfjysv (vgl. Bergk praef.
Soph. p. XIX. Helbig quaest. scaen. p. 3), so
erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die
Bildung solcher Vereine von Sophokles aus-
ging. Denn erst nachdem der Dichter so sich
ganz von der Darstellung auf der Bühne zurück-
gezogen hatte, konnte ein selbständiger Stand
der Schauspieler entstehn. Und eine Inschrift
(Lüders S. 70. 176) spricht noch von dem Cultus,
den der Verein der dramatischen Künstler dem
Apollon und den Musen gewidmet habe. Nicht
viel später als die Erwähnung bei Aristoteles
ist ein anderes, viel beredteres Zeugniss über
diesen Verein zu Athen. Denn über die Zeit,
in welche die zuerst von Kumanudes veröffent-
lichten Beschlüsse der Amphiktionen zu Gun-
sten dieses Vereins (bei Lüders S. 171 f.) ge-
hören, irren Lüders und Foucart. Lüders (S.
67) setzt den früheren in die Wende des 4.
Jahrhunderts, Foucart (S. 37) in die Jahre
225 — 189, aber Bücher (quaestt. amphictionicae.
Bonnae, 1870 p. 26 ff.) hat überzeugend darge-
than , dass der Beschluss bald nach der Schlacht
von Chaeronea gefasst sein müsse (vgl. meine
Abh. de ampbictionia delphica et hieromn.
attico p. 8). Den späteren Beschluss setzt
Foucart in die Jahre 189—172, Lüders sehr
unbestimmt »in die Zeit, da solche Bestimmun-
gen der Bestätigung der Börner bedurften, je-
doch sicher vor der Kaiserzeit«. Bücher aber
(S. 14) weist durch Vergleichung der Inschrift
bei Lebas vol. 2 Nr. 929 nach, dass er in die
Jahre 139 — 129 (oder vielmehr 137 — 127 : vgl.
meine angef. Abh. S. 5 Anm.) gehöre. Auch
*) Vgl. G. I. Gr. 8053: tmdiiZccro MsvsxXfc /una
xid-agag nktovaxig ra n Tifio&m xai üoXvidto — , xa&tjs
nQooijxsr aydgl mnatdtvjLiiyq).
Luders , Die dionysischen Künstler. 771
über die Zeit einer andern Inschrift, die über
Ordnung und Besitz des attischen Vereins
nähere Auskunft giebt, sind die Urtheile der
beiden Verfasser verschieden. Das Ereigniss,
auf welches sich der Beschluss des Vereins zu
Ehren seines Epimeleten Philemon bezieht, setzt
Lüders S. 68 mit Keil in d as J. 200, Foucart
S. 35 mit Lenormant in das J. 68 v. Chr.
Ebenso auch Dumont, Archontes Atheniens S.
112. Es ist schwer sich zu entscheiden, da
das Heiligthum des Vereins zu Eleusis ebenso-
gut, als Philippos von Makedonien Eleusis be-
lagerte, wie während der Belagerung Sullas
zerstört werden konnte und Lüders, der den
Stein selbst verglichen hat (S. 173 f.) und atti-
sche Epigraphik genau kennt, in den Buchsta-
ben keinen Grund gegen 200 gefunden hat wie
Lenormant. Aber die verhüllte Ausdrucksweise
Z. 12 tov tepivovs ävatqc&ivtog diä rijv xot-
vqv nsqiöxaoiv in Verbindung mit dem, was
Athenaeos 5 p. 212. D aus Poseidonios über
die Parteinahme der dionysischen Künstler für
Athenion erzählt, scheint mir eine gewisse Scheu
anzudeuten das durch ein römisches Heer Ge-
schehene römischer Kenntnissnahme in stärke-
rer Weise auszusetzen. Ich stimme also für
das spätere Jahr.
Nächst dem attischen Verein ist der Verein
in Teos, der alten Dionysosstadt, bei weitem
der gefeiertste und bedeutendste (Lüders S.
74 ff., Foucart S. 7f. und anderwärts, da er
nicht die einzelnen Vereine besonders, sondern
die Verhältnisse immer aller zusammen nach
den verschiedeneA Seiten ihrer Organisation be-
spricht), Hier ist in dem Verhältniss des atti-
schen und teischen Vereins ein dunkler Punkt,
den weder Lüders noch Foucart erörtert hat.
Eine Inschrift des teischen (Lüders S. 177 f. =
772 Gott. gel. Anz. 1874. Stfick 24.
«
.C. I. Gr. 3067 = Fröhner Inscr. gr. du Louvre
67) spricht von den Apollons und den
Entscheidungen der Bvasßictatoi in ndvmv %mv
‘ELUyVwv, d. i. der Amphiktionen, wie Lüders
und Foucart richtig erklären. Die teischen Be-
schlüsse zu Ehren des Kraton gehören aber in
die Zeit Eumenes II, 197 — 159 v. Ghr. (Lüders j
S. 76) und unter den Vorrechten, welche durch
die Amphiktionen dem teischen Verein verliehen
worden waren, ist auch das, an den Pythien j
und'Soterien in Delphoi, den Museien in Thespiae
und den Herakleien in Theben aufzutreten, die j
Soterien aber, wissen wir, wurden bald nach
279 v. Chr. von den Aetolern und Athenern ge-
stiftet. Welchem Verein gehören daher die vier
Berichte über Aufführungen an den Soterien an,
* die Lüders (nach Wescher und Foucart, Inscr.
recueillies ä Delphes p. 4 ff.) p. 187 ff. giebt und
S. 113 ff. ausführlich bespricht? Lüders theilt
sie dem teischen zu, Foucart S. 63 dem atti-
schen. Da die Athener das Fest mit gestiftet
und die Amphiktionen nicht lange vorher dem
attischen Verein grosse Vorrechte zugewiesen
hatten, auch von den erwähnten Künstlern viele
aus Athen, wenige aus Asien, die meisten vom
griechischen Festland sind, so scheint Foucart
Recht zu haben und die nachgesuchte Erneuerung
der Beschlüsse für den attischen Verein auf eine
in der Zeit zwischen 279 — 137 erfolgte Bevor-
zugung des teischen durch die Amphiktionen,
d. h. die Aetoler, hinzuweisen.
Auf Anderes einzugehn gebricht der Raum;
nur das eine sei noch erwähnt, dass der Druck
des Buches von Lüders etwas4 flüchtig besorgt
ist: die Zahlen der Inschriften sind im Text
fast alle um eine Stelle zu hoch, 46 für 45 u. s. w.,
und sehr viele Druckfehler finden sich namentlich
im Griechischen. H. Sauppe.
773
Gftttingisclie
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 25. 24. Juni 1874.
Unter den Patagoniern. Wanderun-
gen auf unbetretenem Boden von der Magalhäes-
Strasse bis zum Rio Negro yon George
Chaworth Musters, Gapitain in der britti-
schen Marine. Autorisirte Ausgabe für Deutsch-
land. Aus dem Englischen von J. E. A. Mar-
tin, Universitäts-Bibliotheks-Secretär in Jena.
Mit 9 Illustrationen in Ton- und Schwarzdruck
und 2 Karten. Jena, Hermann Costenoble 1873.
X und 342 Seiten. Gross Octav.
Schon bei Anzeige der noch erst bevor-
stehenden Publikation dieses Werkes, von dem
zuerst in den »Proceedings« der Roy. Geogr.
Society in London 1871 ein Auszug erschien,
bemerkte Dr. Petermann (Geogr. Mittheil. 1871.
S. 171), wie »sehr , willkommen die Nachricht
sei, dass es einem englischen Marine-Lieutenant
gelungen, von der Magalhäes-Strasse aus ganz
Patagonien bis zum Rio Negro zu durchwandern.
Das war vorher noch von Niemandem geschehen,
die Erforschung des Landes beschränkte sich
auf die Küsten-Gestade und einige Flussufer.
49
774 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
Hr. Musters hatte also einen bis dahin noch
unbekannten Landstrich unseres Planeten zuerst
erschlossen. Nachdem das Buch nun erschie-
nen, sieht man sich in der Hoffnung auf werth-
volle Aufschlüsse über die Naturbeschaffenheit
und Bevölkerung Patagoniens nicht getäuscht.
Freilich konnte Hr. Musters andere Instrumente
als einen Compass nicht mitnehmen: Höhen-
messungen, Gradbestimmungen u. dgl. m. bringt
er daher nicht. Aber mit Hülfe des Compasses
hat er »so sorgfältig als möglich« den Weg,
den er gezogen, aufgezeichnet (Vorwort S. V)
und mit einer ungewöhnlichen Ausführlichkeit
und Beharrlichkeit muss er sein Tagebuch ge-
führt haben, ungeachtet der vielfachen Störun-
gen, die ihm gerade bei seinem Schreiben be-
gegneten (z. B. S. 158). Es ist kaum begreif-
lich, wie er so genaue, ausführliche und offen-
bar auch wahrheitsgetreue Schilderungen der
ihn umgebenden Natur hat niederschreiben kön-
nen, ohne eigentlich Müsse dafür zu haben.
»Ich hielt es für gut, lesen wir S. 127, dass
ich keine Instrumente weiter mitgebracht hatte,
denn »das Schiessen nach der Sonne« würde
sicherlich als ein Stückchen Zauberei angesehen
worden sein, und jeden Tod oder Unfall, der
später eingetreten wäre , hätte man an dem
Kopfe des Zauberers heimgesucht. Schon dass
ich mir Notizen machte, wurde mit argwöhni-
scher Neugierde betrachtet und man erkundigte
sich, was es wohl an dem Orte gäbe, über das
man schreiben könne ; denn wenn der Tehuelche
es auch begreift, dass man Briefe an Freunde
oder Beamte schreibt, so sieht er doch durch?
aus nicht ein, warum man ein Tagebuch führt,
und ein »ungelehrter Indianer« würde wahr-
scheinlich , wenn er etwa argwöhnte , (dass
Musters, Unter den Patagoniern. 775
(um Burns’ Worte zu gebrauchen) »er es wirk-
lich werde drucken lassen«, nicht warten, bis
er das Buch »todtschlagen« kann, sondern allen
Recensenten vorgreifen und den voraussichtlichen
Verfasser selbst todtschlagen«. Bei so bewandten
Umständen hat Hr. Muster in der That Unge-
wöhnliches geleistet; denn nicht allein, dass er
auf seinen Märschen meistens Tag für Tag er-
zählt, was ihm begegnet, er beschreibt auch an-
schaulich und ausführlich den Boden, über den
er hinreitet, womit derselbe bestanden u. s. w.,
die Aussicht auf die benachbarten Ebenen oder
Gebirge, den Lauf der Flüsse u. s. w., so dass
man doch annehmen muss, dass seine ersten
Aufzeichnungen an Ort und Stelle schon sehr
genau und ausführlich gewesen sein müssen.
Auch zu den 9 Illustrationen seines Buchs hat
er die Skizzen gemacht, freilich nur in »rohen
Umrissen«, »aus welchen, wie es im Vorwort
S. VI heisst, Herr Zwecker mit geschickter
Hand die lebhaften und treuen Abbildungen ge-
schaffen hat, welche die Landschaft und das
Leben in Patagonien dem Leser vor Augen
stellen«. Von den Falklands-Inseln, wo er sich
im April 1869 aufhielt, kam er, nachdem er
seinen Reiseplan gemacht, nach der Possession
Bai am Eingänge der Magalhäes-Strasse, und
setzte hier zum ersten Mal seinen Fuss auf das
Festland Patagonien (S. 9). Merkwürdig, dass
ihm hier gleich die in Patagonien heimischen
Vierfüssler, ein Guanaco (Auchenia Huanäco H.
Sw.), dieses freilich todt, und ein Puma (Felis
concolor. L.) begegneten. Ersteres beschreibt
er weiterhin S. 135 u. ff., ebenso dort S. 138 u. ff.
den Strauss (Rhea Darwinii. Gould.), auch Nandu
genannt. In Punta Arena, der bekannten chi-
lenischen Ansiedelung, wird geankert und von
49*
776 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
hier aus die Wanderung zuerst in Begleitung
eines kleinen Streifcorps, welches Deserteure
einfangen sollte (S. 12 und S. 19 u. f.), ange-
treten. Das Corps commandirte Lieutenant
Gallapos und der von Hrn. Musters angenom-
mene Diener hiess «Paria. Der ganze Reiterzug
bestand aus 21 Pferden und brach am 19. April
auf: »ein schöner frostiger Morgen« schreibt
der Verf. S. 20. Dem aufmerksamen Leser
wird es nicht entgehen, dass, obwohl die Reise
des Verf. doch ein ganzes Jahr dauerte . (vom
19. April 1869 bis Ende Mai 1870) er fast im-
mer, wenn er vom Wetter und der Temperatur
spricht, von Schnee- und Gräupelwetter, kalten
schneidenden Winden u. dgl. m. redet. Gab es
denn nie Sommer? Wir finden S. 149 die Ant-
wort: »Um jene Zeit (im Novbr. 1869 kam ich
zu dem Schlüsse, dass der Sommer in diesen
Gegenden unbekannt sei, und dass das patago-
nische Jahr nur aus zwei Jahreszeiten — einem
strengen Winter und einem schlechten Frühling
bestehe. Die Indianer behaupteten jedoch, wäh-
rend der letzten zwei Jahre sei das Klima käl-
ter geworden«. Dieselbe Beobachtung hat man
an den Küsten auch gemacht : der in Folge des
Drehungsgesetzes in der gemässigten Zone der
südlichen Halbkugel vorherrschende Nordwest-
wind verursacht die reichlichen Niederschläge in
den patagonischen Anden, längs deren östlichen
Abhängen Hr. Musters hinzog, während aus
demselben Grunde das patagonische Tiefland
— die östliche Hälfte Patagoniens — einer
ausserordentlichen Dürre und Trockenheit aus-
gesetzt ist (vgl. Dan. Völter, Allg. Erdbeschrei-
bung Bd. II, S. 1092). Die Reise des Herrn
Musters und seiner Begleitung ging nicht sehr
schnell von Statten, man kam täglich nur we-
Muster , Unter den Patagoniern. 777
nige Meilen vorwärts, jagte häufig und spähte
nach den Deserteuren aus. Das erste Zusam-
mentreffen mit Eingebornen wird S. 32 u. f. ge-
schildert. Sam Slick, Sohn des Häuptlings Ca-
simiro, ritt ihnen entgegen und übernahm die
Führung der kleinen Caravane. So kam man
nach Santa Cruz. »Die gedeihende, wenn auch
kleine Stadt, die ich mir in der Phantasie ge-
träumt hatte, schreibt der Verf., wurde durch
ein einziges Haus vertreten«; doch fand er bei
Mr. Clarke, einem Bekannten von den Falklands-
Inseln, die freundlichste Aufnahme. Die Ansie-
delung liegt auf der Insel Pabon, die ungefähr
l1/* engl. Meilen lang und etwa 350 Meter breit
ist (S. 44). Hr. Musters beschreibt weitläufig
das tägliche Leben auf der Insel, die wenigen
hier angesiedelten Bewohner, ihre Beschäfti-
gungen u. s. w., besonders aber auch S. 53 u. ff.
den einigermas8en civilisirten Häuptling Casi-
miro, dessen Mutter eine Tehuelchin gewesen,
der von nun an der Begleiter des Verf wurde.
Ausser ihm gesellten sich noch vier, dem Verf.
bereits bekannte Indianer hinzu: Orkeke, Cam-
pan, Cayuke und Tankelow (S. 66). Im Juli
war die Witterung in Santa Cruz durchdringend
kalt; der niedrigste Stand des Thermometers,
nach welchem jeden Morgen pünktlich gesehen
wurde, war 8° F. (oder 10°, 66 R.). »Unsere
Kleider zu waschen wurde unmöglich, da wäh-
rend des Waschens das Wasser gefror und die
Kleidungsstücke so steif wie Bretter wurden«.
»Auf den Pampas schien es, wenn der grimmige
Südwind blies, wie es fast immer der Fall war,
unmöglich ihm entgegenzugehen, ohne rasch die
Kräfte zu verlieren«. »Der Schnee lag achtzehn
Zoll hoch — wir dankten Gott, dass wir von
den öden sturmgepeitschten Pampas, wenn auch
778 Gott. gel. An z. 1874. Stück 25.
langsam und mit Mühe, doch glücklich wieder
herunterkamen« (S. 64 u. f.). Die Weiterreise am
9. August nahm eine nordwestliche Richtung in
das Thal des Rio Chico, dessen Mündung sich
mit der des Rio Santa (s. die Karte) vereinigt.
Hier fand sich die ganze Horde zusammen,
darunter achtzehn Tehuelchen oder patagoni«
sehe Männer, nebst einer verhältnissmässigen
Anzahl Frauen und Kindern. Die ganze Gesell-
schaft wurde in 5 Toldos (indianische Zelte)
untergebracht (S. 76 u. ff.). Interessant ist die
Zählung der Bevölkerung, die der Verf. hier
anschliesst: »zwischen dem Rio Negro und der
Magalhäes-Strasse (also etwa zwischen 40 und
53 Grad südl. Breite) giebt es jetzt gegen fünf-
hundert streitbare Männer, die nach einer un-
gefähren Schätzung eine Bevölkerung von etwa
dreitausend Seelen ausmachen (S. 79). Andere
Angaben, die aber weniger Glaubwürdigkeit ver-
dienen, gehen über diese Zahl hinaus (vgl.
Behm und Wagner, die Bevölkerung der Erde
in Dr. Petermann’s Geogr. Mittheilungen, Er-
gänzungsheft No. 35 (1874) S. 78). Die Te-
huelchen oder eigentlichen Patagonier theilen
sich in zwei Stämme, den nördlichen und den
südlichen; sie reden dieselbe Sprache, nur mit
verschiedenem Accent ; die Grenze zwischen ihnen
bildet die weite Strecke, die zwischen dem Rio
Chupat und dem Rio Santa Cruz liegt. Ein
zweites Volk sind die Pampas-Indianer, Penck
genannt, nördlich vom Rio Negro, ein drittes
die Manganeros, auch Chenea oder Krieger ge-
nannt, deren Hauptquartier Las Manzanas in
den Cordilleren ist (S. 79 u. 80). Man zog das
Thal des Rio Chico in nordwestlicher Richtung
hinauf. Der Fluss war zugefroren (im August),
die Witterung kalt, schneidende Westwinde alle
Muster, Unter den Patagoniern. 779
Tage, Schneegestöber dann und wann. Mitunter
erweiterte sich das Thal zu breiten grasbedeck-
ten Ebenen, dann erhob sich wieder ein hoher
kahler Bergrücken und ein wellenförmiges Ter-
rain mit furchenähnlichen Erhöhungen und Ver-
tiefungen, auch zeigten sich Flecke sumpfigen
Bodens mit gefrornen Lagunen, hie und da
offene Quellen, bei denen viele Wasservögel.
Bisweilen traten sehr schroffe Hügel von Basalt
bis hart an den Fluss heran, — so der M6-
waisch, 120 engl. Meilen von Santa Cruz, —
die wie verfallene Burgen aussahen. Am Fuss
dieser Hügel bestand der Boden an vielen Stel-
len ganz aus Lava (S. 84 u. f.). Der Rio Chico
kommt, wie derVerf. vermuthet, aus dem schon
seit 1780 bekannten Viedma-See, der südwärts
von der Reiseroute lag; darnach würde er in
seinem Oberlauf von Süden nach Norden strö-
men und erst nachdem er aus dem See heraus-
getreten, sich nach Osten wenden (S. 91). Ein
Kampf zwischen den nördlichen und südlichen
Tehuelchen unterbrach den Frieden der Cara-
vane (S. 90 u. 91). Am 5. Septbr. ward das
Flussthal verlassen und wandte man sich nord-
wärts in »ein unebenes Thal, welches zwischen
niedrigen unregelmässigen Hügeln von zersetzter
Lava lag«. Nach einem Marsch von einigen
Stunden näherte man sich den etwa tausend
Fuss hohen Ausläufern der Cordilleren, die hier
eine grosse Ebene begrenzen. Durch die eilen-
den Wolken und das Schneegestöber hindurch
sah man gelegentlich nur die höheren Spitzen
des entfernteren Gebirges. Auf jener dürren
Ebene lagen kleine Stücke Porphyr, Quarz,
Kiesel und Obsidian, auch verkieseltes (verstei-
nertes?) Holz. Weiter kam man an einen klei-
nen reissenden Strom, der eine grasreiche Ebene
780 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
bewässerte und in östlicher Richtung floss (S.
93 u. ff.); das erste strömende Wasser, dem man
begegnete, seitdem man das Thal des Rio Chico
verlassen. Die Gegend, die in den nächsten
Tagen durchzogen wurde, trug einen ähnlichen
Character, abwechselnd Hügel, die überschritt
ten werden mussten, und Ebenen. Bisweilen
kam eine Schlucht von grösserem oder geringe-
rem Umfange, so z. B. die S. 98 geschilderte,
ausnehmend wüste von düsteren jähen Klippen-
wänden eingescblos8ene Corrie (d. h. Berg-
schlucht), durch welche schäumend ein Giess-
bach hindurch eilte. Der Boden schien hier
durch vulkanische Kraft erschüttert und ge-
sprengt worden zu sein, auch fehlte, einige
seichte Lagunen ausgenommen, Wasser. Ein
weidereicher Thalgrund lud zu einer dreitägigen
Rast an einem der nächsten Marschtage ein.
Am 27. Septbr. erreichte man einen an einem
reissenden Fluss gelegenen Ort Namens Gelgel,
»einen Punkt, an welchem jede Wanderhorde,
die auf den westlichen Ebenen jagen will, von
dem nach Patagones (Rio Negro) führenden nörd-
lichen Wege abgeht« (S. 102). Der Marsch
ging fortwährend in nördlicher Richtung weiter:
am 3. October nach dem Hügel Tele, am 5.,
nachdem ein Fluss überschritten war, nach
Yölke, auf einer Halbinsel gelegen (S. 106), am
9ten nach Yaiken- Kaimak, wo in der Nähe
einer schönen kreisförmigen Quelle, wie solche
in Patagonien häufig Vorkommen, die Toldos
aufgeschlagen wurden (ibid.). Am 16ten Octo-
ber Abends wurde Pelmecken, nahe an dem be-
waldeten Rio Sengel, erreicht. Eher kam es zu
einem Kampf innerhalb der Horde, unter wel-
cher Anarchie herrschte , wodurch auch der
Yerf. an seinem Leben bedroht wurde. Doch
Musters, Unter den Patagoniern. 781
trat wieder eine bessere Stimmung ein und man
zog weiter nordwärts, einer Hügelkette folgend.
Die Frauen sammelten eine beträchtliche Menge
Kartoffeln. Bei dem Sammelplatz Henno (am
3ten Novbr.) erschien ein Haufe der nördlichen
Indianer oder Tehuelchen, die unter des Häupt-
lings Hinchel Befehl standen, und wurde feier-
lich bewillkommt. Ein Bild zwischen S. 118 u.
119 veranschaulicht diese Ceremonie, ein mili-
tärisches Reitermanöver. Hinchel war ein in
jeder Hinsicht achtungswerther Mann. Ein
durch ihn berufenes Parlomento (ein Kriegsrath)
ernannte Casimiro zum commandirenden Häupt-
ling der Tehuelchen und beschloss den Marsch
nach Teckel und von da nach Las Manzanas,
um sich dort mit den araucanischen Indianern
zu vereinigen (S. 121). Zwei Tage später tra-
fen die Indianer vom Rio Chupat ein, 70 — 80
Männer nebst Frauen und Kindern, kurze, mus-
kulöse Leute, heller von Farbe und reinlicher,
als die anderen. Ihr Häuptling hiess Jackechan,
ein höchst intelligenter Mann, der Spanisch,
Pampa und Tehuelcbe fliessend sprach, dessen
Bekanntschaft mit dem Verf. zu einer festen
gegenseitigen Freundschaft wurde. Hier in die-
sem geräumigen grasreichen Thale (12 Meilen
lang und 4 Meilen breit), welches von Hügeln
eingeschlossen war (nach der Karte ein wenig
nördlich vom 44° süal. Breite) wurde das Wet-
ter (im Novbr.) heiter und sonnig, an wind-
stillen Tagen auch warm und war« es, da es
keinen Regen gab, fast wie Sommer. Der West-
wind aber brachte schneidende Kälte. Die
Voraussicht einer Campagne mit den nördlichen
Indianern , deren Gebiet man sich näherte,
machte eine längere Ruhe nöthig, und nachdem
nun alle Zwistigkeiten beigelegt waren, gestaltete
782 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
sich das Leben friedlich und genussreich. Der
Verf. war jetzt bereits so ganz vertraut gewor-
den mit der Lebensweise dieser ruhelosen No-
maden, die nirgend eine bleibende Stätte haben,
sondern sich Jagd- und Weidegründe suchen,
wo es ihnen gefällt, dass er sich unter ihnen
wohl fühlte. Am 18ten Novbr. brach man das
Lager ab und zog weiter nach Chiriq (S. 128).
Hier wurde auch jetzt, wie schon früher ge-
schehen, ein starker Knall gehört und Rauch-
säulen gesehen, wahrscheinlich vulkanische In-
tonationen, wie Hr. Musters muthmasste, aber
nach der Meinung der Indianer entweder von
einem noch unbekannten Stamme oder von einer
verborgenen oder verzauberten Stadt herrüh-
rührend. Dieser Glaube beruht auf verschiede-
nen Sagen von dergleichen Städten, deren der
Verf. hier erwähnt (S. 139 u. ff.); sie hängen
mit der Geschichte der Eroberung durch die
Spanier zusammen. Bei dem Aufbruch von
Chiriq marschirte Hinchel mit seiner Horde
südwestlich, der Verf. blieb bei der anderen
Horde, die gen Nordwesten weiterzog (S. 147).
Es war eine wildreiche Gegend, die Witterung
stürmisch und kalt (Ende Novbr.). Nach eini-
gen weiteren Tagemärschen traf ein Bote aus
Santa Cruz mit Briefen ein, leider auch mit
Rum, was zu einem Trinkgelag Veranlassung
gab. Am 12. Decbr. bewegte sich der Zug über
die Ebene Gisk. In der Nähe fand der Verf.
eine ausserordentlich romantische Gegend (S.
153), aber das Wetter blieb sehr stürmisch und
regnicht. Weiterhin waren grasreiche Weiden,
im Westen lagen die waldbedeckten Gebirge,
deren Gipfel theilweise in Schnee gehüllt. Bei
Gogomenykonik ward Halt gemacht. ZurOrien-
tirung auf diesem durch Hügel und Flüsse ver-
Musters, Unter den Patagonien). 783
wickelten Wege dient eine kleine besondere
Kartenskizze (S. 168). Ein Jagdausflug auf
wilde Kinder führte in die Wälder derCordille-
ren. »Die Bäume waren an verschiedenen Stel-
len abgestorben, sie waren nicht durch Feuer
geschwärzt, sondern standen wie geisterhafte
gebleichte und nackte Gerippe da«. Ein solcher
Gürtel von abgestorbenen Bäumen zieht sich
auf der Ostseite der Cordillera am Saum aller
Wälder hin. Darnach kam der aus lebenden
Bäumen bestehende Wald, das Unterholz Jo-
hannisbeer-, Lorbeer- und andere Büsche, hie
und da Beete gelber Veilchen und überall die
unvermeidlichen Erdbeerpflanzen. Ein Fluss
war das Anzeichen einer Wasserscheide. »Die
Landschaft war schön: gerade unter uns lag
ein Thal, ungefähr eine englische Meile breit;
am südlichen Rande bezeichnete eine silber-
farbene Linie den östlichen Fluss und am nörd-
lichen Rande eine gleiche Linie denjenigen der
in den Stillen Ocean ausmündete, während über
uns auf beiden Seiten hohe, mit Vegetation und
fast undurchdringlichen Wäldern bedeckte Berge
sich erhoben. Auf der Westseite des Thaies
nahm ein einsamer Bulle gemächlich sein Früh-
stück zu sich, und über dem Felsen, auf dem
wir standen, schlug ein gewaltig grosser Condor
träg mit seinen Schwingen«. Diese Naturschil-
derungen der grossartigen Wald- und Bergland-
schaften setzen sich noch einige Seiten fort.
Die Rinderjagd, bei welcher der Verf. selbst
noch in Gefahr kam und zwei Rippen brach,
auch ein Indianer kopfüber geschleudert wurde,
blieb erfolglos, daher auf dem Weihnachtstisch
das Rindfleisch fehlte: »soviel Hunger habe ich
an diesem Feste nie gelitten U ruft der Verf.
aus (S. 165). Casimiro, der sich entfernt hatte,
784 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
kehrte am 11. Januar 1870 zurück und die
Horde verweilte bis zum 20ten Januar noch in
dem nahe dem Rio Chupat gelegenen Lager
Teckel. An dieser Stelle unterbricht Hr. Muster
seine Erzählung durch eine Schilderung der
Sitten und Gebräuche der Tehuelchen oder
Tsonekas, wie sie sich selbst nennen, Kap. V,
S. 171 — 201. Darin folgen wir ihm nicht, son-
dern begleiten den Weitermarsch der Horden,
die 200 Mann stark am 21. Januar sich zum
Vorrücken anschicken, um sich den Araucanos
anzuschliessen (S. 202). Man näherte sich
einer unter dem Häuptling Quintuhual stehen-
den Horde. Guanacos waren selten, Strausse
gab es viele und Armadille in Ueberfluss. Der
Lagerplatz hiess Woolkein (S. 205). Darüber
hinaus traf man mit Araucaniern (auch Manza-
neros genannt) zusammen. Eine Rathsversamm-
lung brachte Quintuhual zu dem Entschluss,
»seine Horde mit den Tehuelchen zu vereinigen
und unter Casimiro’s Banner nach Las Manza-
nas zu ziehen« (S. 209). Aus Furcht vor einem
feindlichen Zusammenstoss mit den Aurecanos
zogen am 5. Februar Jackechan und zwei Tol-
dos nach Nordosten direct in der Richtung von
Chupat. Der Verf. mit den Uebrigen zog nord-
wärts. »Hier (auf etwa 42° südl. Br.) änderte
sich der Character des Landes. Wir zogen
nicht mehr über Pampas mit ihrer traurigen
Einförmigkeit, schreibt der Verf., sondern rei-
sten durch ebene Thäler von zwei bis drei eng-
lische Meilen Breite, die von Bächen, an wel-
chen verkümmerte Bäume standen, durchflossen
und reich an Wild waren. Die allgemeine Rich-
tung der die Thäler trennenden Hügel, die runde
Dünen und dann und wann zerrissene und vom
Wasser ausgespülte Klippen bildeten, war von
Musters, Unter den Patagomera. 785
Ost nach West; es schien, als wären sie als
Ausläufer von der Cordillera entsendet, von der
jedoch ihre westlichen Fiisse (?) durch ein sich
oft zu einer Gebirgsschlucht verengendes ‘Thal
getrennt waren, in welchem ein Wasser nach
Norden hinabfloss« (S. 211 u. f.). Gelegentlich,
als es an Fleisch mangelte, lehrte der Verf. die
Tehuelchen Fische fangen und essen, wogegen
sie bisher grosse Abneigung gezeigt hatten (S.
214). Am 12ten Februar befand sich die Horde
wieder auf dem Marsch nach der Station Billy-
haik (nördlich von Diplkaik, die aber auf der
Karte nicht angegeben ist) ; »die herrlich warme
Witterung, die — es war ein Wunderl — fort-
dauerte, machte unseren Aufenthalt (auf dieser
Station) höchst genussreich und wir schwelgten
in den einfachen Freuden, die der Wald bot«.
(So der Verf. S. 215). Der Ort mit seinen
blumenreichen und schattigen Plätzen war ein
Paradies (S. 217); »ein schönerer Anblick hat
sich meinem Auge noch nirgends geboten«,
schreibt Hr. Musters. Am löten Februar, nach-
dem das Lager abgebrochen, zog sich der Weg,
als man jenes reizende Thal verlassen hatte,
fiber eine Reihe kahler und steiniger Terrassen
hin. Aehnlich blieb das Land an den folgenden
Marschtagen, worauf man auf das Lager des
Häuptlings Foyel stiess. Dieser war, freilich
nur um des eignen Vortheils willen, gegen Euro-
päer (Christen) friedlich gesinnt (S. 229). West-
lich von der Marschroute lag der Na-huel-huapi-
See (ebendas.). In Geylum kamen Manzaneros
vom Norden und brachten selbstbereiteten Aepfel-
wein. Für den 2. April war der Häuptling der
Manzaneros Cheoeque bereit, die Tehuelchen
zu empfangen (S. 233). Die Gegend war steril,
auch arm an Wild, man litt Hunger, dazu war
786 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
das Wetter kalt und nass. Von einem etwa
2000 Fuss hohen Berge aus sah man »einige
30 Meilen entfernt eine dunkle Linie, die wie
ein tiefer Durchstich aussah und das Thal des
Rio Limay bezeichnete, das auf der Westseite
durch hohe bewaldete Berge mit steil abstürzen-
den Wänden begrenzt wurde. Weit nach Nord-
westen stand ein sehr hoher schneeumhüllter
Berg, den die Strahlen der uutergehenden Sonne
mit rosenfarbigem Licht übergossen. Zwischen
letzterem und der Linie des Flusses erhoben
sich bewaldete Hügelreihen , die eigentlichen
Aepfelhaine, von welchen wir soviel gehört hat-
ten«. Dahinter lagen, aber nicht sichtbar, die
Toldos des Häuptlings Cheoeque und seiner In-
dianer (S. 235). Nach zwei Tagemärseben be-
fand man sich im Lager der Las Manzanas, wo
die Friedensversicherungen erneuert wurden (S.
243). Foyel und Quintuhuali mit ihren Leuten
zogen südwärts (S. 248). Hr. Musters hatte
Gelegenheit sich von dem grossen Ansehen zu
überzeugen, in welchem der Cacique Cheoeque
bei den Aurecaniern steht. »Auch war die
Ueberlegenheit dieser halbcivilisirten Indianer
über ihre südlichen Nachbarn in jeder Hinsicht,
nur die Körperkraft ausgenommen, augenschein-
lich. Ihre festen Wohnsitze in einer frucht-
baren Gegend in der Nähe der Aepfel- und
Araucarienhaine bieten ihnen über die nomadi-
sirenden Patagonier grosse Vorth eile« S. 253 u. t).
Der Verf. kehrte nach Verlauf von beinahe 14
Tagen nach Geylum zurück und ritt von dort
am 17. April gen Osten ab nach Patagones;
Casimiro mit seiner Horde begleitete ihn. Neun
Tagemärsche entfernt, durch eine armselige Ge-
gend, lag nach der Beschreibung der Indianer,
die erste Station Margenscho. Allerdings war
Musters, Unter den Patagoniern. 787
die Gegend sehr unfruchtbar, zumTheil felsigt.
An einer Stelle schien die Erde in Brand zu
stehen, die Pferde traten durch die erhitzte
Oberfläche ein und verbrannten sich die Füsse.
Da es in der Nähe heisse Quellen giebt, schien
die Ursache eine vulkanische zu sein (S. 268).
Lava und Bimsstein von nicht gerade hohem
Alter lagen auf den Hügeln umher. Leider
wurde die Reise durch eine seuchenartige Krank-
heit, die auch den Verf. ergriff und alle miss-
müthig stimmte, sehr erschwert (S. 272 u. f.).
Auch auf die Beobachtungen des Verf. hatte die
Krankheit einen nachtheiligen Einfluss : seine
Erinnerungen, schreibt er, waren verworren,
Notizen machte er nur wenige, seinen Compass
hatte er dem Häuptling Foyel geschenkt u. s. w.
Aber er erinnerte sich auch, dass dieser Di-
strict im Aufträge der argentinischen Regierung
von einem gelehrten Manne durchreist und ge-
nau vermessen und beschrieben worden sei (S.
272). Es genügt daher nur noch einiges We-
nige hier zu bemerken. Die Krankheit dauerte
ohne Unterbrechung fort und forderte ihre
Opfer, namentlich Kinder, von denen bis nach
Margenscho fast die Hälfte starb, dazu mehrere
ältere Leute (S. 276). Die Witterung brachte
reichlich Regen. Am 19. Mai endlich kam man
in Margenscho an. Von hier aus zog Hr. Mu-
sters nun allein weiter, nur von zwei Männern
begleitet, und zwar als Chasqui oder Herold
der Häuptlinge, deren Aufträge er nach Pata-
gones zu überbringen sich erboten hatte (S.
281). Die Reise wurde möglichst rasch fortge-
setzt, man ritt, wenn es sich irgend thun liess,
in Galopp — ein Chasqui ist verpflichtet, so
schnell als möglich zu reisen. In guter Laune
wurden alle Beschwerden, die der Ritt mit sich
788 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
brachte, ertragen; selbst salzfreies Wasser
fehlte. Nach einigen Tagereisen kam man ans
einer bewaldeten Gegend heraus über »eine
Reihe hoher Pampas, welche voll kleiner Granit-
blöcke lagen, die genau wie Pflastersteine aus-
sahen und so dicht und regelmässig hingestellt
waren, als ob es Pflasterer gemacht hätten* (S.
285). Die nächste Station, wo man auf lagernde
Indianer traf, war Trinita; die Aufnahme war
zuvorkommend. Kaum eine Tagereise weiter
liegt Valchita. Von hier ab ging es aufwärts
nach der Trevisia oder Wüste, die auf einem
Hochplateau lag. Sie war eine grenzenlose,
traurige-öde Fläche, voll kleiner Steine und mit
4 bis 12 Fuss hohen Sträuchern besetzt, ohne
alle Lebenszeichen (S. 292). Noch zwei Tage-
reisen und es zeigte sich das Meer, die Gegend
wurde wellenförmig und ab und an sah man
»die Einfahrt, die den Namen Laco de San
Antonio führt« (S. 294; auch Golf San Matias
genannt, s. d. Karte). Die Wüste zwischen dem
Valchitas-Gebirge und dem Rio Negro bildet
die Ostgrenze von Patagonien, eine Scheide
auch für die Flora und Fauna (S. 294). Am
4ten Tage zeigte sich das Thal des Rio Negro,
bestanden mit grossen Weiden. Welche Freudei
»Das Gefühl , glücklich aus der Wüste heraus
und in die Ansiedelungen gekommen zu sein
versetzte uns, obgleich wir grossen Hunger hat-
ten , in die heiterste Stimmung«. Aber als der
Verf. am folgenden Tage bei der Guardia, der
eigentlichen Ansiedelung, ankam, da freilich wa-
ren seine Vorstellungen, die er sich nach den
phantastischen Beschreibungen der Indianer ge-
macht hatte, verschwunden. Ein kleines Fort
mit Einem Geschütz , eine Kaserne und einige
Häuser , eine unvollendete Kirche, das ist alles.
Masters, Unter den Patagoniern. 789
Bie Einwohner waren auch nicht liebenswürdig
(S. 299). Am nächsten Tage Weiterreise nach
dem noch 18 Stunden entfernten Patagones, des-
sen Anblick doch ziemlich imposant war. Da
die Stadt, wider Erwarten des Verf., bisher noch
von Keinem ausführlich beschrieben worden, so
unternimmt er dies im letzten (9ten) Kapitel
seines Buchs (S. 305 bis 337). Er berichtet
aber nur nach seinen Erinnerungen, jedoch sind
seine Mittheilungen in Ermangelung anderer,
sehr schätzenswerth. Sie beschreiben die Lage,
die Gründung, die Bevölkerung, die Geschichte
der Stadt, ihren Handel, ihre Zukunft u. s. w.
Dann folgen die Berichte über die Verabschie-
dung des Verf. von den Tehuelchen, seinen bis-
. herigen Wirthen und Begleitern, die geselligen
Unterhaltungen (S. 335). Der Dampfer, auf
welchem er nach Buenos-Ayres fahren will, ge-
räth auf eine Sandbank; erst nach mehrfachen
Verzögerungen bringt ihn ein holländischer Schoo-
ner nach einer stürmischen Fahrt von sechs Ta-
gen dahin. So endete diese kühne Wanderung
durch einen bisher noch unbekannten Land-
strich, die Hm. Musters, der sich ganz und
gar der Lebensweise der nomadisirenden Einge-
bomen anzuschliessen verstand, reichlich Ge-
legenheit gab sie selbst, ihre Sitten und Ge-
bräuche gründlich kennen zu lernen, die er, wie
schon erwähnt, in einem eigenen Kap. (V.) aus-
führlich beschreibt, während auch sein Reise-
bericht an manchen Stellen von dahin gehöri-
gen Schilderungen durchflochten ist. Die Wis-
senschaft der Ethnographie hat dadurch eine
willkommene und werthvolle Bereicherung er-
fahren, sowie auch die Sprachwissenschaft den
Inhalt des ersten Anhangs (S. 338—341) »ein
kurzes Verzeichniss von Wörtern aus der
50
790 Gott, geh Abz. 1874. Stück 25.
Tsoneca-Sprache ; wie die nördlichen Tehuel-
chen sie sprechen« nicht unbeachtet lassen wird.
Diesen Wörtern sind S. 341 noch einige Sätze
hinzugefügt. Ein zweiter Anhang enthält die
Zeugnisse der auf einander folgenden Beisenden
seit 1520 von der Körpergrösse der Patagonier
(S. 342, vgl. auch S. 169 u.f.). Die Einleitung
S. 1 bis 6 gedenkt kurz der früheren nach Pa-
tagonien gemachten Reisen und der Versuche
dort Colonien zu gründen. Der Verf. hätte
hier auch noch auf das Werk von W. Parker
Snow, A two years cruise of Tierra Del Fuego,
the Falklands islands, Patagonia and in the
river Plate. Vol. II. London 1857 verweisen
können. — Jedem Kapitel ist eine kurze Inhalts-
angabe als Ueberschrift beigegeben. Die 9 Illu-
strationen sind meistens Darstellungen land-
schaftlicher Seen erien. Das Werk reiht sich den
übrigen von der Verlagshandlung bereits seit
mehreren Jahren herausgegebenen neuen wich-
tigen Reisewerken an und ist wie diese ange-
messen ausgestattet. Die Uebersetzung liest sich
leicht und angenehm.
Altona. Dr. Biematzki.
Vielgewandts Sprüche und Groa’s Zauber-
gesang. (Fiöls vinnsmal- Grougaldr). Zwei nor-
ränische Gedichte der Saemunds-Edda kritisch
hergestellt, übersetzt und erklärt von Dr. Fried-
rich Wilh. Bergmann, Prof, an der philos.
Facultät in Strassburg. Strassburg, Verlag von
Karl J. Trübner; 1874. III und 186 Seiten
Octav.
Unter der nicht gar zu grossen Zahl der
Bergmann, Vielgewandts Sprüche etc. 791
gründlichen Kenner der nordischen Sprachen
und Mythologie, namentlich aber der Eddafor-
scher, nimmt Bergmann unbestreitbar eine her-
vorragende Stelle ein, wie aus seinen mehr-
fachen Arbeiten auf dem betreffenden Gebiete
hinlänglich erhellt, von denen ich die letzt-
erschienene (Das Graubartslied) an dieser Stelle
1872 S. 1851 eingehend besprochen. Was die
beiden vorliegenden Gedichte betrifft, so be-
merkt B. zuvörderst, dass das erste derselben
zu den mythologischen Liedern der Sae-
munds-Edda gehöre, diese aber in zwei Klassen
zerfallen, nämlich in solche, die allgemein be-
kannte Mythen episch erzählen, und in solche,
die bei dem Volke mehr oder weniger in Ver-
gessenheit gekommene mythische Gegenstände
von neuem lehren und didaktisch vortragen;
diesen letztem reihen sich auch Fiölsvinnsmäl
oder Vielgewandts Sprüche an, die sich nament-
lich auf den Mytbencyclus der Göttin Freyia
beziehen. Diese war, nach B.’s Ansicht, ur-
sprünglich die Personification des zu- und ab-
nehmenden Mondes und wurde als solche später
auch einerseits zur Göttin der Entstehung, des
Wachsthums und des Lebens, andererseits der
Vernichtung und des Todes. In ersterer Eigen-
schaft wurde sie auch zur Göttin der Liebe und
des Heils und das Symbol und Ideal der Frau
(freyia) und der Jungfrau (mey). Die halbver-
gessenen Attribute, Anschauungen und Namen
dieser Göttin nun hat der Verf. des Gedichts
zum Gegenstand seiner mythologischen Beleh-
rung gemacht, wobei, wie auch sonst in didak-
tischen Dichtungen oft geschieht, die ursprüng-
liche Form des Dialogs beibehalten und die
darin auftretenden Persönlichkeiten gleichsam
als geschichtlich mit Angabe des Orts, der Zeit
50*
792 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
so wie der Umstände episch vorgefuhrt werden
und den poetischen Kähmen bilden. In dem
Folgenden entwickelt B. die oben erwähnte my-
thologische Bedeutung Freyia’s (Menglöds) des
weitern und vergleicht unter andern die indi-
sche Mondgöttin Qiva-Käli , welche zugleich Göt-
tin des Lebens und des Todes ist, wie Artemis
(Lucina, Luna) die Gottheit der Geburt und der
vernichtenden Jagd. Auch sonst stelle der Be-
griff Natur, welcher ursprünglich die Ent-
stehung der Dinge ausdrücke, factisch zugleich
deren endliche Vernichtung dar, da ja alles
Weltliche entsteht und vergeht, wobei B. auch
auf Aphrodite’s Beinamen Hades, Skotia, Epi-
tymbia, Tymborychos, so wie auf Venus-Libitina
hätte hinweisen können. Wenn ferner die Mond-
göttin Freyia zugleich als Symbol des Frauen-
und Mutterthums, sowie der Jungfräulichkeit
erscheint, so war, wie B. erwähnt, auch bei
den Indern Bhaväni-Qivä zugleich Mutter und
Jungfrau und bei den Griechen Artemis sowohl
die jungfräuliche Göttin, wie (in Ephesus) die
vielerzeugende, vielernährende Mutter (in Betreff
des Wortes amazon , welches T5. durch »viel-
brüstig« erklärt, vgl. die abweichende Meinung
Mordtmann’s in dessen Amazonen. Hannover
1862 S. 59 f. 77 ff.). Hierbei will ich daran er-
innern, dass auch in alten babylonischen Dar-
stellungen die jungfräuliche Himmelskönigin von
dem Monde und ihr Gemahl der König von der
Sonne begleitet und damit identificirt ist, so
wie auch in römisch-katholischen Abbildungen
die säugende Jungfrau Maria sich von Sonne
und Mond umgeben findet; s. Inman, Ancient
Faiths. London 1873. H, 259 f. Weiter bemerkt
B., dass in dem spätem gotho-germanischen
Mythus der ursprünglich personificirte Morgen-
Bergmann, Vielgewandts Sprüche etc. 793
und Abendstern Brusi (Zeugungslustiger) hiess,
dann als blosses Gestirn und glänzende Zierde
des Himmels das Geschmeide (altn. men,
sanscr. mani, lat. monile , hebr. meni Möndchen)
der Brusin ger (Nachkommen Brusi’s) genannt
wurde, welches Freyia, die frühere Geliebte
Brusi’s, als Halsband zum Schmucke trug (Bri-
singamen), weswegen sie auch den epithetischen
Namen M engl öd (geschmeidefreudige) erhielt.
Eine wichtige Rolle spielt ferner in dem vor-
liegenden Gedichte Svipdagr (Schwipptag, Schnell-
tag); er bezeichnet den schnell tägigen, lichten
Sommer und ist identisch mit OB r (Sommer-
wind), dem Sohne SvasuBr’s (des Süsswindes).
In dieser Beziehung wurde er auch als der Ge-
liebte der lichten sommerlichen Freyia betrach-
tet, wie Osiris (Sommersonne) in Aegypten der
Geliebte der Isis (Mondgöttin) war. Der Grund
der Trennung der beiden Liebenden durch das
Schicksal lag, nach dem ältern symbolischen
Mythus, in dem naturgemässen jährlichen Ein-
tritt des Winters, der sie auf ein Jahr von
einander schied. Dieser ursprünglich symbolische
Naturmythus wurde immer epischer und so kam
es, dass später das Sonnenjahr, während des-
sen Svipdagr und Menglöd von einander getrennt
waren, zu einem Weltjahr der Götter, d. h.
zu einem langen Zeitraum ausgedehnt wurde,
welcher die ganze erste Jugend der Liebenden
umfasste. Da der Mythus von der Trennung
und Wiedervereinigung Svipdags und Menglöds
von dem jährlichen Verschwinden und Wie-
derkehren des Sommers entnommen war, so
pflegte das Volk bei der Ankunft des Sommers
(wie B. annimmt) sprichwörtlich Zusagen: »OBr
kehrt zurück (OBr hverfr aptr); und aus die-
ser kurzen Redeweise bildete sich, wie aus
794 Gott, gel. Anz. 1874. Stück 25.
einem Keim, der epische Mythus der Wieder-
vereinigung 08rs mit Freyia, so wie ja auch
ähnliche Redeweisen, wie z. B. Skirnir fährt
(Skirnir ferr), Loki hat den Thor aufge-
nalten (Loki hefir dvaldan Thor), Thor hat
den Alvis verspätet (Thor hefir dvaldan Alvis)
die epischen Mythen veranlasst haben, welche
den Gegenstand der eddischen Lieder Skirnis -
/Sr, Harbarfisliod und Almsmäl ausmachen. Die
eigentliche Hauptperson des in Rede stehenden
Gedichts ist jedoch der Riese Viel ge wandt
(Fiölsvifir oder Fwlsvinnr für Fiölsvindr), der
wahrscheinlich aus der mythologischen Ueber-
lieferung herübergenommen ist. Ein Jotne aber
war hier wegen seiner furchterregenden Riesen-
natur geeigneter zu einem Burgwächter der
jungfräulichen Freyia als ein schwacher, vor
Riesen zurückschreckender Zwerg. Zudem wer-
den die Jotnen ebensogut und noch besser als
die Zwerge als verständig und klug ausgegeben
und heissen geradezu hundmss (hundweise), was
ausdrückt, dass sie die umsichtige, instinctive
Spürkraft der Hunde besitzen. Was indess
noch entschieden dafür spricht, dass Vielgewandt
hier zum iotni sehen Geschlecht gehört, ist der
Umstand, dass er den aus Jotnenheim mit Jot-
nengefolge kommenden und noch in Jotnenge-
stalt nahenden OSr (Svipdagr, Vindkaldr) aus
der Ferne als einen iotnischen Ankömmling er-
kennt (s. Str. 1). Was die Ueberschrift des
Gedichts betrifft, so stammt dieselbe vom Verf.
selbst her, wie daraus erhellt, dass das Gedicht
mit den Worten beginnt: »Von den Zäunen
draussen sah er heraufkommen«, wo er sich
auf Vielgewandt bezieht, den bereits der Autor
in der Ueberschrift »Vielgewandts Sprüche«
hinlänglich bezeichnet hatte. Bergmann hätte
Bergmann, Vielgewandts Sprüche etc. 795
eich hierbei auch auf SchiHers Ring des Poly-
. krates berufen können, dessen Anfangsvers »Er
stand auf seines Daches Zinnen« sich gleichfalls
auf die Ueberschrift bezieht. Das eddische Ge-
dicht stammt nach B.’s Ansicht wahrscheinlich
aus der zweiten Hälfte des neunten Jahr h.; wenn
er jedoch hinzufugt: »Jedenfalls gehört unser
Gedicht einer Zeit an, wo man schon Burgen,
vielleicht sogar Glasburgen baute«, so würde
dieser Umstand wenigstens nicht hindern die
Abfassung desselben in eine viel frühere Zeit
zu versetzen, da Burgen, so wie Glasburgen
d. h. Burgen mit verglasten Mauern (in Schott-
land vitrified forts genannt), schon in ältester
Zeit und in fast allen Weltgegenden Vorkommen;
vgl. zu Gervasius von Tilbury S. 151; ferner
Anzeiger f. Kunde der deutschen Vorzeit 1859,
no. 1 — 8; Ztschr. f. Ethnol. Berlin 1870. H,
461 ff. Auch in einem lesgischen Märchen ist
von Burgen die Rede, die unten von Kalk, oben
von Glas waren ; s. Awarische Texte herausgeg.
von A. Schiefner in den Mein, de PAcad. Imp.
de St. Petersb. VII® Serie. Tome XIX no. 6 p.
41, womit die Nachrichten der Reisebeschreiber
über die Trümmer des Belustempels von Baby-
lon zu vergleichen sind. Sie fanden dieselben
bei der Stadt Hellab (Hillah) noch 3 — 4 Stock-
werke hoch und oben verglast; s. v. d. Hagens
German, oder Neues Jahrb. u. s. w. Bd. IX S.
21 f. Anm. Ebenso ist in einem Dardistani-
schen Märchen von einem Schloss aus Glasstein
die Rede; s. Leitner, Results of a Tour inDar-
distan, Cashmere etc. Lahore and Lond. 1873.
Part HI p. 4. Der Ort der Abfassung der
Fiölsvinnsmäl ist jedesfalls ausserhalb Islands
zu suchen und war vielleicht Schweden. Weiter-
hin äussert B. sich dahin, dass das Gedicht,
796 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25«
wie fast alle Eddalieder, eine Tollständige, dem
Inhalt nach unversehrte Rhapsodie d. h. ein
Spezialgesang eines Mythencyclus sei , nicht
aber, wie Sophus Bugge und Svend Grundtvig
annehmen, ein unvollständiges Fragment, wel-
ches ursprünglich den zweiten Theil von Grou-
galdr und mit diesem zusammen ein Ganzes ge-
bildet habe, wie es sich noch in dem schwe-
disch-dänischen Lied von Svedendal (Svejdal)
zeige, wenngleich allerdings festzuhalten ist,
dass letzteres in seinen beiden Theilen eine in-
direkte, entfernte, durch Mittelglieder vermittelte
Nachahmung des Grougaldr und der Fiölsvinns-
mäl sei. Bergmann stützt seine Ansicht mit
genügenden Gründen und gibt demnächst eine
kurze gegen verschiedene Annahmen Sophus
Bugge’s gerichtete Zusammenfassung der Ge-
schichte der eddischen Texte und der für die
Kritik derselben daraus zu folgernden Grund-
sätze. Auf den von B. gegebenen Text und
die sich daran knüpfende Textkritik, Ueber-
setzung und eingehende Wort- und Sacherklä-
rung der Fiölsvinnsmäl (und Grougaldrs) denke
ich an anderer Stelle zurückzukommen; nur
eins will ich hier aus der Worterklärung be-
merken. Str. 36 heisst es nämlich: »heil verdr
hver, |>ött hafi Ars sott — ef |>at klifr, kona«.
Bergmann ändert ärs wegen der fehlenden Al-
literation in Mrs und erklärt Mrs sott (Haar-
krankheit) durch »Weichselzopf«. Jedoch ist
nicht zu läugnen, dass ärs sott (Jahreskrankheit)
sehr gut »Schwangerschaft« bedeuten könnte,
die fast ein Jahr dauert (vgl. isl. »sink of manna
völdum d. i. schwanger), wozu kommt , dass
heil namentlich von Frauen gebraucht wird, die
nicht schwanger sind (hun svarar: f>ü veizt at
ek em eigi heill madr [Var. heil kona], ok man
Bergmann, Vielgewandts Sprüche etc. 797
Jat vera sveinbarn, er ek geng med«. Ragnarss.
iodbr. c. 8), und also in jenem Falle Freyia
(Menglöd) als Liebesgöttin hier ganz passend
den zu ihr emporsteigenden Weibern eine glück-
liche Entbindung verheisst. Aus der Sacher-
klärung hebe ich hier nur hervor, dass nach
B/s Ansicht die Vorstellung von der Waberlohe
dadurch entstand, dass man im Alterthum wie
noch heute sich gegen Thiere durch einen Kreis
von angezündeten Feuern, innerhalb dessen man
sich aufhielt, zu schützen suchte, wobei die
spätere Poesie annahm, dass die Waberlohe
gleich andern magischen Waffen Leben, Selbst-
bewegung und Willen besass und nur die Be-
rufenen oder Drinnenwohnenden ein- und aus-
liess, weswegen sie in Fiölsv. Str. 31 kundig
(vis) genannt wird. In Betreff der (S. 107). er-
wähnten Sagen von den Eselsfressern will ich
bemerken, dass dieselben wohl mehr als blosse
Sagen sind und höchst wahrscheinlich auf der
Wirklichkeit beruhen mögen; denn Eselsopfer
waren im Alterthum nicht ungewöhnlich; s»
Grimm Myth. 43; füge hinzu Strabo p. 727
(Karmanien); Ovid. Fasti 6, 345 (Lampsakos)
u. s. w., und bekanntlich wurde das Fleisch
der geopferten Thiere bei den auf das Opfer
folgenden Schmäusen von den daran Theil-
nehmenden verzehrt; so auch erklären sich die
Spitznamen »Kaibenfresser«, den sich ganze
Gegenden und Gemeinden seit alter Zeit einan-
der zutheilen (Rochholz, Schweizersagen aus
dem Aargau 2, 24 f.), und »Räpplesfresser«, den
die Jesinger führen, weil sie einmal einen ge-
fallenen Rappen verzehrt haben sollen (Ernst
Meier, Schwäb. Sag. no. 409). — Ich komme
nun zu Groa’s Zaubergesang, gleichfalls ein
didaktisches Gedicht, welches lehrt, dass es für
798 Gott. gel. Anz. 1874. Stück 25.
schwierige Lagen und gegen Todesgefahr be-
stimmte Zaubergesänge gebe, von denen aber
nur neun (die bekannte mystische Zahl) zur
Sprache kommen, deren Rahmen jedoch nicht,
wie gewöhnlich bei den mythologischen Gedich-
ten, einem schon vorhandenen Mythus entlehnt,
sondern frei erfunden ist. Die Abfassungszeit
mag wohl nicht über das 11. Jahrh. hinauf-
reichen; als Ort der Entstehung ist wahrschein-
lich Norwegen anzusehen. Da ich, wie bereits
erwähnt, den Text und die Erklärung auch die-
ses Liedes anderwärts eingehend zu besprechen
gedenke, so bleibt mir hier nichts zu bemerken,
als dass die Interpretation beider Dichtungen
im Allgemeinen nur wenig zu wünschen lässt
und dass verschiedene Allotria (z. B. der
grösste Theil von §. 46 über Heilenberg) als
nicht zur Sache gehörig erscheinen, obwol auch
sie ebenso wie mehrfache Wiederholungen und
eine gewisse Ueberfülle des Stils dem sich in
allen Arbeiten B’s kundthuenden Streben nach
grösster Klarheit und Deutlichkeit entspringen.
Ueberall aber, auch da, wo man abweichender
Meinung sein muss, zeigt sich mit welcher Sorg-
falt und Gewissenhaftigkeit B. arbeitet, wie er
stets in den innersten Sinn seines Gegenstandes
einzudringen und keiner Schwierigkeit auszu-
weichen sucht, so dass selbst durch seine Fehl-
schritte nicht selten der Weg zum Richtigen
gewiesen wird. Man kann daher nur wünschen,
dass es ihm vergönnt sein möge, auch die noch
übrigen Gedichte der Edda auf gleiche Weise
herausgeben zu können.
Lüttich. Felix Liebrecht.
Gravier, Decouverte de FAmerique etc. 799
Decouverte de I’Amerique par les Normands
au Xe siede par Gabriel Gravier. Paris et
Rouen 1874.
Dem oben genannten Buche fehlt in seiner'
äus8ern Ausstattung und Physiognomie keine
von den Eigenschaften, mit denen sich wissen-
schaftliche oder wissenschaftlich sein sollende
Bücher bei Liebhabern, Gelehrten, Bibliotheken
einzuschmeicheln pflegen. Es ist splendid ge-
druckt, auf dauerhaftem, solidem Papier mit
vortrefflich gewählten und für einen historischen
oder archäologischen Gegenstand und Inhalt sehr
passenden Typen. Auch gewahrt man , wenn
man das Buch flüchtig durchblättert, dass sein
Text auf einer bedeutenden Masse von Gitaten
aus allerlei gelehrten (und nicht gelehrten) Wer-
ken schwimmt.
Dies ist aber auch fast Alles, was man zum
Lobe des Werks sagen kann. Untersucht man
den geistigen Kern und Inhalt etwas näher, so
fühlt man sich nicht wenig enttäuscht. Der
Yerf., obgleich er sich als Mitglied verschiede-
ner antiquarischer und historischer Gesellschaf-
ten ankündigt, und obgleich er allerdings auch
in der Literatur seines interessanten Gegenstan-
des, wie schon seine vielen Gitate beweisen,
ziemlich bewandert ist, hat offenbar nicht die
kritische Begabung dazu, um sein Material ge-
hörig zu verarbeiten, und eben so auch nicht
das schriftstellerische Talent, um seine Darstel-
lung angemessen und würdevoll oder auch nur,
wie die Franzosen dies doch meist so gut ver-
stehen, anregend, elegant und angenehm er-
scheinen zu lassen.
Ich will mir erlauben, nur einige wenige Be-
merkungen über das Buch zu machen. Zu neuen
800 Gott. gel. Anz. 1874. Stttek 25.
Resultaten über ein so oft behandeltes Thema
ist der Verf. nicht gekommen, obwohl er sieh
allerdings manchen anscheinend sehr phant&sfci-
sehen und unbeweisbaren Behauptungen und An-
sichten überlässt. Seine Gläubigkeit ist ausser-
ordentlich gross und weit. In Bezug auf die
vorcolumbische Zeit Amerika’s glaubt er ganz
fest an Alles, was Andere nur als eine Hypo-
these oder Möglichkeit angedeutet haben. Er
nimmt es für ausgemacht an, dass Amerika
schon vor Columbus und vor den Normannen
mehrere Male von der alten Welt aus, von den
Phöniziern, Juden, Egyptern ete. entdeckt und
bevölkert worden sei. Und er thut dies, weil
sich unter der indianischen Bevölkerung Mexicos
und Centralamerikas egyptische und jüdische
Typen von vollkommenster Reinheit finden,
»Typen, welche an die schönen egyptisehen Sta-
tuen des Museums des Louvre erinnern und an
das Profil von Juda (»le profil de Juda«), wel-
ches man noch in den Ruinen von Karnak sieht«.
»Die Reisenden«, sagt er, »bewundern in den
Dörfern von Guatemala arabische und jüdische
Costume genau so wie sie Horace Yernet auf
seinen Gemälden dargestellt hat«. Dieses und
dann noch vieles dem Aehnüche über Pytheas,
über Thule, über Scipio’s Traum etc. findet
man in der langen Einleitung zu dem Buche
(S. I— XXXIX), von der man, glaube icb, nicht
zu hart urtheilt, wenn man sie als lauter zu-
sammengewürfelten und nur scheinbar gelehrten
Kram bezeichnet.
Auch seine Normannen lässt der Verf. , in-
dem er sich dabei auf ziemlich schwache Ben
weise stützt, ausserordentlich weitgehende Ent-
deckungen und Wanderungen ausführen. Weil
die » tumuli «, Befestigungen und anderen alten
Gravier , Decouverte de l’Amerique etc. 801
Erdwerke, die man im Ohio- und Mississippi-
tbale entdeckt hat, den »Danish Mounts« in Ir-
land und auch denen in Dänemark etwas ähneln,
so hält er es für ausgemacht, dass »die Söhne
Odins« von Grönland und von Canada aus ihre
Colonien auch längs des ganzen Mississippi aus-
gebreitet haben. Vom Mississippi aus sind sie
seiner Meinung nach dann auch über den mexi-
kanischen Meerbusen nach Südamerika und bis
Brasilien herabgekommen. Dass sie hier in
Brasilien waren, wird , wie der Yerf. annimmt,
hinreichend durch eine bei Bahia gefundene
alte Statue bewiesen, »welche auf einer Säule
steht, den rechten Arm aus streckt, und mit
dem Zeigefinger nach dem Nordpol weist«.
» Cette statue, qui montre au doigt une patrie
lointaine, suffirait ä prouver le sejour d’une
population scandinave dans la province de
Bahia. — C’est done par la vallie du Missis-
sippi et la region isthmique que les Normands
vinrent dans la province de Bahia, comme Tin-
diquent les monuments, qui portent leur em-
preinte«. Man findet dies und noch Anderes in
dem letzten Kapitel des Buchs: »Preuves ar-
cheologiques du sejour des Normands en Ame-
rique«. Alle diese »preuves« , denen zwar
einige in vielfacher Beziehung sehr beachtens-
werthe Fakta und Erscheinungen zum Grunde
liegen, sind doch wohl noch nicht so unwider-
leglich spruchreif, wie sie dem Verfasser er-
scheinen.
Was das eigentliche engere Thema des Bu-
ches, die Entdeckungsreisen, Fahrten und Co-
loniestiftungen der Normannen auf und nach
Island, Grönland und zur Ostküste der jetzigen
Vereinigten Staaten Nordamerika^ betrifft, so
hat der Verfasser dasselbe trotz seiner regen
802 Gott. gel. Anz. 1874. Strack 25.
Phantasie entsetzlich trocken und, — ich glaube
nicht zu viel zu sagen, — ungeschickt behan-
delt. Das zu lesen ist eine Pein. Auch ist
nichts Neues darin, nichts, was nicht schon oft
und besser dargestellt wäre. Viel interessanter,
lehrreicher, wahrer und charakteristischer er-
scheinen diese Dinge in den zahlreichen Schrif-
ten der Dänen, Engländer etc. über diesen Ge-
genstand. Statt sich die entsetzliche Mühe zur
Composition eines neuen Werks zu nehmen,
hätte der Verf., wenn er seinen Landsleuten —
die übrigens ja selbst auch schon vorher treff-
liche Schriften über die Schifffahrten der Nor-
mannen besassen — noch etwas Nützliches ge-
ben wollte, sich wohl mit einer Uebersetzung
des einen oder anderen der von ihm ausgezoge-
nen und zum Ueberdruss citirten Werke, z. B.
Rafn’s »Antiquit&tes Americanae« begnügen
können.
Bremen. J. G. Kohl.
Fridankes Bescheidenheit von H.
E. Bezzenberger. Halle, Verlag der Buch-
handlung des Waisenhauses. 1872. — XIV und
469 SS. gr. 8.
In der Widmung und Einleitung giebt der
schon durch seine Ausgabe des Gedichts vom
heil. Anno (Quedl. und Leipzig 1848) den Ger-
manisten als Freund altdeutscher Studien be-
kannte Herr Bezzenberger den Standpunct an,
den er in dieser Ausgabe der cBescheidenheit»